Rainer Kampling (Hrsg.)
,,NUN STEHT ABER DIESE SACHE IM EVANGELIUM ... '' Zur Frage nach den Anfängen des christlichen ...
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Rainer Kampling (Hrsg.)
,,NUN STEHT ABER DIESE SACHE IM EVANGELIUM ... '' Zur Frage nach den Anfängen des christlichen Antijudaismus
Schöningh
We Remember-A Reflexionon the Shoa: An der weltweiten Reaktion auf das vatikanische Papier vom 16. März 1998 zeigt sich, wie virulent die Frage nach der möglichen Verwicklung der Kirche in die Verbrechen an den jüdischen Europäern noch heute ist. Gerade weil der Antijudaismus in den christlichen Kirchen durch Jahrhunderte ungefragt in Geltung war, müssen sich die Kirchen nun nach ihrem Anteil an der Etablierung von Judenhaß und seinen fürchterlichen Folgen fragen lassen. Und da antijüdische Verleumdung und antijüdischer Terror häufig genug unter Berufung auf die Schrift geschah, brach spätestens nach der Shoa die Frage auf, ob nicht das Neue Testament selbst, das Buch der Kirche und der Nächstenliebe, bereits den kirchlichen Antijudaismus begründet und legitimiert hat. Dieser Frage stellen sich die Autorinnen und Autoren des Bandes.
Der Herausgeber: Rainer Kampling, Prof. Dr. theol., geb. 1953, Studium der Kath. Theologie, lat. Philologie und der Judaistik an der WWU Münster. Nach Promotion (1983) und Habilitation (1991) seit 1992 Professor für Biblische Theologie an der Freien Universität Berlin.
ISBN 3-506-74253-1
Rainer Kampling (Hg.) "Nun steht aber diese Sache im Evangelium ... "
"Nun steht aber diese Sache im Evangelium ..." Zur Frage nach den Anfängen des christlichen Antijudaismus
Herausgegeben von
Rainer Kampling
2. Auflage
Ferdinand Schöningh Paderbom · München · Wien · Zürich
Umsrdem zu wollen. Viehnehr wendet er konsequent das Programm der Ursachenforschung an. Wenn er dabei schonungslos auch bis in die Anßlnge zurOck fragt, dann ist dieses auch eine Schonungslosigkeit, die ihn als Exegeten selbst betrifft.
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Rainer Kampling
Die Frömmigkeit des Juden Jesus Zur Frage nach Grundprinzipien des Judentums Der Ans~ nach Jesu Frömmigkeit zu fragen, um sich so ein Bild von ihm im Kontext der religiösen Praxis seines Volkes zu machen, hat den Vorteil, daß Jesus nicht sogleich mit anderen bedeutenden Heiligen Männem seiner Zeit in Beziehung gesetzt wird, sondern zunächst einmal danach gefragt wird, wie er sich zu den traditionellen religiösen Vorgaben verhielt. Freilich steht man damit vor dem gnmdsätzlichen Problem, das jeder Rückfrage nach Jesus eignet, nämlich wie man zu möglichst historisch gesicherten Annäherungen auf der Grundlage von theologisch geprägten Texten kommt; aber hier ist eine gewisse Zuversicht möglich. 17 Daß der Begriff Frömmigkeit hier einer Definition bedarf, ist allerdings selbstverständlich. 18 Mit Frömmigkeit wird eine Haltung bezeichnet, die im Glauben an den Einzigen gründet und von der her die Lebenspraxis durchgängig bestimmt wird. Frömmigkeit ist das Offenhalten des Lebens für die Wirklichkeit Gottes und seines Willen. Sie beinhaltet ein Hingeordnetsein auf Gott und auf Israel als Volk Gottes. Frömmigkeit ist ohne ein Eintreten in diese Beziehung nicht möglich, da das individuelle Erleben über sich hinaus verweist. Dabei steht außer Frage, daß es traditionelle 17 Daß
am Ende dieses Jalubunderts die Zahl der JesusbOcher fast vergleichbar ist mit der zur Zeit der Blute der Jesusliteratur zu Ende des letzten Jahrhunderts, l4ßt nicht nur erkennen. daß die Bedeutsamkeil Jesu und das Interesse an ilun keineswegs nachgelassen hat, sondern laßt auch den Schluß zu, daß nach langer Diskussionszeit ober die Kriterien der Jesusforschq die Methodilc so weit gediehen ist, daß die Darstellung des Wirkens Jesu möglich encheint Wenn ich recht sehe, ist mm nicht mehr die Frage des zu bearbeitenden Materials strittig, sondern die Interpretation dieses Materials. Allemal kann man das Buch von G. THEI· ~A MERz, Der Historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 1996 als Zeichen eines gewissenKonsensder Forschung werten. Aus der FtU.le der neueren Jesusbücher seien hier nm die genannt, die meine Sicht mitgeprägt haben, wobei auch aus dem Widerspruch Erkenntnis eJWachsen kann: J. BECKER. Jesus von Nazaret, Berlin 1996~ J.H. CHAiu...EswoR1H, Jesus within Judaism, New York 1988~ CA. EvANS, Jesus and his Contempo~aies (AGJU 25), Leiden 1995; J.P. MEIER.. A marginal Jew. Rethinlcing the historical Jesus., 2 Bde., New York 1991/1994; E.P. SANDERS, Jesus and Judaism, Philadelphia 31991; G. VERMES, Jesus der Jude. Ein Histmker liest das Evangelium, Neukirchen 1993; vor dem brtl.Dn. man habe völlig Neues, wohlmöglich Revolutionares entdeckt, kann das informative Buch von: R. HEn..IGENlHAL, Der verfillschte Jesus. Eine Kritik der modernen Jesusbilder, Dannstadl1997 bewahren. 18 H. FR.ANKEMOI..LE, Art. Frörmnigkeit- Biblisch u. Judentum, LthK3 (1995) 1~168 ist es gehmgcn, nicht nur einen überaus kenntnisreichen Artikel zu schreiben, sondern auch ein Mustabcispiel fUr eine historische Darstellung obne Antijudaismus zu einem Thema zu bieten, das durchaus als belastet gelten darf. da gerade die "bessere Frömmigkeit" ein beliebtes Thema antijüdischer Polemik war.
.. Und er ging nach seiner Gewohnheit am Sabbat in die Synagoge" 61
Formen der Frömmigkeit gab, die aber nicht so eng waren, daß sie nicht auch Raum für individuelle Entfaltung geboten hätte. So kann die fromme Verehrung Gottes sich fast ausschließlich mit dem Kultort verbinden, aber diese Anhindung ist keineswegs für ein religiöses Leben zwingend. Weiterhin kann sich die Frömmigkeit etwa auch in der Sorge um eine allumfassende Gesetzesobservanz entfalten, da dadurch der Wille Gottes, wie er im Gesetz festgelegt ist, geheiligt wird. Allerdings gibt es auch eine Frömmigkeitsform, in der diese Frage eher nachgeordnet ist und die lmitatio Dei in den Vordergrund tritt. Hier ist es insbesondere die charismatische Erfahrung, die zu einer eigenen Ausgestaltung verhilft. Nicht vorstellbar ist aber eine Frömmigkeit, die ohne Konsequenzen für das Handeln bleibt. Eine Frömmigkeit an sich, die sich auf eine reine Verfaßtheit des Frommen, gleichsam auf einen Gemütszustand beschränkt, ist der Bibel in allihren Teilen fremd. Die Frage nach der Praxis der Frömmigkeit Jesu im Rahmen seines historischen, sozialen und politischen Kontextes kann nur beantwortet werden, wenn man beides zueinander in Relation setzt. Allerdings steht man auch hier zunächst vor einem methodischen Problem. Es muß nicht eigens mehr bewiesen werden, daß das Judentum zur Zeit des Zweiten Tempels 19 kein festgefügtes religiöses Gebilde war, in dem eine der zahlreichen Gruppen die andere majorisieren konnte, als sei sie das offizielle bzw. normative Judentum. Selbst die priesterliche Tempelaristokratie war einerseits politisch durch ihre Bindung und Verpflichtungen an die römische Besatzungsmacht, andererseits durch ihr partielles Bündnis mit den Pharisäern nicht frei in ihren Entscheidungen und mußte zur Wahrung des status quo vielfache Kompromisse eingehen. Die Grundstruktur des Judenturns dieser Zeit, insbesondere wenn man noch die Vielfaltigkeil des Diasporajudenturns hinzunimmt, ist sektiererisch, d. h. verschiedene Gruppen konkurrierten um den Anspruch, alleinig legitim die Theorie und Praxis dessen, was Judentum ausmachte, zu bestimmen. Neben Einzelpersonen, deren Auftreten oft nur von kurzer Dauer war, existierten Splittergruppen und größere Gruppierungen, die trotz oder wegen der gemeinsamen Tradition sich einander das Recht absprachen, verbindlich zu interpretieren, was Israel sei. Die je eigene Lesart der Schriften wurde als verbindliche ausgegeben, wobei gegenüber anderen Gruppierungen nicht die theologische
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wird hier weitgehend der Analyse von S.J.D. COHEN, The significance of Yavneh: Pharisees, Rabbisand the end ofjewish sectarianism, HUCA 55 (1984) 27-53 gefolgt
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Rainer Kampling
Denkfigur der Häresie, sondern die des Abfalls vom wahren Gott bzw. die des Selbstausschlusses aus Israel zum Tragen kam. Daß sich in diesem Klima eine polemisch akzentuierte Streitkultur entwickelte, bedarf keiner weiteren Begründung. Gleichwohl ist bei der Rekonstruktion der Situation der innerreligiösen Beziehungen im Judentum nicht nur von der Zergliederung auszugehen. Will man die Entwicklung nach 70 nicht als Akt der völligen Neuschöpfung und Neudefinition des Judentums behaupten, die keinerlei Kontinuität zur vorhergehenden Zeit aufweist - religionsgeschichtlich wäre das allemal ein singuläres Ereignis -, so wird man auch für die Zeit vor 70 Bezugspunkte beneMen müssen, die für alle Gruppierungen eine mehr oder weniger gemeinsame Größe darstellte, so daß alle Gruppen sich in Hinblick auf diese Gemeinsamkeit definieren mußten. Dabei ist keineswegs nur eine positive Bezugnahme gemeint. Auch eine kritisch-distanzierte Position mußte theologisch reflektiert und nach innen und außen legitimiert werden. Die Verweigerung einer Stellungnahme hätte den Rückzug von Kernfragen bedeutet und damit eine Isolation innerhalb der Gruppierungen und völlige Einflußlosigkeit bei dem an Neuerungsbewegungen weitgehend desinteressierten traditionelllebenden Judentum bedeutet. Ausdrücklich sei nochmals festgehalten, daß hier nicht einer These vom offiziellen bzw. normativen Judentum das Wort geredet wird. Aber in der Vielfalt des jüdischen Glaubens zur Zeit des Zweiten Tempels gibt es Bezugspunkte, an denen sich die Frage nach dem Selbstverständnis entscheiden konnte. Damit ist nicht gesagt, daß alle Gruppen zu einer identischen Interpretation gelangen mußten, aber es waren so zentrale von der Tradition vorgegebene Kristallisationspunkte, daß alle Gruppierungen sich um eine interpretierende Stellungnahme bemühen mußten. Diese zentralen Punkte werden in dem berühmten Spruch Pirque Aboth I ,2 genannt: Schimon der Gerechte war einer der letzten Männer der großen Synagoge; er sprach: Aufdrei Dingen steht die Welt: Aufder Weisung, auf dem Kult und auf den Liebeserweisungen. Für die hier zu verhandelnde Frage ist es nicht von Bedeutung, ob es sich um Schimon den Hohenpriester (31 0-291) oder seinen Enkel handelt (219-299, Ant Xll 2.5)~ die Reihung faßt überaus knapp die Grundprinzipien zusammen, die das Leben vor Gott ausmachen und zugleich welterhaltend sind. Die Thora, der Tempel und die Darm-
" Und er ging nach seiner Gewohnheit am Sabbat in die Synagoge" 63
herzigkeit, mithin die Menschlichkeit, sind, ob nun in Bejahung oder Vemeinung, Eckdaten jüdischer Frömmigkeit und jüdischen Lebens. Daß hier der Glaube nicht genannt wird, ist nicht verwunderlich, weil er Voraussetzung und Anteil zugleich an diesen "drei Säulen" ist. Wenn diese drei Aspekte das religiöse Fühlen, Denken und Leben von Juden bestimmten, dann auch das von Jesus von Nazaret. Dann sind damit auch die ihm vorgegebenen Größen benannt, an denen sich seine religiöse Praxis als jüdischer Frommer entscheiden mußte. Die Weisung Daß Thema "Jesus und das Gesetz" zählt gewiß nicht zu den exegetischen Themenkomplexen, die mit einer gewissen Ruhe angegangen werden. Vieles steht offensichtlich auf dem Spiel, auch konfessionelles Selbstverständnis, so daß die Sprache bisweilen schon die Brisanz verrät. 20 Die verschiedenen Entwürfe und Thesen haben annähernd Ausschlußcharakter. 21 Gewiß ist dieser Befund auch durch die je verschiedene Beurteilung der Thorarelevanz und Thorainterpretation im Frühjudentum zu erklären. Allerdings wird hier auch zu fragen sein, ob nicht der Gedanke, über Konflikterzählungen am ehesten zu Jesu Selbstverständnis zu gelangen22 , ausschlaggebend ist. Welches theologische Interesse darin liegen kann, Jesus von Nazaret als Gesetzesübertreter zu qualifizieren, wird je nach verschiedenen Verwendungskontexten zu klären sein. Offensichtlich ist allerdings die Prämisse dieses Gedankens: Wer Jesu vermeintliche Gesetzesbrüche meint positiv hervorheben zu müssen, für den ist bereits die Thora als Gottes Willen abgetan, zumindest was die Kultthora betrifft. Oder wäre vorstellbar, daß man ein Vergehen Jesu gegen eines der Dekaloggebote ebenso positiv bewertete wie etwa eines gegen das Sabbatgebot?23 Vgl. etwa die persuasive Sprache bei: J. BECKER. Jesus, 337-387~ die Überschrift lautet übrigens: ,)esu autoritative Verkündigung des Willens Gottes Wld die Thora", aber hier wird ein Gegensatz konstruiert, der nur zu deutlich die Absicht erkennen Jaßt. Denn wo ist in der Überlieferung dieser konstruierte Gegensatz belegbar, der ja nahelegt. der Wille Gottes sei nicht deckungsgleich mit der Thora? 21 Daher konunt dem Sammelband I. BROER (Hg.), Jesus und das jüdische Gesetz, Stuttgart 1992 besondere Bedeutung zu, da er verschiedene Positiooen vereint tmd so den Rezipienten in die Lage versetzt, zu einem eigenen Urteil zu k~ übrigens ist er wohltuend frei von Polemik. 22 hn Hintergrund stehen die Erwägtmgen von: E. IERs., Wurzeln, 261-294.
