Jerzy Kosinski
Aus den Feuern Inhaltsangabe Unmittelbar, lebendig, oft brutal, zeichnet dieses Buch in erschütternden ...
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Jerzy Kosinski
Aus den Feuern Inhaltsangabe Unmittelbar, lebendig, oft brutal, zeichnet dieses Buch in erschütternden Episoden das Leben eines Mannes und enthüllt Schritt für Schritt ein Ich, das sich von allem befreit hat und nur noch der reinen Gewalt und der absoluten Sexualität lebt. Liebe, Ritual und Grausamkeit bilden einen magischen Kreis, der wie alle Kreise nirgendwo beginnt, kein Ende aufzeigt und in dessen einzigartige, unaufhörliche Bewegung man sich für immer und ewig einbezogen fühlt, wenn man ihn einmal betreten hat. Kosinski erweist sich auch in diesem Buch als Meister in der Schilderung des Makabren, des Bösartigen, Triebhaften und alles Abgründigen im Menschen, aber auch der tiefsten Vereinsamung und Ausweglosigkeit seiner Existenz. Die verzweifelte Suche nach dem Weg der Läuterung über diese Erschütterungen der Seele wird spürbar. Jedoch das Zerstörerische in ihnen ist so endgültig, daß man weiß, es gibt keinen Weg aus dieser qualerfüllten Welt, in der nur die Ordnung gilt, die der Geist sich selber setzt. Die hierfür gewählte äußere Form ist eine wunderbar disziplinierte, Ruhe ausstrahlende Prosa, die dem Fabelkreis Kosinskis einen Klang von Kafka gibt, einen Klang, der noch im Herzen des Lesers nachschwingt, wenn er das Buch beiseite gelegt hat; denn Kosinski baut eine Welt vor ihm auf, die er für sich nachempfinden und nachvollziehen muß, wenn er sie je wirklich betreten und erfassen will. Jerzy Kosinski, 1933 in Polen geboren, studierte dort und war von 1955 bis 1957 Aspirant und Forschungsstipendiat der Polnischen Akademie der Wissenschaften. 1957 kam er in die Vereinigten Staaten; 1958 erhielt er eine Fellowship der Ford-Stiftung und studierte an der New School for Social Research und an der Columbia University, New York; er besitzt den Grad eines Magisters sowohl in den Geschichts- wie in den Politischen Wissenschaften. 1967 erhielt er eine Fellowship der Guggenheim-Stiftung, 1968 wurde er an das Center for Advanced Studies an der Wesleyan University, Middletown, Conn. berufen. Seit Februar 1970 lehrt er als Professor für englische Sprache und Literatur (›author in résidence‹) an der Princeton University. Ein Welterfolg wurde schon Kosinskis erster Roman ›Der bemalte Vogel‹ (1965). Für seinen neuen Roman ›Aus den Feuern‹ (Originaltitel: ›Steps‹) erhielt Kosinski 1969 den ›National Book Award in Fiction‹, den höchsten in den USA verliehenen Literaturpreis für den besten Roman des Jahres – er war damit zugleich der erste nicht in den Vereinigten Staaten geborene Romancier, der mit diesem Preis ausgezeichnet wurde.
Lizenzausgabe mit Genehmigung der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. München/Zürich für Bertelsmann, Reinhard Mohn OHG, Gütersloh die Europäische Bildungs-Gemeinschaft Verlags-GmbH, Stuttgart und die Buchgemeinschaft Donauland Kremayr & Scheriau, Wien Diese Lizenz gilt auch für die Deutsche Buch-Gemeinschaft C. A. Koch's Verlag Nachf. Berlin – Darmstadt – Wien Copyright © 1968 by Jerzy N. Kosinski © der deutschen Ausgabe Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. München/Zürich 1970 Gesamtherstellung Mohndruck Reinhard Mohn OHG, Gütersloh Printed in Germany • Buch-Nr. 4684'0880 Titel der Originalausgabe: Steps Deutsch von Matthias Büttner Dieses eBook ist umwelt- und leserfreundlich, da es weder chlorhaltiges Papier noch einen Abgabepreis beinhaltet! ☺
Für meinen Vater, der ein sanftmütiger Mann war.
Der Unbeherrschte hat nicht Weisheit noch die Macht des Konzentrationsvermögens; und wer da ohne Konzentration lebt, kennt keinen Frieden. Für den Friedlosen aber, wie kann es für ihn das Glück geben? Bhagavad-Gitá
I
ch fuhr weiter nach Süden. Die Dörfer waren klein und ärmlich. Wenn ich in einem von ihnen anhielt, sammelte sich eine Menschenmenge um meinen Wagen, und die Kinder folgten jeder meiner Bewegungen. In einem kahlen, weißgekalkten Dorf beschloß ich, ein paar Tage zu bleiben, um mich auszuruhen und meine Kleider waschen und flicken zu lassen. Die Frau, die diese Arbeit für mich übernahm, versicherte mir, daß sie alles rasch und einwandfrei erledigen könne, denn sie habe eine Hilfe – eine junge Waise, die sich selbst erhalten müsse. Dabei zeigte sie auf ein Mädchen, das uns aus einem Fenster anstarrte. Als ich am nächsten Tag kam und meine Wäsche abholen wollte, traf ich im Wohnzimmer auf dieses Mädchen. Sie saß und hob nur manchmal ihre Augen zu mir auf. Wenn sich unsere Blicke trafen, versuchte sie jedesmal, ihr Interesse dadurch zu verbergen, indem sie sich tief über ihre Näharbeit beugte. Ich verteilte meine Papiere wieder auf die Taschen meiner frischgebügelten Jacke und bemerkte dabei die Neugier, mit der das Mädchen auf die Kundenkredit-Karten aus Plastik blickte, die ich einen Augenblick auf dem Tisch abgelegt hatte. Ob sie wüßte, was das für Karten seien, fragte ich. Noch niemals in ihrem Leben habe sie dergleichen gesehen, antwortete sie. Ich erklärte ihr, daß man mit jeder dieser Karten Möbel, Bettwäsche, Küchengeräte, Lebensmittel, Kleider, Strümpfe, Schuhe, Handtaschen, Parfüm und überhaupt fast alles kaufen könne, was man nur wolle, ohne daß man Geld dafür bezahlen mußte. Und leichthin fuhr ich fort, daß ich diese Karten auch in den teuersten Geschäften der nahe gelegenen Stadt benutzen könne und daß ich 1
sie nur vorzuzeigen brauchte, um in jedem Restaurant bedient zu werden oder in den besten Hotels absteigen zu können – und zwar nicht nur ich allein, sondern auch jeder andere, wenn ich wollte. Und ich fügte hinzu, daß ich sie gerne mit mir nehmen wolle, weil sie mir gefiele, weil ich sie für ein nettes Mädchen hielte und das Gefühl hätte, daß sie von ihrer Herrin schlecht behandelt würde. Wenn sie wolle, könne sie so lange bei mir bleiben, wie sie Lust hätte. Sie sah mich immer noch nicht an und fragte, als ob sie sich noch einmal vergewissern wolle, ob sie denn kein Geld brauchte? Ich versicherte ihr wieder, daß weder sie noch ich irgendwelches Geld brauchten, wenn wir nur diese Karten hätten und sie benutzten. Und ich versprach ihr, daß wir zusammen durch alle möglichen Städte und sogar Länder reisen würden und daß sie nichts zu arbeiten, ja – überhaupt nichts zu tun brauchte, als nur an ihr eigenes Wohlergehen zu denken. Ich würde ihr alles kaufen, was sie wolle, sie könne schöne Kleider tragen, für mich hübsch sein und ihre Frisur oder sogar ihre Haarfarbe so oft ändern, wie es ihr nur gefiele. Und alles, was sie tun müsse, damit dies Wirklichkeit würde – so sagte ich weiter –, sei, heute abend ohne ein Wort zu irgend jemandem aus dem Haus zu schleichen und sich mit mir an dem Ortsschild vor dem Dorf zu treffen. Wenn wir erst einmal in der großen Stadt wären, versicherte ich ihr, dann ließ sich leicht ein Brief an ihre Dienstherrin schreiben, mit dem man erklärte, daß sie dem Beispiel so vieler anderer Mädchen gefolgt sei und das Heimatdorf verlassen habe, um in der Stadt eine Stellung zu suchen. Und ich würde also, erklärte ich schließlich, heute abend vor dem Dorf auf sie warten, und hoffte, daß sie käme. Die Kundenkredit-Karten lagen auf dem Tisch. Das Mädchen stand auf und betrachtete sie mit Ehrfurcht, vermischt mit Ungläubigkeit. Sie streckte die rechte Hand aus, wie um die kleinen Plastik-Rechtecke zu berühren, und zog sie dann rasch wieder zurück. Ich nahm eine der Karten auf und hielt sie ihr hin. Sie ergriff sie mit spitzen, vorsichtigen Fingern wie eine geweihte Oblate, hielt sie ans Licht und betrachtete prüfend die eingeprägten Nummern und Buchstaben. Am Abend parkte ich meinen Wagen im Gebüsch neben dem Orts2
schild. Ehe es ganz dunkel war, rumpelten noch viele Karren auf ihrem Wege vom Markt ins Dorf an mir vorüber. Aber niemand sah mich. Plötzlich tauchte hinter meinem Rücken das Mädchen auf, außer Atem und ängstlich, ein Bündel mit Habseligkeiten unter dem Arm. Ich öffnete die Wagentür und winkte sie wortlos auf den Rücksitz. Ich ließ den Motor sofort an, und erst als wir das Dorf weit hinter uns gelassen hatten, fuhr ich langsamer und machte ihr klar, daß sie nun frei sei und daß die Tage der Armut für sie vorbei waren. Sie saß eine Weile lang schweigend da und fragte schließlich mit unsicherer Stimme, ob ich meine Karten noch hätte. Ich nahm sie aus der Tasche und reichte sie ihr nach hinten. Ein paar Minuten später verschwand ihr Kopf aus dem Rückspiegel. Sie war eingeschlafen. Wir erreichten die Stadt am späten Morgen des nächsten Tages. Das Mädchen wachte auf, preßte das Gesicht ans Fenster und beobachtete den dichten Verkehr. Plötzlich berührte sie meinen Arm und zeigte auf das große Kaufhaus, an dem wir gerade vorüberfuhren. Sie hätte gerne herausgefunden, sagte sie, ob meine Karten wirklich mächtiger seien als Geld. Ich parkte den Wagen. Im Kaufhaus klammerte sie sich an meinen Arm, und ich spürte, daß ihre Handfläche vor Aufregung feucht war. Sie wäre noch niemals in einer Stadt gewesen, gestand sie, nicht einmal in einer Kleinstadt, und sie konnte sich nicht vorstellen, daß so viele Leute an einem Ort zusammenkamen und dennoch nicht gleich alles kauften, was es gab. Sie zeigte auf Kleider, die ihr gefielen, und fügte sich in meine Vorschläge, was ihr am besten stünde. Mit der Hilfe zweier Verkäuferinnen, die meine Begleiterin mit unverhohlenem Neid betrachteten, wählten wir mehrere Paar Schuhe aus, dazu Handschuhe, Strümpfe, etwas Unterwäsche, eine Anzahl von Kleidern und Handtaschen sowie einen Mantel. Jetzt fürchtete sich das Mädchen noch mehr. Ich fragte sie, ob sie Angst hätte, daß meine Karten für alle diese Sachen nicht ausreichten. Sie stritt das zuerst ab, aber dann gab sie es schließlich zu. Warum, so fragte sie, müßten so viele Menschen in ihrem Heimatdorf ein ganzes Leben lang arbeiten, um so viel Geld zu verdienen, wie unsere Einkäu3
fe kosteten, während ich, der ich doch kein berühmter Fußballspieler, kein Filmstar, nicht einmal ein Prälat war, offensichtlich überhaupt kein Geld brauchte, um alles zu bekommen, was ich nur wollte! Als alle unsere Einkäufe zusammengepackt waren, reichte ich der Kassiererin eine meiner Karten. Sie dankte höflich, verschwand für ein paar Augenblicke und kam dann mit der Karte und der quittierten Rechnung zurück. Meine Freundin stand hinter mir und konnte es kaum erwarten, nach dem Karton zu greifen – aber sie wagte es immer noch nicht. Wir verließen das Kaufhaus und stiegen in den Wagen. Das Mädchen öffnete sofort das Paket, betrachtete ihre neuen Sachen, ließ die Finger über sie gleiten, roch an ihnen, betastete sie, schloß den Karton und machte ihn gleich wieder auf. Ich war kaum angefahren, da probierte sie auch schon ein Paar der neuen Schuhe an, die Handschuhe dazu. Vor einem kleinen Hotel hielt ich, und wir gingen hinein. Ohne den wissenden Blick des Portiers zu beachten, verlangte ich ein ganzes Appartement mit ineinandergehenden Zimmern. Mein Gepäck wurde nach oben gebracht, den Karton aber trug das Mädchen selbst, als hätte sie Angst, daß ihn ihr jemand wegnehmen könne. Oben ging sie in ihr Zimmer, zog sich um und kam in einem der neuen Kleider zurück. Sie stöckelte vor mir auf und ab, ihre Schritte waren unsicher in den neuen Schuhen mit den hohen Absätzen. Sie betrachtete sich im Spiegel und verschwand wieder und wieder in ihrem Zimmer, um auch die anderen Sachen anzuprobieren. Die restlichen Pakete mit Unterwäsche verschiedenster Art wurden am Spätnachmittag ins Hotel geliefert. Zum Mittagessen hatten wir Wein getrunken, und der war nicht ohne Wirkung auf das Mädchen geblieben. Nun stand sie vor mir, und als ob sie mich mit ihrer neu erlangten Weltkenntnis beeindrucken wollte, die sie sich aus Filmen und Mode-Illustrierten abgesehen haben mußte, legte sie die Hände auf die Hüften, fuhr mit der feuchten Zunge über die Lippen und suchte mit unsicherem Blick meine Augen. Wir waren mehrere, alles Assistenten der Archäologie, und wir arbeiteten auf einer der Inseln mit einem Professor, der schon seit Jahren 4
die Überreste einer alten Kultur ausgrub, die fünfzehn Jahrhunderte vor unserer Zeit in Blüte gestanden hatte. Es handelte sich um eine hochentwickelte Kultur, behauptete der Professor, die jedoch zu irgendeinem Zeitpunkt durch eine gewaltige Katastrophe ausgelöscht worden war. Der allgemein herrschenden Auffassung nach hatte ein vernichtendes Erdbeben, von einer riesigen Flutwelle gefolgt, die Insel getroffen – der Professor aber war anderer Meinung. Und so sammelten wir die Scherben von Gefäßen, durchsiebten Aschenhalden auf der Suche nach interessanten Fundgegenständen und entrissen der Erde alle möglichen Baumaterialien. Der Professor katalogisierte alles als Beweisstücke für seine noch unveröffentlichte Arbeit. Nach einem Monat beschloß ich, die Ausgrabungsstätte zu verlassen und eine benachbarte Insel zu besuchen. In meiner Eile, die gerade abgehende Fähre zu erreichen, mußte ich ohne mein fälliges Gehalt fahren. Aber ich erhielt das Versprechen, daß der Scheck mit dem nächsten Postschiff nachgesandt würde. Mit dem Geld, das ich bei mir hatte, konnte ich gerade einen Tag lang leben. Nach meiner Ankunft verbrachte ich den ganzen Tag damit, die Insel zu besichtigen. Sie wurde von einem nun untätigen Vulkan beherrscht, dessen mächtige Flanken aus porösem Lavagestein bestanden, das im Laufe der Zeit zu magerem, aber doch bebaubarem Boden verwittert war. Ich ging hinunter zum Hafen. Eine Stunde vor Sonnenuntergang, als die Luft begann kühler zu werden, liefen die Fischerboote zum nächtlichen Fang aus. Ich beobachtete sie, wie sie über das ruhige, fast völlig glatte Wasser glitten, bis schließlich ihre niedrigen, langgestreckten Formen den Augen entschwanden. Auf den Inseln ringsum verging plötzlich das Licht, das ihre felsigen Grate den Tag über reflektiert hatten, und sie wurden starr und schwarz. Und dann verschwanden sie eine nach der anderen, als würden sie lautlos unter die Oberfläche gezogen. Am Morgen des zweiten Tages ging ich hinab zum Kai, um das Postschiff zu erwarten. Zu meiner Bestürzung war mein Scheck nicht eingetroffen. Ich stand auf der Mole und überlegte, wovon ich nun leben 5
sollte, und ob ich überhaupt imstande sein würde, die Insel zu verlassen. Einige Fischer saßen bei ihren Netzen und beobachteten mich. Sie spürten, daß irgend etwas nicht stimmte. Drei von ihnen näherten sich und sprachen mich an. Ich verstand sie nicht und antwortete in den beiden Sprachen, die ich kannte: Ihre Gesichter verdüsterten sich und wurden feindselig, und sie wandten sich jäh von mir ab. An diesem Abend ging ich mit meinem Schlafsack an den Strand hinunter und schlief im Sand. Am Morgen gab ich mein letztes Geld für eine Tasse Kaffee aus. Nachdem ich die gewundenen Straßen hinter dem Hafen hinaufgeschlendert war, wanderte ich durch die armseligen Felder zum nächsten Dorf. Die Bewohner saßen im Schatten und beobachteten mich mit verstohlenen Blicken. Hungrig und durstig ging ich unter der glühenden Sonne weiter und kehrte schließlich zum Strand zurück. Ich hatte nichts, was ich gegen Lebensmittel oder Geld eintauschen konnte: keine Uhr, keinen Füllfederhalter, keine Manschettenknöpfe, keinen Fotoapparat, keine Brieftasche. Um die Mittagszeit, als die Sonne hoch stand und die Dorfbewohner in ihren Häusern Schutz suchten, ging ich zur Polizeistation. Dort fand ich den einzigen Polizisten der Insel schlafend neben dem Telefon. Ich weckte ihn, aber er schien keine Lust zu haben, auch nur die einfachsten meiner Gesten zu verstehen. Ich zeigte auf das Telefon und wies dabei meine leeren Taschen vor. Ich machte Zeichen, malte Bildchen und mimte sogar Hunger und Durst, aber alles blieb wirkungslos: Der Polizist zeigte weder Interesse noch einen Funken Verständnis, und das Telefon blieb abgeschlossen. Es war das einzige Telefon auf der ganzen Insel – in dem Reiseführer, den ich gelesen hatte, war das besonders erwähnt. Am Nachmittag schlenderte ich durch das Dorf und lächelte die Einwohner an, in der Hoffnung, daß mir jemand etwas zu trinken anbieten oder mich zum Essen einladen würde. Niemand erwiderte meinen Gruß. Die Dorfbewohner wandten sich ab, und die Ladenbesitzer ignorierten mich einfach. Eine Kirche gab es nur auf der größten Insel der Gruppe, und ich hatte keine Mittel, dort hinzugelangen und um Essen und Unterkunft zu bitten. Schließlich ging ich wieder zum 6
Strand, als ob ich erwartete, daß aus den Tiefen der See Hilfe für mich aufsteigen würde. Ich war ausgehungert und erschöpft und hatte dröhnende Kopfschmerzen von der Sonne, und in Wellen überfiel mich immer wieder ein Gefühl des Schwindels. Da hörte ich unerwartet die Laute von Menschen, die sich in einer fremden Sprache unterhielten. Ich wandte mich um und sah zwei Frauen, die dicht am Wasser saßen. In grauen, von dicken, blauen Adern durchzogenen Falten quoll das Fett auf ihren Schenkeln und Oberarmen. Ihre mächtigen Hängebrüste waren in übergroße Büstenhalter gepreßt. Sie nahmen ein Sonnenbad, auf ihre Badetücher hingestreckt, und rings um sie lag alles, was man zu einem Picknick braucht: Körbe mit Eßwaren, Thermosflaschen, Sonnenschirme und mit Früchten gefüllte Einkaufsnetze. Auf den Büchern, die daneben aufgestapelt waren, konnte man deutlich die Etiketten einer Leihbücherei erkennen. Offensichtlich waren sie Touristinnen und wohnten hier auf der Insel bei irgendeiner Familie. Ich näherte mich ihnen langsam, aber ohne zu zögern, und bemühte mich dabei sehr, sie nicht zu beunruhigen. Sie unterbrachen ihr Gespräch, und ich grüßte lächelnd in den beiden Sprachen, die ich beherrschte. Sie antworteten in einer dritten – wir hatten also kein gemeinsames Verständigungsmittel. Meine Gedanken waren jedoch nur noch damit beschäftigt, daß ich mich in der Nähe von Eßbarem befand, und ich setzte mich nieder, als hätte ich ihre Worte als Einladung verstanden. Als sie zu essen begannen, verschlang ich die Lebensmittel mit den Augen. Aber entweder bemerkten sie das nicht, oder sie ignorierten meine bohrenden Blicke einfach. Nach ein paar Minuten bot mir die Frau, die ich für die Ältere der beiden hielt, einen Apfel an. Ich aß ihn langsam, versuchte meinen Hunger zu verbergen und hoffte auf etwas Kräftigeres im Anschluß daran. Die beiden sahen mir aufmerksam zu. Es war heiß am Strand, und ich nickte ein. Aber ich erwachte sofort, als die beiden Frauen sich erhoben, Schultern und Rücken von der Sonne rot verbrannt. Kleine Schweißbäche zogen dunkle Spuren durch den Sand, der an ihren schwammigen Schenkeln klebte. Das Fett über ihren Hüften glitt hin und her, während sie sich bückten und ihre Sa7
chen zusammenlasen. Ich half ihnen dabei. Mit kokettem Kopfnicken machten sie sich schließlich auf den Weg, am hinteren Rand des Strandes entlang. Ich folgte ihnen. Wir kamen zu dem Haus, in dem sie wohnten. Als ich eintrat, wurde mir plötzlich wieder schwindlig. Ich stolperte über eine Stufe und brach zusammen. Lachend und schwatzend zogen mich die beiden Frauen aus und schoben mich auf ein großes, niedriges Bett. Ich war immer noch benommen und zeigte auf meinen Magen. Ohne zu zögern eilten die beiden jetzt und brachten mir Fleisch, Obst und Milch. Ehe ich noch meine Mahlzeit beenden konnte, hatten sie schon die Vorhänge zugezogen und ihre Badeanzüge heruntergerissen. Nackt fielen sie über mich her. Ihre schweren Bäuche und massigen Rücken begruben mich unter sich, meine Arme waren festgeklemmt. Hände spielten an meinem Körper, kniffen, drückten und fingerten. Im Morgengrauen stand ich an der Pier. Das Postschiff lief ein, aber es brachte weder Scheck noch Brief für mich. Ich stand und sah, wie es wieder im heißen Sonnenglast verschwand, der den Morgendunst auflöste und die fernen Inseln, eine nach der anderen, enthüllte.
