Exegetische Beiträge zur neutestamentlichen Hermeneutik
Vandenhoeck & Ruprecht ln Göttingen
HANS WEDER
Einblicke ins...
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Exegetische Beiträge zur neutestamentlichen Hermeneutik
Vandenhoeck & Ruprecht ln Göttingen
HANS WEDER
Einblicke ins Evangelium Exegetische Beiträge zur neutestamentlichen Hermeneutik Gesammelte Aufsätze aus den Jahren 1980-1991
VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN
Für Robert Leuenherger
Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnohme Weder, Hans: Einblicke ins Evangelium: exegetische Beiträge zur neutestamentlichen Hermeneutik; gesammelte Aufsätze aus den Jahren 1980-1991/ Hans Weder. - Göttingen: Vandenhocck und Ruprecht, 1992 ISBN 3-525-53594-5
Umschlagentwurf: Karlgeorg Hoefer
© 1992 Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. Printed in Germany. -Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Druck: Gulde-Druck GmbH, Tübingen Bindearbeit: Hubert & Co., Göttingen
Vorwort Wer sich mit neutestamentlichen Texten beschäftigt, erhält überraschende Einblicke ins Evangelium. Das Evangelium spricht eine Sprache, die den Menschen liebt und sein lässt, weil es von einem Geschehen Zeugnis ablegt, in welchem die kreative Macht Gottes aufblitzt im Gemenge weltlicher Wirklichkeit. Je länger meine exegetische Arbeit am Neuen Testament dauerte, desto deutlicher kristallisierte sich das Evangelium als entscheidende hermeneutische Kategorie heraus. Wer die neutestamentliche Theologie in ihrem eigentümlichen Ansatz verstehen will, wird gut daran tun, hermeneutisch beim Evangelium anzusetzen. Was der Mensch aus eigener Kraft zu tun hat, sagt ihm das Gesetz. Die Wirklichkeit der fremden Kraft, die am Menschen arbeitet, erscheint im Evangelium. Beides hat seine eigene Würde. Doch kommt es darauf an, zu unterscheiden zwischen dem, was den menschlichen Kräften zugemutet werden muss, und dem, was der schöpferischen Macht Gottes zu verdanken ist. Wer diese Unterscheidung nicht macht, unterliegt meines Erachtens einem Selbstbetrug. In einem ersten Teil sind Aufsätze zusammengestellt, die als notwendige Ergänzung zu meiner Neutestamentlichen Hermeneutik 1 zu verstehen sind. Sie gliedern sich ein in den dort angefangenen Versuch, das hermeneutische Potential der neutestamentlichen Texte zu erkennen und für das gegenwärtige Verstehen des Neuen Testaments fruchtbar zu machen. Dabei kommen auch wissenschaftstheoretische und philosophische Probleme zur Sprache. Die Aufsätze des zweiten Teils haben ihre thematische Einheit darin, dass sie sich auf die anthropologischen Erträge theologischer Hermeneutik konzentrieren. Die Begegnung mit dem Evangelium hat schon im Neuen Testament zu interessanten Einblicken ins Menschliche geftihrt. Kennzeichnend ftir die neutestamentliche Anthropologie ist ihre Gestalt: das Humanum wird nicht systematisch definiert, sondern die Menschen werden auf das Menschliche angesprochen. Das Nachdenken über das Humanum ist also insofern
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Zürich 1986 (11989) (Zürcher Grundrisse zur Bibel).
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Vorwon
menschlich, als es schon von sich aus die Gestalt der Zuwendung zum Menschen hat. Die paulinische Theologie kann - namentlich in ihrer reifen Ausprägung als Rechtfertigung aus Glauben - verstanden werden als eine grossartige Entdeckung des Evangeliums. Arbeiten dazu sind im dritten Teil zusammengestellt. Sie lassen sich umreissen mit den Stichworten Freiheit, Sünde und Gesetz. Die schönste Frucht des Nachdenkens über den Christus. wie es im Neuen Testament stattgefunden hat, ist nach meinem Urteil die johanneische Theologie der Inkarnation. Hier liegen ungeahnte Schätze für die hermeneutische Bemühung verborgen. Die Arbeiten im vierten Teil sind ein Versuch, ein paar wenige Steine ans Licht zu bringen. Eine weitere Beschäftigung mit dem Inkarnationsgedanken des Johannesevangeliums scheint mir gerade hermeneutisch aussichtsreich. Alle Aufsätze wurden in formaler Hinsicht vereinheitlicht. Literaturangaben werden in den Anmerkungen mit Kurztiteln gemacht, die vollständigen Angaben finden sich im Literaturverzeichnis am Ende des Buches. Viele haben zum Entstehen dieser Aufsatzsammlung beigetragen. Ich danke Herrn Dr. A. Ruprecht für seine Bereitschaft, das Buch in seinem Verlag erscheinen zu lassen. Ich danke Herrn K. Ruckstuhl, meinem Assistenten auf Zeit, der die Sammlung mit grosser Exaktheit bearbeitet und bei der Erstellung des Layouts mitgeholfen hat. Ich danke Frau C. Holstein, meiner Sekretärin, die die Druckfahnen sehr aufmerksam durchgelesen hat. Ich danke Herrn K. Haldimann, meinem Assistenten, der wertvolle sachlichen Hinweise zu einzelnen Arbeiten gegeben hat. Wer Auslegung des Neuen Testaments als theologische Aufgabe betreibt, ist angewiesen auf kritische Begleitung und freundschaftliche Ermutigung. Zum Zeichen des Dankes für viele Gespräche am Mittag sei dieses Buch Robert Leuenherger gewidmet. Zürich, den 1. November 1991
H.W.
Inhaltsverzeichnis
I Zur Hermeneutik neutestamentlicher Theologie Zum Problem einer »christlichen Exegese«. Ein Versuch, einige methodologische und hermeneutische Anfragen zu formulieren ...................................................................... 9 Die Gabe der ~'flVEi.a ( I Kor 12 und 14) ............................................. 31 »Evangelium Jesu Christi« (Mk 1,1) und »Evangelium Gottes« (Mk 1,14) ................................................................................. 45 Wunder Jesu und Wundergeschichten ................................................. 61 Zur Hermeneutik des Lehrens. Neutestamentliche Überlegungen zum Verhältnis von Hermeneutik und Didaktik ................... 95 Exegese und Dogmatik. Überlegungen zur Bedeutung der Dogmatik für die Arbeit des Exegeten ......................................... 109 Die Entdeckung des Glaubens im Neuen Testament ......................... 137 Wirksame Wahrheit. Zur metaphorischen Qualität der Gleichnisrede Jesu .............................................................................. 151 Sprache und Wirklichkeit -Theologische Überlegungen .................. 167 Evangelische Erinnerung. Neutestamentliche Überlegungen zur Gegenwart des Vergangeneo ....................................................... 183 »Ich aber sage euch«. Zur Begründung der Gesetzesauslegung Jesu in der Bergpredigt ....................................................................... 20 I
II Einblick ins Menschliche Leiblichkeit. Neutestamentliche Anmerkungen zu einem aktuellen Stichwort ............................................................................. 219 Die Arbeit der Utopie ......................................................................... 239
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lnhallsverzeichnis
Geistreiches Seufzen. Zum Verhältnis von Mensch und Schöpfung in Römer 8 ................................................................. 24 7 Einblick ins Menschliche. Anthropologische Entdeckungen in der Bergpredigt ............................................................................... 263 Die Abwesenheit der Tugend. Neutestamentliche Überlegungen zum Problem des Tugendhaften .......................................... 287 »Bessere Gerechtigkeit« als Prinzip menschlichen Verhaltens .......... 297 II/ Paulus · F..ÄEU'6Epia und Toleranz ...................................................................... 309
Gesetz und Sünde. Gedanken zu einem qualitativen Sprung im Denken des Paulus ......................................................................... 323 Der Mensch im Widerspruch. Eine Paraphrase zu Röm 7,7-25 .......................................................... 347 IV Theologie der Inkarnation (Johannes) Die Menschwerdung Gottes. Überlegungen zur Auslegungsproblematik des Johannesevangeliums am Beispiel von Joh 6 .......... 363 Der Mythos vom Logos (Johannes I). Überlegungen zur Sachproblematik der Entmythologisierung ......................................... 40 I Die Asymmetrie des Rettenden. Überlegungen zu Joh 3,14-21 im Rahmen johanneischer Theologie ................................................. 435
Literaturverzeichnis .. .......................................................................... 467 Verzeichnis der ursprünglichen Veröffentlichungsorte ...................... 491
Zum Problem einer »christlichen Exegese« • Ein Versuch, einige methodologische und hermeneutische Anfragen zu formulieren Der Begriff »christliche Exegese« ist in mancherlei Hinsicht problematisch, nicht zuletzt deshalb, weil er suggerieren könnte, die wissenschaftliche Disziplin der Exegese sei methodologisch differenzierbar in eine christliche und eine nicht- bzw unchristliche Spielform. Eine derartige Annahme wird in den folgenden Überlegungen nicht gemacht. Die Verwendung des Begriffs »christliche Exegese« will lediglich einen fast selbstverständlichen Sachverhalt anzeigen: Einerseits ist das Faktum zu respektieren, dass Exegese vornehmlich - wenn auch nicht ausschliesslich - von christlichen Theologen betrieben wird. Und diese subjektive Disposition des Auslegers hat zweifellos einen beträchtlichen Einfluss auf die konkrete Gestalt wissenschaftlichen Arbeitens. Diesen Einfluss ausmerzen zu wollen, wäre sinnlos; sinnvoll ist jedoch, ihn in die methodelogische Selbstreflexion einzubeziehen. Andererseits besteht die »Christlichkeit« der Exegese grundsätzlich darin, dass in ihr ein axiomatisches System zur Anwendung kommt, das der theologischen Eigenart der auszulegenden Texte möglichst weitgehend zu entsprechen sucht. Wird dieser Grundsatz respektiert, so hat dies zweifellos auch methodische Konsequenzen. Ein Blick auf die gegenwärtig nicht nur in der Theologie! - angewendeten Auslegungsmethoden zeigt, dass diese - auch wenn man sie streng als instrumentellen Gebrauch der Vernunft versteht - durchaus nicht eindeutig oder gar wertfrei sind. So ist es beispielsweise eine offene Frage, ob eine materialistische Textexegese, welche den Text methodologisch zum Überbauphänomen macht, 2 überhaupt noch in der Lage ist, dem Selbstverständnis der neu1 Überarbeitete Fassung eines Referats. das am SNTS-Meeting 1979 (Durham) der Seminargruppe, welche das Thema der »Christlichen Exegese« bearbeitete, vorgetragen worden ist. lBetrachtet man die (christlich-)exegetische Rezeption solcher Auslegungsmethoden, so fällt auf. dass - selbstverständlicherweise - theoretisch immer wieder betont wird. es gehe nicht um die Übernahme eines materialistischen Unterbau-Überbau-Schemas. Wie weit dies im praktischen Voll:uK der Auslegung durchgehalten wird, ist meistens eine andere Frage. Gewisse Sprachregelungen lassen immerhin einige Zweifel aufkommen. Ein Beispiel möge
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Zum Problem einer »Christlichen Exegese•
testamentliehen Texte gerecht zu werden. Es ist überflüssig zu sagen, dass selbstverständlich auch neutestamentliche Texte auf dem Hintergrund eines historisch-materialistischen Geschichtsverständnisses ausgelegt werden können. Wohl aber ist zu bedenken, ob auf diese Weise die Texte nicht methodologisch vereinnahmt werden und also ihnen die Möglichkeit entzogen wird, überhaupt noch zum Sprechen zu kommen. Eben diese Möglichkeit methodisch zu etablieren, ist wohl die grundlegende Absicht und Aufgabe jeder »christlichen Exegese«. Diese Absicht hat zur Folge, dass jeder instrumentelle Gebrauch der Vernunft auf seine weltanschaulichen Implikationen hin kritisch zu reflektieren ist. Diese Grundlagenreflexion führt notwendigerweise zu methodologischen Konsequenzen. Freilich gilt dies nicht nur im Blick auf das genannte Beispiel der historisch-materialistischen Textinterpretation, sondern ebensosehr beispielsweise im Blick auf das in der historischkritischen Methode implizierte Geschichtsbild, das ständig auf seine Adäquatheil hin zu befragen ist.
Ausgangspunkt Massgeblicher Ausgangspunkt der folgenden Überlegung ist, dass der christliche Glaube von allem Anfang an in einem intimen Verhältnis
dies erläutern: In einem Aufsatz über den Besitzverzicht der Jesusjünger (Wir haben alles verlassen 161-96) schreibt G. Theissen ausdrücklich. der vorliegende (soziologische) methodische Ansatz gehe davon aus. dass es keine soziale prima causa flir geschichtliche Phänomene gebe. sondern nur eine Reihe von Faktoren ökonomischer. ökologischer. politischer und kultureller Art (aaO 162. man beachte die Reihenfolge). Im praktischen Vollzug der Auslegung fallen dann allerdings bemerkenswerte Sätze: Die formale Vergleichbarkeit von Jesusbewegung und Zeloten -erklärt sich daraus. dass die Radikalität ihres Ethos hier wie dort Ethos sozial entwurzelter Menschen war• (aaO 185: die Radikalität wird alsofunktionalisi~rt und auf das allx~m~in~ Phänomen der Entwurzelung zurückgeführt). Ein anderes Beispiel: »Wenn deviantes Verhalten zur Basis (!) religiöser Erneuerung wird. dürfte es ein charakteristisches Symptom für den Zustand einer Gesellschaft sein« (aaO 189: hier wird. bedingt durch den methodischen Ansatz. Ursache und Wirkung in charakteristischer Weise eindeulig identifiziert: von der theoretisch angesprochenen Wechselwirkung ist nichts mehr zu verspüren). Vielleicht muss der von Theissen selbst n01ierte Sachverhalt. dass die Texte zwar über den religiösen Aspekt der Nachfolge sehr viel aussagen. während sie hinsichtlich des sozialen Aspekts spröde sind. doch auch methodologisch ein grösseres Gewicht haben als dieser Aufsatz es zulässt. Die hier gewählten Beispiele sollen lediglich das oben anvisierte Grundproblem illustrieren: sie sind keinesfalls als prinzipielle Einwände gegen soziologische Textinterpretationen und schon gar nicht gegen den in manchen Punkten erhellenden Aufsatz Theissens zu verstehen.
Ausgangspunkt
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zur Geschichte gestanden hat. 3 Dies erkennt man schon daran, dass weite Teile des Neuen Testamentes nichts anderes wollen als die Geschichte Jesu von Nazareth erzählen. Freilich sind sie nicht darauf beschränkt, jene Geschichte bloss um ihrer selbst willen zu erzählen. Die Geschichte des Menschen Jesus von Nazareth ist vielmehr von grundlegender Bedeutung für den Glauben an Gott und insofern folgenreich für die Existenz jedes Menschen. 4 Wer als Historiker diese bestimmte, im eigentlichen Sinne des Wortes theologische Weise des Umgangs mit der Geschichte feststellt, ist damit auf das äusserst enge Verhältnis des Glaubens zur Geschichte aufmerksam geworden. Gleichzeitig ist ihm dadurch das Problem gestellt, wie jenes Verhältnis präzise zu bestimmen sei. Es scheint evident, dass einerseits der Glaube nicht in die Geschichte aufgelöst werden kann, und dass andererseits der Glaube ebenso wenig an die Stelle der Geschichte treten darf. Ein allein auf sich selbst gegründeter Glaube ist ebenso unwahrhaftig wie eine fides historica. Die genannte Verhältnisbestimmung von Geschichte und Glaube hat darüber hinaus unmittelbare Konsequenzen für die Auslegungsproblematik selbst. Sofern man nämlich davon ausgeht, dass eine angemessene Hermeneutik nicht bloss eine von den konkreten Textphänomenen unabhängige Technik darstellt, sondern immer auch ein Korrelat ihres Gegenstandes ist, muss sie sich sinnvollerweise an der Eigenart ihres Gegenstandes orientieren. 5 Deshalb kann die hermeneutische Bemühung nicht unberührt bleiben von dem angesprochenen Geschichtsbezug der auszulegenden Texte. Folglich muss die Hermeneutik des Neuen Testaments immer eine geschichtliche Hermeneutik sein. Wie eine geschichtliche Hermeneutik aussehen muss, lässt sich meines Erachtens nur im Dialog mit verschiedenen Disziplinen erarbeiten, vorab mit der Geschichtswissenschaft, dann mit der philosophischen und theologischen Hermeneutik, und schliesslich auch durch die Besinnung auf die exegetischen Ergebnisse in der neutestamentlichen Forschung selbst. Im folgenden sollen einige (sehr fragmentarische) Bemerkungen gemacht werden zu gewissen Teilaspekten des Problemkreises, der mit dem Stichwort »geschichtliche Hermeneutik« zur Stelle ist.
Dazu Ebeling, Bedeutung 13f.45. Vgl Joh 1.14: Hebr 9,12: Röm 6.10: Ebeling. Bedeutung 14; Dodd, History II ff. bes 22f. ~zur Sachorientierung der Henneneutik vgl Fuchs, Henneneutik 1 1963 103-118; ders. Marburger Henneneutik 7-11: Eheling, An. Henneneutik 256-258. 1
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Zum Problem einer »Christlichen Exegese«
Meine Überlegungen betreffen vier Teilbereiche der geschichtlichen Hermeneutik: I. Zum historischen Geschichtsbegriff, insbesondere zum Problem der Verifikation historischer Sätze. II. Zum Gegenwartsbezug des Geschichtlichen. III. Zum Problem eines theologischen Bezugs auf Geschichte. IV. Zur methodologischen Problematik der neutestamentlichen Exegese.
I. Zum Geschichtsbegriff der Historiker Schon ein flüchtiger Blick auf die für gegenwärtige Exegese massgebliche historisch-kritische Arbeitsweise zeigt, dass die Anwendung der genannten Methode bereits einen bestimmten Geschichtsbegriff impliziert. Bei etwas genauerem Hinsehen kann man eine interessante Entdeckung machen: der in den Urteilen der historisch-kritischen Arbeit implizierte Geschichtsbegriff ist der Geschichtsbegriff jener Zeit, in der diese Methode zur Hochblüte kam, nämlich derjenige des Historismus. Der Geschichtsbegriff des Historismus wird indessen vorsichtig ausgedrückt - gegenwärtig weder von Historikern noch von Exegeten uneingeschränkt geteilt. Er ist in vielen Punkten entscheidend modifiziert worden.t• Deshalb befinden wir uns in der merkwürdigen Situation, methodologisch einen Geschichtsbegriff vorauszusetzen, den wir inhaltlich gar nicht mehr teilen. Ein Teil des Unbehagens an der historisch-kritischen Arbeitsweise mag auf diese merkwürdige Situation zurückgehen. Daraus wird zwar mancherorts der Schluss gezogen, der historisch-kritischen Denkweise sei am besten überhaupt der Abschied zu geben. Dies bedeutet aber keine Bewältigung sondern eine Verdrängung jener merkwürdigen Situation. Sie wird meines Erachtens angemessen bewältigt, wenn sich die Exegese erneut in den Dialog mit der Geschichtswissenschaft begibt, insbesondere mit den geschichtswissenschaftliehen Bemühungen um einen adäquaten Geschichtsbegriff. Die Bemühungen laufen unter der wissenschaftstheoretischen Bezeichnung »Geschichtsphilosophie«. In jüngster Zeit ist es meines Erachtens besonders die analytische Geschichtsphilosophie (als repräsen"Zur Kritik am Historismus siehe Buhmann. Geschichte und Eschatologie 155-162. 169174: Robinson. Kerygma 83-90.
I. Zum Geschichtsbegriff der Historiker
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tative Beispiele dienen die Arbeiten von A.C. Danto und H. Lübbe)7, welche auf diesem Gebiet Entscheidendes, und zwar auch für die neutestamentliche Exegese Entscheidendes, geleistet hat. Zwei wichtige Aspekte sollen jetzt thematisch gemacht werden. Der erste Aspekt betrifft die eigentümliche Aufgabe des Historikers. Vorläufig könnte man sagen: Aufgabe des Historikers ist es, wahre Sätze über Ereignisse aus seiner Vergangenheit zu sagen. 8 Daraus könnte man den Schluss ziehen, der Historiker habe sich mit allen Mitteln der historischen Vernunft jener Position anzunähern, die ihm allerdings per definitionem verwehrt ist, der Position des Beobachers nämlich. 9 Man hätte dann vorausgesetzt, dass der Beobachter das grösste Mass an Wahrheit über Ereignisse aussagen kann. Nur in grösstmöglicher Annäherung an die Beobachterposition wäre es in diesem Falle dem Historiker möglich zu sagen, wie es wirklich gewesen ist. Um dies zu erreichen, muss er sämtliche Quellen und Urkunden durchforschen, muss er seiner Subjektivität Einhalt gebieten, muss er alles daran setzten, ein gegebenes Ereignis rein aus diesem selbst zu verstehen. Offensichtlich kann der Historiker diese Aufgabe niemals erftillen, da es ihm selbst unter optimalen Bedingungen nicht gelingt, sich in die Lage des Beobachters eines Ereignisses (im folgenden E-1 genannt) zu versetzen. Denn vom Beobachter ist der Historiker prinzipiell getrennt, weil Zeit verflossen ist. So scheint ihm nichts anderes übrig zu bleiben, als seinen Zeitabstand als unüberwindliches Hindernis zu beklagen, das ihn mehr oder weniger von der Erfüllung seiner eigentümlichen Aufgabe abhält. Indes ist die Frage, ob die Position des Beobachters überhaupt das Ideal des Historikers zu sein hat, bzw ob denn ein Beobachter zu sagen in der Lage ist, wie es wirklich gewesen ist. Eine mögliche Antwort auf diese Frage kann man sich anhand eines einfachen Beispiels selbst ge-
7 Danto. Philosophie: Lübbe. Geschichtsbegriff. "Danto. Philosophie 49f. Zur hier implizierten Gegenständlichkeit des Vergangenen. die immer wieder in Zweifel gezogen worden ist. vgl Faber. Theorie 24: Gadamer. Wahrheit 268f: Buhmann. Geschichte und Eschatologie 192-237. "~Zum Problem vgl Danto. Philosophie 241-247. der zur Veranschaulichung die Vorstellung eines »idealen Chronisten« einführt. welcher alles. was zu einem bestimmten Zeitpunkt t1 in der Geschichte und den Köpfen der Menschen geschieht. im Moment des Eintretens schon weiss. Dieser Chronist wäre freilich nicht einmal in der Lage. einfache historische Sätze wie »Der dreissigjährige Krieg begann im Jahre t618« zu bilden (aaO 246). Zur analytischen Einschätzung dieses Denkmodells vgl Fellmann. Ende 121 f.
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Zum Problem einer »Christlichen Exegese«
ben. Ein in Geschichtsbüchern zu findender Satz kann etwa so lauten: Mit der Besteigung des Mont Ventoux eröffnete Petrarca die Renaissance.10 Es leuchtet unmittelbar ein, dass dieser historische Satz jedenfalls nicht allein durch den Regress auf die Position eines Beobachters zu verifizieren ist. Selbst wenn wir einen Augenzeugenbericht, beispielsweise eine Tagebuchnotiz von Petrarcas Bruder hätten, der die angesprochene Bergbesteigung dokumentarisch schilderte, würden wir unseren Satz vergeblich darin suchen. Petrarcas Bruder nämlich wäre, gerade weil er Beobachter war, ausserstande gewesen, einen solchen Satz zu sagen. Dieser Satz über das Eintreten eines Ereignisses E-1 (Besteigung des Mont Ventoux) war ja erst möglich frühestens zum Zeitpunkt des Eintretens eines zweiten Ereignisses E-2 (der Renaissance). Den Satz auszusprechen war erst einem Historiker möglich, der über die Zukunft von E-1 (in unserem Falle: E-2) bereits Bescheid wusste. 11 Für die historische Verifikation dieses Satzes ist also gerade jener oben beklagte Zeitabstand konstitutiv. Andererseits wird niemand behaupten wollen, der Satz sage nicht auch Wahres über Petrarcas Bergbesteigung aus. Daraus folgt aber: die ganze Wahrheit über ein Ereignis E-1 ist keinesfalls zum Zeitpunkt seines Eintretens aussagbar. Oder: zu sagen, wie es wirklich gewesen, ist gerade dem Beobachter unmöglich. Daraus folgt weiter: Ereignisse, welche gegenüber einem zu beschreibenden Ereignis E-1 in der Zukunft liegen, machen es allererst möglich, ein grösseres Mass an Wahrheitserkenntnis im Blick auf E-1 zu erlangen, als dies zum Zeitpunkt seines Eintretens möglich gewesen wäre. 12 Vieles spricht dafür, dass genau diese Wahrheit zu erkennen die Zur Analyse dieses Beispiels vgl Danto. Philosophie 254f. Dieser vordergründig unscheinbare Neuansatz im Blick auf die eigentümliche Aufgabe des Historikers wird von Fellmann als kopunikaniJcht' Wt>ndunx in der Geschichtsauffasssung bezeichnet. »Die qualitative Differenz der Standpunkte äussen sich nicht darin. dass der Historiker mehr weiss. sondern dass er das Geschehen anders sieht. nämlich in Jt>int>r KontinRt>n:" (Fellmann. Ende 132. Hervorhebung von mir). 1: In diesem Zusammenhang macht Danto gellend. dass zugleich mit der (unbestreirbaren) Existenz von Zukunft.tkontinxt>nun auch die Existenz von Vt>r~:anxt>nht>it.tkontinxt>n:t>n gegeben ist. Wenn es die ersteren gibt. so muss es auch »mit der Sache unvereinbare Beschreibungen (geben). die gewissermassen über einem gegebenen vergangeneo Ereignis schweben. ausserstande. definitve semantische Beziehungen zu dem Ereignis herzustellen. solange sich nicht irgendetwas in der Zukunft ereignet« (Danto. Philosophie 312>. Eine vollkommene Erkenntnis der Vergangenheit kann es also grundsätzlich deshalb nicht geben. weil es keine vollkommene Erkenntnis der Zukunft gibt (und also nicht etwa deshalb. weil die Verg;angenheit der Beobachtung unzugänglich und nur lückenhaft überliefen ist). vgl aaO 246. 37. 315. Dies ist auf die uitlic·hkt>it der Ereignisse zurückzuführen. die eben darin besteht. dass jedes 10 11
I. Zum Geschichtsbegriff der Historiker
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eigentümliche Aufgabe des Historikers ist. Es versteht sich von selbst, dass er auch in diesem Falle verpflichtet ist, einen Regress auf das Ereignis E-1 zu vollziehen. Wäre Petrarca nicht auf jenen Berg gestiegen und hätte er nichts mit der (späteren) Renaissance zu tun gehabt, dann wäre unser Beispielsatz falsch. Selbstverständlich muss der Regress auf das historisch-faktische Geschehen vollzogen werden, aber er liefert nur Teilkriterien für die Verifikation historischer Sätze. Daraus ergibt sich: der Historiker hat schon als Historiker die Aufgabe, über das Faktische hinauszugehen, damit er zu zutreffenden Sätzen kommen kann. Nur andeutungsweise kann darauf hingewiesen werden, was diese Definition der historischen Aufgabe für die exegetische Bearbeitung neutestamentlicher Texte, insbesondere der Evangelien, bedeuten kann. Die bekannte Tatsache, dass die Evangelien die Geschichte des Jesus von Nazareth unter ausdrücklichem Einbezug des Wissens über seine Zukunft (d.h. aus nachösterlicher Perspektive) erzählen, berechtigt als solche noch keineswegs zum Urteil, sie kämen als geschichtliche Quelle über Jesus nur bedingt in Frage. 13 Der in der exegetischen Literatur gängige Rekurs auf den historischen Jesus, der unter Absehung von der Zukunft, welche Jesus gehabt hat, geschieht, wird in diesem Licht fragwürdig. 14 Mindestens der Anspruch, durch einen solchen Regress zu erkennen, wie es wirklich gewesen ist, muss als unsachgemäss bezeichnet werden. Zur Frage, wie es wirklich gewesen ist, tragen die über das faktische Geschehen hinausgehenden Evangelien mehr bei, als gewöhnlich angenommen wird. Dass die Evangelien allerdings in einer noch ganz anderen Weise über das Faktische hinausgehen, als der Historiker es tut, soll nicht verschwiegen werden. 1 ~ Und dass der exegeti-
Ereignis unlösbar verbunden ist mit dem Zeitpunkt. zu welchem es sich ereignet: vgl aaO 320 (in Auseinandersetzung mit dem logischen Determinismus). 11 Auf die erforderliche Neubewenung des Markusevangeliums hat Pesch. Marku.H•,·anKt'· lium 148-54 mit dem wünschenswenen Nachdruck hingewiesen. 14 Dieser Ansatz scheint in der neueren exegetischen Diskussion wieder an Boden zu gewinnen. Sozusagen auf die Spitze getrieben wird er. wenn Pesch in einem Aufsatz zur Entstehung des Auferstehungsglaubens schreibt: »Die Entstehung des Glaubens an die Auferstehung Jesu kAnn ... einmal durch das zeitgenössische religionsgeschichtliche Material, muss entscheidend aber durch Jesus selbst. sein Wirken. sein Geschick. seinen Tod. seine Person vermittelt sein: Durch den Glauben. den er gestiftet hat« (Entstehung 226: im Blick auf die zugrundeliegende Axiomatik ist der ganze Aufsatz sehr instruktiv). 1 ~ Immerhin bleibt zu beachten. dass auch der Historiker über das Faktische hinausgeht. indem er es im Lichte des Künftigen zur Sprache bringt. Deshalb kann jedenfalls der Unterschied zwischen dem historischen und dem theologischen Bezug auf Geschichte nicht mehr in
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Zum Problem einer »Christlichen Exegese«
sehe Rekurs auf das Faktische auch seinen Sinn hat, soll noch weniger angezweifelt werden. Es soll lediglich betont werden, dass dieser Regress nicht das einzige Kriterium historischer Wahrheitstindung darstellt. Schon das allein dürfte für die gegenwärtige Praxis der historisch-kritischen Methode von nicht geringer Bedeutung sein. Der zweite Aspekt geschichtsphilosophischer Art betrifft die Sprache, welche der Historiker spricht, bzw zu sprechen hat. Ein Blick sowohl in die synoptischen Evangelien wie auch in die Geschichtsbücher der Gegenwart vermag zu zeigen, dass die Grundform geschichtlicher Rede die Erzählung ist.l 6 Die dem Geschichtlichen angemessene Sprachform ist geprägt von der erzählenden Grundstruktur: das geschah, dann geschah, und dann geschah. Das ergibt sich aus der Eigenart des Geschichtlichen selbst. Im Gegensatz etwa zum naturwissenschaftlichen Denken, das akkurat darum bemüht ist, alle erzählenden Sätze zu eliminieren und sie in »Wenn-Dann-Sätze« umzuformen, gelingt es der Geschichtswissenschaft nicht, auf erzählende Sätze zu verzichten. Dies hat seinen Grund darin, dass das geschichtlich Einzelne oder die individuelle Totalität des Geschichtlichen niemals reduzierbar ist auf bedingende Faktoren oder allgemeine Gesetzmässigkeiten (und selbst wenn es solche Gesetzmässigkeiten geben sollte, wären sie erst nach dem Eintreten eines Ereignisses auf dieses anwendbar). Darum kann der Historiker seine Sprache nicht auf »Wenn-Dann-Sätze« beschränken; solche Sätze stehen als sprachlicher Ausdruck einer Theorie, deren Ziel eine Invarianz gegenüber Zeit und Individuellem ist. Auf solche Theorien kann der Historiker sich nicht beschränken, weil das eigentliche Wesen des Geschichtlichen in der Temporalität und Individualität besteht. Deshalb kann man sagen: die Erzählung, die eben darauf verzichtet, das Einzelne in das Allgemeine aufzuheben, ist die Grundform geschichtlicher Redeweise. Sie respektiert die Unableitbarkeit des Geschichtlichen, seine Zufälligkeit 17 und seinen überraschen-
Analogie zum Unterschied von Faktum und Deutung formulien werden. Die Differenz ist vielmehr selbst auf der E~n~ d~r D~utunK anzusiedeln. 111 Das narrative Element im But'ich der G~schichtsschr~ihunx ist eben deshalb unentbehrlich. weil es sich bei der Geschichte um ein Geschehen handelt. das wesentlich Handlungsvorgänge und (nicht-handlungsrationale) Ereignisse umfasst; dazu Lübbe. Geschichtsbegriff 73.74.75; Danto. Philosophie 392: Fellmann. Ende 134: Für die Geschichte ist die Differenz von Erwanung und Erfllllung konstitutiv. 17 Vgl Lübbe. Geschichtsbegriff 63: Troeltsch. Historismus 51; Faber. Theorie 68ff. bes 8688; kritisch demgegenüber Acham. Geschichtsphilosophie 245f.333f. Unter Zufall wird hier
I. Zum Geschichtsbegriff der Historiker
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den Charakter. Es soll wiederum nicht behauptet werden, nomothetische Wissenschaften und Sprachformen hätten in der Geschichtswissenschaft nichts zu suchen. Es soll lediglich bestritten werden, dass sie das Idiographische, die erzählende Vergegenwärtigung des Vergangenen, jemals werden ersetzen können. Von hier aus wird der Blick geschärft für die Problematik mancher Methoden, die in jüngster Zeit in die exegetische Wissenschaft einbezogen werden. Sicher haben soziologische, psychologische oder strukturalanalytische Denkmodelle ihr Recht. Aber es wäre dennoch verfehlt, wenn die Exegese den nomothetischen Sprachformen und Denkweisen gänzlich verfallen würde und dabei ihre eigenste Aufgabe vergässe: die Aufgabe der wissenschaftlichen Respektierung der Individualität und Unableitbarkeit des mit Jesus Christus entstandenen Glaubens, der weder religionsgeschichtlich abgeleitet noch soziologisch oder psychologisch funktionalisiert werden darf, sondern von dessen Entstehen im Grunde nur erzählt und dessen Unableitbarkeit auf diese Weise respektiert werden kann. 1K In diesem Zusammenhang ist meines Erachtens von Bedeutung, dass die Sprache des christlichen Glaubens von allem Anfang an so eng mit der Sprache der Geschichte verwandt ist. Die Wahrheit, die in der Sprachform der Erzählung ausgesagt wird, ist eben von einer anderen Art als die, welche beispielsweise dem Satz des Pythagoras zukommt. Es ist eine Wahrheit, die dem menschlichen Geist nicht überall und jederzeit erschwinglich war, sondern die ihm als potestas aliena, als durch die Externität der Geschichte vermittelte Wahrheit zugekommen ist. Es ist eine Wahrheit, die zur unmenschlichen und entfremdenden Ideologie wird, sobald man sie unter Absehung von dem sie vermittelnden Geschehen zur Sprache bringt. Verdankt sich diese Wahrheit einem geschichtlichen Zufall? Ja - sofern damit gesagt werden will, dass mit dem Rekurs auf die zufällige Geschichte sichergestellt ist, dass der verstanden. was unter keine Handlungsratio zu bringen ist. was durch keine Gesetzmässigkeil vollständig zu erklären ist. was in keinen allgemeinen und höheren Endzweck aufzuheben ist. was schliesslich selbst die Erwanungen und Möglichkeiten des Denkens überschreite!. Der Zufall- so verstanden- ist die Bedingung der Möglichkeil historischen Redens überhaupt •x Die nomothetischen Denkansä!Ze haben die Tendenz. das Einzelne durch Rückführung auf Allgemeines theoretisch zu reduzieren beziehungsweise kausal zu erklären. »Das Verführerische der kausalen Betrach!Ungsweise isl. dass sie einen dazu fühn zu sagen: 'Natürlich. - so musste es geschehen.' Während man denken sollte: so und auf viele andere Weise kann es geschehen sein'« (Wingenstein. Vermischte Bemerkungen 76). Die Respeklierung des Einzelnen kann- wie die Entwürfe von Danto und Lübbe deutlich zeigen -durchaus auch M'isst'nschaft/ic·h vollzogen werden.
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Zum Problem einer >>Christlichen Exegese«
christliche Gebrauch des Wortes Gott keine menschliche Möglichkeit ist.
II. Zum Gegenwartsbezug des Geschichtlichen Mit dem oben angedeuteten Grundzug geschichtlicher Sätze hängt es zusammen, dass der Gegenwartsbezug erneut zum Problem wird. Erblickt man das Wesen des Geschichtlichen darin, dass es notwendig der Vergangenheit angehört, dann würde jene Weise des Gegenwartsbezuges, die auf das Gleichzeitigwerden mit dem Vergangenen aus ist, eben das zerstören, was sie auf die Gegenwart beziehen wiJJ.1 9 Denn der Historiker, der sich um Gleichzeitigkeit mit dem auf die Gegenwart zu beziehenden Vergangenen bemüht, macht dadurch gerade sein qualitatives Plus rückgängig, welches genau darin besteht, dass er mehr weiss über ein Ereignis als selbst bei idealer Gleichzeitigkeit zu wissen möglich wäre. Um es an einem neutestamentlichen Beispiel zu verdeutlichen: die Forderung, der irdische Jesus sei durch existentielle Begegnung und dabei unter Absehung vom Kerygma (d.h.: von der Zukunft des Irdischen) auf die Gegenwart zu beziehen, ist schon historisch gesehen unsachgemäss, weil sie dazu anhalten will, das Wissen um die Zukunft des Irdischen auszublenden. Von da aus wird die Behauptung, die Begegnung mit dem Irdischen führe zu demselben Resultat wie die Begegnung mit dem Kerygma, 20 sehr fragwürdig, weil diese Weise des Gegenwartsbezugs weder der Zeitlichkeit des Irdischen noch der Geschichtlichkeit des Kerygmas gerecht zu werden vermag. Die Frage nach dem Gegenwartsbezug des Geschichtlichen lässt sich umformulieren in die Frage, was aus der Geschichte zu lernen sei. Eine häufig gegebene Antwort lautet: aus der Geschichte kann man lernen, wie man sich verhalten soll. 21 Ihr scheinbarer Vorzug besteht darin, dass - vordergründig gesehen - der Vergangenheitscharakter der Geschichte unversehrt bleibt. Blickt man genauer hin, so entdeckt man freilich, dass die normative Bedeutung des Vergangenen nur durch jenen Abstraktionsvorgang gewonnen werden kann, der das Vergangene
1 ~ Dazu Fellmann. Ende 117 (mit Blick auf den existentialistischen Geschichtsbegriff): Bron. Wunder 106: Danto. Philosophie 419f. 2o So Robinson. Kerygma 112. 166-182. 2i Dazu Lübbe. Geschichtsbegriff 2~208.
II. Zum Gegenwartsbezug des Geschichtlichen
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zu einem Beispiel für allgemeine Normen werden lässt. Es handelt sich dabei nicht um eine Gegenwartsbedeutung des Geschichtlichen selbst, sondern der Gegenwartsbezug wird durch die Praxis des erkennenden Subjekts hergestellt. Es können jetzt nicht alle Fragwürdigkeilen dieses Umgangs mit der Geschichte genannt werden. Für den Moment möge der Hinweis genügen, dass diese praktische Gestalt des Gegenwartsbezuges jenen Hiatus verdeckt, der - auch im Blick auf die Geschichte zwischen dem Sein und dem Sollen aufgetan ist. 22 Was sich hier als Gegenwartsbezug des Geschichtlichen ausgibt, ist in Wahrheit bloss dessen praktische Ausbeutung. In gewisser Hinsicht verwandt ist jene Position, die die Bedeutsamkeil des Geschichtlichen darin sieht, dass es uns in die Situation der Frage und der Entscheidung führt. 23 Die Geschichte, in welcher der Mensch zwar auch als Handelnder aber nicht weniger als Leidender thematisch wird, gewinnt also ihre Bedeutung dadurch, dass sie den Menschen auf seine Handlungs- und Entscheidungsmacht anspricht, sofern sie ihn in jene Situation führt, wo er sich entscheiden und handeln muss. Hier scheint mir eine bedeutsame Reduktion im Spiel zu sein: warum soll der Mensch, der in der Geschichte als Handelnder und Leidender zur Sprache kommt, im Gegenwartsbezug derselben Geschichte nur noch als Handelnder, als einer, der sich entscheidet, thematisch sein? Ist es zutreffend, dass die Geschichte in dieser Ausschliesslichkeit meinen Willen anspricht? Demgegenüber ist die Vermutung angebracht, dass die Geschichte doch nicht nur in die Situation der Frage führt, sondern auch Gewährung ist, sofern sie mich auch zum Sein ermächtigt. Die Vergangenheit lässt sich (theologisch gesprochen) nicht exklusiv auf die Rolle des Gesetzes festlegen. Wer die neuere exegetische Literatur betrachtet, kann unschwer erkennen, dass die skizzierte Weise des Gegenwartsbezuges recht häufig ist. Daraus resultiert dann folgerichtig die Überbetonung der Entscheidungsdimension des christlichen Glaubens. Wer strikt von dieser Entscheidungsdialektik her denkt, tut so, als ob ich beispielsweise vor die gleiche Entscheidung gestellt wäre, der sich die Jünger Jesu gegenüber sahen. Demgegnüber sei die Frage erlaubt, ob sich nicht darin so etwas wie Gnade verbirgt, dass ich nicht mehr in der Situation bin, zwischen Jesus oder Barabbas wählen zu müssen, sondern mich mit Texten vorfinde, die in zuvor22 B
Vgl Lübbe. Geschichtsbegriff 215. Vgl Bultmann. Geschichte und Eschatologie 169 (gegen die historistische Position).
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Zum Problem einer »christlichen Exegese«
kommender Weise darauf aus sind, mich von allem Anfang an auf die Seite des Nazareners zu ziehen. Indes, was aus der Geschichte zu lernen sei, lässt sich noch anders bestimmen. Orientiert man sich am Beispiel der eigenen Lebensgeschichte, so ist klar, dass diese einem andern deshalb erzählt wird, damit er lernen kann, wer ich bin. Zu lernen, wer wir und andere sind, das ist die fundamentale Bedeutsamkeil der Geschichte. 24 Die Erzählung von Geschichtlichem vergegenwärtigt vergangene Identität. Deshalb ist über vergangene Identität - und insofern in einer obliquen Weise auch über gegenwärtige - etwas aus der Geschichte zu lernen. Die Lehre, die man daraus zieht, ist freilich nicht normativ, sie spricht nicht den Willen des Menschen an sondern seine Einbildungskraft. Die Geschichts-Erzählung lehrt, die Identität und damit die Unverwechselbarkeil des Erzählten zu respektieren. Die Distanz, die dabei zu Gesicht kommt, steht im Interesse einer grösseren Nähe des Geschichtlichen, als dies im Zuge der Vereinnahmung, die eine bloss scheinbare Nähe des Vergangenen darstellt, möglich wäre. In diesem Zusammenhang ist es meines Erachtens bedeutsam, dass der christliche Glaube sich nie darauf beschränkt hat, den erhöhten Christus in seiner allgegenwärtigen Bedeutsamkeil für das einzig Massgebende zu halten. Vielmehr wurde von allem Anfang an vom irdischen Jesus erzählt, wenn es darum ging zu sagen, wer der Christus sei. 2 ~ In den Erzählungen vom irdischen Jesus würdigt das Neue Testament den Sachverhalt, dass der Christus gerade nicht zur Disposition des Glaubens steht. Deshalb bringt es die lndisponibilität der Geschichte Jesu im Zusammenhang mit dem Christus des Glaubens zum Zuge. Damit sichert das Neue Testament prinzipiell den Erfahrungsbezug des Glaubens; dieser Erfahrungsbezug gründet in der Extemität und Unverwechselbarkeil der Geschichte Jesu 24 »Wir können ... daran festhalten. dass wir aus der Geschichte etwas lernen können. nämlich zu wissen, .,.,.~r wir und andu~ sind« (Lübbe. Geschichtsbegriff 213. Hervorhebung von mir). Dies gilt auch dann. wenn die Kritik an der Formel historia magistra vitae ernst genommen wird. B Entgegen einem weit verbreiteten theologischen Voruneil ist festzustellen. dass dies nicht bloss fLir die synoptische Tradition sondern gerade auch für Paulus gilt. Mit seiner ständigen Betonung des Kr~u=~stodes Jesu (vgl z.B. IKor 1.17.18-25: 2.2: Gal 2.19f: 3.1.13: Phil 2.8) bringt Paulus die Identität des geschichtlichen Seins Jesu (die für Paulus in dem Tod am Kreuz zu ihrem klarsten Ausdruck kommt) in die Rede vom kerygmatischen Christus ein. Zum Problem vgl Stuhlmacher. Christologie 454: Käsemann. Heilsbedeutung 67: Scheider, An. au~ 575. 6ff: Bornkamm. Verständnis 177f: ders. Paulus 2J976 166; Luz. Theologia crucis 117: Kenelge. Verständnis 124f: Schrage. Verständnis 60.
II. Zum Gegenwansbezug des Geschichllichen
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von Nazareth. Damit schützt es den Glauben zugleich vor dem bemächtigenden Griff nach Christus und eben so vor der Vereinnahmung Gottes selbst. Dies ist eine der pragmatischen Hauptfunktionen der Kategorie des Geschichtlichen im Kontext des christlichen Glaubens. Wir haben festgestellt. ~ass eine erzählende Vergegenwärtigung des Geschichtlichen den Menschen nicht auf seinen Willen. sondern auf seine Einbildungskraft anspricht. Schon in der Sprachform der Erzählung ist beschlossen, dass ich davor bewahrt werde, das Geschichtliche praktisch auszubeuten. Die Geschichts-Erzählung weckt vielmehr mein lnteresse 26 für die in ihr präsentierte vergangene Identität. Wenn aber mein Interesse geweckt ist, so geschieht meine Zuwendung zum Vergangeneo gerade nicht mit dem Zweck, irgend einen praktischen Nutzen daraus zu ziehen. Das Interesse ist der praktischen Ausbeutung so fremd wie die Liebe der besitzergreifenden Verfügungsgewalt In diesem Sinne kann man sagen, dass die Sprache der Geschichtlichkeil die Sprache der Liebe ist, jene Sprache also, die dem anderen Dasein einräumt, die das andere in seiner eigenen Identität zu respektieren bemüht ist. 27 Wenn die geschichtliche Sprache eine Grundform der Sprache des Glaubens ist, so ist schon mit der Weise, wie der Glaube spricht, dem Missverständnis vorgebeugt. dass von Gott aus irgend einem praktischen Interesse die Rede sein könnte. Im Kontext des Christlichen ist von Gott nur deshalb die Rede, weil er sich in Jesus Christus zur Sprache gebracht hat. Anders gesagt: Gott ist weltlich nicht notwendig; 28 und eben dies zu wahren ist die Funktion, welche die Sprachform der geschichtlichen Rede hat. Deshalb bedeutet sie einen Gegenwartsbezug des Geschichtlichen. der weder die Vergangenheit auf die Rolle des Gesetzes festlegt noch den Angesprochenen in die Position der Entscheidungsmacht und des Handlungszwangs versetzt. Vielmehr lenkt sie den Angesprochenen ab von sich selbst und seiner Gegenwart, um ihn auf diese Weise neu auf seine Gegenwart zu beziehen.
Vgl Lübbe. Geschichlsbegriff 159.191 f.297 (mil Verweis auf Blumenberg). ·Dit Spra,·ht dtr Gtschichtlichktit bilde! jenes Sagen ... aus. in welchem einer dem andem die Möglichkeil zumulel und einräum!. sich von der Weh so zu distan:itrtn. dass alle gerade an der Weh erfahren. was grösser isl als diese (Gal. 6.2f0.« Diese Sprache isl insofern die Sprache der Liebe. als Liebe »weder nur Gesinnung noch nur Hahung isl. sondern ein Einräumtn von Dasein und vor allem die Treue zu einem Won. das dem Gelieblen gegeben worden isl« (Fuchs. Hermeneulik 1 1963 174). 2A Dazu vgl Jüngel. Geheimnis 16-44. 211
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Zum Problem einer »christlichen Exegese«
III. Zum Problem eines theologischen Bezugs auf Geschichte In den vorangegangenen Überlegungen stand die geschichtswissenschaftliehe Problematik stark im Vordergrund, so dass zu wenig berücksichtigt wurde, dass zwischen dem historischen Bezug auf Geschichte und dem theologischen Bezug auf Geschichte qualitative Unterschiede bestehen. Auf diese soll jetzt eingegangen werden. Die eingangs gemachte Feststellung, dass der christliche Glaube ein intimes Verhältnis zur Geschichte habe, findet gegenwärtig fast allgemeine Anerkennung. Das kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieses enge Verhältnis in neuerer Zeit immer wieder Auflösungsversuchen ausgesetzt war. Insbesondere im Anschluss an den ebenso faszinierenden wie problematischen Satz Lessings von den zufälligen Geschichtswahrheiten hat man gemeint, einen fundamentalen Widerspruch zwischen der Zufälligkeit des Geschichtlichen und der sich aus ihr ergebenden prinzipiellen Unsicherheit einerseits und der Gewissheit des Glaubens andererseits feststellen zu müssen. Daran schlossen sich die verschiedensten Versuche an, den Glauben von der Zufälligkeit der Geschichte fernzuhalten. Die fides historica wurde zur allgegenwärtigen Gefahr für den Glauben emporstilisiert. 29 Alle diese Versuche haben den Nachteil, das Verhältnis des Glaubens zur vergangenenGeschichte nicht mehr angemessen würdigen zu können. Etwas pointiert ausgedrückt: alle diese Versuche haben einen Zug zur Gnosis, den sie übrigens an sich selbst wahrnehmen und der ihnen beträchtliche Schwierigkeiten macht. Ihnen gegenüber wäre die Frage erlaubt, ob es denn wahrhaftig so selbstverständlich sei, dass der Glaube mit zufälligen Geschichtswahrheiten so wenig zu tun habe. Ist denn die Wahrheit des Glaubens tatsächlich analog zu jenen allgemeinen Vernunftswahrheiten, für die zufällige Geschichtswahrheiten allerdings nie Beweis werden können? Ist die Wahrheit des christlichen Glaubens allgemein und atemporal wie die Wahrheiten der Vernunft? Im Blick auf den Ursprung des Glaubens muss dies verneint werden. Der christliche Glaube !"Eine weit verbreitele theologische Denkfigur argumentien. dass es dem Wt'st'n des christlichen Glaubens widerspreche. wenn er sich auf »historische Tatsachen« gründe. Zu dieser Denkfigur vgl etwa Robinson. Kerygma 58f.94f: Das »Wesen des Glaubens ist die Zurückweisung weltlicher Sicherheil als einer Werkgerechtigkeit«: geschichtliche Vergewisse· rung sei also »Auch! in eine theologische securitas• (aaO 95). Dieselben Vorbehalte macht auch Buhmann. Verhältnis I~ 14. Dieselbe Denkfigur begegnet neuerdings wieder bei Han· lieh. Historisch-kritische Methode 483.
111. Zum Problem eines theologischen Bezugs auf Geschichte
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ist grundlegend bezogen auf den Zufall des Daseins Jesu und insofern auch auf die Zufälligkeiten, denen sich der Glaube Israels verdankte. Daraus soll freilich nicht der Schluss gezogen werden, dass die Wahrheit des christlichen Glaubens identisch mit den zufalligen Geschichtswahrheiten sei. Damit würde der Glaube in Geschichte aufgelöst und insofern gleichfalls seines Verhältnisses zur Geschichte beraubt. Was identisch ist, kann nicht zugleich in einem Verhältnis stehen. Im Interesse einer angemessenen Verhältnisbestimmung von Glaube und Geschichte lohnt sich die Beschäftigung mit den exegetischen Ergebnissen der neutestamentlichen Wissenschaft. Hält man sich etwa vor Augen, wie die synoptischen Evangelien sich auf die Geschichte Jesu beziehen, so fällt auf, dass es nicht bloss um die Erzählung der Geschichte geht. Vielmehr verlassen sie den Bereich des Geschichtlichen immer wieder, indem sie die Geschichte Jesu als Geschichte der Ankunft Gottes in der Welt erzählen. Das ist ja auch der Grund daftir, dass sie sich nicht mit der Gattung der Biographie begnügen konnten. Von Jesus wird so erzählt, dass er als Logos Gottes, als Bote der Weisheit, als neuer Adam, als Sohn Gottes und so weiter, transparent wird. 30 Darin zeigt sich, dass der christliche Glaube von allem Anfang an über das Geschichtliche hinausgegangen ist, und zwar in qualitativ verschiedener Weise als der Historiker über das Geschichtliche hinausgeht. Das Faszinierende dabei ist indes, dass der Glaube das Geschichtliche dennoch nie hinter sich gelassen hat. Wer dieser Gottessohn ist, wird mit Bezug auf die geschichtliche Identität Jesu ausgesagt. Durch das Bekenntnis zum Gottessohn wird der Irdische gerade nicht entgeschichtlicht, sondern vielmehr als der Geschichtliche in seiner unendlichen Bedeutung ausgesagt.·'' Eben dies unterscheidet den christlichen Glauben prinzipiell von jeder gnostischen Konzeption. 32 Für ihn ist und bleibt der Bezug auf das Geschichtliche konstitutiv. Dass dies zutrifft,
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Besonders augenfällig ist dies. wenn Markus in Mk 1.1 das folgende Evangelienbuch mit
ciPl"' UIU riayyd.lodhpoü Xpunoü überschreibt. Das vom irdischen Jesus verkündigte Evangeli-
um Gottes (vgl 1.14!) gehön unaunöslich zur ciPXIi jenes Evangeliums. dessen Inhalt nunmehr Jesus Christus ist: vgl Amold. Eröffnungswendungen 123-127: Feuillet. commencement 163174. bes 166-169: Gnilka. Markus I 42f.65f. 11 Dazu vgl Leroy. Jesus von Nazareth 232-249. n Zur Problematik des gnostischen <Miss-)Verständnisses und seiner Abwehr durch den Rückgriff auf die geschichtliche Identität Jesu vgl Schweizer, Leistung 21-24 (flir Mk): sowie Käsemann. Heilsbedeutung 103: Eichholz. Theologie 152: Schweizer. Ökumene 105: Käsemann. Analyse 92f (ftir Phi I 2.8).
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Zum Problem einer »Christlichen Exegese«
lässt sich nicht nur an den Evangelien zeigen, sondern auch an der pauIinischen Kreuzestheologie. Paulus hat sich bekanntlich nie darauf beschränkt, den Kreuzestod Jesu nur geschichtlich - etwa als Martyrium des Propheten- zur Sprache zu bringen. Er hat den Kreuzestod Jesu als die Tat der Liebe Gottes verstanden (vgl Röm 5,8). Andererseits hat Paulus das Kreuz Jesu als geschichtliches Ereignis nie hinter sich gelassen. Das Kreuz ist bei ihm nirgends zur theologischen Chiffre geworden. Vielmehr bezeichnet es den bestimmten, konkreten Tod Jesu und ist es in dieser Verweisungsqualität konstitutiv (vgl etwa Gal 3,13). 33 Die Einheit von theologischer und historischer Dimension ist festgelegt im paulinischen Ausdruck des Wortes vom Kreuz (zß IKor 1,18-25). Im Wort vom Kreuz kommt das Kreuz weder bloss als theologisches Symbol noch bloss als historisches Ereignis zur Sprache. Denn das Wort vom Kreuz ist einerseits Torheit und Ärgernis, andererseits Gottesmacht und Gottesweisheit. Die Ärgerlichkeil und Torheit des Kreuzes ist darin begründet, dass angesichts dieses konkreten Sklaventodes Jesu von Gott gesprochen werden muss (ohne den theologischen Bezug ist das Kreuz in keiner Weise ärgerlich und töricht!). Das Ärgernis und die Torheit ergeben sich demnach daraus, dass das Wort Gott so auf die Geschichte des Kreuzestodes Jesu bezogen wird, dass dabei zwar die Dimension des Geschichtlichen überschritten aber nicht übergangen wird. Die Macht Gottes kommt ja im Wort vom Kreuz als die Kehrseite der Ohnmacht des Gekreuzigten zur Sprache; das, was künftig Macht Gottes zu heissen verdient, kann nur in seinem Zusammenhang mit jenem konkreten Ereignis der Ohnmacht Jesu verstanden werden; deshalb muss diese Geschichte theologisch im eigentlichen Sinne des Wortes verstanden werden. Das Wort vom Kreuz ist demnach Grundform des theologischen Bezugs auf Geschichte (dasselbe gilt übrigens von der Gattung »Evangelium«): in ihm wird auf eine Weise über das Geschichtliche hinausgegangen, dass dieses dabei dennoch nicht übergangen wird. An diesem Wort vom Kreuz hat sich eine geschichtliche Hermeneutik des Neuen Testaments zu orientieren. Schliesslich ist darauf aufmerksam zu machen, dass der dem christlichen Glauben inhärente Rückbezug auf Geschichte den Glauben vor
H Zum Problem des historischen Bezugs. welchen das Schriftzitat in Gal 3.13 vornimmt. vgl die Tempelrolle von Qumran. Kol 64.8f (dazu Maier. Tempelrolle 64.1240. Zum Verständnis von Gal 3.13 vgl ferner Kenelge. Verständnis 129; Kuhn. Jesus 33-35; Mussner. Galaterbrief 233f mit Anm 112.
111. Zum Problem eines lheologischen Bezugs auf Geschichle
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dem Verlust seines Erfahrungsbezugs bewahrt. Dies gilt zunächst in dem Sinne, dass Jesus von Nazareth, mit dem der christliche Glaube seinen Anfang nahm, in seinem irdischen Dasein durchaus in der Reichweite der Welterfahrung liegt. Seine Geschichte ist in einem prinzipiellen Sinne öffentlich,J 4 auch wenn sogleich eingeräumt werden soll, dass die Berichte über Erfahrungen mit Jesus von der NichtÖffentlichkeit innerer Anschauungen der Berichtenden nicht unberührt sind. Diese prinzipielle Öffentlichkeit der Geschichte Jesu bringt es mit sich, dass der christliche Glaube diskutabel und intersubjektiv vermittelbar ist, weil und sofern er nicht in der Privatheil innerer Erlebnisse seinen Ursprung hat. Die mit dem Geschichtsbezug gegebene prinzipielle Öffentlichkeit ermöglicht es den Denkweisen dieser Welt (zu denen nicht nur Weisheitssuche und Zeichenforderung, sondern auch die historisch-kritische Methode gehört), überhaupt an Jesus Christus heranzutreten, um dann allerdings auch in die Kehre zu kommen. Dieser hier anvisierte Erfahrungsbezug des christlichen Glaubens macht eine allgemein einsichtige Hermeneutik allererst möglich und ist gleichzeitig ein Schutz gegen die Gefahr, einer hermeneutica sacra zu verfallen.u Die Herkunft des Glaubens aus geschichtlicher Erfahrung sorgt ferner für die Erfahrungsbezogenheil christlicher Existenz. Im Lichte der Geschichte des Kreuzes sind die Welterfahrungen des Christen als Gotteserfahrungen ansprechbar. Deshalb kann beispielsweise Paulus die Korinther an ihre (soziale) Herkunft erinnern (I Kor I ,26-31 ), um so ihre frühere Erfahrung der Nichtigkeit und Niedrigkeit zur Auslegung jener Liebe Gottes werden zu lassen, in der Gott die Korinther gerade in ihrer Nichtigkeit gerufen und also geliebt hat. Die Erfahrung der Nichtigkeit und Schwäche wird dadurch zur Erfahrung der Liebe Gottes, welcher den Nichtigen und Schwachen zum GeHiss seiner Auferweckungsmacht in der Welt erwählt hat (vgl 2Kor 13,4)Y, Gewinnt die
14 Auf die prinzipielle Öffenllichkeil des Kreuzesgeschehens nimm! Paulus insbesondere in Gal 3.1 Bezug ~~~~~ ~ ... JlpCirfpli.,V. Darnil isl das Kerygma der Willkür subjekliver lnlerprelalion prin:ipidl en1zogen. '~ Dazu Sluhlmacher. Verslehen 218-220: sowie ders. Hislorisehe Krilik 126: .. unser hermeneulisches Modell is1 also kein spezielllheologisches ... «. 11• Zu 2Kor 13.4 vgl Slählin. Art dcnlevtll; 489.41-43: Käsemann. Ami 126. Beizuziehen sind ferner 2Kor 12.9 und Gal 2.19f. sowie die charaklerislische Eigenan der paulinischen Perislasenkalaloge. welche den Zusammenhang von Kreuzeslheologie und aposlolischer Erfahrung sehr schön zeigen ... Die dem Leidenden geschenkle &imq&~ und 01'1 isl nichl eine
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Zum Problem einer »Christlichen Exegese«
Welterfahrung eine solche theologische Dimension, so braucht sie nicht mehr beschönigt und/oder praktisch übersprungen zu werden, sondern kann in aller Sachlichkeit gesehen und akzeptiert werden. Mit dem Erfahrungsbezug des christlichen Glaubens, welcher in seinem Geschichtsbezug - genauer: in seinem Bezug auf die Geschichte des gekreuzigten Christus - gründet, ist also zugleich die Erfahrungsbezogenheil christlicher Existenz gegeben. Jener Erfahrungsbezug ermöglicht ein Sein im Fleisch, das dennoch nicht ein Sein nach dem Fleisch ist. Auf solcher Grundlage kann dann auch eine Liebesbeziehung des Menschen zur Welt, zu den Menschen und zu sich selbst entstehen (vgl Gal 5,6). Diese beiden knappen Hinweise mögen genügen, um die Bedeutung des Bezugs auf geschichtliche Erfahrungl 7 anzuzeigen.