Antijudaismus im Matthtiusevangelium?
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Klugheit und Vernunft appellierenden weisheitliehen Traditionen ohnehin ausgeblendet werden). Auch die übliche Deutung der Auferweckung Jesu einzig als Beginn der apokalyptisch geglaubten Auferweckung gehört m.M.n. 85 in die unbewußte Kategorie antijüdischer Auslegung, die ihren glaubensgeschichtlichen Stellenwert erst im Kontext der damaligen unterschiedlichen religiösen Erfahrungen und Hoffnungen gewinnt. Dennoch gilt Bei aller kontextuellen, historischen, juristischen und intertextuellen Differenzierung ergibt das historische Mehr-Wissen noch keineswegs eine neue angemessene, eventuell antijudaistische Lesart. Dennoch ist das Bemühen um die argumentativen und narrativen Strukturen des Textes die not-wendige Voraussetzung, um die Not der Juden, die sie durch Jahrhunderte hindurch nicht zuletzt durch Christen erleiden mußten, abzuwenden. Erst so gewinnen Heidenchristen wiederum ein Gespür dafür, daß es im Matthäusevangelium um innerjüdische Auseinandersetzungen und um eine innerjüdische Abgrenzung zwischen der universal orientierten matthäisehen Gemeinde und der national orientierten pharisäischen Synagoge geht. Beide sind offensichtlich bemüht um Stabilisierung nach innen, die nur durch eine Abgrenzung nach außen zu erreichen ist. Dies gilt als ein soziologisches Gesetz. 86 Daß sie auch kritisch und sogar polemisch geschieht, den anderen karikierend, entspricht damaligen Sprachmustem. Auch in der innerchristlichen Auseinandersetzung im Neuen Testament sind sie unschwer zu finden. 87 Antichristlich verstehe ich letztere ebenso wenig wie antijüdisch/antijudaistisch die ersteren, da es sich hier wie dort m.M.n. um gruppeninterne Kritik handelt. "Antijudaismus" scheint mir folglich nicht vom Text "an sich" vorgegeben zu sein. 88 Vielmehr spricht die oben skizzierte, an den Leserlenkungen des Textes soweit wie möglich orientierte alternative Lesart dafür, daß eine antijüdische Auslegung der nachfolgenden christlichen Generationen wesentlich durch deren Rezeptionsbedingungen und Rezeptionsintentionen bedingt war und ist. Dieser hermeneutische Grundsatz gilt selbstverständlich auch für meine eigene heutige Textwahrnehmung in der Situation "nach Auschwitz" und im christlichjüdischen Dialog. Die Tatsache, daß die oben vorgelegte Deutung der Texte - gegen eine antijudaistische - aufgrund der Leserlenkungen 85
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Zur Begründung vgl. H. FRANKEMOU..E, Auferweckung. in: DER.s., Wurzeln. 209-232.
Zur BegrQndung vgl. E. ScHwARZ, ldentiW durch Abgrenzung, Frankfurt/Bem 1982. Zum 2. Petrushrief und Judasbrief vgl. etwa H. FRANKEMCll.E, 1. Petrushrief 2. Petrushrief Judasbrief. 73-87, 123-130 und die Einzelauslegung zu den bekannten Stellen. 88 Diesen Eindruck vermittelt der an sich lesenswerte Aufsatz von G. THEISSEN, Aporien. 87
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Hubert FrankemDlle
durch den Text als begründet und plausibel erscheint, läßt eine antijudaistische Rezeption eben als Rezeption des Lesers, nicht aber als WirkWlg des Textes selbst erscheinen. Diese Reflexion berührt die zu Beginn des Aufsatzes entfaltete hermeneutische überzeugWlg, daß ein Text nie losgelöst vom WahrnehmWlgsvorgang und damit von der Perspektive des Lesers erfaßt werden kann.
5. Innerjüdische Kritik und (heiden)christlicher Antijudaismus Am Ende kann an den Anfang angeknüpft werden, da der Kreis sich schließt. Wenn man nach der Lektüre der von Schreckenberg aufgelisteten Texte des Neuen Testaments, die in nachneutestamentlicher Zeit antijudaistisch ausgelegt wurden, "fast zu dem Ergebnis kommen [... ] kann [... ], daß annähernd jeder Text des Neuen Testaments unter antijudaistischen Vorzeichen gelesen wurde bzw. im Lauf einer sich entwickelnden Tradition mit entsprechenden Topoi verbWlden werden konnte" -entsprechend dem "unmittelbaren Verwertungsinteresse der jeweiligen Autoren" 89, dann ist beim Thema "Antijudaismus im Matthäusevangelium?" bzw. überhaupt im Neuen Testament zu Wlterscheiden zwischen Auslegung (eines historisch vorgegebenen Textes) und Aneignung (etwa durch uns heute). Wer vom antijudaistischen Vorverständnis kritische innerjüdische Texte liest, kann sie nur antijudaistisch verstehen. Daraus folgt: In der Hermeneutik, weniger in der Methodik entscheidet sich das Vorverständnis der Textauslegung, d.h. diese selbst. Das jeweilige hermeneutische Vorverständnis macht sensibel für neue methodische Zugangswege (etwa in der narrativen Analyse, in der kontextuellen und historisch-glaubensgeschichtlichen Einbindung u.a). Dabei gilt es zu sehen, daß die glaubensgeschichtliche und historische Situation theologische Texte des Neuen Testaments auch in ihrer Sachaussage begrenzt. Die Frage, die sich an dieser Stelle verstärkt stellt, ist, wie wir heute in der heidenchristliehen Kirche solche Texte rezipieren und ihre R.l i ::l) in das Achtzehngebet historisch unsicher. 44 Die auf die Judenchristen(= nozrim) bezogene Erweiterung dieses Fluches ist wahrscheinlich später anzusetzen, so daß dieser Text selbst nicht eindeutig für die joh Polemik gegen "die Juden" herangezogen werden kann. Freilich ist nach der Einschätzung von M. Hengel die Erweiterung des Achtzehngebetes um die Verfluchung der "Häretiker" und der nozrim "nur die letzte Konsequenz auf einem an Auseinandersetzungen und Leiden reichen Weg' 045 • M Bengel verweist auf das Stephanusmartyrium, die mit weiteren Verfolgungen verbundene Hinrichtung des Zebedaiden Jakobus unter Herodes Agrippa I. (43/44 n.Chr.; Apg 12,1-3), die Verfolgung der Judenchristen durch den vorchristlichen Paulus von Tarsus, die Ausstoßung von christusgläubigen Juden aus der Synagogengemeinschaft bei den paulinischen Gemeindegründungen, die Paulus am eigenen Leib gewaltsam erfahren hat (vgl. 2 Kor 11,24-25; vgl. I Thess 2,14) und die Hinrichtung des Herrenbruders Jakobus mit einer Anzahl weiterer Judenchristen durch
K. WENGST, Gemeinde 103( Vgl. ahnlieh Ch. Dm'TzFm.BJNGER. Der Abschied des Kommenden. Eine Auslegung der johanneischen Abschiedsreden (WUNf 95), Tübingen 1997, 167-177. 44 Vgl. M HBNoa, Frage, 288-290. Vgl. die Studien von: P. ScHAFER, Die sogenannte Synode voo Jabne. Zur Trenmmg voo Juden und Ctuisten im erstenilweiten Jahrhundert n. Chr. (1975). in: DERs., Studien zur Geschichte und Theologie des rabbinischen Judentums, Leiden 1978, 45-64~ G. STEMBERGER., J~ W. HORBURY, The Benedictioo ofthe Minim and Early Jewish-Christian Controversy: JibS 33 (1982) 19-61~ K. WENGST, Gemeinde, 89-104. Vgl. auch: J. MAlER., Geschichte, 75( 115-117 (Lil}, B. WANDER. Trennungsprozesse zwischen Frühem Christentwn und Judentwn im 1. Jahrhundert n. Chr. Datierbare Abfolgen zwischen der Hinrichtung Jesu und der Zerstörung des Jerusalemer Tempels (TANZ 16), TUbingen 1994, 272-275~ C. THOMA, Messiasprojekt, 339-352~ U. SoiNELLE, Einleitung, 544f. G. STRECKER, Theologie, 518f. P.W. VAN DER HORST, The Birbt ha-minim in Rea:nt Research, ET 106 (1994) 363-368~ s.c. MIMouNJ, La ,,Birbt ha-minim": une priere juive cootre 1e judeo-chretiens, RSR 71 ( 1997) 275-298. 45 M. HENGEL, Frage, 290. Dann wäre die spätere Ergänzung des Achtzehngebetes ein indirektes Zeugnis ftlr erfahrene Gegnerschaft der joh Christen. 43
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Klaus Scholtissek
den Hohenpriester Hannas ll., den Sohn des Hannas aus Joh 18,13 (vgl. Jos Ant XX 200; Eus Hist m 5,2-3). 46 Auch unabhängig von der Frage nach der Datierung der Erweiterungen im Achtzehngebet ist der - als solcher gedeutete - Synagogenausschluß der joh Christen theologisch wie sozialgeschichdich ein Problem, das die joh Christen zur Auseinandersetzung zwang (vgl. die sogenannten Kryptachristen im JohEv). 47 In 16,2 kündigt Jesus nicht nur den Synagogenausschluß, sondern auch die gegnerische Meinung an, durch die Tötung der Christen Gott einen heiligen Dienst zu erweisen. Letztlich wird beides zusammenzuhalten sein: die zeitgeschichdich doppelte Minoritätensituation der joh Christen gegenüber der Synagogengemeinschaft und der römischen Weltmacht (und ihrem kulturellen Hegemonialanspruch) und damit verbunden die theologische Bewältigung dieser Situation in "welt"-geschichtlicher Ausfiihrung. 48 (c) Die johanneische Polemik als innerjüdisch zu verstehender Konflikt Aus dem vorstehend genannten geschichtlichen Entfremdungsprozeß kann die joh Polemik als ,,Tragödie der Nähe" bestimmt werden. 49 Demnach ist es gerade der jüdische Charakter der joh Theologie und die jüdische Herkunft der joh Christen, die zum verletzten und verletzenden Streit führt. Die joh Polemik gegen führende Parteien der Juden bzw. "die Juden" wächst gerade aus dem Erbe, auf das sich die joh Christen berufen, auf das sie nicht verzichten wollen und können, dem sie sich um ihrer eigenen Identität willen verpflichtet wissen (vgl. 46
Zu JOdischen Reaktionen auf die christliche Bekenntnis- und Gemeindebildung zwischen 30-150 n. Chr. vgl. die Studie von C.J. SETZER. Jewish responses to Early Christians. History and Polemics, 30-150 C.E., Minneapolis 1994. Vgl. auch die Darstelhmgen von: J. MAlER. Jüdische Auseinander9etzu mit dem Christentmn in der Antike (EdF I 77), Dannstadt 1982~ J. BLANK. Antijudaismus im Neuen Testament? ,,Die Anfllnge der Nazoraerselcte bis zmn Ende des zweiten Tempels", in: FROHNHOFEN, Antijudaismus, 50-63~ B. WANIER, Trenn~
prozesse. 47 Auch wenn man nicht die gesamte Johannes-Auslegung von K. WHNGST, Gemeinde, teilt, hat er zw-echt auf die trawnatische Bedeutung des Synagogenauschlu tnr die joh Christen aufinerksam gemacht (vgl. ebd. 89-104). 48 Was leistet der Hinweis auf die zeitgeschichtliche Bedingtheit der joh Judenpolemik eine Entschuldigung. ein sachgerechtes Verstehen? Vgl. die Problemanzeige von D. VETIER. Relativierung des fi1lhchristlichen Antijudaismus als Historie? PIAdoyer fllr eine Umkehr von den bösen Wegen der Geschichte und Kin:heogeschichte (1989). in: DERs., Das Judentmn und seine Bibel. Gesammelte Aufsätze (Religionswissenschaftche Studien 40), WOrzburg/Alten~e 1996, 246-255. 4 Vgl. den Titel des Beitrages von E. S'IEGEMANN, Die Tragödie der Nahe.