Ich war als Skilehrer angestellt und lebte in einem Kurort im Gebirge, in den Tuberkulose-Patienten zur Behandlung geschickt wurden. Ich wohnte in einem Appartement, von dem aus ich das Sanatorium sehen und die noch blassen Gesichter der Neuankömmlinge von den braungebrannten der Dauerpatienten unterscheiden konnte, die sich auf der Terrasse sonnten. Am Ende jedes Nachmittags kehrten meine Schüler müde in ihre Unterkünfte zurück, und ich begab mich an mein einsames Abendessen. Ich verbrachte fast meine gesamte Zeit allein. Nach dem Essen klangen vom Sanatorium gedämpfte Gongschläge herüber und verkündeten den Beginn der Nacht. Ein paar Minuten später gingen die Lichter aus, als würden sie nacheinander aus den Fenstern gerissen. Ein Hund heulte vor einer Hütte weit oben in den Hängen. Irgendwo 8
schlug eine Tür zu. Dann sah ich menschliche Figuren, die durch den tiefen Schnee eines nahegelegenen Feldes stapften: Die Skilehrer der benachbarten Hotels näherten sich verstohlen dem Ort ihrer nächtlichen Verabredungen. Aus der tiefen Schwärze, die das Sanatorium umgab, huschten ein paar Gestalten auf die unten wartenden Männer zu: Weibliche Patienten schlichen aus dem Haus, um mit ihren Liebhabern zusammenzutreffen. Die Silhouetten berührten sich und verschmolzen, als wären sie Fragmente eines zerrissenen Schattens, der nun heilte. Jedes Paar ging für sich allein davon. Im Mondlicht sahen sie aus wie Zwergkiefern, die von den steilen Hängen herabgestiegen waren, um auf den windstillen Feldern zu wandeln. Und bald waren sie alle verschwunden. In den folgenden Wochen stellte ich fest, daß es einigen der kräftigeren Patienten erlaubt war, einen Teil des Tages im Freien zu verbringen. Sie trafen sich in dem Café am Fuß der Skihänge, und viele von ihnen freundeten sich mit Touristen an oder mit Angehörigen des Personals. Oft stand ich im Schutz einer kleinen Fichtengruppe und beobachtete, wie sich die Paare absonderten. Ich stellte fest, wie sich hin und wieder die Partner änderten und prägte meiner Erinnerung diejenigen ein, die besonders beliebt schienen, und auch die anderen, die kaum beachtet wurden. Wenn dann die letzten Spuren des Lichtes schwanden und es plötzlich auch an meinem geschützten Standort empfindlich kalt wurde, wandte ich mich schließlich ab und machte mich auf den Weg zurück zu meiner Unterkunft. Eine Frau gab es, die ich ganz besonders sorgfältig beobachtete. Sie war kein schwerer Fall gewesen, und es hieß, daß sie sich schon glänzend erholt hätte: Am Ende des Monats sollte sie entlassen werden. Zwei Männer wetteiferten miteinander um ihre Gunst – ein junger Skilehrer von einem der benachbarten Hotels und ein Tourist, der oft gesagt hatte, daß er im Ort bleiben wolle, bis die Frau das Sanatorium verließ. Die Frau verhielt sich den beiden Männern gegenüber genau gleich. Jeden Nachmittag eilte der Tourist von seinem Hotel herüber, und der Skilehrer glitt auf seinen Brettern herbei, nachdem er seine Übungsstunden beendet hatte. Die Frau saß im Café am Fuße der Piste und 9
sah zu, wie sich ihre beiden Anbeter näherten – jeder auf seine Weise. Der Skilehrer zeigte seine Geschicklichkeit. Er jagte mit höchstmöglicher Geschwindigkeit heran, und erst wenn es fast zu spät schien, drehte er mit einem heftigen Schwung vor dem Geländer der Terrasse ab und kam inmitten sprühender Schneewolken direkt vor dem Tisch der Frau zum Stehen. Sein Rivale, der nur ein mäßiger Skiläufer war, pflegte am Fuße der Piste herumzuwandern, zwang so den Skilehrer zum Bremsen oder vorzeitigen Abschwingen und konnte gewöhnlich damit erreichen, daß die Geschwindigkeit und der Schwung der Anfahrt seines Gegners erheblich litten. Eines Nachmittags kam ich in das Café, ehe der tägliche Skiunterricht vorüber war. Der Tourist hatte sich schon eingefunden, er hatte anscheinend keine Lust mehr, seine ungeschickten Übungen auf den Hängen weiter fortzusetzen. Der Skilehrer hatte seine Schüler auf den Anfängerhang oberhalb und seitlich des Cafés geführt. Als die Sonne zu sinken begann, schickte er sie nach Hause. Er selbst aber fuhr nicht direkt über den Hang ab, wie er das sonst tat, wenn er sich auf den Weg zum Café machte. Statt dessen begann er an einem schneebedeckten Grat entlang weiter aufzusteigen. Dieser Grat war ständig mit Warnungsflaggen markiert, und außer den Experten der Nationalmannschaft durfte ihn niemand betreten. Die Leute standen von den Tischen auf und drängten sich am Geländer der Terrasse, um den langsamen Aufstieg des Skilehrers zu beobachten. Die Frau sprang auf und lief aus dem Restaurant nach draußen zum Fuß der Piste, um ihn dort zu erwarten. Der Tourist folgte ihr. Der Skilehrer stieß sich ab. In weiten, eleganten Bögen umfuhr er die nackten Felsbrocken, die überall aus dem Schnee ragten und dieser Piste den Ruf der Gefährlichkeit verschafft hatten. Immer schneller wurde die Fahrt. Er lief mit der Geschmeidigkeit und Präzision eines wahren Meisters. Ich überlegte, ob er wohl an dem Pfosten stoppen würde, der das untere Ende der Piste markierte, oder ob er weiterlaufen wollte, um mit einem spektakulären Schwung direkt vor den Füßen des Mädchens zum Stillstand zu kommen. Alle schwiegen. Die langen, fast 10
waagerechten Sonnenstrahlen fingen die Frau und den Touristen ein, die nebeneinander am Fuße des Hanges standen. Der Skilehrer schwang in die letzten achtzig Meter und kam sehr schnell und ganz gerade heruntergejagt. Das Mädchen schüttelte die Hand des Touristen ab, die auf der ihren gelegen hatte, machte einen Schritt nach vorn, hob die Arme und rief laut den Namen des schnellen Läufers. Der Tourist stolperte ihr nach und griff nach ihrer Schulter. Kaum eine Sekunde später hatte der Skilehrer das Ende der Piste erreicht und duckte sich zusammen, etwa wie vor einem Sprung von der Schanze. Aber anstatt sich nun nach vorn und oben zu werfen, schien er sich plötzlich nach links zu neigen, mit einer unnatürlichen, abrupten Drehung. Und nun war es zu spät, er konnte nicht mehr abschwingen und nicht mehr bremsen, seine Skier hoben sich in die Luft, er flog vorwärts und krachte plötzlich, die ganze aufgestaute Wucht der langen Abfahrt hinter sich, mit der Schulter in den ungeschützten Leib des Mannes vor ihm. Zusammen glitten die Körper weiter den Hang hinunter und blieben schließlich vor der Terrasse liegen. Eilig drängte die Menge herzu: Aus dem Mund des Touristen sickerte Blut, bewußtlos trug man ihn in das Café. Der Skilehrer saß ein paar Minuten lang auf den Stufen der Terrasse, den Kopf in den Händen verborgen, während ihm die Frau seine Windjacke aufknöpfte. Dann kam der Krankenwagen und der Tourist, immer noch bewußtlos, wurde auf der Tragbahre festgeschnallt. Als die Träger ihn aufhoben, blickte ich zurück zu den Stufen. Der Skilehrer und die Frau waren nicht mehr zu sehen.
Erst viel später sah ich den Skilehrer wieder, an einem Abend, und mit einer Frau. Sie standen wohlgeborgen zusammen in einer Nische, die von der Außenmauer des Hotels gebildet wurde. Ringsum tobte der Sturm, und der Schnee wirbelte auf den Feldern wie das Wasser einer windgepeitschten Bucht. Schaumweiß und dröhnend stiegen Schneewehen 11
auf und brachen wieder zusammen wie Berge von Gänsefedern, die in unergründlich tiefen Schluchten versinken. Die beiden lehnten an der Wand, hin und wieder gestreift vom schwankenden Licht einer Laterne, die über einem Fußpfad hing. Der Mann stand niedriger als die Frau und zog sie zu sich heran. Sie neigte sich ihm zu, schmiegte sich an seinen Leib, nachgiebig und zärtlich. Ihre Arme umfaßten seine Schultern, der wirbelnde Wind zerrte an ihrem Mantel, schlug ihn zurück. Einen Augenblick lang sah es so aus, als wären ihnen beiden Flügel gewachsen, die sie nun davontragen müßten aus dieser Nische, fort von diesen pulverschneebedeckten Feldern, hinweg aus meinem Gesichtskreis. Ich faßte einen Entschluß. Am nächsten Tag besuchte ich unter einem Vorwand das Sanatorium. Patientinnen in buntgemusterten Pullovern und engen Hosen schlenderten auf den Korridoren herum. Andere schliefen, fest in Decken gehüllt. Durchsichtige Schatten überschnitten sich über den verlassenen Liegestühlen auf der sonnigen Terrasse, und das Segeltuch knatterte in den scharfen Windstößen, die von den Berggipfeln herabirrten. Ich sah eine Frau, die in einem Sessel ruhte. Der nachlässig um die Schulter geworfene Schal entblößte ihren langen, sonnengebräunten Hals. Als ich zögerte und zu ihr hinübersah, blickte sie nachdenklich zurück und lächelte dann. Mein Schatten fiel über sie, als ich mich vorstellte. Die Besuchsvorschriften waren sehr streng, und ich durfte nur zwei Stunden am Tag in ihrem Zimmer sein. Ich kam nicht sehr nahe an sie heran, denn das erlaubte sie mir nicht. Sie war sehr krank und hustete ständig. Oft kam dabei Blut. Sie zitterte und fieberte, ihre Wangen glühten, und Schweißperlen bildeten sich auf der Haut ihrer Hände und Füße. Bei einem meiner Besuche bat sie mich, sie zu lieben. Ich schloß die Tür ab. Nachdem ich mich ausgezogen hatte, befahl sie mir, in den großen Spiegel in der Ecke des Zimmers zu blicken. Ich sah sie darin, und unsere Augen trafen sich. Dann stand sie vom Bett auf, ließ ihren Morgenmantel fallen und trat vor diesen Spiegel. Ganz dicht stand 12
sie vor seiner Fläche, berührte mein Spiegelbild mit der einen Hand und ihren eigenen Körper mit der anderen. Ich konnte ihre Brüste sehen, und ihre Weichen. Sie wartete auf mich, während ich mich stärker und stärker auf die Vorstellung konzentrierte, daß ich es war, der dort im Spiegel stand, und mein Fleisch, das ihre Hände und Lippen berührten. Aber jedes Mal, wenn ich nur einen Schritt auf sie zu machte, wies sie mich mit leiser und dennoch dringlicher Stimme zurück. Und dann liebten wir uns wieder, wie zuvor: Sie stand vor dem Spiegel, ich einen Schritt von ihr entfernt, die Augen auf ihrem Körper festgebannt. Ihr Leben wurde ständig von verschiedenen Instrumenten gemessen und überwacht, auf Film-Negativen sichtbar gemacht, von einer Reihe von Ärzten und Schwestern auf Tabellen festgehalten und abgeheftet, von Kanülen gestärkt, die sich in ihren Leib und in ihre Adern bohrten, es wurde eingeatmet aus Sauerstoffflaschen und ausgeatmet in Reagenzgläser. Meine kurzen Besuche wurden immer häufiger und häufiger durch das Eindringen von Ärzten, Schwestern und Krankenwärtern unterbrochen, die gekommen waren, um die Sauerstoffflaschen auszuwechseln oder eine neue Medizin zu verabreichen. Eines Tages hielt mich eine ältere Nonne auf dem Korridor an und fragte, ob ich auch wisse, was ich da täte. Als ich nicht verstand, sagte sie, daß es beim Krankenpersonal einen Namen für Leute wie mich gäbe: Hyaenidae. Und da ich immer noch nicht wußte, wovon sie sprach, wiederholte sie noch einmal: Hyänen. Männer meiner Art, sagte sie, umschlichen Körper, die im Sterben lägen. Und jedes Mal, wenn ich Leben für mich aus dem Leib der Frau sauge, brächte ich sie einen Schritt weiter an den Rand des Todes. Im Laufe der Zeit verschlimmerte sich nun ihr Zustand immer mehr. Ich saß in ihrem Zimmer und starrte auf ihr blasses Gesicht, das nur hin und wieder von einer plötzlichen Röte belebt wurde. Die Hände auf der Bettdecke waren dünn und von einem zarten Netz bläulicher Adern durchzogen. Ihre zerbrechlichen Schultern bebten bei jedem Atemzug, und heimlich wischte sie immer wieder die Schweißperlen ab, die sich auf ihrer Stirn ständig neu bildeten. Wenn sie schlief, saß 13
ich still da und starrte in den Spiegel. Er warf nichts als die kalten, weißen Rechtecke der Wände und der Decke zurück. Lautlos glitten die Nonnen durch den Raum, aber ich brachte es fertig, ihnen niemals in die Augen zu blicken. Sie beugten sich über die Patientin, wischten ihre Stirn ab, befeuchteten ihre Lippen mit Wattebäuschen und flüsterten Worte irgendeiner Geheimsprache in ihre Ohren. Ihre groben Gewänder flatterten wie die Schwingen ruheloser Vögel. Manchmal trat ich hinaus auf die Terrasse, rasch die Türe hinter mir zuziehend. Unermüdlich trieb der Wind den Schnee über die verkrusteten Felder und löschte die tiefen Fußabdrücke und schräg hin- und herlaufenden Spuren vom vergangenen Tage. Ich nahm das weiche, dicke Kissen des frischgefallenen Schnees vom eisüberfrorenen Geländer. Einen Augenblick lang lag es glitzernd in meinen warmen Händen, ehe es sich in tropfenden Schlamm verwandelte. Immer öfter wurde mir jetzt der Zutritt zu ihrem Zimmer verweigert, und dann verbrachte ich die unausgefüllten Stunden allein in meiner Wohnung. Später, vor dem Schlafengehen, zog ich dann ein paar Alben aus der Schreibtischschublade, die ich mit meinen Fotografien von ihr angefüllt hatte, sorgfältig vergrößert und mit peinlicher Genauigkeit auf dicke Pappe geklebt. Ich stellte diese Bilder in einer Ecke meines Zimmers auf, setzte mich davor und rief mir die Stunden im Krankenzimmer in Erinnerung, dachte an die Gestalten im Inneren des Spiegels. Auf einigen meiner Fotografien war sie nackt, und so hatte ich sie nun vor mir, für mich ganz allein. Ich sah auf meine Bilder, als wären sie Spiegel, als müßte in ihnen in jedem Augenblick mein eigenes Gesicht auftauchen und geisterhaft über ihrem Fleisch schweben. Und dann trat ich hinaus auf meinen Balkon. Rings um das Sanatorium lag das Licht der Fenster auf dem Schnee, der nun nicht mehr frisch und unberührt schien. Lange blickte ich auf den schwachen Schimmer dieser Fenster, bis er endlich zu schwinden begann. Jenseits der breiten und weiten, von bewaldeten Hängen schwarzgestreiften Täler und Hügel strahlte das Mondlicht auf eisige Gipfel und nebel14
hafte Wolkenbänke, die sich vom Widerschein aus dem Schatten enger Schluchten herauslocken ließen. Irgendwo schlug eine Tür zu. In der Ferne klang das Hupen eines Autos. Plötzlich erschienen Gestalten zwischen den Schneewehen. Sie stolperten über das Feld auf das Sanatorium zu, hin und wieder den Blicken entschwindend, als kämpften sie sich gegen einen erstickenden Sandsturm vorwärts über eine von Dürre befallene Ebene.