IV. Bemerkungen zur Methodenproblematik der Exegese Im folgenden möchte ich einige wenige Bemerkungen zur »christlichen Exegese« machen, wie sie sich aus den obigen Überlegungen ergeben. Der Leser möge die thesenartige Form verzeihen; sie bringt noch einmal zum Ausdruck, dass es sich beim vorliegenden Papier um einen Versuch handelt, einige Anfragen an die exegetische Methodik und Methodologie zu formulieren. I. Eine Exegese, die sich mit Texten beschäftigt, welche einen unübersehbaren Geschichtsbezug haben, wird im Blick auf ihren Geschichtsbegriff eine sorgfältige Wahl zu treffen haben. Sie wird darauf
Schöpfungsqualität. sondern nichts anderes als das 'Leben Jesu' (2Kor 4. 10) und damit 'Leben aus dem Tode' (Röm 11.15).« Deshalb fehlt in diesem Zusammenhang ein »Rekurs auf einen Schöpfer. dertrotzaller Kalamitäten und Aporien doch für Harmonie und Ordnung sorgt und die Geschichte lenkt« (Schrage. Leid 153 ). 17 Mit dem Begriff der geschichtlichen Erfahrung soll angezeigt werden. dass es sich um etwas handelt. das gerade in seiner Bezogenheil auf geschichtliche Tatsachen über diese hinausgeht. Geschichtliche Erfahrung ist nicht mit Beobachtung zu verwechseln. Vielmehr ist die Nicht-Beobachtbarkeit die Bedingung der Möglichkeit der geschichtlichen Erfahrung. aus welcher der Glaube herkommt: der Glaube konnte diese seine Erfahrung erst machen. als er das Kreuz Jesu im Licht der Auferweckung zu verstehen begann. Sofern im Begriff der Erfahrung derjenige der Gegenwärtigkeil angelegt ist (dazu Danto. Philosophie 154). kann man Geschichtliches per definitionem nicht »erfahren«. Die Erkenntnis des Geschichtlichen schliesst eine Gleichzeitigkeit mit ihrem Gegenstand ausdrücklich aus. Dennoch steht sie in beträchtlicher Analogie zur Erfahrung. Um diese Analogie festzuhalten. wird hier nicht bloss von geschichtlicher Erkenntnis. sondern von geschichtlicher Erfahrung gesprochen.
IV. Bemerkungen zur Methodenproblematik der Exegese
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zu achten haben, dass sie einerseits nicht einem Geschichtsbegriff verfällt, der die Zukunftsdimension der Ereignisse auszublenden versucht und ein Ereignis bloss im Regress auf es selbst zu beschreiben trachtet. Sie wird andererseits darauf zu achten haben, dass sie- im Vollzug ihrer Methoden - die Einzelereignisse und Einzeltexte nicht theoretisch reduziert. Unter theoretischer Reduktion sei hier das verstanden, dass ein Ereignis oder ein Text mittels nomothetischer Kategorien beschrieben und also in den Bereich des Allgemeinen aufgehoben wird. Um einer theoretischen Reduktion entgegenzuwirken, wird sich die Exegese bei allem Recht, das auch den nomothetischen Überlegungsgängen soziologischer, strukturalanalytischer oder psychologischer Art eingeräumt werden soll - von der historischen Methodik der erzählenden Erklärung 38 leiten lassen, welche den Phänomenen ihre Unableitbarkeit und Individualität nicht abspricht. Di·e bis in die jüngste Gegenwart immer noch geübte Unsitte der religionsgeschichtlichen Ableitung müsste endlich durchschaut werden können: dann aber ist nicht einzusehen, wieso ihre Fehler soziologisch oder tiefenpsychologisch noch einmal wiederholt werden sollten. Welchen Gewinn verspricht man sich denn von der Einordnung eines Textes in eine psychologische Theorie, wenn dabei der Text bestenfalls noch ein Sprechanlass für die sowieso schon bekannten theoretischen Inhalte ist? 2. Eine Exegese von Texten, welche einen so eindeutigen Geschichtsbezug haben wie die neutestamentlichen, wird eben diese Verweisungsdimension der Texte auch methodologisch zu respektieren haben. Respektiert man die Verweisungsdimension der Texte, so ergibt sich daraus eine kritische Distanz zu allen Auslegungsmethoden, welche die Texte als Welt in sich zu betrachten heissen, ohne zugleich ihren Verweisungsbezug, ihr Sagen von Welt, in die Auslegung einzubeziehen.39 Die historisch-kritische Exegese ist genau jener methodische Gebrauch der Vernunft, welcher vom Glauben selbst gefordert wird, sofern dieser ständig auf das Extra-nos der Geschichte verweist und dazu anhält, seine Sprache an diesem zu messen. Dieser Verweisungsbezug berechtigt zu einem vernünftigen Messen der Sprache des Glau-
'K Zur »erzählenden Erklärung« vgl die Analyse von Danto. Philosophie 232-291.371-406 und Lübbe. Geschichtsbegriff 35--68. Lübbes Absicht ist. »einen Geschichtsbegriff zu entwikkeln. der genau dasjenige Element der Historie fasst. über das sie nicht im Modus theoretischer, sondern erzählender Texte spricht« (aaO 28). 19 Dazu Ricoeur. Konflikt 32-39.
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Zum Problem einer »Christlichen Exegese«
bens an dem, worauf sie verweist, und eben dieser Messvorgang ist dann auch der legitime Ort der Sachkritik, welche mit der wissenschaftlichen Exegese notwendig gegeben ist. Das sachkritische Kriterium ist genau jene Mitte, auf welche die Schrift verweist. Beachtet man, dass die Schrift auf ihr Mitte verweist, so muss Abstand genommen werden von den Versuchen, einen Teil der Schrift als ihre Mitte und also auch als sachkritische Basis zu deklarieren, gleichgültig, ob dies der historische Jesus der Synoptiker oder das paulinische Evangelium sei. 40 3. Die Unterscheidung von historischem und theologischem Bezug auf Geschichte muss auch exegetische Folgen haben. Wenn es wahr ist, dass die Auferweckungsmacht Gottes die Kehrseite der Ohnmacht des Gekreuzigten ist, und dass von da her alle Welt und alle Geschichte in ein neues Licht gestellt werden, dann kann sich die Exegese jedenfalls nicht dazu hergeben, die Phänomene ausschliesslich auf ihre weltliche Wirklichkeit festzulegen. Zweifellos ist das Sehen mit den Augen Gottes Sache des Glaubens und nicht Sache einer säkularen Methode. Dennoch kann sich auch die säkulare Methode nicht davon dispensieren, unter Einsatz des methodischen Gebrauchs der Vernunft dafür zu sorgen, dass die Phänomene und Texte in ihrer Unabgeschlossenheit belassen werden. Es kann also nicht Sache einer säkularen Methode sein, den glaubenden Zugang zu dem, was sie bearbeitet und auslegt, zu versperren.41 4. Die Exegese hat von der Fiktion Abschied zu nehmen, als seien historische Phänomene dann und nur dann verstanden, wenn das Wissen des Auslegers um ihre Zukunft ausgeblendet wird. Die Wirkungsgeschichte - ein Begriff, der trotz seines kausalen Anscheins nicht kausal verstanden werden darf - gehört mit zur historischen Wahrheitserkenntnis über ein vergangenes Geschehen oder einen vergangeneo
40 Dies ist kritisch in Anschlag zu bringen gegen den Ansatz von Schutz. Mitte passim. bes 429-433. 41 P.Stuhlmacher nennt als »drille hermeneutische Dimension theologischer Exegese« die »Offenheit für die BeKeKnUnK mit der uns aus der Trans:enden: heraus :ukommenden Wahr· heit Gottes« (Stuhlmacher. Kritik 125) und verweist ausdrücklich auf die Problematik. welche mit dem der Schriftauslegung jeweils zugrunde gelegten Geschichtsbegriff gegeben ist. Wie weit die prinzipielle Offenheit von der Einftlhrung der fast normativen Grösse »kirchliche Tradition« gestört wird. und ob der Begriff der »Hermeneutik des Einverständnisses« dazu geeignet ist. jene Offenheit des Geschichtlichen angemessen zu wahren. wird noch gründlich diskutiert werden müssen.
IV. Bemerkungen zur Methodenproblematik der Exegese
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Text, welcher jener Wirkungsgeschichte vorausliegt. Unter Wirkungsgeschichte ist freilich nicht bloss positive Entfaltung der Texte in der »kirchlichen« Tradition zu verstehen (das wäre ja Auslegungsgeschichte), sondern ebenso sehr auch die mannigfaltigen Folgen jener Texte in Dichtung und Kunst, in Weltanschauung und Wissenschaft. Ausdrücklich sei gesagt, dass auch die negativen Folgen (also die Absetzung oder die Aufgabe von wesentlichen Aussagen der Texte) hinzuzurechnen sind. Wird auf diese Weise wirkungsgeschichtlich gedacht, dann ist die bloss historische Deskription der Texte42 nur ein wenn auch nicht unwesentlicher - Teil der exegetischen Aufgabe, die insbesondere dahingehend auszuweiten ist, dass der Ausleger mit derselben methodischen Klarheit auf den Wegen weiterdenkt, die nun nicht mehr einfach die Wege der Texte sondern vielmehr die von den Texten gewiesenen Wege sind. 5. Ausgehend davon, dass der Geschichtsbezug des christlichen Glaubens wesentlich zu diesem gehört, muss meines Erachtens sehr darauf geachtet werden, welcher Sprachformen sich die Exegese bedient. Wendet sie tempusneutrale und beschreibende Sprachformen an, ist damit die Gefahr gegeben, dass sie im Vollzug der Auslegung die Zeitlichkeit der Texte rückgängig macht und damit zugleich ihre Eigenart zerstört. Es sollen Sprachformen zur Anwendung kommen, die es erlauben, die Würde des historischen Einzelphänomens angemessen zu wahren (von hier aus muss es als problematisch erscheinen, wenn beispielsweise die paulinische Theologie, welche ja in Briefform vorliegt, exegetisch in eine Systematik theologischer Lehren verwandelt wird). 6. Die Wahl der Sprachformen wird besonders entscheidend, wenn es um den exegetisch intendierten Gegenwartsbezug geht. Es gibt ja Sprachformen, die einen Gegenwartsbezug des Vergangenen schon deshalb verunmöglichen, weil sie durch tempusneutrale Beschreibung der Vergangenheit dieser ihre Zeitlichkeit nehmen, die für einen Gegenwartsbezug unabdingbar ist (ein Beispiel kann in der Umsetzung neutestamentlicher Texte in existential~ntologische Kategorien gesehen werden). Es gibt ferner Sprachformen, die einseitig den Willen des Menschen ansprechen und diesen zur praktischen Vergegenwärtigung des \'ergangenen verleiten (appellative Sprachformen, die zur Gesetzlichkeit in der Theologie führen). Wenn es demgegenüber zutrifft, dass
42 Dazu
Schlier. Grundzüge 9-12.
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Zum Problem einer »Christlichen Exegese«
der Gekreuzigte in seiner Vergangenheit von gegenwärtiger Bedeutung ist, dann müssen Sprachformen gewählt werden, welche den Angesprochenen von sich selbst ablenken, indem sie ihn in das vergangene Geschehen verwickeln, um ihn selbst auf diese Weise neu auf die Gegenwart zu beziehen. Schliesslich noch ein Wort zur Aufgabe der Exegese im ganzen der theologischen Disziplinen: Ihre spezifische Aufgabe ist es, den christlichen Glauben ständig an seine geschichtliche Herkunft, insbesondere an seinen geschichtlichen Ursprung, zu erinnern. Bildlich gesprochen verhält es sich mit der Exegese wie mit etymologischen Worterklärungen. Gewiss ist man in der Lage, die Sprache zu gebrauchen, ohne ihre etymologischen Hintergründe zu kennen. Aber etymologisches Wissen führt dennoch zu einer Steigerung der Sprachkompetenz, weil es zunächst einmal rätselhaft erscheinen lässt, was man selbstverständlich gebraucht, um das Selbstverständliche dann in einer gesteigerten Weise verständlich werden zu lassen. In ähnlicher Weise lässt sich von der Exegese sagen, dass sie verrätselt, was dem gegenwärtigen Glauben selbstverständlich (bzw dem gegenwärtigen Unglauben unverständlich) erscheinen könnte, um auf diese Weise den Glauben zu einer Steigerung seines Selbstverständnisses zu führen. Diese Steigerung des Selbstverständnisses beruht insbesondere darauf, dass die Exegese an jenen geschichtlichen Zufall erinnert, welchem sich der Glaube verdankt. So erinnert sie ihn ständig daran, dass er sich weder menschlichen Wünschen noch weltlichen (oder gar praktischen!) Notwendigkeiten verdankt, sondern dass er seinen Grund hat in dem alle Wünsche und Notwendigkeiten hinter sich lassenden Ereignis der Liebe Gottes, welches seine konkrete und unverwechselbare Gestalt in der Geschichte Jesu Christi gefunden hat.
Die Gabe der E~'flVEta ( 1Kor 12 und 14) »Das primäre Verslehensphänomen ist nicht das Verstehen von Sprache. sondern das Verstehen durch Sprache.«• Diese hermeneutische Einsicht G. Ebelings gehön an den Anfang unserer Überlegungen zur Gabe der ERL'fl\IE\a. Damit soll angezeigt werden. unter welchem Gesichtspunkt die paulinischen Ausführungen im I Kor betrachtet werden. Im Mittelpunkt steht die Frage: Was gibt der paulinische Text zu verstehen im Blick auf das hermeneutische Problem? Die Erinnerung an Paulus geschieht in der Hoffnung. es könne dadurch etwas beigetragen werden zum Verständnis theologischer Hermeneutik. Selbstverständlich handelt es sich bei der nun folgenden exegetischen Bemühung um einen Verstehensvorgang. der G. Ebelings hermeneutische Einsichten in hohem Masse voraussetzt. Der hermeneutische Zirkel besteht wohl immer darin. dass bestimmte Einsichten an einen Text herangetragen werden. damit dieser neue Einsichten zu erzeugen vermag. Insofern mögen die folgenden Überlegungen als eine Wirkung hermeneutischer Theologie in Zürich verstanden werden. Nun ist es ja auch eine hermeneutische Einsicht. dass die Ursachen nicht für ihre Wirkungen verantwortlich sind. Das gilt auch für die vorliegende Wirkung und ihre mögliche Ursache, und es sei allen Verursachern hermeneutischer Wirkungen zum Trost gesagt.
I. Die Gestalt der iPJ.L'JlVEia In einem ersten Überlegungsgang werde ich die Gestalt der ERL'fl\12\a zu umreissen versuchen. wie sie in den beiden genannten Kapiteln des ersten Korintherbriefes in Erscheinung tritt. Allgemein lässt sich festhalten, dass die EAt'fl\IE\a zu den xapiOJUX'ta. den Gnadengaben, zählt: sie findet sich neben anderen Gnadengaben wie etwa prophetische Rede, Unterscheidung der Geister oder Zungenrede als ein Moment der Entfaltung kirchlichen Lebens in Korinth (I Kor 12.10). 2 Auffallenderweise ist die ERL'fl\IE\a eng auf die Zungenrede bezogen: offenbar ist die Zungenrede das einzige Geistphänomen, das einer Übersetzung bedarf. 1 Ebeling. 2 Zur
Won Gottes .H3 (das ganze Zitat kursiv. Hervorhebungen gesperrt). unsystematischen Aufzählung von Charismen vgl Conzelmann. I Kor 246f.
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Die Gabe der *A&'ll'&ia (I Kor 12 und 14)
Dies ist insofern nicht verwunderlich, als die Zungenrede ja ein ekstatisches Lallen war, ein Ausstossen von unverständlichen Lauten. Trotzdem hat der Glossolale nach der Meinung des Paulus etwas zu sagen. Deshalb muss der hermeneutisch Begabte einspringen, um die unverständlichen Laute zu übersetzen. Der Rahmen, in welchem sich die 2PJ.LllVEia entfalten kann, lässt sich indessen noch genauer bestimmen: im Kapitel 14 verwendet Paulus grosse Mühe darauf, dem Glossolalen den Propheten gegenüberzustellen. Der ekstatischen Zungenrede hält er die verständliche Prophetie entgegen, wobei er mit seinem Werturteil nicht hinter dem Berg hält. Für Paulus ist es keine Frage, dass die Prophetie, das verständige Wort, die wertvollere Gabe darstellt. 3 Dennoch will er die Glossolalie nicht aus dem Gottesdienst verbannen: ))Wenn jemand in himmlischer Sprache redet, gut! Aber nur zwei oder höchstens drei und einer nach dem andem, und einer soll es übersetzen« (1 Kor 14,27). Daraus ergibt sich: die Gabe der Übersetzung hat ihren Ort, wo es um die Überführung der Zungenrede in Prophetie geht. Die 2PJ.lllVEia verwandelt das ekstatische Lallen in prophetisches Wort. Das ist der eigentliche Rahmen dieser Gnadengabe. Wer ihre konkrete Gestalt näher kennenlernen will, muss sie an diesem Ort aufsuchen. Die EPJ.lllVEla ist die Überführung des ekstatischen Zungenredens in verständige prophetische Sprache. Aus dieser Ortsangabe ergibt sich, was unter Übersetzung zu verstehen ist. 1. Der Zungenredner spricht, wie Paulus feststellt, nicht zu Menschen, sondern zu Gott. Keiner versteht ihn, im Geist redet er Geheimnisvolles. Demgegenüber spricht der Prophet zu Menschen, um sie zu erbauen und zu ermahnen ( 14,2f). Aufgabe des Hermeneulen ist es also, das nur zu Gott Gesprochene, das für Menschen Unverständliche verständlich zu machen. Der hermeneutisch Begabte interpretiert das Zungenreden so, dass es nicht mehr bloss an die Adresse Gottes ergeht, sondern für andere Menschen verstehbar ist. Das heisst: aus der Glossolalie wird eine den Menschen ansprechende Sprache. Und dies geschieht ganz einfach dadurch, dass er den formlosen Lauten die Gestalt der bekannten Sprache gibt. Daran kann man erkennen, inwiefern das Zur-Sprache-Bringen schon ein hermeneutischer Vorgang ist. 4
lDies ist das ausdrückliche Thema von 14.1-5: vgl Senfl. JCor 173-175. 4 Dies ergibt sich schon aus der Wonbedeutung von iA&tprielll (vgl Behm. An. *A&TJIIIND.
659. 22-30). Zum Problem vgl auch Ebeling. An. Hermeneutik. Sp.243.
I. Die Ges1alt der iA&tlfti.a
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2. Ein weiterer Aspekt der hermeneutischen Tätigkeit kommt in I Kor 14,13f zu Gesicht. Paulus ermahnt hier den Zungenredner. darum zu beten, dass er es auch übersetzen könne. Denn wenn einer in einer himmlischen Sprache betet, so betet sein Geist (das JtV~), sein Verstand aber ist unfruchtbar.~ Mit dem Geist muss hier der göttliche Geist gemeint sein, der im Menschen Reaktionen erzeugt, bei denen der Verstand unfruchtbar bleibt. Was bedeutet es, wenn der Verstand unfruchtbar bleibt? Es bedeutet, dass der göttliche Geist gar nicht in den Menschen eingeht, dass er gleichsam unverrichteter Dinge im Gebet zu Gott zurückkehrt. Glossolalisch im Geist beten und dabei den Verstand nicht zum Zug kommen lassen ist dasselbe, wie wenn Christus nicht im Fleisch gekommen wäre. Die Zungenrede ist zwar eine Wirkung des Geistes, sie ist jedoch nicht in der Reichweite des Verstandes. Also betrügt sich der Mensch um die Früchte seines Verstandes, es sei denn. er könne die Geistwirkung übersetzen. Was sind die Früchte des Verstandes? Dazu Paulus in I Kor 14,19: »Aber in der Gemeindeversammlung will ich lieber fünf Worte im Verstand reden, damit ich auch andere unterweise, als zehntausend in Zungenrede«. 6 Die verständigen Worte sind dem Verstand anderer Menschen zugänglich. Deshalb können diese die Sache vernünftig beurteilen, um daraus zu lernen. Der göttliche Geist ist wirkungslos, wenn er nicht in verständliche Sprache gefasst wird. Denn der Verstand ist es, durch den der Geist Eingang findet in den Menschen. Der Verstand ist es, wo die Inkarnation Gottes sich auswirken kann. Die Aufgabe der Hermeneutik besteht demnach darin, die Wirkung des göttlichen Geistes in verständliche Sprache zu übersetzen. Anders gesagt: sie besteht darin, die Geisterfahrungen in die Reichweite der Vernunft zu bringen. Die Hermeneutik sorgt dafür, dass der Verstand eben dort ins Spiel kommen kann, wo der Mensch von der Macht religiöser Erfahrungen überwältigt zu werden droht. Sie sorgt dafür, dass der Verstand Früchte trägt, indem der Mensch vom Geist Gottes berührt
5 Mi I dem Pneuma isl hier ein ekslalischer Zusland angesprochen. welcher in Anlilhese zum Versland slehl (vgl Conzelmann. I Kor 280. der auf den Zusammenhang mil lnspiralionsvorslellungen hinweis!: Senfl I Cor 177). • Die Unlerweisung meinl genau: Un1erich1 über den Glaubensinhalt (dazu Beyer. An. ICD'nlXC. 639. 18ff). Der Sprachgebrauch bei Paulus isl sehr inleressanl und be1on1 wohl besonders die Vemünfligkeil dieses Vorganges (vgl Senfl. ICor 178).
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Die Gabe der iA&1JI'&ia ( I Kor 12 und 14)
statt überwältigt wird. Man könnte auch sagen: Die Hermeneutik sorgt für die Inkarnation der göttlichen Geisterfahrung. 3. Ein drittes Charakteristikum der hermeneutischen Gabe kommt in I Kor 14,23-25 wiederum innerhalb einer Gegenüberstellung von Glossolalie und Prophetie zur Sprache. Paulus sagt: »Wenn sich nun die ganze Gemeinde versammelt hat und alle in Zungen reden, es kommen aber Uneingeweihte oder Ungläubige herein, werden sie dann nicht sagen: Ihr seid verrückt? Wenn dagegen alle prophetisch reden, und es kommt ein Nichtglaubender oder Uneingeweihter herein, so wird er von allen in seinem Gewissen getroffen, 7 von allen geprüft, und das Verborgene seines Herzens wird offenbar... «. Im Unterschied zur Glossolalie ist die prophetische Rede eine Sprache, die auch den Nichtglaubenden und Uneingeweihten, den Aussenseiter, den l6u.O't11';. trifft. Warum trifft sie ihn so? Sie trifft ihn, weil sie ganz auf seine Situation eingeht, weil sie seine Situation wahrhaftig aufdeckt, so dass das Verborgene seines Herzens offenbar wird. Die prophetische Rede sagt das treffende Wort. Und darin kommt sie jener Unbetroffenheit zuvor, in welcher der Aussenstehende Verrücktheit konstatiert. Wir sagten schon, die hermeneutische Aufgabe sei es, Glossolalie in prophetisches Wort überzuführen. In unserem jetzigen Zusammenhang bedeutet dies: die hermeneutische Aufgabe ist es, das ekstatische Spektakulum in ein treffendes Wort umzumünzen. Und zwar in ein Wort, das auch den Aussenstehenden, der mit dem Sprachgebrauch der Eingeweihten alles andere als vertraut ist, zu treffen vermag. Der t~11VEia ist es anvertraut, die geistliche Sprache gegenüber dem Nichtglaubenden und dem Aussenseiter so zu verantworten, dass diese davon betroffen werden in ihrem Gewissen. Hier ist überdeutlich, dass es sich dabei um eine Gnadengabe handeln muss, um eine Tätigkeit, deren Gelingen keineswegs in den Händen des Henneneulen und schon gar nicht in der Macht methodischer Kniffe liegt. Ein Wort von Gott so zu sagen, dass es den gottlosen Menschen zu treffen vermag, ist gewiss ein Ereignis der Gnade eben desselben Gottes. Halten wir als Gestalt der ~fiVEia also fest: sie verleiht dem sprachlosen Zungenreden Sprache und macht es insofern verständlich; sie macht das Geistphänomen dem Verstand zugänglich, damit dieser seine Früchte bringen kann; schliesslich verwandelt sie religiöse Erfah-
7
Zur Übersetzung siehe Wilckens. NT zSI.
II. Die Bedeu1ung der tA&'l"ia
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rung und wohl auch religiöse Sprache in ein Wort, das den Aussenstehenden in seinem Innersten betrifft.
II. Die Bedeutung der EA-LTJVEia In diesem zweiten Überlegungsgang versuchen wir darzustellen, welchen Stellenwert Paulus der Überzeugungsgabe zubilligt. Wir werden auf diese Weise ihren Bedeutungsumfang oder ihre Tragweite etwas näher betrachten können. I. In I Kor 12 rechnet Paulus die EA111VEia zu den Gnadengaben, den xapl.OJ.UXm. Ihre Bedeutung ist also elementar dadurch gekennzeichnet, dass sie ein Charisma ist. Schon in dieser Wortwahl ist bekanntlich eine Verschiebung eingetreten im Vergleich zum korinthischen Sprachgebrauch: die Korinther hätten wohl lieber von Geistesgaben gesprochen in diesem Zusammenhang. 8 Wenn Paulus dagegen die Geistesgaben zu Gnadengaben werden lässt, so verbirgt sich darin ein Interpretationsvorgang grösster Tragweite. Er kann jetzt nur in wenigen Bemerkungen angedeutet werden. Mit dem Ausdruck Charisma stellt Paulus eine enge Beziehung her zwischen den korinthischen Geistwirkungen wie Glossolalie, Prophetie oder eben auch f:Al1ll'ElQ einerseits und dem xapl.OJUX, der Gnadengabe, andererseits. Paulus signalisiert damit, dass alle diese Fähigkeiten als Auswirkung der Gnade zu verstehen sind. Was ist die Gnade? Das Wort meint weniger eine Eigenschaft Gottes als vielmehr seine Gnadentat Christus. Die Bezeichnung xaplOJ.UX bindet die Fähigkeiten eng an ihren Quell, an Christus. Nach korinthischem Verständnis waren diese Fähigkeiten eben KVE~tuai, eigenständige Besitztümer des Glaubenden, gleichsam religiöse Fähigkeiten in Privatbesitz. Diese Eigenständigkeil spricht Paulus ihnen ab, wenn er sie als Charismen identifiziert: so bindet er sie an Christus, ihren Geber, zurück. Durch diese Rückbindung der Gabe an ihren Geber verliert die Gabe ihre eigenständige Autorität. Sie kann fortan nicht mehr als selbstredendes Argument ausgespielt werden. Damit ist die Macht des Spektakulären gebrochen, gebrochen ist aber auch die alles entscheidende Autorität religiöser Empfindung. Jede Geisterfahrung und Geistäusserung hat sich fortan daran messen zu lassen, inwieweit ihr Geber in ihr gegen1 Zur
134.
Tragweile des Wechsels von Geis1esgaben zu Gnadengaben vgl Käsemann. Ami 109-
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Die Gabe der lw-1'1"\a (I Kor 12 und 14)
wärtig wird, beziehungsweise inwieweit sie dem Geist des Christus Raum gibt oder einem Ungeist. Auch die Gabe der EA1f1VE\a verliert in diesem Kontext ihre Unabhängigkeit. Auch die Tätigkeit des Übersetzens erhält ihr Kriterium darin, dass sie dem Geist des Gebers Raum geben muss. Der hermeneutischen Aufgabe kann es um nichts anderes gehen als um die Betroffenheit des Menschen, genauer: um die Betroffenheit des Menschen von Christus. Darin besteht die völlige Wertunfreiheit der Hermeneutik.9 2. In I Kor 14,5 koppelt Paulus die Gabe der Übersetzung direkt mit derjenigen der Prophetie: »Ich möchte wohl, dass ihr alle in Zungen reden könntet, mehr aber noch (möchte ich), dass ihr (alle) als Propheten reden könntet. Grösser nämlich ist der, der als Prophet spricht, denn der, der in Zungen redet, es sei denn, er übersetze (seine Rede) auch, ... «. Hier ist ganz deutlich, dass die Übersetzung aus der Zungenrede eine der prophetischen Rede gleichwertige Sache macht. Das Werturteil, von dem wir schon sprachen, gilt nur, solange die Zungenrede nicht übersetzt wird. Wird sie übersetzt, fallt ihre Minderwertigkeit dahin. Die Frage ist jetzt, aus welchem Grunde denn die EAt'flVE\a und die Prophetie eine solche Überlegenheit über die Zungenrede haben. Paulus begrundet die Überlegenheit zunächst damit, dass er vom Aufbaucharakter der Prophetie und der Übersetzung ausgeht. Beide dienen dem Aufbau, der ol1Co&Jill· Davon wird gleich noch zu reden sein. Vorher jedoch wenden wir uns einer Reihe von Beispielen zu. mit denen Paulus in I Kor 14,7-II die genannte Überlegenheit herausarbeitet. Paulus vergleicht die Zungenrede mit einem Flöten- oder Zithemspiel. dessen Töne nicht unterscheidbar sind (V. 7). Es mag grosse Empfindungen auslösen, verstehen aber kann man es nicht. Die EAtf1VE1.a hat hier die Aufgabe, dem formlosen Flötenspiel die Gestalt von Ordnung und Rhythmus zu verleihen. Paulus vergleicht die Glossolalie weiter mit einem undeutlichen Trompetenspiel, das niemanden dazu bewegt, sich zum Kampf zu riisten (V. 8). Jedermann hört die Trompete zwar, aber niemand bewegt sich, weil die Trompete nichts sagt. Dasselbe gilt von der Zungenrede, bei welcher man - wie Paulus sagt - in die Luft spricht. In die Luft spricht man, weil der Sinn beim Hörer nicht an-
•zur Wenunfreiheit vgl Fuchs. Marburger Hermeneutik 1-4.
II. Die Bedeutung der tw.11"i4
37
kommen kann. Aufgabe der EpflTJV2ia ist es, das unverständliche Gerede zum bewegenden Wort zu machen. Besonders interessant ist das letzte Beispiel, eine Bemerkung zur Sprache: So viele Sprachen gibt es, und dennoch ist keine unter ihnen gestaltlos, unverstehbar. 10 Und Paulus fährt fort: Wenn ich aber die Bedeutung der Sprache (die &Uva~u; der Sprache) nicht sehe, werde ich dem Sprechenden ein pcipPa~ sein. Wenn die 6\>va~u; der Sprache nicht erkenntlich ist, herrscht Barbarei zwischen Mensch und Mensch. Das heisst: die Macht der Sprache ist die Überwindung der Barbarei. Unter Barbarei ist jetzt nicht das zu verstehen, was wir gewöhnlich darunter verstehen. Barbarei meint hier vielmehr die völlige Geschiedenheit, die völlige Verhältnislosigkeit, die dadurch entsteht, dass einer für den andem keine Sprache hat. 11 Die Macht der Sprache ist es, die Verhältnislosigkeit zwischen Mensch und Mensch zu überwinden. Dies kann aber nur die verständliche Sprache der Prophetie oder dann die übersetzte Glossolalie, die in vernünftige Rede verwandelte Empfindung. Die Gabe der ~TJV2ia ist demnach dazu da, die Verhältnislosigkeit in der Gemeinde zu überwinden. Das macht ihre Überlegenheit gegenüber der Zungenrede aus. Denn der Geber hat die Gabe gegeben, damit der Tod nicht mehr herrsche. Dies ist das Ziel seines Lebens und insofern das Gepräge seines Geistes. Der Tod aber herrscht in der Verhältnislosigkeit, in der Barbarei. Eben deshalb ist die EALTJV2ia als Überwinderin der Verhältnislosigkeit der Zungenrede überlegen. Das Werturteil geschieht nach Massgabe dessen, ob die Gnadengabe der Gnadentat entspricht oder nicht. Danach bemisst sich auch ihre Bedeutung. 3. Eine dritte Beobachtung zum Stellenwert der EALTJV2ia betrifft das Verhältnis zum Aussenstehenden. Am glossolalischen Gebet kritisiert Paulus, es verwehre dem Uneingeweihten, sein Amen dazu sprechen zu können. Denn er versteht ja das Gebet nicht (I Kor 14,16 ). Für Paulus ist es offensichtlich klar, dass der 1.8\0l~. der interessierte Gast, der nicht mit dem Reden und Denken der Gemeinde vertraut ist, sein Amen mit Bedacht sprechen können muss. Und an der Stelle des Aussenstehenden sind alle, die das glosso1alische Beten nicht übersetzen kön-
Conzelmann. I Kor 279 spricht hier (etwas rätselhaft) von »sprach-los«. Ein Barbar ist, wer des andem Sprache nicht versteht. wie das Beispiel von dem Wiedehopf (zitien bei Conzelmann. I Kor 279 Anm 43) deutlich macht. 1'
II
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Die Gabe der iA&'l"&Ux (I Kor 12 und 14)
nen. 12 So wertvoll die Glossolalie in religiöser Hinsicht auch sein mag, sie bedarf der Übersetzung, damit der Aussenseiter ein verstehendes Ja sagen kann. Die EAl11VEia sorgt demnach für den Einbezug der Aussenseiter; sie ermöglicht ihnen ein verstehendes Ja. Ganz ähnlich lautet die Aussage in 1Kor 14,23-25, von der bereits die Rede war. Hier geht es darum, dass der Randsiedler nicht sagen muss: ihr seid verrückt. Er soll sich nicht durch die Konstatierung der Verrücktheit um das betrügen müssen, was ihm die übersetzte Glossolalie oder die prophetische Rede zu sagen hat. Wenn er in verständlicher Sprache angesprochen wird, wird er keine Verrücktheit konstatieren müssen, sondern er wird auf sein Angesicht fallen und bekennen: Gott ist wahrhaftig unter euch (1 Kor 14,25 ). 13 Sache der EA.L11Veia ist es, den Aussenseiter so in seiner Erfahrung und in seinem Herzen zu treffen, dass er von der Gottesgegenwart in diesem Gottesdienst überzeugt sein kann. Ich glaube kaum, dass dieser Stellenwert der Hermeneutik noch überbietbar ist. Was kann die Kunst der Übersetzung Besseres wollen, als den Menschen mit der Gottesgegenwart bekannt zu machen? Ihre Sache ist nicht nur, die Verhältnislosigkeit zwischen Mensch und Mensch zu überwinden, sondern auch die Beziehungslosigkeit zwischen Mensch und Gott. Ihre Bemühung ist es, den Aussenseiter und sogar den Gottlosen in ein Verhältnis zu Gott zu bringen. Diese Hinwendung zum Aussenstehenden ist ebenso eindrücklich wie erstaunlich: keine Rede von Forderungen an den lau:D~. er müsse zuerst von seinen distanzierten Denkweisen Abstand nehmen, um sich der Sprachwelt der Gemeinde anzupassen. Keine Rede auch davon, dass er, das »Weltkind«, einfach sich selbst überlassen bliebe. Nein, gerade ihm gilt die entschiedene hermeneutische Bemühung. Paulus gibt der EAlTtn:ia (und der Prophetie) diesen Stellenwert, weil er die offene Sprache, die Zugänge eröffnende Sprache, weit über den Insiderjargon stellt. Allzu häufig gebrauchen Gruppen ihre Sprache gerade nicht zum Einbezug, sondern vielmehr zum Ausschluss der inter-
u Am ehesten muss man bei den Aussenslebenden hier an alle Nicht-Ekstatiker denken (so Conzelmann. I Kor 282). das heisst an die. die weder die Gabe der Zungenrede noch die der Übersetzung haben (so Senft. ICor 177). u Da Gott die Herzen der Menschen kennt. gilt: »Ainsi. reconnu par Dieu. J'homme se decouvre et decouvre Ia presence de Dieu dans l'assemblee« (Senft. ICor 11!0) ... wo das Wort recht geschieht (sc wo das Wort Gottes geschieht). lichtet sich die Existenz (. .. )« <Ebeling. Wort Gottes 342, vgl 340f). An diesem Zusammenhang erkennen die Aussenstehenden die Gottesgegenwan.
II. Die Bedeutung der t~~~&~UI
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essierten Gäste. Eine solche Insider-Sprache verdient nach Paulus den Namen Sprache nicht. Denn sie errichtet Barrieren, macht den 1.3\0l't'flC; zum Idioten, statt ihn einzubeziehen in das Gesagte. Auch in dieser Bewertung der 2A-Lf1l'Eia wirkt sich aus, dass Paulus sie unter die Gnadengaben zählt. Als Gnadengabe hat sie jenem Akt der Gnade zu entsprechen, der den Namen Christus trägt: sie hat der Überwindung der Gottlosigkeit durch Gott zu entsprechen, und deshalb bemüht sie sich um das verstehende Ja des Gottlosen. Sie hat dem Brükkenschlag über den Abgrund der Sünde zu entsprechen, und deshalb kann sie den Aussenstehenden niemals distanzieren von der Gottesgegenwart in der Gemeinde. In der Gnadengabe ist die Gnade selbst gegenwärtig, indem der Geber der Gabe massgebend ist. 4. Wir richten unseren Blick von diesen Einzelbeobachtungen weg auf das zugrundeliegende Ganze. Dabei werden wir sogleich aufmerksam auf den Begriff der oi1co&t.Lf1, der Auferbauung. Paulus misst alle Fähigkeiten und Erscheinungen daran, ob sie dem Aufbau der Gemeinde dienen. In diesem Zusammenhang ist gerade die EAl1lVEia besonders wichtig. Denn unter oi1co&t.Lf1 kann jetzt nicht mehr ein Gruppenegoismus mit religiöser Note verstanden werden. 0\~11 ist durch die erwähnten Einzelbeobachtungen hinreichend bestimmt: oi1co&t.Lf1 ist nichts anderes als die Überwindung der Barbarei zwischen Mensch und Mensch, nichts anderes als die Aufhebung der Verhältnislosigkeit zwischen Mensch und Mensch, oi1co&t.Lf1 ist nichts anderes als der intensive Einbezug des interessierten Gastes, nichts anderes schliesslich als die Überwindung der unendlichen Distanz zwischen Mensch und Gott. In diesem Sinne ist EAl1lVEia oi1co&t.Lf1, und auf die oi1co&t.Lf1 kommt alles an. Freilich ist der Gedanke der oi1co&t.Lf1 noch nicht die tiefste Ebene, die sich bei Paulus erreichen lässt. Das 14. Kapitel trägt nämlich eine vielsagende Überschrift: &\Oln'tE 'rilv doya1tf1ll, bleibt der Liebe auf der Spur! (14,1). 14 Darauf kommt alles an. Prophetie und EAlf1l'Eia dienen der Auferbauung. Die Auferbauung aber ist geboten, weil die Liebe sie gebietet. Insofern ist die Liebe das eigentliche Kriterium aller Fähigkeiten und Erfahrungen, sei es der Zungenrede sei es der 2A-Lf1l'Eia. Wenn die EAlf1l'Eia sich nicht von der Liebe leiten liesse, könnte sie nicht mehr Gnadengabe heissen.
14
Zur Übersetzung vgl Wilckens. NT zSt.
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Die Gabe der lw-11"tUI (I Kor 12 und 14)
An diesem kleinen Beispiel wird ersichtlich, wo die Bedeutung der EAJ.fl\'Eia ihren Ort hat. Sie ist alles andere als eine neutrale Technik. Sie muss ihre Fragestellungen beträchtlich ausweiten, um dorthin zu gelangen, wo es um die wahrhaftigen Verslehensprobleme geht. Eben dahin, wo zur Debatte steht, ob und inwiefern die Liebe das einzig Wahre sei. Und dabei ist es die Aufgabe der Hermeneutik, die Liebe als das einzig Wahre so zur Debatte zu stellen, dass auch Ungeliebte und Lieblose einbezogen werden. Die Hermeneutik ist der Anwalt der Aussenstehenden. Dies kann sie nur sein, wenn sie die Sprache der Liebe spricht. Was die Sprache der Liebe ist, kann nicht in einem Wort gesagt werden. Jedenfalls kennzeichnet es die Sprache der Liebe, dass sie dem verstehenden Ja des Aussenseiters Raum gewährt, indem sie das Verborgene seines Herzens offenbar werden lässt. Zur Bedeutung der EAJ.fl\'Eia halten wir also fest: Sie ist ein Charisma und insofern dem Kriterium des Gebers unterstellt. Sie überwindet die Verhältnislosigkeit zwischen Mensch und Mensch. Sie kümmert sich um den Uhm'tt'lC; und den Nichtglaubenden, indem sie ihnen Zugang zur Gottesgegenwart verschafft. Schliesslich dient sie der Auferbauung der Gemeinde, indem sie die Gemeinde auf die Spur der Liebe bringt.
111. Die Übersetzung der Zungenrede In diesem dritten und letzten Gedankengang wenden wir unsere Aufmerksamkeit dem Umgang des Paulus mit dem Phänomen Zungenrede zu. Es lässt sich ja nicht verkennen, dass Paulus in diesen Kapiteln so etwas wie eine Hermeneutik der Zungenrede vollzieht, das heisst: eine Übersetzung des Phänomens selbst, abgesehen von glossolalischen Einzelaussagen. Die hermeneutische Leistung des Paulus besteht darin, dass er die Zungenrede sachgemäss zu verstehen gibt. Er bringt das Phänomen als solches zum Sprechen, beziehungsweise er verhilft einer religiösen Empfindung zur Sprache. I. Paulus ist weit davon entfernt, die Zungenrede zu verachten. Wenn er in den genannten Kapiteln mehrfach kritisch dazu Stellung nimmt, so geschieht dies im Interesse der Würdigung dieser Gnadengabe. Wer in Zungen redet, redet zu Gott (14,2), er baut sich selbst auf (14,4); er macht also eine wichtige Erfahrung. Dagegen ist nichts einzuwenden. Einwände hat Paulus vielmehr gegen die selbstverständliche Autorität
III. Die Übersetzung der Zungenrede
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einer solchen Erfahrung. Dass die ekstatischen Phänomene in Korinth so hoch bewertet wurden, beruht eben darauf, dass diese Gemeinde in der Erbauung des Selbst, in der religiösen Empfindung des Einzelnen, in dem spektakulären Erlebnis der Geistesgegenwart die höchste Form religiösen Lebens sah. Deshalb war für die Korinther alles Nötige gesagt, wenn einer in Zungen zu reden vermochte. Dieser Fehleinschätzung gilt die Kritik des Paulus. Das ekstatische Phänomen als solches vermag seiner Meinung nach überhaupt nichts zu sagen, da es gar nicht kommunikativ ist. Es mag dem anderen Eindruck machen, dennoch spricht es nicht zu ihm, weil es sich nicht in verständigen Worten an seinen voüc; wendet. Paulus wehrt sich dagegen, etwas für vielsagend auszugeben. das doch erst zur Sprache gebracht werden muss, um etwas bedeuten zu können. Zur Sprache aber muss es kommen, weil nicht die Erbauung des Selbst, sondern die Erbauung der Gemeinde der Inbegriff der Geistesgegenwart darstellt. Wo die Gnadentat Christi massgebend ist, da geht es nicht mehr um die Findung des Selbst im überwältigenden Erlebnis, sondern um die Findung des Gastes, des Gottlosen sogar, im verständigen Wort. Der Geber dieser Gnadengabe steht ja für die göttliche Findung des Aussenseiters und des Gottlosen. Deshalb muss einer Gabe um so grösserer Wert zukommen, je mehr sie im Interesse der Überwindung von Verhältnislosigkeit steht. Dies ist ein eigentlich hermeneutisches Prinzip, ein Leitfaden nämlich, anhand dessen Paulus die Fähigkeiten und Erscheinungen in der korinthischen Gemeinde zum Verstehen bringen kann. Anhand dieses hermeneutischen Prinzips stellt Paulus die Glossolalie an den Ort, wo sie hingehört und auch ihr Recht hat: in den Zusammenhang der Selbstfindung nämlich, die jedoch zugunsten der Findung des Gastes überholt werden soll. 2. Einer hermeneutischen Leistung von besonderer Eindrücklichkeil begegnen wir zu Beginn des 12. Kapitels dieses Briefes. Hier setzt sich Paulus ganz allgemein mit den JtVE'q.La'tuai auseinander, mit den Geistesgaben, die in Korinth so hoch geschätzt wurden. 1 ~ Unter dem Begriff der mE'qla'tUai wurden in Korinth Erfahrungen ekstatischer Art verstanden. Dazu Paulus: »Was nun aber die Geistesgaben betrifft, ihr
15 Ich gehe davon aus. dass die korinthische Theologie weder judaistisch noch gnostisch ist, sondern ein Enthusiasmus im weiteren Sinne des Wortes (als Beispiel ftir viele Autoren sei Conzelmann. I Kor 28-31 genannt). Kennzeichen dieses Enthusiasmus ist es. dass die ekstatische Erfahrung des Hingerissen-Seins grösstes Ansehen geniesst.
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Die Gabe der tAl'l"&ia (I Kor 12 und 14)
Brüder. so will ich euch nicht in Unkenntnis lassen. Ihr wisst: als ihr noch Heiden wart. trieb es euch mit unwiderstehlicher Gewalt fort zu den stummen Götzen« ( 1Kor 12.1 0. Zur Beurteilung der jetzt so hoch geschätzten Geistesgaben verweist Paulus die Korinther an ihre frühere heidnische Erfahrung. Wichtig ist zunächst die Erfahrung des Mitgerissen-Werdens. 16 Diese ist den Korinthern schon aus der heidnischen Vergangenheit gut bekannt. Was besagt dies? Mit der Erinnerung verfolgt Paulus die Absicht. der gegenwärtigen Ekstase den Anstrich des besonders Christlichen zu nehmen. Aus der Unwiderstehlichkeit des Mitgerissen-Werdens lässt sich gar nichts ableiten hinsichtlich der Wahrhaftigkeit dieser vermeintlichen Erfahrung des Geistes Christi. Dieselbe unwiderstehliche Kraft übten auch die heidnischen Götzen aus. die als Bilder Gottes gar nicht mehr in Frage kommen. Indem Paulus an die heidnischen Erfahrungen erinnert. weist er auf die Mehrdeutigkeit der ekstatischen Phänomene in der christlichen Gemeinde hin. Das Mitreissende ist kein untrügliches Zeichen des Christlichen. Das Hinreissende mag sich noch so sehr des Menschen bemächtigen. es ist dennoch kein Ausdruck für die Gegenwart des Geistes Christi. Mitreissend waren schon die Götzen. mitzureissen ist demnach kein eindeutiges Erkennungszeichen des wahren Gottes. Paulus stellt ganz deutlich heraus: Gerade die Geisterfahrung bedarf der Unterscheidung der Geister. Gerade der ekstatischen. unwiderstehlichen Erfahrung muss mittels kritischer Reflexion die Unwiderstehlichkeit genommen werden. Paulus nennt die Götzen ausdrücklich äqxova. sprachlose. stumme Götzen. Vielleicht hat diese Bezeichnung kein allzu grosses Gewicht. weil sie traditionell und formelhaft ist. Allerdings wäre es meines Erachtens sinnvoll. die Frage aufzuwerfen. ob Paulus nicht einen Zusammenhang sieht zwischen der Stummheit und der Unwiderstehlichkeit dieser Götzen. Vielleicht will er zu Bewusstsein bringen. dass die Sprachlosigkeit dieser Bilder zu tun hat damit. dass der Mensch von ihnen mitgerissen wird. Könnte es nicht sein. dass die unwiderstehliche Gewalt dieser Bilder gerade auf ihrer Wortlosigkeit beruht? Die stummen Bilder geben niemals Antwort. sie überlassen den Fragenden sich selbst. Kann ich nicht gerade dann die grösste Macht ausüben. wenn ich 16 Zur Wiedergabe der schwierigen Wendung in V. 2 Ende vgl Bauer. Wb s.v.4. Von besonderem Interesse ist die Tatsache, dass der Mensch nicht mehr Herr seiner selbst ist (im Aktiv wird das Verbum von Gefangenen gebraucht).
Ill. Die Übersetzung der Zungenrede
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dem andern das Wort verweigere? Die Bilder sind stumme Mächte, weil zu ihnen kein Verhältnis möglich ist. Sie geben weder Zustimmung noch äussern sie Widerspruch, und eben diese Schweigsamkeit macht sie unwiderstehlich. Sie verweigern die Gnade der Sprache. So war die Erfahrung der Korinther in der Zeit, als sie noch Heiden waren. Paulus dagegen setzt sich immer wieder dafür ein, dass die sprachlose Empfindung zur Sprache gebracht werde, insbesondere die sprachlose Zungenrede. Die unfassbare Ekstase soll in fassbare Worte gefasst werden, wenn sie überhaupt einen Sinn und eine Bedeutung haben will. Denn der Aussenstehende muss Gelegenheit zu einem verstehenden Ja erhalten. Man dürfte wohl im Sinne des Paulus ergänzen: er soll auch die Möglichkeit haben, ein verstehendes Nein auszusprechen. Diese Möglichkeit aber hat er erst dann, wenn die Gabe der EAt11VEia zum Zug gekommen ist: sie übersetzt die sprachlose Zungenrede in vernünftige Sprache. Wenn nicht alles täuscht, nimmt Paulus hier Abschied von der Unwiderstehlichkeit wortloser Götzen, um sich hinzuwenden zur Widerstehlichkeit des göttlichen Wortes. Wenn nicht alles täuscht, nimmt Paulus hier Abschied von der mitreissenden Ekstase, um sich dem klaren und vernünftigen Reden und Denken zuzuwenden. Dieses erst eröffnet dem menschlichen Ja, dem verstehenden Ja, einen Raum und vermag gleichermassen das Nein als menschliche Möglichkeit zu respektieren. Mit der Eindeutigkeit spektakulärer Empfindungen wird häufig genug operiert. Paulus vergleicht diese Eindeutigkeit mit der Unwiderstehlichkeit der stummen Bilder. Seine hermeneutische Leistung kommt einem Bildersturm gleich. Bildersturm aber heisst für ihn, die Götzen zum Reden zu bringen, die angeblich alles entscheidende Empfindung dem deutenden Wort und damit der vernünftigen Reflexion zu unterziehen. An diesem kleinen und gewiss unbedeutenden Beispiel erkennen wir etwas vom hermeneutischen Ansatz des Paulus: Alle Erfahrungen sind auszulegen im Kontext des Christus, in welchem sie neu zum Reden kommen. Die Geister sind zu unterscheiden nach Massgabe jener Widerstehlichkeit, wie sie dem göttlichen Wort zukommt. Die Widerstehlichkeit dieses Wortes Gottes gibt der menschlichen Antwort einen ungezwungenen Raum und bringt also die Freiheit der Antwort mit sich. Dieser hermeneutische Ansatz des Paulus ist ein Reflex dessen, dass
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Die Gabe der *Al'I"Eia (I Kor 12 und 14)
Gottes Sohn in die Hände der Menschen ausgeliefert worden ist, oder dass es dem menschlichen Wort gegeben ist, Gottes Wort zu sagen. 17
17
Dazu Ebeling. Won Gottes 340-344.
»Evangelium Jesu Christi« (Mk 1,1) und »Evangelium Gottes« (Mk 1,14)
0 Vorbemerkungen In den vorliegenden Ausführungen wird die These vertreten werden, dass der Wechsel vom Evangelium Gottes, das Jesus verkündigte (Mk I, 14 ), zum Evangelium von Jesus Christus, dessen Anfang das Markusevangelium beinhaltet (Mk 1,1 ), den Grundvorgang neutestamentlicher Theologie veranschaulicht. Die Vielfalt des Neuen Testaments ist darin begründet, dass der theologische Grundvorgang vom Evangelium Gottes zum Evangelium Christi in mannigfaltiger Weise zur Sprache fand, erzählerisch oder argumentativ dargestellt, christologisch oder anthropologisch akzentuiert. Die Einheit des Neuen Testaments ist indessen dadurch gegeben, dass in all den mannigfaltigen Darstellungen der eine Grundvorgang zur Sprache kommt: die Menschwerdung Gottes. Mein Lehrer Eduard Schweizer hat es immer wieder verstanden, mir die Augen für jene Vielfalt zu öffnen, ohne mir freilich den Blick für die Einheit des Neuen Testaments zu verstellen. Ihm sind diese Ausführungen in Dankbarkeit gewidmet. Es ist schon längst beobachtet worden, dass das Wort E'ÜayyEA.\ov bei Markus relativ zu den anderen Evangelien am häufigsten vorkommt 1• Es ist weiter aufgefallen, dass das Wort E'ÜayyEA.\ov bei Markus häufig absolut gebraucht wird 2; eine signifikante Ausnahme bilden zwei Stellen am Anfang des Evangeliums: der absolute Gebrauch liegt nicht vor in Mk 1,1, wo vom Evangelium Jesu Christi die Rede, und in Mk I, 14, wo es um das Evangelium von Gott geht. Die auffällige Gemeinsamkeit, die diese beiden Stellen gegenüber dem sonstigen Gebrauch im Markusevangelium haben, rechtfertigt es, diese beiden Verse auf ihre
1 Vgl zB Schweizer. Leistung 27: Feneberg. Markusprolog 146. - Die Zahlen lauten: Mt 4mal (nie absolut); Mk 7mal (ohne 16.15): Lk nie (2mal in Apg); Joh nie. Das Verbum ~' findet sich dagegen stark gehäuft in Lk und Apg. 2Jnsbesondere steht es in den fünf Jesuswonen ( 1.15: 8.35; I0.29; 13.10; 14.9) absolut (vgl Lohmeyer. Markus 7).
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»Evangelium Jesu Christi« (Mk 1.1) und »Evangelium Gottes« (Mk 1.14)
gegenseile Beziehung hin zu befragen. Dies ist die Absicht der folgenden Überlegungen. Die Einleitung des Markusevangeliums, wie sie in den Versen 1-15 vorliegt, ist zwar nicht von der Art etwa eines Johannes- oder Lukasprologs3. Dennoch lässt sich ihr prologartiger Charakter schwerlich verkennen. In dieser Einleitung wird eine Brücke geschlagen von der alttestamentlichen Verheissung (V. 20 über die Wirksamkeit des Täufers (V. 4-8), über Taufe und Versuchung Jesu (V. 9-11.120 bis hin zu einer programmatischen Zusammenfassung der Wirksamkeit Jesu in V. l4f. Eine genauere Analyse könnte die kompositorische Einheit dieser Einleitung ohne weiteres einsichtig machen 4 ; ftir unseren Zusammenhang mag der Hinweis genügen, dass wichtige markinische Begriffe die einzelnen Elemente dieser Einleitung zusammenhalten: Eixlyy2Ä.tov findet sich in V. 1,14 und 15; ~lv in V. 4.7.14, um nur die beiden wichtigsten zu nennen. Mit grosser Wahrscheinlichkeit geht die Komposition dieses Abschnitts auf Markus selbst zurück. Dies schliesst selbstverständlich nicht aus, dass eine Reihe von traditionellen Stücken hier verwendet worden ist. Zuweilen wird die These vertreten, der markinische Einleitungsteil ende schon mit V. 13 (Versuchung Jesu)~. An dieser These dürfte richtig sein, dass V. 14f in der Tat eine Sonderstellung einnehmen, insofern als diese beiden Verse gleichsam die Gelenkstelle zwischen dem Prolog und dem ersten Hauptteil des Evangeliums bilden6 • V. 14f sind sowohl die Klimax der Einleitung 7 als auch die Themenangabe, bzw die zusammenfassende ÜberschriftM der irdischen Existenz Jesu in Galiläa, während in V. l so etwas wie die 1 Mit Lohmeyer. Markus 9 könnte man diesen Anfang als Prolog vom Himmel her betrachten. der jedoch zugleich mehr ist als ein Prolog: es beginnt mit ihm bereits das eschatologische Geschehen selbst. Zum Charakter der Ähnlichkeit und des gleichzeitigen Unterschieds tu anderen Prologen vgl auch Anderson. Mark 62f: Gnilka. Markus I 39. nennt den Teil das »lnitium«. •zu den verschiedenen Argumenten vgl Anderson. Mark 6~5: Gnilka. Markus I 39f: Pesch. Markus I 71 f. ~Vgl Schweizer. Markus 214. vgl 1~19.- ln V. II endet der Prolog nach Feneberg. Markusprolog passim. Aus unerfindlichen Gründen rechnet Schmithals. Markus 73f. V. I nicht mehr zum ursprünglichen Markusevangelium. sondern betrachtet diesen Satz als »Hinweis eines Abschreibers•. Soll dann das ursprüngliche Markusevangelium mit V.l begonnen haben? 11 Nach Pesch. Markus I 71 haben V. 14f »Schamierfunktion«. 7 Dies ergibt sich insbesondere aus dem programmatischen Charakter dieser Aussagen: mit Pesch. Markus I 72. "So Gnilka. Markus 164f.
I Der Bezugsrahmen von Mk 1.1
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Überschrift über das Evangelienbuch überhaupt vorliegt. Beide Verse fungieren demnach als Überschrift, der eine über das Wirken Jesu, der andere über die Wirkung Jesu. Auch diese Gemeinsamkeit in kompositorischer Hinsicht vermag eine Besprechung ihrer gegenseitigen Beziehung zu rechtfertigen.
1 Der Bezugsrahmen von Mk 1, 1 Man könnte zunächst auf den Gedanken kommen mit dem Anfang sei bloss der Einsatzpunkt des Evangeliums gemeint.· Apx11 würde sich dann auf die folgende Erzählung vom Täufer beziehen. Der Satz wäre dann etwa so zu verstehen: Das Evangelium von Jesus Christus hat mit dem Auftreten des Täufers seinen Anfang genommen. V. I würde siCh dann bloss auf die Täuferperikope beziehen. Daraus ergäbe sich jedoch: wenn sich schon V. I auf den Täufer beziehen würde, müsste dies erst recht ftir das Schriftzitat in V. 2f gelten. Diese Annahme erfahrt auf den ersten Blick eine Stütze dadurch, dass das Wort vom Rufer in der Wüste (V. 3) schon längst vorMarkusauf den Täufer bezogen worden war (vgl Mt 3,30; auch Joh I ,23, literarisch unabhängig von der synoptischen Tradition)9 • Allerdings stehen dieser Auffassung erhebliche Bedenken entgegen. Zum ersten: wenn das Schriftzitat in V. 2f sich primär auf Johannes beziehen würde, hätten wir den beinahe einzigartigen Fall vor uns, dass ein mit m'6c0~ ytypa7mll eingeleitetes Schriftzitat vor dem Ereignis steht, das es als Erfüllung der Schrift darstellen will 10• Schon diese Einzigartigkeit spricht eher daftir, dass Markus das Schriftzitat primär auf V. I und erst sekundär auf Johannes beziehen wollte. Das Schriftzitat belegt, dass in dem vorliegenden Buch wahrhaftig der Anfang des Evangeliums von Jesus Christus vorliegt 11 • Überdies wird ja das Jesajazitat durch den Satz aus Maleachi erweitert: dadurch wird das Zitat zur Anrede an den Christus (»siehe, ich sende meinen Boten vor
9 Dazu Polag. Christologie 157.2: Mt 3,3 könnte freilich auch als Abänderung des MkTextes angesehen werden (so offensichtlich Schweizer. Matthäus 1973, 23). Zum traditionsgeschichtlichen Aspekt der johanneischen Stelle vgl Becker. Johannes I 90f. 10 Die Zitierform ist im Urchristentum geläufig. erscheint jedoch bei Markus so nur hier. Vergleichbar ist allerdings 7,6 und 14,27 (wo das Schriftzitat noch der Beziehungsgrösse kommt). 11 Dazu Lohmeyer, Markus IOf.
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»Evangelium Jesu Christi« (Mk 1.1) und »Evangelium Gottes« <Mk 1.14)
dir her«) 12 , und der Täufer wird ausdrücklich als Vorläufer des Christus (nicht mehr- wie möglicherweise der historische Täufer gedacht haben mag- des Herrn selbst) identifiziert 13 • Auch dieser bedeutsame Wechsel, auf den jetzt nicht näher eingegangen werden kann, spricht dafür, dass in V. I nicht bloss der Einsatzpunkt des Evangeliums bei der Verkündigung und dem Wirken des Täufers bezeichnet werden soll, sondern dass hier eine Inhaltsangabe über das ganze Buch beabsichtigt ist: die ciPX"'l des Evangeliums von Jesus Christus wird in dem folgenden Buch erzählt bzw ist in dem erzählten Geschehen zu sehen. Zum zweiten: antike Bücher werden in den meisten Fällen nicht mit dem Einsatzpunkt des Geschehens begonnen, sondern an ihren Anfang wird eine Überschrift gestellt, die so etwas wie eine Inhaltsangabe des ganzen Buches darstellt. Ist V. I hier als Inhaltsangabe in diesem Sinne anzusprechen, dann kann sich auch die ciPX11 nicht bloss auf den Täufer, sondern muss sich auf das ganze folgende Buch beziehen. Zum Bezugsrahmen von V. I lässt sich also festhalten: Mk I, I ist die Überschrift, welche den Inhalt des folgenden Buches angibt; sie bezieht sich nicht bloss auf die Täufererzählung.
2 Zur Bedeutung von Mk 1, 1 Wenn in Überschriften antiker Bücher das Substantiv ciPX"'l oder das Verbum ciPXEa6cn vorkommt, so kann damit schlicht gemeint sein, hier - mit der Überschrift - beginne das vorliegende Buch.· Apx11/ciPXE0'6al bezieht sich in diesem Falle einfach auf das Schriftstück, dessen Anfang damit ausdrücklich angegeben wird 14 • Allerdings ist diese Bedeutung nicht die einzige.· Apx1i in einer solchen Überschrift kann auch ausdrücken, in dem folgenden Buch sei der Anfang, der massgebliche 11 So zB Gnilka. Markus I 44f. Markus kommt es darauf an. den Kyrios Jesus als den Erwaneten hinzustellen. dessen Weg der Täufer bereitet und dem Gott einen Boten voranschickt Die christologische Akzentuierung durch dieses Mischzitat ist überdeutlich. Sie dürfte dem Evangelisten zuzuschreiben sein (mit Gnilka. ebd). 11 Dem historischen Täufer (oder seiner Gemeinde) ist zuzutrauen. dass er das Jesajazitat im Sinne der Vorläuferschaft Jahwes. bzw des Kommens zum Gericht verstand: dazu Schweizer. Markus II f: ders. Manhäus.26f. Diese Vorläuferschaft wird christlich umgedeutet in die Vorläuferschart gegenüber dem Kyrios Jesus. 14 Dazu Amold. Eröffnungswendungen 123-127. der entsprechende Parallelen auffühn. Delling. An. eint 481. 5f möchte den Auszug im Sinne des zeitlichen Anfangspunktes der evangelischen Verkündigung Jesu festlegen.
2 Zur Bedeutung von Mk 1.1
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Anfang, des mit dem Titel angegebenen Themas beschrieben 15 • Dann bedeutet V. I: in dem folgenden Buch, dessen Thema das Evangelium von Jesus Christus ist, wird der massgebliche Anfang desselben beschrieben. Oder: der Inhalt des nun folgenden Buches ist der Anfang des Evangeliums von Jesus Christus. Dabei fallen in dem Wort ciP%11 zwei interessante Bedeutungsaspekte zusammen: einerseits geht es um den zeitlichen Anfang, nämlich um den Anfang des unter dem Stichwort Evangelium von Jesus Christus bekannten geschichtlichen Geschehens, und andererseits geht es bei diesem Inhalt um die fundamentalen Prinzipien, dh um die gleichsam ontologischen Grundlagen des Evangeliums von Jesus Christus. Die Doppelbedeutung von zeitlichem Beginn und fundamentalem Prinzip ist dem Begriff »Anfang« von Hause aus eigen 16• Es ist im höchsten Masse bemerkenswert, dass im Blick auf das Evangelium von Jesus Christus, wie es in der christlichen Gemeinde bekannt ist, der ontologische und der zeitliche Bedeutungsaspekt von df'X1i ineinanderfallen. Die ontologische Begründung des Evangeliums ist offenbar nicht anders als durch Rekurs auf zeitliches Geschehen zu leisten. Ist so die Bedeutung der Überschrift angemessen skizziert, dann folgt daraus: >>Eooyyd.lov 'ITpoü Xpt.crto'Ü>In dem zum Theorem gewordenen SalZ: 'Gon isr Mensch geworden' gewinne 'ich' meine Gewissheil gerade nicht mehr aus Gon. also eJtlra me. sondern in meinem eigenen Denken. in der Rationalisierung der Erfahrung.• Einen historischen Einzelfall der Theorelisierung bespricht Mosten. aaO 12f Anm 12.