Antijudaismus im Johannesevangelium?
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4,22). so H. Thyen sieht in den joh Christen "eine judenchristliche Minderheit, die betroffen und bedroht vom Synagogenausschluß ringt um das ihr bestrittene Erbe" 51 . (d) "Die Juden" als die fUhrende Schicht der Juden Mehrfach vertreten wird die Auslegung, mit "die Juden" sei nicht Israel als das jüdische Volk insgesamt, sondern die "fiihrende Schicht" der Juden auch als aktuelle Gegner der joh Christen angesprochen. s2 J. Beutler unterscheidet zwischen einem pejorativen Sprachgebrauch "der Juden", der auf die Pharisäer und Hohenpriester bezogen ist, und einem positiven, der das jüdische Volk meinf3: "Theologisch gesehen sind die ,Juden' für den Vierten Evangelisten in ihren politischen Führern Repräsentanten der ungläubigen , Welt', als Volk aber das zum Glauben berufene Israel, dessen Religion sich im Glauben an den Messias und Gottessohn Jesus vol/endet."S4 Eine Variante dieser Position vertritt W Lütgert, der meint, mit "die Juden" sei der nach dem Gesetz lebende Teil des jüdischen Volkes gemeint.ss (e) "Die Juden" als Judenchristen
M. Rissi wertet gerade die Vielschichtigkeit und die Differenzierungen im gesamten joh Sprachgebrauch so aus, daß der Evangelist mit der Wendung "die Juden" eine spezifische Gruppe meine. Er deutet 8,3031 auf Judenchristen innerhalb der joh Gemeinde, die sich neben ihrem Christus-Glauben auch auf ihre ethnische Abrahamskindschaft berufen, was der Evangelist ausschließen wolle. 56 Seines Erachtens gibt es im JohEv deshalb keinen Antijudaismus, weil mit "die Juden" keine Gruppe außerhalb der joh Gemeinden, sondern zur Häresie neigende 50
Vgl. J. BBlJTLER, Juden, bes. 75( Vgl. auch R LBISTNER, Antijudaismus, 145.
sI H. l'HYEN, Heil, 183. s2 In diesem Sinne urteilen: R. ScHNACKENBURG, Das Jobannesevangeliwn (HThK N/1), Freiburg i. Br, (1972) 7 1992, 146-148, 275f, F. MUSSNER. Traktat, 288~ R. l..msTNBR, Antijudaismus, bes. 144f, U.C. VON WAHLDE, The Johannine ,)ews... A Critical Survey, NfS 28 (1982) 33-60. Kritisch hierzu: H. THYEN, Heil, 169~ I. BROER, Die Juden, 12-14~ C. DIBBOLD8cHEuERMANN, Jesus vor Pilatus. Eine exegetische Untersuclnmg ZlDD Verhör dl.at:h Pilatus (Job 18,28-19,16a)(SBB 32), Stuttgart 1996, 190-192, 246f, 285f. 53 Vgl. J. 8Etm.ER, ,)uden.., 7()( 54 Ebd. 73. 55 Vgl. W. Llri'GERT, Die Juden im Johannesevangeliwn, in: Neutestamentliebe Studien ftlr G. Heimici (UNf 6), hg. v. A. DElssMANN/A. WINDtsCH. Leipzig 1914, 147-154. 56 Vgl. M. Rlss1, Juden, 2112f et passim.
Klaus Scholtissek
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Judenchristen angesprochen seien. 57 Diese Beobachtung erhebt M Rissi zum Schlüssel seiner gesamten Auslegung. Dabei muß er freilich einige Vorkommen von "den Juden" als redaktionell ausklammem (u.a die Stelle~ die über den Synagogenausschluß handeln58) und verliert damit an Überzeugungskraft.
(f) Johanneischer Antijudaismus: "die Juden" als von Gott verworfenes Volk M. Brumlik interpretiert das JohEv als Dokument einer geschlossenen antijüdischen Frontbildung: .,Im achten Kapitel des Evangeliums schließen religiöse Urmotive und nur politisch und sozialpsychologisch erklärbare Wahnvorstellungen zu einer konsequenten Satanologie zusammen, die den Juden in einer nicht anders als protorassistisch zu bezeichnenden Doktrin nicht mehr die mindeste Chance läßt. " 59 Für den jüdisch-christlichen Dialog müsse das JohEv deshalb ausscheiden. 60
3. Israeltheologie im Johannesevangelium Die komplexe Israeltheologie des JohEv, zu der neben den jüdischen Gruppen (.,die Juden", .,die Pharisäer", "die Ratsherm", "die Hohenpriester", "die Diener", "die Menge") und vielen Einzelpersonen insbesondere die jüdischen Institutionen (Tempel, Schrift, Gesetz61 , Feste, Synhedrium) zu berücksichtigen sind, ist gekennzeichnet durch folgende teilweise in Spannung zueinander stehende Aussagereihen62 : 57
Vgl. ebd. 2136. Vgl. ebd. 2133-2135. M. BRUMLIK, Johannes, 104~ vgl. ebd. 108: ,,paranoides Feindbild''. 60 Ebd. 111 f. 61 Zur joh Deutung des Gesetzes vgl. S. PANCARo, The Law in the Fourth Gospel. The Torah in the Gospel, Moses and Jesus, Judaism and Christianity according to John (NT.S 42), Leiden 1975~ M KOTn.A, Umstrittener Zeuge. Studien zur Stellung des Gesetzes in der johanneischen Theologiegeschichte (AASF.DHL 48), Helsinki 1988~ A. ÜBERMANN, ErlU.ISB 59
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bn JohEv finden sich auch in anderen thematischen Zusammenhangen (vgl. nur die präsentisch- und die futurisch-eschaogiscben Aussag~ vgl. jüngst die umfassende Forschungsgeschichtevon J. FREY, Die johanneische Eschatologie llbre Probleme im Spiegel der Forschq seit Reimarus [WUNf 96], Tübingen 1997) in Spannung zueinander stehende bzw. prima facie gegensätzliche Positionen, die einen hohen Aufwand an hermeneutischer Entzifferungsarbeit verlangen. Literarlaitische Lösungsvorschlage sollten erst dann versudlt werden. wenn der vorliegende Text tatsichlieh keine andere Option zulaßt. Dieses Urteil widerspricht nicht einem traditionsgeschichtlichen Wachstumsprozeß des corpus evangelii, sondern rectmet
Antijudaismus im Johannesevangelium?
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( 1) Es finden sich Passagen, die die Gottesgeschichte Israels betonen und in diesem Sinne heilsgeschichtlich argumentieren (vgl. 1,17"3 ; 4,2264 : "das Heil aus den Juden"; vgl. 10,35: die "unauflösbare Schrift"). Der Evangelist stellt an herausgehobenen Stellen ,,Israel" als Würdeprädikat heraus (vgl. 1,31.47.49; 3,10; 12,13). Hierzu passen auch die positiven Aussagen über den Glauben "vieler aus den Juden" (vgl. 8,30-31; 11,45; 12,11), "vieler aus dem {jüdischen) Volk" (vgl. 2,23; 7,31; 19,38-39), .,vieler aus den Ratsherren" (12,4265 ; vgl. 7,26.48), über die Parteinahme von einigen Pharisäern (vgl. 9,16) und von "Dienern" der Pharisäer und Hohenpriester (vgl. 7,45-46) für Jesus. Darüber hinaus werden die Zeugnisse des Mose66, des Jesaja67, der Abrahamskindschaft68, Johannes des Täufers und nicht zuletzt der Schrift insgesamf9 positiv in Anspruch genommen. Auch das joh Motiv der Sammlung des Gottesvolkes (vgl. AO.oc;, e9voc; und tiKva 'tOU 9tou in 11,47-53; vgl. 10,16; 17,20) ist heilsgeschichtlich entfaltete lsraeltheologie.
damit, daß der joh Fortschreibungsprozeß primar nicht von miteinander konkurrierenden Wld sich gegenseitig widersprechenden theologischen Positiooen vorangetrieben wurde, wie es die klassische Literarlaitik am JohEv oft unkritisch vorausgesetzt hat. 63 Die Ausleger streiten darüber, ob der Parallelismus in 1,17 antithetisch oder synthetisch awrrulegen ist. E. GRAssER, Polemik, bes. 140-143, 146f, pladiert tnr eine antithetische Auslegung Wld wteilt zusammenfassend:,,[ ... ) es steht überall die Tom als die Summe der synagogalen Gesetzlichkeit - oder genauer: als Chiffre des verkehrten jüdischen Wesens gegen Christus, den Messias des christlichen Bekenntnisses" (ebd. 143). Freilich kann er auch zugestehen, daß es nicht die Tora, sondern der Unglaube ist, der blind macht tbr das in der Tora liegende~ vgl. ebd. 144( DERs., Juden, 160. Für einen synthetischen Parallelismus plädieren mit guten Argwnenten H. THYEN, Heil, 173-177 (zur Verstarlamg seiner heiJs.. geschichtlichen Deutung von 1,17 weist er zu Recht auf 12,24 hin: Erst nach dem Tod des Weizenkornes wird der Wunsch der "Griechen" sich erfilllenJ, A ÜBERMANN, Erfillhmg, 5356. In 1,17 kann ~ dun:haus als passivum divinwn gelesen werden. 64 Gegen R. BULTMANN, Job, 139, der 4,22 einem kirchlichen Redaktor zuordnet, ist u.a mit F. HAHN, Heil, die UrsprOnglichkeit von 4,22 festzuhalten (vgl. ebd. seine DlD"cbsicht der Forschungsgeschichte). Vgl. auch: K. HAACKER, Gottesdienst ohne Gotteserkermtnis. Joh 4,22 vor dem Hintergrund der jüdisch-samaritanischen Auseinandersetzu in: B. 8ENziNo u.a (Hg.). Wort tmd Wirldichkeit (FS E. Rapp), Meisenheim 1976, 110-126. Auch H. THYE.N, Heil, 170, deutet 4,22 heilsgeschichtlich: Aus judenchristlicher Sicht werde mit Blick auf die noch ungläubigen Samariter gesprochen. FOr eine synchrone Auslegung des JohEv halt 4,22 auf Fall fest, daß das ,,Heil", namlich Jesus Christus, bc upv louöaic.ov ist. 6 12,42 spricht be:zeicbnenderweise von der Fmdlt der Ratsbenn vor den Pbarislem. 66 Vgl. 1,17.45~ 3,14~ 5,45.46~ 6,32; 7,19.22.23; 8,5•; 9,28.29. 67 Vgl. 1,23; 12,38.39.41. 68 Vgl. 8,30-58. 69 Zur joh Schrifttheologie vgl. die Ausfuhrungen \Dlter 4.