Auf einer kleinen Station stieg ich aus. Als der Zug weiterfuhr, saß ich als einziger Gast im Bahnhofsrestaurant und aß. Ich rief den Kellner und fragte, was es im Ort Interessantes gäbe. Er sah mich an und sagte, daß am Nachmittag in einem nahegelegenen Dorf eine Privatvorstellung stattfinden sollte. Diese Vorstellung, so deutete er an, würde ziemlich ungewöhnlich sein. Wenn ich bereit sei, einen entsprechenden Preis zu zahlen, dann könne er es schon einrichten, daß ich zugelassen würde. Ich war einverstanden, und wir verließen zusammen die Bahnstation. Eine halbe Stunde später erreichten wir eine Viehkoppel, an deren Ende sich ein großer Wagenschuppen befand. Ungefähr fünfzig ältere Bauern hatten sich unter den Bäumen neben dem Gebäude versammelt, gingen auf und ab, rauchten und machten Witze. Ein Mann in städtischem Aufzug kam aus dem Schuppen und begann, von uns allen Geld einzusammeln. Der Preis entsprach ungefähr dem Betrag, den ein Landarbeiter in zwei Wochen verdient, und dennoch schienen alle bereit, ihn zu bezahlen. Dann verschwand der Veranstalter wieder im Haus, und wir bildeten unter den Bäumen einen Kreis. Die Bauern warteten, flüsterten und lachten. Ein paar Minuten vergingen. Dann öffnete sich das Tor des Wagenschuppens, und vier Frauen in bunten Kleidern traten in den Kreis. Der Veranstalter folgte nach, ein großes Tier mit sich führend. Die Bauern unterbrachen wie auf einen Schlag ihre Gespräche. Die Frauen standen nebeneinander und drehten sich im Kreise, damit 15
alle sie richtig sehen konnten. Der Veranstalter führte inzwischen das Tier vor der Menge auf und ab. Jede der Frauen schien einen bestimmten Typ zu vertreten: Eine war sehr groß und kräftig gebaut, eine zweite war ein schlankes, fast zerbrechlich wirkendes Mädchen, deren ganze Erscheinung darauf hindeutete, daß sie aus der Stadt kam. Alle waren sie stark geschminkt und trugen enge Kleider mir sehr kurzen Röcken. Die Bauern begannen, laut über die Frauen zu diskutieren und stritten aufgeregt miteinander. Nach ein paar Minuten bat der Veranstalter um Ruhe und erklärte, daß mit einer Abstimmung festgestellt werden sollte, welche von den Frauen am meisten Anklang fand. Die gingen inzwischen in der Arena umher, reckten sich, bogen sich und streichelten ihre Körper, und die Menge wurde immer angeregter. Der Veranstalter ließ über jede einzeln abstimmen. Schließlich wurde es klar, daß die Mehrheit sich für das junge Mädchen entschieden hatte. Die anderen drei Frauen mischten sich unter das Publikum, kicherten und flüsterten mit den Männern. Das ausgewählte Mädchen saß jetzt allein in der Mitte des Kreises. Ich studierte die Gesichter der Männer. Sie schienen neugierig darauf zu warten, ob das Mädchen seine Probe bestehen oder sich als zu schwach und zart erweisen würde. Nun führte der Veranstalter das Tier in die Mitte der Arena und stachelte dabei seine schlaffen Geschlechtsteile mit einem Stock auf. Zwei Bauern sprangen herbei und packten es, um es stillzuhalten. Dann trat das Mädchen vor und begann, mit der Kreatur zu spielen. Sie umarmte das Tier, drückte es an sich, streichelte sein Glied und begann, sich langsam auszuziehen. Das Tier war nun erregt und unruhig. Es war unvorstellbar, wie das Mädchen es in sich aufnehmen könnte. Die Männer wurden aufgeregt, drängten das Mädchen, sich ganz auszuziehen und sich mit dem Tier zu paaren. Der Veranstalter schlang ein paar Bänder um dessen Glied, jede farbige Schleife gleichmäßig ein paar Zentimeter von der nächsten entfernt. Dann näherte sich das Mädchen wieder, rieb sich Öl zwischen die Schenkel und 16
auf den Bauch und lockte das Tier, ihm den Körper zu lecken. Und schließlich, von anfeuernden Zurufen ermuntert, schob sie sich unter seinen Leib und umklammerte ihn mit ihren Beinen, hob ihren Körper, stieß ihn nach vorn und preßte so das Glied des Tieres bis zur ersten Schleife in sich hinein. Nun trat der Veranstalter wieder auf den Plan und forderte das Publikum auf, für jeden weiteren Zentimeter zusätzlich zu zahlen. Für jede Schleife, die abgenommen werden konnte, erhöhte sich der Preis. Die Bauern, die immer noch nicht glauben wollten, daß das Mädchen diese Schändung überhaupt überleben könnte, zahlten mit Feuereifer wieder und wieder. Und schließlich begann das Mädchen laut zu schreien. Aber ich war nicht sicher, ob sie Schmerzen litt oder nur den Zuschauern ein Theater vorspielte.
Ich ging in den Zoo, um mir einen Kraken anzusehen, von dem ich gelesen hatte. Er war in einem Aquarium untergebracht, nährte sich von lebenden Krabben, Fischen und Muscheln – und von sich selber. Er fraß an seinen eigenen Fangarmen und verschlang sie, einen nach dem anderen. Ganz offensichtlich brachte der Krake sich damit allmählich selbst um. Ein Wärter erklärte, daß diese Tiere in jenem Teil der Welt, in dem das hier zur Schau gestellte Exemplar gefangen worden war, als Götter des Krieges betrachtet würden, welche Niederlagen prophezeien, wenn sie landwärts blicken, und den Sieg, wenn ihre Augen seewärts gerichtet sind. Und die Eingeborenen hatten erklärt, daß dieser Oktopus hier immer nur landwärts geblickt hätte, als er gefangen worden war. Ein Mann machte die witzige Bemerkung, daß das Tier durch sein langsames Sich-selbst-Verschlingen offensichtlich seine eigene, von ihm vorher prophezeite Niederlage dartun wolle. Jedesmal, wenn der Krake in seine eigenen Fangarme biß, schüttelten sich ein paar der Zuschauer, als ob es um ihr eigenes Fleisch ginge. Andere wiederum waren völlig ungerührt. Als ich gerade gehen wollte, bemerkte ich eine junge Frau, die das Tier ohne irgendeine sichtba17
re Reaktion betrachtete, mit völlig gelösten Lippen. Eine heitere Ruhe umgab sie, die weit über einfache Unbeteiligtheit hinausging. Ich näherte mich ihr und verwickelte sie in ein Gespräch. Es ergab sich, daß sie die Frau eines wohlbekannten, hohen Beamten war, der mit seiner Familie in der Stadt lebte. Und ehe der Nachmittag vorüber war, hatte sie mich zu einer Abendgesellschaft eingeladen, die sie in ihrem Hause gab. Das Haus war prunkvoll, und die Abendgesellschaft verlief ohne jeden Fehl. Die Gastgeberin gab sich völlig natürlich, sie widmete sich mit der gleichen Herzlichkeit ihrer Familie wie ihren Gästen – und schien dennoch weit entfernt. Ich glaubte bemerkt zu haben, daß sie mich mit einer Spur sehr persönlichen Interesses angesehen hatte, und das wollte ich mir beweisen. Am nächsten Tag hatte ich vor, die Stadt zu verlassen. Also war heute die einzige Gelegenheit. Sie hatte sich gerade von einem abschiednehmenden Ehepaar wieder abgewandt und stand, ein Glas in der Rechten, neben einem der Bücherregale in der Bibliothek. Mit gespielter Beiläufigkeit erklärte ich ihr, daß ich sie unbedingt allein sehen müsse, denn ich könne mich einfach nicht von den erregenden Vorstellungen freimachen, die sie in mir wachrief. Ich schlug vor, daß wir uns irgendwo treffen sollten. Und dann erwähnte ich die Hauptstadt des Nachbarlandes, in das ich am nächsten Tage reisen wollte, als geeigneten Ort. Sie wollte gerade antworten, als sich mehrere Gäste näherten. Sie wandte sich ihnen zu, aber vorher reichte sie mir noch ihr Glas, als ob es meines sei, und nannte dabei ganz ruhig den Namen des Hotels, in dem sie sich in jener Stadt mit mir treffen wollte. Während der nächsten Tage dachte ich ständig an sie und rief mir jeden einzelnen Augenblick ins Gedächtnis zurück, den ich in ihrer Nähe verbracht hatte. Ich grübelte über die anderen Männer auf ihrem Fest nach, überlegte, welche von ihnen wohl ihre Liebhaber gewesen sein mochten, und stellte mir einzelne Situationen mit ihr als Liebhaberin vor. Je mehr ich über sie nachdachte, desto besorgter wurde ich über unser erstes Zusammentreffen. 18
… Wir waren beide nackt. Nichts wünschte ich mir sehnlicher, als ganz unbefangen zu sein. Aber der Gedanke daran, was sie vielleicht von mir erwarten könnte, dämpfte meine Leidenschaft. Es schien fast, daß ich erst mein Denken ausschalten mußte, ehe mein Körper funktionieren konnte. Aber ich konnte mein Unvermögen nicht verbergen, denn in ihren Augen, so schien es, drückte sich mein Verlangen nach ihr nur in einem einzigen Teil meines Körpers aus, in einem Teil, der mit einem Mal sehr klein geworden war. Sie beschuldigte sich selbst, bestand darauf, daß dies alles nur an ihrem Mangel an Geschicklichkeit liegen könne, mir Freude zu machen. Sie wurde immer verzweifelter und erregter. Ich zog mich an, verließ sie, wanderte durch die Straßen und versuchte zu verstehen, was passiert war. Und ich überlegte, wie ich ihr in Zukunft meine mißliche Lage erklären könnte. Ich fürchtete, daß sie jede Diskussion ablehnen und nur als Entschuldigung dafür betrachten würde, daß auch ein zweiter Versuch zur körperlichen Vereinigung sicherlich mit einem Fehlschlag enden würde. Auf der Straße sprach ich eine Frau an. Ihr Gesicht war stark geschminkt, und ihre Figur ließ sich unter dem schlechtsitzenden Kleid kaum erkennen. Nach einigem Hin und Her erklärte sie sich bereit, mit mir zu kommen. Im Zimmer half sie mir beim Ausziehen und begann dann, selbst noch angezogen, meinen Körper zu streicheln. In ihrer Berührung war eine Vertrautheit, als würden ihre Hände direkt von den Strömen geleitet, die unter meiner Haut pulsierten. Hätte ich das Bedürfnis gespürt, meinen Körper mit eigener Hand zu wecken – ich hätte meine Finger über dieselben Bahnen gleiten lassen. Ich blickte noch einmal genauer auf die Frau und ihr Kleid und erkannte plötzlich, daß mein Gegenüber ein Mann war. Mit einem Schlage änderte sich meine Stimmung. Noch spürte ich zwar in meinem Innern das Verlangen nach Lust und nach hemmungsloser Hingabe, aber gleichzeitig hatte ich auch das Gefühl, daß ich zu rasch angenommen worden war, und daß alles Weitere genau vorbestimmt abrollen würde. Und daß uns nur noch eines blieb: Füreinander nichts weiter als eine Mahnung an das eigene Selbst zu sein. 19
Als ich in der Armee war, nahmen viele Soldaten öfters an einem Spiel teil, bei dem zwanzig oder fünfundzwanzig Mann um einen Tisch saßen, und jeder hatte eine lange Schnur um sein Glied gebunden. Die Spieler wurden als ›Ritter der Tafelrunde‹ bezeichnet. Ein Mann, den wir ›König Artus‹ nannten, hielt die Enden aller Schnüre in der Hand, ohne zu wissen, wer an welcher hing. Hin und wieder wählte König Artus dann eine der Schnüre aus und begann, sie Zentimeter um Zentimeter über eine Reihe von Kerben auf der Tischplatte einzuholen. Die Soldaten blickten einander aufmerksam ins Gesicht, denn sie wußten, daß einer unter ihnen sein mußte, der jetzt Schmerzen litt. Aber das Opfer tat alles, um seine Pein zu verbergen und ein gleichgültiges Gesicht zu machen. Es ging die Rede, daß die wenigen Männer, die beschnitten waren, dieses Spiel nicht so lange durchhalten konnten wie die anderen, die nicht beschnitten waren und eine schützende Vorhaut über der Spitze ihres Schaftes trugen. Es wurden Wetten abgeschlossen, an wieviel Kerben die Schnur vorbeigezogen werden konnte, ehe das gefolterte Opfer schließlich schrie. Es gab Soldaten, die sich fürs Leben ruiniert hatten, nur weil sie das ausgesetzte Geld gewinnen wollten und deshalb das Spiel zu lange durchgehalten hatten. Ich erinnere mich an den Tag, an dem die Soldaten entdeckten, daß König Artus mit einem der Männer gemeinsame Sache gemacht hatte, der sich die Schnur nur um den Oberschenkel band. Natürlich konnte er auf diese Art wesentlich mehr aushalten als die anderen, und zusammen mit König Artus gewann er so erhebliche Geldbeträge. Die betrogenen Ritter wählten insgeheim die Strafe, die sie für passend hielten. Die schuldigen Männer wurden von hinten gepackt, man verband ihnen die Augen und schleppte sie in den Wald. Dort wurden sie ausgezogen und an Bäume gefesselt. Dann traten die Ritter einer nach dem andern herzu und zerquetschten langsam die Geschlechtsorgane ihrer Opfer zwischen zwei Steinen, bis das Fleisch nur noch eine blutige, unkenntliche Masse war.
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Später, immer noch in der Armee, waren wir eine Gruppe von zwölf Männern und unterhielten uns häufig nachts im Zelt über Frauen. Einer beklagte sich, daß er niemals wirklich alles tun konnte, was er sich vorgenommen hatte, wenn er bei seinem Mädchen lag – oder jedenfalls nicht lange genug. Einige der anderen schienen ähnliche Probleme zu haben. Ich wußte nicht genau, ob ich das alles richtig verstand, aber mir kam der Gedanke, daß es sich vielleicht um ein heilbares Leiden handelte – also gab ich ihnen den Ratschlag, zu einem Arzt zu gehen. Sie versicherten mir jedoch, daß hier kein Arzt etwas machen könne – es handele sich um ein Naturgesetz, erklärten sie. Alles, was man ihrer Auffassung nach tun könne, bestünde darin, daß man sich beim Liebesakt zurückhält, daß man es vermeidet, direkt an die Frau unter einem zu denken, daß man sich möglichst nicht auf das konzentriert, was man da tut und was man fühlt oder fühlen will. Sie beschwerten sich darüber, daß eine Frau ihrem Geliebten selten oder nie sagt, wie gut er im Verhältnis zu den anderen Männern ist, mit denen sie geschlafen hat – denn sie fürchtet, daß sie sich damit bloßstellt. Und das ist wie eine Mauer, erklärten die Soldaten. Der Mann ist dazu verdammt, sich niemals als Liebhaber selbst beurteilen zu können. Ich erinnerte mich an das Mädchen, mit dem ich ging, als ich noch auf der Oberschule war. Wenn meine Eltern nicht zu Hause waren, schliefen wir bei uns miteinander. Einmal klingelte das Telefon, mitten in unserem Liebesspiel, und da es neben mir auf dem Nachttisch stand, hob ich den Hörer ab, ohne meine Tätigkeit auch nur einen Moment zu unterbrechen, und unterhielt mich ein Weilchen mit dem Freund am anderen Ende der Leitung. Als ich wieder auflegte, erklärte das Mädchen, daß sie nie wieder mit mir ins Bett gehen würde. Es brächte sie außer Fassung, erklärte sie, daß ich jederzeit eine Erektion haben konnte, nur weil ich wollte – als ob es dasselbe sei wie ein Bein zu strecken oder einen Finger krumm zu machen. Sie behauptete dagegen, daß so etwas spontan kommen müsse und daß Gefühl dazu gehöre, auch so etwas wie plötzliches, überwältigendes Begehren – ich erklärte ihr, das sei doch eigentlich völlig gleichgültig, aber sie bestand 21
auf ihrer Meinung. Und fügte hinzu, ein bewußter Entschluß, in dem und dem Moment eine Erektion zu haben, reduziere den Liebesakt zu etwas rein Mechanischem und Gewöhnlichem.