I Dogmatisches Denken und Exegese
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ihre Lebensgrundlage und wird zum theoretischen Beschluss, dessen Lebensfähigkeit sich nur noch nach der Durchsetzungskraft seiner Inhaber richtet. Die Exegese ist per definitionem auf das historische Einzelphänomen bezogen. Doch der Sog der Theoretisierung bedroht sie nicht weniger als die Dogmatik. Dies ist zunächst als Sprachproblem virulent. Wie kann exegetisch so über einen Text geredet werden, dass dieser in der Besprechung nicht rückgängig gemacht wird? Wie kann über einen Text, der den gnädigen Gott zum Ereignis macht, so geredet werden. dass nicht unversehens aus dem Gnadenerweis Gottes eine Theorie über seine Gnädigkeil wird? Wie kann über einen Text, der die Gestalt einer Liebeserklärung hat, so geredet werden, dass aus der Liebeserklärung nicht plötzlich ein Traktat über die Liebe wird? Auf das Theoretische kann gewiss nicht verzichtet werden, etwa so, dass Exegese zur blossen Nacherzählung wird. 28 Aber es gäbe Sprachformen der Umschreibung, die den konkreten Text in den Mittelpunkt des Interesses stellen, statt ihn durch eine Theorie zu ersetzen. 29 Die Theorie hat insofern einen nihilistischen Zug an sich, als sie zwar die Bedingungen beschreibt, unter denen die Dinge stattfinden oder wirklich werden könnten, dass sie aber genau durch diese Beschreibung der Bedingungen von der wirklichen Gestalt der Dinge abstrahiert.J 0 Die
lK Die von Jüngel. Freiheit 30 (These 1.3) getroffene Unterscheidung von »Ereignis der Rechtfenigung .. und »Rechtfenigungslehre«. welche analog der Unterscheidung von »Freiheit der christlichen Existenz« und »Freiheit der Theologie« ist. macht aufmerksam auf die notwendige Sprachdifferenz zwischen Exegese und Text. Dennoch lässt sich in der exegetischen Literatur beobachten. dass manche Transformationen vom Charakter .. Rechtfenigungslehre« das Ereignis der Rechtfenigung nicht zur Sprache bringen. sondern verflüchtigen. 2'1 Besonders virulent wird dieses Sprachproblem etwa in der Gleichnisexegese. wo der Interpret versuchen muss. die Sprachgestalt des Metaphorischen auch in der Reflexion zu wilrdigen. Ricoeur. Stellung 49 plädien dafilr. dass die Unübersetzbarkeit der Metapher durch die Umschreibung gewilrdigt wird. »Dass sie (sc die Metaphern) unübersetzbar sind. heisst nicht. dass man sie nicht umschreiben kann: aber die Umschreibung ist unendlich und erschöpft die Neueinfilhrung von Sinn nie.« .lO Fuchs. Marburger Hermeneutik 15-23 zeigt diese Problematik am Beispiel des Feuers. »Die Theorie erklärt die 'Wirklichkeit'. in welcher sich das Feuer unterbringen lässt« (aaO 17). Sie abstrahien gerade vom alltäglichen Umgang mit dem Feuer. welcher ein »Verständnis« des Feuers verlangt. das auf Erfahrungen beruht. »Ausschlaggebend sind die Erfahrungen. die beim Ereignis unmittelbar gemacht werden« (ebd). Ob sich diese Ambivalenz auf die Tätigkeiten des »Erklärens« bzw. des »Verstehens« veneilen lassen (wie Fuchs es tut). scheint mir weiterer Klärung bedürftig zu sein. Track. Begründung 118 erinnen an den Unterschied zwischen Denkbarkeil und Denknotwendigkeit Gones: .. Der Verzicht auf den Erweis der Denknotwendigkeit Gottes bedeutet nicht notwendig den Verzicht auf den Ausweis der Denkbarkeil
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E"egese und Dogmatik
Theoretisierung der Texte ist also ihre Vernichtung. die sich die Maske der Beschäftigung mit ihnen aufsetzt. Die Dogmatik ist per definitionem der Lehre zugeneigt. und die ihr drohende Theoretisierung. die der Exeget wahrnimmt. schärft seinen selbstkritischen Blick. Der Sog der Theoretisierung wirkt sich auch darin aus. dass die Wahrheit in der Abstraktion. in der Feme vom Vordergründigen gesucht wird. Doch gerade die neutestamentlichen Texte zeigen. dass die Wahrheit im Vordergrund und nur dort erscheint. Die paulinische Theologie zum Beispiel liegt nicht zuletzt deshalb in Briefform vor. weil sie vordergründig ist. weil sie im Handgemenge des Lebens entstanden ist und dort ihre Tragfähigkeit hat. An vordergründigen Phänomenen entdeckt Paulus tiefgreifende Zusammenhänge. sein Denken ist gezeichnet von der Leidenschaft ftir das Einzelne. Nicht selten dient die exegetische Erkenntnis polemischer Entstehungsbedingungen dazu. das Gewicht paulinischer Aussagen zu verflüchtigen. Doch die Tatsache. dass Paulus sein Rechtfertigungsthema fast ausschliesslich in polemischen Zusammenhängen entfaltet. ändert an der Sachlichkeit seiner Erkenntnis nichts. Im Gegenteil. jede exegetische Bearbeitung. die das Rechtfertigungsthema in eine Rechtfertigungstheorie verwandelt (etwa im Sinne einer anthropologischen Axiomatik. die Grundlage zu ethischen und dogmatischen Konstruktionen wird). verliert die Lebensgrundlage der Rechtfertigung aus dem Blick. Ein theoretischer Beschluss über den gerechtfertigten Menschen (oder gar über den rechtfertigenden Gott) verliert seine Evidenz genauso wie eine Theorie über das Sündersein des Menschen. Dieser Evidenzverlust ist meines Erachtens dadurch bedingt. dass sich die Theorie der Rechtfertigung losgelöst hat von der Erfahrung der Kreativität. der sich Rechtfertigung verdankt. 11 Keine Lehre hat die Vollmacht. das Gegebene zu erschaffen. Gottes.« Dem ist die Vermutung beizufügen. dass im Gegenteil die Denknotwendigkeit Gottes dessen Denkbarkeil erheblich gefahrdet. 11 Buhmann. Theologie als Wissenschaft 461 wehn die Transformation in Lehre mit dem folgenden Grundsatz ab: »Schriftsätze können nicht als Lehrgesetz übernommen werden; denn Gottes Offenbarung bedeutet nicht seine Offenbanheit. ... und so spricht sich der Glaube des Neuen Testaments nicht einfach in dogmatischen Sätzen aus. sondern diese selbst sind nur Ausdruck der glaubenden E"istenz in ihrer jeweiligen Situation ... Ob der Rückgang auf die glaubende E"istenz reicht. um das Phänomen des Theoretischen einzudämmen. kann bezweifelt werden. Denkbar wäre immerhin. dass die eltistentialontologische Theorie den Bezug auf die konkrete glaubende E"istenz ersetzen könnte. Demgegenüber muss darauf geachtet werden. dass die »glaubende E"istenz« streng hinsichtlich der Erfahrungen. die sie konstituieren. zur Sprache kommt. In der Christologie wird der Erfahrungsbezug festgehalten durch den
I Dogmatisches Denken und Exegese
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wohl aber hat sie die Aufgabe, das Gegebene nachdenkend und kritisch zu würdigen. Dies lehrt gerade die Dogmatik selbst dort noch, wo sie zur eigenständigen Lehre fortschreitet, und sie lehrt insbesondere die neutestamentliche Theologie, auf den Zusammenhang mit den Erfahrungen, denen sie sich verdankt, sorgfältig zu achten. Andernfalls tritt das Denken an die Stelle der Wahrnehmung, und dabei wird gerade das Evangelium aufgezehrt von dem Gesetz. das jedes Denken beherrscht.32 1.2 Die Aufgabe systematischer Darstellung Zum Geschäft dogmatischer Theologie gehört es, Lehrstücke in ihrem systematischen Zusammenhang darzustellen. Damit respektiert die Dogmatik die Ganzheit und Einheit der Wirklichkeit, wie sie auch in vorwissenschaftliehen Ganzheitsbegriffen wie Welt, Gott oder Mensch zum Ausdruck gebracht wird. In einen Zusammenhang gebracht geben einzelne Einsichten auch Spannungen und sogar Widersprüche zu anderen Lehrstücken zu erkennen. Deshalb ist die systematische Darstellung notwendig ein kritisches Prinzip; gerade sie nötigt zum sachkritischen Urteil, welches der wissenschaftlich angemessene Umgang mit den genannten Spannungen und Widersprüchen ist, es sei denn, es lasse sich zeigen, dass ein bestimmter Widerspruch sachnotwendig ist. Doch auch hier tut sich bekanntlich ein Abgrund auf: die systematische Darstellung kann leicht umschlagen in den Systemzwang, wo das Denken nichts mehr zur Darstellung bringt ausser sich selbst. Es entsteht eine Dogmatik, in welcher nicht mehr die Einsicht ins Einzelne tragend ist, sondern der Zusammenhang. Statt einer Dogmatik mit innerer Konsistenz begegnet der Leser nun einer Dogmatik ohne Überraschungen. Lehrreich für die Exegese ist wiederum beides, die Systematik, die zur Wahrnehmung des Ganzen führt, und der Systemzwang, der zur Aufhebung des Denkstoffes zugunsten des Denkens verführt. Die syhistorischen Jesus: »Ihr (sc der Christologie) Rückbezug auf den historischen Jesus als den Christus entspricht der Unmillelbarkeit und auf nichts reduziblen Individualität des menschlichen Gouesverhähnisses« (Mosten. Menschwerdung 27). ' 2 Die Gesetzlichkeit des Dcnkens besteht genau darin. dass es von der Wirksamkeit Goues abstrahien. um die Möglichkeit seines Wirkens zu gewinnen. Daraus entsteht für den Menschen die Notwendigkeit. Goues Möglichkeit durch Werke in die Wirklichkeit zu bringen. Deshalb unterläuft nach Paulus die Glaubensgerechtigkeit gerade die Feme des Christus (Röm 10.6--8). Die denkerische Bewältigung des an Christus Erfahrenen hat zur Folge. dass dieser wieder in den Himmel hinauf versetzt wird. von wo er heruntergeholt werden muss. Genau dasselbe Gouesverständnis implizien auch das Gesetz. insofern als es nicht auf die durch Christus verwirklichte Nähe Goues abstellen will.
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Exegese und Dogmatik
stematische Anstrengung des dogmatischen Denkens erinnert die Exegese daran, ihre Ergebnisse im Zusammenhang des ganzen Christuszeugnisses des Neuen Testaments zu reflektieren. Aus dem exegetischen Ergebnis, dass Jesus Christus das Gesamtthema des Neuen Testaments ist,JJ muss der Schluss gezogen werden, dass Christus die Einheit des Neuen Testaments ausmacht. Zwar ist es methodisch geboten, bei der Betrachtung der Texte zunächst von dieser Einheit abzusehen. Aber es wäre verkehrt, wenn dies die Exegese dazu führte, einfach verschiedene kerygmatische Entwürfe des Urchristentums nebeneinanderzustellen, ohne auf ihren Zusammenhang mit dem Ganzen, mit Christus, zu achten. Beim Bedenken solchen Zusammenhangs registriert der Exeget sowohl Konvergenzen als auch Divergenzen.J 4 Das Nachdenken über die theologische Bedeutung solcher Konvergenzen und Divergenzen gehört genauso zum Geschäft der Exegese, wie die Reflexion auf die Einheit des Theologischen zur Dogmatik gehört. Deshalb sollte ein solches Nachdenken nicht mehr länger mit dem Vorwurf systematischer Überfremdung der Exegese geächtet werden. 35 Bei der neutestamentlichen Exegese besteht die Gefahr weniger, dass es zur geschichtsphilosophischen oder ontologischen Konstruktion des Zusammenhangs kommt. Denn die Exegese ist mit einem ihrer Arbeit schon vorgegebenen Zusammenhang konfrontiert, dem Kanon. Statt einen Zusammenhang zu konstruieren, hat die Exegese dadurch Gelegenheit, auf den schon entstandenen Zusammenhang des Kanons zu reflektieren.J6 Dies fuhrt keineswegs notwendig zur unkritischen Unter-·
1 ·1 Luz. Einheit und Vielfalt 146-157 rekurriert auf den historischen Jesus. der sowohl die Vielfalt der neutestamentlichen Christuszeugnisse ermöglicht als auch ihre Vielfalt begrenzt. Dieser Versuch. den Zusammenhang der neutestamentlichen Texte zu denken. muss verglichen werden mit jenem der kritischen Wahrnehmung des Kanons. H Luz. Einheit und Vielfalt 142-144 stellt die Zersplitterung und Divergenzen sehr stark in den Vordergrund. H Mit Hahn, Exegese 26f. Es muss insbesondere den Konvergenzen eine grössere Aufmerksamkeit geschenkt werden, ohne dass dies zur Nivellierung führen soll. Wer die Exegese der Neuzeit betrachtet, kann ihren Zwang zur Divergenz wohl nicht übersehen. Dies mag damit zusammenhängen. dass am Ursprung der neuzeitlichen historischen Kritik das Thema der Widerspüche in der Schrift den emanzipatorischen Interessen der Exegese und Theologie entgegenkam. 16 »Die fLir die evangelische Theologie stets so wesentliche Bedeutung der Heiligen Schrift als norma normans besteht nicht primär in ihren Einzelthemen, wohl aber in ihrer richtungsweisenden Gesamtintention• (Hahn. Exegese 32. vgl 33). Bis zu einem gewissen Grade kann die Einheit aus der »Konvergenz der Einzelthemen• rekonstruiert werden. Zunächst jedoch gilt es. die durch den Kanon angedeutete Konvergenz zu reflektieren.
I Dogmatisches Denken und Exegese
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werfung unter die Kanonsentscheidung der Alten Kirche. Denn es gilt ja, den durch den Kanon geschaffenen Zusammenhang theologischer Entwürfe kritisch zu würdigen. Kritisch in dem Sinne, dass auch der Zusammenhang immer wieder problematisiert wird. Die Problematisierung des Kanons ist etwas prinzipiell anderes als die methodische Aufhebung desselben. Denn die methodische Aufhebung des Kanons führt - wie gerade die Bemühungen im zwanzigsten Jahrhundert belegen3 7 unausweichlich zum Zwang, den aufgelösten Kanon zu rekonstruieren. Und diese Rekonstruktion ist bisher nicht gelungen, weil es nicht in der Macht des Denkens liegt, das Gegebene zu rekonstruieren. 38 Wer dieser Grenzen eingedenk ist, wird an die Stelle der Rekonstruktion des zuvor methodisch aufgelösten Kanons dessen kritische Wahrnehmung setzen. Zur kritischen W ahmehmung des Kanons gehört es, die Spannungen und Widersprüche in aller Klarheit herauszuarbeiten, die unter den hier versammelten Schriften festzustellen sind. Genau diese Widersprüche sind es, welche den Exegeten zu sachkritischen Entscheidungen herausfordern. Dies soll an einem Beispiel erläutert werden. Der Spitzensatz der johanneischen Theologie lautet: ö '6€~ dyam"' tcmv ( IJoh 4,8). 39 Die Apokalypse dagegen stellt sich das endgültige Kommen Christi vor als das Kommen eines Reiters auf einem weissen Pferd, dessen Mantel rot ist vom Blut seiner getöteten Feinde und aus dessen Mund ein scharfes Schwert hervorgeht, womit er alle Völker schlägt (Apk 19,11-
n Käsemann. Das Neue Testament versammelt eine Reihe von Aufsätzen, welche die Problematik des methodisch aufgehobenen Kanons klar vor Augen fUhren. Auf diesem Hintergrund ist auch Käsemanns eigene These einsichtig. wonach der neutestamentliche Kanon gerade nicht die Einheit der Kirche. sondern ihre konfessionelle Spaltung begründe (Käsemann. Einheit der Kirche 221 ). Sofern freilich der Kanon »Evangelium ist und wird«, »begründet dann auch er Einheit der Kirche« (aaO 223). JK Dies hat nicht bloss damit zu tun. dass die Exegese historisch arbeitet (gegen Käsemann. Einheit der Kirche 221 ). sondern vielmehr damit. dass dem Denken das Gewordene nicht mehr erschwinglich ist, wenn es einmal rückgängig gemacht worden ist. 311 ln gewisser Weise kann dieser Satz begriffen werden als die reife Frucht johanneischer Christologie. Auf der vorjohanneischen Stufe wurde (etwa in der Sendungsformel Joh 3.16) der Kreuzestod Jesu als Tat der Liebe Gones interpretien. Auf der Stufe des Johannesevangeliums wurde Christus zum Gott in Person (vgl besonders 20.28. das Bekenntnis des Thomas. nachdem er die Wunden gesehen hatte: b ~ ~ m\ b tue; ~). dh Christus wird ganz theologisch wahrgenommen. Diese Entwicklung setzt sich in den Johannesbriefen insofern fon. als hier die Christus zugeschriebenen Eigenschaften wieder zu Eigenschaften Gottes werden (vgl etwa das~ in IJoh 1.5 mit Joh 8,12: t,.i &it&t 110 .-D«ö 1DÜ ICiJat&ou). Damit ist aus dem theologischen Verständnis des Christus ein christologisches Verständnis Gottes geworden. Auf diesem Wege kommt es zum Spitzensatz der johanneischen Theologie.
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Exegese und Dogmatik
16). Durch d.en Kanon ist gegeben, dass beide Aussagen in einem Zusammenhang stehen. Und genau dieser Zusammenhang fordert eine sachbezogene Exegese heraus, kritisch zu fragen, welcher Aussage Wahrheit zukommt. Da der Liebe in der johanneischen Theologie ausschliesslich das Rettende zugeschrieben wird (Joh 3,16-18),40 und da der endzeitliche Christus in der Apokalypse eindeutig das Werk der Vernichtung vollbringt, können nicht beide Sätze zugleich wahr sein. Die Liebe kann nicht vernichten, da sie ausschliesslich kreativ ist. Also kann kein VernichteT im Namen des christologisch wahrgenommenen Gottes kommen. Diese sachkritische Frage braucht jetzt nicht beantwortet zu werden. Es ging vielmehr darum zu zeigen, dass gerade der Kanon eine Sachkritik ermöglicht, welche die Wahrheitsfrage an die Sache selbst stellt,41 und nicht bloss zum Anwalt moderner Bedürfnisse gegenüber biblischen Texten wird. Die Exegese lernt von der Dogmatik, den wahrgenommenen Zusammenhang des Kanons kritisch zu verantworten, statt bei der blossen Registrierung von Divergenzen stehen zu bleiben. Lehrreich für die Exegese ist jedoch auch das, was oben Systemzwang genannt wurde. Der Systemzwang, der zu einer Dogmatik ohne Überraschungen führt und in welchem der Zusammenhang zum scheinbar Tragenden und wirklich Beherrschenden wird, macht die Exegese aufmerksam auf den ihr eigenen Systemzwang. Obwohl Troeltsch vehement Stellung nahm für das historische Denken in der Theologie, sah er keinen unmittelbar theologischen Sinn in der historischen Wahrnehmung. Denn diese führt zur völligen Relativierung aller historischen Phänomene.42 Auf Relatives jedoch mochte Troeltsch keine Theologie
40 Diese bemerkenswene Asymmetrie zugunsten der Reuung ist charakteristisch für die johanneische Theologie. Sie verdankt sich der Einsicht in die soleriologische Qualität des Christus. die es verbietet. ihn zugleich als den Verniehier anzunehmen. Die Soteriologie wird ganz aus der Reuung gedacht. Deshalb wird das künftige Gericht so in die Gegenwan hereingezogen. dass nun die menschliche Ablehnung nicht mehr das Gericht nach sich ziehl. sondern selbst Gericht ist. ln dieser Asymmetrie spiegeh sich der elementare Sachverhah wider. dass der Mensch sich das Leben nicht geben. sondern nur nehmen kann. 41 Schon Buhmann. Theologie als Wissenschaft 462 weist auf das wesentlich sachkritische Moment der neutestamentlichen Theologie hin. das seiner Meinung nach darin besteht. die neutestamentlichen Formulierungen an der Sache zu messen. die sie zur Sprache bringen. Zum Zusammenhang von Sachkritik und Kanon vgl Stuhlmacher. Verstehen 2 1986 248-250. 42 Troehsch. Über historische und dogmatische Methode 737: Die historische Methode »relativien Alles und Jedes. nicht in dem Sinne. dass damit jeder Wenmassstab ausgeschlossen und ein nihilistischer Skeptizismus das Endergebnis sein müsste. aber in dem Sinne. dass jeder
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bauen.H Seine Lösung bestand in der »religionsgeschichtlichen Theologie«, einer Theologie, die nur aus dem Überblick über den Gesamtzusammenhang der Religionsgeschichte zu entwerfen ist. 44 Ist dies nicht eine fast deckungsgleiche Analogie zu einem dogmatischen System, in welchem der Zusammenhang tragend geworden ist? Gibt es einen Standpunkt über allen Dingen, der es einem menschlichen Subjekt erlauben würde, in dieser Weise religionsgeschichtliche Theologie zu treiben? Die Exegese ist Troeltsch bekanntlich nicht gefolgt. Was jedoch nicht heisst, sie sei dem Systemzwang aus dem Weg gegangen. Vielmehr hat sich durch das historische Denken ein neuer Systemzwang eingestellt. Dieser ist keine Analogie zum dogmatischen wie bei Troeltsch, sondern nimmt sich wie ein axialsymmetrisches Gegenstück zu jenem aus. Während in der pervertierten Dogmatik der Zusammenhang herrscht, herrscht in der pervertierten Exegese der Zwang zu historischer Vereinzelung. Es kommt zur Ausblendung des Zusammenhangs, in welchem die einzelnen Schriften des Neuen Testaments faktisch stehen. Und zwar des Zusammenhangs, der vom historischen Subjekt nicht konstruiert, sondern wahrgenommen wird. Die exegetisch sachgemässe Zuwendung zum Einzelnen artet zur Fixierung auf das Einzelne aus, ganz so, als ob dieses nur in der Vereinzelung wahrhaftig erkannt werden könne. Diese Fixierung verhindert ein Nachdenken darüber, was es beispielsweise für das Gesetzesverständnis des Matthäusevangeliums bedeutet, dass es durch den Kanon in Zusammenhang mit den paulinischen Briefen gekommen ist, oder für das Johannesevangelium, dass es in Zusammenhang mit der Apokalypse kommt, oder für die Paulusbriefe, dass im selben Kanon auch der Jakobusbrief steht. Der Systemzwang historischer Vereinzelung verhindert die Einsicht, dass der Zusammenhang, in welchem das Einzelne steht, die Erkenntnis des Einzelnen bereichert und nicht verstellt. In der Exegese muss analytisch gearbeitet werden. Aber der Systemzwang historischer Vereinzelung führt allzu leicht dazu, dass die Analyse die synthetische Wahrnehmung verhindert beziehungsweise die Moment und jedes Gebilde der Geschichte nur im Zusammenhang mit anderen und schliesslich mit dem Ganzen gedacht werden kann. dass jede Bildung von Wenntassstäben deshalb nicht vom isolierten Einzelnen. sondern nur von der Überschau des Ganzen ausgehen kann•. 4 J Troeltsch. Über historische und dogmatische Methode 736: »Es wird unmöglich. ihn (sc den religiösen Glauben) auf eine einzelne Tatsache als solche aufzubauen. ···"· 44 Troeltsch. Über historische und dogmatische Methode 738. vgl 737: »Überschau des Ganzen«.
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Exegese und Dogmatik
Sache des Textes verschlingt. Die Herrschaft der Analyse ist geboren aus dem nihilistischen Anspruch des Denkens, aus der Zersetzung des Stoffs, auf den das Denken um seiner selbst willen angewiesen ist. Der nihilistische Zug bleibt sich gleich, sei die Analyse nun historisch, soziologisch, feministisch oder fundamentalistisch gesteuert. Dies wird im Blick auf die Soteriologie bedeutsam und wirft noch einmal ein neues Licht auf den Systemzwang der Dogmatik. Es ist wohl nicht unvernünftig zu sagen, der Systemzwang der Dogmatik sei ein Indiz dafür, dass das Denken sich soleriologisches Vermögen zuschreibt.45 Diesem synthetistischen Zug des dogmatischen Denkens steht die Fixiertheit der Exegese auf die Analyse wiederum axialsymmetrisch gegenüber. Denn exegetisch wird das Rettende ins vereinzelte Material gebannt, das seiner Bedeutungsdimension verlustig gegangen ist. Der Zwang zum tragenden System, der sich dem soleriologischen Anspruch des Denkens verdankt, und der Zwang zur Analyse, der sich dem nihilistischen Zug des Denkens verdankt, verspielen beide das Rettende: der eine dadurch, dass er es ersetzt durch ein Denken, das in Wahrheit niemanden retten kann, der andere dadurch, dass er es im vereinzelten Material verschwinden lässt. Demgegenüber müsste die Exegese zu einer inkarnatarischen Theologie durchfinden, 46 welche nichts anderes unternimmt, als der schon wahrgenommenen &9x des Einzelnen nachzudenken. 47 Inkarnatarische Theologie veranlasst die Exegese, sich dem Einzelnen zuzuwenden, um dort die xciplc; zu entdecken, die es austeilt.
4 ~ Mosten. Sinn oder Gewissheit? 9: »Einmal scheint die Entwicklung neuzeitlichen Denkens in seinem Hauptzug weniger dadurch gekennzeichnet werden zu müssen. dass man es als Resultat des Verschwindens Gones oder des Seins versteht. sondern vielmehr dadurch. dass es die Bedingtheit des Menschen als etwas Negatives erfähn. demgegenüber es das Positive. als bejahendes Lebensgefühl. als Gewissheit. selbst erzeugen muss.« Das Denken. das sich an die Stelle seines Materials gesellt hat. erhebt soleriologische Ansprüche. gerade auch dann. wenn dieses Denken eine »Heilslehre• zu vermineln vorgibt. vgl auch 35-39. 46 Nach Buhmann. Theologie als Wissenschaft 462 ist die Inkarnation des Wones Gones Grundlage der »Christlichen Freiheit in der Gebundenheit an die Tradition•. an welcher Freiheit auch die Exegese als Wissenschaft panizipien. 47 Gerade wenn das Subjekt der Exegese streng zu unterscheiden ist vom Subjekt des Glaubens. welcher die 10Pp des Menschgewordenen wahrnimmt (vgl Joh 1.14). kann es der Exegese nur darum gehen, die wahrgenommene IOPp nachdenkend zu würdigen. Aus der Verschiedenheit der Subjekte folgt keineswegs. dass die Exegese von jener Würde Abstand zu nehmen hätte.
I Dogmatisches Denken und Exegese
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1.3 Das Moment der Geltung Das dritte Charakteristikum des dogmatischen Denkens ist gegeben mit dem Moment der Geltung, und zwar näherhin der Geltung für eine bestimmte Zeit. Das dogmatische Denken vollzieht sich deshalb in enger Tuchfühlung mit dem jeweiligen Geist einer Zeit. 411 Daraus folgt, dass ihre Aussagen Verbindlichkeit beanspruchen und zugleich in einem strengen Sinne des Wortes zeitlich sind. Die Dogmatik formuliert Sätze, die sich angesichts der Wahrheitsfrage verantworten, aber dies sind keine tempusneutralen, sondern vielmehr temporale Sätze. 49 Die Zeit, in der sie gesagt werden, ist in ihnen wahrgenommen und gehört insofern zur Sache selbst, von der sie sprechen.~0 Die Tuchfühlung der Dogmatik mit dem jeweiligen Geist der Zeit bringt Versuchungen mit sich. Einerseits kann die dogmatische Wahrheit durch den Geist der Zeit so beherrscht sein, dass sie bloss diesen in theologische Sätze verkleidet wiedergibt. Dies ist ein Dogmatismus, in welchem der gegenwärtige Geist die Vergangenheit überwältigt und so zum Ungeist wird. Andererseits kann die dogmatische Wahrheit den Geist der Zeit so verdrängen, dass es zu einem Dogmatismus kommt, der die Gegenwart schlicht überwältigt. Von der dogmatischen Bezogenheil auf Geltung in einer bestimmten Zeit kann die Exegese wiederum manches lernen, sowohl was den richtigen Gebrauch als auch was den Missbrauch angeht. Die Exegese ist eingestellt auf die Erforschung der historischen Umstände, der Gestalt und der Bedeutung, die Texte ursprünglich hatten. Diese methodisch sinnvolle Konzentration auf das Vergangene hat indessen nicht selten zur Folge, dass die Interpretationsaufgabe verwechselt wird mit der historischen Beschreibung. Der Exeget beendet häufig seine Arbeit, wenn er Auskunft gegeben hat über Entstehungssituation
u Nach Schleiermacher. Der christliche Glaube. Paragraph I Ziffer 5. ist die Dogmatik mehr als die anderen Theologischen Disziplinen •in gewissem Sinn und Maass von der Weltweisheit« abhängig. Dies veranlasst Schleiermacher zur Warnung davor. dass die Dogmatik bei der ,.fortschreitung« des theologischen Studiums »vorzüglich den Ton angäbe« (aaO I 3). Auch Sauter. Methodenstreit 89 notien die Zeitbezogenheil der systematischen Theologie. 49 Zu diesem Sachverhalt vgl Weder, Kreuz 99. so Hahn, Exegese sieht darin »die entscheidende Funktion der Systematischen ... Theologie angesprochen: die derzeitigen geschichtlichen Bedingungen aufzuhellen. die entscheidenden Bezugspunkte zur christlichen Tradition herauszustellen und die fUr die eigene Zeit wesentlichen Problemfelder abzustecken und im einzelnen auszuarbeiten. innerhalb deren sich theologisches Denken und Entscheiden heute vollziehen kann« (33).
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Exegese und Dogmatik
und ursprünglichen Sinn der Texte.~ 1 In jüngster Zeit hatte dies zur Folge. dass die Auslegung aus den exegetischen Wissenschaften auszuwandern begann. etwa in die praktische Theologie, welche oft historisch nicht informiert ist, oder in die sogenannt kreativen Methoden. welche historisch gar nicht interessiert sind. Diese Auswanderung der Auslegung ist ohne Zweifel fatal, sie ist dennoch verständlich als Reaktion auf eine Exegese, die historische Beschreibung von Texten als deren Auslegung ausgibt. 52 Vom temporalen Charakter dogmatischen Denkens kann die Exegese lernen, dass eine Interpretation eines vergangenen Textes erst dann geleistet ist, wenn er zeitgernäss ausgelegt wird. Es gehört zur exegetischen lnterpretationsaufgabe, in Tuchfühlung mit dem jeweiligen Geist einer Zeit eine Auseinandersetzung mit dem auszulegenden Text herbeizuführen. Eine Exegese, die bloss noch mit der Frage historischer Archäologie und nicht mehr mit verbindlicher Vergegenwärtigung beschäftigt ist, wird ihrer Aufgabe nicht gerecht. Die Interpretation einer Fuge von Bach wäre unakzeptabel, würde sie sich damit begnügen. die historischen Umstände und den mathematischen Bau der Fuge zu beschreiben. Das Musikstück muss gespielt werden. wenn es interpretiert werden soll. Genauso verhält es sich mit der Interpretation von Hölderlins Gedichten und von neutestamentlichen Texten.H Das bedeutet konkret, dass der Exeget die Fragen seiner eigenen Zeit an die vergangenen Texte heranträgt. dass er sie nicht bloss mit den Augen eines Menschen des ersten Jahrhunderts,
~~So die ,.formale Definitioncc, die Wilckens. Bedeutung 133 gibl: »Eine wissenschafllich verantwonbare Auslegung der Bibel ist allein diejenige Umersuchung der biblischen Texte. die unter methodisch konsequenter Anwendung der historischen Vernunft nach dem gegenwänigen Stande ihrer Kunst nachverstehend zu erkennen und zu beschreiben suchl. welchen Sinn diese Texte im Zusammenhang der urchrisllichen Überlieferungsgeschichte gehabt haben.« Schon geschichtsphilosophisch gesehen besteht allerdings ein Grundlagenproblem darin. dass die Möglichkeil des Historikers. auf die ursprünglichen Ereignisse selbst zurückzugehen. sehr fragwürdig ist (zum Problem vgl Weder. Kreuz 50-61 ). ~!Auch Hahn. Exegese 26f regislrien das Zurücktreten der Bibelorientierung in der gegenwänigen Theologie. Er bringt es in Zusammenhang mit einer Exegese. die bloss noch ,.Theologiegeschichte des Urchristentums• isl. ~· Stuhlmacher. Verstehen 2 1986 242 überwindet zwar die Beschränkung auf die historische Deskription ausdrücklich ( ·Dil' wm uns mrRt'SC"hlaRt'nl' J.:inhlid1t' Schriftausll'gung hlt'iht also nicht hl'i dt'r Bl'schrt'ihung dt's Tl'Xtl's als t'int'm historisclll'n Phännmt'n stt'hl'n, srmdt'rfl Rl'ht aus und dimt dm1 gl'gl'IIM'iirtigl'n fl:inhlichl'll/ Gt'hrauch dt'r Schrift.• ). es bleibt jedoch die Frage. ob der Horizont der Exegese mit dem •(kirchlichen) Gebrauch• der Schrift genügend weil angesetzt isl.
I Dogmatisches Denken und Exegese
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sondern mit seinen eigenen Augen sehen lemt.s4 Die Fragen einer Zeit an einen vergangeneo Text herantragen ist nicht dasselbe wie die Fragen in den Text eintragen. 55 Gegenwartsbezogen exegesieren heisst nicht, einen Text mit der Modeme überwältigen. Gerade die historische Einstellung der Exegese hat den Sinn, die Fremdheit des Vergangeneo herauszuarbeiten. Dies geschieht jedoch nicht um der Fossilisierung der Texte willen, sondern im Interesse einer gegenwärtigen Begegnung mit ihnen. 56 Würde das Vergangene nicht als Fremdes gewürdigt, käme der Ausleger nie aus dem Selbstgespräch heraus. Erst im hermeneutisch verantworteten Vorgang der Begegnungs' kommt es zu einer Interpretation, die eine Verantwortung für ihre eigene Zeit übernimmt und an der theologischen Aufgabe, das Gültige aufzuspüren, partizipiert. Das dogmatische Denken als solches macht die Exegese auf diese Aufgabe aufmerksam. Zugleich unterstützt es die Exegese insofern, als es mit dem Geist einer Zeit reflektiert umgeht, worauf sich die Exegese in ihrer eigenen Verantwortung für die Zeit stützen kann.ss Weiter: Die Zeitlichkeit des dogmatischen Denkens ruft einen Sachverhalt in Erinnerung, den die Exegese in ihrer Konzentration auf historische Wahrnehmung leicht vergisst: die Relativität des Geschichtlichen. Zwar gehört es zum guten Ton der Exegeten, von der Relativität der historischen Gegenstände zu sprechen. Dies meint jedoch bloss ihre
~ 4 Schon Buhmann. Theologie als Wissenschaft 462 weist der neutestamentlichen Forschung die Aufgabe zu . ..für die Gemeinde die ReRenwärtiR sachRemässe FormulierunR des Keryl(mas zu erarbeiten«. ~~ Die Tatsache. dass die Tradition sich die Fragen noch nicht stellen konnte. die wir im Rückblick an sie stellen (so Trowitzl>ch. Gott 19). hat ein beträchtliches hermeneutisches Potential. sofern gerade solche Fragen Aspekte an der Tradition entdecken. die in der Ursprungssituation nicht entdeckt werden konnten. ~b Hahn. Exegese 28 sieht das Kernproblem der Exegese darin. »einen Text als eine uns und unserer Zeit in jedem Falle geschichtlich fremde Aussage zu interpretieren. Historisch-kritische Methode arbeitet nachdrücklich das Phänomen der zeitlichen Distanz heraus.« Im Gegensatz dazu lässt sich zeigen. dass gerade die Fremdheit herausgestellt werden muss. damit es zur Ablenkung des Adressaten von sich selbst kommt. H Dieser Vorgang der Begegnung scheint mir hermeneutisch bedeutend fruchtbarer zu sein als das mit dem Programm der »Wirkungsgeschichte« verknüpfte Postulat der »Horizontverschmelzung«, vgl Trowitzsch. Gott 18. Das Postulat der Horizontverschmelzung verlangt vom Exegeten. einzukehren in einen Horizont. den er niemals haben kann. Die Unerreichbarkeil jenes Horizonts ist jedoch gerade kein Defizit. sondern ein Plus des Exegeten. 5" Sauter. Methodenstreit 89 weist der systematischen Theologie die Aufgabe zu. der Vergegenwänigung der biblischen Texte den Boden zu bereiten. Zum Problem vgl Jüngel. Freiheit 21-24.
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Exegese und Dogmatik
Zufälligkeit im Gegensatz zu absoluter, zeitinvarianter Wahrheit.w Das dogmatische Denken macht jedoch klar, dass historische Texte nicht bloss zu ihrer eigenen Gegenwart und Vergangenheit ein Verhältnis haben, sondern auch zu ihrer Zukunft. Schon die historische Wahrnehmung besteht nicht nur darin, auf die Ursprungssituation eines Textes einzugehen. Da dieser Text auch in dem Sinne kontingent ist, dass er von Ereignissen und Texten aus seiner Zukunft betroffen wird, kann auch die historische Wahrheit über ihn nicht im Regress auf seine Ursprungssituation allein herausgefunden werden. 60 Die dogmatischen Erkenntnisse der letzten zwei Jahrtausende gehören in besonderer Weise zur Zukunft neutestamentlicher Texte. Die dogmatische Rezeption dieser Texte erschliesst Wahrheiten an ihnen, die zum Zeitpunkt ihres Ursprungs nicht erkennbar waren, und die dennoch Wahrheitsdimensionen dieser Texte sind. In diesem Sinne sind die Texte relativ, relativ auch zu ihrer Zukunft. Und eine Exegese, die diese Relativität nicht produktiv berücksichtigt, wird gerade auch ihrer historischen Aufgabenstellung nicht gerecht. 61 Damit muss neu überprüft werden, was etwa das exegetische Urteil, in einer bestimmten Auslegung werde Paulus durch die lutherische Brille gesehen, überhaupt heissen kann. Es ist schon historisch keineswegs zutreffend, dass die ganze Wahrheit über die paulinische Theologie durch den Rückgang auf die fünfziger Jahre des ersten Jahrhunderts entdeckt werden kann. 62 Normalerweise soll das genannte Urteil eine Auslegung disqualifizieren, und dabei verrät es, dass es mit der Relativität des Geschichtlichen noch lange nicht
~ 9 In dieser Hinsicht ist Lessings Satz von den zufälligen Geschichtswahrheiten von der begese (und Theologie) nur zu bereitwillig übernommen worden. vgl Weder. Kreuz 61-70. 110 Diese flir die exegetische Arbeit am Neuen Testament ausserordentlich folgenreiche gleichsam ontologische Relativität des Geschichtlichen geht weit über das hinaus. wao; man gegenwänig unter dem Stichwon »Wirkungsgeschichte« verhandelt. vgl Weder. Kreuz 7075.249. Eine etwas andere Sicht venritt Stuhlmacher. Verstehen 250-253. 61 Sauter. Methodenstreit 89f weist auf den exegetischen Positivismus hin. der aus solcher Vernachlässigung der historischen Aufgabe resultien. Allerdings muss man sich davor hüten. das Verhältnis von Schrift und Tradition nach dem Modell von impliziter und expliziter Wahrheit zu denken. Dieses Modell überspielt gerade die Kontingenz der Schrift und die Neuheit der Erkenntnis angesichtsder Tradition. 6 2 Gegen Wilckens. Bedeutung 121 f. der das kritische Element der historischen Methode zu ausschliesslich mit dem Rückgang auf die Ursprungssituation verbindet. Wilckens lässt nur die eine ccLeitfrage« zu. •ob und wieweit hier die biblischen Texte jeweils in dem Sinne. den sie zu ihrer Zeit und an ihrem On gehabt haben. ftir unser heutiges Nachverstehen zu Won gekommen sind« ( 121 ). Die anschliessende Kritik an Bultmanns Theologie ( 122-129) offenban denn auch den Mangel dieses Ansatzes deutlich.
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ernst gemacht hat. Hier muss ein Missverständnis ausgeschlossen werden. Die Relativität des Geschichtlichen auch exegetisch ernst zu nehmen, bedeutet keinen Freipass für die dogmatische Vereinnahmung biblischer Texte.f'J Es wäre gewiss möglich, dass die lutherische Brille die paulinischen Texte in einem falschen Licht erscheinen lässt. Ob dies der Fall ist, kann nur abgeklärt werden, indem einerseits die Ursprungssituation erforscht und andererseits das hermeneutische Potential der Auslegung Luthers für die paulinischen Texte ermessen wird. Inwiefern die lutherische Brille das paulinische Anliegen schärfer sieht als beispielsweise die Brille eines exegetisch fingierten Zeitgenossen des Paulus, kann nur sachbezogen und auf der Ebene der Stimmigkeit entschieden werden, jedenfalls nicht allein durch den Regress auf die ursprünglichen Intentionen des Paulus. Und genau wie man das »vere deus - vere homo« des Chalcedonense lesen kann als eine hermeneutische Anweisung zur Lektüre des Johannesevangeliums, so kann auch Luthers Paulusauslegung hermeneutischen Wert haben. Sie kann Wahrheitsmomente der paulinischen Theologie freilegen, die im ersten Jahrhundert nicht wahrnehmbar gewesen wären. Diese Relativität des Geschichtlichen zu berücksichtigen, macht die historische Wahrnehmung nicht einfacher, wohl aber zeitlicher und insofern auch zeitgemässer. Nun gibt es freilich im dogmatischen Denken auch den Dogmatismus, der sich dann einstellt, wenn es im Namen des Gültigen die Gegenwart64 überwältigt. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass die Exegese, seit sie ein historisch-kritisches Unternehmen ist,
h' Hahn. Exegese 36f weist in einer ausführlichen Schlussbemerkung darauf hin. dass es bei der Berücksichtigung wirkungsgeschichtlicher Erkenntnisse »nicht um eine durch kirchliche Tradition zu legitimierende Auslegung (gehl). sondern um eine an der Schrift selbst zu messende Einsicht. die neue Dimensionen eines Textes erschliesst«. Track. Begründung 124 sieht zu Recht die hermeneutische Funktion der Bekenntnisse und der theologischen Tradition darin. dass sie »nur als Einweisungen in das rechte Verständnis der Schrift zu sehen (sind). die immer wieder auch von der Schrift selbst her zu korrigieren sind«. M Man muss sich indessen davor hüten. die »Gegenwan« allzu unproblematisch als da~ sozusagen Selbstverständliche zu verstehen. Was die Gegenwart ist. stellt sich -gerade auch im Gespräch mit der dogmatischen Tradition -jeweils erst heraus. Dennoch verfehlt eine dogmatistische Dogmatik die Gegenwan darin. dao;s sie das »Gespräch mit den Zeitgenossen• (vgl Trowitzsch. Gott 16) gar nicht ftihn. sondern im theoretischen Beschluss gerade auch darüber verfügt. was diese die Gegenwan ausmachenden Zeitgenossen zu sein haben.
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Exegese und Dogmatik
einen antidogmatischen Charakter hat. 6 ~ Obwohl nicht wenige Exegeten stolz auf ihr antidogmatisches Werk sind, muss dieses seinerseits kritischer betrachtet werden, als dies der Stolz gewöhnlich zulässt. Ihre antidogmatische Gerichtetheit bezieht die Exegese wohl daraus, dass sie ein Kind der Aufklärung ist. Historisch-kritisch denkend vollzog die Aufklärung ihre Emanzipation von der herrschenden Tradition. 66 Das historische Denken erlaubte, die Abhängigkeit von der Überlieferung zu überwinden. Es ist jedoch die Frage, ob die emanzipatorische Abstandnahme die wahre Alternative zur genannten Abhängigkeit ist. Diese Frage verschärft sich gerade für eine Exegese, welche im Namer• historischer Wahrnehmung antidogmatisch wirkt. Denn die historische Wahrnehmung von Texten ist als solche die Einstellung auf das Wort, das sich das menschliche Subjekt nicht selbst sagen kann, weil es schon gesagt ist. Unverftigbarkeit gibt es ja nicht bloss im Modus des Entzugs, unverfügbar sind nicht bloss Dinge, die wir nicht haben, unverfügbar ist dem menschlichen Subjekt gerade auch das, was ihm gegeben ist, ohne von ihm produziert worden zu sein. Historische Wahrnehmung ist in diesem Sinne Beschäftigung mit der Unverfügbarkeit. Die historische Wahrnehmung ist der methodisch durchgeführte Respekt vor der Würde des Gewordenen. Von hier aus bedarf die aufklärerische Alternative von Abhängigkeit und Emanzipation einer Überprüfung. Der Freiheitsgedanke der Aufklärung ist vielleicht solange nicht zu Ende gedacht, als Freiheit sich als Emanzipation vollzieht. Der Vollzug der Freiheit wäre wohl erst dann erreicht, wenn es zum Angewiesensein auf das Gegebene käme. Die Mündigkeit des Menschen besteht nicht schon darin, dass er sich selbst alles sagt, sondern erst darin, dass er sich von Texten manches in aller Freiheit gesagt sein lässt. 67 Die Exegese ist insofern zu Recht antidogmatisch. als sie dem Dogmatismus, der die Gegenwart überwältigt, widersteht. Sie würde jedoch selbst dogmatistisch, wenn sie bloss ein Instrument in den Händen des auf sich selbst fixierten Ichs wäre, seine Emanzipation vom Vergangenen durchzuset~~Zum antidogmatischen Charakter der historisch-kritischen Exegese vgl Grass. Historisch-kritische Forschung 9-12. der ihn in Zusammenhang mit der Dogmenkritik der Reformationszeit bringt. Nach Troehsch. Über historische und dogmatische Methode 73Cr73!! macht die historisch-kritische Methode rein als Denkweise »die alte dogmatische Methode ungangbar«. ~ Vgl Grass. Historisch-kritische Forschung II: Wilckens. Bedeutung 91-96. ~ 7 Es steht zu vermuten. dass mit dieser Angewiesenheil auf das gesagte Wort die Freiheil der Theologie allererst entsteht. vgl Jüngel. Freiheil 15-17 und These 0.3 (29).
2 Das Ziel exegetischer und dogmatischer Erkenntnis
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zen. Dann wäre sie selbst ebenso nihilistisch wie der Dogmatismus, den sie zu beseitigen vorgibt. Exegese ist vielmehr so zu betreiben, dass sie die Wahrnehmung des Gegebenen einübt. Denn erst im Angewiesensein auf das gegebene Wort vollzieht sich dassapere aude in aufgeklärter Weise.
2 Das Ziel exegetischer und dogmatischer Erkenntnis Kehren wir zurück zu den eingangs erwähnten Reminiszenzen, zum armen Vikari, der sich dogmatische Fragen in Bem exegetisch lösen lässt, und zum Basler Dogmatiker, der sich Exegese in dogmatischer Gestalt wünscht. Gotthelf zeigt uns die Armut des Vikari noch einmal von einer neuen Seite. Er sieht sie darin, dass jener starke Exeget gleichsam einäugig durchs Leben geht. Gewiss, auch das ist nicht nichts. »So ist der Mensch glücklich zu preisen. welcher ein Auge hat, denn was ist der Mensch. wenn er kein Auge hätte! Aber schöner und besser als ein Auge sind zwei. und zwei hat Gott dem Menschen gegeben, und halbblind ist und bleibt der immer, der nur eines hat. Und wie Gott dem Menschen zwei Augen gegeben hat. so hat er ihm auch zwei Bücher gegeben. das heilige alte Buch. das nicht blos ein Vikari soll exegesieren können, sondern jeder Christ verstehen. aber auch das wunderbare Buch. das alt ist und doch jeden Tag neu wird, das wunderbare Buch. das, aus göttlichem Quell entsprungen, wie durch unzählige Bäche ein Strom, genährt wird durch Quellen aus jedes Menschen Brust, das Gott mit lebendigem Atem durchhaucht und Blatt um Blatt beschreibt vor der Menschen selbsteigenen Augen. Und wie die beiden Augen einander helfen auf unerklärliche Weise und eins ohne das andere verwaiset sich fühlt und einsam und nur halb so gut als früher. so hat es auch ein Buch mit dem andem Buch. ein Buch wirft Licht auf das andere Buch. beide strömen Leben sich zu und halbdunkel wenigstens bleibt ein Buch ohne das andere Buch .... Wo der Mensch mit beiden Augen in beide Bücher sieht, da nahen sich Himmel und Erde, ist der Himmel offen. Engel Gottes steigen auf und nieder, strömende Offenbarungen Gottes verklären das Leben. heiligen die Zustände. die
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Exegese und Dogmatik
Bibel gibt dem Leben seine Weihe. das Leben macht die Bibel lebendig.«~>M
Arm ist der Vikari, weil er bloss im Buch der Bücher liest, statt hin und wieder einen Blick ins Buch des Lebens zu werfen. Diese seine Armut offenbart ein Kriterium, das sowohl an exegetische als auch an dogmatische Arbeit anzulegen ist. Beide müssen daran gemessen werden, ob sie dem Leben seine Weihe, seine Würde geben. Exegese und Dogmatik stehen gleichennassen in der Gefahr, einäugig zu sehen. Einäugig sehen sie, wenn sie ihre Erkenntnisse bloss vor dem Buch der Bücher oder der kirchlichen Lehrtradition verantworten."9 Das Thema aber, das beide verhandeln, ist das Leben selbst, 70 dessen sachgemässe Wahrnehmung Kriterium überhaupt einer jeden Wissenschaft ist. Dem Leben gilt es gerecht zu werden, ihm muss die Würde zuerkannt werden, die es im Buch der Bücher gewinnt. Diese Aufgabe verbindet meines Erachtens Dogmatik und Exegese, trotz des Unterschieds, den der nach Basel gereiste Exeget hier sieht. »Und die Dogmatik?« fragt Fuchs. »Nun, befindet sie sich nicht ebenfalls im Umbruch? Wir sind Exegeten. Deshalb rechtfertigen wir unsere Arbeit nur hermeneutisch, indem wir unsre Phänomene der Sprache überantworten, welche uns unsre Texte lehren.« 71 Die hier gemeinte Sprache ist das Zuhause 72 des
Gotthelf. Anne Bäbi Jowäger 63f. Auch Track. Begründung 126 geht über die jeweilige Glaubensgemeinschaft hinaus. Theologische Aussagen dienen •>der Vorbereitung eines Konsensus. der über die je bestehende Glaubensgemeinschaft hinausgeht«. 7° Für die Dogmatik stellt Mosten. Menschwerdung I fest ...dass dogmatische Fragen im strengen Sinne immer existential interpretierbar sind. das heisst: Sie verraten ihre Verflochtenheit mit der menschlichen Erfahrung.« Track. Begründung 108 spricht von der »Entfaltung und Präzisierung der Erfahrungen. denen sich der Glaube verdankt•: vgl auch S.JI9. wonach »theologische Aussagen als Aussagen über die Sinntotalität der Erfahrung zu verstehen« sind. Für die Exegese nimmt Stuhlmacher. Exegese und Erfahrung 67-89 G.Ebelings Anregung zur Konzentration auf das Erfahrungsphänomen ausführlich auf. Stuhlmacher stellt der Exegese die Aufgabe. die Sprachgestalt der Texte auf ihren Erfahrungsgrund hin zu befragen und dadurch zu ermöglichen. dass man sich den Texten als »Erfahrungsmustem anvenrauen« kann (75). Stuhlmacher zeigt im folgenden an allen Hauptteilen des Neuen Testaments. dass die erfahrungsorientiene Exegese den Texten grundsätzlich angemessen ist. 71 Fuchs. Das Neue Testament 169. 72 »Was sagen Sie zu folgender These: Zu Haus~ spricht man nicht. damit man ''~rst~ht. sondnn w~il man 1·~rst~ht!.' Das ist der Satz. von dem ich ausgehen möchte« (fuchs. Das Neue Testament 150). Die Sprache ist der On. wo das menschliche Leben verstanden ist. 68
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2 Das Ziel
eJ~egetischer
und dogmatischer Erkenntnis
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menschlichen Lebens, die Sprache, die Jesus seinen Jüngern mit auf den Weg gab, 73 die Sprache, die an die Erfahrungen der Liebe 74 erinnert. Die hermeneutische Rechtfertigung der exegetischen Arbeit geschieht, wenn die Phänomene an jene Sprache überantwortet werden, die sie mit dem alltäglichen Leben zu verbinden weiss. Das bedeutet für die Exegese, sich entschiedener dem Erfahrungsproblem zuzuwenden. 75 Die Wahrhaftigkeit und Gültigkeit ihrer Aussagen sind nur auf der Ebene der Lebenserfahrung zu verifizieren. Dabei ist sorgfältig auf die Vielfalt und Kontingenz der Lebenserfahrung zu achten. Wer von der »Grundsituation« 76 des Menschen ausgeht, wird besonders auf die Zeitlichkeit menschlicher Lebenssituationen achten müssen. Vielleicht wäre der Erfahrungsbezug der Exegese und der Dogmatik noch kontingenter zu denken, als dies mit dem Begriff der Grundsituation geschieht.7 7 Vielleicht wäre die Kategorie der »Begegnung« hermeneutisch ertragreich. Denn in der Begegnung mit biblischen Texten oder dogmatischen Sätzen entsteht so etwas wie Resonanz in der jeweiligen Erfahrungswelt eines Menschen. Das Modell der Resonanz ermöglicht es, den Erfahrungsbezug streng auf den kontingenten Augenblick der Begegnung zu beschränken. Dies entlastet den Exegeten davon, erneut hinter die Sache der Texte zurückzugehen und dort, im Hintergrund, nach Grunderfahrungen zu suchen. Und es entlastet den Dogmatiker davon, Grunderfahrungen zum hermeneutischen Kontinuum zu machen. 7K
" Fuchs. Das Neue Testament 148-150. »Jesus gibt seinem Hörer die Anrede auch noch mit auf den Weg« ( 149). 7• »Ich halte mich an die Sprache. Und ich halte mich so an sie. wie sie vom Tod herausgefordert I wird. Der Tod verhöhnt am Sarge den Überlebenden: Jetzt sprich Du! Und darauf muss man antworten: Die Liebe siegt!« (Fuchs. Das Neue Testament 1671). Der der Liebe angemessene Sprachzusammenhang ist derjenige »des alltäglichen Lebens•; wird das Neue Testament auf diesen zurückgeführt. so wird es verstanden. Das Neue Testament »hilft uns. unsere Sprache wieder zu Iinden. Das Neue Testament ist se/her ein ht~rmeneutisches Lehrbuch" (aaO 169). n Vgl Track. Begründung 113. der theologischem Nachdenken die Integration des jeweils zugeordneten Erfahrungsbereiches anvertraut. 76 Zu diesem Begriff vgl Ebeling. Dogmatik und EJ~egese 281-284; aufgenommen von Stuhlmacher. EJ~egese und Erfahrung 80. Schon Ebeling grenzt den Situationsbegriff einerseits gegenüber dem isolierten Augenblick und andererseits gegenüber der zeitlosen Struktur ab. 77 Namentlich Stuhlmacher. EJ~egese und Erfahrung 80 verwendet den Begriff der Grundsituation. um in gewisser Weise von der blossen geschichtlichen Kontingenz Abstand zu nehmen. n Vgl Track. Begründung 110. der auf den vorgreifenden Aspekt des Konsensbegriffs hinweist.
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Exegese und Dogmatik
Wie dem auch sei. Exegese und Dogmatik sind nicht darauf zu beschränken, historisch oder dogmatisch wahre Sätze zu finden. Sie sind vereint in der Aufgabe, dem Lebensphänomen gerecht zu werden, dem Leben die Würde zuzuerkennen, die es vor Gott hat. Denn in den fort und fort träumenden Dingen aller Lebenserfahrung schläft das Lied ihres Schöpfers. Dogmatik und Exegese sind vereint in der Suche nach dem Zauberwort, das, einmal gefunden, die Welt so zu singen anheben lässt, dass es weder Dogmatik noch Exegese mehr braucht.
Die Entdeckung des Glaubens im Neuen Testament »Ach, wenn ich doch glauben könnte.« Dieser Satz fällt in vielen Gesprächen, die wir als Theologen, als Pfarrerinnen und Pfarrer, mit Menschen unserer Tage führen. Fast wie ein Stosseufzer mutet das an. Ein Seufzer über die verlorene Welt des Glaubens, von der man denkt: es wäre gut, man hätte sie wieder. »Ach, wenn ich doch nur glauben könnte.« In diesem Stosseufzer drückt sich das Verhältnis zum Glauben aus, wie es für europäische Menschen des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts typisch ist. Wir lassen jetzt jene Gedankenlosen auf der Seite, die ihr Leben auf eine abwesende Art führen und deshalb nie zur Glaubensfrage vorstossen. Wir lassen auch jene Dogmalisten auf der Seite, die entweder bloss den Glauben des Pfarrers prüfen wollen, oder die ihm triumphierend den Sieg der Wissenschaft über den Glauben unter die Nase reiben. Beides wirkt ja schon ziemlich abgestanden. Typisch dagegen für unsere Zeit ist meines Erachtens der zitierte Seufzer. In ihm kommt dreierlei zum Vorschein: erstens die Einsicht, dass der Glaube eine Hilfe zum Leben ist, zweitens eine gewisse Wehmut über den Verlust des Glaubens, und drittens eine leise Bitte an den Theologen, er möge doch die neuzeitlichen Hindernisse aus dem Weg räumen, die einen vom Glauben abhalten. Das ist meines Erachtens die Situation, auf die wir uns als christliche Kirche einzustellen haben. Was könnte ich jemandem sagen, der beispielsweise den folgenden Stosseufzer tut: ))Ach, wenn ich doch wieder einmal lachen könnte.« Ich könnte ihm nachweisen, dass er - recht betrachtet - durchaus etwas zu lachen hätte. Ich könnte ihm auch psychologisch beweisen, dass er eine Lachhemmung habe und woher diese komme. Oder ich könnte ihm mit farbigsten Farben schildern, wie wichtig und gesund doch das Lachen für ihn wäre. Ich könnte ihn auch schlicht dazu auffordern, er müsse halt selbst lachen, wenn er lachen wolle. All dies sind Strategien, argumentative, psychologische, appellative Strategien unseres Umgangs mit elementaren Lebensphänomenen wie dem Lachen. Solche Strategien gäbe es wohl noch mehr. Allerdings, mit dem Stosseufzer ob des verlorenen Lachens könnte ich auch anders umgehen. Sie haben es erraten: ich könnte versuchen, den Seufzenden zum Lachen zu bringen. Wenn ich ihm etwas zu lachen gebe, umgehe ich die prinzipielle Schwäche aller argumentativen, psychologischen oder appellativen
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Die Entdeckung des Glaubens im Neuen Testament
Strategien. Ihre prinzipielle Schwäche ist, dass sie das Lachen bloss bedenken oder fordern, statt es zu erschaffen. Der Glaube ist als ein Lebensphänomen dem Lachen ähnlich. Ähnlich sind auch die Strategien, mit denen wir häufig auf den Stosseufzer derer reagieren, die nicht glauben können. Doch der Glaube liegt - wie das Lachen - nicht in der Reichweite des Machens. Glaube ist zwar mein Tun, aber dennoch nicht mein Werk. Glaube wird mir zugespielt. Sowenig ich mich selbst zum Lachen bringen kann, sowenig kann ich mich zum Glauben bringen. Wenn wir uns also auf die Situation des verlorenen, zurückersehnten Glaubens einstellen wollen, müssen wir Abschied nehmen von den bekannten Strategien. Wir tun gut daran, keine Beweise flir die Notwendigkeit des Glaubens vorzutragen, keine Nachweise, dass Glaube für unser Leben unentbehrlich ist, keine Aufforderungen auch, sich nun endlich zum Glauben zu entscheiden. Wir halten besser nach Dingen Ausschau, die uns zum Glauben bringen. Vielversprechend ist in dieser Hinsicht das Neue Testament. Denn erstens kann man im Neuen Testament geradezu von einer Entdeckung des Glaubens sprechen. Keine andere jüdische oder hellenistische Schrift vor oder nach dem Neuen Testament verwendet das Wortfeld »glauben« auch nur annähernd so häufig. In diesem Buch trat das Wortfeld des Glaubens in den Mittelpunkt, weil offenbar das Phänomen des Glaubens auf eine vorher nicht dagewesene Art entdeckt worden war. Entdeckt, nicht etwa erfunden. Mancher Bodenschatz liegt ungenutzt in der Erde und tritt nur da und dort an die Oberfläche. Gleich einem solchen Schatz wurde der Glaube im Neuen Testament entdeckt. Entdeckt wurde etwas, was seit Urzeiten zum Menschsein gehört. Weil dieser Glaube keine Erfindung ist, greift etwa Paulus auf den Erzvater Abraham zurück, um vom neuentdeckten Glauben zu sprechen (Röm 4). Weil das Neue Testament das Dokument der Entdeckung des Glaubens ist, ist es meines Erachtens aussichtsreich, uns in der Zeit des verschütteten Glaubens auf das Neue Testament zu besinnen. Zweitens ist es aussichtsreich, weil dieses Buch tausend- und abertausendfach Menschen den Glauben zugespielt hat. Offensichtlich gab es den Menschen immer wieder etwas zu glauben. Deshalb ist es sinnvoll, wenn auch wir - auf der Suche nach den Kräften, die uns den Glauben zu entlocken vermögen -uns dem Neuen Testament zuwenden. Im folgenden werde ich versuchen, etwas von der kreativen Kraft der neutestamentlichen Texte durchschimmern zu lassen, aufmerksam
I An Gon glauben (Paulus)
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zu machen auf das, was uns das Neue Testament zu glauben gibt. Meine Überlegungen sind in drei Abschnitte gegliedert: an Gott glauben, Jesus und der Glaube, der Glaube in der Gemeinschaft der Kirche.