leden
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Klaus Scholtissek
Die kritische Rückfrage der Hohenpriester und Pharisäer an ihre "Diener", die Jesus entgegen ihrem Auftrag nicht festgenommen hab~ in 7,48 (,,Ist denn einer von den Ratsherren zum Glauben an ihn gekommen oder von den Pharisäern?'') steckt - wie die Ratssitzung nach 11,47-53 70 - voller Ironie 11 : Die vermeintliche geschlossene Ablehnung Jesu ist ein Irrtum. Die Leser wissen aus dem unmittelbaren Kontext, daß ein Ratsherr, nämlich Nikodemus, der betont mit "einer von ihnen" vorgestellt wird, Partei ergreift fur Jesus (7,51-52; vgl. 3,1; 19,38-42). In 9,16 ist sodann auch davon die Rede, daß einige aus den Pharisäern fur Jesus Partei ergreifen; nach 12,42 kommen viele von den Ratsherren zum Glauben. Auch der Vorwurf der Gesetzesunkundigkeil an "dieses Volk", das von den eigenen Repräsentanten verflucht wird(!), wendet sich im unmittelbaren Kontext gegen diejenigen, die diesen Vorwurf erheben: Nikodemus zeigt ihnen, daß sie selbst in ihrem Vorgehen das Gesetz mißachten, auf das sie sich berufen, und deshalb gerade "nicht (aner-)kennen" (vgl. 7,51; 7,19: "und niemand von euch tut das Gesetz"). "Spaltungen" (CJXlC1tJU'ta) entstehen wegen Jesus im Volk (7,43), bei den Pharisäern (9,16), bei den Juden (10,16), im Hohen Rat (vgl. 7,45-52; 11,47-53) und bei den Jüngern (vgl. 6,60-71). In ihnen wirkt sich das scheidende Offenbarungswirken Jesu aus, das freilich keine vorgängige Scheidung aufdeckt, wie es prädestinatianische Deutungen des JohEv wollenn, sondern Glauben von allen Adressaten fordert. 73 (2) Im JohEv wird louöa'i'oc; als Bezeichnung fiir die Volkszugehörigkeit 70mal verwendet (davon nur dreimal im Singular: 3,25; 4,9; 18,35). Eigene Beachtung verdient die Identifizierung Jesu als Jude durch die Samariterin (4,9), eine Aussage, die nirgends zurückgenommen oder eingeschränkt wird und fur die Interpretation von 4,22 -
70
Vgl. hierzu die Auslegung von J. BEUTI..ER. Zwei Weisen der Sanunhmg. Der Todesbeschluß gegen Jesus in Joh 11.47-53 (1994), in: DERs.• Studien. 275-283. 71 ZlU' joh Ironie. die in der Forsclumg noch nicht die ihr gebOhrende Aufinerksamkeit gefunden hat. vgl. K. ScHoL.nssEK. Ironie und Roßenwechsel im Johannesevangelium., ZNW 89~1998) (im Druck). Vgl. 0. HoFrus/H...Chr. KAMMLER, Joharmesstudien. Untersuclnmgen zur Theologie des vierten Evangeliums (WUNT 88), TObingen 1996. 73 Vgl. M. HAsiTSCHKA, Befreiung von SOnde nach dem Johannesevangeliwn. Eine bibeltheologische Untersuchung (ITS 21). Innsbruck 1989, 183: ,)esu Koounen zu den Juden und die SteUWlgll8hme der ,Seinen' ihm gegenober ist Typus und Sinnbild fnr ein Geschehen von wtiverseUer Bedeutung: das Kommen des Logos in den durch ilm geschaffeoenen Kosmos und dessen ratselhaftes Verbalten ilun gegenüber."
Antijudaismus im Johannesevangelium?
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mithin für das gesamte JohEv74 - bedeutsam ist. Auch die Titulatur Jesu als "König der Juden" (vgl. schon 1,49), die besonders im Prozeß vor Pilatus eine prominente Rolle spielt, verweist mit aller Klarheit auf die Zugehörigkeit Jesu zumjüdischen Volk. 75 Eine einheitliche Verwendung des Plurals ,,die Juden" läßt sich im JohEv nicht ausmachen: ,,die Juden" fungieren als Gegenspieler Jesu, als Volk bzw. Volksmenge z.B. in Jerusalem, als jüdisches Volk im Gegenüber zum heidnischen Volk, als die Zeitgenossen Jesu, als Repräsentanten der jesusfeindlichen Welt. 76 Für das Bild "der Juden" wie der einzelnen genannten jüdischen Teilgruppen im JohEv ist insbesondere auf die Verschmelzung der Zeiten im JohEv, die die Situation des irdischen Lebens Jesu mit derjenigen der joh Christen ,zusammensieht', hinzuweisen. n Im JohEv liegt mithin ein differenzierter, wenngleich nicht systematisch durchgezogener Sprachgebrauch von louöa'l a1t0KaA.lntu:-ra1 , , EK ,
mCJ"tEroc; El, andererseits im 7tp&'tov eine beabsichtigte Verfremdung der rezipierten Formel vorliegt 1• Daß Röm 1, 16f das Thema der nachfolgenden argumentatio bzw. die propositio principalis des Schreibens enthält, dürfte konsensfähig sein. 42 Wenn irgendwo, dann hat Paulus in seinem großräumigen und 37
Vgl. Jes 55,10f("deon wie der Regen[ ... ]. so auch mein Wort. das aus meinem MWlde konunt es ketut nicht leer zu mir zurOck. sondern wirlct, MW ich beschlossen. lDld tnhrt durch. \WZU ich es gesendet"~ Hebr 4,12 ('liilv yb.p o M)y~ roD &oü teal Evcpyrk~ lThess l.S t'OOyyawv TproV oUtc ~ EÜ; ~ f:v A0yq> ~OVOV fV.UJ. ICQt Cv 00~). Zu Rom 1,16 vgl. als Bt2ugstext du Prasbipt: 1.1 (EinyyiÄ.wv)- 4 (iv ~). W. ScHRAGE. Brie( 173. schUigt zu Recht vor••.ftlr das Auftreten von OOva,.lu; ansteUe der zu erwartenden Weisheit die Tatsache verantwortlich zu machen. daß sich ftlr Paulus lilM:xpu; vor aUem mit dem A.Oyoc; verbindet". 38 Außer Wort/EvangeÜIIIn, ~at; 9mt1 vgl. noch w\i; ~OJ.&ivau; mit E\(; <J't1'piav) kündige die Kap. 5-8 an (J Dupont) bzw. decke nach Ausweis von V. 16c den Brief bis einschließlich Kap. 11 ab (S. Lyonnet), wohingegen der rechtfertigungstheologische Untersatz 1, 17 die Überschrift für die Kap. 1-4 enthalte. 45 Einen eigenwilligen Vorschlag hat JD.G. Dunn gemacht, und zwar auf der Basis einer Deutung der FormelEK mau:roEtv im Briefkorpus dürfte bestätigt haben, daß die Bindung des Evangeliums an den Glauben Jesu Christi in der Tat den "strittigen Punkt" der propositio darstellt. Paulus jedenfalls hat sich in den Argumentationen seines Schreibens, aber auch in dessen Paränese erstaunlich konsequent daran gehalten - ein Zeichen für die innere Einheit seiner Konzeption! 1. 6 Röm 1, 16 als propositio principalis des ganzen Schreibens 1. Bereits das Ergebnis von 1. 5 spricht zugunsten der Annahme, daß 1, 16f die propositio des ganzen Schreibens ist, zum einen von Röm 1-11, aber da die Paränese in großen Partien (v.a 14,1-15,6) die ekklesiologische Anwendung der Rechtfertigungslehre darstellt1 1, auch von Röm 12,1-15,6. 2. Wichtig für uns ist die Feststellung, daß die propositio vor allem auch die Fragestellung von Röm 9-11 abdeckt. Dessen wird man Vgl. M. THEOBAlD, Römerbrief Kap. 12-16 (SKK.Nf 6/2), Stuttgart 1993, 185~ G. SASS, Röm 15,7-13- als Swnme des Römerbriefs gelesen, EvTh 53 (1993) 51(}.527. 68 M. MOUER. Vom Schluß zwn Ganzen. Zur Bedeutung des paulinischen Brietk(X])USabschlusses (FRLANT 172), Göttingen 1997, 228. 69 Das ersieht man an der verbalen Fonnulierung mit m.atruetv gegenOber den beiden Substantiven xapa und~ sowie an der Endstellung des iv tiil m.O'tEilelv im eigentlichen Wunsch-Satz, die der Stellung des iv ~-·· in der Konsekutiv-Phrase entspricht 70 Auch das Stichwort 1tE.ptam:OO.v bezeichnet ein Leibnativ des Römerbriefs (Kap. 5!): M THEOBAI.D, Die Oberströmende Gnade. Studien zu einem panlini~ Motivfeld (FzB 22), WOIZburg 1982. 71 Vgl. M. THEOBALD, Rechtfertigung, 109ff. 67
Michael Theobald
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gewahr, wenn man die Bedeutung von 1,16b.c. als Obersatz der propositio realisiert: a) Paulus nennt das Evangelium ,)Jacht Gottes zur Rettung fiir jeden, der glaubt [... ]". Bei der theozentrischen Struktur der Aussage ist auszuschließen, Gottes Macht werde hier in ihrer Durchsetzungskraft davon abhängig gemacht, ob denn nun jemand glaubt oder nicht; Gottes Wort und des Menschen Antwort stehen nicht auf gleicher Stufe, vielmehr ist Paulus davon überzeugt, daß das Evangelium als Macht Gottes die Bedingungen seiner Durchsetzung unter den Menschen in der Kraft der Gnade sich auch selbst schaffen wird. b) Welche Tragweite diese seine Überzeugung besitzt, wird klar, wenn man über den Sinn des gezielt gesetzten "zuerst (7tpiilrov) dem Juden" nachdenkt. Offenkundig bedeutet dies nicht lediglich einen missionsgeschichtlichen Vorsprung der Juden derart, daß das Evangelium "zuerst" zu ihnen, dann aber infolge ihrer Ablehnung in die Heidenwelt gelangt sei (vgl. 11 , 11. 15. 30), sondern meint den dahinter stehenden primären Bezug des Evangeliums zu ihnen aufgrund der vorausliegenden Bundesgeschichte Gottes mit Israel, wie sie in 3,1-8 und 9,1-5 von Paulus ausdrücklich in Erinnerung gerufen und festgehalten wird (wahrscheinlich um anders lautende Unterstellungen gegen ihn apologetisch zu unterlaufen). Von bleibender Qualität ist dieser Bezug des Evangeliums zu Israel deshalb, weil Jesus auch als der an Ostern zum ,,Herrn" der Heidenvölker Inthronisierte Israels Messias bleibt (1,3f; 9,5; 15,8).n Das freilich fiihrt angesichts des gegenwärtigen Neins Israels zum Evangelium zu der aporetisch scheinenden Frage, wie sich denn die behauptete Macht des Evangeliums in Zukunft auch an Israel als wirksam erweisen wird, was Paulus in Röm 9-11 verhandeln wird. Themasatz auch fiir Röm 9-11 ist der Obersatz der propositio also gerade wegen seiner streng theozentrischen Struktur73 . 3. Zum Teil wörtlich wird die propositio 1,16f in 3,2lf aufgegriffen74, wobei es bemerkenswert ist, daß dies nicht für deren Obersatz n Dazu M. THEOBAID, ,,Dem Juden zuerst und auch dem Heiden". Die paulinische Auslegung der Glaubensformel Rom l,3f, in: P.-G. MOll..ERIW. SmNGF.R (Hg.), KontinuiW und Einheit(FS F. Mußner), Freibw'g 1981,376-392. 73 Diese beherrscht im übrigen auch Rom 9-ll, insbesoodere Kap. II (in dem der Name Jesu Christi gar nicht tllllt!), so daß etwa M. RESE, Die Rettung der Juden nach Rom II, in: A VANHOYE (Hg.), L'Apötre Paul: Persoonalite, style et cooception du ministere (BEIL 73), Louvain 1986, 422430, christologische Bcznge in Rom II überhaupt in Abrede stellen kOIUlte.