In den ersten Tagen des Monats begann das Regiment mit seinen Vorbereitungen für die große Parade am Nationalfeiertag und für einige Hundert von uns, nach Größe und Geschicklichkeit im Exerzieren ausgewählt, bedeutete das anstrengende tägliche Übungen. Schon im Morgengrauen traten wir an, auf der festgestampften, unter der Sonne hartgebackenen Erde des rings von Wald umgebenen Exerzierplatzes. Trotz der sommerlichen Hitze dauerte das Exerzieren den ganzen Tag, auf und ab marschierten wir in Kolonnen aus Viererreihen, überquerten im Paradeschritt den gesamten Platz; alle sechs Einheiten vollführten gleichzeitig Wendungen und Schwenkungen, marschierten vor- und hintereinander herum und schoben sich hin und her wie Eisenbahnwagen beim Rangieren. Nachdem diese mühsamen Übungen einen Monat angedauert hatten, waren wir zu einem einzigen Wesen geworden und marschierten wie ein einziger Mann. Wir atmeten im Takt, salutierten mit einer gemeinsamen Bewegung und schwangen unsere Gewehre, als seien sie eins mit unseren Knochen und Muskeln. Unser einziger Gedanke während dieser bis zur Erschöpfung anstrengenden Tage war der an unsere geschwollenen, brennenden Füße und an das warme, grobe Tuch der Uniform, das auf der schweißnassen Haut scheuerte. Es schien uns, daß wir ununterbrochen auf den reglosen, dunklen Wald zu marschierten – aber jedesmal schwenkte die Kolonne wieder ab, ehe wir noch den Schatten der Bäume erreicht hatten. Am Nationalfeiertag wurde früher als gewöhnlich geweckt. Die Festparade sollte in einiger Entfernung vom Lager stattfinden. Und da fiel mir plötzlich ein, wie ich mir den ganzen, mühsamen Tag ersparen könnte. Wenn wir zu viert, nämlich die drei Männer, die neben mir marschierten, und ich selbst einfach stillschweigend verschwan22
den und den Rest des Tages im Wald verbrachten, dann fehlte zwar ein ganzes Glied, aber es war höchst unwahrscheinlich, daß unsere übereifrigen und nervösen Offiziere das bemerken würden. Am Abend konnten wir dann unauffällig wieder das Lager betreten und uns unter die zurückkehrenden Soldaten mischen. Ich sprach mit meinen Kameraden. Sie waren mit dem Plan einverstanden, und wir beschlossen, uns davonzumachen, ehe der erste Appell gehalten wurde. Statt zum Frühstück in die Kantine zu gehen, wanderten wir hinüber zum Müllabladeplatz, als seien wir die Männer, die dort für Säuberungsarbeiten eingeteilt waren. Danach kam es nur noch darauf an, alles Selbstvertrauen zusammenzunehmen, sich auf die Laderampe zu stellen und wie selbstverständlich die an- und abrollenden Lastwagen einzuweisen, bis ein günstiger Augenblick kam, um im Wald zu verschwinden. Niemand stellte sich uns in den Weg, und kaum hatten wir die ersten Büsche hinter uns, da begannen wir zu laufen, die Gewehre am Riemen hinter uns herschleppend. Die Eichelhäher schrien, als wir durch das Gebüsch brachen, und hin und wieder sprang ein Eichhörnchen vor uns von Zweig zu Zweig. Erst tief im Walde machten wir halt. Dann rissen wir uns die Uniformen vom Leibe und legten uns auf den Waldboden. Die Sonne stieg höher, und die Erde begann zu dampfen. Ein einzelnes, fernes Trompetensignal unterbrach die unzähligen, zwitschernden und summenden Geräusche, die über die Lichtung wehten. Wir schliefen ein. Meine Glieder waren schwer, und meine Kehle brannte. Mühsam erwachte ich, dann kehrte mein Bewußtsein zurück, und ich stand auf. Die Sonne berührte bereits die Wipfel der Bäume, und in der Lichtung war es schon dämmrig. Meine Mitdeserteure schliefen noch, ihre Uniformen hingen auf den Büschen neben ihnen. Irgendein Geräusch näherte sich aus der Tiefe des Waldes: Mit jeder Sekunde wurde es lauter und klarer. Und plötzlich erkannte ich, daß es die Kapelle war. Angestrengt blickte ich in Richtung der Töne, und was ich sah, jagte mir tiefen Schrecken ein: Kaum zweihundert Meter entfernt marschierte die Regimentskapelle zwischen den Bäumen auf uns zu, der vergolde23
te Stab des Kapellmeisters blitzte in der Sonne, und das weiße Lederzeug der Trommler hob sich deutlich ab vom grünen Laub der Bäume. Ich sprang zu meiner Uniform und dachte einen Augenblick an weiter nichts, als davonzulaufen und mich zu verstecken. Dann aber lief ich hinüber zu meinen faul ausgestreckten Gefährten und rüttelte sie aus dem Schlaf. Zuerst murmelten sie Schimpfworte, aber als sie dann merkten, was da vor ihnen geschah, wurden sie von derselben Panik ergriffen wie ich. Sie rafften ihre Uniformen, Stiefel und Gewehre zusammen und tauchten im Gewirr der Büsche und Bäume unter. Impulsiv warf auch ich mich nach vorn – und wurde im selben Moment von einem heftigen Zittern erfaßt, das mich völlig bewegungsunfähig machte. Innerhalb von Sekunden ging der Anfall vorüber, aber ich war immer noch außerstande zu fliehen. Ich stand einfach in der Lichtung, nackt, Gewehr und Uniform zu Füßen, als hätte ich tatsächlich beschlossen, keinen Fußbreit zu weichen und auf die Ankunft der Kolonne zu warten. Die vorderen Reihen waren nur noch Meter von mir entfernt. Man hatte mich inzwischen gesehen, denn die Kapelle brach ihr Spiel ab, und ein paar berittene Offiziere lösten sich von der Truppe und galoppierten auf die Lichtung zu. In der Kolonne selbst brach ein ungeheurer Wirrwarr aus. Ein paar Männer waren einfach aus der Marschordnung gelaufen, andere riefen etwas und zeigten auf mich. Die Regimentsfahne schwankte heran, und plötzlich überkam es mich, daß ich ja salutieren müsse. Ich griff nach meiner Mütze, stand stocksteif und hob die Hand zum Gruß an die Stirn. Ein spöttisches Geschrei erhob sich unter den in meiner Nähe befindlichen Soldaten, ein einzelner Trompeter hob plötzlich sein Instrument, blies einen Jagdruf und brachte mich damit völlig durcheinander. Voller Schrecken blickte ich an mir selbst herab: Ich konnte nichts dagegen tun – mein Glied hatte sich steil aufgerichtet. Kommandos erklangen, die Kolonne kam zum Stehen, und obwohl die Unteroffiziere dafür sorgten, daß jeder Mann an seinem Platz blieb, konnten sie doch nicht verhindern, daß alles zu lachen begann. Zwei 24
Soldaten kamen auf mich zu, hinter ihnen ein berittener Offizier. Ein zweiter Offizier stieg vom Pferd und schrie, daß ich verhaftet sei. Neue Befehle erschallten: Die Kolonne formierte sich wieder und marschierte davon, weiter ihrer Abkürzung durch den Wald auf dem Weg zum Lager folgend. Ich zog mich an und wurde von den Wachen abgeführt. Die Anklage lautete auf unerlaubte Entfernung von der Truppe sowie Nichterfüllung dienstlicher Pflichten. Man verlangte von mir, daß ich meine Komplicen nennen sollte. Aber ich erklärte, daß ich ganz allein gewesen sei, und daß die anderen auf eigene Faust in der Lichtung erschienen sein müßten, nachdem ich bereits eingeschlafen war. Und ich bestand darauf, daß ich mich nur eines geringfügigen Vergehens schuldig gemacht hätte, nämlich der Unterlassung, mich aus dem Lager abzumelden. Von der Teilnahme an der Parade nämlich, so behauptete ich weiter, wäre ich bei einer der Exerzierstunden durch einen Offizier befreit worden. Und wenn dieser Offizier es jetzt anscheinend auch vorzog, sich daran nicht zu erinnern, so könnte man mir meine Nichtteilnahme dennoch in keinem Falle anrechnen. Was aber die Anklage anbetraf, daß ich mich durch mein Salutieren der Flagge im nackten Zustand einer vorbedachten Beleidigung der Nationalfarben schuldig gemacht hätte, so hielt ich dem entgegen, es sei schließlich schon oft in der Kriegsgeschichte vorgekommen, daß Soldaten bei Überraschungsangriffen des Feindes zufällig gerade nackt gewesen waren und dann in eben diesem Zustand in den Kampf zu gehen hatten.
Bist du eigentlich beschnitten? Ich hab' mir das schon oft überlegt. Nicht daß ich sicher bin, daß ich überhaupt wüßte, wo der Unterschied liegt. Warum hast du mich das nicht schon früher einmal gefragt? Eigentlich ist es wirklich nicht wichtig, und außerdem hatte ich Angst, so eine Frage zu stellen. Du hättest es ja so auslegen können, als ob ich mir davon irgend etwas erwartete, oder vielleicht auch, daß ich dagegen wäre. Sind Männer in solchen Dingen nicht sehr empfindlich? 25
Ich weiß nicht, Männer sind sehr verschieden. Ist das Beschneiden wirklich nötig? Ich meine, wie zum Beispiel eine Blinddarmoperation? Nein. Heutzutage erscheint es einem so grausam und so unnötig. Einem Baby wird einfach ein Teil seines Körpers weggenommen, und es kann nicht einmal sagen, ob es das will. Ist es nicht möglich, daß es dann als Mann weniger empfindsam und reizempfänglich wird, weil man es so verstümmelt hat? Schließlich geht es um ein empfindliches Organ, das von Natur aus zart und geschützt sein sollte – und nun wird es plötzlich einfach enthüllt, fast wie ein Knie oder ein Ellenbogen, und reibt sich ständig an dem Leinen- oder Wolle- oder Baumwollzeug, das man trägt …
Ich erhielt den Befehl, in einem Waldstück, meilenweit entfernt von jeder menschlichen Siedlung, getarnte Stellung zu beziehen. Ich suchte mir einen Baum mit dichten Ästen und richtete mir in seinem Blätterwerk einen bequemen Sitz her. Dort blieb ich während des Manövers mehrere Stunden lang. Mit einem Fernglas suchte ich die umliegenden Felder ab, und dabei entdeckte ich einen zweiten getarnten Soldaten meines Regiments, dessen Position etwas über einen halben Kilometer entfernt lag. Ich hatte den Befehl, meine Stellung unter keinen Umständen zu verraten, und deshalb blieb ich im Verborgenen und blickte nur hin und wieder mit dem Fernglas zu ihm hinüber. Plötzlich erregten seine Bewegungen meine Aufmerksamkeit, und ich folgte mit dem Glas der Richtung, in die sein Gewehrlauf zeigte: Am Rande eines weiter entfernten Feldes, gerade außerhalb des dem Regiment zugeteilten Gebietes, gingen langsam zwei Menschen. Das Gewehr des anderen Soldaten ruckte zweimal kurz hintereinander, und zwei dumpfe Schüsse zerrissen die Stille. Als ich wieder zu dem Paar hinüberblickte, lagen die beiden im wogenden Gras wie zwei Wellenreiter, die ein plötzlicher Brecher von ihren Brettern geschleudert hat. Ich betrachtete mir jetzt den Heckenschützen genauer. Obwohl sein 26
Gesicht nicht in meinem Blickfeld war, fiel es mir plötzlich ein, daß er mich vielleicht gesehen und erkannt haben könnte, und ich spürte, wie sich mein Herz zusammenzog. Aber er saß friedlich da, das Gewehr auf den Knien, und lehnte sich gegen die Zweige, die sich im schläfrigen Wiegen der Bäume hin und her bogen. Ich beobachtete ihn vorsichtig weiter, bis die bläuliche Luft über die dürren Zweige herabfiel und schließlich die Dunkelheit aufstieg, als habe sie der Tau geboren, der den Boden bedeckte. Am nächsten Tag gab der Adjutant bekannt, daß zwei Zivilisten durch verirrtes Gewehrfeuer getötet worden seien. Die Untersuchung blieb ohne Ergebnis, denn wir alle konnten den Verbleib der uns zugeteilten scharfen Munition nachweisen. Später nahmen zwei Lastwagen mit der Fußballmannschaft des Regiments einen Abkürzungsweg, der durch ein Feld führte, welches zum Schießgebiet der Artillerie gehörte. Der Vorschrift nach sollte dieses Feld durch Warnschilder gesperrt sein, aber entweder hatten die Fahrer nicht aufgepaßt, oder irgendwer aus dem Regiment hatte die Warnschilder entfernt. Jedenfalls kamen die Fußballspieler niemals an ihrem Ziel an. Die Lastwagen mußten sich mitten auf dem Feld befunden haben, als die Artillerie das Feuer eröffnete. Alles, was später gefunden wurde, war ein Paar weißer Tennisschuhe. Sie waren erstaunlich sauber.
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U
nd wenn er nun mein Liebhaber würde? Um diese Vorstellung in dir abzutöten, müßtest du ihn vernichten, nicht wahr? Ich weiß nicht. Ich bin nicht sicher. Einmal, als wir zusammen einen Mantel für mich gekauft haben, wollte der Verkäufer mir beim Anprobieren helfen. Er berührte mit der Hand meinen Hals, als er den Kragen zurechtzog, und du gingst auf ihn zu, und ohne ein Wort ergriffst du diese Hand und stießest sie weg – als ob sie ein Gegenstand wäre. Du mußt dabei furchtbar hart zugepackt haben: Der Verkäufer erstarrte geradezu. Sein Gesicht war fast dunkelrot, und er machte den Mund auf, als ob er schreien wollte. Ich habe seine Hand von deinem Hals entfernt, weil ich nicht wollte, daß er dich anfaßt. Aber er hat es doch ganz bestimmt nicht persönlich gemeint. Ich weiß nicht, wie er es gemeint hat, und du weißt es auch nicht. Aber ich habe daran gedacht, was du vielleicht fühlst, wenn er dich anfaßt. Und um diesen Gedanken loszuwerden, mußtest du hingehen und seine Hand von meinem Hals wegstoßen? Ja. Könntest du einen Menschen umbringen? Ich meine: aus einem ernsthaften Grund? Ich weiß nicht.
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Arbeit war knapp während des Krieges. Ich war zu ausgemergelt, um auf dem Feld zu arbeiten, und auf den Höfen benutzten die Bauern lieber ihre eigenen Kinder und Verwandten als Hilfe. Als heimatloser Landstreicher war ich ein Opfer für jeden. Nur um sich zu unterhalten, packte mich der Bauer, bei dem ich schließlich untergebracht wurde, manchmal am Kragen, zerrte mich zu sich heran und schlug mich. Oder er rief seinen Bruder und seine Freunde zu einem Spiel, bei dem ich stillstehen und mit offenen Augen geradeaus sehen mußte. Und sie standen ein paar Schritte vor mir und spien mir ins Gesicht, wobei sie Wetten abschlossen, wie oft ein jeder meine Augen treffen konnte. Dieses Spiel wurde im Dorf sehr beliebt. Ich war die Zielscheibe für alle – kleine Jungen und Mädchen, Bauern und ihre Frauen, nüchterne Männer und Betrunkene. Eines Tages ging ich zu einem Begräbnis. Ein Kind war an Pilzvergiftung gestorben, der Sohn eines der reichsten Bauern des Dorfes. Alle waren da, trugen ihre besten Sonntagskleider und sahen demütig und bescheiden aus. Ich beobachtete den trauernden Vater, wie er am offenen Grab stand. Sein Gesicht war so gelb wie frischgepflügter Boden, seine Augen rot und geschwollen. Er stützte sich auf seine Frau, die unsicheren Beine waren kaum imstande, sein Gewicht zu tragen. Als der Sarg zum Grab gebracht wurde, warf er sich über den polierten Deckel, stammelte und küßte das Holz, als ob dieses sein Sohn wäre. Seine Schreie und die seiner Frau zerbrachen die Stille wie ein Chor auf leerer Bühne. Da wurde mir klar, daß die Liebe der Bauern zu ihren Kindern ebenso elementar und unkontrollierbar war wie eine Seuche unter dem Vieh. Oft sah ich eine Mutter, die das weiche Haar ihres Kindes berührte, oder einen Vater, der seinen Sohn spielerisch in die Höhe warf und mit sicherem Griff wieder auffing. Und ich beobachtete die kleinen Kinder, die auf ihren dicken Beinchen daherwackelten, stolperten, fielen, wieder aufstanden – als ob sie von derselben Kraft belebt würden, die auch Sonnenblumen wieder aufrichtet, wenn der Wind sie umgeworfen hat. Und dann sah ich eines Tages ein Schaf, das sich in den krampfhaf30
ten Zuckungen eines langsamen Todes wand und mit seinem verzweifelten Blöken die ganze Herde in Schrecken versetzte. Die Bauern sagten, daß das Tier einen Angelhaken oder eine Glasscherbe mit seinem Futter hinuntergeschluckt haben müsse. Monate vergingen. Eines Morgens wanderte eine Kuh aus der Herde, die unter meiner Obhut stand, auf das Grundstück des Nachbarn und richtete dort ziemlichen Schaden an. Das wurde meinem Herrn berichtet. Als ich von der Weide zurückkehrte, wartete er schon auf mich. Er stieß mich in die Scheune und peitschte mich, bis mir das Blut an den Beinen herunterlief. Vor Wut brüllend, hieb er mir zum Schluß noch den ledernen Peitschenriemen quer über das Gesicht. Ich begann, weggeworfene Angelhaken zu sammeln und hinter dem Stall zu vergraben. Wenn der Bauer und seine Frau in die Kirche gingen, saß ich in meinem Versteck und knetete Angelhaken und Glasscherben in Kügelchen von frischem Brot, das ich vom gerade aus dem Ofen gekommenen Laib stahl. Ich spielte gerne mit den jüngsten der drei Kinder des Bauern. Wir waren oft draußen auf dem Hof zusammen, und das kleine Mädchen lachte laut, wenn ich einen Frosch oder einen Storch nachmachte. Eines Abends umarmte sie mich wieder. Ich feuchtete eines der Brotkügelchen mit Speichel an und sagte ihr, das müsse sie jetzt auf einmal hinunterschlucken. Als sie zögerte, nahm ich ein Stück Apfel, steckte es in meinen eigenen Mund und schob es ohne zu kauen mit dem Finger hinunter in den Schlund. Das kleine Mädchen wollte mir das sofort nachmachen und schluckte meine Kügelchen, eines nach dem anderen. Ich sah ihr nicht ins Gesicht und zwang mich, nur an die brennenden Peitschenhiebe ihres Vaters zu denken. Von nun an blickte ich meinen Verfolgern furchtlos in die Augen, forderte ihre Angriffe und Mißhandlungen geradezu heraus. Ich spürte keine Schmerzen mehr. Für jeden Hieb, den ich erhielt, waren meine Peiniger zu hundertmal stärkeren Schmerzen verdammt. Ich war nun nicht mehr ihr Opfer. Ich war ihr Richter und ihr Henker. Es gab keine Ärzte und kein Krankenhaus in der ganzen Gegend, und auf der nächstgelegenen Eisenbahnlinie verkehrten nur gelegent31
lich Güterzüge. Am frühen Morgen trugen weinende Eltern ihre nach Atem ringenden Kinder noch in die Kirche, damit der Priester sie mit Weihwasser besprengen und segnen könne. Aber in der Abenddämmerung, wenn sie dann völlig verzweifelt waren, brachten sie die Sterbenden zu den abgelegenen Hütten der Dorfhexen, die sich mit Zauberkunst und Wunderheilungen befaßten. Doch der Tod forderte weiter seinen Tribut, und immer mehr Kinder starben. Einige der Bauern fluchten, lästerten Gott und flüsterten, daß ER seinerzeit seinen einzigen Sohn Jesus deshalb hinab auf die Erde und in den sicheren Tod geschickt habe, um seine eigene Sünde zu büßen: die Erschaffung dieser grausamen Welt. Andere wieder sagten, daß der Tod gekommen sei, um in den Dörfern zu hausen, weil es selbst ihn nicht mehr litt in den zerbombten Städten, auf den Schlachtfeldern und in den Lagern, in denen Tag und Nacht die Öfen rauchten.
Es gab an der Universität einen Mann, der mir Unrecht getan hatte. Ich stellte fest, daß er von bäuerlichen Vorfahren abstammte und daher sogar noch unter denjenigen Studenten, die von der Partei aus politischen Gründen auf die Universität geschickt worden waren, eine privilegierte Stellung einnahm. Und gegen das für ihn so günstige weltanschauliche Klima konnte ich natürlich nichts tun. Deshalb sah ich zunächst keine Möglichkeit, ihm seine Feindschaft heimzuzahlen. Aber irgendwie erschien es mir als eine faule Selbstentschuldigung, einfach das System vorzuschieben und mich so vor einer Auseinandersetzung mit ihm zu drücken. Zu jener Zeit mußten wir alle zwangsweise dem paramilitärischen studentischen Verteidigungskorps beitreten. Die Einheiten dieses Korps mußten abwechselnd das Universitätsarsenal bewachen, das der örtlichen Armeegarnison unterstand. Unser Wachdienst dauerte regelmäßig zwei Tage und war in allen Einzelheiten militärisch organisiert: Die Unterkünfte befanden sich in einem Flügel der Universität und wurden kasernenmäßig betrieben, alle eingehenden Telefon32
anrufe mußten ins Wachbuch eingetragen und genau nach Armeevorschrift behandelt werden, und wenn es sich um Befehle handelte, dann waren sie mit peinlicher Genauigkeit zu erfüllen – es wurde uns nämlich immer wieder eingeschärft, daß der Stadtkommandant jederzeit einen Alarm auslösen konnte, nur um die Wachsamkeit des studentischen Verteidigungskorps zu erproben. Diesen Mann, von dem die Rede ist, beobachtete ich eines Tages dabei, wie er mit geradezu inbrünstiger Ergebenheit Anweisungen von der vorgesetzten Dienststelle des Universitätsarsenals entgegennahm – seine Knöchel wurden weiß, so angestrengt umklammerte er den Telefonhörer. Ich sah ihn mir noch einmal genau an, und dann hatte ich einen Plan. Als er das nächste Mal für die Dauer eines Wochenendes zum Führer der Wache bestimmt wurde, hatte ich inzwischen Stunden damit zugebracht, mir einen abgehackten, arroganten militärischen Tonfall einzuüben. Und am Ende seines ersten Wachtages rief ich ihn um Mitternacht an. Mit scharfer und keinen Widerspruch duldender Stimme gab ich mich als Offizier vom Dienst der Armeegarnison aus und verlangte, den Führer der Studentenwache direkt zu sprechen. Dann erklärte ich, immer weiter mit verstellter Stimme, daß eine Nachtübung der Armee im Gange sei und daß als ein Teil des Planes die Wacheinheit der Universität anzutreten und durch den Park zum Angriff auf das Garnisonsarsenal vorzugehen habe. Das Ganze wäre als Überraschung geplant. Die Wachen am Arsenal seien zu entwaffnen, und das Gebäude zu besetzen und zu halten, bis die Übung beendet war. Dann forderte ich ihn auf, alles noch einmal zu wiederholen, und aufgeregt sprudelte er alle meine Anordnungen hervor – ohne auch nur daran zu denken, mich nach der Tagesparole zu fragen. Die hätte ich ihm nämlich gar nicht sagen können. Eine halbe Stunde später rief ich noch einmal an, aber niemand meldete sich – die Einheit war offensichtlich schon ausgerückt, um das Arsenal zu stürmen. Am Montag erfuhren wir dann alle, was geschehen war. Genau meiner Absicht entsprechend, hatte mein Gegner mit seiner Einheit 33
das Arsenal angegriffen, und sofort hatte es für den gesamten Militärstandort Alarm gegeben. Man nahm an, daß es sich entweder um eine Meuterei handelte, um eine Konterrevolution oder vielleicht auch um eine geheime Übung vorgesetzter Dienststellen – jedenfalls wurde die Studenteneinheit prompt umzingelt und festgenommen. Ihr Führer kam unter Anklage wegen Anstiftung zum bewaffneten Aufstand. Vor dem Militärgericht beteuerte er immer wieder, er hätte auf direkten Befehl der Garnison gehandelt, und auch die Parole sei ihm ordnungsgemäß genannt worden. Es war jämmerlich, wie er sich an diese lächerliche Geschichte klammerte.