1 An Gott glauben (Paulus) In seinem Nachdenken darüber, welche Tragweite das Evangelium von Jesus Christus in unserer Welt hat, stiess der Apostel Paulus sehr schnell auf das Phänomen des Glaubens. Er bezeichnet das Evangelium als eine göttliche Kraft, welche auf Rettung gerichtet ist für jeden Glaubenden (Röm 1,16 ). Inhaltlich versteht das Evangelium das Kommen Jesu, seinen Tod und seine Auferstehung als ein Ereignis göttlicher Liebe. Das Evangelium spricht freilich nicht theoretisch, es beschreibt nicht einfach eine Theorie der göttlichen Liebe. Das Evangelium ist vielmehr eine Liebeserklärung an die Menschen, eine Liebeserklärung, die aus den höchsten himmlischen Höhen kommt und sich bis in die tiefsten Tiefen irdischen Lebens ausdehnt. Das bedeutet: der Himmel wendet sich der Welt in Liebe zu. Das Evangelium ist das Wort von göttlicher Zuwendung. Deshalb ist es eine rettende Kraft. Jede Liebeserklärung hat etwas Rettendes an sich. Denn sie gibt dem, dem sie gilt, ein Gewicht, das er sich niemals selbst verschaffen könnte. Sie gibt ihm die Würde des Geliebtseins. Und sie überwindet Einsamkeit, weil sie Präsenz verspricht. Paulus erfuhr das Evangelium als eine göttliche Liebeserklärung, so dass ihn weder Tod noch Leben, weder Höhen noch Tiefen von Gott scheiden können. Nicht weil er dem Himmel in allen seinen Lebenssituationen treu wäre, sondern weil der Himmel ihm treu ist. Darin liegt die rettende Kraft. Freilich, das Evangelium hat keine überwältigende Macht über alle Welt. Es ist eine rettende Kraft für die Glaubenden. Jede Liebeserklärung ist darauf angewiesen, dass sie Glauben findet. Sie ist machtlos gegenüber dem Spott, machtlos auch gegenüber dem Misstrauen. Wie sie ist auch das Evangelium ein machtloses und darin seine Kraft findendes Wort. Es kann mit Füssen getreten, es kann verdreht, es kann ins Gegenteil des Gesetzes verkehrt werden. Doch nur weil es diese Ohnmacht an sich hat, kann es Glauben finden. Denn im Glauben gestehen die Menschen dem machtlosen Wort des Evangeliums zu, ein göttliches Wort an sie zu sein. Und doch ist die Liebeserklärung aus
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den Höhen des Himmels mehr als eine blosse Möglichkeit, die wir erst zu verwirklichen hätten. Die Liebeserklärung kommt aus heiterem Himmel. Und sie hat- wo sie gehört wird- etwas Bewegendes an sich. Ihre Kraft ist viel mehr als blosse Möglichkeit und doch viel weniger als die Überwältigung. So weit, so gut. Aber gibt uns Paulus da etwas zu glauben? Oder ist sein Evangelium nicht einfach eine religiöse Vorstellung, die für ihn etwas bedeutet haben mag, für uns aber vergangen und verloren ist? Paulus sprach nicht von Vorstellungen, sondern von elementaren Erfahrungen der Menschen, die im Lichte des Evangeliums neu zum Leuchten kommen. Man müsste wohl genauer sagen: er sprach nicht nur von Erfahrungen, er legte sie allererst frei. Eine solche Erfahrung ist die Wende, die sein eigenes Leben vor Damaskus genommen hat. Da hat er erfahren, was es heisst, von Christus ergriffen, von Gott bewegt zu werden. In seiner Lebenswende legte Paulus die Erfahrung göttlicher Kreativität frei. Man hätte und hat auch ganz anders darüber sprechen können: der Last des Gesetzes überdrüssig, habe er sich zum Christus des Evangeliums geflüchtet. Sein anfanglicher Hass auf den Nazarener und seine Anhänger habe sich in plötzliche Liebe verwandelt. Durch nichts in der Welt können solche Erklärungen ausgeschlossen werden. Der Glaube ist auch gar nicht darauf angewiesen, sie auszuschliessen. Er hält solche Erklärungen aus, und sieht dennoch in der Wende die Kreativität Gottes am Werk. Gibt es sie wirklich nicht mehr, diese NeuanHinge von Menschen, die durch Christus berührt sind? Oder sind unsere Konstruktionen der Wirklichkeit so, dass psychologische und soziologische Erklärungen die Alleinherrschaft übernehmen? Dann wäre es an der Zeit, dass wir uns jene Konstruktioneh von Paulus erschüttern Hessen. Dann wäre es an der Zeit, erneut aufmerksam zu werden auf die schöpferische Kraft, die auch unter uns manchem Leben eine überraschende Wende gibt. Nehmen wir ein zweites Beispiel. Paulus zog Abraham heran, um zu zeigen, dass der Glaube keine Erfindung, sondern eine Entdeckung ist (Röm 4). Abraham sagt ihm: Wenn du an Gott denkst, musst du an sein grosses Versprechen denken: an das Versprechen, Leben zu schaffen, die Tödlichkeil zu überwinden. Abraham hatte am eigenen, abgestorbenen Leib erfahren, was göttliche Lebensmacht ist. Und er hatte mit Glauben darauf reagiert, mit Vertrauen auf die göttliche Lebensmacht angesichts dessen, dass sein und Sarahs Leib vom Tod schon gezeich-
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net waren. Paulus nun hält fest, dass dieser Glaube berechtigt war. »Abraham glaubte Gott, und es wurde ihm als Gerechtigkeit angerechnet« (Röm 4,3). Der Satz bedeutet: Abraham reagierte mit Glauben auf Gottes grosses Versprechen, und eben durch diesen Glauben wurde er Gott gerecht. Der Glaube, das Vertrauen auf die Lebensmacht ist das einzige, was dieser Macht gerecht wird. Denken wir daran, dass Paulus diesen elementaren Zusammenhang gegen die gesamte Auslegungstradition erst freizulegen hatte. Diese verstand unter dem Glauben Abrahams gerade nicht sein Vertrauen auf Gott, sondern seinen Gehorsam, der sich dann im rechten Tun auswirkte. Gernäss der ganzen Auslegungstradition wird der Mensch Gott dadurch gerecht, dass er tut, was dieser ihm gebietet. Von dieser Konstruktion der Wirklichkeit ist die Auslegungstradition beherrscht. Gegen sie hält Paulus fest, dass der Glaube allein jenes menschliche Verhalten ist, das Gott gerecht wird. Worum geht es hier eigentlich? Es geht um die Frage, ob ich mit meinem Tun meinem Leben gerecht werde, ob ich mit meinem Wirken an die Wahrheit meines Lebens herankomme. Die Antwort des Paulus lautet: dem Leben werde ich dadurch gerecht, dass ich auf seine Macht vertraue. An meine Wahrheit komme ich heran, wenn ich im Glauben jene Wahrheit sehe, die mein Leben in den Augen Gottes hat. Erfahren wir sie tatsächlich nicht mehr, jene Lebensmacht, die Erstorbenes überwindet? Verdankt sich unser Leben nicht auch jener Lebensmacht, die aus Toten Lebendige macht? Hat Abraham sich einer Illusion hingegeben, wenn er an das grosse Versprechen Gottes glaubte? Irren wir nicht gewaltig, wenn wir das Leben als etwas betrachten, woraus wir allererst etwas machen müssen? Gewiss, Abraham ist längst gestorben. Das wusste auch Paulus. Darum stellte er Abrahams längst vergangene Erfahrung der Lebensmacht in einen Zusammenhang von kosmologischer Weite. Abraham glaubte an den Gott, »der die Toten lebendig macht, und der das Nichtseiende ins Sein ruft« (Röm 4, 17b). Den Gott, der die Toten lebendig macht, hatte Paulus - und mit ihm Hunderte von Menschen - erfahren, als ihm der gekreuzigte Jesus in göttlicher Lebendigkeit erschienen war. Gewiss, auch dies mögen wir auf allerlei Weise erklären. Wir mögen sagen, es habe sich um innerpsychische Erfahrungen gehandelt. Wir mögen sagen, die Vision der Urchristen habe nichts mit der harten Realität zu tun. Wir mögen sagen, ihr Wunsch habe Jesus aus dem Totenreich heraufgeholt. Alle diese weltlichen Erklärungen mögen wir
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vorbringen. Aber verbietet eine von ihnen, in diesem Neuanfang die göttliche Kreativität am Werk zu sehen? Den Gott, der Nichtseiendes ins Sein ruft, können wir alle jeden Tag erfahren, wenn wir Ohren haben für das, was aus den Weiten des Universums herübertönt. Freilich, wir beginnen oft zu spät mit dem Denken: wir durchschauen Aufbau und Funktion der Welt, statt nachzudenken dartiber, welcher Kreativität sie ihre Existenz verdankt. Und oft hören wir zu früh mit dem Denken auf, wir überlegen uns, was wir mit unserer Welt alles machen könnten, statt die Würde der Schöpfung wahrzunehmen. Gewiss, unsere Augen sind gefüllt vom Verderben, das das Universum durchzieht: von Leiden und Tod, die mit dem Leben gegeben sind, und unsere Ohren sind vollgestopft vom Länn der Nichtigkeit und Zerstörung, die die Gattung homo sapiens über sich und die Welt. schon gebracht hat. Daran zerbricht vielleicht unser Glaube. Aber es wäre verfehlt, so zu tun, als ob wir die ersten wären, die solches im Universum sehen, und den Glauben an den Gott, der das Nichtseiende ins Sein ruft, der Naivität zu bezichtigen. Gerade Paulus hat all dies auch gesehen. Gerade er sprach vom Seufzen und Wehklagen, das die ganze Welt durchzieht. Aber Paulus machte einen Unterschied zwischen der Schöpfung, deren Klage ein verhaltenes Zeugnis vom Schöpfer ist, und der Welt, die auch Verderben in sich trägt. Er sieht für die Welt eine Zukunft: sie wird befreit werden zur Freiheit der Kinder Gottes, sie wird verwandelt werden in Schöpfung. Paulus musste diese Unterscheidung treffen, weil er das Gewicht vieler Erfahrungen nicht anders wahrnehmen konnte: das Gewicht seiner Lebenswende, das Gewicht der Auferstehung Jesu, das Gewicht der rechtfertigenden Macht Gottes, das Gewicht von Abrahams Neuanfang, das Gewicht dessen, dass ebensogut nicht sein könnte, was er als Universum vor Augen hat. Wir stellen uns die Entstehung des Universums als uranfänglichen Knall vor. Gibt nicht auch diese Vorstellung einen Blick frei für die Schöpfung aus dem Nichts, von der Paulus sprach? Gibt sie nicht den Blick frei dafür, dass wir jedenfalls nicht mit nichts anfangen, für die prinzipielle Asymmetrie unseres Lebens, dass wir uns das Leben niemals geben sondern immer nur nehmen können? Der Glaube an Gott, so halte ich zusammenfassend fest, wird bei Paulus entdeckt als eine Einstellung des Menschen auf göttliche Kreativität. Als Einstellung auf eine Erfahrung, die oft allererst freigelegt werden musste im Dickicht der Konstruktionen von Wirklichkeit. Die-
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sem Glauben kommt es vor allem darauf an, der Lebensmacht Wirklichkeit zuzugestehen.
2 Jesus und der Glaube Wie Jesus und der Glaube sich zueinander verhalten, machen wir uns an einer Erzählung der Evangelien klar. Jesus ist in einem Haus in Kapemaum. Und viel Volk ist ebenfalls da. Auf dem Weg zum Haus sind vier Leute; sie tragen einen Gelähmten auf der Bahre. Was bewegt sie, diesen Gelähmten zu Jesus zu tragen? Sie haben wohl von Jesus gehört, von seiner Fähigkeit, Menschen gesund zu machen. Deshalb tragen sie den Kranken her. Doch die Menge versperrt ihnen den Weg. Kurzerhand steigen sie aufs Dach, graben ein Loch hinein und lassen den Kranken auf einer Trage hinunter, Jesus grad vor die Füsse. Jetzt fällt in der Erzählung ein ganz entscheidender Satz: »Und Jesus sah ihren Glauben ... «. Damit macht die Erzählung klar, dass die vier Träger den Glauben zur Darstellung bringen. Was sah Jesus eigentlich? Er sah, dass die vier mit grösster Entschlossenheit seine Nähe suchten. Er sah, dass sie alles taten, um die Hindernisse zwischen Jesus und dem Kranken aus dem Weg zu räumen. Seine Lähmung überwanden sie, indem sie ihn trugen. Die Volksmenge überwanden sie, indem sie aufs Dach stiegen. Weil sie wussten, dass sie nichts ftir die Rettung des Gelähmten tun konnten, taten sie alles, um ihn zum rettenden Jesus zu bringen. Das sah Jesus, und das nannte er kurzerhand ihren Glauben. Glaube heisst, die Nähe des Rettenden suchen. Glaube heisst, die eigene Ohnmacht erkennen. um die Hilfebedürftigen in die Nähe dessen zu bringen, der helfen kann. Glaube heisst, unterscheiden können zwischen eigenen Kräften und der Macht Gottes. Was hat Jesus mit solchem Glauben zu tun? Ist das nicht eine ganz vage, theologisch verdächtige Sache, was da als Glaube verkauft wird? Gewiss wird der Glaube der Träger noch viel zu lernen haben, bis er die Ohnmacht Jesu am Kreuz mit der Macht Gottes zusammenbringen wird. Gewiss wird ihr Glaube noch gewaltig reifen müssen, bis er verstehen lernt, dass hier nicht bloss ein Wundertäter göttliche Kräfte hat, sondern dass Gott selbst zur Welt gekommen ist. Aber dennoch hat gernäss unserer Erzählung als Glaube zu gelten, was diese Träger dar-
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stellen. Diese Geschichte liest sich wie ein Plädoyer für ein grasszügiges Verständnis von Glauben. Und dennoch: Was hat Jesus mit dem Glauben zu tun? Zunächst das, dass er ihn diesen vier Trägem zuerkennt. Jesus sah den Glauben in ihr gewiss mehrdeutiges Verhalten hinein. Was hätte man alles sagen können über sie? Sie wollten bloss ein gutes Werk tun, als sie den Gelähmten zu Jesus brachten. Sie wollten bloss eine Sensation sein und in die Medien kommen, als sie ihn durch das Dach hinunterliessen. Wussten sie überhaupt, wen sie da aufsuchten? Das Verhalten der Vier ist mehrdeutig wie alles Menschliche. Diese Mehrdeutigkeit überwindet Jesus, indem er ihnen Glauben zugesteht. Was immer man sonst noch sagen könnte gegen oder über ihre Aktion, jetzt sagt Jesus, ihr Glaube habe hier Gestalt gewonnen. Die Zuerkenntnis des Glaubens steht hier für jene Eindeutigkeit, die menschliches Verhalten erhält, wenn es mit Jesus in Berührung kommt. Es steht für die Würde, die Jesus um sich verbreitet, bei diesen vier Trägem nicht weniger als bei jener Frau, deren verschwenderische Spende von den Jüngern ins Zwielicht gebracht wird. Ach, wenn ich doch glauben könnte! Vielleicht würde Jesus diesem modernen Stosseufzer schon die Würde des Glaubens zugestehen. Jesus hat ferner insofern mit dem Glauben zu tun, als er diesen Vieren Glauben entlockt, durch sein blosses · Dasein zunächst, und dann auch durch seine Macht, zu heilen. Glaube ist - so erkennen wir daran - keine subjektive menschliche Möglichkeit, keine seelische Tätigkeit, wozu ich mich selbst aufschwingen könnte. Glaube entsteht, wo das Rettende erscheint. Glaube ist etwas, das mir zugespielt werden muss, so wie das Lachen mir durch den Witz zugespielt wird, oder der Tanz durch die Musik. Gewiss, das Glauben ist ganz mein eigenes Tun, und dennoch ist es ganz und gar nicht mein eigenes Werk. Jesus entlockt den Menschen den Glauben, indem er sie von Besessenheit und Lähmung heilt. Er entlockt Menschen den Glauben, indem er - durch seine Gleichnisse- einen Raum schafft für Gott in ihrer Welt. Er überwindet Gottfeme, nicht dadurch, dass er die Menschen zu Gott ruft, sondern dass er Gott in ihre Nähe bringt. Wer den Glauben finden will, muss sich also dem Wort Jesu aussetzen. Einem Wort, das wir uns nicht selbst sagen können. Das Wort Jesu gleicht einer Kathedrale: Wir haben sie nicht erbaut, doch wir treten in sie ein und sind in eine andere Welt geschritten. Wir treten ein und lassen uns von diesem Raum die Begegnung mit dem Heiligen zuspielen. Wer den Glauben finden will,
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muss aufmerksam hören auf das, was Jesus über Gott zu verstehen gibt. Gewiss, unser Gehör ist stumpf. Aber das Wort Jesu verschafft sich selbst Gehör bei uns. Es öffnet uns die Ohren. Glaube lebt nie eigenständig, er existiert immer nur im Gegenüber zu dem Jesus, der ihn mir zuspielt. Genauso wie der Tanz immer nur in Verbindung mit der Musik lebt, die ihn hervorruft. Jesus hat ferner insofern mit dem Glauben zu tun, als er die Menschen in die Entscheidung führt. Die Entscheidung spielt in modernen Überlegungen eine sehr grosse Rolle, eine zu grosse, möchte man sagen. Denn es könnte fast scheinen, als ob der Glaube eine menschliche Entscheidung von riesigen, geradezu ungeheuren Dimensionen wäre. Daran ist richtig, dass der Glaube tatsächlich eine fundamentale Lebensentscheidung ist. Falsch daran ist, dass man sich diese Entscheidung als eine Entscheidung vorstellt, die der Mensch ganz auf sich gestellt macht, sozusagen in der Einsamkeit des existentiellen Nullpunktes. Und manchmal kommt man auf den Verdacht, die Aufblähung der Entscheidung sei ein Ersatz dafür, dass wir den grossenRuf nicht mehr vernehmen, dass wir das grosse Licht vor Damaskus nicht mehr sehen. Die Entscheidung zum Tanz werde aufgebläht, weil man die Musik nicht mehr hört. Jesus beleuchtet die Entscheidung zum Glauben ganz anders: »Gleich ist die Gottesherrschaft einem Schatz, der im Acker verborgen ist. Diesen fand ein Mensch, verbarg ihn wieder und in seiner Freude geht er hin, verkauft alles, was er hat, und kauft jenen Acker« (Mt 13,44). Gewiss hat sich dieser Mensch entschieden, alles zu verkaufen, um den Acker mit dem verborgenen Schatz zu besitzen. Aber dies ist keine Entscheidung des einsamen Subjekts. Der Fund nimmt sie dem Finder ab. Wer einen solchen Schatz findet, muss sich ebensowenig entscheiden wie Paulus vor Damaskus oder Levi an der Zollstätte. Deshalb käme es wohl zuerst darauf an, die Augen und Ohren offen zu halten, Ausschau zu halten nach dem Schatz, der alles entscheidet, das Gehör zu schärfen für den grossen Ruf, den Jesus vielleicht mir zugedacht hat. Am Glauben der Träger hatten wir gesehen, dass der Glaube die Nähe des Rettenden sucht, und dass er ihnen durch Jesus zuerkannt wird. Manche Wundergeschichte erzählt davon, dass Jesus sogar noch einen Schritt weitergegangen sei. Zu manchem Geheilten habe er gesagt: »Dein Glaube hat dich gerettet.« Hier ist der Glaube die Voraussetzung des Wunders, nicht dessen Folge. Eine überraschende Aussage.
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Da scheint ja der alte Geheimrat recht zu bekommen mit seiner ironisch gemeinten These, das Wunder sei des Glaubens liebstes Kind. Man sollte doch denken, das Rettende werde ganz dem Christus zugeschrieben, nicht dem Glauben. Gewiss, in allen Geschichten ist es Jesus, der die Menschen rettet. Und dennoch schreibt er die Rettung ihrem Glauben zu. Inwiefern rettet der Glaube? So sehr die Jesusüberlieferung die Vollmacht des rettenden Wirkens Jesu beschreibt, so deutlich lässt sie auch seine eigenartige Ohnmacht durchblicken. In Nazareth, so erzählt Markus im Kapitel 6, konnte Jesus keine einzige Machttat tun, weil die Atmosphäre durch den Unglauben der Nazarener geprägt war. Daraus ersehen wir, dass das heilende und rettende Tun Jesu auf Glauben angewiesen ist. Darin liegt seine Ohnmacht, darin liegt überhaupt die Ohnmacht des Helfens. Es kann in der Welt keine Hilfe geben, wenn es keine Menschen gibt, die sich helfen lassen. Es kann in der Welt kein gutes Wort geben, wenn es keine Menschen gibt, die sich ein solches Wort sagen lassen, ohne ihm ins Wort zu fallen mit allen möglichen Abwehrstrategien. Das rettende Tun Jesu ist auf Glauben angewiesen, wenn es zum Ziel kommen soll. Denn der Glaube erst gesteht es Jesus zu, helfen zu können. In dieser Hinsicht gilt also, dass der Glaube die Menschen rettet, die bei Jesus Hilfe suchen. Ein letztes Moment ist noch zu bedenken. Jesus hat auch insofern mit dem Glauben zu tun, als er die Mehrdeutigkeit menschlicher Lebensvollzüge überwindet. Einem Vater, der einen besessenen Knaben zu Jesus bringt, verspricht Jesus: »Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt« (Mk 9,23). Und der Vater antwortet: »Ich glaube, hilf meinem Unglauben!« In diesem Ausruf kommt die ganze Zwiespältigkeit des menschlichen Glaubensvollzugs zur Sprache. Gewiss glaubt dieser Vater, sonst hätte er nicht Hilfe bei Jesus gesucht. Und dennoch ist der Unglaube seines Glaubens Begleiter. Unglaube ist hier Zweifel. Und der Zweifel gehört zum Glauben. Er ist nicht von einer bösen Macht hervorgezaubert, er verdankt sich seinerseits dem Glauben. Denn der Glaube ist der Nährboden, der Lebensgrund des Zweifels. Der Zweifel lebt insofern vom Glauben, als er in Frage stellt, was der Glaube für gewiss hält. Und eben gegen diesen Zweifel oder Unglauben - soviel weiss dieser hilfesuchende Vater -kann er wiederum nur Jesus anrufen. Von Jesus verspricht er sich, dass der Zwiespalt seiner eigenen Existenz überwunden werde. Deshalb ruft er ihn gegen seinen eigenen Unglauben zu Hilfe. Wir können daraus lernen: unser Zweifel an Jesus
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und seiner rettenden Macht ist gerade nicht etwas, was uns von Jesus trennt. Denn er lebt schon vom Glauben, den uns Jesus entlockt hat. Was also läge näher als erneut Jesus aufzubieten gegen die Nichtigkeit des Zweifels?
3 Der Glaube in der Gemeinschaft der Kirche Die Kirche ist eine Gemeinschaft von Menschen, deren Zustandekommen sich Jesus verdankt. In der Kirche leben die Menschen in einem durch Jesus geschaffenen Raum, in dem Jesus absolut massgebend ist. Diese Gemeinschaft ist geschaffen und wird am Leben erhalten durch einen Tisch, den niemand von uns g.edeckt hat. Dieser Tisch wird anschaulich in der Feier des Abendmahls. In der Kirche haben wir es also mit einer Gemeinschaft zu tun, deren Zusammenhalt sich nicht den Teilnehmern verdankt. Der Zusammenhalt verdankt sich weder den gemeinsamen Interessen der Teilnehmer, noch ihrer gemeinsamen Handlungsstrategie für die Zukunft der Welt, noch der Gleichgestimmtheit ihrer Seelen. Die Kirche ist - wie Paulus in I Kor 12 erklärt - der Leib Christi und insofern der allen Glaubenden zuvorkommende Lebensraum ihres Glaubens. Wir haben es also mit einer Gemeinschaft zu tun, die es allein im Glauben gibt. Im Glauben daran nämlich, dass der Tisch, an dem wir Platz nehmen, kein anderer als der Tisch Gottes sei. Oder im Glauben, dass Jesus absolut massgebend sei. Wir sehen also: die Gemeinschaft der Kirche geht nur so weit, wie der Glaube ihrer Teilnehmer geht. Im Gegensatz zu allen modernen Versuchen, die Gemeinschaft der Kirche anders zu entwerfen, etwa als Interessengemeinschaft oder als Handlungsgemeinschaft, muss dies festgehalten werden. Denn dabei steht sehr viel auf dem Spiel. Es steht eine elementare Gegebenheit des Lebens selbst auf dem Spiel: die Gegebenheit nämlich, dass Gemeinschaft unter den Menschen nicht durch das entsteht, was sie sind oder produzieren, sondern dass Gemeinschaft schon mit ihrem geschöpfliehen Leben selbst gegeben ist. Solange dies in Erinnerung gehalten wird durch die Gemeinschaft der Kirche, sind die Menschen ansprechbar darauf, dass sie in Lebensbeziehungen eingelassen sind. Und sie sind insofern in Anspruch zu nehmen für das, was die Beziehungen ihnen gebieten. Gemeinschaft unter den Menschen ist - solange die Gemeinschaft der Kirche besteht - erkennbar als etwas, was dem
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ethischen Handeln vorangeht, als etwas, was der Nährboden und nicht das Produkt ethischen Handeins ist. Es ist auch mir nicht entgangen, dass Gemeinschaft heute anders entworfen und vorgestellt wird. Aber es ist meines Erachtens die Aufgabe der Kirche, der Versuchung gemachter Gemeinschaft zu widerstehen und allein bei der geglaubten Gemeinschaft zu bleiben. Denn es steht die wahre Natur menschlicher Lebensgemeinschaft selbst auf dem Spiel. Klar ist, dass solcher Glaube nicht in der Reichweite der kirchlichen Gemeinschaft liegt. Auch er muss den Menschen entlockt werden. Schon das Neue Testament weiss deshalb von der Gegenwart des heiligen Geistes: der heilige Geist ist jene Macht, welche die Gegenwart Jesu vertritt bei den Menschen. Er ist die Kraft, die in den Worten Jesu wohnt und Menschen überzeugt. Er ist dieselbe Kreativität, wie sie in der Entstehung des Universums, im Kommen Jesu, in der Auferstehung Jesu von den Toten schon am Werk war. Das Johannesevangelium nennt diesen Geist den Parakleten: den Fürsprecher oder Anwalt. So wie Jesus der Anwalt Gottes bei den Menschen war, so ist der Geist der Anwalt Jesu bei ihnen. Und er symbolisiert den Sachverhalt, dass es Dinge gibt, die sich selbst in Erinnerung rufen. Nicht ich halte Christus im Gedächtnis, er selbst ruft sich in Erinnerung bei mir. Der Paraklet ist das Symbol flir die kreative Natur des guten Wortes und der rettenden Tat. Deshalb wird in der Kirche gebetet: veni creator spiritus, komm Schöpfer Geist! Klar ist auch, dass eine solche, bloss dem Glauben zugängliche Gemeinschaft nicht ohne weiteres sichtbar ist. Im Gegenteil, sichtbar ist häufig das, was die Menschen voneinander trennt, sichtbar ist der Zusammenprall der Meinungen, die Intoleranz der Wahrheitsbesitzer, der Terror derer. die wissen, was für alle das Beste sei, und der Streit der politisch Engagierten. Diesen Widerspruch zwischen der sichtbaren Uneinigkeit und der unsichtbaren Einigkeit muss die Kirche aushalten. Jede andere gesellschaftliche Gruppe kann ihre Gemeinschaft so ins Werk setzen, dass sie Andersdenkende ausschliesst, dass sie Gleichgesinnte in sich vereinigt. Der Kirche ist dies verwehrt, weil in ihr die Gemeinschaft Gegenstand des Glaubens und nicht Ergebnis des Wirkens ist. Die Menschen stehen mir vor Augen als Konkurrenten oder Mitstreiter in einer guten Sache, als Gegenspieler oder gar Feinde in grossen und kleinen Gefechten. Erst der Glaube sieht in sie das hinein, was uns alle verbindet. Denn erst der Glaube erkennt auf ihren Gesich-
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tern das Gesicht Jesu Christi. Kein Wunder also, wenn soziologische Analysen und psychologische Tests nur die Uneinigkeit der Kirche zutage fördern. Die Einigkeit ist keiner berechnenden Methode erschwinglich, sie ist allein dem Glauben zugänglich, durch den sie besteht. Dennoch wünsche ich mir- vom Neuen Testament her gesehen - die Kirche als einen Raum, in welchem die Menschen mit neuen Augen angesehen werden. Hier soll ihnen jene Würde zugestanden werden, die Jesus den Menschen um ihn herum zugestand: die Würde eines von Gott geliebten Geschöpfs. Deshalb sollen sie in der Kirche nicht mit besitzergreifenden Augen angesehen werden, mit Augen, die sich der Menschen bemächtigen, die Menschen vereinnahmen in unerbittlichen Definitionen oder für übermenschliche Ziele. Deshalb sollen sie nicht mit den Augen der Anklage angesehen werden, die sich in unserer Welt überall breit macht. Mit Augen, die mich untergehen lassen zusammen mit dem Bösen, das ich zweifellos getan habe, Augen, die mir gerade die urchristliche Wohltat verweigern, dass ich vom Bösen, das ich produziere, unterschieden werde. Wer könnte die Kirche mit den Augen Jesu ausstatten, wenn nicht der Geist Jesu? Wie anders könnte sie sich solche Augen geben lassen, wenn nicht durch die Bitte: Veni, creator spiritus? Und ich wünsche mir- vom Neuen Testament aus gesehen - die Kirche als einen Ort, wo eine andere Sprache gesprochen wird. Eine Sprache nämlich, die mich nicht verdammt und verunsichert, sondern eine Sprache, die mich liebt. Man kann nicht das Evangelium der Liebe Gottes im Munde führen und zugleich selbst eine Sprache sprechen, die den Angeredeten gar nicht wohlgesinnt ist. Eine Sprache, die die Menschen liebt, muss nicht etwa alles unter den Teppich kehren. Aber es ist eine Sprache, die nicht schon in der Aufdeckung von Fehlern und in der Anklage von Verantwortlichen den höchsten kulturellen und religiösen Wert sieht. Nach dem ersten Johannesbrief (3, 19f) erkennen die Menschen, dass sie in der Wahrheit sind, daran, dass sie ihr Herz vor Gott beruhigen. Ihr Herz, das sie anklagt und gewiss mit Grund verurteilt. Das Sein in der Wahrheit ist also gerade nicht an der ständigen Unruhe und Aufgescheuchtheil erkenntlich, zu der sich heute auch viele Christen meinen bekennen zu müssen. Denn das Sein in der Wahrheit hat sein Gepräge nicht von dem anklagenden Herzen - es soll in Würde anklagen können - , sondern allein von dem Gott, der - wie es an der
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zitierten Stelle heisst - grösser ist als unser Herz. Grösser ist er sicher nicht darin, dass er Anzuklagendes grosszügig unter den Teppich kehrt, grösser ist er darin, dass er die Angeklagten mit den Augen der Liebe betrachtet und sie also befördert von Angeklagten zu Geliebten, die nicht mehr um sich fürchten müssen. Etwas von dieser grösseren Grösse Gottes gehört unbedingt in das Reden der Kirche. Und woher könnte sie sich den Glauben an das Sein in der Wahrheit und die Sprache der Liebe geben lassen, wenn sie sich nicht an der biblischen Rede zum Menschen orientieren würde? Wie anders könnte sich die Kirche diese Sprache herbeiwünschen, wenn nicht durch die Bitte: Veni, creator spiritus? Schliesslich gilt es zu bedenken, dass die Kirche der Ort ist, wo Glauben seine Zeit hat. Der Glaube versteht sich niemals von selbst. Er ist auch kein bloss informatives Phänomen. Der Glaube erschöpft sich nicht darin, mich darüber zu informieren, dass die Welt Gottes Schöpfung und die Menschen meine Brüder und Schwestern sind. Denn der Glaube ist selbst die Anbetung des Schöpfers, er ist selbst die Wahrnehmung der Welt als Schöpfung, und er ist selbst die Würdigung der Menschen als Schwestern und Brüder. Diese Wahrnehmung und diese Würdigung sind keine punktuellen Informationen. Sie brauchen vielmehr ihre eigene Zeit, sie haben ihre eigene Ausdehnung. Der Glaube braucht die Zeit, wo er- nicht zuletzt im Kirchenraum -dem Heiligen begegnet. Der Glaube braucht den Raum, wo er ins Nachdenken über die Kreativität kommt, die das Leben begleitet. Er braucht den Raum der Andacht, wo es für einmal nicht darum geht, zu fragen, was wir mit der Welt machen können oder sollen und was wir aus den Menschen und aus uns selbst machen können oder sollen, sondern wo es für einmal darum geht, das wahre Gewicht der Welt, der Menschen und meines eigenen Lebens überhaupt zu verspüren. Diese Zeit und diesen Raum stellt die Kirche allen Menschen zur Verfügung. Diese Zeit und diesen Raum gibt sie freilich nur dann, wenn sie in ihren Räumen den Menschen etwas zu glauben gibt, statt dass sie ihnen bloss alle Hände voll zu tun gibt.
Wirksame Wahrheit Zur metaphorischen Qualität der Gleichnisrede Jesu Vom Gottesreich redete Jesus vornehmlich in Gleichnissen. Ein bedeutender Teil der Jesusüberlieferung weist die Sprachform des Gleichnisses auf. Sie scheint kennzeichnend für die Verkündigung Jesu zu sein. Deshalb beschäftigte sich die neuere Exegese zunehmend intensiver mit der Gleichnisrede Jesu. In neuester Zeit setzt sich immer deutlicher der Konsens durch, dass die Gleichnisse als metaphorische Rede zu verstehen sind. Die folgenden Überlegungen konzentrieren sich auf einen zentralen Aspekt metaphorischer Rede: auf ihre Wirksamkeit.
Traditionelle Sprachtheorie In der herkömmlichen, auf Aristoteles zurückgehenden Sprachtheorie gelten Metaphern als ein bildhaftes, uneigentliches Reden, das vom eigentlichen, begrifflichen Sprachgebrauch abweicht. Eigentliche Sprache wird im Rahmen einer Abbildungstheorie als Korrelat zur Wirklichkeit verstanden. Begriffliche Sprache bildet, wenn sie nicht lügt, adäquat ab, was in Wirklichkeit der Fall ist. Metaphorische Sprache dagegen wird im Rahmen einer Substitutionstheorie als Ausschmückung begrifflicher Sprache verstanden. Metaphorische Sprache ersetzt, wenn sie gelingt, die Begriffe durch Bilder. Und die Sachgemässheit der Bilder kann man überprüfen, indem man sie in die Begriffe zurückübersetzt, die sie veranschaulichen. Im Rahmen dieser Sprachtheorie sind die Gleichnisse Jesu bildhafte Darstellung des Begriffs vom Reiche Gottes. Sie stellen anschaulich dar, wie man sich das jenseitige und unanschauliche Gottesreich vorzustellen hat. Die Abweichung von begrifflicher Sprache ist zwar um der Wahrheit willen nicht notwendig. wohl aber um der Hörer willen erlaubt. Ebenso sind die Gleichnisse Jesu zwar um der Wahrheit des Gottesreichswillen nicht notwendig. wohl aber aus didaktischen Gründen erlaubt: die Hörer sollen die abstrakte Wahrheit des Gottesreichs in konkreten Bildern besser und angenehmer erkennen. Die Metapher hat ihren Ort in der
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Rhetorik, also dort, wo es darum geht, die Menschen zu bewegen. Metaphorische Sprache ist wirkungsvolle Sprache. Sie erzielt Wirkung, weil sie überraschende Zusammenhänge herstellt: die Metapher ))Lebensabend« zum Beispiel bringt überraschend die Bereiche ))Leben« und ))Tageszeiten« zusammen. Das Überraschende berührt die Menschen. Metaphorische Sprache erzielt ferner Wirkung, weil sie wirkungsvolle Bilder verwendet. Das Bild ))Lebensabend« ruft die Wirkung aller Erfahrungen hervor, die der Mensch mit dem Abend schon gemacht hat. Bilder wirken ja überhaupt auf den Betrachter, sei es durch ihre Schönheit oder Hässlichkeit, sei es durch ihre Verankerung in Erfahrung. Bilder bewegen die Menschen. Eben diese Wirkmacht wird in der Metapher ausgenutzt. Und nun bewegt sich der Mensch nicht mehr selbst, sondern er wird bewegt durch den Stoff, der ihm sprachlich vergegenwärtigt wird. Metaphorische Rede erzielt schliesslich dadurch Wirkung, dass sie ein Moment des Spiels in sich trägt. Sie umspielt die Wahrheit mit Bildern und unterbricht insofern die Anstrengung des Begriffs. Bilder spielen dem Menschen die Bewegung zu, in die sie ihn ~ersetzen. Metaphorisches Reden ist also, so zeigt selbst das didaktische oder rhetorische Verständnis, wirkungsvolles, bewegendes Reden. Diesen Aspekt gilt es auch dann festzuhalten, wenn die Metapher in den Rahmen eines anderen Sprachverständnisses gestellt wird, wie dies einerseits in der neueren Sprachtheorie und j.dererseits in der Gleichnisauslegung der jüngsten Zeit geschehen ist{
Neue sprachtheoretische Einsichten Neuere Arbeiten zur Sprachtheorie und zur Gleichnisauslegung konnten zeigen, dass die Metapher nicht aus rhetorischen oder didaktischen Gründen vom eigentlichen Sprachgebrauch abweicht. Die Metapher ersetzt nicht bloss den Begriff durch das Bild. Vielmehr ordnet sie einem bestimmten Subjekt ein Prädikat zu, das aus einem anderen Bereich stammt. Subjekt und Prädikat sind eigentlich unvereinbar. Die Metapher ))Die Natur ist ein Tempel« (Baudelaire) gewinnt ihre Bedeutung dadurch, dass sie dem Subjekt Natur das Prädikatsnomen Tempel zuordnet, eine Zuordnung, die eigentlich nicht möglich wäre. Der semantische Wert dieser Aussage beruht genau auf der Unvereinbarkeit
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von Natur und Tempel. Denn die Wörter Natur und Tempel interagieren miteinander, wodurch die Bedeutung der Aussage entsteht. Und daraus folgt: die Metapher kann nicht nach der Substitutionstheorie verstanden werden. Sie muss vielmehr nach der Interaktionstheorie begriffen werden als ein kalkulierter Intum, der Wirklichkeit nicht nur abbildet, sondern der die Wirklichkeit der Natur neu als Tempel zu verstehen gibt. Daraus folgt weiter: die Metapher ist nicht bloss eine aus didaktischen Gründen erlaubte Abweichung von eigentlicher Rede, sondern metaphorisches Reden ist aus sachlichen Gründen notwendig. Nicht der Hörer verlangt die bildhafte Einkleidung, sondern die Wahrheit selbst kann nur in der Gestalt bildhafter Rede zur Sprache kommen. Bewegend sind also die Gleichnisse nicht bloss aus didaktischen Gründen. Sondern das Gottesreich kommt deshalb im bewegenden Gleichnis zur Sprache, weil es selbst eine bewegende Wahrheit ist. Das Gottesreich ist der Ort, wo Gott in Aktion ist, und die Zeit, die durch Gott bestimmt ist. Diese göttliche Aktivität widerspiegelt sich insofern im Gleichnis vom Gottesreich, als diese Sprachform wesentlich eine bewegende ist. Daraus ist zu ersehen, dass die Sprachform Gleichnis sowohl eine theologische als auch eine anthropologische Relevanz hat. Ihre theologische Relevanz besteht meines Erachtens darin, dass sie als bewegendes Wort die göttliche Kreativität, von der sie ja spricht, unmittelbar erscheinen lässt. Dem kreativen Gott entspricht das bewegende Wort. Die anthropologische Relevanz dieser Sprachform besteht meines Erachtens darin, dass sie die menschliche Angewiesenheil auf den bewegenden Stoff zur Erfahrung bringt. Angesichts der Gleichnisse existiert der Mensch nicht als ein unbewegter Beweger der Dinge, sondern als ein von göttlicher Kreativität bewegtes, auf die Gegenwart des göttlichen Bewegers angewiesenes Geschöpf. Dem kreatürlichen Menschen entspricht die Angewiesenheil darauf, vom Wort bewegt und zur Wahrheit bewogen zu werden. Wirksam ist - zusammenfassend gesagt - die Sprachform des Gleichnisses, und das Gottesreich verlangt als wirksame Wahrheit diese Sprachform. Wir wenden uns jetzt der Frage zu, wie die Wirksamkeit der hier zur Debatte stehenden Wahrheit des Gottesreiches genauer zu beschreiben sei.
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Sprachlich geschaffene Wirklichkeit Es gibt eine Common-sense-Auffassung, wonach die Sprache bloss beschreibt, aber nichts bewirkt. Wonach die Sprache Wirklichkeit bloss abbildet, aber nicht schafft. Diesem Common-sense ist jetzt zu widersprechen. Wer allerdings der Sprache zutraut, Wirkliches nicht bloss abzubilden, sondern Wirklichkeit zu schaffen, setzt sich dem Verdacht aus, überwundener Sprachmagie erneut das Wort zu reden. Diesem Verdacht ist zunächst mit dem Hinweis auf den alltäglichen Sprachgebrauch zu begegnen. Hier gibt es durchaus Sprachfonnen, die Wirklichkeit schaffen, ohne dass man sie der Sprachmagie bezichtigen könnte. Die Beschimpfung etwa schafft ein bestimmtes Verhältnis zwischen Personen: wer den andern einen Esel nennt, schafft Wirklichkeit, auch wenn dem andern keine Eselsohren angezaubert werden. Oder der Witz erschafft ein bestimmtes Tun eines Menschen. Wer einen andern zum Lachen bringt, schafft Wirklichkeit, indem er den (theoretisch erkennbaren und beschreibbaren) Humor Ereignis werden lässt. Oder die Liebeserklärung schafft ein bestimmtes Sein eines Menschen. Wer einem andern die Liebe erklärt, schafft Wirklichkeit, indem er ihm die Würde des Geliebtseins zugesteht. Diese Beobachtung am alltäglichen Sprachgebrauch kann in einen sprachphilosophischen Zusammenhang gestellt werden. In neuerer Zeit wurde der Sprechakt entdeckt. Dabei handelt es sich um sprachliche Vorgänge, zu denen das Verb »tun« besser passt als das Verb »beschreiben«. Man denke an einen Satz aus der Trauliturgie: »Ich nehme diesen NN zum Mann.« Dies ist ein Beispiel für sprachliche Vorgänge, in denen die Wirklichkeit dessen, was ausgesagt wird, geschaffen wird. Und zwar wird sie geschaffen durch das Sagen selbst. Solches Reden beschreibt nicht, sondern es handelt. Deshalb spricht man von perfonnativer Sprache (einer Sprache, die eine performance, eine Wirksamkeit, hat) und stellt sie der informativen gegenüber (einer Sprache, die bloss Wirklichkeit beschreibt). In der analytischen Sprachphilosophie ging man bisweilen sogar so weit, der Sprache ihre Abbildungsfunktion überhaupt abzusprechen. Man prägte den Begriff der »deskriptiven Illusion«, um darauf hinzuweisen, dass alle menschlichen Sprachvorgänge im Grunde performativen Charakter haben. Wer allerdings den besonderen Charakter der Sprechakte respektieren will, wird nicht so weit gehen. Dennoch hat die Sprechakttheorie unüberhör-
Sprachlich geschaffene Wirklichkeit
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bar darauf aufmerksam gemacht, dass Sprache Wirklichkeit auch schaffen kann. Es ist sinnvoll, die Metapher als Sprechakt zu verstehen. Wer die Natur einen Tempel nennt, staUet die Natur mit einer neuen Wirklichkeit aus, die nur im Sagen selbst besteht. Dies ist keine Information über die Natur, es ist ein Sehen der Natur als einen Tempel. Wer eine solche metaphorische Aussage macht, gibt durch sein Sagen eine neue Wirklichkeit zu verstehen. So verstanden kann die Metapher mit hohem Ertrag zum Verständnis der Gottesreichsgleichnisse herangezogen werden. Das Gleichnis hat dann die Grundstruktur: Subjekt (Gottesreich)Kopula (ist, gleicht, ist wie) - Prädikatsnomen (die Gleichniserzählung). Es ordnet dem Subjekt Gottesreich ein Prädikat zu, das eigentlich kein Prädikat des Gottesreichs sein könnte. Das Gottesreich ist in Wirklichkeit etwas ganz anderes als beispielsweise die Geschichte vom gefundenen Schatz (Mt 13,44). Doch gerade dem Gleichnis geht es nicht darum, über das Gottesreich zu informieren. Gleichnisse sprechen von alltäglichen Begebenheiten, von Abläufen in der Natur und menschlichen Verhaltensweisen. Sie sprechen vom Alltäglichen und beanspruchen dennoch, das Gottesreich zur Sprache zu bringen. Daraus folgt: Gleichnisse schaffen eine unvermutete Nähe zwischen transzendentem Gottesreich und alltäglicher, immanenter Wirklichkeit. Ihre Performanz besteht genau darin, dass sie das jenseitige Gottesreich ins Diesseits einkehren lassen. In diesem Punkt entsprechen die Gleichnisse dem Grundzug des christlichen Glaubens: der Inkarnation. Wie Christus verstanden wird als Verkörperung des göttlichen Wortes (nicht bloss als Information über dessen Inhalt), so wird das Gottesreich im Gleichnis sprachlich verkörpert (nicht bloss beschrieben). Das Gleichnis spricht gleichsam inkarnatorisch. Wie der Christus wahrgenommen wird als Austeilung göttlicher Gnade, so ist das Gleichnis wahrzunehmen als Wirksamkeit des göttlichen Königseins. Das Gottesreich ist insofern wirksame Wahrheit, als es am Menschen inmitten seiner Lebenswelt wirkt. Dieser Wirksamkeit entspricht das Gleichnis, indem es die Nähe Gottes zum menschlichen Leben erschafft.
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Wirksame Wahrheit
Einstellung auf das Gottesreich Gleichnisse erzählen Geschichten, die auf eine Pointe angelegt sind. Sie geleiten die Hörer Schritt für Schritt bis zu einem Punkt, wo eine bestimmte Reaktion selbstverständlich ist. Das Gleichnis vom Schatz im Acker etwa (Mt 13,44) malt den Hörern vor Augen, in welcher Freude ein Finder alles hingibt, um den Acker mit dem Schatz zu besitzen. Das Bild des Schatzes vergegenwärtigt den Reichtum des Gottesreiches, und das Bild des glücklichen Finders erschafft den Raum für eine menschliche Einstellung auf jenes Reich. Die gegenwärtige Einstellung auf das Gottesreich hat konkret die Gestalt der Freude über den Fund. Nicht etwa die Gestalt der überdimensionierten Entscheidung, mit der man alles zu opfern bereit ist. Das Gleichnis entwirft vielmehr ein Leben, das durch den Fund schon entschieden ist. Oder im Gleichnis vom Schalksknecht (Mt 18,23-35) etwa werden die Zuhörer zu dem Punkt geführt, wo ihnen das Verhalten des Knechts gegenüber seinen Mitknechten unbegreiflich und hart erscheint. Wie kann er nur so hart mit seinem Schuldner verfahren, nachdem ihm unermessliche Schuld vergeben worden ist, so lautet die nahegelegte Reaktion. Das Gleichnis hat damit eine Einstellung zur unermesslichen Vergebung im Gottesreich geschaffen. Deshalb beginnen die Hörer, zunächst des Knechtes Unbarmherzigkeit und dann ihre eigene Härte unbegreiflich zu finden. An der Pointe angekommen, ist Vergebung selbstverständlich. Eben dies ist die gegenwärtige und menschliche Einstellung auf das künftige und göttliche Reich der Vergebung. Oder im Gleichnis von den verlorenen Söhnen (Lk 15, ll-32) werden die Hörer an den Punkt geführt, wo einerseits Heimkehr, andererseits das Hereinkommen zum Fest selbstverständlich geworden ist. Das Bleiben in der Fremde wäre unvernünftig angesichtsdes Vaters, der zuhause wartet. Und das Verharren im Ärger wäre unangemessen angesichts des Vaters, der zum Fest bittet. Das Gleichnis versammelt verschiedene Hörer jeweils an den Punkt, wo ihre Existenz, die Wahrheit ihres Lebens zur Entscheidung kommt. Genau die Heimkehr aus der Fremde und die Einkehr zum Fest der Liebe sind die gegenwärtige Einstellung auf das künftige Gottesreich. Dasselbe kann auch dadurch bewirkt werden, dass mich das Gleichnis mit neuen Augen ausstattet. »Wer unter euch, der hundert Schafe hat und eines davon verliert, lässt nicht die neunundneunzig in der Wü-
Einstellung auf das Gottesreich
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ste zurück, um das verlorene zu suchen?« (vgl Lk 15,3-7) Eine solche Frage staUet mich - für einen Augenblick nur - mit fremden Augen aus: es scheint mir selbstverständlich, die 99 Schafe um des einen verlorenen willen aufs Spiel zu setzen. Absolute Priorität hat die Suche nach dem Verlorenen. So der erste Blick, den mich das Gleichnis auf die Welt tun lässt. Doch auf den zweiten Blick ist die Sache nicht mehr so klar. Wer wollte das Risiko eingehen, schätzungsweise 30% der Schafe zu verlieren, bloss um I% wieder zu finden? Der zweite Blick ist der vernünftige, in meiner Welt übliche, berechnende Blick. Doch das Gleichnis hat bereits dafür gesorgt, dass er immer der zweite Blick bleiben wird. Es ist der Berechnung zuvorgekommen, indem es mich zuerst mit Augen ausstattete, für die die bedingungslose Suche selbstverständlich ist. Die Beispiele zeigen, wie die Wirksamkeit des Gottesreiches durch das Gleichnis zu denken ist. Zugespielt wird den Hörern, dass sie jetzt eine Einstellung zum kommenden Gottesreich gewinnen. Eigentlich wäre dieses Reich streng jenseitig und zukünftig zu begreifen. Gegenwärtig werden könnte es dann nur in der menschlichen Praxis, in der menschlichen Arbeit nach dem Willen Gottes. Der menschliche Wille zum Guten wäre die Kraftquelle solcher Arbeit (oder gar - wenn es schlecht herauskäme - die menschliche Angst vor dem Gericht des Gottesreiches). Nun sorgt aber das Gleichnis daftir, dass jenes Reich aus dem Jenseits ins Diesseits hereinragt und aus der Zukunft in die Gegenwart hereinkommt. Man könnte auch sagen: das Gleichnis macht das Gottesreich jetzt und hier zum Ereignis - zum Ereignis an seinen Hörern. Das ist die Arbeit der Sprache. Ereignis wird es, indem die Hörer eine Einstellung gewinnen zu ihm. Gerade eine solche Einstellung wird die Menschen ihrerseits zum Tun veranlassen, zum Tun dessen, was angesichts des nahe gekommenen Gottesreiches an der Zeit ist. Gerade die Arbeit des Gleichnisses trägt auch im Wirken der Menschen Frucht. Aber diese menschliche Praxis hat nicht mehr den Charakter, das Gottesreich zu verwirklichen, sondern sie verdankt sich dem Gott, der sein Reich selbst verwirklicht hat. Statt dass menschliches Wirken den Abstand zwischen dem Dann und dem Jetzt, dem Oben und dem Unten, dem Drüben und dem Hier zu überwinden trachtet, lebt es davon, dass der Abstand schon überwunden ist. Eben darum konzentriert es sich auf die Überwindung der verbleibenden Abstände zwischen
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Wirksame Wahrheit
Mensch und Mensch, in der Liebe, die Grenzen überschreitet, und in der Vergebung, die Neuanfänge ermöglicht.
Raum für die Person Schon die frühere rhetorische Auffassung der Gleichnisse machte klar, dass es sich dabei um eine eminent anredende Sprachform handeln muss. Dies wird durch die neuere Sprachtheorie noch stärker in den Vordergrund gestellt. Wir hatten gesehen, dass das Gleichnis- wie die Metapher- eine Aussage macht, die jenseits der Abbildung des Wirklichen ist. Es geht über das Wirkliche hinaus. Denn es gibt Wirkliches auf andere Weise zu sehen, als dies gewöhnlich gesehen wird. Daraus ergibt sich der prinzipiell anredende Charakter der Gleichnisrede. Denn sie gibt immer einer angeredeten Person etwas als etwas zu sehen. Wenn eine Metapher die Natur als Tempel zu sehen gibt, so ist sie unbedingt darauf angewiesen, dass jemand sich mit diesen neuen Augen ausstatten lässt. Wenn Jesus das Gottesreich als Geschichte vom glücklichen Finder zu sehen gibt, so ist er unbedingt auf Personen angewiesen, die sich diese neue Sichtweise geben lassen. In der Gleichnisrede gehört demnach das Anreden unauflöslich zur Aussage hinzu. Sie ist der anredenden Sprache verpflichtet. Indem die Gleichnisrede prinzipiell anredet, hält sie von vomherein einen Raum offen für solche, die gleichsam die Rolle der Angeredeten zu spielen bereit sind. Der Lebensraum der Angeredeten wird also in zuvorkommender Weise durch diese Sprachform geschaffen. Das menschliche Subjekt ist vom Kampf um den Daseinsraum befreit. Wirksam wird die Wahrheit des Gottesreiches durch das Gleichnis darin, dass es den Daseinsraum schon jetzt eröffnet, den das Gottesreich für die Menschen bereithält. Im Unterschied dazu verflüchtigt abbildende Sprache die Subjekte. Wenn sie abbildet, was der Fall ist, so ist ihr Sagen unabhängig von den Subjekten, unabhängig vom Sprecher ebenso wie vom Hörer. So sehr die Sprache zum blossen Instrument der Verständigung verkümmert, so sehr werden gerade die Subjekte, die sich ihrer zu bedienen meinen, verflüchtigt. In den Gleichnissen weisen manche formalen Elemente auf diesen Anredecharakter hin. Manche Gleichnisse sind in die Form der rhetorischen Frage gegossen (etwa das Gleichnis vom verlorenen Schaf, Lk
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15,3-7). Die rhetorische Frage spricht Personen auf eine bestimmte Antwort an, sie legt ihnen eine bestimmte Anwort nahe, ohne sie ihnen aufzuzwingen. Die Angeredeten werden nicht auf sich selbst zurückgeworfen beim Finden der Antwort, und dennoch werden sie nicht von der Notwendigkeit des Beweises überwältigt. Andere Gleichnisse geben den menschlichen Denkweisen ausreichenden Raum in der Erzählung. Die Überlegungen etwa des vor dem Nichts stehenden Sohnes in Lk 15 werden breit erzählt. Seine vernünftige Einsicht, dass die Tagelöhner zu Hause ein besseres Leben haben als er hier. Und seine nicht weniger vernünftige Einsicht, es sei bei seiner Rückkehr erträglicher. beim Vater eine Anstellung als Tagelöhner zu erbitten. Ebenso wird dem Protest der Zuerstgekommenen in Mt 20,1-15 viel Raum gegeben. Ihrem Einspruch im Namen des Prinzips »gleiche Arbeit - gleicher Lohn«. Diese Beispiele- sie Iiessen sich ohne weiteres vermehren - zeigen, dass die Menschen mit ihren gewöhnlichen Denkweisen eine Heimat finden im Gleichnis. Ihnen wird durch die Erzählung ein Raum geschaffen, den sie sich nicht zu erkämpfen brauchen. Andere Gleichnisse weisen einen offenen Schluss auf. Die Erzählung bricht ab. So endet das Gleichnis von den Verlorenen Söhnen damit, dass der Vater draussen beim Verärgerten steht und ihm zuredet, ihn bittet, zum Fest zu kommen. Durch diesen Abbruch legt die Erzählung den Schluss in die Hände ihrer Hörer. Zwar hat sie alles getan, um ihnen einen Schluss im Sinne des Gottesreiches nahezulegen. Aber den Schluss zu machen, überlässt sie den Hörern selbst. Gleich einer offenen Ellipse schafft sie den Raum für solche, denen es gegeben ist, den intendierten Schluss zu machen. Die offenen Schlüsse sind verhaltene, aber unübersehbare Hinweise darauf, dass die Gleichnisrede geradezu unvollständig ist ohne ihre Hörer. Hier ist die Angewiesenheil auf Hörer mit Händen zu greifen. Ein weiterer Gedanke ist zu berücksichtigen. Eine als Abbildung des Wirklichen entworfene Sprache hat ein eindeutiges Wahrheitskriterium: sie kann daran gemessen werden, ob sie dem, was tatsächlich der Fall ist, entspricht. Die Wahrheitsfrage kann ohne die Berücksichtigung von Sprecher und Hörer beantwortet werden. Ganz anders bei der metaphorischen Sprache, verstanden als über das Abbilden hinausgehendes Reden. Ob der Satz »Die Natur ist ein Tempel« wahr ist, kann nicht aufgrund der Adäquation von Sprache und Wirklichkeit erfolgen. Der Satz gibt die Natur neu als Tempel zu verstehen. Die Wahrheitsfrage
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Wirksame Wahrheit
kann im Grunde nur von denen beantwortet werden, die ihn hören. Solche Sätze suchen nichts anderes als das Einverständnis der Hörer. Genauso verhält es sich mit den Gleichnissen Jesu. Dass es mit dem Gottesreich zugeht wie mit der Geschichte vom glücklichen Finder eines unermesslichen Schatzes, kann im Grunde nur der glückliche Finder bestätigen. Symbolisch aufs äusserste verdichtet erscheint dieser Grundzug der Gleichnisrede wiederum in jenem Vater, der seinen Sohn zum Fest hereinbittet. Die Bitte legt die Entscheidung ganz in die Hände des Sohnes, ohne dass sie ihn der Beliebigkeil des Kommens oder Fembleibens ausliefern würde. Die Bitte gewährt den Raum, wo in Würde Nein gesagt werden kann, und erschafft eben so den Raum für ein Ja, das diesen Namen verdient. Das Gleichnis lädt ein, seine Sicht der Dinge buchstäblich wahrzunehmen, ihr Wahrheit zuzugestehen. Eben so legt es die Wahrheitsfrage in die Hände der Hörer. Und dadurch spielt es den Hörern eine personale Würde zu, die sie sich niemals selbst erschaffen könnten.
Arbeit an menschlicher Verschlossenheit Die Metapher widersteht der Eindimensionalität der Sprache und insofern der eindimensionalen Wahrnehmung der Wirklichkeit. Nicht zufällig ist sie vornehmlich in poetischer Sprache zuhause, der es darum geht, neue Dimensionen des Wirklichen zu entdecken. Die Metapher verlässt die Eindeutigkeit univoken Sprachgebrauchs, um Neues am Wirklichen zu verstehen zu geben. Man könnte sagen: die metaphorische Sprache zerbricht die jeweils herrschende Konstruktion der Wirklichkeit, um die Menschen näher an das Wirkliche heranzuführen. Ähnliches lässt sich auch von der Gleichnisrede Jesu sagen. Sie widersteht zunächst der Konstruktion, das Gottesreich sei in weiter Feme, indem sie es in die Nähe des alltäglichen Lebens kommen lässt. Sie widersteht auch der Konstruktion, der Mensch könne sich nur arbeitend auf das Gottesreich beziehen, indem sie an der Stelle des Gottesreiches am Menschen arbeitet. Wir wenden unsere Aufmerksamkeit noch einem andem Grundzug der Gleichnisrede zu. In manchen Gleichnissen wird menschliches Denken und Verhalten geschildert, dessen Charakteristikum gerade darin besteht, dass es nicht mit dem Gottesreich rechnet. Der jüngere
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Sohn in Lk 15 zum Beispiel rechnet nicht mit der Liebe des Vaters, die ihm sein Sohnsein gnädig gewähren könnte, und verlegt sich deshalb darauf, den Vater um ein Arbeitsverhältnis zu bitten. Der ältere Sohn wiederum rechnet nicht damit, dass die Freude über den Zurückgekehrten das einzige ist, was seinen Vater bewegt, und geht verärgert nach draussen. Auch er hat seinen Vater verloren, nicht an einen heillosen Lebenswandel wie der Jüngere, sondern an die Berechnung, was ihm alles zustünde. Die zuletzt gekommenen Arbeiter in Mt 20 rechnen nicht damit, dass der Weinbergbesitzer seine Güte zum Mass des Lohnes machen könnte, und deshalb beharren sie auf dem verdienten Lohn. Der Schalksknecht in Mt 18 rechnet nicht damit, dass der zuvorkommende Erlass grosser Schuld seine eigene Wirklichkeit bestimmen könnte, und verharrt weiter in Unbarmherzigkeit, ganz so, als ob ihm nichts geschehen wäre. Alle diese Verhaltensweisen sind normal. Ihnen ist gemeinsam, dass sie nicht mit dem gnädig Gewährten rechnen. Sie gründen darauf, dass die Welt der Berechnung und der Arbeit das einzig Massgebende sei. Theologisch gesprochen sind solche Verhaltensweisen Sünde, Abstand zu Gott, menschliche Verschlossenheit, Beschränktheit auf das Weltliche. Bemerkenswert ist nun, wie die Gleichnisse mit der Verschlossenheit umgehen. Wir hatten schon gesehen, dass sie ihr einen Raum geben, einen Ort, wo sie ausgesprochen werden kann. Schon dies ist ein Schritt über den Abgrund. Doch es lässt sich noch mehr sagen. Die Gleichnisrede erinnert an die Verschlossenheit des Menschen, um ihm das Wesen des Gottesreichs verständlich zu machen. Gerade wer seinen Vater nur noch als Arbeitgeber in Anspruch zu nehmen wagt, wird verstehen, was die Umarmung bei der Heimkehr bedeutet. Wer sein Verhältnis zum Vater nur noch der Berechnung unterstellen kann, wird verstehen können, welche Dimensionen die Freude hat, die einen Vater zum Bitten bewegt. Wer ganz auf das Verdiente setzt, wird erst recht ermessen können, was das gnädig Gewährte ist, das im Gottesreich auch den Letzten zukommt. Und wer an sich selbst Unbarmherzigkeit beobachtet, wird verstehen, welchen Preis zuvorkommende Barmherzigkeit hat. Auf den Begriff gebracht heisst das: die Sünde des Menschen wird im Gleichnis unversehens zur Verständnisbedingung des Reiches Gottes. Angeknüpft wird gerade an die menschliche Verschlossenheit, nicht an die (vermeintliche oder wirkliche) Fähigkeit zur Offenheit. Die Verschlossenheit wird bis zu dem Punkt geführt, wo zumindest ihre Selbst-
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Verständlichkeit zerbricht. Dies ist die Arbeit, die das Gleichnis an den Menschen vollbringt. Man kann diese Arbeit Vergebung der Sünde nennen, wenn Sünde als menschliche Verschlossenheit gelten kann und Vergebung als deren Überwindung.