74 Das
gilt v.a ftlr 1,17 (~liCClt<Xl\NrJ yb.p &00 (... ) rowlalAUmroat): vgl. 3,21a 7tECpCLvEprouu)- 3,21/ knüpft also genau gesehen am .. Untersatz" der
(~tiCCl~ OroU
Der "strittige Punkt" im Diskurs des Römerbriefs
205
insgesamt gilt, denn die Rede vom ,,Evangelium als Kraft Gottes zur Rettung (d~ aortllPiav)" hat in 3,21-4,25 kein Echo, erst in 5,1-11 und 8,12-39. 75 In 10,1 scheint Paulus dann die propositio principalis wieder vor Augen zu haben, wenn er das Mittelstück seiner IsraelErörterung Kap. 10 mit der persönlichen Notiz eröffuet: ,,Brüder, der WwtSch meines Herzens und das Gebet zu Gott (zielt) für sie [die Juden] auf Rettung (d~ arotr)piav)." Damit ist das Thema angeschlagen, das schließlich in 11 ,26 ("ganz Israel wird gerettet werden [aroOi)aE'tat]") zur Klimax von Röm 9-11 werden wird: die Errettung ganz Israels. Allerdings macht der Gebetswunsch des Apostels in 10,1 noch einen verzweifelt-aussichtslosen Eindruck, denn die nachfolgenden Ausführungen 10,1-21 verschärfen nur die Aporie der gegenwärtigen Lage: Wie soll man zu einem hoffuungsvollen Urteil über die vielen in Israel gelangen, die sich nicht zu J esus bekehrt haben, wo doch alles arn Glauben hängt? ,,Denn wenn du mit deinem Mund bekennst: ,Herr Jesus', und du in deinem Herzen glaubst: Gott hat ihn von den Toten erweckt, dann wirst du gerettet werden (a0l011an); denn mit dem Herzen glaubt man zur Gerechtigkeit, mit dem Mund bekennt man zur Rettung (Eirov (10,4.11.13) und natürlich dem Leitwort BtKatomJVl'\ (10,3-6.10) ist es schließlich noch die Formel "Jude und auch Grieche" (10,12), welche die Anhindung von Röm l 0, der inneren Mitte der drei Israel-Kapitel, an die propositio principalis erweist. Freilich ist diese nicht als solche als Leitsatz aufgenommen, was auch nicht zu erwarten wäre, aber sie ist in ihren wichtigsten Momenten präsent. In 10,4 ('tiM>v von V.24 schon auf Es ist die bleibende Affinität jener Zweige zum "eigenen Ölbaum" (,.gemäß der Natur"), oder anders gesagt: Dertreue Gott, der Israel in seinen V ätem aus lauter Gnade erwählt hat, läßt kraft seiner Verheißung jene, die angesichts des Evangeliums verstockt wurden. keineswegs fallen. e) Nimmt man die Dynamik der Mahnrede an die Heidenchristen 11,13-24 als ganze in den Blick, dann scheint es keineswegs abwegig zu sein, hinter ihr als treibende Kraft oder Matrix die propositio principa/is 1, 16f zu sehen - jedenfalls deuten eine Reihe von Beobachtungen darauf hin. Signalcharakter hat schon die theo-logische Aussage "denn mächtig (öuva't&;) ist Gott'' (V.24b) 112: ,,Konkret dürfte Paulus dabei an die Durchsetzung der öuv<Xf.1~ des Evangeliums gegenüber den Juden denken, auf die Gottes Heilshandeln in besonderer Weise gerichtet ist (1,16f; 3,1tl)". 113 Zu V.24 und seiner Qai-Wachomer-Logik II 0 l-loFFMANN/SIEBENJHAL. Grammatik.
548. W.I<Eu.ER. Treue, 211: ,,Das Handeln der Menschen Jaßt sich nicht gegen die Macht Gottes ausspielen. Der Macht Gottes kann keine Grenze gesetzt werden". 112 Es ist dies die letzte der drei oovcq.uc;- Aussagen in Rom 9-11: vgl. 9,17~ 9,22~ 11,24. 113 H.-M LÜBKING, Paulus und Israel im ROmerbrief Eine Untersuchung zu Rom 9-11 (EHS.T 260), Frankfurt 1986, 116. 111
Der "strittige Punkt" im Diskurs des RiJmerbriefs
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bemerkt D. Sänger: "Die Korrespondenz zu dem 7tpÖ)'tov von I, 16 (vgl. 2,9f) sowie zu den in 3,1 f; 9,4f festgehaltenen Auszeichnungen Israels ist unübersehbar". 114 Andererseits demonstriert die Mahnrede in beeindruckender Form die Einbeziehung der Heiden (u; x:a\ "EA.A.'lvt) in das Heilshandeln Gottes, ohne daß sie darüber die Ganzheit Israels vergißt Wie in 1, 16f, so bezeichnet auch im sog. "Oibawngleichnis" das Gespann mcmc;/amcnia den kritischen Punkt. Doch wird auch hier deutlich, daß Paulus die manc; nicht als Gottes Macht begrenzende Bedingung auf Seiten der Menschen begreift: Gott selbst ist es, der den Menschen den "Stand im Glauben" einräumt - in welcher Weise auch immer! 2.3 "Ganz Israel wird errettet werden" (Röm 11,26a) Schon in 11,17-24 bildete das Gespann Verheißung I Erwählung Evangeliwn (vgl. 11,28f) die geheime Matrix des Textes. Das gilt entsprechend unserer Einsicht in den Diptychon-Charakter von 11,2527/28-32 erst recht für die Bekanntgabe des Mysteriwns und die ihr inhärente Logik. Diese im Licht jener beiden Pole aufzuschlüssen, legt sich also nahe. 2.3.1 Das Evangelium und die Errettung ganz Israels Das "und" dieser Zwischenüberschrift signalisiert einen paradoxen Befund. Beginnen wir mit einer negativen Feststellung. 1) Nach 11,25-27 erfolgt die Errettung ganz Israels als Tat Gottes selbst bei der Parusie Christi, also an der Missionsverkündigung der Kirche und in diesem Sinne am Evangelium vorbei. 115 Entscheidendes Argwnent zugunsten dieser These ist der streng eschatologische Charakter der Offenbarungsaussage, daß ganz Israel gerettet werden wird. Indizien dafiir sind: a) das Futur aro9ipem1, dessen Funktion als Ausdruck "eines in der Zukunft liegenden punktuellen Geschehens" 116 durch das analoge Futurum tyKtvtp1a6i)aovtal ("sie werden eingepfropft werden") von V.23.24 erwiesen ist;- b) die in der frühjüdischrabbinischen Überlieferung mehrfach artikulierte Erwartung einer 114
D. SANGER.., VedcOndigung, 177. Von einer Massenbekehrung der Juden zwn Evangeliwn der Kirche vor der Parusie m reden (so. F. W. MAlER, Israel in der Heilsgeschichte nach Rom 9-11 [BZfr Folge 12 ), Münster 1929, 122), ist also absurd Das Mysterium, das Gottes eigenes Eingreifen thematisiert, schließt jegliche menschliche Vermittlung der Rettung ganz Israels aus. 116 HoiorMANNISIFBENlliAL, Grammatik, 333 (§ 202 b~ maßgeblich ist der ,,sacbliche Kontext". 115
218
AlichaellheobaUi
Errettung Israels zielt durchweg auf die kommende Welt 117; - c) die einkleidende Qualifizierung des Offenbarungssatzes als endzeidiches Mysterium, und schließlich d)- als flankierendes Argument- der Hinweis auf das ,,Kommen" des .~etters" im anschließenden Schriftzitat, das doch sehr wahrscheinlich die Parusie Christi meint (vgl. 1Thess 1,10) 111; - e) ,,Ein zusätzliches Indiz- und zwar eines aus dem Kontext des Mysteriums-[ ... ] ist die Wendung l;rot1 iK VEKpö)v in Röm 11,15, die auf die eschatologische Totenauferweckung zu deuten ist". 119 Die Errettung ganz Israels setzt die eschatologische Totenerweckung voraus. 2) Auch wenn folglich die Errettung ganz Israels als streng eschatologisches Geschehen nicht durch die Evangeliumsverkündigung der Kirche vermittelt zu denken ist 120, so gilt doch andererseits, daß Bezüge zwischen jenem Rettungsgeschehen und dem Evangelium nicht geleugnet werden können. Folgende Momente belegen das: Die Zuwendung des eschatologischen Heils, der aCJm1Pia, ist das Ziel des Evangeliums ( 1, 16). Negativ ist mit der CJO>'t11Pia die Rettung "vor dem kommenden Zorn", dem Gericht Gottes, gemeint (5,9; vgl. auch 1Kor 3,15; 5,15; 1Thess 5,9), positiv die Teilhabe an der göttlichen "Herrlichkeit" (8,30), dem ewigen Leben (5,1 0). Die Hofthung darauf gründet in der jetzt schon geschenkten Versöhnung mit Gott durch den Sühnetod Jesu (5,10a) bzw. der daraus resultierenden "Vergebung der Sünden" (3,25; 4,7f). So trifft die Feststellung W Foersters zu, daß bei Paulus "die Vergebung der Sünden, das Versöhnt- oder Vgl. Sanh 10,1: ,.Ganz Israel hat Anteil an der zuktlnftigen Welf'~ TestBenj 10,11: ,,ganz Israel wird sich llDD Herrn versammeln"~ Midr Ps 21 §I (89a) (Str.-BiU. m634): .,Ganz Israel wird die Tora von Gott lernen" (in der zulcOnftigen Welt!J, weitere Belege bei C. Pl.AG, Israels Wege Z1DD Heil. Eine UntersuchUDg zu ROmer 9-11 (AzTH 1/40). Stuttgart 1969, 58. hn übrigen vgl. LXX Jes 44,23 (ön ~to 6 &Oe; wv 1a~, Kat lopaftA ~lJ, 45,17 (lopaftA ocfxPal U1tO ~ CJ<Jm"piav aimvwv)~ 45,25 (wro Kq>loo öucal0l9ipovuu ICCll iv 'tij) 9Fii> ~a.a9ipovtal niiv ro mtiwa tiöv u&rov lof.':"ftA). 18 Dabei handelt es sich deshalb nur wn ein flankierendes Argument, weil ein im Zitat vorgegebenes Futur, wie D. ZEu..ER, Juden, 260( meint, ,ja auch eirunal bereits VerwUtlichtes rekapitulieren" kann (vgl. 15,12!), weshalb er einen Bezug des i1fp von 11,27 auf das erste Kanuneo Chmti filr möglich häl~ doch wird man umgekehrt voo II ).6 (<Jro9lim:ml) her am futurisctH3;hatologischen Gehalt des tlfp lDlbedingt festhalten mOssen. 119 W. KEu.F.R, Treue, 250. 120 Vgl. auch ebd., 247: ,.Werm sowohl die Autbebung dez' Verstockung als auch dann die Rettung selbst bei der Parusie erfolgt. dann, so ist zu folgern, muß CRJJ9ilval hier die Erlangung des eschatologischen Heils meinen, ohne daß an eine llMXige Annahme des Glaubens aufgnmd der Predigt des Evangelimns zu denken ist." 117
Der "strillige Punkt" im Diskurs des Romerbrieft
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Gerechtfertigtwerden von dem oroOi\vat zwar nicht geschieden, wohl aber unterschieden" wird. 121 Das gilt auch hier. Akzentuiert im anschließenden Mischzitat ist offensichtlich die zweimalige Ankündigung der Hinwegnahme der "Gottlosigkeiten" (aeJEßf;ia1) bzw. der "Sünden" (ExOOOL Kll6W hmgen in den Pastoralbriefen, SNTIJ 19 (1994) 45-08: 61( favOOsiert etwa aucll die Interpretation von 2 Tim 1,5, \W auf den vorbildlieben (..ungebeuchelten..) Glauben der Großmutter und der Mutter des ,,Timotheus" verwiesen wird und \W ,,Paulus'' die Oberzeugwlg ausdrückt. daß dieser Glaube auch in "Timotbeus" \Whne, in der Fonn. daß hier von der Vermittlung des ,jüdischen Glaubens" gesprochen werde. Dagegen ist festzuhalten, daß der Autor die Obereinstimmung des Glaubens des .,Timotbeus'', der die Stelle des Gemeindeleiters in der Zeit der Past (also in der dritten christlieben Generation) vertritt, mit dem Glauben seiner Vorfahren deshalb so stark betont, weil er auf diese Weise die KontinuiW der Glaubeosoberliefenmg von Anfang an als Zeichen des rechten chri.Jtlichen Glaubeus in Anspruch nehmen kann (vgl. dazu L. ÜBERLINNER. Die Pastoralbriefe. Zweiter Timotbeusbrief [HibK. Xl/2,2] Freiburg 1995, 22f).