Sie wäre das einzige Mädchen in der Familie, sagte sie, aber sie hätte noch einen älteren Bruder. Er hätte sie sehr gern, sagte sie, und es gäbe kaum jemals Streit zwischen ihnen. Aber merkwürdigerweise mochte er selbst nur Jungens, aus denen sie sich ihrerseits nichts machte, und wenn sie mit jemandem zusammen war, der ihr gut gefiel, dann wurde es sehr schwierig mit ihm. Dann lief er ihr nach und gab ganz offen zu erkennen, daß er sie keinesfalls mit einem solchen Mann alleinlassen wollte. Er fing Schlägereien mit den jungen Männern an, die mit ihr tanzten, oder sie umarmen und küssen wollten. Überhaupt benahm er sich sehr oft, als ob er selbst ihr Geliebter wäre. Und doch, sagte sie, wäre sie sehr stolz auf ihn. Er sah sehr gut aus und war der beste Student seines Jahrganges. Und viele Mädchen verliebten sich in ihn. Einmal hatte sie eine Zeitlang einen Freund. Der hatte ihr gesagt, daß sie und ihr Bruder seiner Meinung nach gewissermaßen aus demselben Stoff gemacht wären. Und ein gemeinsames Wesen hätten, das ihn unwiderstehlich anzog. Ihr Bruder, so sagte er, sei ein Teil von ihr und sie ein Teil ihres Bruders. Und er fügte hinzu, daß man unweigerlich auch in Gefühlsverstrickungen mit ihrem Bruder gerate, wenn man sich in sie verliebe. Sie war zu der Einsicht gekommen, daß sie und ihr Bruder die idealen Verbündeten gegen die restliche Welt sein könnten. Sie müßten 34
nur jeder den anderen als seinen Partner wählen, sagte sie, sie müßten sich aneinanderhängen und rückhaltlos einander ausliefern. Und sie könnten das Ganze dennoch als Experiment betrachten, sagte sie weiter, denn wenn es nicht ginge, dann war die Ursache dafür leicht darin zu suchen, daß sie Bruder und Schwester waren. Aber wenn es ginge – das wäre doch so angenehm und so bequem! Sie sah nichts Unnatürliches in einer solchen Beziehung. Auf jeden Fall war ja noch ein größerer Unterschied zwischen ihr und ihrem Bruder als, zum Beispiel, zwischen zwei Frauen, die sich ineinander verlieben und dann jene Art von physischer Beziehung haben, die ihr auf der Universität so oft begegnet war. Und sie beide könnten ein Verhältnis haben wie niemand sonst. Jeder von ihnen könnte tun und sagen, was immer er wollte. Niemals könnte sie mit einem anderen Menschen so frei, so sehr sie selbst sein.
Nach meiner Rückkehr rief ich sie an, aber sie war nicht zu Hause. Endlich erreichte ich sie, und wir verabredeten uns zum Mittagessen. Sie überschüttete mich mit den üblichen Fragen: Wie die Reise gewesen sei? Was ich alles gemacht hätte? Wo ich übernachtet hätte? Mit wem ich zusammengetroffen sei? … Ich erzählte ihr alles bis ins einzelne und fragte sie anschließend, was sie in den letzten Tagen hier in der Stadt getan habe. Sie wäre in die Badeanstalt gegangen, sagte sie, um die Verabredung einzuhalten, die ich noch für sie getroffen hätte. Sie habe mit einer Masseuse gerechnet, aber dort hätte man ihr gesagt, der von mir bestellte Masseur stünde schon bereit. Ihr wäre daraufhin sehr unbehaglich gewesen, sagte sie, aber sie hätte mich nicht kompromittieren wollen, indem sie den Masseur einfach zurückwies. Warum hast du eigentlich einen Mann geschickt? Hast du einen besonderen Grund dafür gehabt? Keinen – außer den der Massage. War sie angenehm für dich? Er war sehr tüchtig. Er schien sein Geschäft sehr genau zu verstehen. 35
Also keine Beschwerden? Keine. Warum war dir dann so unbehaglich? Einiges von dem, was er tat – ich wußte nicht, wie ich es auffassen sollte. Aber du ließest es dir gefallen? Ich hatte keine andere Wahl. Sonst hätte ich einfach weggehen müssen. Bist du weggegangen? Nein. Ich bin dageblieben, die ganze Zeit. Hast du irgend etwas zu ihm gesagt? Nein – du hast seine Hände tun lassen, was immer sie wollten. So wie du jetzt redest, habe ich das Gefühl, daß du von vornherein gewußt hast, was er versuchen würde. Aber wenn das der Fall ist – warum hast du ihn dann ausgesucht? Ich wollte wissen, was du tust. Wie du dich in einer solchen Situation benimmst. Wie ich mich benehme? Meinst du nicht, es wäre für dich in deinem eigenen Interesse viel wichtiger gewesen, diesen Mann an seinem Benehmen zu hindern? Du kennst mich doch schließlich sehr gut. Ich habe den Mann absichtlich zu dir geschickt. Weil ich weiß, was er für Hände hat. Nun sag – hat es dich entspannt, irgendwie? Es waren gar nicht mehr seine Hände. Irgendwie während der Massage kam mir plötzlich der Gedanke, daß es in Wirklichkeit deine Hände wären. Ich glaube, das war es, was du wirklich wolltest.
Während wir unseren Kaffee tranken, überfiel ich sie plötzlich mit einer Frage: Ob sie jemanden Interessanten kennengelernt hätte, während ich fort war. Sie blickte mich gerade an, sagte zunächst kein Wort und schürzte nur die Lippen. Dann gab sie ohne jede Verlegenheit zu, daß sie sich öfters mit einem Mann getroffen hätte. Tatsächlich? Und was für ein Mann ist das? 36
Es läßt sich nichts über ihn sagen. Ich habe einen Teil meiner Zeit mit ihm verbracht. Deswegen war ich auch nicht zu Hause, als du anriefst. Ach so. Aber du hattest mir geschrieben, daß du über Nacht bei deinen Freunden warst. Da habe ich gelogen. Mit einem Mann hast du dich also getroffen. Wie lange? Nur zwei Wochen. Jeden Tag? Fast jeden Tag. Kanntest du ihn schon, ehe ich wegfuhr? Nein. Erst kurz nachdem du das letzte Mal angerufen hattest, als du sagtest, du wolltest mit mir zusammen leben. Ich ging zu einer Party, und jemand stellte ihn mir vor. Am nächsten Abend trafen wir uns dann, und dann am nächsten, und am nächsten, und wieder am nächsten. Und warum erzählst du mir das alles? Es wäre mir unangenehm, wenn ich es vor dir verbergen müßte. Ich möchte nicht, daß mich etwas von dir trennt, auch nicht eine Erfahrung, von der du nichts weißt. Verstehst du, nachdem du vorgeschlagen hattest, daß wir zusammen leben sollten, mußte ich erst herausfinden, ob ich mich noch für jemand anderen interessieren konnte. Und ob ein anderer Mensch so viel in mir sehen könnte wie du. Ich spürte einfach die Verpflichtung, mich selbst besser kennenzulernen – über den Teil meines eigenen Ich hinaus, den du mir gezeigt hast. Ich fürchtete, daß ich vielleicht nur deswegen so stark an dich gebunden sein könnte, weil du mich so sehr beeinflußt hast. Und als du wegfuhrst, hatte ich das Gefühl, daß in meinem Innern irgendwo ein Richter, ja – ein ganzes Gericht säße, vor dem ich mich verantworten müßte, vor dem ich mich zu rechtfertigen hätte, warum ich gerade dich als den Mann ausgesucht habe, mit dem ich leben will. Und überhaupt, ob ich Liebe nehmen und geben kann, und was für welche. Um herauszufinden, ob du mich wirklich liebst, mußtest du also mit einem anderen Mann schlafen. Ich habe nicht mit ihm geschlafen. 37
Aber wenn du doch herausfinden wolltest, was du ohne mich für ein Mensch bist – warum bist du dann davor zurückgeschreckt, es darauf ankommen zu lassen? Ich bin nicht zurückgeschreckt. Es ist einfach nie so weit gekommen. Er hat mir gesagt, daß er mich liebt, und daß er mich heiraten will. Vielleicht wollte er mich nicht bitten, mit ihm zu schlafen, aus Angst, daß ich ihn deinetwegen zurückweise. Denn ich habe ihm von dir erzählt, weißt du, und von allem, was zwischen uns war. Aber du bist doch so viel mit ihm zusammengewesen. Er muß dich geküßt haben. Und du hast ihn angefaßt. Ja. Und seine Zunge war in deinem Mund, und er hat deinen Körper gestreichelt. Sag mir – wärest du mit ihm ins Bett gegangen, wenn er dich wirklich gebeten hätte? Ich war dazu bereit. Und was fällt dieser Richter oder dieses Gericht in deinem Inneren nun für ein Urteil? Das Urteil lautet, daß ich trotz allem unabhängige Entschlüsse fassen kann, und daß ich lieber bei dir bleiben möchte. Und was ist mit ihm? Ich habe ihm gesagt, daß ich dich nicht verlassen würde. Ich habe ihn gern – er ist ein guter Mann. Aber mit ihm wäre es ein ganz anderes Leben. Ich weiß, daß ich dein und mein Leben zusammen lieber möchte. Ich habe mich für den Teil von mir entschieden, der dich will – mehr will als das, was im Zusammenleben mit dem anderen aus mir werden könnte. Und was am wichtigsten ist: Ich weiß, daß ich ganz allein diese Entscheidung getroffen habe.
Übrigens – ich habe dir etwas verschwiegen. Was denn? Ganz einfach – nun, eigentlich nicht so ganz einfach: Vor ein paar Wochen habe ich mich mit dem Geschäftsführer der Detektivagentur unterhalten, die für meine Firma Auskünfte einholt und Kunden überwacht. 38
Ich habe ihn gefragt, wie das ist, wenn man Leute beobachtet, und wie man dabei vorgeht. Muß man so eine Überwachung wirklich ernst nehmen, oder handelt es sich dabei nur um eine Art von Hintertreppentheater, wie in einem schlechten Roman? Der Geschäftsführer bot mir an, das selbst auszuprobieren, und ich war einverstanden. Er ließ mich durch seine Leute überwachen und hatte damit gleichzeitig die Möglichkeit, die Tüchtigkeit seiner Angestellten zu kontrollieren, indem er nämlich ihre Berichte über mich mit mir zusammen durchging. Die Ergebnisse befriedigten uns alle beide: Jedes meiner Zusammentreffen mit dir – Ort, Zeit, Dauer – war genau aufgeführt. Und als ich dann wegfuhr, lief die Überwachung immer noch weiter – mit dir als Objekt. Und sie war wirklich gründlich. Keine Verabredung, die du mit diesem Mann gehabt hast, wurde übersehen. Und dennoch willst du immer noch abstreiten, daß du mit ihm geschlafen hast, daß ihr die Nächte miteinander verbracht habt. Wenn ich einmal eine Nacht in seiner Wohnung gewesen bin, dann bedeutet das ja noch nicht, daß ich mit ihm geschlafen habe. Aber es war eine ganze Reihe von Nächten, und da geht man doch nicht zu weit in der Annahme, daß er dich eben doch geliebt hat, oder – wenn du das vorziehst – daß du dich ihm hingegeben hast? Gut – das will ich nicht abstreiten. Aber die Handlung allein bedeutet ja überhaupt nichts, wenn sie nicht von einem gewissen Gefühl und einer bestimmten inneren Einstellung verursacht wird. Mit Liebe hat das nichts zu tun. Aber ich mußte ganz sicher sein, weil ich mich ja selbst kennenlernen wollte, ob nicht vielleicht Liebe daraus werden würde. Du sprichst von deinen Bettgeschichten mit ihm, als hätte es sich dabei um eine Art von vorgeplantem Programm gehandelt. Nein, das stimmt nicht – gern haben mußte ich ihn schon dazu. Ach – ich wußte bis jetzt gar nicht, daß ihr euch gern hattet. Nun verstehe ich. Ihr wolltet also beide, und dann kam die übliche Wärme und kamen die üblichen intimen Zärtlichkeiten, und dann wartete jeder ungeduldig darauf, daß der andere kommt … Ja, aber planen ließ sich das nicht. Ich hatte ihn gern, das kam einfach so. Und weil es so spontan war, war es auch eine gute Prüfung: Ich bekam Antwort auf die Fragen, die ich mir selbst gestellt hatte. 39
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ch hatte den ersten Preis bei einem Fotowettbewerb gewonnen, der von einer gemeinnützigen Gesellschaft zur Unterstützung der Alten und Kranken veranstaltet war, und gleichzeitig damit den Auftrag erhalten, für diese Gesellschaft eine Sammlung von Porträts anzufertigen. Die Ruhe und der Frieden des Alters sollten auf diesen Fotografien dargestellt werden. Sechzig Bilder sollte die geplante Mappe enthalten, aber ich hatte große Schwierigkeiten, geeignete Modelle zu finden. In der Stadt gab es nur noch sehr wenige alte Leute, denn die Regierung hatte draußen auf dem Lande Heime für sie eingerichtet. Um das nächstgelegene dieser Heime zu erreichen, mußte ich eine mühselige Reise auf mich nehmen, beladen mit Fotolampen, Filmen, Kabeltrommeln, Transformatoren und Kameras. Auch eine transportable Dunkelkammer nahm ich mit, um gleich an Ort und Stelle die Ergebnisse meiner Arbeit begutachten zu können. Nach meiner Ankunft führte mich der Direktor des Heimes durch das Haus. Es handelte sich um ein riesengroßes, altes Herrschaftshaus, das man in Dutzende einzelner Abteilungen mit jeweils acht Betten aufgeteilt hatte. Die Patienten hier waren alles alte Leute, und der größte Teil von ihnen war dazu noch krank, verkrüppelt oder senil. Es wurde mir sofort klar, daß meine Aufgabe weit schwieriger werden würde, als ich gedacht hatte. Die alten Leute drängten sich um mich, stießen mich, zerrten an mir herum, spuckten mich an und stießen Flüche gegen mich aus, und manche beschmierten mich auch mit ihrem eigenen Kot. Die einzelnen Abteilungen mit ihren nicht abgeteilten Toiletten waren dunkel und schlecht gelüftet. Überall herrschte ein überwältigender Ge41
stank nach Schweiß und Urin, gegen den sich kein Desinfektionsmittel durchsetzen konnte. Am nächsten Tag kam ich wieder, mit Kameras, Lampen und allem Gerät. Einige der Insassen, die ich ausgewählt hatte, weigerten sich, vor der Kamera stillzusitzen, und behaupteten, daß ihnen die Lampen zu grell seien. Andere drängten sich zuhauf vor der Linse, boten ihre verrunzelten, schlaffen Körper dar, zitterten und sabberten, verzerrten ihre Lippen und grinsten mit eingeschrumpften, zahnlosen Gaumen. Wieder andere versuchten, die Kabel zu zerschneiden, die von den Steckkontakten in der Wand zu den Scheinwerfern liefen, sie trampelten auf meinen Geräten herum, traten gegen das Stativ oder zerrten mit exkrementbeschmierten Händen an meinen Ärmeln. Ich konnte kein einziges brauchbares Bild machen, und eine meiner Kameras wurde zerbrochen. Auf dem Rückweg zu meiner Unterkunft ging ich in meiner Verzweiflung zum Büro des Direktors. Während ich wartete, kam eine Krankenschwester ins Zimmer. Durstig trank sie ein Glas Wasser, ließ sich müde in einen Stuhl fallen und ignorierte mich völlig, obwohl ich sie die ganze Zeit anstarrte. Ich spürte den Drang, ihr Gesicht und ihre Haare zu berühren, an ihrer Haut zu riechen – es war mir gleich, ob sie hübsch war oder nicht, es genügte völlig, daß sie sauber und gesund war. Ich sehnte mich verzweifelt danach, mir selbst zu bestätigen, daß mich mit den Insassen dieses Heimes nichts verband. Wenn mir diese Schwester helfen würde, dann konnte ich meine Arbeit erfolgreich abschließen – das wußte ich. Plötzlich bemerkte sie meine Anwesenheit und fragte mich, ob ich vielleicht einen Verwandten besuchen wolle. Als ich ihr von meinen Plänen erzählte, erklärte sie sich zögernd bereit, mir zu helfen, wenn der Direktor einverstanden wäre. Der Direktor war willens, sie mir für die nächsten Tage als Hilfe zuzuweisen, und fügte hinzu, daß sie eine Studentin der Psychologie wäre. Ihr Interessengebiet waren die psychologischen Probleme der Alten und der geistig Zurückgebliebenen, mit denen sie sich so intensiv beschäftigte, daß sie freiwillig noch ein weiteres praktisches Jahr absolvieren wollte, ehe sie ihr Examen machte. Sie war schon fast drei Jahre in diesem Heim und bekleidete inzwi42
schen den Posten der Oberschwester. Wie der Direktor sagte, ging sie in ihrer Arbeit mit den Patienten geradezu auf. Früh am nächsten Morgen begannen wir, Bilder zu machen. Immer noch war es so, daß allein schon unsere Anwesenheit in den Abteilungen alle möglichen Schwierigkeiten verursachte. Viele der männlichen Patienten versuchten, mit einladenden Gesten die Aufmerksamkeit der Schwester zu erregen. Die Frauen andererseits gaben sich alle Mühe, sie mit beleidigenden Bemerkungen zu verwirren. Das wäre kaum anders zu erwarten, sagte sie zu mir. Wann immer irgendwelche Unterbrechungen in meiner Arbeit eintraten, ging ich zu ihr hin, legte meinen Arm auf ihre Schulter oder strich mit der Hand über ihr Haar, während ich mich gleichzeitig bückte, um eine Linse aus dem Gerätekoffer zu nehmen. Sie zeigte durch nichts an, daß ihr das etwa unangenehm wäre. Und so berührte ich sie jedes Mal, wenn ich eine Gelegenheit dazu hatte. Außer meiner Arbeit im Heim hatte ich keinerlei Abwechslung: Das Dorf war klein, und die nächste Stadt lag sechzig Kilometer entfernt. Es gab kein Kino, kein Theater und kein Restaurant. Meine Mitarbeiterin hatte offensichtlich auch keine Freunde hier. Die meisten anderen Personalangehörigen waren älter, waren entweder verheiratet oder, von ihrem Standpunkt aus, kein passender Umgang. Einmal erwähnte sie einen Freund, der bei der Marine war und dem sie regelmäßig schrieb. Sie war ein verschlossener Mensch und sagte niemals, warum sie so lange hier in der Anstalt geblieben und noch nicht an die Universität zurückgegangen war, um ihr Studium abzuschließen. Ihr Leben wäre ihre eigene Sache, meinte sie. Sonst nichts. Ihr Gleichmut machte mich nervös. Ich begann, mich darüber zu ärgern, daß meine Anwesenheit ihr so völlig einerlei zu sein schien, und daß sie jahrelang in einer Umgebung leben konnte, die ich schon nach ein paar Tagen unerträglich fand. Vielleicht war in ihren Augen gar nichts anderes oder Ungewöhnliches an mir, vielleicht sah sie mich genauso wie ihre Patienten, nur daß ich noch ein bißchen jünger, etwas weniger hinfällig war als die anderen. 43
Mir begannen gewisse Dinge aufzufallen, in denen ich den Heiminsassen zu gleichen schien. Auch konnte ich mich der Erkenntnis nicht verschließen, daß ich eines Tages überhaupt so werden würde wie sie, daß die Macht, die diese alten Leute auf das reduziert hatte, was sie nun waren, auch mich eines Tages zu ihrem Gefangenen machen würde: Ich sah die Kranken, in ihrer endlosen Qual, herumkriechen wie Krebse mit gebrochenen Scheren. Ich beobachtete bei meiner Arbeit in den Abteilungen die Sterbenden, die mit wäßrigen Augen und hohlen Wangen, mit von Krankheit ausgezehrten Körpern apathisch auf den Betten lagen. Dumpf starrten sie auf verblichene Heiligenbilder oder wurmstichige Kruzifixe. Manche hielten Bilder ihrer Kinder in den verkrampften Händen. In solchen Augenblicken wandte ich mich ab und starrte lange und unverwandt auf das Mädchen. Und so sehr hatte ich dabei die Illusion, sie zu besitzen, daß ich inmitten des gewöhnlichsten Durcheinanders die höchsten Verzückungen erlebte. Es war immer das gleiche: Sie half mir, meine Apparate zusammenzuräumen und bis zum nächsten Tag unterzustellen – dann ging sie fort. Eines Nachmittags jedoch verließ ich nach ihr die Abteilung und ging hinunter in den Keller. Ich wußte, daß sie dort war. Der Keller war feucht und kalt. Ich stand im Dunkeln. Sie rief meinen Namen, und ich bewegte mich auf ihre Stimme zu. Meine Hände berührten die Schwesterntracht, und ich kniete vor ihr nieder, hob den Rock. Das gestärkte Gewebe knisterte. Darunter war sie nackt. Ich preßte mein Gesicht in sie hinein, und in meinem Körper pulsierte dieselbe Kraft, durch die sich Bäume aufrecken und aus kleinen, eingeschrumpften Knospen leuchtende Blüten treiben. Ich war jung. Eines Abends beschloß ich, sie mit einem Besuch zu überraschen. Ich ging in ihr Zimmer, aber ihre Mitbewohnerin sagte mir, daß sie oben im vierten Stock wäre. Erst als ich das Zimmer schon wieder verlassen hatte, fiel mir ein, daß ich noch niemals da oben gewesen war. Der vierte Stock wurde hauptsächlich als Abstellraum benutzt. Es war ganz still, als ich die Treppe erreichte. Vorsichtig, alle Sinne gespannt, 44
kletterte ich die Stufen hinauf. Oben stand ich in einem kleinen Vorraum vor einer eisenbeschlagenen Tür, die in einen engen, fensterlosen Korridor führte. Es war stockdunkel. Einen Augenblick lang tastete ich mit den Händen nach rechts und links. Auf beiden Seiten des Ganges befanden sich Gitter, aber sie waren unbeweglich und abgeschlossen. Dann bemerkte ich einen schwachen Lichtschimmer, der unter einer Tür am anderen Ende des Flurs hervordrang. Ehe ich sie noch erreichte, hörte ich auch die Stimme des Mädchens. Ich machte ein paar Schritte vorwärts, stolperte über einen kleinen Sandsack und fiel mit voller Wucht gegen die Tür. Ehe ich mich noch am Türrahmen festhalten konnte, stand ich schon mitten im Zimmer. Sie lag nackt auf dem Bett, fast begraben unter dem zottelpelzigen Körper eines Wesens mit menschlichem Kopf, pfotenartigen Händen und dem gedrungenen, breiten Brustkasten eines Affen. Mein plötzlicher, stolpernder Eintritt hatte die beiden erschreckt: Das Wesen wandte mir seinen Kopf zu, seine kleinen braunen Augen glitzerten bösartig. Dann sprang es mit einem einzigen Satz in seinen Korb in der Ecke und begann, sich unter Winseln und Jaulen in den Decken zu vergraben. Das Mädchen warf sich jäh nach vorn und schloß die Schenkel, als wolle sie sich vor etwas schützen. Ihre zitternden Hände fuhren auf dem Bett herum wie die Krallen eines sterbenden Huhns, griffen nach dem Kleid und zogen es über den Bauch. Einen Augenblick lang glaubte ich, daß sie sich in der Wand verkriechen würde oder in einer Ritze des Fußbodens. Ihre Augen waren starr ins Leere gerichtet. Ein zerbrochener Laut flatterte von ihren Lippen, aber es gelang ihr nicht, ein Wort daraus zu formen. Ich starrte auf das Wesen in dem Korb und erkannte, daß es menschlich war. Im Abwenden löschte ich das Licht. So schnell ich konnte, lief ich zurück zu meiner Behausung im Dorf und füllte die Badewanne. Dann saß ich im warmen Wasser, lehnte mich zurück, und das gleichmäßige Tropfen des Messinghahnes war das einzige Geräusch in der Stille.