Identifikation und ihre Grenze Gleichnisse sind Erzählungen, die ihre Wirkung auch durch das Mittel des Identifikationsangebotes erzielen. Auch darin unterscheiden sie sich erheblich von theoretischer oder begrifflicher Sprache. Sie sind szenische Einheiten, kleine Theaterstücke, die die Hörer in ihre Geschichten zu verwickeln vermögen. Von solchen Geschichten gilt, dass sie Menschen herauszulocken vermögen aus dem Gehäuse ihres alltäglichen Lebens. Sie vermögen sie abzulenken von den Denk- und Verhaltensweisen, von denen ihre Lebensführung gewöhnlich geprägt ist. Es erfolgt eine Ablenkung von der Berechnung und der Lieblosigkeit, die das alltägliche Leben bestimmte. Gleichnisse haben eine ablenkende Wirkung, eine zum Besten der Hörer ablenkende Wirkung. Von solchen Geschichten gilt auch, dass sie Menschen in Bewegung setzen. Einmal ihrem Alltag entzogen sind die Hörer bereit, sich von der Erzählung in eine bestimmte Richtung geleiten zu lassen. Diese Bereitschaft wird wesentlich erhöht dadurch, dass die Erzählung Figuren anbietet, mit denen die Hörer sich identifizieren können. Es lohnt sich, solche Figuren etwas näher zu betrachten. Im Gleichnis vom Schalksknecht (Mt 18) beispielsweise wird die Erzählperspektive so gewählt, dass die Hörer das Geschehen mit den Augen des Schalksknechts betrachten. Mit ihm sehen sie sich als Empfänger grosser Vergebung, mit ihm sehen sie sich auch hart und unbarmherzig sein gegen den, der ihm etwas schuldet. Mit ihm sehen sie sich schliesslich vor den König gestellt, der ihn fragt: »Hättest du dich nicht auch erbarmen sollen ... ?« Auch ihr Leben wird also auf die Vorgeschichte der Gnade aufmerksam, auch sie erkennen den objektiven Widersinn ihres Tuns, das jetzt zur Nachgeschichte der Gnade geworden ist. Es fällt aber auf, dass der König kein Identifikationsangebot an die Leser darstellt. Mit zwei verschiedenen Erzählperspektiven arbeitet das Gleichnis von den Verlorenen Söhnen (Lk 15). Zunächst werden die Hörer ganz in die Geschichte des Wegziehenden verwickelt. Sie erle-
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ben seinen Fall bis ins Angesicht des Todes. Das Gleichnis geht bis zum Äussersten, um klar zu machen: keine Verlorenheil ist so gross, dass es keine Heimkehr mehr gäbe. Und mit dem Sohn beginnen die Hörer in der Fremde vernünftig nachzudenken: Heimkehr ist besser als umkommen, man wird den Vater noch als Arbeitgeber ansprechen dürfen. Und mit ihm kehren sie zurück, werden sie überrascht von der Umarmung des Vaters und seiner Eile, den Heimgekehrten mit den Insignien der Sohnschaft auszustatten. Das Gleichnis macht dieses ldentifikationsangebot, um die Hörer in ihrer eigenen Verlorenheil aufzusuchen und sie zum Vernünftigen zu bewegen. Doch dann wechselt die Perspektive. Im zweiten Teil schauen die Hörer mit den Augen des älteren Sohnes, der von der Feldarbeit heimkehrt. Jetzt sollen sie sich mit seinem Ärger identifizieren können, um dann mit ihm vom Zureden des Vaters - vielleicht - berührt zu werden. Jetzt geht es nicht mehr um Verlorenheil in der Fremde, sondern um Verlorenheil an die heimische Berechnung. Jetzt geht es nicht mehr um vernünftige Rückkehr, sondern darum, beim Fest für den Rückkehrer dabei zu sein. Denn es kommt darauf an, dass man Umkehrende auch umkehren lässt. Das Gleichnis arbeitet dafür, dass sie nicht auf die Feme fixiert werden, sondern dass man sie in die Nähe, die sie wieder suchen, auch kommen lässt. Auch hier fällt auf, dass der Vater kein Identifikationsangebot darstellt. Im Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20) werden die zuerstgekommenen Arbeiter ins Rampenlicht gestellt. Ihr Geschick wird geschildert, ihre Hoffnung auf bessere Entlöhnung wird angedeutet, ihr Protest gegen die Gleichmacherei kommt ausführlich zu Worte. Und mit ihnen werden die Hörer den mehrfachen Argumenten des Besitzers für sein gütiges Verhalten ausgesetzt. Sie sollen verstehen, dass im Gottesreich alle gleich, nämlich alle Erste sind. Sie sollen verstehen, dass im Gottesreich Lohn gernäss der Gnade, nicht gernäss dem Verdienst ausgeteilt wird. Sie werden bearbeitet, damit ihnen die Güte des Gottesreiches selbstverständlich erscheine. Das Angebot der Identifikation ist auf die Zuerstgekommenen konzentriert. Auffallend ist wiederum, dass der Besitzer nicht als Figur zur Identifikation angeboten wird. Wir haben es hier mit einem theologisch bedeutsamen Grundzug der Gleichnisrede Jesu zu tun. Zur Identifikation angeboten wird nicht die leitende Figur, sondern die geleitete. Denn die leitenden Figuren verweisen metaphorisch auf Gott, die geleiteten dagegen auf die Men-
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sehen. Von ihnen aber ist nicht verlangt, dass sie göttliche Werke tun. Sie sind es nicht, die den Lebensraum und das Vermögen zur Verfügung stellen, sondern sie leben davon. Sie sind es nicht, die das Fest der Liebe veranstalten, sondern sie sind Gäste. Sie sind nicht die Liebenden, sondern die Geliebten. Statt dass ihnen die Leitung des Geschehens aufgebürdet würde, wird ihnen das Geleit des Gottesreiches angeboten. Über das Angebot der Identifikation lenkt die Gleichnisrede die Hörer ab von ihrem eigenen, orientierungslosen Leben. Und sie bewegt sie dorthin, wo sie das Geleit des Gottesreiches erblicken. Man könnte wohl sagen, dies sei eine Einführung des Menschen in seine Menschlichkeit. Gleichnisse arbeiten an der Menschlichkeit des Menschen, wenn unter Menschlichkeit das durch die Liebe geleitete Sein zu verstehen ist. Auf eine Ausnahme ist allerdings hinzuweisen. Im Gleichnis vom verlorenen Schaf (Lk 15) werden die Hörer angehalten, die Sichtund Handlungsweise des Hirten selbstverständlich zu finden. Dies kann als Identifikationsangebot verstanden werden. Der Hirt verweist aber metaphorisch auf die Suche Gottes, des Menschen Ort wäre eigentlich an der Stelle des verlorenen Schafes. Fordert das Gleichnis zur Nachahmung Gottes auf? Die Ausnahme findet vermutlich eine ungezwungene Erklärung. Dass hier der Hirt als Identifikationsangebot erscheint, hat bloss damit zu tun, dass den Hörern die göttliche Suche selbstverständlich erscheinen soll. Zur Verlorenheil gehört ja, dass man sich eine solche unbedingte Suche gar nicht vorstellen kann. Eben die Selbstverständlichkeit dieser Vorstellung wird durch die rhetorische Frage erzeugt. Die Hörer existieren als Verlorene, und ihre Verlorenheil wird dadurch bearbeitet, dass sie auf die Fraglosigkeit der Suche angesprochen werden. Auch diese Ausnahme lässt sich demnach im Zusammenhang der anderen Gleichnisse Jesu verstehen. Das Angebot der Identifikation gibt das energetische Potential ab, die Menschen in ihre Menschlichkeit einzuführen.
Erinnerung an Erfahrung Oben ist gezeigt worden, dass die Gleichnisrede die Wahrheitsfrage in die Hände ihrer Zuhörer legt. Daraus könnte der Schluss gezogen werden, die Wahrheit sei dem willkürlichen Konsens anheimgestellt. Dann wäre ebensogut ein Konsens mit der Lüge denkbar. Um diesem
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Fehlschluss vorzubeugen, ist auf eine weitere Dimension metaphorischer Sprache hinzuweisen. Das sprachliche Bild bezieht seine Wirkung aus der bewegenden Kraft dessen, was in ihm zur Erscheinung kommt. Die Gleichnisrede bringt das Gottesreich in den Zusammenhang mit Bildern aus der Welt der Natur oder des menschlichen Lebens: mit dem Wachstum etwa, oder dem Verhalten eines Vaters, eines Hirten, eines Weinbergbesitzers. Die Bilder, mit denen die Gleichnisrede arbeitet, rufen Erfahrenes in Erinnerung. Sie machen aufmerksam auf Vorgänge und Geschehnisse, die in unserer Welt vorkommen. Allerdings ist nicht die Welterfahrung das primäre Thema, sondern das Gottesreich. Aber das Gottesreich kommt dadurch in die Nähe, dass das Gleichnis an Welterfahrung erinnert. Offensichtlich kommt es dem Gleichnis nicht bloss auf die Willkür der Zustimmung, sondern vielmehr auf die Evidenz der Erfahrung an. Und die Antwort, die die Hörer auf die Frage der Wahrheit geben, beruht offenbar darauf, dass die in Erinnerung gerufene Lebenserfahrung Evidenz hat. So entdeckt das Gleichnis an der Welterfahrung die Dimension des Gottesreiches. Gewiss operieren die meisten Parabeln mit dem aussergewöhnlichen Verhalten von Figuren, gewiss übertreiben die meisten Gleichnisse die Grösse des Wachstums. Gewiss ist es aussergewöhnlich, dass ein Vater einen solchen Heimgekehrten umarmt und einen solchen Daheimgebliebenen zum Fest bittet, aber dennoch gibt es in der Welt die Umarmung und die Bitte der Väter und Mütter. Gewiss ist es aussergewöhnlich, dass ein Herr bei der Abrechnung so viele Schulden erlässt, aber dennoch gibtes-wenn auch im Fragment- die Vergebung auch unter gewöhnlichen Menschen. Gewiss ist es aussergewöhnlich, dass ein Bauer nach dem Säen nichts für das Gedeihen seiner Saat tut, aber dennoch ist einsichtig, dass er mit allem seinem Tun niemals das Wachstum ersetzen könnte, das zur Einrichtung des Lebens gehört. Die Nähe des Gottesreiches verursacht den Zug der Gleichnisse zum Aussergewöhnlichen. Die Welt erscheint als Schöpfung und die Menschen verhalten sich gernäss dem, was ihnen die Liebe eingibt. Aber gerade dieses Aussergewöhnliche ruft normale Erfahrung in Erinnerung, nicht bloss als Gegenwelt, sondern als Gottes Welt. Die Gleichnisrede spricht vom Aussergewöhnlichen, um die Spuren der Schöpfung zu entdecken, die im Gewöhnlichen gelegt sind. Auf diese Weise entdeckt die Gleichnisrede das Geheimnis des Wirklichen: sein Geheimnis ist es, auf verhaltene Weise das Gottesreich erkennen zu lassen. Entdeckt
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wird, dass die Umarmungen der Väter und Mütter etwas zu tun haben mit der Liebe, die im Gottesreich allein massgebend ist. Insofern erscheint Wahrheit in der Wirklichkeit der Umarmung. Entdeckt wird, dass die Wirkkraft, die im Sauerteig liegt, etwas zu tun hat mit der Wirkkraft des Guten, die dem Reich Gottes eignet. Damit wird die herrschende Konstruktion, wonach Sauerteig zum Symbol ftir die Macht des Bösen gemacht wurde, aufgebrochen. Insofern erscheint die Wirkungsmacht des Gottesreiches in der Unscheinbarkeit des Sauerteiges. Entdeckt wird, dass die Freude über gefundene Schätze etwas zu tun hat mit der Freude über die Nähe des Gottesreiches. Es erscheint eine neue Welt, in welcher die Aktivität der Funde auf die Kreativität des Gottesreiches deutet. Entdeckt wird, dass das Geheimnis des winzigen Senfkorns in dessen Zukunft liegt, im grossen Baum, der für alle Schatten spendet. Eben dies ist das Geheimnis auch der Gegenwart des Gottesreiches im Wort und im Tun Jesu. Entdeckt wird, dass im Wachstum eine Kreativität verborgen ist, die im Gottesreich bestimmend ist. Das Wachstum wird lesbar als eine Schrift über die Aktivität der Gnade, deren Wesen es ist, zu geben, ohne vorher genommen zu haben. Genau diesem Wachstum verdanken es die Menschen, dass sie auf dieser Erde am Leben erhalten werden. Es erscheint die Wahrheit des gnädig Gegebenen im Gewachsenen. Dies alles ist zu begreifen als eine Rückwirkung dessen, dass im Gleichnis ein Zusammenhang hergestellt wird zwischen dem Gottesreich und der Welt der Menschen. Erkennbar wird, inwiefern das Gottesreich in die menschliche Erfahrungswelt hereinragt, nicht bloss via negationis, sondern via analogiae (fidei), auf dem Weg der Analogie, die erkennt, wer vom Gleichnis mit neuen Augen ausgestattet ist. Sofern in den Gleichnissen die Wahrheit wirksam erscheint, widerstehen sie ihrer Verkehrung in Gesetz. Das Wesen des Gesetzes besteht darin, dass es dem Menschen alles zu tun überlässt. Als Gesetz verstanden würden die Gleichnisse nicht selbst wirken, sondern sie würden die Tatkraft der Menschen beschwören; sie müsste die Verwirklichung des Gottesreiches im Alltag der Welt erwirken. Nun aber wirken die Gleic~_!li§~~ selbst, arbeiten sie an ihren Hörern, nicht zuletzt:maem sie auf die Kreativität aufmerksam machen, von der die Menschen im Alltag der Welt umgeben, getragen sind. Insofern sind die Gleichnisse nicht Gesetz, zu tun gebendes Wort, sondern Evangelium, tätiges Wort.
Sprache und Wirklichkeit Theologische Überlegungen Ich könnte meinen Vortrag mit dem Satz beginnen, das Thema Sprache und Wirklichkeit sei ein weites Feld. Und damit wäre er schon zu Ende. Denn das Reden pflegt ja aufzuhören, bevor es sich in weiten Feldern verliert. Am Anfang schon aufzuhören, gehört sich für Vorträge nicht. Es bleibt also der Versuch, von Sprache und Wirklichkeit so zu reden, dass man nicht in den spracheraubenden Sog der Weite dieses Themas gerät. Deshalb schränke ich das Thema ein. Nicht als Sprachwissenschaftler oder Philosoph kann ich hier sprechen, nicht einmal als Theologe. Vielmehr gelten meine Überlegungen eingeschränkt dem Problem von Sprache und Wirklichkeit, wie es sich für einen Neutestamentler stellt.
0 Problemstellung Wir machen uns die neutestamentliche Problematik anhand des folgenden Beispiels klar. »(Mit dem) Himmelreich ist (es) gleich wie mit (der Geschichte von) einem Schatz, der im Acker verborgen war. Diesen fand ein Mensch und verbarg ihn (wieder). Und in seiner Freude geht er hin und verkauft alles, was er hat, und kauft jenen Acker.« 1 Dieses Gleichnis Jesu - es ist typisch für die neutestamentliche Sprache überhaupt - enthält die wesentlichen Konstituenten des Problems Sprache und Wirklichkeit. Das Himmelreich ist nach damaligem Verständnis ein Reich, das gegenüber der Welt absolut jenseitig ist, und eine Zeit, die gegenüber dem Jetzt absolut zukünftig ist. Wir würden dies etwa Transzendenz nennen. Verbunden damit ist aber eine Geschichte: sie erzählt von einem Menschen, der einen verborgenen Schatz findet und alles verkauft, um ihn zu besitzen. Solche Funde sind nicht gerade alltäglich, aber sie kommen vor. Die Geschichte erzählt von menschlicher Wirklichkeit. Das Gleichnis bringt das transzendente Himmelreich
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Mt 13.44. Zur Übersetzung vgl Weder. Gleichnisse 139.
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Sprache und Wirklichkeit
und die immanente Wirklichkeit in Beziehung zueinander (die Kopula »ist gleich wie«). Es sorgt für eine semantische Interaktion zwischen Himmelreich und Schatzgeschichte. Vom Himmelreich könnte man ganz anders reden. Man könnte es begrifflich beschreiben als ein Reich, in welchem alle Negativität beseitigt, alle Endlichkeit besiegt, alle Lüge überfuhrt, alles Böse überwunden, alle Beeinträchtigung aufgehoben sei. Damit wäre man bei einer metaphysischen Theorie, welche das Himmelreich sozusagen begrifflich ins Jenseits befördert. Gewiss ist die Sprache, derer man sich dabei bedienen muss, immer geprägt von zeitlicher und weltlicher Wirklichkeit. 2 Aber damit kann man wohl fertigwerden, indem man die Sprache via negationis braucht. So entsteht eine metaphysische Theorie, die sprachlich als Vemeinung der Wirklichkeit gestaltet ist. Davon unterscheidet sich das genannte Gleichnis grundsätzlich: es hält gerade am positiven Zusammenhang von Himmelreich und Weltwirklichkeit fest. Also kann es nicht wie eine metaphysische Theorie gelesen werden. Man könnte vom Himmelreich auch in Gestalt einer Theorie reden, die alles metaphysische auf seine physische Wirklichkeit zurückführt. Das Himmelreich wäre dann der Traum von jenseitigem Glück. der durch die Wirklichkeit diesseitigen Unglücks hervorgerufen wird. Oder es wäre - evolutionsbiologisch gesprochen - eine Idee, die dem Menschen bestimmte Überlebensvorteile gebracht hat.-' Das Himmelreich wäre dann eine himmlische Abbildung irdischer, sozialer und kultureller Wirklichkeit. So entstünde eine physische Theorie, die sprachlich als Beschränkung auf das Weltliche gestaltet ist. In diesem Falle hat das Himmelreich als Thema des Gleichnisses keinen Sachanspruch. Es ist bloss Vehikel ftir ein anderes Thema, die condition humaine. Das Gleichnis widersetzt sich indessen solcher Interpretation: es ist näher an der Wirklichkeit, als dass es diese bloss verneinen könnte, und zugleich näher beim Himmelreich, als dass es blosse Meinung menschlicher Subjekte darüber sein könnte.
2 Dazu Soskice. Metapher 73 (Hinweis auf das Geprägtsein der Sprache durch die Erfahrung von Raum und Zeit). 1 Vgl MacCormack. Metaphern 172-174. Die transzendenten Bedeutungen werden (reduk· tionistisch) zurückgeführt auf Projektionen normaler Erfahrungen. Sie haben also keinen Wahrheitswert. wohl aber einen funktionellen: sie sind nützlich ftir die evolutionäre Entwick· Jung des Menschen. Selbst die der Religion wohlgesinnten Soziobiologen reduzieren sie funk· tional auf den »genetischen Vorteil• (aaO 173).
I Zum sprachtheoretischen Hintergrund
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Das Gleichnis stellt die semantische Interaktion zwischen dem transzendenten Reich der Himmel und dem wirklichen Reich der Welt ins Zentrum des Interesses. Insofern spricht es eine typisch christliche Sprache. Denn das Herz des Christentums ist der Glaube an die Aeischwerdung des Wones Gottes im Menschen Jesus. Der Glaube also an die Inkarnation, verstanden als göttliche Interaktion mit der Welt. Dies hat unermessliche Folgen gehabt. Unter anderem ist eine neue literarische Gattung entstanden: das Evangelium. 4 Die Evangelienschriften sind weder Biographien noch Mythen. Sie erzählen zu viel vom Leben Jesu, um bloss Mythen eines die Welt nur flüchtig berührenden Gottes zu sein, und sie lassen zu viel von göttlichem Glanz durchschimmern, um bloss Biographien eines Wundenäters zu sein. Im Zuge des Inkarnationsgedankens wurde das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit zur spannungsreichen Beziehung von Transzendenz, Immanenz und Sprache. Religiöse Sprache hat es ja überhaupt an sich, über die Wirklichkeit hinauszugehen. Die Sprache des christlichen Glaubens spricht, sofern sie inkarnatorisch redet, auf besondere Weise »dem Wirklichen ein Mehr an Sein« zu, »als das Wirkliche aufzuweisen hat«. 5 Das macht meines Erachtens ihre grosse Problematik aus, aber zugleich ihren eigentümlichen Reiz. Dieser Beziehung von Sprache, Wirklichkeit und Transzendenz soll im Folgenden genauer nachgedacht werden.
1 Zum sprachtheoretischen Hintergrund Es gibt einen common sense darüber, wie die Sprache sich zur Wirklichkeit verhalte. 6 Die Sprache ist- so lautet die Annahme -ein Mittel zur Abbildung der Wirklichkeit. Der Sprachgebrauch der modernen Medien ist weithin durch diesen common sense geprägt. Sprache ist lnformationsmedium für ausseTSprachliche Sachverhalte. Der common sense lässt sich sprachtheoretisch als mediale Funktionalisierung der Sprache verstehen. Sie ist Verständigungsmittel für sprechende Subjekte.
Dazu Fuchs. Sprache 260. s So mit Jüngel. Metaphorische Wahrheit 71. 6 Zum Stellenwen des common sense in der Sprachauffassung und ihrer philosophischen Rechtfenigung vgl die Ausführungen von Kjärgaard. Metaphor 110-116. 4
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Sprache und Wirklichkeil
Der skizzierte common sense kann auf eine breite philosophische Abstützung zählen. Er hat einerseits Tradition, stimmt es doch mit der antiken und bis ins zwanzigste Jahrhundert massgebend gebliebenen aristotelischen Auffassung überein, dass M-y~ und 1COOJ.LO Mit Bonnard. L'anamnese 5: »Nous ne sommes pas loin de penser que cette structure anamnesique. loin de ne caracteriser que Je rite eucharistique. est presente dans tout Je developpement de Ia vie et de Ia pensee chretiennes au premier siede.« 27 Vgl Michel. An. l'lfU111"C~lm. in: ThWNT IV 679.32-36 mit Anm 6. 2M Zur sakramentalen Dimension vgl Bornkamm. Jesus von Nazareth 148 und Holtz. Jesus aus Nazareth 125: »Soviel lässt sich indessen mit Bestimmtheit sagen. dass die BezweiOung dessen. dass Jesus mit seinen Jüngern am Abend vor seiner Verhaftung eine Mahlzeit gehalten
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Evangelische Erinnerung
der austeilenden Dimension seines Lebens und Sterbens innewerden. Auch dies ist ein Grundzug des Phänomens Erinnerung: in der Erinnerung werde ich aufmerksam auf das, was die Vergangenheit meiner Gegenwart austeilt, sei dies in der Erinnerung an verstorbene Menschen, sei dies in der Erinnerung an befreiende Ereignisse. In der Erinnerung werde ich also aufmerksam, dass die Gegenwart nicht allein für sich selbst aufzukommen hat. Zum zweiten wird in der Abendmahlsüberlieferung anschaulich, dass die Erinnerung immer auch den Vollzug der Vergegenwärtigung bedeutet. Das Abendmahl zum Andenken an den toten Jesus feiern heisst, ihn, den Abwesenden, gegenwärtig machen in der einzig möglichen Gestalt, in der er gegenwärtig sein kann, bis dass er kommt. Erinnerung ist also zugleich ein Vorgang, der die Gegenwart mit Dingen anreichert, die sie nicht sich selbst verdankt. Wer sich erinnern lässt, lässt Vergangenes gegenwärtig werden. Für unsere Überlegungen ist nun besonders wichtig, welche konkrete Gestalt die Erinnerung an Jesus im Abendmahl gewonnen hat. Zu seiner Erinnerung wird Brot gegessen und Wein getrunken. Man kann diese Gesten nicht formalisieren, ganz so, als ob es gleichgültig wäre, in welcher Weise Jesus in Erinnerung gehalten wird. Jesus wird beispielsweise nicht durch das Abhalten von olympischen Spielen vergegenwärtigt, nicht durch den feierlichen sportlichen Wettkampf, sondern durch ein Essen und Trinken, das die Menschen zu Gästen an seinem Tisch werden lässt. Essen und Trinken steht für die Nahrungsaufnahme, die zum Leben notwendig ist. Es steht für den Empfang der Dinge, die ich zum Leben brauche und mir dennoch nicht selbst verschaffen kann. Essen und Trinken steht dafür, dass der Mensch durch fremden Stoff am Leben erhalten wird. Wenn dieses Essen die Menschen zu Gästen macht. so schafft es unter ihnen eine Gemeinschaft. die nicht auf ihnen selbst, sondern allein auf dem Gastgeber beruht. 29 Es schafft eine Gemeinschaft, die nicht von menschlicher Hand gemacht ist, und die deshalb auch nicht von menschlicher Faust zerstört werden kann. Wenn es also nicht gleichgültig ist, welche Gestalt die Erinnerung an Jesus gewinnt, dann besteht ein innerer Zusammenhang zwischen diesem Essen
hat. in der er Brot und Wein in eine besondere Beziehung zu sich und seinem Weg setzte und so seinen Jüngern darreichte. unbegründet ist.• 29 In diesem Zusammenhang stehen die paulinischen Ausflihrungen vom Leib Christi. der nicht durch die Glaubenden gebildet. sondern ihnen gegenüber präexistent ist: vgl Käsemann. Problem 196f.
3 Die Gestalt der Erinnerung: das Abendmahl (I Kor 11,17-34)
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und dem Christus. Denn dieses Essen stellt selbst den gegenwärtigen Christus dar, es macht konkret, als was der Christus gegenwärtig wird. Er wird gegenwärtig als einer, der Nahrung zum Leben austeilt und dadurch eine Lebensgemeinschaft unter seinen Gästen stiftet. Wir können diesen Zusammenhang verstehen als einen Prozess wechselseitiger Erinnerung. Einerseits erinnern Brot und Wein so an Christus, dass sein Wesen gegenwärtig wird, andererseits erinnert der Christus so an Brot und Wein, dass ihr Wesen neu erschlossen wird. Brot und Wein erinnern daran, dass das Wesen des Christus im Austeilen bestand, im Austeilen von Lebensmitteln aller Art. Gerade beim Essen wird also der Essende daran erinnert, wer Christus gewesen war und als wer er in der Gegenwart existiert, nämlich als der, der elementare Nahrung zum Leben gibt. Wir dürfen, so scheint mir, allerdings nicht vergessen, dass der Prozess des Erinnerns noch eine andere Seite hat. Denn im Abendmahl erinnert der Christus auch an vergessene Dimensionen von Brot und Wein. Daran nämlich, dass das Sakramentale, das im Christus verkörpert ist, auch im täglichen Brot und Wein begegnet, dass auch diese Phänomene der Austeilung sind, die die Menschen versorgen mit dem, was sie zum Leben brauchen. Im Abendmahl erinnert Christus seinerseits an das wahre Gewicht, das Brot und Wein haben. Erinnerung bedeutet demnach das pure Gegenteil der Überredung: die Überredung sucht Menschen von ihren Erfahrungen zu entfernen, während die Erinnerung sie an ihre Erfahrungen weist, indem sie sie neu erschliesst. Wir erkennen an dieser Wechselseitigkeit ein wichtiges Moment der Erinnerung: Gegenwärtiges kann Vergangenes so in Erinnerung rufen, dass dessen Austeilen ins Bewusstsein kommt, und Vergangenes kann Gegenwärtiges so erschliessen, dass dabei seine ~. seine Würde oder sein Glanz allererst zum Vorschein kommt. Erinnerung bedeutet also viel mehr als blosses Zurückrufen ins Gedächtnis, es bedeutet eine Erschliessung der Vergangenheit, die bloss gewusst oder real war, auf ihre Wirksamkeit hin. Erinnerung macht aus der blossen Realität der Vergangenheit ihre lebendige Wirklichkeit. Und es bedeutet eine Erschliessung der täglichen Erfahrung auf das hin, was unbeachtet vor unseren Augen steht. Evangelische Erinnerung macht in besonderer Weise aufmerksam auf den sakramentalen Charakter von Vergangenern und Gegenwärtigem. So stellt die evangelische Erinnerung einen Widerstand dar gegen den menschlichen Verfall in den Wahn, alles selbst
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produzieren und nur aus eigenen Mitteln leben zu müssen und sich dann einzureden, es auch zu können.
4 Die Kraft der Erinnerung (Joh 14,26) In den Abschiedsreden des Johannesevangeliums begegnet uns die interessante Gestalt des Parakleten. Dieses Evangelium hat in besonderer Weise über das Problem des Abschieds Jesu nachgedacht, über das Problem also der Endlichkeit seiner rettenden Gegenwart. Dadurch erklärt sich die im Urchristentum einzigartige Breite, in der der Abschied Jesu in Kp 13-17 bedacht und bearbeitet wird. Der Paraklet spielt die Hauptrolle in diesem Reflexionsprozess. 30 Von ihm heisst es ausdrücklich, er könne nicht kommen, wenn Jesus nicht gegangen sei ( 16, 7). So erscheint er als die Frucht dessen, dass die Gegenwart Jesu endlich war. Vom Parakleten heisst es auch ausdrücklich, dass er sozusagen den abwesenden Jesus bei den Jüngern vertreten und dass er auf ewige Zeiten bei ihnen sein werde (14, 16 ). Er ist unüberholbar. Der Paraklet ist demnach jene Figur, die so etwas wie die ewige Erinnerung an den entscheidenden Augenblick Jesu darstellt. Die Figur des Parakleten ist der johanneische Versuch, konkreter zu fassen, was urchristlich heiliger Geist (7tVE~ äytov, heilige Geistkraft) heisst (vgl ebenfalls 14,26). Die Sendung des Parakleten ist ganz und ausschliesslich an den gesandten Christus gebunden. »In meinem Namen«, sagt der johanneische Christus, »wird ihn der Vater senden«. Das Verständnis dieses Ausdrucks ist nicht einfach. Wenn das b lokal verstanden wird, heisst er: dort, wo mein Name genannt wird, an dem Ort, wo der Name des Christus genannt wird, wird der Vater den Parakleten senden. Wenn das b instrumental verstanden wird, heisst er: durch meinen Namen. Dadurch, dass der Name des Christus genannt wird, wird der Paraklet gesandt. Wie immer man sich entscheiden mag, ganz deutlich ist, dass der Paraklet eng an den Christus gebunden bleibt (insofern war das filioque eine glückliche Entscheidung der Kirche, da sie damit den Geist vom Vater und vom Sohn ausgehen liess). Der Paraklet ist also die immerwährende Gegenwart dessen, was im Namen Christus einmal verkörpert wurde. Dementsprechend heisst es dann vom Parakleten: »jener wird
Jo
Vgl Becker. Johannes 11470--475.
4 Die Kraft der Erinnerung (Joh 14,26)
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euch alles lehren und wird euch alles in Erinnerung rufen, was ich euch sagte« (Joh 14,26). Das lit&ianlv ist schon in der Septuaginta ein umfassender Bildungsvorgang, der nur wenig mit unserem theoretisierenden Verständnis von Lehre zu tun hat. Lehren heisst eigentlich, jemanden auf das Wesentliche aufmerksam machen, jemanden in die Lebenswahrheiten einftihren. 31 So lehrt etwa der Blinde in Joh 9,34, indem er die Gegner auf die Gottessohnschaft Jesu hinweist. Lehren bedeutet dort, die Wahrheit der Dinge aufdecken. Dies alles tut der Paraklet in umfassender Weise: er lehrt sie mvm, alles, seine Einführung in die Lebenswahrheit bedarf keiner Ergänzung. Und er löst seine Aufgabe so, dass er den Zurückgebliebenen alles in Erinnerung ruft, was ihnen Jesus gesagt hatte. Der Paraklet hat allerdings nicht bloss die Aufgabe, sie daran zu erinnern, wie alles gewesen war. Der Paraklet ist kein weltlicher Protokollant. Welcher Art die Erinnerung des Parakleten ist, können wir am Johannesevangelium selbst erkennen. Es beschreibt seinem Selbstverständnis nach - entschieden die irdische Wirklichkeit des Jesus von Nazareth, aber es sieht zugleich eine &Qx in den Fleischgewordenen hinein, eine Würde, vergleichbar jener Würde, die ein Einziggeborener bei seinem Vater hat. 32 Die Erinnerung des Parakleten bedeutet keine Reduktion auf das, was weltlich zur Darstellung kam, sondern es ist die durch die Ostererfahrung bereicherte Erinnerung daran, welche &Qx diesem Menschen zukommt, der vor aller Augen ist. Es ist eine Erinnerung, die in das, was vor aller Augen ist, etwas hineinsieht, was nicht allen Augen sichtbar ist, sondern nur dem erschwinglich, der gelehrt wurde, mit den Augen des Vaters zu sehen. Man könnte also sagen, der Paraklet sei die Gestalt gewordene österliche Erinnerung an den Menschen Jesus. Damit ist zugleich etwas gesagt über die Gestalt, die die Erinnerung an Jesus als solche hat: sie ist ein naJXidTttoc;. 33 Dies kann Tröster bedeuten. Des Trostes bedarf, wer sich selbst überlassen ist. Des Trostes bedarf, wer durch den Abbruch wichtiger Beziehungen in Haltlosigkeit zu versinken droht. Ein Tröster ist jemand, der angesichts abgebrochener Lebensbeziehungen auf das Tragende aufmerksam macht. Der napadTttoc; kann auch ein Fürspre-
Vgl Rengstorf. An. Wc!GICII n1.. in: ThWNT II 140,8-20. n Dazu 1.14b und Buhmann. Johannes 44: »Es ist ein Bekenntnis derer. die. den Anstoss überwindend. im Menschen Jesus die göttliche Herrlichkeit wahrgenommen haben.« 11 Zum Folgenden vgl Becker. Johannes II 471f. der sich für die Bedeutung Beistand entscheidet. 11
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eher sein, ein Anwalt. Eines Fürsprechers bedarf, wer beim Urteil für zu leicht befunden zu werden droht. In diesem Sinne verstanden ist die Erinnerung gleichsam der Anwalt des Christus bei den Menschen. 34 Der Fürsprecher, der das Gewicht des Christus in Erinnerung ruft. Man könnte auch sagen: der Fürsprecher, der die Menschen dessen inne werden lässt, was sie als Christus vor ihren Augen hatten. Evangelische Erinnerung konzentriert sich darauf, angesichts der Haltlosigkeit auf das Tragende, angesichts der Banalisierung auf das Gewichtige hinzuweisen. Der Paraklet wiederholt, was Jesus verkörpert hatte, heisst es doch von ihm ausdrücklich, ein »anderer Paraklet« werde nach dem Abschied Jesu gesandt. Daraus ergibt sich, dass schon Jesus als Paraklet in den Blick genommen wird. In der Erinnerung wird klar, dass es Sache Jesu gewesen war, auf das Tragende aufmerksam zu machen, darauf aufmerksam zu machen, dass Gott nicht zu leicht genommen werden darf. Eben in dieser fürsprechenden Gestalt wird er durch den Parakleten in Erinnerung gerufen, und zwar genau dadurch, dass der Paraklet seinerseits auf das Tragende aufmerksam macht und auf das Gewicht Gottes und der Welt hinweist. Interessant an dieser Figur ist schliesslich, dass sie so etwas wie ein Symbol darstellt ftir die Kraft, die der erinnerte Christus selbst hat. Der Paraklet steht genau dafür, dass Erinnerung nicht bloss die menschliche Fähigkeit ist, sich Dinge wieder ins Bewusstsein zu rufen. Gerade anhand des Parakleten wird klar, dass der Mensch auf die Dynamik des Stoffes angewiesen ist, des Stoffes, der sich selbst in Erinnerung zu halten vermag. Dieses Phänomen erfahren wir insbesondere via negationis in der Gestalt von Bildern, die uns nicht mehr loslassen. Der Paraklet stellt gleichsam die kreative Gegenseite dieser Erfahrung dar: er erinnert an die Mächtigkeit der Stoffe, die sich dem Menschen einprägen und die sich so leicht nicht vergessen lassen. Damit wird der Paraklet zum Inbegriff evangelischer Erinnerung. Der Furcht, alles und jedes sei dem menschlichen Erinnerungsvermögen anheimgestellt, begegnet er mit dem Hinweis darauf, dass sich der Christus immer wieder selbst in Erinnerung ruft.
J 4 So auch Becker. Johannes 11472: »Aber der Geist-Paraklet ist nicht Fürsprecher vor Gott wie der Erhöhte JJoh 2.1 und sinngernäss 14.14, sondern vor allem als Stellvenreter des nun Erhöhten bei den Jüngern verstanden.«
Schluss
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Schluss Müsste ich das charakteristische MerkmaJ der Erinnerung nennen, wie sie im Urchristentum vollzogen wurde, so würde ich sagen, siebeziehe sich wesentlich auf einen Augenblick im Vordergrund der Welt. In allen Prozessen des Erinnerns ginges-wie wir beobachtet habendarum, jenes geschichtlichen Augenblicks inne zu werden, in welchem Jesus von Nazareth in den Dörfern und Städten Galiläas und in Jerusalem auftrat. Genauer: des Gewichtes inne zu werden, das jener Augenblick hatte. Der Erinnerung im Urchristentum geht es wesentlich darum, jenen geschichtlichen Augenblick im Vordergrund der Welt unendlich wichtig zu nehmen und seiner Bedeutung bis in die tiefsten Hintergrunde des Geistes nachzudenken. Vornehmstes Objekt der Erinnerung ist also das Geschehen im Vordergrund. Dieses Charakteristikum wird umso plastischer, wenn man etwa das platonische Konzept von dv. von Paulus jedoch auf charakteristische Weise verwendet. ~Zum Verhältnis von V. 18 und V. 19-27 vgl von der Osten-Sacken. Römer 8. 139-142. ~Die nachalttestamentlich-apokalyptische Theologie ist überhaupt der traditionsgeschichtliche Hintergrund der Verse 19-22. mit Paulsen. Überlieferung 112-119.
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lyptischen Katastrophe völlig verwandelt wird, sie wartet nur sehnsüchtig darauf, dass die Menschen endlich zu ihrer Wahrheit finden, dass aus den Feinden Gottes Söhne Gottes 7 werden. Offenbar leidet die SchöpfungK weniger an sich selbst als unter den Menschen. Dies wird im nächsten Satz begründet: »Denn der Nichtigkeit ist die Schöpfung unterworfen worden, nicht freiwillig, sondern um dessen willen, der (sie) unterworfen hat, - auf Hoffnung hin« (8,20). Die Schöpfung hat den Weg in ihre Nichtigkeit nicht freiwillig gewählt, diese Freiheit hätte sie auch gar nicht. Die Welt wurde der Nichtigkeit unterworfen, weil Adam es vorgezogen hatte, seine Freiheit gegen den Schöpfer zu verwenden. 9 Adam riss die ganze Welt in die Vergeblichkeit hinein; deshalb wartet sie jetzt auf die Rückkehr Adams zu seiner Wahrheit. Der Gedanke, dass Adams Fall die ganze Welt in die Tiefe gerissen hat, kommt auch in der zeitgenössischen Apokalyptik vor: »Als aber Adam meine Gebote übertrat, wurde das Geschaffene gerichtet: Da wurden die Zugänge in dieser Welt eng, leidvoll und beschwerlich, wenig und böse, voll von Gefahren und mit grossen Nöten behaftet« (4Esr 7, II b.l2). Wie bei Paulus wird hier ein Zusammenhang hergestellt zwischen dem gegenwärtigen Zustand der Welt und der Sünde Adams. Weil Adam unter Freiheit die Übertretung des Gebotenen verstanden und sich statt als Geschöpf Gottes als dessen Feind gebärdet hatte, wurde die Welt in Bedrängnis gebracht - unfreiwillig 10, wie Paulus ausdrücklich festhält Solches ist mythologisch gedacht; es ist uns nicht mehr ohne weiteres zugänglich. Und dennoch hat es uns manches zu sagen, wenn wir uns der Mühe des Verstehens unterziehen.
7 Es mag sein. dass Paulus hier unwillkürlich an die Christen denkt (so Wilckens. Römer. 152). Dennoch liegt hier der Ton nicht auf den Christen. sondern auf den Söhnen Gottes. auf denen also. die ihr Arbeitsverhältnis zu Gott überwunden haben, weil sie durch die Adoption (vgl Röm 8,15) das Lebensverhältnis der Kinder Gottes gefunden haben. MGemäss dem exegetischen Konsens ist hier bei ~ primär an die aussermenschliche Kreatur zu denken. auch wenn der Naturbegriff nicht »SO selbstverständlich angewandt werden (sollte), wie das der Modeme naheliegt•: so Käsemann, An die Römer 224. 9 Die Aussage ist unklar, namentlich im Blick auf die Frage, wer der Unterwerfende sei. Aus dem Zusammenhang der paulinischen Theologie und im Kontext der apokalyptischen Vorstellungen von Adams Fall legt sich meines Erachtens die Annahme am nächsten. Adam habe durch seine Sünde verursacht. dass Gott die Schöpfung der Nichtigkeit unterworfen habe: zum Problem vgl Wilckens. Römer 154 (Anm 7). 10 Damit wird ausdrücklich festgehalten. dass von schuldhaftem Vergehen nur im Blick auf den Menschen. nicht aber im Blick auf die Konstitution der Schöpfung geredet werden kann. Zum Problem vgl Schlier. Der Römerbrief. 261.
2 Sensibilität für die leidende Kreatur
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Paulus gibt selbst wichtige Hinweise zum Verständnis jenes mythologischen Gedankens. Zunächst ist im mythologischen Gewand die Ahnung aufbewahrt, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen menschlicher Verfehlung und dem Leiden der Kreatur. Diesen Zusammenhang bekommt wohl erst unsere Generation in den Blick, da erst jetzt die anthropogene Zerstörung der Welt in die Reichweite praktischer Verwirklichung gekommen ist. Wenn wir einmal davon absehen, dass die Schöpfung viel mehr umfasst als unseren Planeten, dann haben wir in der Tat eine Anschauung von der Zerstörung der Welt durch Adams Habgier. 11 Wir verstehen den Mythos vom urzeitliehen Sündenfall Adams, durch welchen die ganze Schöpfung in Mitleidenschaft gezogen wurde, nicht mehr im Sinne eines metaphysischen Automatismus, der den Zustand der jetzigen Welt erklärt. Dennoch enthält der Mythos eine bemerkenswerte Wahrnehmung. Offenbar ist mit dem Menschen ein Geschöpf in der Welt aufgetreten, das mit einer zwiespältigen Freiheit bedacht worden ist: dieses Geschöpf lebt nicht mehr in der Geborgenheit gesetzter Lebensbedingungen, und es lebt noch nicht in der Freiheit derer, die als Söhne Gottes ihr Dasein gestalten. Deshalb kommt es vor, dass der Mensch mit der Freiheit der Gottessöhne verwechselt, was in Wahrheit Zerstörerische Grenzüberschreitung ist. Dieses Geschöpf ist nicht mehr selbstverständlich eingeordnet in die Natur, und es ist noch nicht verwandelt in das Ebenbild des Schöpfers. Deshalb kommt es vor, dass der Mensch - verliebt in sein eigenes Bild - die Ordnung des Lebens mit Füssen tritt. Weiter: Paulus spricht von der Nichtigkeit (p.amlO't'1l;). der die Schöpfung seit Adam unterworfen ist. Zur Nichtigkeit vergleichen wir den folgenden Satz aus Röm 1,21: »Denn obwohl sie Gott erkannten, haben sie ihn nicht wie einen Gott gewürdigt noch ihm Dank gesagt, sondern wurden nichtig gemacht durch ihre Überlegungen, und ihr einsichtsloses Herz wurde verfinstert.« Die Rede ist hier davon, dass alle
11 Nicht dass unsere Habgier grössere Ausmasse erreicht häne! Die Handgreiflichkeit der zerstörensehen Kräfte der Sünde entstand nicht durch Steigerung. sondern lediglich dadurch. dass die technologischen Möglichkeiten der »Ausbeutung• der Weh exponentiell anwuchsen und dass die Menschheit zahlenmässig gewaltig zugenommen hat. Prinzipiell sind die zerstörensehen Kräfte jedoch dasselbe wie Adams Sucht nach der Steigerung des Lebens durch den Konsum aller (auch der verbotenen) Früchte des Ganens.
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Menschen Gott erkennen können aus den Werken der Schöpfung. 12 Doch ihre Erkenntnis hat keine Folgen: sie geben Gott nicht das Gewicht, die ~a, die ihm zustünde, sie geben ihm nicht den Dank, der ihm angemessen wäre. Eben dadurch werden sie selbst nichtig gemacht. Die Banalität der ungewürdigten Werke der Schöpfung und die Leere der nicht verdankten Gaben Gottes greifen auf die Menschen selbst über. Wer von Banalem umgeben ist, wird selbst zur Banalität. Und vom Menschen ausgehend verbreitet sich die Nichtigkeit in der ganzen Schöpfung, die - zum blossen Material entleert - nichts mehr bedeutet. Durch die Banalisierung der Welt wird der Mensch selber banal. Man kann diesen Gedanken ruhig etwas weiter denken: je banaler sich die Menschen vorkommen, desto mehr Material brauchen sie, um sich von ihrer Banalität zu distanzieren. und desto tiefer wird die Welt unter das Verderben versklavt. In diesem Zusammenhang können wir vielleicht verstehen. was Paulus in 8,21 sagt: »Denn auch die Schöpfung selbst wird befreit werden von der Versklavung des Verderbens zur Freiheit der Würde (&Ql), die die Kinder Gottes haben (oder: die ihr die Kinder Gottes zugestehen).«!.' Die Schöpfung ist unter das Verderben versklavt, weil sie durch Adams Versuch, mehr aus sich selbst zu machen als ein Geschöpf, verbraucht, verzehrt, vernichtet wird. Sie wird befreit werden zur Freiheit einer Würde, die ihr dann zugestanden wird, wenn Adam nicht mehr für seine Würde zu kämpfen hat. Weil Paulus solche weiten Zusammenhänge sieht, sieht er auch in der gegenwärtigen Unterwerfung der Schöpfung Hoffnung. 14 Es besteht Hoffnung. dass die Menschen herausgeführt werden aus der Verkehrung zur Wahrheit der
1 ~ Genauer heisst es im vorliegenden Kontext. dass alle Menschen die Macht und die Gonheil Gones erkennen könnten. wenn sie in ihrer Vemunfl bedächten. wessen Werke sie vor sich haben. Hier geht es nicht einfach um eine natürliche (und insofern selbstverständliche) Theologie. wohl aber um eine Theologie. welche die Gegebenheiten der Natur und der Menschenweh in ihrem wahren Gewicht erkennt: vgl Käsemann. An die Römer 35-40. 11 Die Ausdrücke .. versklavung des Verderbens« und »Freiheit der Würde« sind parallel zu verstehen. wobei die Genetive als genetivi epexegetici angesehen werden können: mit Wilckens. Römer 155 Anm 676: die Versklavung hat konkret die Gestall des Verderbens. das der Mensch über die Weh bringt. und die Freiheit hat konkret die Gestall der Würde. die entweder der Mensch hat (genetivus subiectivus) oder die vom Menschen ausgehl an die Weh (genetivus auctoris). Die Parallelität der beiden Ausdrücke spricht meines Erachtens eher für den genetivus auctoris. 1 ~ Die Schöpfung ist zwar unterworfen. jedoch nicht ohne die Aussicht auf Befreiung. mit Schlier. Der Römerbrief. 261 f.
3 In der Gesellschaft der Weltbilder
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Kinder Gottes, aus der Versklavung unter ihre eigene Würde zu der Würde, die ihnen als Kinder Gottes zugestanden ist. Besteht diese Hoffnung? Paulus leitet sie freilich nicht daraus ab, dass es sie einfach geben muss, wenn die Welt nicht zugrunde gehen soll. Aus dem Seufzen der Kreatur leitet Paulus keine soleriologischen Ansprüche an die Menschen ab. Hoffnung besteht nicht etwa deshalb, weil der Mensch noch handlungsfahig genug ist, um die Probleme in den Griff zu bekommen. Hoffnung besteht vielmehr, weil es in der Welt die Erfahrung der Kreativität gibt- ein paar Verse später wird sie genannt werden: moe~. Geist. Paulus erfuhr diese Kreativität Gottes an seinem eigenen Leibe, als er auf dem Gesicht des gekreuzigten Christus Gottes Glanz zu sehen bekam (2Kor 4,6). Er erfuhr die Kreativität Gottes am eigenen Leibe, als aus dem alten Leben in der Selbstrechtfertigung das neue Geschöpf des Gerechtfertigten wurde (2Kor 5,17). Nach Paulus ist es derselben Kreativität zu verdanken, dass das Universum ins Sein gerufen wurde (Röm 4,17). Die Erfahrung dieser Kreativität bringt ihn dazu, die Leiden der Gegenwart in äusserst gewagter Weise als sehnsüchtiges Warten der Schöpfung zu verstehen. Die Kreativität gibt Anlass dazu, auch in der Unterwerfung unter die Nichtigkeit ein hoffnungsvolles Geschehen zu sehen. Und diese Sichtweise lässt Sensibilität für den Zusammenklang des Seufzens und Stöhnens der Welt entstehen, Sensibilität dafür, dass der »Chor der Tiefe ... das Weltall (erfüllt)« 1s. Denn die Tatsache, dass es Kreativität gibt, verspricht, dass die ganze Welt aus ihrem Seufzen und Stöhnen befreit werden wird zu einer Freiheit, die dann entsteht, wenn Würdigung an die Stelle der Vernichtung getreten ist -eben dann, wenn aus den auf sich selbst beschränkten Menschen die Kinder Gottes geworden sind.
3 In der Gesellschaft der Weltbilder Halten wir hier für einen Augenblick inne, um uns die Eigenart der paulinischen Sicht der Welt im Zusammenhang damaliger Weltbilder zu vergegenwärtigen. Neben Paulus gab es die jüdische Apokalyptik 16,
1~
Käsemann. An die Römer 228. hVgl Müller. Apokalyptik 202-251 und Vielhauer. Apokalyptik. 413: »Dieser eschatologische Dualismus der zwei Äonen ist das wesentlichste inhaltliche Merkmal der Apokalyptik: 1
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die ein dezidiertes Weltbild entwickelt hatte. Es ist gekennzeichnet durch die Erfahrung der Negativität des gegenwärtigen Äons. Für die jetzige Weltzeit besteht keine Hoffnung ausser der, in einer apokalyptischen Katastrophe vernichtet zu werden, damit eine ganz neue Schöpfung an ihre Stelle treten kann. Die wahre Welt ist von der wirklichen Welt durch einen apokalyptischen Zusammenbruch geschieden. Die Erfahrung gegenwärtiger Negativität führte in der Apokalyptik zum Entwurf einer Gegenwelt, die am Ende der Zeit Wirklichkeit werden wird. Diese Weltzeit ist der Warteraum der Zukunft geworden, der Warteraum für die, die sich durch unbeirrtes Tun des Gesetzes hinüberretten in die wahre Welt der Gerechtigkeit. Die gegenwärtige Welt ist eine Wildnis, deren endgültige Vernichtung die grösste Hoffnung des Apokalyptikers ist. Paulus teilt mit dem apokalyptischen Weltbild manches. Doch er unterscheidet sich mindestens in dem einen Punkt von ihr, dass auch die Gegenwart nicht auf die Erfahrung sinnloser Negativität festgelegt ist, sondern dass gerade die gegenwärtige Welt geprägt ist von der Erfahrung göttlicher Kreativität. Deshalb hört er im Chor der Tiefe die Stimme der Hoffnung, deshalb sieht er in den Leiden der Gegenwart das sehnsüchtige Warten auf die Offenbarung der Söhne Gottes. Neben Paulus gab es auch die Philosophie der Stoa, die sich intensiv mit den Leiden der Gegenwart befasste. Wer die Welt als »das lebendige Erzeugnis einer zwecktätigen göttlichen Vernunft betrachtete und in dieser ihren einzigen Erklärungsgrund fand, musste .. . auch die Zweckmässigkeit, Güte und Vollkommenheit dieses Universums behaupten«17. Selbstverständlich verstellte dies nicht den Blick für das Übel, unter dem Mensch und Welt zu leiden haben. Die Frage entstand, wie dies dem Weltbild der Vollkommenheit einzufügen sei.'" Einerseits wurde die Lösung vorgetragen, die Widrigkeiten der Welt würden erst schädlich durch den falschen Gebrauch, den der Mensch von ihnen mache. Andererseits wurden die Leiden der Kreatur eingeordnet in den grossen Zusammenhang universaler Notwendigkeit, sei es als Strafe der Vorsehung, die auf die Besserung der Menschen zielt, sei es als willkommener Anlass zur Ausbildung der Kräfte im Menschen, die solche Widrigkeiten überwinden können. Interessant an diesem Lösungsver-
... Erst muss das Alte völlig verschwinden. bevor das Neue ... sich etablieren kann .... Die Jenseitigkeil des kommenden Äons schliesst eine radikale Abwenung dieses Äons ... in sich.« 17 Windelband. Geschichte der Philosophie 166 (Hervorhebung gespern). IR Zum Folgenden vgl Windelband. Geschichte der Philosophie 167.
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such, der ja bis auf den heutigen Tag aktuell ist, scheint mir zu sein, dass aus dem Chor der Tiefe eine Symphonie himmlischer Harmonie wird, sobald man genügend weit von den Dingen entfernt ist. Je höher der Betrachter steigt, desto reiner erkennt er die Harmonie, auf die das Ganze letztlich gestimmt ist. Die Widrigkeiten der Welt gleichen Dickichten, die dem Betrachter aus der Nähe sinnlos erscheinen mögen, die jedoch ein schönes Muster in der Landschaft ergeben, sobald aus grosser Höhe auf sie hinuntergeblickt wird. Paulus teilt auch mit der Stoa vieles. insbesondere den Gedanken, dass alles Geschaffene aus dem einen Gott herkommt und auf diesen hin existien. 1Y Dennoch vermag er im Seufzen der konkreten Kreatur keine himmlische Harmonie zu vernehmen. Die Erklärung. der Pessimismus des Apokalyptikers habe ihn davon abgehalten, greift meines Erachtens zu kurz. Vielmehr muss Paulus auf ganz andere Weise als ein Stoiker in der Nähe des Einzelphänomens festgehalten worden sein, am ehesten wohl deshalb, weil er einem Zufall, Christus, sein Leben neu verdankte. Schliesslich begegnet uns in manchen gnostischen Texten eine elegante Lösung unseres Problems. 20 Die gesamte geschaffene Welt wird auf den Demiurgen zurückgeführt, den Schöpfergott, dessen Werk weil es Materie ist - prinzipiell mangelhaft ist. Der Demiurg ist Gegenspieler des guten Gottes, dessen Wesen das Pneuma ist. Des Demiurgen Schöpfungswerk war es, die Funken des guten Geistes in die Materie zu bannen; so entstand der Mensch, im Kern Geist, der in die körperliche Materie eingesperrt ist. Hier bildet sich eine völlige Diastase zwischen der geistlosen Welt und dem weltlosen Geist. Die Schöpfung kann nicht auf Befreiung hoffen; ihre Leiden sind nicht sehnsüchtiges Wanen auf Vollendung, sondern Indiz für die Unfähigkeit des Demiurgen. Nicht zufällig strich Markion die Verse 19-22 aus seiner Version des Römerbriefes.21 Die Welt erscheint hier als eine Wüste, die mit beinahe unüberwindlichen Mauem umgeben ist, um den Geist gefangen zu halten. Während also die gegenwärtige Welt dem Apokalyptiker zur heillosen Wildnis gerät, während sie dem Philosophen von hoher Wane aus
1 ~ Vgl I Kor M.6 und Conzelmann. I Kor 171 f. der 'owohl auf den .. stoischen Pantheismus .. im Hintergrund hinweist al\ auch auf die chrio,tologische Fundamentierung des \loischen Bckenntni"e' durch Paulu,. ~"Zum Ganzen vgl Rudolph. Gno'i' 76-131 IZu,amrnenhang der dualisti..chen Kosmologie mll einer ento.prechenden Anthropologie). ! 1 Hamack. Mareion 60.10M*.
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betrachtet eine harmonische Landschaft wird, während sie der Gnostiker zum eingemauerten Stück Wüste erklärt, könnte man im Blick auf Paulus vielleicht sagen, die Welt sei in seinen Augen ein »Verwilderter Garten«.22 Die Metapher des verwilderten Gartens mag dazu anleiten, in dem, was in der Welt Leben gewährt, eine Erinnerung an den schöpferischen Gott zu erkennen, und zugleich Augen zu haben ftir die lebensfeindliche Verwilderung, die die Kreatur auf mancherlei Weise bedrängt. Diese Metapher widersteht jeder Ökoideologie, welche zwar viel von den Schandtaten des Menschen zu erzählen weiss, jedoch kaum Augen hat für die Gebrochenheil der Welt, und nicht selten das Natürliche zum Inbegriff des Guten macht. Die Welt- ein verwilderter Garten. Durch diese Metapher wäre vielleicht verstehbar, warum Paulus auch den Chor der Tiefe als Indiz für kommende Vollendung versteht. Denn dessen Klage über die Verwilderung ist eine weltnahe Gestalt, für den geahnten Garten Dankbarkeit zu zeigen. Die radikale Lösung, die in gnostischen Texten getroffen wurde, macht dagegen auf die klare Alternative aufmerksam: angesichts des Zustands der Welt kann man entweder die Welt verabschieden, um an den Gott des Evangeliums zu glauben - so etwa Markion - , oder man kann Gott verabschieden, um die Welt denkerisch zu ertragen- so die Lösung nicht weniger Menschen der Neuzeit. Paulus war beides verwehrt: die Welt konnte er nicht verabschieden, weil selbst der Gottessohn den Weg zu ihr unter die Füsse genommen hatte, Gott mochte er nicht verabschieden, weil ihm selbst aus der kreuzesgestaltigen Tiefe der Welt das Licht göttlicher Kreativität leuchtete. Deshalb der verwilderte Garten, ein Weltbild, das der Sensibilität für das Leiden der Kreatur nicht im Wege steht und das dennoch den Ursprung der Kreatur in Erinnerung zu halten erlaubt.
~z Fuia in der schlechthinnigen Abhängigkeit vom konkreten Christusgeschehen und versetzt als solche den Menschen in die Lage, wo er auf das Konkrete und auch den konkreten Menschen geradezu angewiesen ist. Dieses Angewiesensein ist überhaupt erst die Voraussetzung, unter welcher es zu einer wahrhaftigen Toleranz kommen kann. Die unter solchen Bedingungen praktizierte Toleranz schützt sich wenigstens davor, sich selbst mit Gleichgültigkeit zu verwechseln. 2. Die als prinzipieller Standpunkt konzipierte Toleranz gerät notwendigerweise ins Zwielicht, weil sie eo ipso zu einer Begrenzung der Toleranzpraxis führen muss, die entweder gänzlich willkürlich ist oder bloss mit der Stabilisierung herrschender Verhältnisse legitimiert werden kann. Toleranz in Grenzen ist jedoch ein Unding, eine schlechte Maskerade gesellschaftlicher oder individueller Intoleranz. Versteht man dagegen Toleranz als selbstverständliche Auswirkung einer Freiheit, die für sich selbst nichts mehr zu unternehmen braucht, so kann diese Toleranz nur grenzenlos sein, was das Verhältnis zum andem angeht; sie kann jedoch überhaupt nicht sein, wenn der Grund der Freiheit auf dem Spiel steht. Toleranz hat zu geschehen im Rahmen einer Freiheit, die vor allem Freiheit zur Verletzbarkeil ist. Innerhalb dieser Rahmenbedingungen ist sowohl ihre Grenzenlosigkeit als auch ihre Abwesenheit gegeben. Anders gesagt: Die Toleranz erstreckt sich auch Jo Die enormen Errungenschaften. welche die Neuzeit in Sachen der Freiheit gebracht hat. sollen keinesfalls geleugnet werden, schon gar nicht im Namen eines Glaubens. der an der Freiheit vital interessien ist. Zu vergleichen ist Ebeling. Dogmatik 111 183f.
EJ..E~ia und Toleranz
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auf mutwillige Verbreiter von Unwahrheit, und zwar so, dass die Unwahrheit kompromisslos bekämpft und der Verbreiter ebenso kompromisslos geliebt wird. 3. Schliesslich gilt es zu beachten, dass die paulinische H•.EU'6q>ia sich nicht bloss als Toleranz, sondern vielmehr als Liebe auswirkt. Während die fürstliche Tugend der Toleranz es mehr oder weniger respektiert, dass es nun einmal Andersdenkende gibt und diese sich einen Existenzraum erkämpfen wollen, während also Toleranz der Versuch ist, mit der Unvermeidlichkeit derer umzugehen, die meine Freiheit beschränken könnten, ist es Sache der Liebe, dem andem, und gerade auch dem Andersdenkenden, einen Existenzraum zu erschaffen, noch bevor er sich diesen erkämpfen muss. Sache der Liebe ist es mithin, jener Unvermeidlichkeil zuvorzukommen, indem dem andem Existenzberechtigung zugestanden wird, noch bevor er sie geltend machen muss. Man sieht: Die anachronistische Konfrontation der alltäglichen Toleranzpraxis mit der paulinischen th'U'6q>ia ist unversehens zu einem Plädoyer für eine tolerantere Toleranz geworden, oder - wie man auch sagen könnte- zu einem Versuch, die fürstliche Tugend zu verwandeln in eine »friedensfürstliche«.
Gesetz und Sünde Gedanken zu einem qualitativen Sprung im Denken des Paulus Für Wolfgang Harnisch zum 12.Nov.l984
Das Verhältnis von Gesetz und Sünde zu bestimmen, könnte ein historisches Unternehmen sein. Wenn jedoch im Anschluss an Paulus über dieses Problem nachgedacht wird, kann es nicht beim historischen Unternehmen bleiben. Entgegen einem Trend der gegenwärtigen Forschung, Paulus bloss noch historisch wahrzunehmen, 1 will ich im Folgenden den Versuch machen, mich auch dem theologischen (und erst recht dem anthropologischen) Anspruch des paulinischen Denkens zu stellen.