32 B. KOWALSKJ. Funktion, 62( 33 G.HAFNER, Schrift, 222-225.
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Lorenz Ober/inner
Israels; dies zwar ganz ohne polemische Auseinandersetzung, allerdings auch ohne theologische Begründung.
111. Ein abschließendes Urteil Den etwas zwiespältigen Eindruck, den die Past im Blick auf die anvisierte Fragestellung nach in ihnen enthaltenen antijüdischen Tendenzen widerspiegeln, kann man thesenhaft so charakterisieren: Ohne daß der Verfasser ausdrücklich in eine Polemik gegen das Judentum eintritt, benutzt er doch den Begriff ,jüdisch" in einer schon vorgeprägten negativen Bestimmung. Jüdischer Glaube und jüdische Lebensgestaltung sind in den von den Past angesprochenen christlichen Gemeinden nicht mehr bestimmend. Es gibt aber immer noch bzw. in einerneuen Konstellation, nämlich in Verbindung mit Tendenzen einer gnostischen Interpretation des Evangeliums, Auseinandersetzungen, die alttestamentliche und spezifisch jüdische Traditionen betreffen. Die Front ist dabei nicht: Christen gegen Juden, sondern: Rechtgläubige gegen Falschlehrer. Es wäre sicher ungerechtfertigt, einfach zu behaupten, "Jüdisches" gehöre für den "Paulus" der Past notwendigerweise auf die Seite der Irrlehrer. Es ist andererseits aber auch zu erkennen, daß er bei seiner Leserschaft gewisse antijüdische Einstellungen voraussetzt. Ohne Zweifel liegt der entscheidende Grund für den Einsatz einer sich vom Judentum distanzierenden Begriftlichkeit in einem im christlichen Glauben begründeten Selbstbewußtsein, das durch die im wesentlichen bereits vollzogene Ablösung der christlichen Gemeinden von der jüdischen Glaubensgemeinschaft dokumentiert wurde. Daneben ist durch die Öffnung zur nichtjüdisch-hellenistischen Umwelt, die in den Past ganz klar bezeugt wird, auch der Einfluß einer in der Diaspora mehr oder weniger stark entwickelten Feindschaft gegen den jüdischen Bevölkerungsanteil34 nicht auszuschließen. Das bedeutet aber auch, daß 34
Vgl. dazu J. l.EIPOLDT, Art. Antisemitismus, RAC 1 (1950) 469476; C. COLPE, Art. Antisemitismus, DNP I (1996) 790-792. Ausfllhrlich J.N. SEVENSTBR, The Roots of Pagan Anti-Semitism in tbe Ancient World (Nf.S 41 ), Leiden 1975, bes. 89-218. Zu solchen Elk1arungsversu außert sich kritisch R KAMPI..ING, Antijudaismus, 116. Diese sicher im einzelnen nicht beweisbare, aber doch angesichts der vielfllltig zu belegenden Einbindung der Past in die hellenistische Umwelt wahrscheinliche Verbindung muß dabei weder mit dem Verdacht belastet werden. dahinter stehe der WWlSch, sich christlicherseits "des Antijudaismus wn so leichter entledigen zu können. je weniger er mit dem Urspnmg zu tun bar' (ebd. ), noch kann und soll das in irgendeiner Weise als Erlclärung ftlr den christlichen
Antijudaismus in den Pastoralbriefen?
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in christlichen Kreisen die Aktivierung antijüdischer Affekte ein Mittel zur Selbstdarstellung und Selbstbehauptung auf Kosten des Judentums sein korutte.
Antijudaismus dienen. der ja als eine "eigene, religiös begrQndete Form von Antijudaismus" anzusehen ist (vgl. G. S1EMBEROF.R., Die Juden im Romischen Reich: UnterdrOclrung und Privilegierung einer Minderbeit. in: H. FROHNHOFEN (Hg.), Christlicher Antijudaismus und jOdischer Antipaganismus. Ihre Motive tmd HintergrOnde in den enteil drei Jahrhunderten, Harnburg 1990, 6-22: 7).
Das wandemde Gottesvolk - am Scheideweg Der Hebräerbrief und Israel KNUT BACKHAUS
Wendet sich der Hebräerbrief an die Hebräer oder gegen die Hebräel1 Diese Frage betrifft nicht nur die sachgerechte Übersetzung der Jnscriptio 1 npOlogiscber Besitzverzichr· zum Gebot der Stunde wird (vgl. die Darstelltmg der Debatte bei D. SANGER, Verldmdigung, 36-79). Differenriert zum ,,Dilemma der Hoheitschristologie.. aus jüdischer Sicht M. WYsaiOOROD, Christologieolme Antijudaismus?, Kul 7 (1992) 6-9.
Das wandernde Gottesvolk - am Scheideweg
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schuldig werden?78 Trägt Gen l ,28 die Schuld am Treibhauseffekt? Führt Galileis Kosmologie zu Hiroshima? Ist Hegel (via Marx) schuldig am Archipel Gulag? Wissenssoziologisch betrachtet, können Ideen nicht schuldig werden durch eigenen Fortschritt. Wohl aber können sie zu Bausteinen79 einer Ideologie werden, die selbst (auf eigene Verantwortung!) schuldig wird. Gerade die stärksten und wahrhaftigsten Ideen - Glaube etwa, Hofthung und Liebe - sind diesem Mißbrauch am hilflosesten ausgesetzt. Die Idee der Selbstmitteilung Gottes in Jesus Christus dürfte ebenfalls unter diese Regel fallen. Schreibt man "Denkstrukturen" die Eigenschaft "Antijudaismus" zu, so verläßt man den Bereich historisch kontrollierbarer Aussage und reduziert Texte substantialistisch auf ein Sinngefüge überhalb oder außerhalb ihrer unverwechselbaren historischen Kommunikationssituation. 80 Wonach vielmehr zu fragen ist, ist das Rezeptionsrisiko des Hehr. Hier in der Tat wünscht sich der Ausleger aus seiner heutigen Perspektive bereits im Hehr selbst stärkere Barrieren gegen Mißbrauch.81 Direkte Zitate der heute oft als Judentumspolemik verstandenen Hehr-Passagen sind in der theologischen Literatur der Alten Kirche selten. Justin der Märtyrer rekurriert in seiner Auseinandersetzung mit der Synagoge auf den Gedanken vom Neuen Bund und versetzt ihn in das Koordinatensystem einer heilsgeschichtlichen Substitutionstheorie, nach der Israel in seiner notorischen Herzensverhärtung und Sündhaftigkeit den "Alten Bund" verspielt habe und Raum mache für den ,,neuen und ewigen Bund" der Christen. Irenäus von Lyon, der Systematiker altkirchlicher Bundestheologie, und Tertullian, der Begründer der Adversus-Iudaeos-Literatur, schreiben diese bundestheologische Enteignung Israels fest, zumindest indirekt auch durch Hehr angeregt. 82 Die metaphysische und verheißungsgeschichtliche Dialektik, die Hehr Vgl. grundsätzlich N.LEsER, Vom Fortschritt und Schuldigwerden der Ideen. Geschich~ philosophische Betrachtungen und Thesen ( 1979). in: DERs., Jenseits voo Marx und Freud. Studien zur philosophischen Anthropologie, Wien 1980, 134-146. 79 Vgl. R. KAMPLING, Neute&1amentliche Texte als Bausteine der splteren AdversusJudaeos-Literatw", in: H. FROHNHOFEN (Hg.). Christlicher Antijudaismus und jüdischer Antipaganismus. Ihre Motive und Hintergründe in den ersten drei Jahrhunderten, Harnburg 1990, 121-138. 80 Vgl. K. BERGER. Exegese des Neuen Testaments (UIB 658), Heidelberg (19'n) 31991, 245f 81 Vgl. etwa H.-F. WEISS, Hebr, 785. 82 Vgl. K. BACKHAUS, Bund, 322-324. 78
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K.nut Backhaus
davor bewahrt hatte, von der parakletischen Selbstdefinition des Christentums in die polemische Bestreitung des Judentums abzugleiten, ist insgesamt nicht zu theologischer Geltung gelangt. 13 Im Gegenteil, lrenäus dürfte unter dem Einfluß der Hehr-Lektüre stehen (vgl. Eusebius, h.e. 5,26), wenn er gerade dessen theologische Antitypik in polemische Antithetik gegen die irdisch gesinnten "Gesetzesfreunde.. ummünzt (haer. 4,11,4): "Solche Reinheitsvorschriften waren als Vorausbild der künftigen Dinge gegeben (in figuram futurorum traditae erant), wie wenn das Gesetz einen Schattenriß herstellen (velut umbrae cuiusdam descriptionem faciente lege) und die ewigen Dinge auf zeitlichen, die himmlischen auf irdischen skizzieren würden (deliniante de temporalibus aetema, de terrenis caelestia). Sie tun so, als befolgten sie mehr, als vorgeschrieben ist. und schätzen ihren Eifer sogar höher ein als selbst Gott. innerlich sind sie aber voll von Heuchelei, Begehrlichkeit und aller Bosheit. Er läßt sie ewig verloren sein, indem er sie vom Leben abschneidet."
Origenes konstatiert vor dem Hintergrund von Hehr 7,14, daß die ä.vöp&c; louoo, die Christus gegenüber ungläubig geblieben seien, nicht mehr lou&xio1 sein können, "sondern vielmehr wir, die wir an Christus glauben.. : ..Avöp&c; louoo t}.leic; EOJ!EV öul. -rov Xp1a-r6v (hom. in Jer 9, 1). Nachdem Israel den Scheidebrief empfangen hat, sind damit nwir als Juda" zum Herrn zurückgekehrt (hom. in Jer 4,2). Diese Beispiele zeugen von einer "Sinnkarriere", die der mens auctoris nicht entspricht und deren Verslehenshorizont heute zur theologischen Diskussion steht. Der primäre Kontext des Hehr, also das Ensemble der Fragen, auf die der Text einst eine Antwort war, ist von dieser Sinnkarriere zu trennen. 14 Rekontextualisiert, also mit gegenwärtiger Situation konfrontiert, mag Hehr möglicherweise auch heute noch zu Verstehen und Bewältigung beitragen. Ich vermute, daß die Rezeptionschance des Hehr für den jüdisch-chrisdichen Dialog genau darin liegt, daß er sich mit seiner Christologie aus dem Gespräch mit der (ad.) Schrift heraus zur Beschreibung der innersten Mitte christlicher Identität eignet und diese Identität in Beziehung zum biblischen Weltentwurf Israels setzt. Gerade so vermag er einen Dialog zu befruchten und vertiefen, der aus der ureigenen und unverwechselbaren Vgl. auch A. VANHOYE, Art. ,,Hebräerbrier', TRE XIV (1985). 494-505: 502. Vg). allgemein M. FUHRMANNIHR JAussiW. PANNENBERG (Hg.), Text und Applilcation. Theologie, Jurisprudenz und Literatwwissensch im henneoeutischeo Gesprach (Poetik wtd Henneneutik 9), MOnehen 1981. 83
14
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Identität der Gesprächspartner leben muß, wenn er denn tatsächlich Dialog (im Sinne Martin Buhers etwa) werden soll. Hebr bringt auf seine unverwechselbare Weise die urchristliche Geschichte der Begegnung mit Gott in den Dialog ein: "deep calls to deep: we can respond to the poetry of the other, the yeaming for God conveyed by the other, the Iove of God that nourishes the other. Should we lose all this, in the name of theological affirmation, with a merely down-home consequence?"85 Christus, die universale Antwort des Hebr, wird nicht konsens-fahig in solchem Dialog, aber gemeinsame Fragen dürften letztlich eher zum Verstehen führen als gemeinsame Antworten. Die Fragen des Hebr aber sind, wie wir zu zeigen versuchten, ,,hebräisch" inspiriert, und die radikale Verschiedenheit der Antworten wird dadurch erträglich, daß die Antwort gerade des Hebr wie jede jüdische Antwort aus der biblischen Theozentrik und der biblischen Verheißung lebt. Menschliches Streben bleibt, so weiß Hehr gut biblisch, von äoOtwta geprägt, und zu der Vorläufigkeit alles Irdischen gehört am Ende auch die Verschiedenheit im Glauben. Vielleicht ist niemand tiefer bereit zu verstehendem Gespräch als der Pilger, der an der Weggabelung den Pilger trifft. Denn beide wissen um den eigenen Weg wie um das gemeinsame Ziel.