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Ich kann dich heute nicht lieben. Warum bestehst du darauf? Ich will dich haben, wenn du gerade menstruierst. Es ist, als ob ein Teil von mir in dir gefangen ist, als ob dein Blut auch meines wäre, als ob es aus einer Ader pulst, die uns beiden gehört. Und was spürst du? Ich fühle, wie mein Blut unsere Leiber befleckt, als hätte deine harte Steifheit mich bluten gemacht, als hättest du mich geschunden und verschlungen, und ich wäre ganz leer …
Ich unterhielt mich mit dem Mädchen unter den dunklen Büschen des Parks, als uns vier Männer den Weg versperrten. Wir bogen rasch vom Pfad ab, aber da hörten wir auch hinter uns Schritte im Gebüsch knacken. Rufe flogen hin und her, und es wurde uns klar, daß die unsichtbaren Männer hinter uns mit denen vorne auf dem Weg gemeinsame Sache machten. Ich war sicher, daß wir überfallen und ausgeraubt würden, wenn es uns nicht gelang, rasch in die Nähe anderer Spaziergänger zu kommen oder einen Platz zu finden, an dem wir uns verstecken konnten. Ich wußte, wo wir uns im Augenblick befanden: Ein Stück weiter vorne floß ein Bach, an dessen Ufer ein verlassener Pavillon stand, der früher ein beliebter Treffpunkt für Liebespaare gewesen war. Wir duckten uns und suchten einen Weg zwischen den stachligen Zwergkiefern, die Hände vorm Gesicht, um uns vor ihren scharfen Nadeln zu schützen. Eine Weile lang glaubte ich, daß wir unseren Verfolgern entkommen wären – aber dann hörten wir plötzlich wieder ihre Stimmen. Sie waren nur ein paar Augenblicke am Rande des Nadelgehölzes stehengeblieben. Wir erreichten den Pavillon und krochen in den engen Raum zwischen seinen Grundmauern und einem Stapel unbenutzter Parkbänke. Aber die Verfolger brachen durch das Gehölz und hatten uns schon gefunden. Sofort packten uns ein Dutzend Hände, zerrten uns auf die Füße. Das Mädchen stieß einen verzweifelten Schrei aus; ich wandte mich um – aber im selben Augenblick traf mich ein betäubender Schlag. 46
Als ich wieder zu mir kam, sah ich, wie die Männer dem Mädchen die Kleider herunterrissen. Sie wehrte sich, trat und biß. Ich nahm alle meine Kräfte zusammen, und fast gelang es mir, auf die Füße zu kommen, aber die Männer drückten meinen Kopf wieder auf den Boden. Ich blickte hinüber zu dem Mädchen: Mit Gewalt hatte man sie auf den Rücken gelegt, ihre Beine fuhren in der Luft herum, dann wurden sie gepackt, gespreizt und seitlich gestreckt festgehalten – wie Ruder, ehe man sie in die Strömung taucht. Dann fielen die Männer über sie her, ihre Hosen schlotterten herabgefallen um ihre Knöchel, die Jacken hatten sie auf den nächsten Busch gehängt. Sie wechselten sich ab. Wer gerade nicht an der Reihe war, beleuchtete mit der Taschenlampe den sich windenden Körper. Dann machten sich mehrere zu gleicher Zeit ans Werk, beugten sich über das Mädchen, packten und kneteten ihr Fleisch, klemmten ihren Kopf zwischen die Schenkel. Sie schrie nicht mehr. Ich konnte nur noch ihr abgerissenes Keuchen hören, und dazwischen manchmal ein Schluchzen. Dann übergab sie sich und war ganz still. Als die Männer schließlich fertig mit ihr waren, ließen sie auch mich los und rannten davon. Sie lachten, riefen einander schmutzige Worte zu, und ihre Stimmen erstarben schließlich zwischen den Bäumen, den dunklen Pfaden und Alleen. Mir gelang es endlich, mich aufzuraffen, und ich stellte fest, daß meine einzigen Verletzungen ein dröhnender Schädel und ein stechender Schmerz beim Atmen waren. Ich näherte mich meiner Freundin, hob die Fetzen ihrer Kleidungsstücke auf, half ihr auf eine Bank am Bachufer. Sie sank zitternd in sich zusammen, ihr Atem ging heiß und säuerlich. Sie strich mit den Händen über ihren Körper, fuhr mit den Fingern über die Kratzer und Quetschungen, die man ihr beigebracht hatte. Ich zündete ein Streichholz an, sah einen Moment lang ihr verstörtes Gesicht, die blauen Flecken an ihrem Körper, die Blutrinnsale auf ihren Hüften und Schenkeln. Langsam schleppten wir uns am Ufer des Baches entlang, bis wir wieder offenes Gelände und den Ausgang des Parks erreichten. Dort bogen wir in eine schwach beleuchtete Straße. Ein Polizist überholte uns auf dem Fahrrad, hielt an. Meine Freundin flüsterte hastig, ich 47
sollte nichts sagen, zog ihr zerrissenes Kleid zusammen und drückte sich in den Schatten am Rande des Weges. Der Schutzmann erklärte uns, daß der Park von Einbruch der Dämmerung ab geschlossen sei, und daß wir uns strafbar machten, wenn wir uns um diese Zeit hier aufhielten. Wir gingen weiter, und ich spürte eine steigende Unruhe in mir, denn mir wurde klar, daß das Mädchen darauf rechnete, die Nacht über bei mir zu bleiben. Ich überlegte, ob sie wohl in Zukunft anders sein würde, wenn ich mit ihr schlief. Natürlich bedauerte ich sehr, was ihr geschehen war – aber gleichzeitig stieg auch ein Gefühl des Widerwillens in mir auf. Ich sah sie immer noch vor mir, wie sie da auf der feuchten Erde ausgestreckt lag, die Beine gespreizt, und wie ihr Leib von anderen erforscht und beschmutzt wurde. Und ich konnte an sie nur noch als an einen Körper denken, den man zur Liebe benutzt. Frühmorgens am nächsten Tage ging sie in die Klinik, um sich untersuchen zu lassen. Ich hoffte, daß sie sich bald ganz erholen würde, damit wir uns wieder lieben konnten. Immer wieder sagte ich mir, daß ich nun besonders sanft und zärtlich zu ihr sein müsse – aber gleichzeitig widerstrebte mir dieser Gedanke. Mir fiel eine Tänzerin ein, die ich einmal gesehen und deren Können und Grazie ich bewundert hatte. Als ich aber hörte, daß sie schwanger war, konnte ich mich der Vorstellung nicht erwehren, wie ihr ungeborenes Kind bei jedem Sprung, den sie machte, in ihrem Leib umhergeworfen wurde … Das Mädchen blieb zwei Tage in der Klinik, und als sie dann entlassen wurde, kam sie direkt zu mir. Sie zog sich aus, um mir zu zeigen, daß die Verletzungen schon beinahe nicht mehr zu sehen waren, und dann duschte sie, während ich das Bett aufschlug. Ich hatte Angst, daß sie meinen Widerwillen bemerken könnte, und deswegen nahm ich sie sofort, noch ehe sie ganz bereit war. Sie stöhnte, nahm sich dann wieder zusammen und bat mich, alles zu tun, was wir schon so oft miteinander getan hatten – aber das waren Dinge, zu denen ich mich jetzt mit ihr nicht überwinden konnte. Hinterher fragte sie mich, warum ich so gewalttätig gewesen wäre, und ich sagte ihr die Wahrheit. Unsere Beziehung zueinander hatte sich verändert. 48
Ihre Stimmungen wechselten krampfhaft: Einmal war sie nachdenklich und ruhig, und dann plötzlich wieder überschäumend lebhaft und nervös-aufgeregt. Immer und immer wieder versicherte sie mir dann, die Ärzte hätten gesagt, daß alles völlig in Ordnung sei bei ihr. Dabei benutzte sie ständig den Satz ›als ob nichts geschehen wäre‹ – und versuchte damit mühsam, die Vergewaltigung einfach auszulöschen – die Vergewaltigung, während der sie, und darauf bestand sie hartnäckig, völlig taub und gefühllos gewesen sei. In meinen Träumen sah ich sie aus einer Muschelschale aufsteigen, zuckend und bebend kroch sie immer näher an mich heran, berührte mich schließlich. Und plötzlich war jeder von uns Mann und Frau zur gleichen Zeit, wir suchten und fanden aneinander die Körperöffnungen des anderen, bäumten uns auf, Rücken an Rücken, rissen uns gegenseitig Wunden mit unseren Gliedern, stürzten zu Boden und verströmten unser Blut in jähen Orgasmen. Immer stärker reizte ihr Körper meine Neugierde. Unvermittelt und rücksichtslos stellte ich alle möglichen Versuche mit ihr an, erregte ihr Lustgefühl, erkundete ihre Reaktion und tat ihr Gewalt an trotz aller Bitten und Proteste. Sie wurde für mich zu einem Gegenstand, über den ich Macht ausüben oder den ich mit anderen Gegenständen paaren konnte. Ich zögerte nicht, sie mit künstlichen Mitteln zu erregen oder im Zustand der Erregung zu halten. Sie brachte mein verändertes Benehmen mit der Vergewaltigung in Verbindung und fragte mich immer wieder, ob ich sie jetzt haßte, oder auch mich selbst, und ob ich sie oder mich bestrafen wolle für das, was geschehen war. Und sie überlegte, ob meine neue, gewalttätige Leidenschaft vielleicht meine Liebe für sie in anderem Gewande wäre – meine Liebe, die zu zeigen ich mich jetzt schämte, wie sie behauptete. Eines Abends sprach sie von einer ihrer Nachbarinnen, einem Mädchen, das sich von ihr angezogen fühlte und schon abermals versucht hatte, sich ihr körperlich zu nähern. Ich befahl ihr, dieses Mädchen einzuladen, an unseren Liebesspielen teilzunehmen. Ich erklärte, daß mich diese Nachbarin als Frau überhaupt nicht interessiere, sondern nur als eine Art von Gegenstand, mit dem ich sie – und 49
damit mich selbst – noch stärker erregen könnte als bisher. Zu meiner Überraschung leistete sie keinerlei Widerstand und rief das Mädchen an. Ein paar Tage später erschienen sie zusammen bei mir. Ich sah, daß die Nachbarin ein Köfferchen mit Übernachtungsutensilien bei sich trug. Ohne Umschweife erklärte ich ihr, daß sie meine Freundin auf jede Art erregen könne, die ihr nur einfiele – daß ich mich aber einmischen würde, wann immer ich Lust dazu hatte. Ich wies sie darauf hin, daß ich die Zärtlichkeiten zwischen ihr und meiner Freundin nur erlaubte, um meinen eigenen Gelüsten zu dienen, und daß sie sich danach richten müsse. Sie war bereit, das Wochenende mit uns zu verbringen. In den folgenden Wochen begann meine Freundin zu trinken, und ich beschloß, sie nicht davon abzuhalten: Der Alkohol machte sie zu einem noch empfindsameren Objekt. Ihre Passivität reizte mich jetzt zu ununterbrochener Beschäftigung mit ihr. Einer meiner Freunde plante eine Party für seine männlichen Kollegen. Der Abend kam, und das Mädchen begann zu trinken. Offensichtlich ärgerte sie sich darüber, daß ich ohne sie ausgehen wollte. Schließlich bot ich ihr an, sie mitzunehmen. Die Party war schon im Gange, als wir ankamen. Das Mädchen stieß ohne Zögern mit allen Gästen an. Ich bemerkte die Ungehemmtheit, mit der sie alle meine Freunde umarmte, und hörte ihre herausfordernden Bemerkungen, mit denen sie sich geradezu anbot. Mir wurde klar, daß das Ganze bald sehr peinlich für mich werden mußte. Ich hatte mit einem Mal das Gefühl, als ob ich in einer Falle säße. Im Laufe der nächsten halben Stunde nahm ich jeden einzelnen der Männer beiseite und flüsterte ihm ins Ohr, daß das Mädchen mein Gastgeschenk für alle Anwesenden sei, und wenn sie es richtig anstellten, dann könnte jeder von ihnen auf seine Kosten kommen. Die Erregung stieg: Das Mädchen versammelte die lautesten und ungehemmtesten Gäste um sich. Ein allgemeines Gelächter brach plötzlich aus, ich sah, wie sie aufgehoben wurde, ihr Kleid rutschte hoch, ihre Beine klammerten sich um den Hals des Mannes, auf dessen 50
Schultern sie saß und an dessen Kopf sie sich festhielt. Ich beobachtete, wie ein Dutzend Hände an ihren Schenkeln hochfuhren, ihren Bauch betasteten und nach ihren Brüsten griffen. Sie schrie plötzlich laut auf. Die Perlenkette, die ich ihr einst geschenkt hatte, zerriß, und die winzigen, funkelnden Kügelchen sprühten wie Saatkörner herab, verschwanden augenblicklich in dem wogenden, quirlenden Strom aus Menschenleibern, der sie nun in Richtung auf das Schlafzimmer davontrug. Ich verließ das Haus.