0 Zur Einführung ins Thema Die folgenden Bemerkungen haben zum Ziel, den theologischen Ort des Themas »Gesetz und Sünde« anzugeben, den Ort also, den es im theologischen Denken einnimmt. Ferner werden einige Voraussetzungen für meine Behandlung des Themas genannt. 0.1 Der theologische Ort des Themas Man könnte das Verhältnis von Sünde und Gesetz so bestimmen, dass die Sünde durch das Gesetz definiert wird: Sünde ist Übertretung des Gesetzes. Dadurch wird Sünde auf den Aspekt der Untat reduziert. Sündigen meint ein bestimmtes, defizitäres Tun des Menschen. So wie er Stahl und Getreide produziert, produziert er auch Sünde. Diese Vorstellung von Sünde ist bloss die letzte Konsequenz aus der neuzeitli-
1 Das paulinische Gesetzesverständnis wird dann verhandelt unter dem Aspekt, ob der hi· storische Paulus das historische Judentum angemessen verstanden habe. In diese Richtung gehen eine ganze Reihe von neueren Arbeiten (einmal abgesehen von den jüdischen Autoren, bei denen eine solche Fragestellung sowieso zu erwanen ist). Als kennzeichnende Beispiele seien genannt: Sanders. Paul: Jervell. Der unbekannte Paulus: Räisänen, L.egalism: ders, Paul and the
Law.
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chen Anthropologie, wonach das menschliche Subjekt schlechthin alles seiner Produktivität zuschreibt: die Rekonstruktion der Welt, den vernünftigen Gottesgedanken, und nun eben auch die Sünde. In einer solchen Verhältnisbestimmung bleibt die Frage ausgeklammen, ob es eine tiefere Ebene des Sündigens gibt als die Untat. Man könnte andererseits in der Sünde ein unabwendbares Verhängnis sehen, das mit der physischen oder psychischen Verfassung des Menschen gegeben ist. An diesem Verhängnis änden auch das Gesetz nichts. Dann ist es nicht mehr möglich, die Haftbarkeit des Einzelnen zu denken. Es kommt zur Delegation der Sünde an überindividuelle Mächte, an Strukturen etwa oder an Interessengruppen. Begleitet wird diese Anschauung von der Übung des Anklagens ohne Selbstanklage, beziehungsweise der kollektiven Schuldzuweisung: In der Beteuerung, dass wir alle gleichermassen schuld sind an den gegenwänigen Zuständen, wird in undifferenzierter und beinahe lustvoller Weise die Ausweglosigkeit der Sünde in Erinnerung gehalten. Man könnte ferner das Verhältnis so bestimmen, dass die Sünde mit dem Gesetz (bzw mit dem ethisch richtigen Verhalten) gar nichts zu tun hat. Sünde ist dann nicht Übertretung des Gesetzes, sondern vielmehr eine innere Verkehrtheil des Menschen. Damit wird freilich der Tataspekt der Sünde preisgegeben. Sie wird zu einer dogmatisch falschen Gesinnung, die dann ohne Mühe ersetzt werden kann durch eine dogmatisch richtige. Das menschliche Tun kann dann nicht mehr unter dem Aspekt der Sünde verstanden werden; es gerät in jenen harmlosen Bereich, wo es nur noch um falsch oder richtig geht. Schliesslich kann man sich vorstellen, das Gesetz (bzw die Forderung ethisch richtigen Verhaltens) sei das Mittel zur Eindämmung der Sünde. Dann sieht man den richtigen Umgang mit dem Bösen darin, sich auf die Forderung des Guten (bzw auf das Verbot des Bösen) zu verlegen. Eine solche Forderung kann sich nur an das menschliche Ich richten. Ist dieses Ich wahrhaftig in der Lage, das Verbotene zu unterlassen und das Gebotene zu tun? Das hängt davon ab, wie weit die Macht der Sünde reicht. Würde die Macht der Sünde nicht bis ins menschliche Herz reichen, so wäre die Beseitigung des Bösen in der Tat eine gesetzlich zu organisierende Angelegenheit. Dann müsste sich die Kirche allerdings bestürzt fragen, was sie denn bisher erreicht habe als Verbesserungsanstalt des Menschen. Und sie stünde wohl schlecht da im Konkurrenzkampf der Organisatoren von neuen Verhältnissen,
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von gerechten Strukturen, von effektiven Appellen. Denn in Sachen des Gesetzes ist die Welt immer einen Schritt voraus. 0.2 Voraussetzungen zur Behandlung des Themas 0.2.1 Die Bestimmung des theologischen Orts machte deutlich, dass das Thema »Sünde und Gesetz« auf der Ebene der Lebensphänomene abzuhandeln ist. Der theologische Ort ist keineswegs der sogenannte jüdisch-christliche Dialog, in welchem die paulinische Kritik am Gesetz verhandelt wird unter dem Aspekt, wer nun theoretisch recht habe, das Judentum oder Paulus. So wird jüdisches und christliches Denken zu einer Ideologie gemacht, was sich schon daran zeigt, dass in der Behandlung des Themas sich mythologische Theoretisierung breit macht. 2 Die paulinische Kritik am Gesetz aber ist kein religionspolitischer Kleinkrieg, sondern in erster Linie Selbstkritik. Es geht primär um den Rückschritt unter das Gesetz, wie er in christlichen Gemeinden auf mancherlei Weise vollzogen wurde und bis heute wird. Diese Auseinandersetzung kann man sich nicht ersparen. Zwischen Christus und dem Gesetz besteht ein fundamentaler Gegensatz, der um der christlichen Selbstkritik willen in aller Schärfe erkannt zu werden verlangt. 0.2.2 Die genannte Gegensätzlichkeit von Christus und Gesetz zeigt sich am merkwürdigen Phänomen des qualitativen Sprunges, wie er zum Beispiel in Röm 5,12-21 mehrfach zu beobachten ist. Ich konzentriere mich deshalb darauf, einige Beobachtungen zu jenen Aussagen dieses Textes zu machen, die nicht mehr als quantitative Steigerung des Alten begriffen werden können, sondern als ein qualitativer Sprung zum Neuen betrachtet werden müssen. 0.2.3 Ich gehe weiter davon aus, dass im 4.Esrabuch die am weitesten fortgeschrittene Reflexion der Position vorliegt, die auf der Grundlage des Gesetzes möglich ist.J Auch wenn diese Schrift möglicherweise nicht repräsentativ ist für das Judentum, welches Paulus kannte, 4 ist es meines Erachtens nicht zu bestreiten, dass hier eine 2 Ganz unbelastet von wichtigen henneneutischen Einsichten des 20.Jahrhunderts wird etwa die Frage verhandelt. ob Paulus die Ersterwählung des Volkes Israel respektiert habe oder nicht (vgl dazu Sanders. Paul 207) beziehungsweise ob Israel oder die Kirche »Gottes Volk« sei. Zu den mythologischen Grundzügen des genannten Dialogs vgl Klein. »Christlicher Antijudaismus« 411-450. 3 Zu diesem Urteil vgl Steck. Überlegungen 312-315: Harnisch. Verhängnis 323-327. 4 So Räisänen. Legalism 68: .. Jt should be noted that IV Esra. the exception to the general rule. can hardly come in question as a representative of the Judaism known by Paul.« Auch
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Theologie des Gesetzes vorliegt, die im Reflexionsniveau überhaupt mit Paulus vergleichbar ist. Dieses Reflexionsniveau wird weder von den Qumrantexten noch von der rabbinischen Gesetzestheologie erreicht. Deshalb müssen die gesetzeskritischen Aussagen des Paulus gerade an dieser Schrift gemessen werden, will man es sich nicht zu einfach machen mit ihnen. Aus diesem Grunde werde ich die Position des 4.Esrabuches ständig in meine Überlegungen einbeziehen. Anzumerken ist, dass die Position des Verfassers nicht gleichmässig auf das Buch verteilt ist, sondern in den ersten Visionen durch den Engel Uriel, ab Visio 4 dann auch durch den Seher Esra ausgesprochen wird.s 0.2.4 Ich gehe schliesslich davon aus, dass Paulus den jüdischen Glauben seiner Zeit, seine tiefe Problematik ebenso wie seine grossen Schätze, gut kannte. Es gibt meines Erachtens kein brauchbares historisches Argument, ihm diese Kenntnis abzusprechen. Dass Paulus von Exegeten des zwanzigsten Jahrhunderts »ein Rigorist, ein Fanatiker« 6 genannt werden kann, oder dass ihm schlichte Unkenntnis des jüdischen Glaubens unterstellt wird, 7 ist sachlich unbegründet. Dazu kommt noch, dass es methodisch sehr fragwürdig ist, die paulinischen Aussagen zum Gesetz exegetisch zu falsifizieren mithilfe einer andem Sicht des Judentums (genauso fragwürdig ist es, jene Aussagen exegetisch zu verifizieren, was in der neutestamentlichen Wissenschaft nicht selten geschah). Die paulinische Gesetzeskritik deckt vielmehr ein Phänomen auf, das auf dem Boden des Gesetzes (sei es des jüdischen oder des christlichen) gar nicht einsichtig gemacht werden kann. Gemeint ist das Phänomen der Gesetzlichkeit, das im gegenwärtigen Judentum und Christentum ebenso vorkommt wie es im Pharisäismus und den frühen
wenn dies zutreffen sollte (vgl aber immerhin die in Anm 3 oben genannten Arbeiten und Da· vies. Paul 1-16). ist Räisänens Einschätzung dieser Schrift falsch. Sie kennt durchaus den ..covenantal nomism«. einen Nomismus. der nicht weniger gesetzlich ist als der »hard lega· lism« (zu diesem Ausdruck vgl Räisänen. Legalism 630. ~Vgl Brandenburger. Verborgenheit 148-154. 6 So Luz. Gesetz 99. Schwarz-Weiss-Malerei wird Paulus unterstellt von Sanders, Paul70. 7 So Räisänen. Legalism passim, zB 71.72.82f; ebenso die bei Räisänen (64--68) genannten Arbeiten von Schechter. Montefiore. Schoeps und Sanders. Dieses Urteil beruht - wie in jedem Falle leicht zu zeigen wäre - darauf. dass das eigentliche Problem des Gesetzes. das Paulus aufgreift. gar nicht zu Gesicht kommt. So wäre es Paulus nie eingefallen zu bestreiten. dass die Bundes»gnade« der Forderung des Gesetzes vorausgeht. Paulus wehrt sich ja gegen eine Vorstellung. die Gnade und Gesetz zusammenbindet (in seiner Sprache: Christus und das Gesetz). wie der Galaterbrief unzweifelhaft zeigt; vgl Lührmann. Galater 104-108 (Das Evangelium der Gegner ist eine ..christliche Theologie des Gesetzes«. Gegen diese wendet sich Paulus.)
I Beobachtungen zu Röm 5.12ff
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christlichen Gemeinden vorkam. In dem immer geläufiger werdenden Urteil, Paulus habe mit seiner Kritik den Gegenstand verfehlt, bringt man sich um die Einsichten, die jene Kritik in sich birgt. In diesem Urteil wirkt sich - wenn es nicht einfach kurzschlüssig ist - die latente Gesetzlichkeit der exegetischen Wissenschaft aus. Und man landet bei einem wohltemperiert gesetzlichen Paulus, der niemanden mehr ärgert aber auch niemandem mehr etwas gibt. Dies sollte meines Erachtens vermieden werden.
1 Beobachtungen zu Röm 5, 12ff Im Folgenden werde ich mich auf vier Beobachtungen beschränken, die - wie mir scheint - auf den qualitativen Sprung im Denken des Paulus hinweisen. 1.1 Die Allgemeinheit der Sünde (Röm 5, 12) Kennzeichnend für die Aussage von Röm 5,12 ist zunächst, dass Paulus zwei einander eigentlich widersprechende Feststellungen über die Sünde zusammenbringt: einerseits kam die Sünde durch das Sündigen Adams in die Welt (V. 12a-c), 8 andererseits wird die Universalität der Sünde begründet mit dem Sündigen aller Menschen (V. 12d).9 Einer ähnlichen Divergenz zwischen Verhängnis und Tat des Einzelnen begegnen wir im 4Esr, dort freilich verteilt auf zwei verschiedene Positionen: Der Einwände vortragende Esra neigt eher zum Verhängnisgedanken, während Uriel nur die Tat des Einzelnen als Sünde gelten lässt. Nach Esra sind die Menschen seit Adam mit einem bösen Herzen 111 ver-
"Der Einbruch der Sünde in die Welt bringt den Tod an die Macht. der nach V. 12c auf alle Menschen übergeht. Ganz gleichgültig woher diese Vorstellung religionsgeschichtlich kommen mag. legt sie den Gedanken des Verhängnisses nahe Cvgl Käsemann. An die Römer 134138). Der Verhängnisgedanke erscheint beispielsweise auch in äthHen 6-11; angedeutet in Sir 25.24; VitAd 34;44; ApkMos 10; eher als Ausnahme in rabbinischen Texten wie DtnR 9C206a) bei Bill. 111 221f und den bei Brandenburger. Adam und Christus 44 Anm 5 genannten Äusserungen; sodann in vielen gnostischen Texten (zusammengestellt bei Brandenburger. aaO 6467). Zum Ganzen vgl Brandenburger. aaO 20-21.42-45; Hübner. Gesetz 66f. ~ Dazu Wilckens. Römer I 316f. 1" So zB 4Esr 3.21. Die vorwurfsvolle Feststellung an die Adresse des Offenbarungsengels lautet: Gott hat das böse Herz nicht von den Menschen weggenommen. so dass die ständige Krankheit lpermanens infirmitas) entstand. welche auch das Gesetz nicht heilen konnte (3.20.22).
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sehen, das es ihnen unmöglich macht, ohne Sünde zu leben. 11 Diesen Verhängnisgedanken lehnt Uriel kategorisch ab: Im Unterschied zu Esra, der von der Bosheit des Herzens ausgeht, bezeichnet Uriel das Herz als den Ort, wo der Kampf gegen den bösen Trieb auszufechten ist. 12 Verliert der Mensch diesen Kampf, so erhält er ein cor malignum, gewinnt er ihn, so wird er ein iustus. Voraussetzung ftir den Kampf ist die Freiheit zu kämpfen, eine Freiheit, die Uriel dem Menschen ausdrücklich zubilligt.' J Die Aufteilung der Positionen im 4Esr ist recht aufschlussreich. Sie zeigt einerseits den Zusammenhang zwischen der Gesetzeskritik und dem Verhängnisgedanken: gerade weil Esra an der Tauglichkeit des Gesetzes zu verzweifeln droht, 14 kommt bei ihm das Verhängnis der Sünde in den Vordergrund. Andererseits existiert auch ein Zusammenhang zwischen der Aufrichtung des Gesetzes und dem Gedanken der Selbstverantwortung des Sünders: weil Uriel die Position der Heilsamkeil des Gesetzes vertritt, muss er die Sünde als Produkt des Menschen betrachten. Auf dem Boden des Gesetzes stellt sich mit Notwendigkeit die These ein, die Sünde sei ein Produkt individueller Unfahigkeit beziehungsweise individuellen Versagens. 1 ~ Insofern gilt, dass der Mensch ganz auf sich selbst festgelegt ist, auf das, was er aus sich macht. Diese beiden Beobachtungen scheinen mir für das Verständnis von Röm 5,12 wichtig zu sein. Paulus kann einerseits den Gedanken von der
Deshalb bedeutete der Sturz Adams unser aller Sturz (4Esr 7 .I I H). Vorstellung des Kampfes vgl 4Esr 7 .127f <der Sinn des Kampfes ist eben der. dass der Verlierer leiden muss. während der Sieger des Versprochenen teilhaftig wird): 14.34 Es ist der Schritt von der Natur zur Kultur. Und eben in diesem Schritt geschah es, dass die Sünde auflebte. In sozialpsychologischer Hinsicht könnte man sagen, dass Paulus hier die Sünde nicht etwa auf die Natur zurückführt. Vielmehr bringt er sie mit der Entstehung der Kultur in Zusammenhang. Die Sünde erscheint als soziokulturelles Phänomen. Zusammen mit der kulturellen Errungenschaft, dass der Mensch den Anspruch des Gegebenen als heiligen Anspruch wahrnimmt, entsteht das Verlangen, dieses Heilige mit Füssen zu treten. Vielleicht darf man ja die Entdeckung des Heiligen als den Punkt bezeichnen, wo der Mensch zum Menschen wurde. In dem Augenblick also, wo er als Mensch erschaffen wurde, entstand zugleich sein Verlangen, ein Übermensch zu sein, ein Verlangen, das ihn faktisch zum Unmenschen macht. Die Adamsgeschichte stellt dann einen Zusammenhang her zwischen dem Verlangen und der Vertreibung aus dem Paradies, beziehungs~Es ist sachlich falsch. dieses Totsein der Sünde unversehens in eine 'Latenz' zu verwandeln. gegen Käsemann. An die Römer 186. 6 Zu dieser Einordnung vgl Theissen. Aspekte 192f.
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weise der Sterblichkeit der Menschen. Paulus modelliert diesen Zusammenhang so: die Sünde lebte auf, ich aber starb. Die Sünde ist auf den Tod aus, nicht nur auf den biologischen subjektiven Tod, sondern auf das Tödliche, welches durch das besitzergreifende Verlangen verbreitet wird. Das Gebot, so fährt Paulus weiter, das mir zum Leben gegeben ist, habe ich erfahren als eines, das in den Tod führt. Eigentlich wäre das Gebot mir zum Leben gegeben. Ich aber nehme es als Beschränkung meines Lebensraums wahr. Deshalb verlange ich nach mehr Leben, indem ich das Unantastbare antaste. Eben dies bringt mir den Tod, weil es meinen Lebensraum zerstört, sei es, dass die Lebensgüter vernichtet werden, sei es, dass die Menschen entmenschlicht werden. Das ist der grosse Betrug der Sünde. Die Sünde fand im Gebot eine tragfähige Ausgangsbasis (V. II ). Sie betrog mich gerade durch das Gebot und tötete mich durch es. Die Sünde gaukelte mir vor, durch das Verlangen sei das Leben zu gewinnen. Die Libido erschien als Lebensmacht. Paulus benützt das Beispiel Adams, um diesen Betrug aufzudecken. Der libidinöse Drang nach Leben ist in Wahrheit tödlich. Gerade auch dann, wenn er sich des Guten bedient. Denn des Guten bedient die Libido sich, wenn sie es zum Mittel ihres Wunsches macht, wie Gott zu sein. Des Guten bedient sie sich, indem sie das Gesetz zum Instrument der Selbsterhebung des Täters macht. Zum Instrument des Täters, in jene Höhen aufzusteigen, in welchen er Gott vermutet. Deshalb gibt es eine heimliche Verwandtschaft zwischen denen, die angesichts des Gesetzes nach dem Freiraum fragen, und denen, die sich im Tun des Gesetzes ihren Freiraum erschaffen. In beiden Fällen bestimmt nicht der Wille Gottes das Leben. Im ersten Fall wird der Wille Gottes an die Grenzen verbannt, im zweiten Falle wird er zum Untergeschoss eines Turms, der bis in den Himmel reichen soll und in dem sich das Selbst des Menschen ein Denkmal schafft. Darin besteht also der Betrug der Sünde, dass sie sich auch den Willen Gottes noch unterwirft und dadurch den Menschen an den Tod ausliefert. Denn das einzige, was der Wille Gottes will, ist das Leben der Menschen. 1.3 Das ins Leben gerettete Gesetz In V. 12f zieht Paulus den Schluss aus seinen Überlegungen. Wenn das Verhältnis von Sünde und Gesetz so zu bestimmen ist, dass das Ge-
setz nicht selbst Sünde ist, sondern vielmehr dass die Sünde sich des
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Gesetzes bemächtigt, dann ist das Gesetz selbst auf die Seite Gottes hinübergerettet. Paulus geht es darum, das Gesetz vor seinem faktischen Gebrauch zu retten. Es geht ihm darum, es der Sünde zu entreissen. Denn es wäre unsinnig, dem göttlichen Anspruch einfach den Abschied zu geben. Paulus kann dies nicht. Das Gesetz ist heilig. Also ist mir nicht das Gute zum Tod geworden, sondern die Sünde. Dabei ist aber Entscheidendes zum Vorschein gekommen. Die Sünde selbst ist ans Tageslicht gekommen, sie ist demaskiert worden als die Triebkraft des Todes. Gerade das Kommen des Gebots hat sie aus ihrem Grab auferweckt. Denn da wurde klar, dass die Sünde sogar das Gute auszubeuten weiss, um es gegen die Menschen zu verwenden. Durch das Gute bewirkte sie mir den Tod. Man hat bisher die tödliche Macht dem Bösen zugeschrieben, der Übertretung des Gesetzes. Jetzt kommt ans Tageslicht, dass das Böse gerade auch das Gute beherrschen kann, das Gebot und das Halten des Gebots. Das war - bevor Paulus die Geschichte Adams mit den Augen des Christus ansah - eine unerschwingliche Erkenntnis. Soweit der Gedankengang von V. 7-13. Er lässt das Gesetz als Stimulus der Sünde erscheinen. 7 Das Gesetz droht ständig mit dem Tod. Tust du das Gute, so wirst du leben, tust du das Böse, so musst du sterben. Das Normative wird zur Todesdrohung. Willst du überleben, so musst du dich entsprechend verhalten. Das Gesetz fixiert die Menschen so sehr auf das Überleben, dass ihr Überlebensdrang sich gerade auch auf das Gebotene stürzt. Die Todesdrohung des Normativen schlägt um in die Todesverdrängung des Menschen. Das Normative löst Angst aus, die sich als titanisches Handeln seiner bemächtigt und dann ihre zerstörensehe Kraft voll ausspielt. Das ist ein fundamentaler Selbstwiderspruch des menschlichen Daseins: Aus der Lebensfrage nach dem Tun des Guten wird eine Überlebensfrage. Paulus weiss davon, dass das Gesetz auch den Christus tötete. Es brachte ihn ans Kreuz und definierte ihn als Verfluchten (Ga I 3,13 ). 8 Nun aber ist dem Paulus der Gekreuzigte in einer ganz neuen Lebendigkeit erschienen. Dabei ist ihm aufgegangen: Es gibt etwas, das stärker ist als das Strafende. Es gibt etwas, das lebensträchtiger ist als die Todesdrohung. Es ist die Kreativität Gottes selbst, die ihre Wirklichkeit nicht irgendwelchen Helfershelfern verdankt, sondern die selbst ein1 Dazu Theissen. Aspekte 224-230. der hier allerdings etwas stark psychologisiert. MDazu Weder. Kreuz 186-193.
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bricht in die Welt des Todes. Weil Paulus diese Einsicht gewährt wurde, konnte er die Sünde demaskieren. Und weil er die Sünde zu demaskieren vermochte, konnte er das Gesetz auf die Seite Gottes retten. Jetzt stellt das Gesetz nicht mehr die Überlebensfrage, jetzt ist es eine (aber nur eine!) Antwort auf die Frage, wie Menschen zusammenleben sollen. Das Gesetz unterliegt nicht mehr dem Bestehenkönnen, es dient jetzt der Regelung beständiger Lebensbeziehungen. Damit ist das Gesetz, das Normative, ins Leben hinübergerettet.
2 Der Widerstreit der Gesetze (7,14-23) Den zweiten, beschreibenden Teil beginnt Paulus wiederum mit einer These: »Wir wissen nämlich, dass das Gesetz geistlich ist, ich aber bin fleischlich, verkauft unter die Sünde« (V. 14). Wenn das Gesetz wahrgenommen wird als der Anspruch, den Gott mit dem gegebenen Leben selbst stellt, gehört es auf die Seite des Lebens. Das Normative ist nur lebensbejahend, wenn es nicht vom Überleben aufgefressen wird. Das Ich dagegen ist verkauft unter die Sünde, allerdings nicht etwa deshalb, weil es zur niederen Materialität gehört, verkauft ist es gerade auch in seinen höchsten kulturellen Anstrengungen. Es ist insofern »fleischlich«, als es ein bestimmtes Verhältnis zum »Fleisch«, zur geschöpfliehen Welt, hat: es verfällt dem Bereich der Welt, es ist beschränkt auf das Weltliche, indem es Gott aus der Welt schafft. Es schafft Gott aus der Welt, indem es sich selbst zu seinem Stellvertreter macht. Es schafft Gott aus der Welt, indem es sich selbst die Kreativität zuschreibt, die Gott hat. Ich bin allein in der Welt, sagt es, ich beschränke mich auf das Fleisch, alles andere wäre unbescheiden. Es wäre unbescheiden, mich und andere als Kreatur Gottes zu verstehen. Und so macht es auch seine Bescheidenheit noch zu einer Gebärde der Überhebung. So verkauft ist das Ich unter die Sünde. Freilich, das Ich kann solches nicht akzeptieren, gerade weil es auf das Weltliche beschränkt ist. Die Sünde, von der du sprichst, wird es zu Paulus sagen, ist ein Mythos. Zu mir gehören eben die Kräfte der Zerstörung, ohne sie könnte ich nicht leben. Darin eine Sünde zu sehen, ist nichts anderes als Repression. So weist das verkaufte Ich die Sünde von sich. ln dieser Situation kommt Paulus dem Ich zuhilfe, indem er Erfahrungen ausspricht, die eine Einsicht in den wahren Zustand des Men-
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sehen zulassen: »Denn was ich bewirke, erkenne ich nicht«(V. 15a). Es handelt sich hier um eine objektive Unkenntnis über mein Tun. Ich bin darauf aus, das Leben zu gewinnen, es andern zu ermöglichen, zu kämpfen für das Gute. Ich meine, dem Leben in die Hände zu arbeiten. Und dennoch bin ich in Wahrheit dabei, den Tod zu verbreiten. Denn auch ich arbeite mit an der Demontierung der tragenden Einsichten, ich arbeite mit an der menschlichen Emanzipation vom Göttlichen, ich arbeite mit an der Verbesserung der Schöpfung. Die objektive Unkenntnis über mein Wirken besteht darin, dass ich es im Namen des Lebens tue, und dabei den Tod verbreite. Die objektive Unkenntnis besteht darin, dass ich vom Wirken das Leben erwarte, für mich und andere, und dass ich mir dabei das gegebene Leben verwirke. Daraus folgt: die objektive Unkenntnis besteht eigentlich darin, dass ich Ethik und Ontologie verwechsle. Ich mache etwas aus dem Leben, statt es zu leben. 2.1 Der Widerspruch zwischen Einsicht und Verhalten An diese Erfahrung knüpft Paulus an (V. 15b-18). Er formuliert die Unkenntnis um und sagt jetzt: »Denn was ich will, dieses tue ich nicht, sondern was ich hasse, dieses tue ich« (V. 15B). Damit nimmt Paulus eine allgemeine Erfahrung auf: den Widerspruch zwischen Wollen und Vollbringen. So allgemein war diese Erfahrung, dass sie in der Antike zum Topos wurde. Das wichtigste Paradigma für den menschlichen Konflikt9 zwischen Einsicht und Handeln war die Medea. Medea, von Rachegefühlen überwältigt, tötet ihre eigenen Kinder. Bei Euripides ist es Medeas Leidenschaft, die jede Kraft der Einsicht wegfegt und das Böse ungehindert geschehen lässt. 10 Die Einsicht hat keine Macht, weil die Leidenschaft stärker ist. Auch die beste Einsicht kann deshalb nicht dazu führen, dass das Böse verhindert wird. Anhand dieses Paradigmas wurde eine für die Antike richtungsweisende Betrachtungsweise entwickelt: der Widerspruch zwischen der Einsicht in das Gute und dem Tun des Bösen wird erklärt mithilfe der Leidenschaft, die jede Einsicht auszuschalten vermag. Euripides hält am unüberwindlichen Zwiespalt fest, der mit der menschlichen Natur gegeben ist. Die Einsicht mag er den Menschen nicht absprechen (ganz im Unterschied etwa zu manchen modernen Politivzum Folgenden vgl Theissen. Aspekte 213-223. 10 Euripides. Medea I076-1080 (bei Theissen. Aspekte 214 mit falscher Stellenangabe).
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kern, die den Ursprung des Bösen im ungenügenden Bewusstsein suchen). Die Einsicht in das Gute nützt ihnen jedoch nichts, weil die Trägheit und die Lust viel stärker sind. Euripides trennen noch Welten von der modernen Propagierung des Lustprinzips. Statt in der Lust das Allerwehsheilmittel zu sehen, sieht er - wohl realistischer - darin den Ursprung mancher Verfehlung des Menschen gegen sich, gegen die Menschen und erst recht gegen die Schöpfung. Indessen gab es in der Antike eine Gegenthese. Nach ihr war das Fehlverhalten nicht affektiv zu deuten, sondern als ein kognitives Defizit.11 Es ist nicht verwunderlich, dass wir diese Deutung in der Tradition der sokratisch-platonischen und auch der stoischen Philosophie antreffen, einer Philosophie, die bekanntlich dem menschlichen Intellekt viel zuzutrauen bereit war. Während Euripides' Vorstellung eine pessimistische ist, können wir diese optimistisch nennen. Optimistisch ist sie darin, dass sie der Einsicht in das rechte Tun die Macht zutraut, es auch herbeizuführen. Sokrates behandelt das Problem des Ethischen als ein Problem der Einsicht. Unverkennbar ist die Verwandtschaft weiter Teile heutiger ethischer Arbeit mit dem Optimismus des Sokrales. Man konzentriert sich weitgehend auf die Einsicht in das Gute. Unermessliche Kräfte auch der theologischen Ethik werden gebunden durch die theoretische Definition des Guten. Zweifellos ist auch dies eine ethische Frage. Aber ethisch viel wichtiger wäre die Frage, wie es vom Wissen zum Tun des Guten komme. Wo ist Paulus im Feld der antiken Deutungen des Konflikts von Einsicht und Handeln anzusiedeln? Schon auf den ersten Blick wird klar, dass er den anthropologischen Optimismus eines Sokrates oder Epiktel nicht teilen kann. Paulus ist weit davon entfernt, das Böse bloss auf ein Defizit an Wissen zurückzuführen. Denn er interpretiert den Widerspruch zwischen Wollen und Tun gerade umgekehrt, als Indiz für das vorhandene Wissen: »Wenn ich aber das tue, was ich nicht will, stimme ich dem Gesetz zu, dass es gut sei« (V. 16). Der innere Konflikt, den jeder Mensch erfahren kann, ist also ein Indiz für die Einsicht, dass das Gesetz gut ist, für die Einsicht, da~;s der Anspruch Gottes, wie er im Gesetz als Forderung des Guten zur Sprache kommt, angemessen und vernünftig ist. Im Konflikt zwischen Wollen und Tun erfährt der Mensch gerade, dass ihm Einsicht ins Gute nicht fehlt.
11
Zum Beispiel Xenophon. Memorabilia Socratis 1119.4 (Theissen. Aspekte 216).
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Wieso aber, so würde Epiktel wohl fragen, geschieht dann das Böse trotzdem? Und Paulus würde antworten: Das Böse geschieht, weil eure Vorstellung von einem autonomen Selbst, von der Selbstbeherrschung, eine Illusion ist. Paulus würde Epiktel sagen: »Nun aber bin nicht mehr ich es, der es bewirkt, sondern die Sünde, die in mir wohnt« (V. 17). Die Sünde tritt an die Stelle des Ichs. Das bedeutet: das Ich ist restlos von der Sünde beherrscht. Der Tod des Ichs geschieht darin, dass die Sünde es dazu verleitet, ständig höher hinaus zu wollen, sei es in der Selbstverfehlung, sei es in der Selbstdarstellung. Das ist keine Erklärung des bösen Tuns, sondern bloss eine Deutung, eine Deutung überdies, die die totale Unbegreiflichkeil des Bösen niemals antastet. Im Unterschied zur affektiven Deutung des Konflikts verzichtet Paulus auch darauf, die Leidenschaften zur Erklärung des Bösen heranzuziehen. Das Böse hat seinen Ursprung in der unerklärlichen Tatsache, dass der Mensch sich so sehr von Gott distanziert, dass er - im Wahn der Selbstbeherrschung - unter die Herrschaft der Sünde fallt. Das ist auch in dieser Richtung eine Deutung, die auf jede Erklärung des Bösen verzichtet. Dass das Böse geschieht, ist Ausdruck einer elementaren Distanziertheil des Menschen, für die es zwar viele Gründe, aber keine Erklärung gibt. »Ich weiss nämlich, dass nicht in mir wohnt, das ist: in meinem Fleisch (d.h. in meiner menschlichen Konkretheit, so wie ich in der Welt und als Teil der Welt vorkomme), Gutes.« (V. 18a) Woher weiss ich das? Die Antwort folgt sogleich: »Denn das Wollen steht mir zur Verfügung, das Bewirken des Guten aber nicht.« (V. I Sb) Es ist zwar in meiner Hand, das Gute zu wollen, aber es ist nicht in meiner Hand, das Gute auch zu bewirken. Paulus formuliert damit die condition humaine. Ich kann wollen, eine gnädige Sprache zu sprechen, und es kommt immer wieder die bemächtigende, definitorische Sprache heraus. Ich kann wollen, die Dinge sein zu lassen, wie sie sind, und es kommt immer wieder zur Verformung und Vereinnahmung. Ich kann ein verlustfreies Leben wollen - man denke an den Wunsch nach einem perpetuum mobile - und muss erkennen, wie viel ich verbrauche. Zur condition humaine gehört es, dass das Gute im Wollen zuhause ist, nicht im Vollbringen. Zur condition humaine gehört offenbar auch die Verschleierung dieses Sachverhalts: Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Gerade auch in christlicher Verschleierung erscheint die anthropologische Selbstüberschätzung: Der neue Mensch wird weithin im Vollbringen
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gesucht, der neue Mensch ist der, der im Glauben eine geheime Motivationskraft hat, die ihn vom Wollen zum Vollbringen bewegt. 2.2 Widerstreit der Gesetzmässigkeiten Der zweite Überlegungsgang beginnt ebenfalls mit einem Satz, der an allgemeine Erfahrung erinnert: »Denn nicht, was ich will, tue ich, Gutes, sondern was ich nicht will, Böses, dieses tue ich« (V. 19). Jetzt wird der existentielle Konflikt zwischen Einsicht und Verhalten dargestellt als Konflikt zwischen dem Wollen des Guten und dem Tun des Bösen. Wieviel Gutes ist schon gewollt worden, und trotzdem ist Böses herausgekommen? Wieviele Menschen sind schon dem künftigen Guten, der eschatologischen Zukunft geopfert worden? Paulus gesteht dem Menschen das Wollen des Guten zu. Dieses Zugeständnis ist gegenwärtig nicht mehr selbstverständlich. Viele Kommunikationsvorgänge werden vergiftet, weil einer dem andem den Willen zum Bösen zuschreibt und sich dabei noch besonders pfiffig vorkommt, dessen wahre Interessen aufgedeckt zu haben. Vielleicht wäre es eine sinnvolle Ausgangslage des Zusammenlebens, einander das Wollen des Guten zuzugestehen und zugleich einander einzugestehen, dass auf beiden Seiten eine Diskrepanz zwischen dem Gewollten und dem Vollbrachten besteht. Will ich das Wollen des Guten zugestehen, dann bleibt mir nichts anderes übrig, als das geschehene Böse auf eine andere Weise zu würdigen. Bei Paulus sieht das so aus: »Wenn ich also tue, was ich nicht will, dann bewirke nicht mehr ich es, sondern die in mir wohnende Sünde«(V. 20). Das bedeutet: es wohnt in mir eine Macht, die den elementaren Konflikt zwischen dem guten Willen und dem bösen Wirken auslöst. Man kann nicht sagen, dies seien die Leidenschaften, die sogenannt niederen Triebe. Es wohnt in mir eine elementare Verkehrtheit, die schlechterdings nicht mehr erklärbar ist. Und diese elementare Verkehrtheil ist das handelnde Subjekt, es ist das verkehrte Subjekt selbst, der Mensch in seiner ganzen verkehrten Persönlichkeit. Paulus beschreibt diese elementare Verkehrtheil im folgenden Satz: ))Ich finde nun das (folgende) Gesetz vor, dass mir, der ich das Gute tun will, das Böse zur Hand ist« (V. 21 ). Paulus versteht hier unter dem Gesetz eine Art Gesetzmässigkeit, einen unausweichlichen Zwang, der vom gewollten Guten zum getanen Bösen führt. Wie diese Gesetzmässigkeit des Näheren aussieht, begründet er in den nächsten beiden Sät·
2 Der Widerstreit der Gesetze (7.14-23)
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zen: »Denn ich freue mich mit dem Gesetz Gottes, gernäss dem inneren Menschen« (V. 22). Sofern der innere Mensch massgebend ist, freut er sich am Gesetz Gottes. Der innere Mensch ist der Mensch, der gleichsam noch nicht zum Wirken gekommen ist. Dieser innere Mensch stimmt mit Freude dem Gesetz Gottes zu. Das Gesetz Gottes ist auch die Tora, es ist aber darüber hinaus der Anspruch, den das Gegebene an mich stellt. Es ist dem noch nicht tätigen Menschen kein Problem, den Anspruch des Gegebenen mit der Freude des Empfängers wahrzunehmen. Doch das ist nur die eine Seite der Sache. Paulus fährt weiter (V. 23): »Ich sehe aber ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, eines, das dem Gesetz meiner Vernunft (ständig) widerstreitet und das mich (ständig) gefangen nimmt durch das Gesetz der Sünde, das in meinen Gliedern wohnt.« Wenn wir diesen Satz mit dem vorhergehenden in Zusammenhang bringen, so stellen wir fest, dass er zur Interpretation des Ausdrucks »gemäss dem inneren Menschen« beiträgt. Was dort der innere Mensch war, wird jetzt erklärt durch den Ausdruck »Gesetz meiner Vernunft«. Die Vernunft ist bei Paulus die Instanz des Vernehmens (I Kor 14 ). Die Vernunft gehört zum inneren Menschen, und sie ist es, die ihn wahrnehmen, die ihn der Dinge innewerden lässt. Diese Deutung wird durch die übrigen Aussagen von V. 23 noch verfeinert. Da ist noch die Rede von einer anderen Gesetzmässigkeit, die in den Gliedern wohnt. Die Glieder sind offenbar der Widerpart des inneren Menschen. Sie sind die Werkzeuge, deren der Mensch bei seinem Tun bedarf. Während also der innere Mensch dem Anspruch Gottes freudig zustimmt, sieht Paulus einen anderen Anspruch wirksam in den Gliedern. Es ist der Anspruch zu agieren, sich zu äussern, sich zu betätigen in der Welt. Und dieser Anspruch widerstreitet der Gesetzmässigkeit meiner Vernunft, dem Anspruch meines Vernehmens. Der Widerstreit liegt eben darin, dass der Mensch in seiner Vernunft den Anspruch des Gegebenen wahrnimmt und dass er in seiner Verständigkeit und seinen Künsten zugleich sich das Gegebene zu unterwerfen versucht. Das Böse, das er in seinen Äusserungen tut, ist die Verunehrung, Vereinnahmung, Unterwerfung der Welt und der Menschen. Das Gute, das er in seinem Inneren weiss, ist die Wahrnehmung der Menschen und der Welt, die es verdienen würden, geehrt, sein gelassen, geliebt zu werden. Das Gesetz der Glieder ist das Gesetz des Könnens.
360
Der Mensch im Widerspruch
Paulus gelingt es, den Konflikt zwischen dem Wollen und dem Tun als einen elementaren Konflikt im ganzen Menschen zur Sprache zu bringen. Er beschreibt ihn nicht mehr als Konflikt zwischen allmächtiger Vernunft und niederen Leidenschaften, nicht mehr als Konflikt zwischen Wissen und Unkenntnis, auch nicht mehr als Konflikt zwischen den höheren und den niedereren Seiten im Menschen. All diese Modelle gehören zum zeitgenössischen Repertoire. Paulus beschreibt den Konflikt als Konflikt zwischen zwei Gesetzen: dem Gesetz des Yernehmens und dem Gesetz der Äusserung. Nomos ist kein natürliches, sondern ein kulturelles Phänomen. Mit dieser Beschreibung des elementaren Widerspruchs macht Paulus die Sünde zu einem kulturellen Phänomen. Man kann fortan nicht mehr sagen, dass die Sünde die Natur des Menschen sei, die in der Kultur beziehungsweise in der Zivilisation durch den Menschen überwunden werden kann, ein Gedanke, der die Kultur oder die Zivilisation als etwas von vomherein Gutes erscheinen lässt. Die Sünde erscheint bei Paulus als kulturelles Phänomen. Freilich liegt heute der Gedanke wohl wieder nahe, die Sache umzukehren und zu sagen: die Natur sei das Gute, die Kultur die Sünde. Auf den ersten Blick könnte Paulus einem solchen Urteil Vorschub leisten. Es gilt indessen zu beachten, dass Paulus von einem Konflikt spricht, der innerhalb der Kultur stattfindet. Die Situation des Menschen ist dadurch gekennzeichnet, dass in ihm zwei Gesetze im Streit liegen und ihn gefangen halten: das Gesetz des Vemehmens und das Gesetz des Agierens. Keine Rede also davon, dass die Rückkehr zur Natur die Abkehr von der Sünde wäre. Es gibt nichts anderes als den Widerstreit zweier Kulturen, der Kultur der Rezeptivität und der Kultur der Produktivität.
3 Die aussichtsreiche Klage Deshalb gibt es nichts anderes als die Klage: »Ich elender Mensch! Wer wird mich erretten aus diesem Todesleib« (V. 24)? Die Klage ist ein Ausdruck für das lnnewerden der eigenen VerlorenheiL Die Klage gibt einerseits die Situation des Menschen wieder und gehört andererseits zur Kultur der Rezeptivität. Es folgt eine Frage, die ganz von der Klage geprägt ist: Wer wird mich erretten aus dieser vom Tod gekenn-
3 Die aussichtsreiche Klage
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zeichneten Person? Die Frage fragt hinaus aus dem inneren Menschen. Sie fragt hinaus nach dem Rettenden. Sie ist aussichtsreich, weil sie nach dem von aussen kommenden Rettenden fragt. Und nur das von aussenkommende Rettende ist in der Lage, den Widerstreit der Gesetze im Menschen zum guten Ende zu führen. Denn nur das von aussen kommende Rettende rettet die Kultur des Vemehmens aus dem Gesetz des Handelns, rettet die Vernünftigkeit des Menschen. Man wird fragen dürfen, ob eine solche Klage und eine solche Frage nicht schon vom Rettenden möglich gemacht ist. 12 Gäbe es das Rettende nicht, könnte Paulus wohl nicht so fragen. Welche Instrumente habe ich, um meinen Widerspruch mit mir selbst zu überwinden? Was für Kräfte in mir kann ich mobilisieren, um aus meiner existentiellen Unklarheit herauszukommen? Was kann ich tun, um das Böse aus der Welt zu schaffen? Das sind Fragen, die vom Rettenden nicht berührt sind. Es sind keine aussichtsreichen Fragen, weil in ihnen die Sünde regiert. Die aussichtsreiche Frage des Paulus dagegen ist eigentlich von Christus evoziert. Deshalb folgt auch der Dank auf ihrem Fusse: »Dank aber sei Gott durch Jesus Christus, unseren Herrn« (V. 25a). Nur ein Gott kann ihn retten aus diesem Zwiespalt der Ansprüche, und nur ein Gott hat ihn gerettet. Und zur Rettung gehört es schon, dass dieser Gott ihm die Klage in den Mund gelegt hat. Es ist kurz zurückzukommen auf die hermeneutische Grundfrage dieses Abschnitts, wer nämlich das Ich von Röm 7 sei und welchen Zustand es meine, wenn es so spreche. Exegetisch gesehen ist es immer dann in der Lage, so zu sprechen, wenn es von Christus unberührt ist. Immer dann, wenn es vom Rettenden unberührt ist, ist es zurückgeworfen auf den Widerstreit der Gesetze in ihm und also verloren an das Tödliche. Wir könnten jetzt vielleicht sagen: das Ich, das hier spricht, ist eines, das zwar schon von Christus ergriffen ist, das ihn selbst aber noch nicht ergriffen hat. Dann lässt sich dieses Ich aber weder biographisch noch soziologisch festlegen: es ist weder das ungetaufte Ich noch steht es für die Körperschaft der Ungetauften, dali Ich steht hier
1 ~ Nach Käsemann. An die Römer 201 bleiben »allein die Klage und der Schrei nach Erlösung« übrig. Dass dies tatsächlich die "zusammengeschrumpfl(e)« ,.Qeschöpflichkeit« des Menschen ist. ist meines Erachtens zu bezweifeln.
362
Der Mensch im Widerspruch
für eine Erfahrung, die alle Menschen machen können, sofern sie von Christus berührt sind und sich ihm dennoch nicht anvertrauen. 13 Überflüssig zu sagen, dass die vorgelegte Analyse der condition humaine kein theoretischer Beschluss ist. Paulus definiert hier nicht den Menschen, sondern er spricht ihn auf seine Erfahrung an. Die Erfahrung nämlich, dass er zwar das Gute will, dennoch aber das Böse tut. Und Paulus spricht in der Tat nicht theoretisch über alle Menschen, sondern er spricht zu solchen, die an diesem ihrem eigenen Widerspruch leiden. Und wer könnte von sich sagen, er (oder sie) sei von solchem Leiden frei?
1 ~Deshalb
kann dies auch die Erfahrung eines Chrislen sein. ein Versländnis. das heule von vielen beslriuen wird (auch von Wilckens. Römer 117).
Die Menschwerdung Gottes Überlegungen zur Auslegungsproblematik des Johannesevangeliums am Beispiel von Joh 6
0 Vorbemerkungen 0.1 Zum Stellenwert von Joh 6 Joh 6 stellt eine geeignete Grundlage dar für Überlegungen zur Auslegungsproblematik des gesamten Johannesevangeliums. Das Kapitel ist repräsentativ für die johanneische Theologie. Ausgangspunkt ist eine traditionelle Jesusgeschichte (das Speisewunder), die dann - in mehreren Überlegungsgängen - im Sinne der johanneischen Theologie gedeutet wird. Solche Jesustradition aufnehmende Deutungsprozesse begegnen oft im Johannesevangelium 1• Reden von der Art der Brotrede sind ein wichtiges Charakteristikum des Johannesevangeliums (etwa gegenüber den synoptischen Evangelien)2 • Nicht nur die Denkstrukturen von Kap. 6, sondern auch eine ganze Reihe von Inhalten, namentlich auf der Ebene der Christologie, sind zentral im Johannesevangelium. Schon längst ist die Bedeutung der Menschensohnchristologie für das vierte Evangelium erkannt worden\ Sie spielt im sechsten Kapitel eine wichtige Rolle. Ferner nehmen die' E')'O)...-e4Ll-Bildworte hier ihren Anfang und gewinnen sofort ihr charakteristisches Gepräge. Schon diese beiden Beispiele rechtfertigen eine Konzentration auf dieses Kapitel. Von besonderer Bedeutung für das Verständnis des vierten Evangeliums ist dessen religionsgeschichtlicher Aspekt. Dies gilt zunächst im Blick auf die Frage nach dem religionsgeschichtlichen Hintergrund. Sie hat in jüngster Zeit extreme Antworten gefunden. Die Spannweite
'Vgl Kap. 3.4.5.9.11: vgl Blank. Brotrede 195. Haenchen. Johannesevangelium 97-100. 1 Dazu Schulz. Untersuchungen: Schnackenburg. Johannesevangelium 1411-423.
2 Dazu
364
Die Menschwerdung Gottes
reicht vom Alten Testament bis hin zur Gnosis 4 • Das sechste Kapitel erlaubt in dieser Sache eine Antwort, die Extrempositionen und historische Fehlkonstruktionen vermeidet. Religionsgeschichtlich ist jedoch nicht bloss die Frage nach den religiösen Entstehungsbedingungen der johanneischen Theologie interessant. Umstritten ist auch die Frage, wie das Johannesevangelium seinerseits religionsgeschichlich zu qualifizieren sei. Stichworte wie gnostische Grundschrift5 oder naiver Doketismus6 prägen weithin die Wahrnehmung dieses Evangeliums. Der Gedankengang des vorliegenden Kapitels wird einen differenzierten Zugang zur religionsgeschichtlichen Eigenart dieses Evangeliums ermöglichen. Schliesslich ist der religionsgeschichtliche Aspekt auch noch in der Hinsicht wichtig, dass - betrachtet man die religionsgeschichtlich arbeitende Literatur - noch keineswegs geklärt ist, welchen erkenntnistheoretischen Stellenwert diese Arbeit hat. Von der ständig an der vorstellungsmässigen Abgrenzung orientierten religionsgeschichtlichen Betrachtungsweise bis hin zur Einordnung (und damit Verflüchtigung) bedeutsamer Vorstellungen in geradezu universale Zusammenhänge trifft man hier alles an. Die Thematik des Lebensbrotes wird es erlauben, dem theologischen Erkenntniswert religionsgeschichtlicher Arbeit einige Gedanken zu widmen. Ein letzter Grund für den repräsentativen Charakter dieses Kapitels ist, dass es einen längeren Werdegang hinter sich hat. Es stehen in ihm Wunderüberlieferung, Offenbarungsrede, Abendmahlsdeutung und biographische Notizen nebeneinander. Die unterschiedlichen Stilformen und theologischen Akzentsetzungen zeigen, dass dieser Text nicht in einem Atemzug entstanden ist. Er ist das Resultat eines längeren Rezeptions- und Traditionsprozesses. Auch das Johannesevangelium als ganzes muss verstanden werden als Produkt intensiver, über lange Zeit sich erstreckender theologischer Arbeit, möglicherweise in einer Schule, jedenfalls in einem theologischen Kollektiv 7•
'Für das erste vgl die Arbeit von Bühner. Der Gesandte: für das Lwcite Buhmann. Johannes. ~ Schottroff. Der Glaubende 22H-296: Langbrandtner. Weltferner Gott 6 Käsemann. Jesu letzter Wille 52. 7 So Becker. Johannes 140--43.
0 Vorbemerkungen
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0.2 Zur Abgrenzung und Gliederung des Kapitels Auch wenn Kap. 6 ursprünglich direkt an Kap. 4 angeschlossen haben sollte 8 , ist es nach vorne eindeutig abgrenzbar: 6, I bringt einen temporalen und lokalen Neueinsatz9 • Es beginnt damit ein grösserer Textkomplex, der um das Stichwort Brot angeordnet ist (6,1-59). Dieser Komplex wird zu einem gewissen Abschluss gebracht durch V. 59. Dennoch kann man nicht sagen, die beiden folgenden Episoden über den Unglauben der Jünger (V. 60-65) und das Bekenntnis des Petrus (V. 6fr71) seien ohne Beziehungen zu V. 1-59. Die soeben abgeschlossene Lehre Jesu wird in V. 60 ausdrücklich aufgenommen, dem Murren der Juden (V. 41) entspricht das Murren der Jünger (V. 61); das civaJbivuv (V. 62) greift auf mupaivE\V (V. 33) zurück. Schliesslich ist der Abschnitt über das Petrusbekenntnis (V. 6fr71) insofern mit dem Hauptteil von Kap.6 verknüpft, als die dort erfolgte Lehre Jesu den Abfall vieler Jünger verursacht. Ein eindeutiger Neueinsatz erfolgt dagegen in 7, I; dasselbe gilt erst recht von 5, I, falls die schon genannte Umstellung vorzunehmen ist 10 • Der grosse Abschnitt 6,1-59 lässt sich einigermassen deutlich in Unterabschnitte aufteilen 11 • Der erste Unterabschnitt wird gebildet durch die Speisungsgeschichte, welche mit dem Ortswechsel in V. 15 ihren eindeutigen Abschluss findet. Ein zweiter Unterabschnitt ist mit dem Seewandel Jesu gegeben (V. 16 mit einer Zeit- und Ortsangabe einsetzend, mit der wunderbaren Landung V. 21 etwas abrupt endend). Während die Seewandel-Geschichte nicht weiter aufgenommen wird wichtig an ihr ist höchstens das elf~) E4l\ in V. 20, womit sie mit den · Elfll--t:4L\-Worten der Brotrede in Beziehung tritt1 2 -, wird das Wunder der Brotvermehrung zum Anlass für verschiedene Überlegungsgänge genommen. Ein erster Überlegungsgang liegt in V. 22-29 vor, wo nach einer recht komplizierten 11 Überleitung das Missverständnis des Wunders als Sättigung genauer bedacht wird. Es folgt ein :weiter Üherle-
K So die meisten neueren Kommentare: ausführlich diskutien bei Schnackenburg. Johannesevangelium II 6-11. ~Mnli 1111ÜD ( vgl auch 7 .I) und ci~~" usw. 111 ln beiden Fällen wird der Neueinsatz dun.:h ein j&nli 1111ÜD angezeigt. 11 Obwohl in der Literatur eine Vielzahl von Gliederungsvorschlägen gemacht wird. vgl zB Blank. Brotrede 193f: Schenke. Struktur 21-41: ders. Szenarium 191-203: Becker. Johannes I 199--202. 1: Schnackenburg. Johanncsevangclium II 12f. 1 ' Vgl dazu Schenke. Szenarium 191.193f.l96f.
366
Die Menschwerdung Gottes
gungsgang, welcher mit der Zeichenforderung (V. 30) einsetzt und über das Mannawunder zum Glauben an die persönliche Gegenwart des Vaters im Sohn vorslässt (V. 40). Ein dritter Überlegungsgang widmet sich der Spannung zwischen den Vorstellungen über das wahre Lebensbrot und der natürlichen Herkunft Jesu (V. 40-5lb). Es folgt in V. 5lc-58 der Abschnitt über das Abendmahl. V. 59 schliesst den Hauptteil formell ab. Entsprechend dieser Gliederung wird die theologische Auslegung des Kapitels (Teil I) folgende Abschnitte enthalten: 1.1 Die Mehrdeutigkeit des Zeichens ( 1-15) 1.2 Das Missverständnis der Sättigung (22-29) 1.3 Das Missverständnis der Zeichenforderung (30-40) 1.4 Das Missverständnis der natürlichen Herkunft (41-51 b) 1.5 Das harte Wort (60-65) 1.6 Das provozierte Bekenntnis (66--71) 1.7 Das Verständnis des Abendmahls (51c-58) 0.3 Zur historischen Dimension des Textes Ein Überblick über die formale Gestaltung des sechsten Kapitels ergibt, dass hier drei verschiedene Sprachebenen leicht unterscheidbar sind. Der Text enthält zunächst Wundergeschichten, dann eine dialogartige 0/fenbarungsrede, die zwei verschiedene Dialogpartner des Offenbarers kennt: das Volk beziehungsweise die Juden einerseits (V. 2259), die Jünger andererseits (V. ~71 ). Auf einer inhaltlich neuen Textebene schliesslich wird die Lebensbrotthematik auf das Abendmahl V. 51c-58) angewendet. Für die Annahme dieser dritten Textebene sprechen die folgenden Gründe: (I) Während in der Wundergeschichte die Speisung der Menschen mit materiellem Brot im Vordergrund steht und in der Offenbarungsrede das Hauptgewicht auf der Identifikation des Lebensbrotes mit dem Christus liegt, ftihrt V. 51 b-58 wieder auf das Austeilen des Broten zurück, mit dem signifikanten Unterschied, dass jetzt nicht materielles Brot, sondern die Person des Offenbarers ausgeteilt wird. Diese Gedankenführung spricht daftir, dass es sich um eine stetige Entfaltung des Brotthemas handelt. (2) Der durch den Dialogpartner ))Jünger« gekennzeichnete Teil der Offenbarungsrede greift zwar in mehrfacher Hinsicht auf V. 22-51c, nicht aber auf V. 51c-58 zurück 14 • Dies spricht dafür, dass der Jüngerteil ursprünglich direkt an
14
Becker. Johannes I 202: anders Buhmann. Johannes 214f.
0 Vorbemerkungen
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den Volksteil angeschlossen hat. (3) Während sowohl in der Wundergeschichte als auch in der Brotrede gewisse Anspielungen auf das Abendmahl auszumachen sind, sind diese im Abschnitt V. 51 c-58 unvergleichbar viel deutlicher: als Beispiel sei die aus der Brotthematik überhaupt nicht herleitbare Rede vom Essen und Trinken des Fleisches und Blutes genannt'~. (4) Die temporale Makrostruktur des vorliegenden Kapitels unterscheidet drei Zeitebenen: er gab (V. 1-15)- ich bin (V. 22-Slb, mit der interessanten Ausnahme V. 27, wo festgestellt wird, dass der Menschensohn das unverderbliche Brot geben wird) ich werde geben (V5lc-58). Diese Unterscheidung der Zeiten spricht dafür, dass ihr drei analog unterscheidbare Reflexionsebenen entsprechen: Eine erste sieht im vergangenen Austeilen des Brotes das Zeichen der Messianität Jesu, eine zweite sieht in der Beziehung zum gegenwärtigen Christus, dem wahren Lebensbrot, den Empfang des ewigen Lebens, eine dritte erkennt in der Eucharistie die Präsenz des rettenden Christus in der Zeit der Kirche. Diese Argumente lassen es als wahrscheinlich erscheinen, dass der Abschnitt über das Abendmahl auf einer gegenüber der ursprünglichen Brotrede späteren Stufe dazugekommen ist 16• Man kann diese Stufe kirchliche Redaktion nennen, um einen fortschreitenden christologischen Reflexionsprozess in der johanneischen Gemeinde anzuzeigen. Von kirchlicher Redaktion freilich sollte man nicht sprechen, wenn damit das Urteil einer kirchlichen Domestizierung der ursprünglich originellen johanneischen Theologumena verbunden ist 17 • Will man die Wundergeschichten am Anfang des Kapitels genauer einordnen, so legt sich meines Erachtens die Annahme einer vorjohanneischen Quelle- der Semeiaquelle 111 - nach wie vor am nächsten. Auf vorjohanneische Tradition deuten die folgenden Sachverhalte: (I) Während die Brotrede nur an der Speisungsgeschichte interessiert ist, stehen am Anfang dieses Kapitels zwei Wundergeschichten, die schon in der synoptischen Tradition zusammengehörten (Mk 6,30-44.45-52). Dass der Verfasser der Brotrede die beiden Wundergeschichten beisammen liess, könnte sich daraus ergeben haben, dass die zweite ihm das Stich-
1~
MitzB Becker. Johannes I 220f. So schon Buhmann. Johannes 161f; Richter. Studien 88-119; unentschieden dagegen Schnackenburg. Johannesevangelium II 85-89; anders Borgen. Bread 96f. 17 So etwa bei Langbrandtner. Weltferner Gott passim; Becker. Johannes lzB 221-223. IM Dazu Fonna. Gospel of Signs: ders. Source. 16
368
Die Menschwerdung Gones
wort t..,m E\f,Ll lieferte 19 • (2) Ein weitergehender Vergleich mit der synoptischen Überlieferung kann zeigen, dass die Übereinstimmung der Inhalte noch mehr umfasst als die beiden Wundergeschichten: Brotwunder- Seewandel - Rückkehr ans andere Ufer- Zeichenforderung Petrusbekenntnis mit Passionsthema. Diese Übereinstimmung ist auffällig, insbesondere wenn man die markinische Dublettenüberlieferung noch dazunimmt (Kap. 8, wo zwar eine etwas andere Version der Speisungsgeschichte steht und der Seewandel fehlt). Im Blick auf das Johannesevangelium zeigt diese Übereinstimmung, dass die johanneische Gemeinde als TrägeTin von Jesusüberlieferung angesehen werden muss, die sich auf einer relativ frühen Stufe von der synoptischen Tradition abgespalten hatte 20• Eine literarische Abhängigkeit von der synoptischen Tradition ist jedenfalls wesentlich weniger wahrscheinlich 21 • (3) Ein formgeschichtlicher und motivanalytischer Vergleich der Wundergeschichten mit den übrigen Wundergeschichten des vierten Evangeliums zeigt, dass sie untereinander eine weit grössere Konsistenz aufweisen als zu den übrigen Teilen des Johannesevangeliums. Daraus ergibt sich die Annahme, es handle sich um eine Quelle mit einer gewissen theologischen Statur22 • (4) Das Verfahren, eine Wundergeschichte in mehreren dialogischen Überlegungsgängen zu deuten, hat der Evangelist noch an anderen Stellen angewandt (Kap. 5.9.11 ). Diese Deutungen weisen sowohl formal als auch inhaltlich (sie kreisen um das Missverständnis des Christus) eine grosse Kohärenz auf. Sie interpretieren die erzählten wunderbaren Ereignisse anders als die zugrundeliegenden Wundergeschichten. Diese Argumente rechtfertigen meines Erachtens die Annahme, dass in der johanneischen Gemeinde eine Quelle existierte, die ihr Zentrum bei den Wundertaten Jesu hatte. Diese Quelle war Ausgangspunkt für intensive theologische Reflexionen, wofür Joh 6 ein gutes Beispiel gibt. Die Überlegungen zur historischen Dimension dieses Kapitels sollen zwar nicht darüber hinwegtäuschen, dass der heute vorliegende Text als ein sinnvolles Ganzes zu betrachten und auszulegen ist. Gegenstand einer Auslegung des Johannesevangeliums kann weder die Semeiaquelle noch eine allfällige gnostische Grundschrift noch die kirchliche Redak-
Vgl oben Anm 12. Schnackenburg. Johannesevangelium I 18f.30-32. 21 Hecker. Johannes I 36-38. 22 So Fonna. Source 151. 1q
2o
0 Vorbemerkungen
369
tion sein. Vielmehr soll der Text als Ganzes begriffen werden, als ein verständlicher und sinnvoller Gedankengang. Viele literarkritische Operationen sind bloss dadurch bedingt, dass der Ausleger den Versuch unterlässt, spannungsreiche Gedanken zu begreifen als durchaus zusammenhängende, verschiedene Seiten derselben Sache. Auch wenn der Auslegungsgrundsatz klar den jetzigen Text ins Zentrum stellt, ist unser Kapitel dennoch ein wichtiger Hinweis darauf, dass diese Texte schon einen gewissen Werdegang hinter sich haben. Soweit dieser Werdegang noch erfassbar ist, ist er ausdrücklich in die Interpretation einzubeziehen. Der jetzt vorliegende Text ist wahrzunehmen als Ergebnis einer Geschichte von Tradition und Interpretation. Er ist zu verstehen in seinem Werdegang. In der folgenden Auslegungsskizze werden zwei Axiome angewendet und auf ihre Angemessenheil hin geprüft. (I) Der Werdegang dieses Textes zeugt von einem fortschreitenden Reflexionsprozess, dessen Ziel und Ende die inkarnatorische Theologie ist. Die theologische Arbeit in der johanneischen Gemeinde gilt grundsätzlich dem Versuch, Jesus Christus als menschgewordenen Gott zu verstehen. (2) Entgegen einem häufig beobachtbaren Trend, die treibende Kraft eines solchen Reflexionsprozesses entweder in der Abgrenzung von christlichen oder ausserchristlichen Theologien oder in zeitgeschichtlichen und religionsgeschichtlichen Einflüssen zu sehen, wird im folgenden davon ausgegangen, dass die treibende Kraft in der Entfaltungsbedürftigkeit des christlichen Glaubens selbst liegt. Der Glaube selbst gibt zu denken, nicht erst externe Bestreitungen der Messianität Jesu oder die Notwendigkeit der Abgrenzung von andern christlichen Anschauungen. Insofern wird das vorliegende Kapitel verstanden als Entfaltung dessen, was der Glaube an Christus zu denken gibt. Die am Werdegang eines Textes orientierte Auslegung beruht auf einer (notwendig hypothetisch bleibenden) Annahme über die Vorgeschichte des betreffenden Textes. Diese Vorgeschichte stellt sich in unserem Falle wie folgt dar: Ausgangspunkt ist eine Speisungsgeschichte, die schon auf einer vorsynoptischen Stufe verbunden war mit dem Seewandel, der Rückkehr ans andere Ufer, der Zeichenforderung und dem Petrusbekenntnis. Dieser Überlieferungsblock gelangte dann einerseits in die vormarkinische Gemeinde, wo eine Dublette ausgebildet wurde, und er gelangte andererseits in die vorjohanneische Gemeinde (Semeiaquelle). In dieser Gemeinde wurde - am Leitbegriff des Se-
370
Die Menschwerdung Gottes
meion orientiert23 - die Jesusüberlieferung einem eingehenden Reflexionsprozess unterzogen. Dessen Resultat begegnet uns in der anschliessenden Brotrede (V. 22-51 b.60-71 ). In einem weiteren Reflexionsgang wurden die theologischen Aussagen der Brotrede in Verbindung gebracht mit der Praxis des Abendmahls. Das Abendmahlsverständnis erlaubte es, die Präsenz des Christus in der Zeit der Kirche auf neue Weise zu erschliessen.