Resümee Treibt der Hebräerbrief also Antijudaismus? Versteht man unter "Antijudaismus" eine solche literarische Äußerung, die textpragmatisch auf eine polemisch-apologetische Depotenzierung Israels - präziser: bestimmter jüdischer Gruppierungen oder religiöser und ethischer Geltungsansprüche dieser Gruppierungen - zielt, so ist der Hebräerbrief exegetisch erweislich keine antijudaistische Schrift (Kap. l ). Der Auetor ad Hebraeos formuliert keine zeitenthobene Theologie Israels, sondern versucht, ein ihm situativ so und nicht anders vorgegebenes Problem christlicher Identitätsbestimmung theologisch zu bewältigen (Kap. 2). Die Einfügung von "Bausteinen" des Hebr in das Bollwerk altkirchlicher Judentumspolemik, namentlich seine Inanspruchnahme für das heilsgeschichtliche Substitutionsmodell und die
15
J. NEUSNER. Telling tales: Making sense of Christiart and Judaic nonsense. The urgency and basis for Judaeo-Ciuistian dialogue, Louisville 1993, 164.
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kontroverstheologische "Erdung" seiner Antitypik, verweist indes auf ein schwerwiegendes Risikopotential für die Textrezeption (Kap. 3). Das ,,Zeit-Zeichen Auschwitz" (F Mußner) markiert ein heutigen Textrezipienten situativ so und nicht anders vorgegebenes Problem, das seinerseits theologisch bewältigt werden muß, letztlich durch Begründung eines neuen Verstehenshorizontes, in dem auch der Hebräerbrief seine Rezeptionschancen zu entfalten vermag. "Theologie nach Auschwitz" kann freilich keine andere Theologie sein, als jene, die "schon vor Auschwitz und zu allen Zeiten hätte getrieben werden müssen". 86 Der Hebräerbrief hat sie an seinem historischen Ort vielleicht vorzubereiten vermocht. Aber er hat sie in seiner Wirkungsgeschichte nicht inspiriert. Tragik ist am Ende "nichts anderes als der Unterschied zwischen dem, das war, und dem, das hätte sein können". 87 Nehmen Christen heute die Radikalität des "hebräischen Fragens" im Hebräerbrief ebenso wahr wie die Radikalität seiner "universalen Antwort", so offenbart sich ihnen der erschütternde Ernst der Widmung, die Emmanuel Levinas seiner Schrift "Autrement qu' etre ou audela de l'essence" 88 gab: "Dem Gedenken der nächsten Angehörigen unter den sechs Millionen der von den Nationalsozialisten Ermordeten, neben den Millionen und Abermillionen von Menschen aller Konfessionen und aller Nationen, Opfer desselben Hasses auf den anderen Menschen, desselben Antisemitismus."
86 D. 87
SÄNGER, VerlcOndigung, nf
Z. YAVETZ, Judenfeindschaft in der Antike. Die Münchener Vorträge, München 1997,
114. 18 E. UVINAS, Autrement qu'etre ou au-deta de l'essence, Dordn:cht (1974) s1991 (Phaenomenologica 54)~ dt. Freibmg i.Br. 1992.
Die Shoah als Herausforderung an das traditionelle Selbstverständnis historischkritischer Exegese Religionspädagogische Impulse für eine kontextuelle bibeltheologische Hermeneutik' HEIKE BEE-SCHROEDTER
Es mag so manchen Leser verwundern, in diesem fachexegetisch ausgerichteten Sammelband einen religionspädagogisch orientierten Beitrag zu finden, der noch dazu in seinem Titel behauptet, Impulse für eine bibeltheologische Hermeneutik geben zu können. Welchen Beitrag sollte diese gegenwartsbezogene Teildisziplin Praktischer Theologie zur hier diskutierten Frage nach der angemessenen Beurteilung judenkritischer neutestamentlicher Texte zu bieten haben? Solche oder ähnlich skeptische Fragen sind zu erwarten und nicht verwunderlich angesichts der lange Zeit üblichen hierarchischen Verortung der einzelnen Fächer innerhalb der Theologie: Ganz unten, am Fuße des Lehrgebäudes war die Praktische Theologie angesiedelt, galt sie doch als Anwendungswissenschaft, der allein die Aufgabe zukam, die Ergebnisse der klassischen Fächer wie Biblische Theologie, Systematik etc. methodisch aufzubereiten und so für die kirchliche Praxis umzusetzen. 2 Als entscheidende Wende für das Selbstverständnis der Praktischen Theologie wird die kirchenreformerische Bewegung nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil bewertet: Rahners Definition der Theologie als praktische Wissenschaft kann hier als wegweisend für ein 1 Für
wertvolle Hinweise gerade hinsichtlich der aktueUen exegetischen Diskussion mochte ich an dieser Stelle Prof. Dr. Hubert FrankemOlle danken. 2 Vgl. K. WEGENAST, Religioospadagogik lDld exegetische Wissenschaft. Zu einem umstrittenen Verhältnis im Haus der Theologie. Heinz Grosch zwn 60.Geburtstag am 26.04.90, RpB 26 ( 1990) 62-82: 62~ N. MEnE., Theorie der Praxis. Wisse:nsclulftsgche und methodologische Untersuchungen zur Theorie - Praxis - Problematik innerhalb der praktischen Theologie, Dosseidorf 1978, 338f.
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neues Selbstverständnis Praktischer Theologie gelten. Er begründete diese wesensmäßige Bestimmmtg damit, daß die Theologie als Glaubenswissenschaft immer wieder auf den Glauben als nicht (nur) theoretische ErkemtniS, sondern als praktischen menschlichen Vollzug verwiesen ist. 3 Peukert spitzt den Bezug zwischen Glaube mtd Praxis fur die Praktische Theologie zu, wenn er festhält ,,Der Glaube ist in sich selbst eine Praxis, die als Praxis, also im konkreten kommmtikativen Handeln, Gott fiir die anderen behauptet mtd im Handeln zu bewähren versucht.'"' Indem so der Glaube allein als Dimension der Praxis angemessen bestimmt wird, treten Theologen gegen die Abwertung der Praxis als bloßem ,Machen' oder ,Tun' des vorab immer schon theoretisch richtig Erkannten an. Die Beachtung des Eigenwerts der Handlmtgen fuhrt zur Annäherung des Praxisbegriffs an seine ursprüngliche Bedeutung: Mette macht darauf aufinerk~ daß Aristoteles den Begriff ,Praxis' fiir Handlungen prägte, die ihren Sinn mtd ihre Vollendung in sich selbst tragen. 5 Die Praktische Theologie bezeugt mit ihrer Selbstdefinition als ,Handlungswissenschaft' ein entsprechend neues Selbstbewußtsein. Sie sieht ihr eigenes Aufgabenfeld jetzt in der Analyse, Reflexion, Bewertung und Begleitung einer im obigen Sinn als Glaube zu identifizierenden Praxis. Die von den meisten praktischen Theologen vertretene neuere Konzeption der Praktischen Theologie als Handlungswissenschaft zeichnet sich durch induktives, die Wirklichkeit als Ausgangslage ernst nehmendes Vorgehen und die Beachtung der gesamtgesellschaftlichen Dimension christlichen Handeins aus. 6 Durch dieses Verfahren befreit sie sich selbst nicht nur aus der einseitigen Abhängigkeit der traditionellen Disziplinen, sondern betrachtet es zudem als ihre Aufgabe, ihre theologisch per se als relevant bewerteten Ergebnisse diesen anderen Teilgebieten der Theologie kritisch zurückzuspiegeln. Als konkreten Ausdruck dieses Selbstbewußtseins können im Bereich der Religionspädagogik die z.Zt. diskutierten, aber noch immer
3
Vgl. N. Mrrm, Theorie, 342( Sprache und Freiheit Zur Pragmatik ethischer Rede, in: F. KAMPHAusiR ZERFASS (Hg.), Ethische Predigt und Alltagsvcrhalten, MOneben u.a 19n, 44-75: 66. 5 Vgl. N. Mlrrrn, Theorie, 340. 6 Vgl. N. METrn/H. STEINKAMP, Sazialwissenschaften und Praktische Theologie, DUsseldorf 1983, 16~ N. MlrrrE., Voo der Anwerdungs.- zur Handlungswissenschaf Konzeptionelle Entwickhmgen und Problemstellungen im Bereich der (katholischen) Praktischen Theologie, in: 0. FUCHS (Hg.), Theologie und Handeln. Beitrage zur Fundienmg der Praktischen Theologie als Handlungstheorie, Dosseidorf 1984, 50-63: 57-f:JJ. 4 H. PlruKERT,
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aktuellen Ansätze der Korrelationsdidaktik 7 bzw. des Elementarisierungsansatzes gelten: Religionspädagogen beider Konfessionen betrachten die wechselseitige Erhellung von biblischer Tradition und heutiger Lebenswelt der Schülerinnen als vordringliche Aufgabe des Religionsunterrichts. 8 Zusammenfassend ist festzuhalten: Praktische Theologen und Religionspädagogen haben mittlerweile ein neues Selbstverständnis als Handlungswissenschaftler entwickelt. Doch das impliziert nicht automatisch die Akzeptanz desselben durch die anderen theologischen Disziplinen bzw. ihre Vertreter. Gerade im Hinblick auf die Biblische Theologie scheint hier eher eine skeptisch negative Beurteilung angemessen. Es würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen, wollte man diese Einschätzung ganz allgemein belegen. Doch es erscheint mir notwendig, angesichts des hier zur Diskussion stehenden Themenbereichs; des sog. "neutestamentlichen Antijudaismus", die entsprechende neuere exegetische Literatur aus dieser Perspektive genauer zu betrachten: Werden religionspädagogisch orientierte Beiträge herangezogen? Und wenn: Welche Rolle, welche Funktion wird ihnen zugebilligt: die eines Ausblicks i.S. einer möglichen Anwendung exegetischer Erkenntnisse oder auch die eines Anlasses, einer Ursache, einer Motivation für entsprechende exegetische Forschung? Die Lektüre aktueller exegetischer Beiträge zu dieser Thematik läßt nüchtern betrachtet nur eine überwiegend negative Antwort zu. Deutschsprachige Exegeten wie beispielsweise Broer, Dahm, Frohnhofen, Kampling, Mußner, von der Osten-Sacken und Sänge,S greifen 7
Vgl. beispielsweise die Darstelltmg der Diskussion in: G. Hn..oER/G. REnLY (Hg.), ReligiOilSWltenicht im Abseits. Das Spannungsfeld Jugend, Schule, Religion, München 1993. 8 Vgl. H. STOCK, Theologische Elementarisierung und Bibel, in: I. BALDERMANNIK. NIPKow/H. STOCK, Bibel und Elementarisienmg, Frankfurt 1979, 75-86: 75~ lDld: F. NIEHL, Korrelation, in: G. BrrrnRIG. Mlu.ER (Hg.), Handbuch religionspädagogische Grundbegriffe, Band 2, Monehen 1986, 750-754: 750. 9 Es ist im Ralunen eines solchen Aufsatzes nicht möglich, auch nur annlhemd vollstlndig die in diesem Bereich arbeitenden deutschsprachigen Exegeten zu nennen. Leitend bei der selbst f:Ur diesen Bereich noch exemplarisch zu verstehenden Aufzahlung waren aktuelle Veröffentlichtmgen. die sich speziell der Frage nach der Auslegung sogenannter neutestamentlicher Antijudaismen widmen: I. BROHR (Hg.), Jesus und das jüdische Gesetz, Stuttgart 1992~ C. DAHM, Israel im Marlrusevangeliwn, Frankfurt 1991; H. FR~ (Hg.), Christlieber Antijudaismus und jüdischer Antipaganismus. Ihre Motive und HintergrQnde in den ersten drei Jahrhunderten, Harnburg 1990-, R. l werden, [... ], so spricht Piaget von Assimilation [... ]. Steht umgekehrt bei Adaptationsvorgängen die modifizierende Anpassung des Organismus und seiner Strukturen an vorgegebene Eigenschaften der Umwelt im Vordergrund, [... ],so spricht Piaget von Akkomodation [... ]." 166 Gerade mit der Beschreibung der Akkomodation erkennt Piaget die Widerständigkeil realer Gegenstände an, die durch den Menschen gerade in dieser Richtung der Interaktionsbewegung wahrgenommen werden. 167 Wie entsteht diese Erkenntnisveränderung? Wodurch wird sie angeregt? Als Antwort kann man hier seine Annahme anführen, die Denkschemata besäßen intrinsische Motivation 168, d.h. ihnen wohne die Tendenz inne, sich selbst zu aktivieren, auf die Umwelt ,zuzugehen' und dabei v.a i. S. einer generalisierenden Assimilation die Schemata auf immer neue Gegenstände auszuweiten. 169 Das weitere Charakteristikum der Strukturen, in einem möglichst widerspruchsfreien Gleichgewicht untereinander und mit der Umwelt zu stehen, von Piaget auch Äquilibration genannt, ermöglicht so Akkomodationsprozesse und damit eine weitere Differenzierung, Integration und Neuordnung der Schemata. 170 Später billigt er zudem Außenfaktoren wie den sozialen und kulturellen Kontexten mit ihren Fragen und Problemen eine 163
F. BuGGL.E, Entwicklungspsycho1ogie, 17.
164
H BEn.IN, Konstruktivismus und Funktionalismus in der Theorie Jean Piagets, in: S. HOPPE-GRAFF/W. EDEl.srniN (Hg.), Die Konstruktioo kognitiver Strukturen, Bem 1993, 28-67: 34. 16s Vgl. 166 F.