Die Mädchen, die da so sorgfältig hergerichtet hinter den Fenstern sitzen – das sind Prostituierte, nicht wahr? Ja. In anderen Gegenden gehen die Prostituierten auf der Straße auf und ab und nehmen sich bei Bedarf Hotelzimmer. Aber hier haben sie alle ihre eigenen Wohnungen. Die Wohnungen gehören den Mädchen nicht, sie mieten sie nur. Oft benutzen zwei oder drei von ihnen dieselbe, abwechselnd tags oder nachts. Macht ihnen ihre Arbeit so mehr Spaß? Ja, denn es gefällt auch den Männern besser, die sich von der Roheit der Straßenprostitution abgestoßen fühlen, und davon, daß sie sonst die Mädchen in aller Öffentlichkeit ansprechen und mit ihnen unter den Augen vieler Leute zu einem Hotel gehen müssen. Die Frauen hier hinter den Fenstern aber versprechen etwas anderes: Ihre Wohnungen bedeuten Abgeschlossenheit und Behaglichkeit – Türen können verschlossen, Vorhänge zugezogen werden. Ein Mann kann sich hier fast als Gast fühlen, und das Mädchen ist seine Gastgeberin. Er kommt, um auszuspannen, und als hatte er keine besondere Absicht. So erscheint alles viel natürlicher, was dann geschieht. Bist du eigentlich schon einmal bei einer Prostituierten gewesen? Ja. Bevor du mich kennengelernt hast – oder danach? Darauf kommt es wohl nicht an. 51
Aber warum würdest du überhaupt eine Prostituierte wollen? Was kann sie denn, was ich nicht auch kann? Ist sie williger? Ich tue Sachen mit ihr, die du unannehmbar finden würdest. Und woher weißt du das? Weil du mich nur auf eine bestimmte Art kennst. Und weil unsere Beziehung darauf gegründet ist, daß du mich als den akzeptiert hast, der ich dir gegenüber gewesen bin. Dann ist also derjenige, von dem ich annehme, daß du es bist, in Wirklichkeit nur eine Seite von dir. Auch du zeigst mir nur die Seite deines Ich, von der du annimmst, daß sie mir am besten gefällt. Bis jetzt hat keiner von uns beiden dem anderen etwas von sich selbst gezeigt, was dem widerspräche, was wir von vornherein voneinander angenommen haben. Wenn du bei einer Prostituierten bist – dann ist alles, was sie sagt oder tut, doch nur Verstellung. Dein Geld will sie, und nicht dich. Geld erweitert meine Potenz. Ohne Geld könnte ich nicht sein, was ich bin. Ich könnte mich nicht mit dir treffen, wo und wie ich es jetzt kann. Ich könnte nicht so leben wie jetzt, und ich könnte mir auch die Erfahrungen nicht leisten, deren ich bedarf. Aber trotzdem – was eine Prostituierte mit dir tut, das tut sie doch auch mit anderen, nicht wahr? Macht dich das nicht eifersüchtig? Es berührt mich überhaupt nicht: Das Wissen, daß andere Männer sie auch haben, ist in ihrem Fall keineswegs beunruhigend. Denn es sind so viele, die sie besitzen, daß sie gar nicht zu Rivalen werden. Im Gegenteil, man fühlt sich ihnen sogar irgendwie verbunden – denn daß man die richtige Prostituierte ausgewählt hat, wird durch die Zahl derer bestätigt, die sie vorher gehabt haben. Und da kein Mann von ihrem Besitz ausgeschlossen ist, erscheint sie nicht so sehr als Frau, sondern eher als eine Begierde, die alle Männer miteinander teilen. Aber wenn du von ihr weggegangen bist, dann weiß sie nicht einmal mehr, daß du überhaupt existierst. Wenn ich von ihr weggehe, dann geht das Bewußtsein dessen, was geschehen ist, mit mir fort: Dieses Bewußtsein ist mein, es gehört mir, nicht ihr. 52
Ich fand ihn anziehend und charmant. Er sprach mit Akzent – ich glaube, er ist Ausländer. Das stimmt. Vor ein paar Jahren kam er ins Land. Aber er bleibt jetzt hier, für immer. Kennst du ihn gut? Ja. Was tut er? Er ist Architekt. Er entwirft funktionelle Gebäude, solche, bei denen der Stil nur sekundär ist: Krankenhäuser, Schulen, Gefängnisse, Beerdigungsanstalten, Tierkliniken. Beerdigungsanstalten? Natürlich. Die müssen ja schließlich auch gebaut werden, nicht wahr, genau wie Entbindungskliniken. Aber das ist so ungewöhnlich. Eigentlich nicht. Er hat mir einmal erzählt, daß er in den späten Dreißigerjahren, kurz nachdem er von der Universität kam, für ein Architekturbüro arbeitete. Und sein erster Auftrag war, die Pläne für ein Konzentrationslager zu entwerfen. Er hat sich geweigert! Nein, das hat er nicht. Obwohl es natürlich eine schwierige Aufgabe war, weil es so wenig Vorbilder gab. Aber das machte es nur noch interessanter. Er hat mir erzählt, daß zu jener Zeit viele Architekten miteinander im Wettstreit um Regierungsprojekte standen. Natürlich, wenn eine Schule oder ein Krankenhaus oder sogar ein Gefängnis entworfen werden mußte, dann fiel es ihm und seinen Kollegen nicht besonders schwer, sich selbst in dem jeweiligen Gebäude zu sehen. Aber bei einem Konzentrationslager war das ganz anders: Man brauchte ungewöhnliche Vorstellungskraft. Und doch steckte da etwas von einer Schule drin, auch von einem Krankenhaus, von den Warteräumen in Amtsgebäuden und etwas auch von einer Beerdigungsanstalt – nur daß die Abteilung zur Beseitigung der Leichen viel leistungsfähiger sein mußte als gewöhnlich. Über allem stand das Gebot der Funktionsentsprechung, das war das Grundprinzip. Er hatte die Umgebung auf das sorgfältigste in seine Planung einbezogen: Ein Lagertyp für hügeliges Land, und einer für 53
baumlose Steppe. Und da an Geld und Land kein Mangel war, wurden die Entwürfe meines Freundes ohne Verzug angenommen. Das Ganze war jedenfalls nur ein Projekt, und man konnte es von vielen Seiten betrachten: Bei einer Entbindungsklinik, zum Beispiel, kommen mehr Menschen heraus, als hineingegangen sind. Bei einem Konzentrationslager ist es umgekehrt. Sein Hauptzweck ist Hygiene. Hygiene? Was meinst du damit? Hast du schon einmal gesehen, wie Ratten vertilgt werden? Oder besser gesagt – magst du Tiere? Natürlich. Nun, auch Ratten sind Tiere. Aber doch nicht wirklich. Ich meine – sie sind keine Haustiere. Sie sind gefährlich, und deshalb müssen sie vertilgt werden. Sehr richtig: Sie müssen vertilgt werden. Das ist eine Frage der Hygiene. Die Ratten müssen verschwinden. Wir rotten sie aus, aber das hat nichts mit unserer Einstellung gegenüber Katzen, Hunden oder irgendwelchen anderen Tieren zu tun. Ratten werden nicht ermordet – wir lassen sie einfach verschwinden. Oder, um ein besseres Wort zu benutzen – sie werden vertilgt. Und dieser Akt der Vertilgung ist völlig wertfrei. Kein Ritual ist mit ihm verbunden und keine Symbolik. Das gute Recht des Henkers wird keinen Moment lang angezweifelt. Und das ist der Grund, warum die Opfer in den von meinem Freund entworfenen Konzentrationslagern niemals Individuen sein konnten. Sie waren so gesichtslos wie Ratten. Und sie waren nur dazu da, getötet zu werden.
Ich ging den Fluß entlang zum Haus meines Freundes. Seit Jahren hatten wir uns nicht mehr gesehen, und ich hatte nur durch Zufall erfahren, daß er hier in der Stadt lebte. Vor mir drängten sich ein paar Gebäude zusammen und bildeten eine Art von Platz. Andere waren verstreut, standen entlang der Kanäle und Eisenbahngleise. Unterhalb des Hauses, in dem mein Freund wohnte, erstreckte sich ein Friedhof am Fluß. Ich ging auf diesen Friedhof zu, denn von dort aus konnte ich 54
meinen Freund sehen, wenn er nach Hause kam. Schon spürte ich Vernachlässigung und Vergessen, die über den Gräbern schwebten. Doch es waren kaum ein paar Minuten vergangen, da hörte ich meinen Namen rufen, und als ich aufblickte, sah ich meinen Freund von der Straße herab auf mich zueilen. Er schien belustigt darüber zu sein, daß ich ausgerechnet hier auf dem Friedhof gewartet hatte, und er fügte hinzu, daß alles hier deswegen so verkommen aussehe, weil schon seit vielen Jahren keine Beerdigungen mehr stattfänden. Die Inschriften auf den Grabsteinen waren kaum noch lesbar, und viele der Denkmäler standen schief wie Betrunkene, eingesunken in den Boden. Die Toten, die hier begraben waren, sagte mein Freund, hätten einer religiösen Minderheit angehört, der es über eine lange Zeit hinweg nicht gestattet gewesen sei, ihre Verstorbenen innerhalb des Weichbildes der Stadt zu beerdigen – ihre Leichenzüge hätten die Stadtbevölkerung zu tätlichen Angriffen gereizt. Deshalb seien die Toten mit Kähnen den Fluß herunter hierher transportiert worden. Aber, so sagte mein Freund weiter, die Gräber seien nicht das wirklich Interessante an diesem Friedhof, sondern das sei der Friedhofswächter. Schon oft habe er mit ihm zu reden versucht, sagte mein Freund, aber nie mehr erhalten als eine ganz kurze Antwort. Dadurch neugierig geworden, habe er sich dann bei den Leuten in der Stadt nach ihm erkundigt. Der Friedhofswächter war während des Krieges in einem Konzentrationslager, hatte man ihm erzählt. Vorher war er Schwergewichtsboxer gewesen, zwar kein großer Meister, aber doch in Sportlerkreisen wegen seiner gewaltigen Kraft ziemlich bekannt. Nur wenige Manager waren bereit, ihn unter Vertrag zu nehmen, denn er hatte seine Gegner mehrfach ernsthaft verletzt oder sogar für immer zum Krüppel geschlagen. Dem Kommandanten des Konzentrationslagers war der Mann während der Selektionen für die Gaskammer aufgefallen, und er hatte beschlossen, ihn als Trainingspartner für sich selbst und für die Wachen zu behalten, die gerne boxten. Der Kommandant lud einen Berufsboxer ein, um seinen Gefangenen herauszufordern. Er legte fest, daß beide Boxer so hart zu kämp55
fen hätten, als ob es um eine Meisterschaft ginge. Gewann der Gefangene, dann wurde ein anderer Lagerinsasse dafür hingerichtet. Verlor er, nach Punkten oder durch K.o. dann durfte er hingegen einen Mitgefangenen bestimmen, dem statt des Ganges in die Gaskammer die Freiheit geschenkt werden sollte. Aber dennoch mußte er ehrlich kämpfen, ohne sich seinem Gegner gegenüber absichtliche Blößen zu geben oder so zu tun, als ob ihn die Kräfte verließen oder als ob er groggy wäre. Denn wenn der Verdacht auftauchte, daß er absichtlich verlor, war sein eigener Tod die Folge. Der Kommandant war sehr stolz auf seine Kenntnisse, was Gefängnis-Mentalität und Lebenstrieb anging, und er war davon überzeugt, daß sein Gefangenen-Champion sich gut schlagen würde, um sein eigenes Leben zu retten – daß er aber andererseits nicht zu begierig sein konnte, einen Kampf zu gewinnen, weil das einen seiner Kameraden zum Verbrennungsofen verdammte. Der Siegeswillen war ihm also genommen – und dennoch mußte er so kämpfen, als ob er nicht verlieren wolle. Als der eingeladene Berufsboxer im Lager eintraf, schien es, als ob der Gefangene wohl in jedem Falle verlieren würde. Unglücklicherweise für den Kommandanten jedoch weigerte sich der Besucher, in den Ring zu steigen, als er erkannte, was ihm bevorstand: Nämlich entweder einem Gefangenen zu unterliegen, einem Feind seiner Rasse, oder diesen Gefangenen zu besiegen und damit nur einem anderen Rassenfeind zur Freiheit zu verhelfen. So überlebte der gefangene Boxer, ohne imstande zu sein, außer sich selbst noch andere zu retten. Und jetzt lebte er allein und sah zu, wie die Grabsteine immer tiefer in den stinkenden Schlamm sanken.
Während ich an der Universität war, hielten die vielen Studentenorganisationen immer wieder Versammlungen ab, bei denen die Teilnahme obligatorisch war. Die Partei verlangte, daß die Studenten sich selbst und andere auf diesen langen Sitzungen beurteilten und kriti56
sierten. Die Zusammenkünfte verliefen immer gespannt, und wurden oft dramatisch: Wenn die Studienfortschritte oder die Führung eines Studenten ungünstig beurteilt wurden, dann verwies ihn die Partei unter Umständen von der Universität und schickte ihn zur praktischen Arbeit in irgendeine entlegene Provinz. Es war, als ob jeder von uns ein Stein in einer gespannten Schleuder wäre: Wir wußten niemals, wer uns im nächsten Augenblick in die Ferne schleudern würde, und wo wir dann wohl landen mochten. Kurz vor einer dieser Versammlungen ging ich einmal auf die Toilette. Dort traf ich einen anderen Studenten, der den Spitznamen ›Der Philosoph‹ trug. Er sah verstört aus und übergab sich hilflos und krampfhaft. Als er mich sah, stammelte er eine Entschuldigung und versuchte sogar zu lächeln. Ihm waren diese Veranstaltungen unerträglich, er war viel zu nervös, als daß er ihre Spannung hätte durchhalten können. Er erzählte mir, daß jeder Raum voller Menschen Panik in ihm erzeuge, und daß er oft Stunden allein auf den leeren Korridoren verbrachte, um wieder genügend Mut zu finden, die überfüllten Hörsäle zu betreten. Einmal war ich mit ihm verabredet, verspätete mich aber und erklärte ihm, daß ich erst noch zur Staatsbank hätte gehen müssen, die gerade in der Innenstadt eine neue Filiale eröffnet hatte. Ganz nebenbei erwähnte ich, daß dort im Erdgeschoß ungeheuer imposante Toiletten wären, blitzsauber und bis jetzt kaum benutzt. Ich hätte ihnen einen Besuch abgestattet, sagte ich. Mein Freund war mit einem Mal stark interessiert und fragte mich nach der genauen Adresse der neuen Bankfiliale. Ich gab sie ihm, und er zog einen kleinen Stadtplan aus der Tasche, auf den er den Ort sorgfältig einzeichnete. Ich sah noch andere Markierungen auf dem Plan und fragte ihn, was sie bedeuteten. Er trage alle seine ›Tempel‹ auf dieser Karte ein, antwortete er. Ich verstand ihn nicht. Ob ich wüßte, warum unsere Kommilitonen ihm den Spitznamen ›Philosoph‹ gegeben hätten, fragte er weiter. Ich war nun völlig verwirrt. Da stand er auf und sagte, ich solle ihm folgen. Wir kamen zu einem der nationalen Museen in der Stadt. Er ging 57
voran und führte mich direkt hinunter in den Keller zu den Toiletten. Leer und verlassen lagen sie da: Es war früher Nachmittag, und alles war still und sauber. Er drehte sich zu mir um und sagte mit einem gewissen Stolz in der Stimme: »In jedem dieser Abteile kann man sich einschließen und stundenlang ungestört bleiben! Du weißt ja, wie selten wir den Versammlungen entgehen können. Nun – hier ist die absolute Einsamkeit: Du kannst nachdenken und völlig in deiner eigenen Welt leben!« Stolz entfaltete er seinen Stadtplan. »Ich habe mehr als dreißig öffentliche Gebäude in allen Stadtteilen entdeckt, die alle einen Tempel wie diesen hier haben, einen Tempel, der nur darauf wartet, daß ich ihn betrete.« Er ging über zu einer präzisen Beschreibung aller dieser Örtlichkeiten – einige, besonders die in letzter Zeit gebauten, waren geradezu grandios. Sie schwammen förmlich in weißem Marmor; Kupfer und Silber blinkte, bunte Mosaike schmückten die Fußböden unter blitzenden Kristallkandelabern, aufwendige Lüftungsanlagen summten. »Du sitzt in deinem Abteil und denkst«, fuhr er fort, »du hörst, wie deine Gedanken um dich schweben, wie griechische Götter, die plötzlich aus dem Schulbuch gesprungen sind – aber dich kann niemand hören. Was für ein Glück, endlich alleingelassen zu werden, sich nicht darum sorgen zu müssen, was die anderen sagen, wie sie dich ansehen, oder was sie von dir halten – nicht hinausblicken zu müssen über die weißen Wände deiner privaten Zuflucht!« Ein älterer Mann näherte sich, verschwand in einer der Zellen. Dann ging er wieder, und wir lauschten dem Flüstern des ersterbenden Wasserfalls. »Eines jedoch mußt du tun, wenn du längere Zeit da drin sitzen willst«, sagte mein Freund und zog einen Ballen Watte aus der Tasche. Eingewickelt in ihn fand sich eine Flasche mit Fleckentferner. »Es sind nämlich in diesen Kabinen alle möglichen Inschriften«, erklärte er, »Schlagworte und Parolen auf die Wände geschmiert. Viele von ihnen sind ganz offensichtlich das Werk von Konterrevolutionären. Die Tempel sind anscheinend der einzige Ort, an dem sich diese Leute sicher genug fühlen, ihren Widerwillen gegen das Regime, gegen die Kollektivierung der Landwirtschaft, gegen die Säuberungsaktio58
nen, gegen die Außenpolitik und sogar gegen die Verehrung für unseren allmächtigen Führer auszudrücken. Und du verstehst«, fuhr mein Freund fort, »ich muß darauf vorbereitet sein, daß vielleicht irgend jemand kommt und mich beschuldigt, ich hätte alle diese Ketzereien an die Wände gekritzelt, nur weil ich länger als normal in dieser Kabine gesessen habe. Also entferne ich zunächst einmal jedes einzelne Wort, das an der Wand steht. Wenn mich dann ein Schutzmann oder ein Geheimpolizist fragt, warum ich so lange auf dem Klo sitze, dann habe ich eine harmlose und absolut glaubwürdige Erklärung. Schließlich hat ja ein Philosoph einmal geschrieben: ›Götter und Tempel sind nicht leicht aufzurichten. Einer Tat von gewaltiger Klugheit bedarf es, um ihnen ihre ganze Bedeutung zu verleihen.‹ Und nur ein paar Parolen von der Wand abzuwischen – das ist doch ein geringer Preis dafür, daß man einen Tempel ganz für sich allein besitzt, meinst du nicht auch?« Trotz seiner Furcht und aller seiner inneren Spannungen nahm er getreulich an allen Versammlungen und Seminaren teil. Ich erinnere mich an den Tag, als ihn der Professor aufforderte, über eine gerade von der Partei neu verkündete Doktrin zu referieren. Er erhob sich, blaß und mit Schweißtropfen auf der Stirn, und versuchte dennoch tapfer, gesammelt und unpersönlich zu erscheinen. Seine Antwort lautete, daß gewisse Aspekte der neuen Doktrin seiner Meinung nach ganz klar die vielen Formen der Unterdrückung im totalitären Staat widerspiegelten, und daß sie schon aus diesem Grunde jeder Menschlichkeit ermangele. Allgemeines Schweigen breitete sich aus. Ohne jeden Kommentar winkte ihm der Professor zu, sich wieder zu setzen. Unter den Studenten entstand Unruhe: Ein paar Parteimitglieder standen auf und verließen lärmend den Hörsaal. Wir alle wußten, daß er verloren war. Bis zum Ende des Semesters setzten der ›Philosoph‹ und ich noch unsere Studien gemeinsam fort, und dann verlor ich ihn plötzlich aus den Augen. Man hatte ihn wegen seiner antisozialen Einstellung von der Universität entfernt. Einer der Universitätsbeamten erzählte mir später, daß der Mann nicht mehr am Leben sei. Seine Stimme zisch59
te fast vor Verachtung, als er davon sprach, wie unwürdig sich dieser Mensch in einer öffentlichen Bedürfnisanstalt umgebracht hatte. Ich schwieg.