1 Auslegungsskizze von Johannes 6 Entsprechend der schon vorgetragenen Gliederung werde ich den Gedankengang von Joh 6 nachzeichnen. Dabei liegt der Schwerpunkt auf den Entwicklungen innerhalb der johanneischen Tradition. 1.1 Die Mehrdeutigkeit des Zeichens (V. 1-15) Aus den gesetzten Erzählsignalen geht recht deutlich hervor, wie die Semeiaquelle die Speisungsgeschichte interpretiert. Wichtigstes Merkmal ihrer Interpretation ist wohl, dass sie (I) die Handlungsführung allein Jesus überlässt 24 • Es gibt für die wunderbare Speisung kein anderes Motiv mehr als das, dass Jesus es tun will (im Unterschied zum Spätwerden und der fehlenden Nahrung in der synoptischen Tradition). Die Jünger, die bei Markus wichtige Handlungsträger sind, spielen hier keine tragende Rolle, sie haben ihre Funktion erst dort, wo es um das Sammeln und Aufbewahren der Reste geht. Mit dieser Konzentration auf den Handlungsträger Jesus zeigt die Semeiaquelle an, dass sich allein Jesus in diesem Geschehen ausspricht. Das Semeion will auf nichts anderes als die lebenspendende Handlungsmacht Jesu hinweisen. Dieser Akzent passt hier besonders, da es sich um ein Geschenkwunder 2 ~ handelt: Geschenkwunder beseitigen nicht bloss eine zuvor bestehende Notlage (davon ist hier auch keine Rede), sondern sie überhäufen die Menschen mit Wohltaten, die niemand erbeten hat. Geschenkwunder haben Überraschungscharakter. Als solche überholen sie selbst die menschlichen Wünsche. Derselbe Überraschungscharakter kommt auch Christus zu: Sein Kommen selbst lässt sich nur als Überraschung beDazu Fonna. Source 152-155. Mit Blank. Johannes Ia 341. 2~ Zum Phänomen vgl Theissen. Wundergeschichten 111-114.
B
2~
I Auslegungsskizze von Johannes 6
371
greifen. Deshalb ist er ausschliesslich Handlungsträger in dieser Geschichte, und deshalb ist sie ein Semeion, das seine Bedeutung entdeckt. Ein weiteres wichtiges Merkmal der Semeiastufe ist (2) die Steigerung des Wunders. Sie kommt hier namentlich darin zum Ausdruck, dass die zweihundert Dinare, die in der synoptischen Version zur Speisung reichen würden, ausdrücklich als nicht ausreichend bezeichnet werden (6,7 vgl Mk 6,37). Ferner können die Leute haben, so viel sie wollen (6,11 Ende). Schlicsslich wird man auch in der schon genannten Konzentration auf den Handlungsträger Jesus ein Moment der Steigerung seiner Wundertätigkeit sehen dürfen. Zwar sind solche Steigerungsvorgänge schon aus der synoptischen Traditionsgeschichte bekannt26. Sie treten aber in der Semeiaquelle gehäuft auf: Sie stellt die Wunder Jesu in einer massiven Materialität dar, wie sie sonst nicht anzutreffen ist 27 • Was ist der theologische Stellenwert dieses Steigerungsvorgangs? Man wird sich hüten müssen, ihn auf die primitive Formel der Propaganda oder der Konkurrenz zu bringen 211 • Vielmehr dürfte die schon bei den Synoptikern auftretende Steigerung damit zusammenhängen, dass die Wundergeschichten ihrer eschatologischen Dimension weitgehend verlustig gingen. Hatte Jesus selbst in seinen (episodalen!) Wundertaten die Wende der Zeiten, die Ankunft des neuen Äon gesehen29, so tritt nachösterlich die Christologie an die Stelle dieser Eschatologie. Die österliche Erfahrung sagte, dass Jesus nicht bloss ein episodales Vorspiel zur bevorstehenden Zeitenwende sei, sondern dass in ihm die Fülle der Zeit gekommen sei. Die immense Steigerung der Wunder in den Semeiaerzählungen dürfte den Versuch darstellen, in den Taten Jesu die vollendete Gegenwart Gottes zu sehen und zum Ausdruck zu bringen. Die Steigerung der Wundergeschichten dient also dem christologischen Interesse, in der Person Jesu das eschatologische Kommen Gottes zu erblicken, und sie ersetzt damit ein episodales Wunderverständnis, das in diesen Taten Vorzeichen der Weltenwende sieht. Dazu kommt noch eine weitere, überraschende Eigenart der Semeiaquelle: Obwohl ihre Wundergeschichten von massiver Materialität
Theissen. Wundergeschichten 277-282. Dies ist ganz deutlich in 2.1-11 (immense Weinmenge) und 11.39 (der tote Lazarus riecht schon). 2K Dagegen zu Recht Theissen. Wundergeschichten 273f. 19 Vgl bes Lk 11.20 und Theissen. Wundergeschichten 274-277. 26
!1
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sind, vermögen sie nur in den seltensten Fällen Glauben zu erzeugen-' 0 ; sie erwecken den Glauben der Jünger, der Voreingenommenen. Das legt Zeugnis ab von der prinzipiellen Mehrdeutigkeit solcher Zeichen. Ihre Steigerung dürfte ein Versuch sein, der Mehrdeutigkeit die Stirn zu bieten. Das Wunder wird so sehr gesteigert, damit die Sicht des Unglaubens möglichst ausgeschlossen werde. Als weiteres Merkmal der Semeiastufe soll schliesslich (3) genannt werden: Die Wundererzählungen sind Zeichen für die eschatologische Qualität des Wundertäters. In diesem Zusammenhang kann man wohl erwägen, ob 6,14 nicht doch den ursprünglichen Kommentar der Semeiaquelle zur Brotvermehrung darstelllt. Immerhin ist daran zu erinnern, dass nach dieser Quelle die Wundertaten eben Semeia für die Messianität Jesu sind (vgl auch 20,3003 1• Gerade die wunderbare Brotvermehrung konnte als messianische Praxis Jesu erkannt werden 32 , ein Sachverhalt, den gewiss auch die Semeiaquelle für ihre Interessen nutzbar zu machen wusste. Auf der Stufe der Brotrede wurden keine einschneidenden Eingriffe in die Wundererzählung vorgenommen. Hier wird sie ja zum Ausgangspunkt für eine eingehende Interpretation genommen. Immerhin sind zwei Ausssagen wohl erst durch den Verfasser der Brotrede angefügt worden: der Hinweis auf das Passa (V. 4), welcher erst im Kontext des gesamten Evangeliums sinnvoll ist, und die Kritik am Messianismus (V. 15), welche so in der Semeiaquelle nicht auftritt, dagegen aber für das Evangelium typisch istn. In V. 15 setzt das Evangelium einen kritischen Grenzstein gegenüber der Unterordnung des Christus unter die herkömmlichen Messiaserwartungen. War diese Gefahr schon bei der Prophetenaussage vorhanden, wird sie erst recht manifest beim Versuch, Jesus zum König zu machen. Das dpml;Etv steht hier für die mes-
Jo Vom Glauben der Menge ist nicht die Rede: 2.11 (Glauben der Jünger); 4.53 (der königliche Beamte und sein ganzes Haus); 5,1-30 (wo vom Glauben der Menge gar nichts gesagt wird, im Gegenteil, das Wunder fühn zur Verfolgung); 6.14 (das Bekenntnis geht fehl); 6.1521 (spricht überhaupt nicht vom Glauben); 9.1-34.35-41 (die Menge begegnet dem Wunder mit Unglauben und anderen Erklärungen); 11,45 ist eine gewisse Ausnahme. obwohl gerade dieses Wunder der Auferweckung zum Todesbeschluss flihn ( 11.53 ). Jl Mit Schnackenburg. Johannesevangelium I 350-354: Fonna. Source 153. 12 Man denke etwa an die messianischen Zeichentäter bei Josephus. deren Zeichen in der Wiederholung der Exoduswunder bestehen (vgl Meyer. An. ~ lt'd.. 826.29-827.45): auch die synoptischen Speisungsgeschichten waren nicht ohne messianische Untenöne (vorsichtig bei Pesch. Markusevangelium I 354-356). n Mit Becker. Johannes I 191.193f. der allerdings (mit wenig überzeugenden Argumenten) V. 4 der kirchlichen Redaktion zuweist.
I Auslegungsskizze von Johannes 6
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sianische Vereinnahmung Jesu 34 • Dieser Vereinnahmung entzieht sich Jesus, indem er sich auf den Berg zurückzieht. Dieser kritische Grenzstein warnt davor, die Prioritäten zu verkennen: Die Messiaserwartung muss sich an diesem Christus verwandeln lassen. Nicht sie herrscht über ihn, indem sie ihn zum König macht, sondern er wird sie neu bestimmen, indem er seinen, ihrer Vorstellungskraft entzogenen Weg geht. Dass auch bei Johannes dieser Weg gekennzeichnet ist als Weg ans Kreuz, sollte nicht mehr länger bestritten werden 35 • 3,14-21; 12,2736 und 13,1-17 sind zu deutliche Signale dafür. Auch der Hinweis auf die Nähe des Passafestes kann durchaus verstanden werden als Signal für die kommende Passion' 6 • Der konkrete Weg Jesu ist jedenfalls der sachliche Ausgangspunkt für die Messiaskritik des Evangeliums, so wahr er der Bewegung vom Messianismus zur Christologie die konkrete Richtung gibt. In diesem ersten Abschnitt sind also zwei Schritte getan worden. Den ersten tat die Semeiaquelle, als sie das Brotwunder ·als Zeichen der Messianität Jesu verstand. Wichtig ist dabei, dass das Brotwunder nicht formalisiert wird, als ob in ihm bloss noch die Faktizität der Messianität Jesu bestätigt würde. Die Messianität Jesu hat vielmehr die Gestalt, dass er überraschend speist, Brot darreicht in Hülle und Fülle. Als Messias teilt er das elementare Lebensmittel ungefragt aus. Einen zweiten Schritt tat der Verfasser der Brotrede (bzw. des Evangeliums), der die drohende Messianologie in die Christologie überftihrte. Es kommt darauf an, das apnateu' Jesu im Namen des Messianismus zu vermeiden. Oder anders gesagt: Es kommt darauf an, den erhofften Christus zur Welt kommen zu lassen. Dies ist der cantus firmus, der dem ganzen Kapitel unterlegt ist.
1.2 Das Missverständnis der Sättigung (V. 22-29) Mit einer komplizierten Überleitung (V. 22-25), an der nur wichtig ist, dass das Volk und Jesus wieder zusammenkommen, führt der Evangelist den Leser an ein weiteres Missverständnis des Brotwunders heran: Das Volk sucht Jesus nur, weil es gegessen hat und satt geworden ist, nicht weil es Zeichen gesehen hat (V. 26). Das heisst: Die Suche gilt nicht dem, was das Geschehen bedeutet, sondern dem, was das '~So
mil Rechl Buhmann. Johannes 15K. neuerdings Wengs1. Bedräng1e Gemeinde 106-117. Mi1 Blank. Johannes Ia 342.
'~Dazu 'b
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Geschehen darstellt. In der Brotvermehrung ein OTJ.LEiov sehen würde heissen, im Überfluss dieses Brotes den göttlichen Geber wahrnehmen. Statt dessen sieht das Volk bloss den materiellen Vorgang der Sättigung37. Der Evangelist kritisiert die Reduktion dieses Geschehens auf das Vordergründige, auf das Materielle. Dabei geht es ihm keineswegs darum, die Materialität dieses Lebensmittels zu verflüchtigen. Auch das Zeichen, das er im Brotwunder sieht, kommt nicht ohne Brot aus. Aber es bedeutet mehr, als es darstellt: Seine Bedeutung liegt darin, dass es den Geber zu erkennen gibt. Das ist keine Spiritualisierung des Brotes. (Der häufige Gebrauch des Wortes »Spiritualisierung« in der Exegese gibt zur Frage Anlass, ob es nicht eine Ontologie verrate, die zur einstigen Hochschätzung des Geistes bloss kontradependent ist.) Diesem Verständnis scheint der nächste Vers (V. 27) zu widersprechen, wo die vergängliche Speise der Speise gegenübersteht, »die ins ewige Leben bleibt«. Hier scheinen sich materielles und geistiges Brot gegenüberzustehen 38 • Freilich muss die Gegenüberstellung verstanden werden in Parallele zu ))Brot essen« und ))Zeichen sehen« von V. 26. Dem Missverständnis der Sättigung entspricht nach V. 27. dass der Mensch seine Arbeitskraft auf den Erwerb des vergänglichen Brotes richtet. Darin verbirgt sich das Selbstverständnis, dass wahres Leben 39 durch die Erarbeitung des vergänglichen Brotes erwirkt werden könne. So wie im wunderbar vermehrten Brot eben nichts als Brot gesehen wurde, wird jetzt das Leben auf seinen weltlichen Aspekt beschränkt: es kann durch Brot erwirkt werden. Wer dergestalt beschränktes Leben lebt, lebt flüchtig. Denn so flüchtig wie das verderbliche Brot ist auch das darauf beruhende Leben. Die Ahnung von den Gefahren solcher Flüchtigkeit lässt den Gedanken eines dauerhaften, nicht-flüchtigen Lebensmittels entstehen: des bleibenden Brotes. Woher kommt dieses Brot? Wer im Brotwunder ein Semeion sieht, hat das bleibende Brot gesehen. Ferner kann es nicht erwirkt werden, sondern der Menschensohn wird es geben. Im Nährwert dieses Brotes sind jetziges und ewiges Leben verbunden. Schliesslich hängt sein Nährwert offenbar damit zusammen, dass der Vater diesen Menschensohn bevollmächtigt hat
ZB Buhmann. Johannes 161. Das veranlasst Becker. Johannes I 204 dazu. den Vers zur kirchlichen Redaktion zu rechnen und in den Zusammenhang von V. 5lc-58 zu stellen: dagegen Schnackenburg. Johannesevangelium II 48f. ·19 Dazu Buhmann. An. rp. ftA... 864.17-866.2. 11 1"
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(oder: dass ihm der Vater das Gepräge gegeben hat). ein Moment. das schon im Menschensohntitel impliziert ist4 o. Daraus ergibt sich: Die bleibende Speise ist ein Brot. das Gemeinschaft mit Gott erschafft. Das auf den weltlichen Aspekt reduzierte Brot sättigt zwar. aber es sagt nichts vom Geber. der in ihm gegenwärtig wird. wenn es als Semeion verstanden wird. Diese Gabe. die der Mensch nicht produzieren. sich nicht selbst geben kann. ist schon jetzt zu haben. Sie erscheint auch im Brot der Speisungsgeschichte. so gut wie sie erscheint als Wort des Menschen Jesus. Versteht man das wahre Leben grundsätzlich als Bleiben in Gott. als Relation zu Gott, so entsteht dieses Leben eben dadurch. dass der Menschensohn das Gepräge Gottes trägt und sich den Menschen zuwende.t. Der springende Punkt am bleibenden Brot ist das Gottesverhältnis. das es erschafft. Das Gottesverhältnis ist Thema der letzten beiden Verse dieses Unterabschnitts (V. 280. Die Frage »Was sollen wir tun. um die Werke Gottes"' zu bewirken?« zielt auf die Herstellung des Gottesverhältnisses. Es ist eine alte. in besonderer Weise den jüdischen Glauben beherrschende Vorstellung. dass der Mensch sein Gottesverhältnis bearbeite durch das Tun der Werke. die Gott entsprechen4 2. Wo hat die Frage. wie das Gottesverhältnis tätig zu gewinnen sei. ihren Ursprung? Unser Zusammenhang benennt diesen Ursprung: Wer im Brot der Speisungsgeschichte nichts als Brot sieht. wird der Gemeinschaft mit Gott nicht ansichtig. die ihm darin gegeben wird. Wer des gegebenen Gottesverhältnisses nicht ansichtig wird. muss sich auf seine Produktivität verlassen. Wer Gott in seinen Gaben nicht zur Welt kommen lässt. muss ihn werktätig zur Welt bringen. Auf diesen Ursprung der Frage. wie das Gottesverhältnis tätig zu erwirken sei. geht die Antwort Jesu präzise ein: Dieses ist das Werk Gottes. dass ihr an den glaubt. den er gesandt hat (V. 29). Das Werk Gottes ist gar kein JtOteiv. sondern ein m.atEUEtv. Es ist nicht Produktivität. sondern Rezeptivität 43 • Das Werk Gottes ist eine Tat. die zwar von mir getan wird. aber zugleich nicht mein. son-
40 Wichtig am Menschensohntitel ist. dass der Menschensohn nichts anderes als Gou repräsentien. vgl bes Joh 1.51. wo die Verbindung zwischen Himmel und Erde im Zentrum steht. Dasselbe gilt auch für die am Menschensohntitel haftenden Vorstellungen vom Abstieg und Aufstieg. welche ebenfalls die Gouesgegenwan betonen. vgl Schnackenburg. Johannesevangelium 1411-423. 41 Dazu von Wahlde. Faith and Works 304--315. 4 2 Zum Phänomen vgl 4Esr 7.17-25. 41 Dies wird von von Wahlde. Faith and Works 314fvöllig verkannt.
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dem Gottes Werk ist. Der Glaube ist als des Menschen Tat Gottes Werk, genauso wie das Lachen als meine Tat das Werk des Witzes ist. Das Gott entsprechende Werk also ist das Glauben, genauer das Glauben an den, den er gesandt hat. Dies ist nicht zu verwechseln mit dem Glauben, dass der Offenbarer der Offenbarer ist44 • Vielmehr meint es, diesen Jesus Gott in Person sein und sich seine Gabe des Lebens als Gabe Gottes gefallen lassen. (In Klammem sei darauf hingewiesen, dass in diesem Schritt vom Epyäl;Eo'6al zum matEUElV eine grosse Verwandtschaft des Johannesevangeliums mit der paulinischen Theologie zum Vorschein kommt.) Das Missverständnis der Sättigung besteht also darin, dass die Gespeisten das Brot distanzieren von seinem himmlischen Geber. Sie bringen sich dabei um das Gottesverhältnis, das in diesem Semeion gegeben ist. Das soleherrnassen weltlich beschränkte Leben bleibt nicht, weil es die gegebene Gottesrelation verdrängt beziehungsweise verkennt. 1.3 Das Missverständnis der Zeichenforderung (V. 30-40) War in den bisherigen Abschnitten der Semeion-Charakter der Speisung in den Vordergrund gestellt worden, so wird jetzt die Forderung eines CJ111Elov ausdrücklich als Missverständnis abgewiesen. Auf die Einladung zum Glauben antworten die Dialogpartner mit der Zeichenforderung: Sie verlangen ein augenfalliges Zeichen (iva 'i&o~v), ein Zeichen, das sich als himmlisches ausweisen kann (vgl h: toü crupavou). Demnach kann die Problematik nicht schon darin liegen, dass das Wirken des Christus mehr bedeuten muss, als es darstellt. Die Problematik liegt also nicht im CJ111Elov, sondern in der Forderung selbst. Geforderte Zeichen werden nicht wahrgenommen, sie werden durchschaut. Die geforderten Zeichen geben nichts, sie verweisen oder verheissen bloss. Deshalb ist dies eine distanzierte, eine von Distanz bestimmte Forderung. Die Zeichenforderung distanziert das geforderte Geschehen von der Gotteswahmehmung. Sie interessiert sich nicht für das Geschehen
44 Dies kommt der Ablösung des Zeichens von seiner konkreten Gestalt gleich. eine Reduktion. die in der Johannesinterpretation Bultmanns nicht immer deutlich genug vermieden wurde: »Jesu Wone vermitteln gar keinen greifbaren Inhalt als eben den. dass sie Wone des Lebens. Wone Gottes. sind; dh nicht durch ihren Inhalt (! J. sondern als s~in~ Wone. als Wone dessen. der sie spricht. sind es Wone des Lebens. Wone Gones ... (Buhmann. Theologie 4150.
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selbst, sondern bloss dafür, was es bedeutet. Damit erweist sich die Zeichenforderung als das Gegenstück zu dem Missverständnis, das an der Sättigung orientiert war. Wurde dort angesichts der res significans (Brot) die res significata (Geber) ausgeblendet, so wird hier die res significans zugunsten der res significata verflüchtigt. Die Zeichenforderung ist aber weiter gekennzeichnet durch die Distanz, welche sie zu dem Himmel einnimmt, dessen Zeichen sie fordert. An die Stelle des Himmels, der überraschend gibt, tritt die weltliche Vorstellung vom Himmel, der sich im Rahmen der Wahrnehmungsbedingungen zu legitimieren hat. Gerade die Zeichenforderung also hält sich den Himmel vom Leib, nicht zuletzt dadurch, dass sie - wie die Erinnerung an das Manna der Wüste zeigt - die eschatologische Zukunft bestimmt sein lässt von Erwartungen der Vergangenheit. Schliesslich herrscht in der Zeichenforderung die Distanz insofern, als sie das Zeichen von seinem Geber unterscheidet. Es ist wie ein Ausweis von seinem Träger unterschieden, deshalb kann er im Zeichen niemals gegewärtig werden. In der Zeichenforderung zielt der Mensch auf den himmlischen Widerschein seiner selbst. Ein erster Einspruch gegen dieses Verfahren wird in V. 32 gemacht: Nicht Mose gab das Brot aus dem Himmel, sondern mein Vater gibt es (jetzt!). Andeutungsweise klingt schon die christologische Konzentration an, auf die es diesem Gedankengang entscheidend ankommen wird. Diese Andeutungen werden in der folgenden Begründung verstärkt: Das Brot vom Himmel erkennt man daran, dass es vom Himmel herabsteigt (nicht: herabfällt) und der Welt Leben gibt. Dass Gott das Himmelsbrot jetzt gibt, erkennt man daran, dass der Christus vom Himmel herabgestiegen ist, und daran, dass die Begegnung mit ihm Leben gewährt. Auf diesen Begründungszusammenhang ist sorgfältig zu achten, er gibt einen wichtigen Hinweis auf den Erfahrungsaspekt johanneischer Theologie. Am Ursprung des johanneischen Christusglaubens steht nicht die Behauptung, der Christus sei die eschatologische Person Gottes, am Ursprung steht vielmehr die Lebenserfahrung, die in der Begegnung mit ihm wieder und wieder gemacht wurde und die in der Begegnung mit seinem Wort immer neu gemacht wird. Erst die Erfahrung des durch ihn gewährten Lebens begründet das Urteil, in ihm und seiner Gabe sei Gott selbst als Geber anzutreffen. Was in den genannten Andeutungen erscheint, wird jedoch nicht verstanden. Stattdessen bittet die Menge, Jesus solle ihnen überall die-
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ses Brot geben (V. 34 ). Gerade diese Bitte wiederholt auf ihre Weise das Missverständnis der Zeichenforderung, weil sie noch einmal unterscheidet zwischen dem wahren Brot und dem Christus. Sie lässt das Brot noch einmal in die Distanz zum Geber treten. Daraus ergibt sich: Die Zeichenforderung ist eine (dem Menschwerdungsgedanken feindliche) Bemühung, Himmel und Erde gehörig auseinanderzuhalten. Bei diesem Brot geht es ja längst nicht mehr nur um das materielle Produkt. Es geht vielmehr auch um das Wort Gottes, dessen Symbol das Manna schon in Dtn 8,3; Weish 16 und in der jüdischen Auslegungstradition geworden ist. Die Zeichenforderung verhindert, dass der Logos Fleisch wird, indem sie ihn distanziert von seiner personalen Gestaltwerdung. Genau auf diese personale Erscheinung des Himmelsbrotes aber kommt es dem Johannesevangelium an: Ich bin das Brot des Lebens (V. 35). Wie immer die Traditionsgeschichte dieses Ausdrucks zu rekonstruieren sein mag4 ~, seine Aussage ist klar: Das Brot des Lebens, das Lebensmittel, das wahres Leben gibt, das Lebensmittel, von dem geträumt und auf das gehofft wurde, hat in dem Ich des Christus Gestalt angenommen. Der Geber hat die Distanz ganz aufgegeben zu seinen Gaben. Er ist ganz Gabe geworden. Das ist der christologische Umschwung, der sich nicht mehr bloss als Steigerung der Gaben begreifen lässt. Man kann den Gedanken des Gebens immerfort steigern, bis hin zum Traum eines Überflusses an Gaben in messianischer Zeit. Die johanneische Christologie macht demgegenüber einen qualitativen Sprung: Sie lässt Gott so nahe an seine Gaben herankommen. dass er sich selbst gibt. Eben in diesem qualitativen Sprung lässt sie Gott zur Welt kommen. Einen ähnlichen Sprung können wir feststellen, wenn wir V. 35 mit der sehr ähnlichen Aussage in Sir 24,21 f vergleichen·'~•. Der Genuss der Weisheit führt zu Hunger und Durst, weil die Gabe so köstlich ist, dass der Hunger nach mehr gerade erzeugt wird. Die Weisheit gibt nicht sich selbst, so dass immer wieder von ihr gegessen und getrunken werden muss. Ihre Gaben sind köstlich, aber weil sie selbst unterschieden bleibt von ihren Gaben, kann nur neues Verlangen entstehen. In ausdrücklichem Gegensatz zu dieser Anschauung heisst es von Christus, dass das Kommen zu ihm jeden Hunger und jeden Durst dauerhaft stillt. Wer hierher kommt, ist angekommen an dem Ort, wohin aller Hunger und ·~ Dazu Schnackenburg. Johannesevangelium II ""Brown. John 269.272-274.
5~ 70:
Becker Johannes I 207-210.
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aller Durst immer schon zielte: am Ort, wo der Geber ganz Gabe geworden ist. Es wäre sicher nicht im Sinne des Gedankenganges dieses Kapitels, wollte man das Brot des Lebens ganz distanzieren von dem Brot, das in der Wundergeschichte ausgeteilt wird. Zwar deutet der Ausdruck »Brot des Lebens« an, dass es sich hier um ein Brot handelt, das nicht bloss dem Lebensunterhalt dient, sondern das wahre Lebendigkeit gewährt. Das Missverständnis der Sättigung legte das wunderbar vermehrte Brot auf den Aspekt des Lebensunterhaltes fest. Demgegenüber ist auch in jenem Brot der Aspekt der Lebensgewährung zu sehen, gerade weil der Mensch nicht allein vom Brot lebt. Den Lebensunterhalt kann man sich verdienen, das Leben selbst kann man nur gewinnen. Das ist ein gewichtiges Nebenthema dieses Kapitels, was auch durch den Schritt vom tpyatEcnkll zum mc:rtEUElv (vgl V. 28f) angezeigt ist. In der Symbolik des Brotwortes sind Lebensunterhalt und Lebensgewinn zusammengeschlossen. ln dem Wort »Ich bin das Brot des Lebens« erschliesst das Brot das Ich des Christus. Was als Brot bekannt ist, bedeutet mehr, als was es in Wirklichkeit darstellt. Es sagt etwas über Christus. Es steht für da..;; Geheimnis, dass in der Welt immer wieder Leben gewährt wird. Eben dieses Geheimnis ist in Christus Mensch geworden. Er ist der Geber des Lebens, sagt das zum Sprechen gebrachte Brot. Andererseits erschliesst das Ich des Christus das Brot. Bemerkenswert ist ja, dass das johanneische Brotwort die menschliche Unersättlichkeit- gerade auch die Unersättlichkeit an Weisheit - nicht einfach interpretiert als einen Ausdruck für ein Defizit an Leben. Es sieht in der Unersättlichkeit vielmehr ein Indiz dafür, dass das Leben ganz verfehlt worden sei. Verfehlt eben darin, dass der Lebensunterhalt mit dem Leben selbst verwechselt worden ist. Anders gesagt: Verfehlt darin, dass das, was ich mir erwirken kann, verwechselt wird mit dem, was ich nur empfangen kann. Dem alltäglichen Brot wurde zugemutet, das wahre Leben zu bringen. Oder dem Himmelsbrot wird aufgetragen, Himmelsbrot zu bleiben. Das johanneische Brotwort führt das Himmelsbrot mit dem alltäglichen Brot zusammen, so wie es den Geber mit seiner Gabe ganz zusammenführt. Also erschliesst der Christus in dem alltäglichen Brot die Bedeutung, dass auch in ihm der göttliche Geber Leben gewährt. Die Zeichenforderung will nichts anderes als die personale Gegenwart des Lebensbrotes verhindern. Eben deshalb kommt den noch folgenden Versen (36-40) alles darauf an, die Einheit des Vaters mit dem
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Sohn herauszustellen. Hierbei handelt es sich keineswegs um metaphysische Spekulationen, sondern um den notwendigen Versuch, die Menschwerdung Gottes in Jesus zu denken. Das beginnt damit, dass Christus selbst als das Zeichen schlechthin verstanden wird (V. 36 ). Es geht weiter damit, dass der Sohn keinen von sich stösst, den ihm der Vater gegeben hat (V. 37). Es folgt die Feststellung, dass das Tun Jesu mit dem Willen des Vaters identisch ist (V. 38), und zwar mit dem Willen zur Auferweckung vom Tod zum Leben (V. 39). Und es endet damit, dass das ewige Leben, das ja nur eine Gottesgabe sein kann, im Sehen des Sohnes empfangen wird (V. 40). Man kann selbstverständlich alle diese Aussagen gleichsam von oben herab verstehen, ganz so, als ob die Erscheinung des Irdischen verblassen müsste im göttlichen Licht. Die eigentliche Pointe dieser Sätze liegt aber genau umgekehrt darin, dass der Irdische transparent wird für das göttliche Licht, das keine andere Gestalt als eben die seine zum Leuchten bringt: Wer diesen Sohn sieht, sieht den Vater.
1.4 Das Missverständnis der natürlichen Herkunft (V. 41-51 b) Die Dialogpartner geraten sogar ins Schimpfen. Wie einst die Wüstenwanderer über den Befreiungsakt Jahwes murrten, murren sie jetzt über die Anwesenheit Gottes. Erstmals in diesem Kapitel werden sie identifiziert als »die Juden«. Das mag einerseits damit zusammenhängen, dass die messianische oder auch die gesetzliche Position der johanneischen Gemeinde faktisch vonseiten ihrer jüdischen Umwelt entgegentrat47. Der messianische Glaube, wonach der Mensch Jesus der Messias Gottes nicht sein kann, weil die Ankunft Gottes auf das Ende der Zeiten verschoben wird, ist nach wie vor der kritische Punkt, an dem sich die Geister von Christen und Juden scheiden müssen. Ginge es dabei bloss um ein religionspolitisches Problem, so könnte die Sache auf sich beruhen bleiben. In Wahrheit aber geht es um jenen qualitativen Sprung, welcher die Distanz zwischen Gabe und Geber vollends aufgibt, um den Schritt vom messianischen zum christologischen Gottesverständnis. Da stehen nicht bloss religionspolitische Vordergründigkeilen auf dem Spiel, sondern die elementare Frage nach der Situation des Menschen in der Welt.
•7
Wengst. Bedrängte Gemeinde 62-73.
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Man muss sich freilich vor der Illusion hüten, als könnte man den Messianismus an das Judentum delegieren. Die Juden stehen hier zwar auch ftir die faktischen Einwände der Umwelt, sie stehen aber nicht weniger für die Einwände gegen die Menschwerdung Gottes, welche ihren Ursprung im Herzen der christlichen Gemeinde haben. Gerade das Johannesevangelium legt ein beredtes Zeugnis dafür ab, wie naheliegend der Einspruch gegen den christologischen Umschwung ist. Der Messianismus, der Gott nicht in diesem konkreten Menschen zur Welt kommen lässt, ist natürliche Theologie par excellence, das heisst eine Theologie, die sich weltlich begründet (vgl 1Kor 1, 18-25). »Das ist ja gar nicht die Art, wie die Idee sich realisirt, in Ein Exemplar ihre ganze Fülle auszuschütten ... « 48 • So hatte es schon der natürliche Theologe David Friedrich Strauss formuliert. Jesus, ein grosser Mann, das gerne; ein Künder von Gott, in der Tat; aber doch nicht Gott in Person! So lautet natürliche Theologie in moderner Selbstverständlichkeit. Der Schritt vom Messianismus zur Christologie ist alles andere als selbstverständlich. Und dennoch verspricht die Christologie eine natürliche Theologie. Das Murren der Wüstengeneration richtet sich vordergründig gesehen gegen Jahwe. Aber es richtet sich gegen seinen Befreiungsakt und damit gegen die Murrenden selbst. Im Johannesevangelium erscheint das Murren als ein Versuch, der Nähe Gottes zu widerstehen. Das Murren gilt eigentlich der Inkarnation. Wie kann einer Himmelsbrot sein wollen, wo wir doch seine natürliche Herkunft genau kennen? Die natürliche Herkunft wird - wie schon das Brot - auf ihre Natürlichkeit beschränkt (V. 42f). Nur deshalb steht sie im Widerspruch zum Himmelsbrot. Genauso wie das Brot mehr bedeutet als es darstellt, ist in dieser natürlichen Herkunft Jesu die Herabkunft des himmlischen Brotes (V. 41 Ende) wahrzunehmen. Dies ist die Wahrnehmung des Glaubens, der mit Jesus Gott selbst zu Welt kommen lässt. Dieser Glaube aber ist selbst das Leben, das der Menschensohn auszuteilen hat. Deshalb ist das Murren ein Murren gegen eigene Lebendigkeit, ein Verstoss gegen die wahre Lebendigkeit des Menschen. Ein solcher Glaube stellt keine menschliche Möglichkeit dar. Niemand kann sich selbst zum Lachen bringen. Deshalb sieht V. 44 das Geheimnis des Glaubens darin, dass er das Werk Gottes ist (vgl auch
'M Strauss, Leben Jesu II 734.
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V. 29). Damit wird freilich auch dem Unglauben sein göttliches Geheimnis gelassen (im Gegensatz etwa zur gegenwärtigen Praxis. welche fehlendes Bewusstsein der Bosheit oder gar der Dummheit der betreffenden Menschen zuschreibt und anlastet). Im Schriftzitat (V. 45) wird festgehalten. dass es eine Zeit geben wird, da alle von Gott selbst gelehrt sein werden. Diese Zeit ist nach Johannes gekommen, denn jetzt ist Gott in Person da. Was er zu lehren hat, lehrt er ohne jede Vermittlungsinstanz wie Gesetz, Mose oder Weisheit (vgl 1,18). Dies geschieht deshalb, weil Gott seine Distanz zur Welt vollends aufgegeben hat (vgl die Endzeithoffnung in Jer 31,31 fO. Jetzt gibt es Gottesgelehrte, deren Gelehrsamkeit Gott nicht zum Gegenstand, sondern zum Urspung hat. Gott selbst erzieht sie zur Erkenntnis seines Wortes in den Worten Jesu. Er erzieht sie zur Wahrnehmung des himmlischen Brotes in diesem natürlichen Menschen. Mit dem Gedanken der Inkarnation ist ein Gedanke verbunden, der nach Exklusivität aussieht (V. 46 ). Es geht ihm freilich nicht um den Ausschluss anderer aus dem Sehen Gottes, sondern vielmehr darum sicherzustellen, dass in diesem Menschen Gott zu sehen und zu hören ist. Was exklusiv tönt, ist bloss die logische Konsequenz aus dem Gedanken der Menschwerdung Gottes. Die Tatsache. dass Jesus der »Exeget« Gottes und damit die Vergegenwärtigung des niemals gesehenen Gottes ist, impliziert zwar einen Einspruch gegen die universale Definitionsmacht der Tora (vgl. I, 17). Der Einspruch gegen die universale Definitionsmacht bedeutet jedoch keineswegs die Behauptung. Gottes Wort spreche nicht aus der Tora (vgl. 1.45: 3,14; 5,450: würde die Tora mit den rechten Augen gelesen. könnte auch in ihr der Gedanke der Menschwerdung gefunden werden. Und diesem wiederum geht es um nichts anderes, als um die Verbindlichkeit. mit welcher hier das Leben - verstanden als Gemeinschaft mit Gott - gegeben wird: Aus der exklusiven Verbindung des Vaters mit dem Sohn ergibt sich die absolute Verbindlichkeit der Gemeinschaft Gottes mit den Menschen. Die Gabe des Lebens (V. 47-51) hängt vom Glauben ab. Sie hängt davon ab, ob ich diesen Menschen Gott sein lasse und mir seine Selbsthingabe zugute kommen lasse, oder aber ob ich mir die Gottesbegegnung vom Leibe halte durch die natürliche Theologie des Messianismus oder des Idealismus.
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1.5 Das harte Wort (V. 60-65) Wie naheliegend es ist, in den eben aufgetretenen Juden den personifizierten Zweifel der johanneischen Christen zu sehen, zeigt der vorliegende Abschnitt, in welchem die Jünger ausdrücklich in das Murren einstimmen. Als hart bezeichnen sie dieses Wort, als ein Wort, das niemand hören kann (V. 60). Da wir davon ausgehen, dass die eucharistische Rede erst zu einer späteren Schicht gehört, bezieht sich dieses Murren auf V. 41-5lb zurück. Mit dem »harten Wort« dürfte dann am ehesten der Anspruch Jesu gemeint sein, vom Himmel herabgekommenes Lebensbrot zu sein (V. 50). Dieser Anspruch besteht darin, dass Gott in seiner ganzen Göttlichkeit persönlich anwesend sei in der offensichtlichen Menschlichkeit dieses Menschen. Dieses Wort schmerzt in den Ohren, weil es unerhört ist. Geschichten von herabsteigenden Göttern gibt es viele. Aber sie stören nicht, weil sie die Götter Götter und die Menschen Menschen sein lassen. Sie nehmen den Göttern auch beim Herabsteigen ihre Göttlichkeit nicht weg, was sich in einer übernatürlichen Herkunft niederschlägt. Ein hartes, störrisches, sperriges Wort dagegen ist der Logos von der Menschwerdung Gottes, weil es Gottes Gestalt an einen Menschen bindet, der nicht beliebig formbar ist durch den menschlichen Gestaltungswillen. Darüber ärgern sich die Jünger: dass die Herabkunft des himmlischen Brotes als natürliche Herkunft aus Nazareth gedacht werden muss. Jesus geht in eigenartiger Weise auf diesen Ärger ein. Das ärgert euch schon? Wie wird erst der Aufstieg des Menschensohns zum Anstoss werden ftir euch! Die Unerträglichkeil des Aufsleigens muss dieselbe sein wie die des Herabsteigens. Deshalb wird der Skandal konstituiert sein durch das »natürliche« Ausscheiden Jesu aus der Welt. Sein Aufstieg ist, wie jedermann weiss und sehen kann, ein Aufstieg ans Kreuz 49 • Im Weg an das Kreuz die Rückkehr des Sohnes zum Vater zu erkennen, ist ein skandalöser Gedanke. Hier blitzt die johanneische Kreuzestheologie auf, die jedoch jetzt nicht weiter zu entfalten ist. Wie hängt die Fortsetzung damit zusammen? Das Wort über das nutzlose Fleisch und den lebendigmachenden Geist klingt im ersten Moment wie ein primitiver dualistischer Satz über die Abwertung des
• 9 Mit Buhmann. Johannes 341. Das challai.ntv nimmt Bezug auf das m111111ai.vetv in 6.33.38.41 f.50f: es wird inhaltlich gefüllt mit ;.-~t ans Kreuz. vgl 3.14: 8.28: 12.32.34 (an sämtlichen Stellen. wo Erhöhen vorkommt. ist damit die »Erhöhung« ans Kreuz gemeint).
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Aeischesso. Allerdings muss zunächst der Versuch gemacht werden, den Satz in seinem jetzigen Zusammenhang zu verstehen. Dann ist das Wort Jesu, welches identifiziert wird mit dem lebendigmachenden Geist, die eben besprochene Deutung von Herabkunft und Hinaufsteigen des Menschensohns. Seit der Herabkunft Gottes unter natürlichen Umständen und seit der Himmelfahrt Gottes im widerwärtigen (Kreuzes)Tod ist das wahre Verbrechen gegen die Majestät Gottes die Bestreitung seiner Menschlichkeit. Darum ist das Wort von der Menschlichkeit Gottes der Geist, der Leben schafft, während die mannigfaltige Bestreitung dieser Menschlichkeit das Fleisch ist, das nirgendwo hinführt. So gesehen ist dieser Satz (V. 63) mit dem ganzen Kapitel eng verwoben und rekapituliert den entscheidenden Punkt aller Gedankengänge, wie die folgende Zusammenstellung der Hauptgesichtspunkte zeigt: Sarx ist die Vereinnahmung des Wundertäters zum politischen Messiaskönig, Pneuma ist der Rückzug Jesu zugunsten der Christologie (V. 14f). Sarx ist die Beschränkung des Brotwunders auf die Sättigung, Pneuma ist die Entdeckung des Semeion in diesem Geschehen (V. 26). Sarx ist die verderbliche Speise des auf das Weltliche beschränkten Brotes, Pneuma ist die bleibende Speise, in welcher der göttliche Geber präsent ist (V. 27). Sarx ist die werktätige Vergegenwärtigung Gottes, Pneuma ist die Wahrnehmung Gottes im Glauben (V. 28f). Sarx ist die Zeichenforderung, die den Himmel weltlich festlegt, Pneuma ist die unbedingte W ahmehmung dieses Zeichens Christus (V. 30.36). Sarx ist die Distanzierung der Gabe vom Geber, Pneuma ist die Identifizierung von t..,m und Himmelsbrot (V. 34f). Generell könnte man sagen: Das Fleisch ist gekennzeichnet durch die weltliche Selbstbeschränkung und Beschränktheit, der Geist ist gekennzeichnet dadurch, dass er den Gottesbezug des Geschehens aufdeckt. Das ist die Entdeckung am Aeisch, die durch diesen Geist gemacht werden kann: es bringt nichts hinsichtlich des Lebens. Das wahre Leben ist eine Frucht des Geistes. Immer wieder wird der Bereich des Weltlichen damit belastet, das wahre Leben erbringen zu müssen. Die Entdeckung des Geistes lautet aber: das Weltliche gehört zum Lebensunterhalt, das Geistliche dagegen zum Lebensgewinn. Immer wieder schliesst sich der Bereich des Weltlichen gegen Gott ab, manchmal im 50 Er ist »hermeneutisch« zu verstehen (mit Blank. Johannes Ia 381 f). nicht christologisch (gegen Schnackenburg. Johannesevangelium II 105f). Dualistisch kann er freilich schon wegen 1.14 nicht sein (mil Buhmann. Johannes 342).
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Namen der Majestät Gottes, manchmal auch im Gewand der weltlichen Selbstbescheidung. Die Entdeckung des Geistes aber lautet: das Wort wurde Fleisch (1,14). Daraus erkennt man: Die Dimension der Nutzlosigkeit des Fleisches wird nicht theoretisch entdeckt, sozusagen in der Reflexion auf die Untauglichkeit des Fleisches. Die Dimension der Nutzlosigkeit wird vielmehr so entdeckt, dass dem Menschen nicht etwas abgesprochen, sondern vielmehr zugesprochen wird. Der Geist spricht dem ganz und gar weltlichen Menschen das Leben Gottes zu, und eben deshalb ist es nutzlos geworden, dieses Leben als Produkt des Fleisches zu erjagen. Diese Asymmetrie ist ausserordentlich kennzeichnend ftir die Theologie des Johannesevangeliums. Die Nutzlosigkeit des Fleisches ist selbst nur eine Erkenntnis in der Situation des gegebenen Geistes. Das Fleisch nützt nichts, weil es nicht über sich selbst hinauskommen muss. Gott hat es ja der Gabe des Lebens gewürdigt, indem er selbst Fleisch geworden ist. Der Mensch wird nicht mehr im Himmel erwartet, da der Himmel ihn inmitten des Fleisches zu treffen sucht. Es ist evident, dass solche Entdeckungen auf den Widerspruch des Fleisches stossen; der Glauben ist - wie V. 64f noch einmal festhalten- alles andere als selbstverständlich. 1.6 Das provozierte Bekenntnis (V. 66-71)
Das harte Wort bedeutete für viele Nachfolger einen Skandal. Dementsprechend redet der vorliegende Abschnitt von einer grösseren Krise im Kreis der Nachfolger. Diese Krise hat historischen Hintergrund, sowohl was den Gang der Ereignisse um den irdischen Jesus betrifft~1 als auch hinsichtlich des Geschicks der johanneischen Gemeinde, die unter zunehmenden Druck vor allem von seiten ihrer jüdischen Umwelt kam 52 • Interessant ist der Ausdruck des Abfallens: 2
Becker, Johannes 1219-221; Richter, Studien 101-112.
2 Zur Auslegung des Johannesevangeliums
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Dieser Abgrund wird überwunden, indem in der natürlichen Herkunft das Herabsteigen vom Himmel gesehen wird; damit ist das inkarnatarische Denken in Gang gesetzt (V. 41-51 b ). Diese Identität von Herkunft und Herabkunft wird gesteigert durch die Identität von widerwärtigem Tod Jesu und Hinaufsteigen in den Himmel. Jetzt wird die Inkarnation nicht mehr allgemein gedacht (Gott wurde ein Mensch), sondern konkret (Gott wurde dieser Mensch), was die menschlichen Phantasien und Wünsche selbst vom Himmel herabsteigen und diesem Weg Jesu ausgeliefert sein lässt (V. 60--65). Jedes Verlassen dieser lebenspendenden Gemeinschaft müsste einen Rückschritt darstellen, vor dem das Bekenntnis bewahren will (V. 66-71). Schliesslich spricht der eucharistische Abschnitt vom Eingehen des Menschgewordenen in das Mahl, das eine Stiftung seiner Hingabe ist. Auf diese Weise wird die inkarnatarische Theologie fortgesetzt in die sakramentale Erfahrung der Gemeinde (V. 51 c-58). Damit ist der Gedankengang abgeschlossen, ein Gedankengang - wie mir scheint - von grassartiger innerer Konsequenz und Schönheit.
2 Zur Auslegung des Johannesevangeliums In diesem letzten Abschnit soll der Versuch gemacht werden, die in der Auslegungsskizze von Joh 6 gemachten Beobachtungen ftir die Auslegung des gesamten Johannesevangeliums fruchtbar zu machen. Ich konzentriere mich dabei auf drei Hauptebenen: die Ebene der Theologie beziehungsweise Christologie, die der Religionsgeschichte und die der Hermeneutik. 2.1 Die Menschwerdung Gottes Analyse und Interpretation des sechsten Kapitels haben gezeigt, dass der entscheidende Denkansatz des Johannesevangeliums die Inkarnation ist. lnkarnatorische Christologie lässt sich in allen Traditionsschichten des Evangeliums beobachten, angefangen bei den Vorstufen wie etwa des Prologs oder der Sendungsformel (3,16) über die grossen Reflexionsgänge in den Reden bis hin zur sogenannten kirchlichen Redaktion. In allen Schichten geht es gleichermassen um die Menschwerdung Gottes, auch wenn verschiedene Reflexionsstufen durchaus unterscheidbar sind. Entgegen anderslautenden Thesen muss also nach wie
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vor Joh 1,14a (Das Wort ward Aeisch) als Schlüssel zum ganzen Johannesevangelium betrachtet werden63 • Theologiegeschichtlich gesehen ist noch einmal beim grossen Kommentar von Rudolf Bultmann anzuknüpfen, der bekanntlich den Inkarnationsgedanken zum Zentrum des Evangeliums machte64 • Allerdings ist in dieser Sache Bultmann gegen sich selbst kritisch in Anschlag zu bringen. Es erhebt sich die Frage, inwiefern Bultmann in der Durchführung seines Inkarnationsgedankens diesem gerecht geworden ist. Bultmann arbeitet auf vielerlei Weise immer das eine heraus, dass ein bestimmter historischer Mensch zur Rede von der Menschwerdung Gottes ermächtigte. Dennoch hält er zugleich fest, dass der Offenbarer bei Johannes eine strikte Unanschaulichkeit besitzet>s. Das entscheidende Paradox liegt in der Menschwerdung selbst, nicht etwa im Eingehen Gottes in dieses bestimmte Menschsein. Deshalb offenbart der Offenbarer Gottes nichts anderes, »als dass er der Offenbarer ist« 66 • Mit dieser Konzentration auf das Dass der Menschwerdung wird der von Bultmann selbst herausgestellte Gedanke, dass ein bestimmter historischer Mensch Ursprung dieser Rede von der Inkarnation sei, wieder unterlaufen. Die Menschwerdung wird allgemein gedacht: Gott ist ein Mensch geworden. In diesem allgemeinen Gedanken emanzipiert sich die Auslegung vom konkreten Menschsein Jesu und umgeht dadurch das harte Wort, das die menschliche Gestalt Gottes dem menschlichen Gestaltungswillen dadurch entzieht, dass es sie an das Menschsein Jesu bindet - an seine natürliche Herkunft, an seine zufällige Geschichte, an seinen widerwärtigen Tod. Gerade das sechste Kapitel zeigt auf mancherlei Weise, dass der Inkarnationsgedanke seine Vollendung erst durch das Wie des Menschseins Jesu findet. So wird beispielsweise ausgegangen vom Brotwunder, einer Geschichte, die für den Evangelisten das Wie der Existenz Jesu zur Sprache bringt. Auch wenn dieses Brotwunder gesteigert wird bis hin zur Ich-bin-Aussage, wird es dadurch dennoch nicht entbehrlich. Es gilt von allen Semeiaerzählungen, die in dieser Art 6 ~ Weder eine tradilions- noch eine religionsgeschichtliche Relativierung dieses Satzes. wie sie in neueren Arbeiten vorgenommen wird (zB Becker. Johannes I 75-80; Schollroff. Der Glaubende 271-283). ist dem Evangelium angemessen. M Für Buhmann. Johannes 41. ist mit 1.14a das »Thema« des Evangeliums fonnulien; dies bezeichnet zugleich den Schritt vom Mythos zum Logos (38-43 ). M Buhmann betrachtet es als »pietistisches Missverständnis«, wenn dem Menschgewordenen »Anschaulichkeit« zugeschrieben wird (Johannes 43). f>f> Buhmann. Johannes 418 (gesperrt).
2 Zur Auslegung des Johannesevangeliums
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für die johanneische Theologie ausgewertet werden, dass sie nicht bloss formale Aufhänger für die nachfolgenden Ich-bin-Aussagen darstellen, sondern dass sie gerade für das tym des Christus aufschlussreich bleiben. Die Speisung ist nicht nur dazu da, das Faktum der göttlichen Gegenwart in Christus aufzuzeigen, sondern ebenfalls dazu, diese göttliche Gegenwart zu präzisieren als überraschende Austeilung des Lebens in der Gestalt des Brotes und des Wortes. Unterstrichen wird dieser Charakterzug deutlich dadurch, dass nicht bloss das Faktum der natürlichen Geburt, sondern vielmehr die Herkunft aus der Familie des Joseph und der Maria, und nicht bloss das Faktum des menschlichen Todes, sondern vielmehr die konkrete Gestalt der Erhöhung ans Kreuz67 herausgestellt werden. Das ganze Kapitel ist um nichts anderes bemüht als um die Konkretheil der Menschwerdung Gottes. Und es erscheint in diesem Zusammenhang als ein groteskes Missverständnis, wenn die Christologie des Johannesevangeliums als naiver Doketismus bezeichnet wird611 • Diese These isoliert einen - gewiss vorhandenen -Aspekt, denjenigen der Doxa, und widersetzt sich damit gerade dem Grundzug johanneischer Theologie, welche Himmel und Erde zusammenhalten will. Im sechsten Kapitel ist dies deutlich geworden, es wird nicht weniger deutlich etwa im Gebrauch des Wortes i>\jiO)"'lval, wo die Erhöhung ans Kreuz und die Erhöhung in den Himmel zur unauflöslichen Einheit verschmolzen sind, oder des Wortes mpa, in welchem die Stunde des Triumphs an die Stunde des Todes gebunden wird. Wir können im sechsten Kapitel beobachten, wie alle sprachlichen Mittel aufgewendet werden, damit Himmel und Erde zusammengedacht werden. Dies liesse sich auf der Ebene der Christologie zeigen (wo es um die Konkretheil des Menschseins geht), ebenso aber auch auf der Ebene des Brotes (wo es um die Präsenz des Gebers geht) und auf der Ebene des Sakramentes (wo es um die Materialität des Essens und Trinkens gleichennassen geht wie um die Gemeinschaft mit Gott, die es stiftet). Es ist der springende Punkt der johanneischen Theologie, Himmel und Erde zusammenzudenken. Von hier aus gesehen ist es fragwürdig, dem Johannesevangelium Dualismus zu unterstellen, gleichgültig ob dies nun kosmologischer oder Entscheidungsdualismus sei 69 • Es trifft zwar zu, dass das Johannesevangelium in Dualitäten denkt Vgl3.14-17: 12.32f.34. So Käsemann. Jesu leizier Wille 52. •w Gegen Schollroff. Der Glaubende 289-296. h7
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(etwa Himmel und Erde, Licht und Finsternis, Wahrheit und Lüge). was jedoch keineswegs heisst, dass es dualistisch denkt. Der Dualismus wird in mancher Hinsicht durchbrochen, genauer: ihm kommt das Johannesevangelium zuvor. Der kosmologische Dualismus wird dadurch überwunden, dass von einer Bewegung ausgegangen wird: von der Bewegung des Himmels auf die Erde zu. Anstelle der Statik des Dualismus, bei welcher selbst das Kommen des Erlösers keinen andern Sinn hat, als die Geschiedenheil zwischen Himmel und Erde zu etablieren, kennzeichnet das Johannesevangelium die Dynamik der Menschwerdung Gottes, die Dynamik desZugehensauf die Welt. Diese Bewegung kommt beispielsweise in der Christologie zum Tragen, welche durch den Sendungsgedanken bestimmt ist. Sie kommt zum Tragen als Bewegung der Liebe, welche auf die Rettung statt auf die Krisis der Welt zielt. Sie kommt zum Tragen in der Bewegung der Gemeinde auf die Welt zu, in welcher sich die Sendung des Sohnes fortsetzt 70 • Dualistisch wäre die Feststellung, dass Licht und Finsternis getrennt sind, dynamisch ist dagegen der Satz, dass das Licht in der Finsternis scheint (1,5.9). Der Entscheidungsdualismus wird überwunden, indem für die Asymmetrie des gegebenen Lebens Partei ergriffen wird. Der Mensch steht nicht am Scheideweg zwischen dem eigentlichen und dem uneigentlichen Leben. Er steht vielmehr vor der Entscheidung, das gegebene Leben abzulehnen (was in unserem Kapitel anhand des provozierten Bekenntnisses und sonst im Evangelium etwa an der Thematik des Bleibens 71 abtesbar ist). Die Dynamik der Menschwerdung schlägt sich nicht bloss in Aussagen, sondern auch in der Sprachgestalt des Evangeliums nieder. In vielen dialogartigen Gedankengängen wird diese Bewegung vollzogen als Überwindung der Missverständnisse, deren Basis entweder weltliche oder himmlische Statik ist. Was Paulus als Zusammenprall von Torheit und Ärgernis einerseits und Gottesweisheit und Gotteskraft andererseits angesichts des Kreuzestodes darstellt (I Kor 1,18-25), ist bei Johannes die Auseinandersetzung mit materialistischen und spiritualistischen Missverständnissen, welchen der Menschgewordene begegnet. Gerade das sechste Kapitel zeigt, wie sehr das Johannesevangelium geprägt ist von einem Nachdenken über das Ereignis, welches der Glaube als schlechthin entscheidendes ausspricht. Diese Theologie ist nicht ein70 71
Vgl 17.18 und Lindemann. Gemeinde 133-161. Dazu Heise. Bleiben.
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fach getrieben von Gefahren innerer und äusserer Natur, nicht einfach bedingt von religionsgeschichtlich beschreibbaren Vorstellungsinhalten, sie ist vielmehr aus dem Ereignis Jesus Christus heraus entstanden, welches in der johanneischen Gemeinde zu denken gibt. In der stetigen Entfaltung des Gedankens der Menschwerdung, welche das Evangelium in immer neuen Anläufen vollzieht, zeigt sich die Dynamik der Menschwerdung erneut, und zwar auf erkenntnistheoretischem Gebiet. Deshalb ist der theologischen Innovationskraft der johanneischen Gemeinde viel mehr zuzutrauen als die religionsgeschichtliche Arbeit sich eingesteht, leite sie nun das Johannesevangelium aus der hellenistischen Gnosis oder aus dem Judentum ab. 2.2 Die religionsgeschichtliche Arbeit Die religionsgeschichtliche Arbeit am Johannesevangelium kann aufgegliedert werden in zwei Arbeitsgänge: in einen genetischen und einen hermeneutischen. Im Rahmen genetischer Fragehinsichten muss versucht werden, das Milieu religiöser Vorstellungen zu erkennen, in welchem dieses Evangelium entstanden ist. Auch das sechste Kapitel bestätigt, dass extreme Positionen - etwa die These, dass die Gnosis die Voraussetzung dieses Evangeliums sei 72 , oder dass es sich ganz aus dem alttestamentlichen und rabbinischen Judentum verstehen lasse 73 nicht haltbar sind. Die religionsgeschichtlich relevanten Vorstellungen des Kapitels wie Mannathematik, Lebensbrot, Aufhören von Hunger und Durst lassen sich sämtlich aus dem hellenistischen Judentum verstehen, genauerhin aus der Sophiatheologie dieses Judentums 74 • Dasselbe gilt auch für den Prolog und für die Sendungschristologie. Die Frage ist, in welchem Verhältnis das Johannesevangelium zu Weisheitstheologie einerseits und Gnosis andererseits stehe. Die Weisheit ist eine Figur, welche die Gegenwart Gones in der Welt auszudrücken vermag. Die Weisheit ist anzutreffen auf vielbegangenen Pfaden, auf Marktplätzen und an Stadttoren. Die Weisheit macht die Erfahrung, dass sie nicht angenommen wird von den Menschen. In der Weisheitsliteratur gibt es verschiedene Reaktionen auf diese Ablehnung. Einerseits nimmt die Weisheit in der Gestalt des Gesetzes in Israel Wohnung (Sir 24), andererseits zieht sie sich, nachdem sie ihre Wahrheit in n Vgl oben Anm 4.5. n Vgl oben Anm 4. 74
Dazu Borgen. Bread passim.
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einem kleinen Kreis von Apokalyptikern enthüllt hat, wieder in den Himmel zurück (äthHen 42). So sehr die Weisheitstheologie die Möglichkeit bietet, von der Gegenwart des Göttlichen in der Welt zu sprechen, so wenig bietet sie Anhalt ftir die Aussage, dass der göttliche Logos selbst Aeisch geworden ist. Diese Aussage bedeutet einen qualitativen Sprung im urchristlichen Denken, der aus den religionsgeschichtlichen Voraussetzungen nicht mehr ableitbar ist. Die Inkarnationsaussage muss als Neuschöpfung des Urchristentums angesehen werden. In ihr berührt sich das Johannesevangelium mit der Weisheitstheologie, und sie ist zugleich der Scheideweg der beiden. Andererseits ist unverkennbar, dass das Johannesevangelium eine gewisse Affinität zur gnostischen Weltsicht hat. Es ist gewiss kein Zufall, dass der älteste Kommentar zum vierten Evangelium vom Gnostiker Herakleon stammt. Dennoch hiesse es Ursache und Wirkung verwechseln, wollte man die johanneische Theologie als gnostisch oder antignostisch bezeichnen. Erst die Entschlossenheit, mit welcher dieses Evangelium Gott und Mensch in Jesus zusammendachte, gab Gelegenheit, diesen Gedanken einer gnostischen Zersetzung zu unterziehen. Die auf die Spitze getriebene Zusammenschau von Doxa Gottes und Sarx Jesu im 4. Evangelium gab erst Gelegenheit, sich undialektisch auf die Seite der Doxa zu schlagen und damit die Sarx Jesu zu verflüchtigen. Genau dies vollzieht aber die gnostische Interpretation des lnkarnationsgedankens7~. Hier wird die Menschwerdung rückgängig gemacht, weil der schroffe Gegensatz zwischen Himmel und Erde sich alles wieder unterwirft. Die doketische Christologie ist dashalb meines Erachtens als Zerfallsprodukt der inkarnatorischen zu betrachten, wie überhaupt die Gnosis, soweit sie christliches Gedankengut adaptiert, als eine Zerfallserscheinung des Christlichen zu gelten hat. Was die Gnosis in räumlichen Kategorien auseinanderhält, hält der Messianismus in zeitlichen Kategorien auseinander. Er ist, wie die Auseinandersetzung im sechsten Kapitel zeigt, der Widerstand gegen die Menschwerdung Gottes im Namen der Majestät Gottes. Eine bemerkenswerte Verwandtschaft!
H Zum Beispiel NHC II 3: I05.29-106.10: vgl Rudolph. Gnosis 171 f. Wenn Rudolph den Graben zwischen gnostischer und christlicher Christologie weniger tief ziehen will als in der »jüngeren theologischen Forschung«. so verkennt er dabei mindestens die johanneische Theologie. Das zeigt sich auch daran. dass Rudolph Joh 1.14 mit " "ins Aeisch' gekommen [sie![ .. wiedergibt (173).