J. PIAohl, Das Erwachen der Intelligenz beim Kinde, Stuttgart 1973, 18.
BUGGLE, F..ntwicklungspsycho1ogie, 25.
Vgl. B.INHm..DERID. OECAPRONA, Constructivisme et creatioo des nouveautes, Archives de ~1ogie 53 {1985) 7-17: I~ J. PlAGET, Psychologie der Intelligenz. Zürich 1947,51-76. 68 Vgl. P. Mlu.ER, Theorien der Entwicklungspsycho1ogie, Heide1berg u.a. 1993, 83. 169 Vgl. F. BuaG1..E, Entwicklungspsycho1ogie, 32( 170 Vgl. ebd., 40; A. fLAMMER, Entwicklungstheorien, 144; grundlegend: J. PlAGET, Die Äquilibration der kognitiven Strukturen, Stuttgart 1976. 167
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stärkere Bedeutung fur die Motivation des Einzelnen zu, sich mit seiner Außenwelt auseinanderzusetzen. 171 Wenngleich Piaget sich nicht ausdrücklich mit der Wahrnehmung von Texten als Teil der Wirklichkeit beschäftigt hat, erscheint es mir gut möglich zu sein, diese Vorstellung der Entwicklung von Erkenntnis auf den Auslegungsvorgang von Texten resp. Bibeltexten-interpretiert als Teil der Wirklichkeit - zu transferieren und zusammen mit dem Textmodell der Rezeptionsästhetik als bestmögliche Erklärung für die Vielfalt unterschiedlicher methodisch abgesicherter Auslegungen eines Textes anzuerkennen. Wie sehr Piagets grundlegende Vorstellung der Entwicklung von Erkenntnis im Rahmen der Entwicklungspsychologie gewürdigt wird, sei kurz ergänzend durch ein Zitat belegt: "Ungeachtet ihrer Mängel ist es eine erstaunlich fruchtbare Theorie, die uns einen Rahmen liefert, um die Vielfalt und Komplexität der kognitiven Entwicklung betrachten zu können. [... ] Darüber hinaus hat die Theorie Fragen zur Entwicklung formuliert, die jede nachfolgende Entwicklungstheorie aufgreifen muß. Noch über Jahre hinaus werden neue Theorien an Piagets Theorie gemessen werden." 1n Der Effekt einer kontextuellen Exegese ,nach Auschwitz' Manch ein Leser wird diesem vorgestellten Text- und Rezeptionsmodell wahrscheinlich - selbst wenn es zunächst einmal (und hoffentlich!?) plausibel erscheint - mit Skepsis begegnen. Die damit verbundene Anerkennung der Relativität exegetischer Erkenntnisse erschüttert vermutlich den traditionellen Anspruch an wissenschaftliche Erkenntnis, zeitlos gültige, subjektunabhängige Ergebnisse zu erzielen. So deutlich die Offenheit des Textes und damit die ,Spielräume' der Interpreten zu betonen, den Leser und seine Rezeption fiir so entscheidend fur die Auslegung zu bewerten, kann umgekehrt den Eindruck entstehen lassen, die gesamte historisch-kritische Auslegung sei letztlich beliebig und könne- so betrachtet- keinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit mehr erheben. An dieser Stelle ist deshalb nochmals auf den interaktiona/en Charakter des rezeptionsästhetischen Textmodells und auch der kognitivstrukturellen Erkenntnisvorstellung hinzuweisen. Die Betonung des 171
Vgl. H.
BEn..IN,
Konstruktivismus, 47, ro, J. PIAoirr, Reussir et comprendre, Paris 1974,
221.
m P. Mlu..ER, Theorien, 110.
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Rezipienten ist vielmehr angesichts der weit verbreiteten Vorstellung einer passiven Abbildung eines Textes im Kopf des Lesers zu bewerten. Rezeptionsästhetiker und kognitiv-strukturell arbeitende Entwicklungspsychologen stellen sich den Austausch zwischen Text und Leser wie einen Dialog vor, der den Interpreten nicht davon suspendiert, seine Auslegung an der sichtbaren Textstruktur zu belegen. Ferner gilt es zu beachten, daß selbst in der in Natur- und Sozialwissenschaften geführten hermeneutischen Diskussion ,Objektivität' zunehmend nicht mehr mit ,Subjektunabhängigkeit' gleichgesetzt wird. Die Anerkennung eigener Perspektivität fuhrt dort zu einer Modifizierung dieses Qualitätsmerkmals: Objektivität wird dort als möglichst weitgehend reflektierte Intersubjektivität definiert. 173 Wenn Exegeten ihre eigenen Motivationen, ihre leitenden Fragestellungen und ihren zeitgeschichtlichen Kontext bei ihrer eigenen Auslegung so weit wie möglich reflektierend offenlegen und auch in der konkreten Auslegung dann konsequenterweise auf objektivierend behauptende Wendungen wie "Matthäus will also nicht" 174 verzichten würden, würden sie einer so modifiziert verstandenen Objektivität durchaus genügen: Sie würden für den Leser ihrer Auslegungen ihr Vorgehen und ihre Lesart transparenter und damit intersubjektiver Verständigung zugänglicher machen. Femer könnten sie sich damit selbst vor unangemessener Arroganz gegenüber älteren, in anderen zeitgeschichtlichen Kontexten entstandenen Auslegungen schützen. Gerade in bezug auf den hier gewählten Themenbereich halte ich die Beurteilung älterer antijudaistischer Interpretationen als vorurteilsbelastet besonders dann für kurzsichtig, wenn zugleich die eigene Auslegung mit dem Anspruch erhoben wird, vorurteilsfrei die ursprüngliche Autorintention bzw. den Sinn des Textes ,an sich' offenzulegen. 175 Wer will und kann von sich selbst behaupten, in einem gesellschaftlichen und auch universitär antisemitisch vergifteten Klima 176 nicht auch
173
gl. beispielsweise H.P. DüRR., Physik und Transzendenz, Bem u.a
4
1987, 13~ S.
LAMNEK. Qualitative Sozialforschung, Band I: Methodologie, Weinheim 1992, 183. 174 u. Luz. MatthAus. 179.
Vgl. beispielsweise F. MusSNER, Traktat Ober die Juden. MOnehen 21988, 16f. Anm.7~ D. SANGER, Verkündigung, 3f, E. SmGEMANN, Die Krise des christliclte:n Antijudaismus und das Neue Testament. in: G. WESSLER (Hg.). Leben und Glauben nach dem Holocaust, Stuttgart 1980,71-89: 78. 176 Vgl. L. SIEGELE-WENSCHKEWITZ, VOIWOrt, in: DIEs. (Hg.), Christlicher Antijudaismus Wld Antisemitismus, Frankfurt 1994, Vß-XXI, XDf, L. SIEGF.LE-WENSClDCEWITZ, Mitverant175
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wie viele andere Exegeten bestimmte antithetisch formulierte Textstellen besonders zu betonen, andere relativierende Kontexte bewußt oder unbewußt auszublenden? Besonders zu beachten bei einer solchen selbstkritischen Überprüfung ist m.E. der im nationalsozialistischen Deutschland offensichtlich prägende Einfluß von Rosenbergs Schrift nDer Mythos des Zwanzigsten Jahrhunderts". In seinem Versuch, damit eine deutsche Nationalkirche anstelle der christlichen Kirchen im Dritten Reich zu etablieren, sieht die Kirchenhistorikerin SiegeleWenschlcewitz das leitende Motiv gerade für protestantische deutsche Theologen, das Christentum als wesentlich antijüdisch zu erweisen. 1n Berücksichtigt man diesen ,Zeitgeist' als Klima der Entstehung entsprechender, mit wissenschaftlichem Anspruch vertretenen Auslegungen neutestamentlicher Texte von Kittel, Grundmann u.a, so rechtfertigt das zwar nicht ihre Tätigkeit, doch es macht sie verständlicher. Es erscheint nur konsequent, wenn historisch-kritisch arbeitende Exegeten ihre Überzeugung, ein Text könne nur unter Beachtung seines ursprünglichen Kommunikationszusammenhangs angemessen verstanden werden, auch im Hinblick auf ihre eigene Auslegung - betrachtet als ebenfalls zeitgeschichtlich bedingt entstandenen Text konsequent reflektieren würden. Ich habe in diesem Aufsatz versucht, aus unterschiedlichen Perspektiven mehrere Argumente für eine solche sich kontextuell verstehende Exegese anzuführen. Eine nochmalige Wiederholung scheint mir angesichts der jeweils angefügten Reflexionen über die Funktion der Ausführungen nicht nötig zu sein. Vielmehr möchte ich abschließend einen letzten und, wie ich finde, den bedeutsamsten Effekt einer solchen kontextuellen Hermeneutik andeuten: Die m.E. im Sinne der Glaubwürdigkeit der historisch-kritischen Exegese wünschenswerte deutlichere Betonung der eigenen leitenden Fragestellung und der eigenen Prämissen, die auch sprachlich erkennbare Relativierung der eigenen Ergebnisse, die Angabe der subjektiven Gewichtung und Auswahl von Kontexten und das Zugeständnis eigener Schlußfolgerungen ließe die Person des Exegeten stärker für den Leser greifbar werden. Dies als positiven Effekt und nicht als Manko zu werten, wird nachvollziehbar, wenn man sich die wissenschaftsgeschichtlichen Analysen
wortung tmd Schuld der Christen am Holocaust. in: DIEs. (Hg.), Christlicher Antijudaismus, Frankfurt 1994, 1-26: 7f, 16. 1n
Vgl. ebd., 1()(
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von Hesche/ 178 , Hoffmann 179, Jerke 180 , Siegele-Wenschkewitz u.a vergegenwärtigt. Beispielhaft seien die Ausführungen der zuletzt Genannten hier skizziert: Sie kann erschreckend und plausibel zugleich nachweisen, welche fatalen Folgen eine Theologie mitzuverantworten hat, die mit Rekurs auf eine traditionelle Auslegung biblischer Texte scheinbar neutral und überzeitlich gültig die Unvereinbarkeit von Judentum und Christentum als grundsätzliche zu belegen versuchte: Die Historikenn trennt hier nicht von Beginn an begrifflich zwischen einem traditionellen jahrhundertealten christlichen Antijudaismus und einem politischen Antisemitismus, sondern bettet die Aussagen der Theologen in den damaligen zeitgeschichtlichen Kontext unter der Fragestellung ein: "Welche theologischen Argumente haben die nationalsozialistische Weltanschauung und Politik gestützt, welche sie behindert? Welche theologischen Aussagen halfen den bedrängten und verfolgten Juden, welche haben sie zusätzlich diskriminiert und isoliert?'