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Mir scheint, die religionsgeschichtliche Arbeit habe sich mit wenigen Ausnahmen einseitig auf diese genetische Fragestellung konzentriert. In unzähligen Untersuchungen wird etwa nach der Herkunft der Vorstellung vom Lebensbrot gefragt, werden subtile Unterschiede herausgearbeitet. In den meisten Fällen endet hier die religionsgeschichtliche Arbeit. Ginge es aber nicht darum, diese Arbeit henneneutisch zu treiben? Zu fragen, was eine bestimmte religiöse Vorstellung zu verstehen gibt? Ginge es nicht darum, auch religiöse Vorstellungen als Lebensphänomene zu verstehen? Was bedeutet es etwa, wenn die Vorstellung vom Lebensbrot ihren Ursprung in der Mannageschichte haben sollte 76? Israel erfuhr in jenem über Nacht vom Himmel gefallenen Brot die Bewahrung seines Lebens, ein Zeichen dafür, dass es aus der Materialität des Gegebenen lebt. Bei der Materialität allerdings konnte es nicht stehenbleiben: es begann im Manna die Tora oder die Weisheit zu sehen 77 • Darin birgt sich die Erkenntnis, dass Leben nicht nur auf gute Gaben, sondern auch auf gute Worte angewiesen ist. Was bedeutet es weiter, wenn etwa bei Philo die Weisheit zur Speise für die Seele wird 7 K, losgelöst von der Materialität des Brotes? Wird hier nicht der ganzheitliche Gottesbezug verflüchtigt dadurch, dass nur in den immateriellen Gaben Gott wahrzunehmen ist? Diese Verschiebung in der Gotteswahrnehmung ist begleitet von einer entsprechenden Verschiebung in der Anthropologie, und das Ganze drückt sich aus in einer Schriftauslegung, welche - etwas pointiert gesagt - in der geschichtlichen Welt alttestamentlicher Erzählungen die platonische Ideenwelt entdeckt - eine wohl abgründige Seite der phiIonischen Allegorese. Was bedeutet weiter die eschatologische Erwartung, welche die Speisung mit himmlischem Brot auf das Ende der Welt verschiebt? Ist da nicht die faktische Lebendigkeit des Menschen übergangen worden, die doch durch das jetzige und diesseitige Brot auch gewährt wird - von wem denn sonst als vom Schöpfer? Schliesslich: Welche Verschiebung hat stattgefunden, wenn in Joseph und Aseneth der wahre oder falsche Nährwert der Speise abhängt von der rituellen Qualität des Essens beziehungsweise von der religiös-ethnischen Statur
So Borgen, Bread 14M-I 50; Richter. Studien 240f. Etwa bei Philo. Mut 259f; vgl Borgen. Bread 111-115; oder GnR 70.5. zitien bei Schnackenburg. Johannescvangclium IV 122. 7 ~ Philo. rer.div .her. 191; bei Schnackenburg. Johannesevangelium IV 124 7h 77
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des Essers, so dass der Jude das tägliche Brot sich zum Leben isst, der Heide dagegen zum Tod7 9 ? Allen diesen Fragen müsste im Rahmen einer hermeneutisch arbeitenden Religionsgeschichte nachgegangen werden. Die Vorstellung vom Lebensbrot bringt jedenfalls zum Ausdruck, dass Leben nicht zur Verfügung steht, nicht produziert werden kann, sondern durch Lebensmittel erschaffen wird - materielle und immaterielle. In diesem Zusammenhang steht das Ich-bin-Wort von Joh 6, in welchem der konkrete Mensch Jesus als personal anwesendes Lebensmittel erschlossen wird. Was heisst es, dass in ihm materielle Speise und Wort Gottes unlösbar verbunden sind? Er erschliesst die Welt in ihrer göttlichen Dimension, eine Sache, die die Christologie direkt mit der Schöpfungstheologie verknüpft. Er erschliesst Gott als nahen Geber aller Lebensmittel, eine Sache, die die Christologie mit der Eschatologie verknüpft. Er erschliesst das Leben als Leben aus dem Gegebenen, was diese Christologie soleriologisch macht. Dies alles sind nur tastende Versuche, an die hermeneutischen Dimensionen religionsgeschichtlicher Arbeit heranzukommen. In dieser Richtung müssten meines Erachtens die Anstrengungen erheblich verstärkt werden. Es ist müssig, über religiöse Vorstellungen zu reden, seien dies christliche oder nichtchristliche, solange sie nicht als Lebensphänomene verstanden werden können. 2.3 Zur hermeneutischen Problematik der Johannesauslegung Es ist wohl eine sinnvolle Annahme, dass die Hermeneutik einer Auslegung sich bemüht, sich dem ausgelegten Text anzupassen. Demzufolge ist es angemessen, das inkamatorische Denken des Johannesevangeliums als eine hermeneutische Anweisung zu dessen Auslegung zu betrachten. Das inkamatorische Denken des Johannesevangeliums stellt die Auslegung vor erhebliche Probleme. Mit ihm ist ja gegeben, dass dieser Text den Charakter eines Ereignisses gewinnt. Mit der Menschwerdung Gottes ist es gegeben, dass das Reden über den Menschgewordenen nicht mehr seine Lehre von seiner Person abstrahieren kann, dass das Reden über ihn auch keine Lehren aus ihm ziehen kann, sondern dass es nichts anderes im Sinne haben kann, als eine Begegnung mit dem
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Dazu Burchard. Untersuchungen 126-128.
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Menschgewordenen herbeizuführen. In welchem Ausmass dies dem Johannesevangelium selbst gelungen sei, ist eine Frage, über die man streiten kann. Unabhängig von ihrer Beantwortung gilt aber, dass ein Text über den Inkarnierten die Begegnung mit ihm herstellen muss. Damit ergibt sich für die Auslegung das Problem, wie diese Begegnung zu wiederholen sei. Es ist meines Erachtens als hermeneutischer Notstand zu betrachten, dass die exegetische Literatur weithin eine historische Deskription der Texte liefert, statt einer Wiederholung dessen, was sie vollziehen. Eine historische Deskription verhindert insofern die Begegnung, als sie den Text ganz bewusst und methodisch der Gegenwart entzieht, in welcher der Ausleger faktisch steht. Ganz abgesehen einmal davon, dass der Ausleger im Vollzug einer historischen Deskription einen Standpunkt zu gewinnen versucht, den er unmöglich gewinnen kann und auch nicht gewinnen soll - den Standpunkt der ursprünglichen Leser oder gar des Autors der Texte -, macht er die Texte zu Fossilien, und damit wird ihr Leben zur Versteinerung. Dieser Gefahr kann meines Erachtens nicht schon durch die wirkungsgeschichtliche Dimension gewehrt werden, denn auch die Wirkungsgeschichte kann betrieben werden als in die Gegenwart verlängerte historische Deskription, welche einer Begegnung mit dem Text im Wege steht. Es soll damit nicht die Notwendigkeit wirkungsgeschichtlicher Untersuchungen bestritten werden; sie haben ihren Platz, wo es um die Rechenschaft über vergangene Begegnungen mit dem Text geht. Dennoch muss die Auslegung über die Beschreibung von Begegnung hinauskommen zu einem gegenwärtigen Vollzug der Begegnung mit dem Text und damit dem Fleischgewordenen. Dieser Vollzug kann wohl nur geschehen, wenn statt historischer Deskription eine Interpretation geleistet wird, welche den vergangenen und fremden Text entschlossen mit den Augen des Auslegers und seiner Zeit ansieht. In diesem Erkenntnisvorgang werden am vergangenen Text Dimensionen entdeckt, die zum Zeitpunkt seiner Entstehung nicht gesehen werden konnten und die dennoch Dimensionen der Wahrheit jenes Textes sind. Als Beispiel sei die neuzeitliche Situation der weltlichen Verschlossenheit genannt, in welcher der Inkarnationsgedanke des Johannesevangeliums eine ganz neue Wahrheit gewinnt. Was die Welt seit der Entstehung jenes Textes gesehen hat, können wir nicht ungesehen machen, wir werden es so weit wie möglich einbeziehen müssen, wenn wir unseren Blick auf das Johannesevangelium richten. Das bedeutet nicht, unsere Fragen und
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Probleme einzutragen in die Texte und diese so festzulegen, wohl aber bedeutet es, dieselben heranzutragen an die Texte. Das Johannesevangelium lässt sich deskriptiv nicht adäquat erfassen. Man wird wohl sogar sagen müssen: Es lässt sich überhaupt nicht erfassen, es sei denn, es erfasse den Ausleger, es sei denn, es trete an den Ausleger heran, um ihn als Subjekt anzusprechen, um ihn, der sich in der historischen Deskription aus den Dingen herauszuhalten versucht, erneut in sie zu verwickeln. Deshalb wird auch die wissenschaftliche Auslegung nicht in erster Linie nach dem Johannesevangelium zu fragen haben, sondern nach dem Evangelium, wie es bei Johannes zur Sprache kommt. Was für eine Sprache spricht eine solche Auslegung? Die Antwort auf diese Frage muss wohl - mit vereinten Kräften - erst noch gefunden werden.
Der Mythos vom Logos (Johannes 1) Überlegungen zur Sachproblematik der Entmythologisierung ))Geschrieben steht: 'Im Anfang war das Wort!' Hier stock ich schon! Wer hilft mir weiter fort? Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen, Ich muss es anders übersetzen. Wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin. Geschrieben steht: Im Anfang war der Sinn. Bedenke wohl die erste Zeile. Dass deine Feder sich nicht übereile! Ist es der Sinn. der alles wirkt und schafft? Es sollte stehn: Im Anfang war die Kraft! Doch auch indem ich dieses niederschreibe, Schon warnt mich was, dass ich dabei nicht bleibe. Mir hilft der Geist! auf einmal seh ich Rat Und schreibe getrost: Im Anfang war die Tat!- cc 1
Die Begegnung des faustischen Menschen mit dem johanneischen Mythos vom Logos gestaltet sich als ein Übersetzungsversuch, der von einer seltsamen Dynamik beherrscht ist. Der faustische Mensch wird immer mehr abgetrieben vom Wort, das am Anfang war. Über den Sinn, der ihm zu wenig schöpferisch ist, treibt es ihn zur Kraft. Auch sie verwirft er, sie ist ihm zu sehr blosse Möglichkeit. So endet er bei der Tat, erst sie macht ihn getrost. Kann man sich eines Geistes trösten, der die ganze Welt auf die Tat gründet und insofern die Menschenwelt ganz auf die Tat zurückwirft? Ist, was hier als Übersetzung erscheint, in Wahrheit nicht eine Verabschiedung des Wortes? In einem Text von vierzehn Zeilen steht nicht weniger als zehn Mal »ich«. Kaum sind die ersten paar Worte gelesen - hier stock ich schon - , fällt das Ich dem Gesagten ins Wort. Sollte es einen Zusammenhang geben zwischen dem zur Tat drängenden Ich und dem Ich, das zuvorkommendes Wort
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Goethe. Faust I 180f (in diesem Text lautel das erste Won: »Geschirben« ).
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nicht ausreden lässt? Sollte es einen Zusammenhang geben zwischen dem neuen Mythos der Tat, der da unversehens an die Stelle des alten Mythos vom Logos tritt, und der neuen Zeit, wo das Ich dem Gesagten ungeniert ins Wort fällt? Wie dem auch sei, für den Moment kehren wir vom faustischen Menschen zum biblischen Wort zurück. In den folgenden Überlegungen wird der Johannesprolog herangezogen als Paradigma für das Thema Mythos und Rationalität. Als Mythos vom Logos soll dieser Text betrachtet werden. 2 Dadurch entsteht ein neues Spannungsfeld: Mythos - Logos - Rationalität. Ich werde nicht bei allgemeinen Theorien3 einsetzen, sondern das Verhältnis von Mythos, Rationalität und Logos anhand des Johannesprologs, anhand eines gegebenen Einzelphänomens also, bedenken. 4 Man mag dies als ein Signal daftir verste-
2 Diese Betrachtungsweise ergibt sich ungezwungen. wenn man beachtet. dass hier eine mythische Geschichte erzählt wird, deren durchgehendes Subjekt der Logos ist. Man könnte freilich sagen. der Johannesprolog gehöre zum Kerygma und sei daher nicht als Mythos zu bestimmen. Zur Unterscheidung von Mythos und Kerygma vgl Müller. Mythos und Kerygma. bes 408-411. Müller macht insbesondere auf das Weiterwirken mythischer Motive im biblischen Kerygma aufmerksam (»Animatisation bei der menschgernässen Wirklichkeitsverminlung« und »Begründung durch ein geschichtliches ·~ in Analogie zur Begründungsfunktion der Urzeit im Mythos•. aaO 408). 1 Dies geschieht auf eindrückliche Weise in K. Hübners Arbeit, Die Wahrheit des Mythos. Hübner kommt zum Schluss. dass »wissenschaftliche und mythische Erfahrung ... die Rleiche Struktur• haben (aaO 287). Heide haben gleichermassen eine rationale Struktur. und dass die eine gegenüber der andem dominant ist. betrachtet Hübner als historische Kontingenz (ebd). Heide Weisen der Erfahrung enthalten »vorralionale« (so die terminologische Entscheidung Hübners im Gegenüber zum »Irrationalen«, aaO 288) Voraussetzungen, ohne dass dadurch ihre eigene Rationalität in Abrede gestellt werden könnte. Zu präzisieren ist freilich, dass Rationalität und Rationalismus nicht dasselbe sind. Unter dem Rationalismus »ist eine philosophische Richtung zu verstehen, die bestimmte Axiome oder Prinzipien (... ) als Ausdruck einer absolut und damit intersubjektiv für immer bindenden Vernunfteinsicht betrachtet. Wenn man so will. kann man die gesamten vorangegangenen Untersuchungen (sc die Hauptuntersuchungen der Arbeit) als eine einzige Widerlegung dieser weder historisch noch systematisch haltbaren Denkrichtung ansehen• (aaO 289). Rationalität ist demgegenüber anders definien (vgl die Definition Hübners. aaO 239-242). so dass sie durchaus auch dem Mythos zuerkannt werden kann. Mit einem an so grassräumigen Überlegungen orientienen Ansatz sind erhebliche Probleme verbunden. Die Frage. ob die Rationalität der Wissenschaft oder diejenige des Mythos den Vorrang hat. ist nicht bloss eine Sache historischer Kontingenz (auch historisch Gewordenes hat übrigens einen Sachaspekt. der die historische Entwicklung transzendien) und auch nicht bloss eine Frage der Axiomatik. Die Frage beispielsweise. ob die Wellen des Meeres mit Neptun oder mit den Hauptsätzen der Thermodynamik angegangen werden. ist weder historisch noch axiomatisch zu entscheiden. sondern im Blick auf das. was tatsächlich der Fall ist. •Wenn es sinnvoll ist. hier von einem Mythos zu sprechen. dann ist zu erwanen. dass die genaue Beobachtung dieses Mythos und seiner Pragmatik auch etwas erkennen lässt über das
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hen, dass Denken sich mit Vorteil als Nachdenken über das Gegebene vollzieht - auch dies schon ein Beitrag zum Thema Mythos und Rationalität. Mit dem Nachdenken über den Mythos ist in unserem Jahrhundert der Name Bultmanns verbunden. Sein Programm der Entmythologisierung, genauer: dasSachanliegen dieses hermeneutischen Unternehmens wird deshalb mit im Vordergrund stehen. Es ist unvermeidlich, eine wenn auch vorläufige - Definition des Mythos als Ausgangspunkt zu wählen, obwohl sich dieses Phänomen immer wieder der begrifflichen Erfassung entzieht. Mythisches Denken ist dadurch definiert, dass es die Dimension der vorliegenden Welt überschreitet und von Dingen zu erzählen weiss, die nicht beschrieben werden können in den Kategorien von »der Fall sein« oder »nicht der Fall sein«.s
1 Beobachtungen zum Johannesprolog In diesem Text wird ein Mythos erzählt, der den Logos zum Thema hat. Mythos und Logos sind also eng aufeinander bezogen. Diese Verbindung impliziert eine Kritik an der selbstverständlich gewordenen
allgemeine Phänomen des Mythischen. Hier wird der Zugang nicht über die Definition des Mythischen, die aus der Abstraktion von den Mythen entsteht, gesucht, sondern über die Wir· kungen, die sich an diesem konkreten Mythos beobachten lassen, über seine Wirklichkeit also. ~Sehr brauchbar ist nach wie vor Bultmanns Definition, auch wenn sie nicht einhellige Zustimmung gefunden hat: •Der Mythos redet von der Macht oder von den Mächten, die der Mensch als Grund und Gren1.e seiner Welt und seines eigenen Handeins und Erleidens zu er· fahren meint. Er redet von diesen Mächten freilich so, dass er sie vorstellungsmässig in den Kreis der bekannten Welt, ihrer Dinge und Kräfte. und in den Kreis des menschlichen Lebens. seiner Affekte, Motive und Möglichkeiten, einbezieht .... Er redet vom Unweitlichen weltlich. von den Göttern menschlich« (Bultmann, Mythologie 22). Bultmann ist sich wohl bewusst. dass diese Definition sich von der »modernen« abhebt (vgl ebd Anm 2). Schon die Definition ist -entsprechend dem Hauptanliegen Bultmanns - auf den hermeneutischen Umgang mit der Mythosproblematik abgezielt. Zur Kritik an diesem Mythosbegriff vgl zuletzt Müller, Mythos 40~ II, eine Kritik, die Bultmanns Anliegen und eigentliche Stossrichtung nicht ganz trifft. Mythisches Denken interpretien die vorliegende Welt jedenfalls so, dass es die Dimensionen von Raum und Zeit überschreitet. Im ganzen lässt sich feststellen, dass bisher kein einheitlicher Begriff des Mythos gefunden werden konnte. Zu vielfältig sind die Definitionen, je nachdem ob sie inhaltlich, funktional, linguistisch oder ästhetisch angesetzt sind. Wichtig ist jedenfalls das Moment des Erzählerischen, das seit Aristoteles, Poetik. 1450 a 3-5 zu den wesentlichen Merkmalen des Mythischen gezählt wird (bei Anstoteies steht das Won I'~ für die Erzäh· Jung überhaupt). Zum Problem vgl Horstmann. Mythos 300-318: Hübner, Wahrheit 4892.93-235: Blumenberg. Wirklichkeitsbegriff 11-66.
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Annahme, der Mythos schreite durch Aufklärung fort zum Logos, die Mythologie müsse durch das Licht der Vernunft in Rationalität verwandelt werden/1 Wer einem Mythos vom Logos nachzudenken hat, wird es schwer haben, dem Fortschritt vom Mythos zum Logos das Wort zu reden.7 1.1 Mythische Dimensionen im Johannesprolog Dass der Anfang des Johannesevangeliums ein Mythos sei, ist nicht allgemein anerkannt. Das neuzeitliche Urteil, Mythen seien minderwertig, wirkt sich aus im exegetischen Interesse, den Johannesprolog vom Mythos abzusetzen." Er hat indessen deutlich mythologische Züge. ~So eine der einflussreichsten Arbeiten des zwanzigsten Jahrhunderts. W. Nestle. Vom Mythos zum Logos. Sie vertritt die These, dass das Griechentum »auf der einmal eingeschla· genen Bahn vom Mythos zum Logos unaufhaltsam« weiterschreitet (aaO 539). ganz so. als ob die mythische Wahrnehmung der Welt durch ihre logische Beherrschung zunehmend und irreversibel ersetzt worden wäre. 7 Dieser Fonschrittsgedanke wird bei Hege I konsequem durchgeführt: »Die Mythe gehört zur Pädagogie des Menschengeschlechts. Ist der Begriff erwachsen, so bedarf er derselben nicht mehr« (zitiert nach Horstmann. Mythos 291 ). Sprachtheoretisch gesehen verbirgt sich in dieser These die Annahme, das mythische Reden sei eine blosse Einkleidung einer auch begrifflich aussagbaren Sache (ähnliches wird ja auch vom Metaphorischen angenommen); philosophisch verbirgt sich in ihr die Annahme von der Superiorität der Philosophie gegenüber der Religion. Wer diesen Fortschrittsgedanken nichtteilt- und es sprechen sowohl sprachtheoretische als auch philosophische Gründe dagegen - wird das Selbstverständnis der modernen Wissenschaft kritischer betrachten. die überzeugt ist davon, »die Form der religionslosen Rationalität, die sie repräsentiert. sei. eben weil sie sich von den Göttern emanzipiert hat. die wahre. unanfechtbare, die aufgeklärte und autonome Vernunft« (Picht. Kunst und Mythos 486). Freilich ist es nicht angemessen. den erkenntnistheoretischen Atheismus der Wissenschaft als solchen zu kritisieren: er hat sich innerhalb der Grenzen bestimmter Fragestellungen ausgezeichnet bewährt. Von diesem Atheismus ist indessen der Totalitätsanspruch zu unterscheiden. der die Phänomene nicht nur weltlich interpretiert. sondern innerweltlich abschliesst (zum Problem vgl Weder. Hermeneutik 130-133). Zur Abgründigkeil der aufklärerischen Theologie. die sich beeilte. »ihre mythische Vorgeschichte in wissenschaftliches Bewusstsein aufzuheben«, vgl Spam. Herausforderung 185: »Verstummen und Selbstauflösung der Theologie liegen am Ende des so eindeutig erschienenen Weges \'Om Mythos ::um Lof(os.« 8 Schon Buhmann. Johannes I urteilt zurückhaltend: »Seinem Inhalte nach wäre der Prolog auf den ersten Blick als Mythos zu charakterisieren: denn er redet von einem Gottwesen. seinem Tun und Geschick.« Bultmann begründet sein literarisches Urteil. dass hier kein Mythos im eigentlichen Sinne vorliege. mit dem Anredecharakter der »lcultisch-liturRisch~(n) Dichtun!(« (aaO 2). der bei einem erzählenden Mythos sonst fehle. Blank. Johannes 74f bestimmt die literarische Gattung des Prologs als »Christus-Hymnus... der in den Zusammenhang ähnlicher neutestamentlicher Hymnen zu stellen ist Diese literarische Bestimmung lässt indessen die Frage offen. ob mythisches Reden vorliegt Folgte man dem neutestamentlichen Sprachgebrauch. so käme die Bezeichnung eines neutestamentlichen Textes als 1'\Jeoci überhaupt nicht in Frage. Denn im Neuen Testament werden die Mythen ganz in den Bereich der Lüge verwiesen.
I Beobachtungen zum Johannesprolog
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Mythologisch ist zunächst das Zurückgehen auf die . was der Fall ist. in seinem Sachanspruch (und also nicht bloss historisch. funktional oder fundamentalanthropologisch) ernst zu nehmen: zum Problem vgl Weder. Hermeneutik 41 S-425.
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gos auszeichnet. Diese Dynamik ist ein Fingerzeig auf die Arbeit. die der Mythos an den Menschen zu leisten verspricht. 87 Er verspricht. dem Menschen das Gewicht jenes Logos nahezubringen. der inmitten der Tagesereignisse Palästinas die Gnade austeilte. die den Menschen seit unvordenklichen Zeiten als Lebendigkeit gewährt wird. Die Arbeit dieses Mythos ist es. seine Adressaten einzuüben in das Angewiesensein auf diesen Logos. Er vollzieht die Zuwendung. die seit Urzeiten das Dasein begleitet. Deshalb kommt in diesem Mythos Menschsein nicht primär als Arbeiten sondern vielmehr als Bearbeitetwerden in Betracht. Und es wäre paradox. angesichts dieses Mythos vom Logos nach der menschlichen Arbeit am Mythos zu fragen statt nach der Arbeit des Mythos am Menschen 88 Damit würde gerade jener Dynamik der Zu-
87 Der Begriff der Arbeit wird hier verwendet für das, was man auch pragmatische Dirnen· sion der Texte nennt. In theologischer Begrifnichkeit würde man dies die soleriologische Di· mension nennen. Wichtig ist dabei. dass wir aufmerksam werden auf das. was der Text an seinen Lesern tut. statt bloss auf das. was die Leser mit dem Text und im Anschluss an den Text tun. Dieser Aspekt geht ausgerechnet bei solchen Ansätzen völlig verloren. die ihrem Selbstverständnis nach dem (einzig) Konkreten. nämlich dem Materiellen verpnichtet sind. So etwa bei Füssel. Materialistische Lektüre 20-36: oder bei Gollwitzer. Historischer Materialis· mus 13-59. Im Gegenzug zur »idealistischen« Vorstellungsweise der historisch-kritischen Exegese drängen die Texte den materialistischen Ausleger »Zur Paneinahme im heutigen ge· seilschaftliehen Leben« (Gollwitzer. aaO 15 ). Wo bleibt die Frage. wofür der Text selbst Panei nimmt? »Gott hat (besser: will haben) keinen anderen Mund als unseren Mund« (aaO 35). Wo bleibt da die christologische Einsicht. dass der Logos Gottes in Christus verkörpen ist? Die Vollmacht Jesu. »Gott anzusagen«. wird reduzien auf die Ansage des Willens Gottes: »Weil dieser Gotteswille sich auf das reale Leben der Menschen - ... - bezieht. also nicht nur auf das Glaubensverhältnis des Einzelnen zu Gott (Wäre dies etwa »irreal«?) ..... darum müssen diese faktischen ... Lebensbedingungen in dieses Verstehen des Gotteswillen hereingenommen wer· den. sowohl ihr gegenwäniger Zustand. in dem je und je das Won Gottes die Menschen an· trifft. wie deren Veränderung. zu der sie durch Gottes Won als Glaubende aufgerufen werden« (aaO 44). Wo bleibt da die kreative Kraft des Wones Gottes. das selbst neue Geschöpfe werden lässt. statt blos.o; zu Veränderungen aufzurufen? ""Gegen Blumenberg. Arbeit am Mythos. Blumenberg wählt nicht zufällig den Prometheusmythos aus. um die Geschichte der Arbeit am Mythos zu schreiben. Schon den Mythos selbst legt er zu sehr auf emanzipative Dimensionen fest. wenn er dessen Aufgabe als »Arbeit am Abbau des Absolutismus der Wirklichkeit« (aaO 13) bestimmt. Diese Dimension wird von Blumenberg zum Leitfaden ftir die ganze Darstellung. Unter diesem Aspekt erweist sich die Geschichte der menschlichen Arbeit am Mythos schlicht als Geschichte der menschlichen Selbstbehauptung gegenüber dem Mythos. »Es gibt keine I andere Modalität der Erinnerung an den Mythos als die Arbeit an ihm: ... « (aaO 6M4f). Damit wird jeder Rezeption. die nicht Selbstbehauptung ist. das Existenzrecht abgesprochen. Wenn Blumenberg von Prometheus sagt. er sei an der »Menschwerdung des Menschen« beteiligt (aaO 6M2). so ist diese Bestimmung solange zu formal. als nicht gefragt wird. was für ein Mensch da wird. wenn Prometheus (und nicht Christus) ihn begleitet. Prometheus »steht schlechthin für menschliche St'lhJthc--
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Der Mythos vom Logos (Johannes I)
wendungder Weg verbaut, die der Mythos vom Logos der menschlichen Existenz voraus hat. Die Dynamik des Arbeitens für die Menschen, die im Prolog ihren Anfang nimmt, setzt sich im ganzen Johannesevangelium fon. Zwei Beispiele seien herausgegriffen. Das Mensch gewordene Won steht unvermittelt vom Essen auf, um die Sklavenarbeit der Fusswaschung an seinen Jüngern zu tun (Joh 13,1-17). 89 Gott hat alles in seine Hände gegeben, deutet der Erzähler. Diese Hände vollbringen den Dienst Gottes an den Jüngem.90 Sie tun die Arbeit Gottes an der Reinheit, der Eindeutigkeit menschlichen Lebens. Nach getaner Arbeit wendet sich der Herr Petrus zu, der sich den Dienst von höchster Adresse nicht gefallen lassen mag. 91 Und zum Schluss hilft er dem Verstehen der Jünger auf die Sprünge. 92 Sie sollen das Gewicht des Geschehenen erkennen: »Wenn also ich, der Lehrer und Herr, euch die Füsse gewaschen habe, so seid auch ihr es schuldig, einander die Füsse zu waschen« (13, 14 ). 93 Das hauptung« (Sparn. Herausforderung 187). während ja andere Fonneo der Menschwerdung auch denkbar wären. " 9 Zur historischen Einordnung dieser Perikope vgl Becker. Johannes II 419f. der - ausgehend von den beiden Deutungen in 6--1 Oa und 12-15 - eine literarkritische Scheidung annimmt. Die Entscheidung darüber. welche Deutung älter sei. fallt in den meisten Arbeiten aufgrund einer allgemeinen These. ob soleriologisches oder ethisches Denken im Urchristentum historisch Priorität habe. 90 13.1-3 ist so etwas wie ein Prolog zu dieser Geschichte. der ihre entscheidenden Dimensionen angibt: Hinweis auf die Stunde des Kreuzestodes. welche zugleich die der Erhöhung ist. vgl 3.14f: Qualifizierung des Weges zum Kreuz als Liebe~~ 1Ü.IXi (dazu Kleinknecht. Johannes 13 3640: Hinweis darauf. dass der Vater alles in seine Hände gegeben hat. bzw dass die Verbindung zum Vater unzweifelhaft ist (va V. 3). Damit gibt dieser »Prolog .. der Fusswaschungsgeschichte dieselbe Dimension. die der Logoshymnus dem ganzen Evangelium gibt: es gilt. im Tun Jesu das Tun Gottes wahrzunehmen. Zur Interpretation von Joh 13.1-3 vgl Kohler. Kreuz 196-205. ~~ Petrus wird darauf hingewiesen. dass er Gott zuwenig zutraut. und zugleich. dass seine totalen Forderungen an dem Fragment der göttlichen Liebestat vorbeigehen. vgl Kohler. Kreuz 21~218. Die Reinheit beziehungsweise Eindeutigkeit des menschlichen Lebens (vgl V. IOa) entsteht nicht durch eigene Arbeit. sondern dadurch. dass Petrus sich den Dienst Gottes gefallen lässt. Gerade diese Erzählung bestätigt. dass die Kategorie der Arbeit im Einklang mit dem Text des Johannesevangeliums steht. ~!Der Neueinsatz in V. 12 ist unübersehbar: er markien indessen nicht eine literarkritisch auswenbare Bruchstelle. sondern vielmehr einen Neueinsatz in der Interpretation. Ging es vorher um die Erkenntnis der soleriologischen Dimension. so geht es jetzt um die (ethische) Verpflichtung. die sich aus der Arbeit Gottesam Menschen ergibt. Zum Zusammenhang beider Deutungen. die häufig literarkritisch auseinandergerissen werden. vgl Kleinknecht Johannes 13 368. ~ 1 Zu beachten ist. dass die Prädikation ~ nicht etwa aufgegeben wird. Daraus folgt. dass die Herrschaft in die Gestalt des Dienens gebracht wird. ohne dass sie als Herrschaft
2 Entmythologisierung?
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Gewicht des Geschehens erkennen heisst, an den Ort gelangen, wo die Zuwendung zueinander selbstverständlich geworden ist. Im weiteren Verlauf der Interpretation dieser Geschichte wird die Liebe als dieser Ort der Zuwendung bezeichnet: »Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr einander liebt, so wie ich euch geliebt habe, damit auch ihr einander liebt« (13,34). 94 Der Menschgewordene arbeitet an der Einführung des Menschen in den Zusammenhang der Menschen, er gibt die Anweisung zum Leben in der Liebe. Nicht nur der Mythos vom Logos geleitet die religiöse Phantasie vom Himmel auf die Erde herunter. Die Arbeit auch Jesu ist es, das menschliche Dasein herunter zu geleiten von den mythologischen Höhen des Herrschens in die weltliche Tiefe des Liebens. Hier kündigt sich eine neue Ebene unserer Thematik an. Dringlicher als die Entmythologisierung des Mythos ist es, das ins Herrschen verstiegene Menschsein, auch die ins Herrschen verstiegene Rationalität, zu entmythologisieren. 9 ~ In die gleiche Richtung weist das zweite Beispiel. Jesus - Abschied nehmend - spricht in mythologischer Sprache96 von den vielen Wohnungen, die im Hause des Vaters bereitstehen, und dem Raum (t67t~). den er den Jüngern bereiten will ( 14, 2). Wer keine Wohnung hat, muss sich eine erwerben, wer keinen Raum hat, muss sich einen erkämpfen. 97
eliminien wird. Durch diese zuvorkommende Arbeit entsteht unter den Jüngern eine Schuldigkeit, die es ausserhalb der Relation zu diesem Herrn nicht gibt Jede Abschwächung des eschatologischen Ernstes dieses Dienens müsste zur Vertlüchtigung der Aussage führen, der Dienst des Herrn würde verwandeil in eine »huldvoll von oben gewähne Gunst eines Potentaten« (mit Wengst. Gemeinde III ). 9 • Der Zusammenhang von 13,34 und 13.14f ist evident. vglzulelll Kleinknecht. Johannes 13 366 oder schon Buhmann, Johannes 362. der in 13,15 die Vorwegnahme des Liebesgebotes und in 13.1-20 »überhaupt ein Vorspiel für die folgenden Reden« sieht Kohler. Kreuz 226 sieht die Neuheil des Gebots insbesondere darin. »dass es dem Nächsten gibl. was ihm ent· spricht«. Auffallend isttatsächlich die Differenzzum synoptischen Doppelgebot der Liebe, wo sich die Liebe nicht nur auf die Menschen. sondern auf Gou und die Menschen richlet Freilich könnte auch gefragt werden. ob die Neuheit nicht in der neuen Weise des Gebens besteht im Unterschied zum Gebot des Geselles, das die Liebe forden. entsteht die Schuldigkeil des Liebens aus der zuvorkommenden Arbeit des Herrn. 9 s Diese Entmythologisierung des Menschen erfolgt freilich nicht in der Gestall der Aufklärung über das wahre Menschsein, sondern vielmehr in der Gestall der Arbeit am wahren Menschsein. Zum Problem vgl Weder. Hermeneutik 405-411. 'HI Dazu Buhmann. Johannes 463. v7 Wiederum in mythischer Gestalt erscheint dieser Kampf des Menschen um den himmlischen Lebensraum in der Apokalyptik. wo himmlische Wohnungen nur für die Gerechten bereitstehen (äthHen 39,4f: 41.2: slavHen 61.1-3: syrBar 51.100. Man geht fehl. wenn man den irdischen Kampf um Gerechtigkeit (der eine himmlische Wohnung verspricht) formal ineins-
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Der Mythos vom Logos (Johannes I)
Der Kampf des Menschen um Raum offenbart sich als mythische Weise des Existierens. Hier mutet sich der Mensch zu, sich den Raum noch einmal zu erwirken, den Gott schon bereitet hat. Die Arbeit des Abschied nehmenden Jesus ist es demgegenüber, die Menschen zum Bleiben im schon bereiteten Raum der Liebe zu bewegen.9 s Er arbeitet an der Entmythologisierung des Menschseins. Diese Arbeit kann freilich nur gelingen, wenn in der Arbeit Jesu die Arbeit des göttlichen Logos gesehen wird. Zur Entmythologisierung des Menschen kommt es nur, wenn Christus im mythischen Horizont belassen wird. Der Blick auf das Johannesevangelium bestätigt also die Perspektive, die wir schon am Mythos vom Logos gewonnen haben. Dieser erzählt von der Menschwerdung der göttlichen Zuwendung. Ihre Folge ist die Menschwerdung des Menschen im geschaffenen Raum der Liebe. Diese Arbeit bliebe ungetan, würde sich der Mensch auf die emanzipative Arbeit am Mythos festlegen. 99
setzt mit dem Glauben an Christus. der einem eine ebensolche Wohnung verschafft. Im Horizont des Gesetzes arbeitet der Mensch. im Horizonl des Christus wird für den Menschen gearbeitet. In diesem Sachverhalt widerspiegelt sich erneut der Unterschied zwischen ~~ und xa~ (vgl Joh 1.17). Eine ähnliche Auffassung erscheint in der Vorstellung. dass den aufsteigenden Seelen je nach ihrer 'tlll~ Platz bereitgestellt wird: vgl Buhmann. Johannes 465 Anm 3. 9 x Hier läge ein Vergleich mit der Weinstockmetapher von Joh 15,1-17 nahe. Auchdon bezeichnet Christus den zuvorkommenden Lebensraum, welcher die Menschen zum Bleiben bewegt. Auch don wird dieser Raum interpretien als Raum der Liebe, in welchem die Glaubenden bleiben und welchen sie ausgestalten in der Bruderliebe. In diesem Bleiben ist die elementare Einsicht aufbewahn, dass menschliches Leben nicht das Produkt des Subjekts 1st, sondern seine Gestalt wesentlich durch den ihm gewähnen Raum gewinnt. Im Wohnen liegt auch das »Konstitutive, das der On des Daseins für dasselbe hat. sein Angewiesensein auf ihn: das Leben muss wohnen und ist seinem Wo zugehörig: ... es wird von seinem Wo bestimmt d.h. es selber ist ein ursprünglich raumhaftes Phänomen und lebt aus seinem Raume her« (Jonas. Gnosis 101 ). 99 Man könnte sich fragen. ob schon die existentiale Interpretation. wie sie Bultmann als Übersetzung in existentialontologische Kategorien vollzieht. in der Gefahr solcher Emanzipation stehe. Es wäre möglich. dass auch sie schon die Gestalt der Aufklärung hälle und also die Arbeit verspielte. die der Mythos (auch im Kerygma) leistet. Diese Gefahr mag wohl gegeben sein, immerhin hat Bultmann selbst sie scharf gesehen, wenn er gerade hier den Unterschied zwischen Philosophie und Theologie sieht: während in der Philosophie schon das Wissen um Eigentlichkeil ihrer mächtig macht. hält das Neue Testament die Lage des Menschen insofern für aussichtslos. als er ausschliesslich auf das Handeln Goues für ihn angewiesen ist (Buhmann. Mythologie 37-39).
3 Zum Schluss
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3 Zum Schluss Der Mythos vom Logos in Joh I setzt an bei der Unvordenklichkeil des mythischen Anfangs, den der Logos bei Gott hat. Er ftihrt sich selbst in die Kehre, indem er die Unvordenklichkeil nun dem im Vordergrund der Welt gesagten Wort Jesu zuschreibt. Unvordenklich ist dieses Wort nicht, weil es dem Denken entzogen wäre, unvordenklich ist es, weil es dem Denken schon vorgegeben und also aufgegeben ist. Insofern bereitet der Mythos vom Logos Raum ftir eine Rationalität, die statt Gegnerin Tochter jenes Logos Jesus ist. Als Gegnerin wirkt die Rationalität, wenn sie die Unvordenklichkeil des Gesagten denkerisch hintergeht. Als Tochter lebt sie, wenn sie auf das gegebene Wort angewiesen bleibt. Als Gegnerin kommt sie unter Produktionszwang, denn sie muss reproduzieren, was sie hintergangen hat. Als Tochter lebt sie in der Nachdenklichkeit, im Nachdenken dessen, was der Logos ihr als fundamentalen Stoff gewährt. Auch eine kritische Tochter kann kein Interesse haben, ihren Vater umzubringen. Deshalb wird die Rationalität alles Interesse daran haben, dass dieser Mythos den Logos in lebendiger Erinnerung hält. Die Krise der Rationalität sind nicht die technischen Produkte, die sie auch hervorbringt, ihre Krise ist vielmehr die Zerstörung des Stoffs, der ihr den Raum der Nachdenklichkeil auftut. Ihre Krise ist die Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen im Wahn, sie reproduzieren zu können. Ihre Krise ist die Kultur der Kritik, die sie an die Stelle der Kultur der Rezeption setzt. Die Rationalität wird also, wenn sie sich selbst treu bleibt, das Wort nicht hoch genug schätzen können. Der Mythos vom Logos geht ihr den Weg in der Würdigung des Wortes voran. Er bewahrt das Andenken an das Reden Gottes und die Sensibilität ftir die Arbeit des Himmels am Leben der Irdischen. 100 Wird diese Arbeit nicht mehr geleistet, wird die Vernunft an ihre Produkte gebunden und die Menschen werden an ihre Arbeit gekettet. Diesen Zusammenhang auszudrücken, war dem faustischen Menschen nicht gegeben, wohl aber dem Dichter, dessen Sensus 100 »Wenn unser Bewusstsein sich der Welt des Mythos entzieht und dessen substantielle Gehalte verdrängt. wird auch das Licht der Offenbarung unsichtbar« (Picht. Kunst und Mythos 9). Man könnte in diesem Zusammenhang gar vermuten. dass die emanzipative Rationalität, deren Kultur die Kritik und nicht die Rezeption ist. selbst mythische Züge trägt. »Die Rationalität der Neuzeit ist in den Ritualen. in denen sie ihren ursprünglichen Frevel. die Losreissung vom Mythos. als perpetuiene Verleugnung des Mythos zwanghaft wiederholen muss. selbst mythisch« (aaO 13).
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Der Mythos vom Logos (Johannes I)
ftir das Mythische in die Weltliteratur eingegangen ist. Er soll am Schluss das Wort haben: »Aber droben das Licht, es spricht noch heute zu Menschen, Schöner Deutungen voll und des grossen Donnerers Stimme Ruft es: denket ihr mein? und die trauemde Wooge des Meergons Hallt es wieder: gedenkt ihr nimmer meiner, wie vormals? Denn es ruhn die Himmlischen gern am fühlenden Herzen; Aber weh! es wandelt in Nacht, es wohnt, wie im Orkus, Ohne Göttliches unser Geschlecht. Ans eigene Treiben Sind sie geschmiedet allein, und sich in der tosenden Werkstatt Höret jeglicher nur und viel arbeiten die Wilden Mit gewaltigem Arm, rastlos, doch immer und immer Unfruchtbar, wie die Furien, bleibt die Mühe der Armen.« 101
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Hölderlin, Der Archipelagus, in: Sämtliche Werke IUI 110, Zeilen 231-235.241-246.
Die Asymmetrie des Rettenden Überlegungen zu Joh 3,14-21 im Rahmen johanneischer Theologie Ich werde im Folgenden keine neue exegetische Methode vorführen. Meine Überlegungen bewegen sich vielmehr ganz im Rahmen historischer Textwahmehmung, wie sie in der Theologie methodisch entwikkelt worden ist. Die Texte des Johannesevangeliums sind als geschichtliche Gegenstände zu betrachten. Und angesichts von geschichtlichen Gegenständen scheint mir die historische W ahmehmung nach wie vor die angemessenste Methode zu sein. Dennoch werde ich im Rahmen der gewöhnlichen Exegese zwei Betrachtungshinsichten besonders in den Vordergrund stellen, zwei Betrachtungshinsichten, die meines Erachtens nicht immer genügend beachtet werden. Diesen Betrachtungshinsichten gelten die beiden folgenden Vorbemerkungen.
0 Vorbemerkungen Die zwei Schwerpunkte, die ich setze, sind einerseits die traditionsgeschichtliche Betrachtungsweise und andererseits die Konzentration auf die theologische Sachinterpretation des Textes. 0.1 Verstehen des Werdegangs eines Textes Es soll nicht bestritten werden, dass neuere Versuche zur literaTanalytischen Betrachtung eines Evangelientextes 1 wichtige Erkenntnisse zum Verständnis der Texte erbracht haben. Solche Betrachtungsweisen gehen stets davon aus, dass der jetzt vorliegende Text des Johannesevangeliums ein kohärentes Ganzes darstellt und als eine semantische Einheit interpretiert werden muss. Dies ist zweifellos sinnvoll, es sei denn, man rechne mit einer im Laufe der Zeit zunehmenden Zerstörung einst kohärenter Sinneinheiten durch die verschiedenen Stufen der Re-
1
Als Beispiele seien genannt: Olsson, Structure: Culpepper. Anatomy.
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daktion. 2 Auch wenn die Betrachtung der Endgestalt des Textes sinnvoll ist, lässt sich nicht verkennen, dass ein Text wie das Johannesevangelium eine lange Traditionsgeschichte hinter sich hat. Texte mit Geschichte aber werden sinnvollerweise so interpretiert, dass ihrem geschichtlichen Werdegang nachgedacht wird. Dies bedeutet, dass ein traditionsgeschichtliches Verständnis von Joh 3,14-21 unabdingbar bleibt, selbst wenn die Traditionsgeschichte nur hypothetisch zu erheben ist. Das traditionsgeschichtliche Verständnis ist abzugrenzen gegen die literarkritischen Versuche der letzten zwanzig Jahre, die meines Erachtens im Wesentlichen als gescheitert zu gelten haben. 3 Im Unterschied zur literarkritischen Betrachtung, welche in jedem Text Elemente von verschiedenen, das ganze Evangelium durchziehenden literarischen Schichten namhaft machen will, verzichtet die traditionsgeschichtliche Betrachtung auf solche globalen Aussagen. Sie versucht statt dessen, die textinterne Schichtung so weit wie möglich zu begreifen, ohne die gewonnenen Schichten literarischen Werken der johanneischen Schule zuweisen zu wollen. Die traditionsgeschichtliche Schichtung ist der durch historische Kenntnis und Phantasie moderner Exegeten vorgenommene Versuch, einen Text nicht nur in der synchronischen Horizontalen, sondern auch in der diachronischen Vertikalen zu sehen. So erlaubt sie einen Blick in die Tiefendimensionen des Textes. Wird der Text im Blick auf seinen Werdegang interpretiert, so wird er als zeitliches Phänomen wahrgenommen, das eine Geschichte hat. Der Text bekommt gleichsam Gelegenheit, uns seine Geschichte zu erzählen. So kommt er allererst als historisches Individuum in den Blick. Denn für Individuen ist es charakteristisch, dass sie eine Geschichte haben. Wer seine Geschichte erzählen darf, kann damit rechnen, nicht 2 Anlass zu einer solchen Vermutung geben manche literarkritische Arbeiten. die mit einer fortschreitenden Erweiterung einer Grundschrift rechnen. Besonders deutlich in dieser Hinsicht sind G.Richters Arbeiten zum Johannesevangelium (Richter. Studien) und die DissertatiOn von W.Langbrandtner (Langbrandtner. Weltferner Gott) 1 Die Unzahl und Widersprüchlichkeil der literarkritischen Hypothesen (etwa Richter. Langbrandtner. Thyen. Becker) ist als solche kein Beweis. wohl aber ein Hinweis auf die methodische Unsinnigkeit des Verfahrens. das in aller Regel auf einer petitio principii beruht. Vgl dazu den kurzen Abriss der Forschungsgeschichte bei Wengst. Bedrängte Gemeinde 1128 und sein Urteil auf S.28: "zumindest vorläufig muss festgestellt werden. dass keiner dieser neueren literarkritischen Versuche - ... - zu überzeugenden Ergebnissen geführt hat.• Auch H.Thyen scheint sich immer vehementer von der literarkritischen Betrachtungsweise abzuwenden (Beleg im Manuskript des TRE-Artikels Johannesevangelium).
0 Vorbemerkungen
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mehr bloss in seiner Funktionalität wahrgenommen zu werden. Denn die Geschichte - etwa eines Menschen - gibt Auskunft über das Gewordensein, ohne das Gewordene auf sein Funktionieren festzulegen. Mehr noch: Eine Geschichte lässt ihren Gegenstand einen zufallig gewordenen sein, ohne ihn auf die Gesetze des Werdens zu reduzieren. So wahrgenommen erscheinen die Texte als das, was sie jenseits ihres Funktionierens4 als sie selbst sind, und als das, was sie in ihrer Zufalligkeit oder Unverfügbarkeit sind. Im folgenden gilt die Arbeitshypothese, dass der Werdegang des Textes den Charakter einer Entfaltung hat: die Geschichte des Textes legt Zeugnis ab von der fortschreitenden Reflexion, welche der christliche Glaube in der johanneischen Gemeinde ausgelöst hat. Mit dieser Arbeitshypothese soll vermieden werden, dass die Traditionsbildung nach dem Modell der Konfrontation~ begriffen wird. Die Vorstellung, jeder spätere Bearbeiter hätte seine eigene These den unsachgemässen Aussagen seines Vorgängers konfrontativ entgegengestellt, hat wohl mehr zu tun mit der Arbeitssituation der modernen Exegeten als mit der Traditionsentwicklung in der johanneischen Gemeinde. Wird der Text im Sinne einer Arbeitshypothese als Ergebnis einer stetigen Entfaltung des christlichen Glaubens betrachtet, entfallt nicht nur der Zwang, Gegensätze zwischen Schichten zu konstruieren, sondern es kann auch die Tatsache besser gewürdigt werden, dass die jeweiligen Bearbeiter die traditionellen Texte nicht nur neu interpretiert oder sogar korrigiert, sondern eben auch aufgenommen haben. Dies ist - wie gesagt - eine Arbeitshypothese, deren Angemessenheil am vorliegenden Text von Joh 3,14-21 geprüft werden soll. 0.2 Konzentration auf die Sache des Textes Die zweite Vorbemerkung gilt dem Ansatz der Interpretation, auf den ich besonders Wert legen möchte. In den exegetischen Wissenschaften wird der Frage, wie ein Text historisch einzuordnen sei, grosse Aufmerksamkeit geschenkt - sicher zu recht. Fragen nach der religi-
4 Selbstverständlich soll damit nicht bestritten werden. dass die Texte auch eine Funktion (in den konkreten Lebensvollzügen der johanneischen Gemeinde) haben. Doch die (grundsätzlich formgeschichtliche) funktionale Betrachtungsweise verfühn leicht dazu. die Texte auf ihre Funktion zu reduzieren oder gar ihre Entstehung aus ihrer Funktion zu erklären. ~Besonders handgreiflich wird dieses Verslehensmodell in den Arbeiten von Richter. Studien.
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onsgeschichtlichen Herkunft, nach dem Sitz im Leben der johanneischen Gemeinde, nach dem historischen Ursprung oder der literarkritischen Einordnung des Textes spielen die Hauptrolle. 6 Man könnte alle diese Fragen zusammenfassen unter dem Gesichtspunkt, dass sie nach den Bedingungen fragen, unter denen ein Text produziert wurde. Die Erhellung der Produktionsbedingungen ist zweifellos eine wichtige und unverzichtbare Aufgabe der Exegese. Sie ist jedoch nicht die einzige. Zur wissenschaftlichen Auslegung eines religiösen Textes gehört nicht nur die historische Einordnung, sondern auch die theologische Interpretation, nicht nur die Frage nach den Produktionsbedingungen, sondern auch die Konzentration auf die Sache. 7 Selbstverständlich ist die Sache immer eingebettet in eine historische Ursprungssituation, dennoch geht sie nicht in dieser Ursprungssituation auf. Was in einem Augenblick der Geschichte ans Tageslicht getreten ist, kann eine Bedeutung gewinnen, die sich nicht auf die Bedingungen dieses Augenblicks restringieren lässt. Die theologische Interpretation, auf die ich mich konzentrieren werde, fragt in eigener (dogmatischer) 8 Verantwortung nach der (theologischen) Wahrheit eines Textes. Und zwar nicht bloss so, dass sie nach theologischen Vorstellungen fragt, die im Text erscheinen, sondern vielmehr so, dass sie der Sache, die in den Vorstellungen des Textes erscheint, in theologischer und anthropologischer Hinsicht nachdenkt. Auf diese Weise kann die gesamttheologische Verantwortung der Exegese wahrgenommen werden. Diese sachintensive Exegese9 gewinnt Einblick in theologische und anthropologische Tiefendi-
~>Wengst. Bedrängte Gemeinde verwendet den (einleuchtend rekonstruienen) historischen On des Johannesevangeliums geradezu als .. Schlüssel zu seiner Interpretation« (so der Untenitel des Buches). 7 Schon Buhmann. Problem 222-227 war es gelungen. über die historische Frage nach den Entstehungsbedingungen hinauszukommen und zur verstehenden Frage nach der Sache des Textes vorzustossen. 8 Dazu Weder. Exegese und Dogmatik. ZThK 84(1987)137-161 (oben S. 109-136). 11 Zum Begriff der Sachintensität vgl Ebeling. Dogmatik und Exegese 273-277. Ebeling macht deutlich. dass die sachintensive Interpretation eines Textes nicht etwa als Alternative zur historischen Exegese. sondern vielmehr als deren notwendige Konsequenz zu begreifen ist. .. Ein überliefenes Won ist erst dann recht erfasst. wenn deutlich wird. woraus es entsprungen ist. was zu ihm ermächtigt hat. woraufhin es gesagt werden kann« (aaO 275). Dazu gehören selbstverständlich auch die historischen Ursprungsbedingungen. jedoch nicht nur diese. sondern auch der ,.Erfahrungsgrund«. die (Lebens-) Erfahrung. die zu einer bestimmten Aussage ermächtigt.
I Analyse von Joh 3,14-21
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mensionen des Textes. Gerade Joh 3,14-21 verspricht in dieser Hinsicht einen reichen Ertrag.
1 Analyse von Joh 3,14-21 Ich beginne mit Überlegungen zur Abgrenzung, zum sachlichen Aufbau und zur Traditionsgeschichte des Textes. 1.1 Zur Abgrenzung des Textes Das dritte Kapitel des Johannesevangeliums beginnt mit einem nächtlichen Gespräch mit Nikodemus. Dieses Gespräch kommt zu einem gewissen Abschluss in V. 12, wo ein Schluss vom Kleineren (ui f:moyEt.a) auf das Grössere (ui btoqxivt.a) zeigen soll, dass bei der Lehre Jesu über das Himmlische erst recht mit dem Unglauben der jüdischen Lehrer zu rechnen sei. Es folgt ein parataktisch (mit Kai) angehängter Satz über den Menschensohn, der allein Zugang zum Himmlischen hat. Nicht sicher zu beantworten ist die Frage, ob der Akzent auf der Kenntnis des Himmlischen liegt oder ob es schon um den ärgerlichen Aufstieg des Menschensohns in der Kreuzigung geht. 10 Wäre das erste der Fall, müsste der Vers näher zum Nikodemusgespräch gezogen werden, träfe das zweite zu, würde er zusammen mit V. 14f eine Sinneinheit 11 bilden. Die durch den Text verursachte Unbestimmtheit in 1°Für das erste (vertreten von Blank. Johannes 250. Brown. John 145 und anderen) spricht das perfektische ci~Y. das an ein Hinaufsteigen in den Himmel denken lässt. von wo das himmlische Wissen heruntergeholt wird (zum Beispiel in der Apokalyptik). Zum Perfekt ci~Y siehe Brown. John 132 note 13. Nach Blank. Johannes 250 »dürfte sich (die Aussage) ... gegen alles wenden. was Apokalyptik und Gnosis über ekstatische Himmelsreisen sowie über den Aufstieg zur oberen Lichtwelt des Pieroma zu sagen wussten•. Für das zweite (venreten von Vouga. cadre 17.2 I. Becker. Schnackenburg. Bultmann und anderen) spricht. dass vom heruntergeholten Wissen nicht ausdrücklich die Rede ist. Zum Problem vgl Becker. Johannes I 140-143. Die verbindende Funktion betont Maneschg. Erzählung 394: •3.13 übt in bezugauf 3.11-12 und 3.14-15 eine verbindende Funktion aus. insofern er einerseits unterstreicht, dass Jesus der einzige Offenbarer ist. und andererseits. diese Einziganigkeit begründend. jene 'Bewegung' andeutet. die in der Erhöhung des Menschensohns zu ihrem Ziel gelangt• (diesen Hinweis verdanke ich - wie manches andere - meinem Assistenten VOM K.Haldimann). 11 Aus diesem Grunde betrachtet Becker. Johannes I 139 V. 13-15 als eine Einheit, die »den Aufstieg des Menschensohnes als Lebensvoraussetzung für die Glaubenden• behandelt. Blank. Johannes 248-255 betont dagegen - meines Erachtens zu recht - viel stärker die kreuzestheologischen Akzente des Textes: ,.Dementsprechend ist bei Johannes der 'Erhöhte' der
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der Zuordnung kann nicht aufgelöst werden; deshalb scheint es mir sinnvoll, V. 13 als Gelenkstelle zwischen 1-12 und 14-21 zu betrachten. Der Bezug zu V. l-12 ist gegeben mit dem Herniedersteigen des Menschensohns, der - als einziger - in der Lage ist, über die himmlischen Dinge Auskunft zu geben. 12 Der Bezug zu V. l4f ist damit gegeben, dass der Aufstieg des Menschensohns in den Himmel dort genauer bestimmt wird. Blickt man von V. l4ff auf das Vorhergehende zurück, so kann man die (wiederum parataktische) Anknüpfung erstens im Menschensohntitel (V. 13- V. 14) und zweitens im Aufsteigen (civafkxivE\V in V. 13- Ü'lfRD~«l in V. 14b) und im Glauben (V. 12- V. 15) sehen. Die Abgrenzung des Textes gegen hinten ist unproblematisch. 13 Es beginnt ein neuer Abschnitt, der das Verhältnis Jesu zum Täufer, das in Kapitel l schon bearbeitet worden ist, zum Thema hat. Von der Ebene theologischer Reflexion in V. 14-21 lenkt der Text hinüber auf die Ebene der Erzählung in V. 22ff. 14 Wir können also davon ausgehen, dass V. 14-21 eine nach vom und hinten abgrenzbare Texteinheit darstellen.
Gekreuzigte und Verherrlichte in seiner Identität. wobei durch diese Neuprägung der Erhöhungs-Christologie Jesu Kreuzweg bereits sein Siegeszug ist« (254). Die Zugehörigkeit von V. 13 zu V. 14f unterstreicht ebenfalls Nicholson. Death 96: »To carry the bcnlplii'ID metaphor over from verse 12 is misleading because it places the emphasis of the verse on des('('nf. whereas the order of the two verbs in the sentence. and the fact that E\ ~n'l denotes an exception. means that the emphasis naturally falls on ascerrt (zur Gesamtbegründung vgl Nicholson. aaO 91-97). 11 Auch in 1.51 bedeutet der Menschensohn. dass in ihm der Blick in den Himmel offensteht. Der Menschensohntitel steht hier also für die hier auf Erden geschaffene Verbindung zum Himmel. Blank. Johannes 252 weist darauf hin. dass »weder im Bericht von der Kupferschlange Num 21.4-9 noch in den frühchristlichen Deutungen• dieses Textes der Ausdruck erhöhen vorkommt. Zum Problem vgl Schnackenburg. Johannesevangelium I 411 ~23 (Exkurs V zum Menschensohn). Zum weisheitlieh-apokalyptischen Hintergrund vgl Maneschg. Erzählung 396f. 1 ' Über sie herrscht in der exegetischen Diskussion ein weitreichender Konsens. vgl zB Schnackenburg. Johannesevangelium I 375: Becker. Johannes I 129: Blank. Johannes 255272: vgl auch Vouga. cadre 16. 1 ~ Die Formelj~n~~uüa weist im Johannesevangelium häufig auf einen Neueinsatz hin: zB 5.1: 6.1: 7.1: 21.1. Das neue Thema. das Verhältnis von Täufer und Jesus. wird in 3.22ff erzählerisch abgehandelt: vgl Bultmann. Johannes 121-123.
I Analyse von Joh 3,14-21
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1.2 Die Aufteilung des Textes in Sinneinheiten Im Interesse der sachlichen Gliederung, die auch Hinweise auf die traditionsgeschichtliche Schichtung ergeben kann, soll der Text zunächst in seine kleinsten Sinnelemente aufgeteilt werden. Ein erstes Element findet sich in V. 14f Die notwendige 1s Erhöhung des Menschensohnes wird mit der Erhöhung der Schlange durch Mose verglichen: die bekannte Geschichte von Mose, der eine Schlange an einen Holzpfahl heftete (Num 21 ,8f), wird herangezogen, um die Erhöhung des Menschensohns zu erschliessen. Der Vergleichspunkt in diesem Satz (m&l~- oüa:o~) ist also, wie die beiden parallel gebauten Satzteile V. 14a und V. 14b zeigen, zunächst bloss die Weise der Erhöhung. Der Nebensatz in V. 15 gibt dann den Sinn dieser Erhöhung des Menschensohnes an: sie hat das Ziel, allen Glaubenden ewiges Leben zu verschaffen. Auch in diesem Punkt lässt sich ein Vergleich mit Mose ziehen, denn wer die Schlange anschaute, blieb - obwohl mit tödlichem Biss verwundet - am Leben. Dieser Vergleichspunkt ist freilich dem vorher genannten untergeordnetY• 1 ' An die Stelle der Handlung des Mose trill jetzt das mit einem ki. verbundene Passiv um Divinum: weltlich gesehen musste der Menschensohn erhöht werden. damit der Enrag des Lebens erbracht werden konnte. Blank. Johannes 253f interpretien dieses k"i von der Passionsgeschichte her. »Die Urkirche erkannte im Kreuzestod Jesu den heilsgeschichtlich notwendigen Durchgangspunkt ftir Jesus. um zur messianischen Herrlichkeit zu gelangen.« Die Anklänge an die synoptische Passionsgeschichte (die auch Blank notien) sind nicht zu leugnen. Don ist das k"i freilich eher als ein erster Versuch zu verstehen. die theologische Unsinnigkeit des Leidens Jesu zu bearbeiten. Das Muss lokalisien auch dieses Geschehen in verhaltener Weise innerhalb des gölllichen Willens zur Reuung. 1 ~ Dies erkennen wir auch daran. dass nur das Erhöhen der Schlange durch Mose. nicht aber das Am-Leben-Bleiben der Gebissenen ausgefühn wird. Dieses Moment verkennen Bultmann. Johannes 109 mit Anm I (nicht die Erhöhung als solche. sondern gerade das Wie der Erhöhung ist die entscheidende Pointe). Becker. Johanncs I 143f <der philologisch gesehen die Pointe veN:hiebt: .. Wie die erhöhte Schlange. so ist der erhöhte Christusremedium gegen den Tod ... J und auch Vouga. cadre 22 (»Comme Je serpent eleve. il appone il l'homme une nouvelle possibilite d'el!.istence 131141 ... Zu kritisieren wäre erst noch. dass nicht die Möglichkeit. sondern die Wirklichkeit des Lebens vermillelt wird.). Gegen diese Auslegung vgl Nicholson. Death 99: ...... the Founh Evangelist is not comparing the Son of Man with the snake. for if that were the case he would have made f1 ~~ the subject of a passive verb in 3: 14a.« Siehe auch Nicholson. aaO 101: .. we do know thatthe only pointthat he seems to want to takeout of the story is the action of Moses in Iifting up the snake ... In dieselbe Richtung geht auch Maneschg. Erzählun[! 400: .. )m Bild des in die Höhe Gezogenwerdens treffen sich Typus und Antitypus1969
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