Die Partei gab einen eindrucksvollen Empfang für sorgfältig ausgewählte Vertreter der Stadt, des politischen Lebens, der Armee, der Wissenschaften und für ausländische Delegationen. Ich war überrascht, als ich unter den Gästen plötzlich einen Wissenschaftler erblickte, den ich von der Universität her kannte. Er war der einzige Überlebende einer einstmals prominenten Familie, die während der Säuberungswelle fast ausgerottet worden war. Nachdem er viele Jahre in einem Arbeitslager verbracht hatte, war er erst vor kurzem von der Partei wieder rehabilitiert worden. Nach vielen Trinksprüchen und Ansprachen lockerte sich die Stimmung. Die Gäste erhoben sich von der gemeinsamen Tafel, und die Kellner schoben sich mit Mühe durch die dichtgedrängt stehenden Gruppen. Auf hoch über die Schultern erhobenen Tabletts servierten sie Getränke aller Art. Der Protokollchef ging durch den Saal, gefolgt von Fotografen, und stellte die prominentesten der Gäste einander vor. Nun begannen die Anwesenden, politische und nationale Ansteckplaketten auszutauschen – ein Parteiritual, das die Gemeinsamkeit aller symbolisieren sollte. Dabei trat jeweils ein Gast auf einen anderen zu, verbeugte sich, zog ein Abzeichen aus der Tasche und befestigte es am Rockaufschlag seines neuen Freundes. Ich beobachtete den Wissenschaftler. Er ging gleichfalls in der Menge umher und steckte den Parteifunktionären runde, goldschimmernde Plaketten an, die sich deutlich von den hohen und höchsten Staatsauszeichnungen abhoben, welche diese Männer mit so viel Stolz auf der Brust trugen. Ich wollte schon gehen, als ich sah, wie er einen der höchstdekorierten Marschälle des Landes feierlich umarmte, sich verbeugte und ihm seine goldene Plakette neben die vielen schimmernden Orden steckte, wozu er das Abzeichen und den Stoff der Uniform60
jacke mit einer Stecknadel durchbohrte, die er in der rechten Hand hielt. Ich trat etwas näher heran, um besser sehen zu können, und mußte mich im nächsten Augenblick zusammennehmen, damit ich mir nichts anmerken ließ: Die goldene Plakette war ein – Präservativ, in glänzende, gepreßte Goldfolie verpackt, und der Name der ausländischen Herstellerfirma war deutlich rings um den Rand eingeprägt. Bei meinem Weggang überblickte ich noch einmal das Ergebnis der Tätigkeit des Wissenschaftlers: Fast alle anwesenden Partei- und Staatsfunktionäre trugen goldverpackte Präservative am Rockaufschlag. Auf dem Heimweg fiel mir ein, daß sie ja erst am Abend, wenn sie zu Hause alle ihre schweren Metallorden ablegten, diesen einen, leichteren entdecken würden. Ob sie sich dann wohl noch erinnern konnten, wem sie ihn verdankten? Und wenn ja – wie würden sie wohl reagieren?
Der Studentenverband hatte beschlossen, mich für meine mangelnde politische Beteiligung zu bestrafen, und Universität wie Partei hatten seiner Empfehlung zugestimmt: Ich wurde für vier Monate als Hilfsdozent in eine neugegründete landwirtschaftliche Siedlung verschickt. Es war eine lange Reise dorthin, und ich teilte mein Abteil im Zug mit drei anderen Männern. Sie waren Absolventen verschiedener Wirtschaftsplanungs-Institute und konnten es kaum erwarten, ihre neue Aufgabe zu übernehmen – die Verwaltung von Projekten zur Erschließung landwirtschaftlichen Neulands. Die Siedlung bestand aus mehreren Kolchosen und zwei Viehzuchtversuchsstationen, die untereinander durch eine erst vor kurzem fertiggestellte Straße verbunden waren. Die Leitung lag in den Händen einer Parteizelle. Sechs Tage lang wurde auf den Feldern gearbeitet, und zwar mit den modernsten landwirtschaftlichen Maschinen. Der Sonntag war dem Unterricht über soziale und politische Fragen gewidmet. 61
Es wurde mir klar, daß man mich hier nicht akzeptieren würde. Man betrachtete mich mit Mißtrauen, und häufig wurde ich auch nach dem Namen der Behörde gefragt, für die ich hier Erhebungen anstellte oder spionierte. Meine Vorlesungen waren zwar gut besucht, weil das der Lehrplan verlangte, aber die Arbeiter hörten mir entweder mit feindseliger Höflichkeit oder mit vorsätzlicher Unbeteiligtheit zu: Meine Aufforderungen, doch Fragen zu stellen, stießen auf eisiges Schweigen. Ich wußte, daß es völlig sinnlos war, was ich hier tat – es ging nur darum, den Rest der vier Monate in der Siedlung herumzubringen und mich meiner Aufgabe zu entledigen. Ich hatte keine Freundschaften geschlossen, und es gab niemanden, den ich hätte als Gefährten betrachten können. So verbrachte ich schließlich meine gesamte Freizeit damit, für mein Examen zu arbeiten und einen Bericht über die von mir gehaltenen Vorträge zu verfassen. Während dieser Wochen schien ein einziges Ereignis das allgemeine Interesse zu erregen, nämlich der Besuch des Staatszirkus. Er blieb mehrere Tage am Ort, damit auch die Landarbeiter der weiter abgelegenen Siedlungen zu einer der Vorstellungen herbeigefahren werden konnten. Das Programm war eindrucksvoll: Tänze, Clowns, Trapezkünstler, Kunstreiter, Jongleure und dressierte Raubtiere. Die Arbeiter waren begeistert, brachen immer wieder in frenetischen Beifall aus und erzwangen Zugabe um Zugabe. Eine Nummer fand ich besonders aufregend: In ihr produzierte sich eine junge Akrobatin mit unheimlichem Können und beneidenswerter Grazie am Trapez. Dann zeigte sie noch ihre Kunst als Seiltänzerin und beendete ihre Vorführung mit einer Bodengymnastik, bei der sie unvergleichliche Gelenkigkeit bewies. Es war, als bestünde ihr Körper aus einem einzigen elastischen Muskel – so mühelos und gleitend bog sie ihn in die kompliziertesten Positionen. Jedes ihrer Glieder sprach von Leichtigkeit und Kraft – während ich ihr zusah, kam ich mir selbst schwammig und schwerfällig vor. Der Höhepunkt ihrer Vorführung kam, als sie sich mit dem Gesicht zum Publikum aufstellte. Beine gespreizt, die Arme in den Hüften; glänzende Scheinwerferreflexe spielten auf ihrem kurzen Ge62
wand. Während die Musik immer rascher spielte, hob sie die Arme über den Kopf, stellte sich auf die Zehenspitzen, reckte sich nach oben und schwang dann wie eine gespannte Stahlfeder nach rückwärts. Die Scheinwerfer folgten dem vollendet ausgeglichenen Bogen, den ihr Kopf beschrieb, während er tiefer und tiefer sank. Schließlich spielte ihr Licht nur noch auf dem dichten, kastanienbraunen Haar, während der Kopf selbst bereits wieder zwischen den Knien erschien. Das Publikum spürte die gespannte Energie dieses Körpers und hielt den Atem an, wartete darauf, daß er jeden Augenblick wieder zurück und nach oben in seine ursprüngliche Haltung federte. Aber es war fast wie ein Wunder – immer weiter bog das Mädchen sich zusammen, jetzt brachte das Scheinwerferlicht schon wieder Augen und Zähne zum Blinken, und der Kopf schob sich zwischen den Beinen immer weiter nach vorn und oben, bis er fast aufrechtstehend den Bauch verdeckte. Einen Augenblick lang verharrte er in dieser Stellung. Von der Kapelle ertönte ein einziger, erregender Akkord, der vollendet zu der Verzückung paßte, die jedermann ergriffen hatte. Und gleichzeitig mit diesem Akkord schien es, als ob das Mädchen seine unteren Gliedmaßen gleichsam nach vorn warf: Ihr Gesicht verschwand, und in derselben Sekunde, ehe uns noch klar geworden war, daß ihr Kopf sich jetzt wieder hinter den Beinen verbarg, war das Mädchen auch schon in seine ursprüngliche Position zurückgesprungen, stand mit erhobenen und ausgebreiteten Armen, als wolle sie den Beifall umfassen, der jetzt donnernd die Luft erfüllte. Stand in der Manege, besessen von der Spannung und Energie, die sie Augenblicke vorher meisterlich bezwungen hatte. Ein plötzliches Begehren stieg in mir auf. Drei Abende hintereinander sah ich mir die Vorführungen dieses Mädchens an. Im Programm stand, daß sie ihr ganzes Leben beim Zirkus verbracht und ihre Ausbildung als Trapezkünstlerin und Bodenakrobatin von ihren Eltern erhalten habe, beide gleichfalls hochbegabte Artisten. Noch drei weitere Tage sollte der Zirkus dableiben, und ich beschloß, das Mädchen auf irgendeine Weise kennenzulernen – oder es wenigstens zu versuchen. Daß das nicht einfach sein würde, wußte ich. Die 63
Zirkusartisten blieben immer unter sich, und ich hatte keinen plausiblen Grund, mich ihnen zu nähern. Weder der Zirkus noch die Leitung der landwirtschaftlichen Siedlung förderten den persönlichen Kontakt ihrer Untergebenen. Am nächsten Tag wurde ein offizielles Mittagessen für die Artisten und die Sektionsleiter der Kolchosen veranstaltet, damit sich die beiden Gruppen mit Trinksprüchen und Reden gegenseitig zu ihrem Anteil am nationalen Aufbauwerk unter der Führung von Partei und Regierung beglückwünschen konnten. Als die Gäste eintrafen, gelang es mir, das Mädchen als erster zu begrüßen und sie sofort zu einem Platz an meinem Tisch zu führen. Links von ihrem Stuhl war die Wand, auf ihre andere Seite setzte ich mich und winkte einen der älteren Bauern auf den Platz zu meiner Rechten. Sie saß neben mir, schien weder Zeit noch Ort bewußt zu erfassen und blickte in ihren Schoß, wo sich ihre Finger miteinander verhakten, öffneten und schlossen wie die Finger eines Gelähmten, der Heilgymnastik betreibt. Nach einer Weile löste sie ihre Hände, hob sie zum Oberkörper und strich sich über Brust, Flanken und Hüften. Dabei stieß sie die Ellenbogen zurück und schob Kopf und Brüste nach vorn. Ich blickte mich im Saal um. Die Artisten schienen unruhig, rutschten unbehaglich auf den harten, hölzernen Stühlen hin und her. Die Vertreter der verschiedenen Kolchosen, an solche Veranstaltungen gewöhnt, saßen schwer und unlustig auf ihren Plätzen. Vorsichtig wandte ich mich wieder dem Mädchen zu. Im gleichen Augenblick mußte auch sie eine Bewegung gemacht haben, denn ich spürte den Druck ihres Schenkels an meinem. Ich starrte über den Tisch hinweg auf den Redner und heuchelte gespanntes Interesse. Der Druck an meinem Schenkel hatte sich in eine Folge von langsamen Stößen verwandelt. Aus den Augenwinkeln blickte ich zur Seite: Das Mädchen saß ganz aufrecht und öffnete und schloß ihre Beine in gleichmäßigem Rhythmus. Wenn sich ihre Knie trafen, wurden sie jedes Mal weiß unter dem Druck der Muskeln. Langsam schob ich meine Hand hinüber auf die Lehne ihres Stuhles, halb zur Faust geschlossen, und näherte mich mit den Fingerknöcheln 64
ihrem Rückgrat. Ich konnte nicht feststellen, ob sie das bemerkt hatte oder nicht. Als sie sich zurücklehnte, berührte der Stoff ihres Kleides meine Finger. Nun wurden ihre Bewegungen immer ausgeprägter. Es war mir, als versuche sie, ihren Rücken mit meinen Knöcheln zu vereinen, aus dem flüchtigen Kontakt einen ständigen werden zu lassen. Wieder blickte ich sie vorsichtig an: Sie biß die Lippen zusammen, und eine leichte Röte vertiefte die Farbe ihres Gesichtes. Um die Mitte des Nachmittags war das offizielle Essen zu Ende, und die Gäste machten sich auf den Weg zurück zu ihren Unterkünften, die in den Waldlichtungen entlang der Straße lagen. Auch das Mädchen und ich verließen den Saal, aber wir gingen rasch und suchten schnell den Schutz der Bäume zu erreichen. Ich erzählte ihr von der Erregung, die mich bei der Betrachtung ihrer Vorführung ergriffen hatte, und von meiner Traumvorstellung, sie gerade in jenem Augenblick der größten Anspannung zu besitzen, in dem ihr Kopf zwischen den Schenkeln hervortrat. Sie blieb weder stehen noch sagte sie ein Wort. Wir gingen weiter. Das Licht war inzwischen fast ganz geschwunden. Der Wind erreichte die unteren Zweige der Birken nicht, und die Blätter an den Büschen hingen so träge, als seien sie aus Blei gehämmert. Das Mädchen wandte sich plötzlich um, zog ihr Kleid aus und legte es auf die trockenen Blätter, die dichtgehäuft zu unseren Füßen lagen. Sie wandte sich mir zu und drückte mich sanft rücklings auf den Boden. Als sie über mir kniete, erschien sie mir untersetzt, fast kurzbeinig. Ihre Stirn lag auf meiner Brust, ihre Hände stützten sich oberhalb meiner Schultern rechts und links auf den Boden. Dann schwang sie mit einer einzigen, fließenden Bewegung ihre Beine in die Luft. Einen Augenblick lang schwebten sie über dem Bogen, den ihr Rücken bildete, und schienen mit einem Mal die federnde Nachgiebigkeit von jungen Birkenzweigen zu besitzen, die der Schnee zu Boden drückt. Langsam sanken die Fersen zu beiden Seiten des Kopfes herab, ihr Gesicht war von den Schenkeln umrahmt: Sie beugte die Knie, und ihr Mund und ihr Schoß glitten zu gleicher Zeit über mein Gesicht. 65
Niemand konnte sich rühmen, ihr Liebhaber zu sein. Sie wollte keinen ständigen Freund haben. Jeder bewunderte sie, aber keiner besaß sie jemals. Zu Beginn des Semesters wurde ich zum Redakteur der Universitätszeitung gewählt. Ich schlug ihr vor, eine wöchentliche Kolumne über das Theaterleben zu schreiben, und stellte ihr frei, welche Stücke oder sonstigen literarischen Ereignisse sie besprechen wollte. Das war eine Stellung, die sich viele gewünscht hätten, und sie nahm sofort an. Als Redakteur erhielt ich viele Einladungen, und wann immer es möglich war, richtete ich es so ein, daß wir beide zusammen zu den betreffenden Veranstaltungen gingen. Einige meiner Kollegen beneideten mich, aber niemand wußte etwas Genaueres über die Beziehungen zwischen diesem Mädchen und mir. Im Laufe des Semesters fiel mir auf, wie sehr sie mit ihrem eigenen Körper beschäftigt war. Wir trafen uns meistens in ihrer Wohnung, wenn wir zusammen ausgehen wollten. Oft konnte ich sie dann von ihrem kleinen Wohnzimmer aus beobachten, wie sie vor dem Spiegel der Frisierkommode saß und ihr Profil betrachtete, ihren Hals hin und her bog und mit den Händen über ihre Hüften strich. Ihr achtlos über die Schultern geworfener Morgenmantel war nicht immer geschlossen. Manchmal wagte ich eine auffordernde Bemerkung oder berührte wie zufällig ihre Taille, wenn ich ihr eine Haarbürste, ein Kleid oder ein Paar Strümpfe zureichte. Aber sie tat, als ob sie nichts bemerkt hätte. Nach zwei oder drei solcher vergeblichen Versuche fand ich mich schließlich mit ihrer Zurückhaltung ab. Eines Tages zog sie sich gerade für ein Konzert um, und ich saß etwa einen halben Meter von einer Kommode entfernt, deren unterste Schublade offenstand. Ich warf einen Blick hinein, sah ein paar alte Notizbücher und etwas Modeschmuck und erblickte daneben plötzlich einen Stapel Fotografien von ihr, die halb verdeckt aus einer Mappe hervorschauten. Ich warf einen Blick zur offenen Schlafzimmertür, aber das Mädchen saß nicht an der Frisierkommode. Als ich gleich darauf hörte, wie sie im Badezimmer das Wasser anstellte, beugte ich mich rasch vor, zog eine Handvoll Fotografien aus der Mappe und 66
steckte sie in die Innentasche meiner Jacke. Nach dem Konzert brachte ich das Mädchen nach Hause, kehrte in meine eigene Wohnung zurück und ging daran, die Bilder genau zu betrachten. Alle zeigten das Mädchen nackt. Die Posen, die Beleuchtung und die Unscharfen hier und da deuteten darauf hin, daß sie von einer Kamera mit Selbstauslöser aufgenommen worden waren. Sie konnten noch nicht alt sein – das Fotopapier hatte seine glänzende Frische noch nicht verloren. Mir fiel ein, daß das Mädchen mehrere Male nach der Arbeit noch in der kleinen Dunkelkammer der Redaktion zurückgeblieben war. Sie wolle das Layout der Zeitung noch einmal ansehen, hatte sie gesagt. Wahrscheinlich hatte sie dann ihre Filme entwickelt. Ich sagte ihr nichts von meiner Entdeckung, und ich gab ihr die Bilder auch nicht zurück. Ihr Benehmen änderte sich in den nächsten Tagen nicht, und ich entnahm daraus, daß sie den Verlust nicht bemerkt hatte. Wenn ich von nun an Freunde zu Besuch erwartete, wählte ich vorher zwei oder drei der Bilder aus und schob sie sorgfältig zwischen meine Bücher und Papiere. Ich war ganz sicher, daß sie heimlich betrachtet wurden, wenn ich den Raum verließ, um etwas zu trinken oder zu essen zu holen. Schon bald hielten uns alle Bekannten für ein Liebespaar. Ein paar meiner engeren Freunde fragten sogar gelegentlich, wie es mit unseren Heiratsplänen stünde. Kurz vor Ende des Semesters wurden wir beide zu einer Party in einem Hotel des benachbarten Kurortes eingeladen. Wir sollten alle über Nacht bleiben und den nächsten Tag gemeinsam am Strand verbringen. Weil ich aber am nächsten Tag Prüfung hatte, mußte ich auf diesen Teil der Party verzichten. Das Mädchen jedoch blieb da, glücklich, von so vielen Bewunderern umgeben zu sein. Am folgenden Tage, als die Prüfungen gerade vorbei waren, kam der Universitätsdiener und gab mir einen Zettel. Ich las ihn und folgte der Aufforderung, ins Büro des Professors zu kommen. Er stand auf, als ich eintrat, bot mir eine Zigarette an und sagte etwas hilflos, ich solle mich auf einen Schock vorbereiten: Das Mädchen war am Morgen tot im Bad des Hotelzimmers aufgefunden worden, in dem es die Nacht 67
verbracht hatte. Die Zündflamme des Gasbadeofens war aufgedreht, aber sie brannte nicht. Am nächsten Tag hatte sich die Nachricht von ihrem Tode in der ganzen Universität herumgesprochen. Wo ich hinkam, wurde ich angestarrt, und man zeigte mit Fingern auf mich. Zwei meiner besten Freunde berichteten mir, was die meisten dachten: Daß das Mädchen Selbstmord begangen habe. Später am Tage wurde mir klar, daß diese Meinung sich eher auf ein Übermaß an Phantasie stützte als auf Tatsachen, denn als ich den Hörsaal zur Nachmittagsvorlesung betrat, fand ich eine ganze Anzahl von anonymen Zuschriften auf meinem Platz. In allen wurde ich beschuldigt, das Mädchen verführt und zu sexuellen Exzessen gezwungen zu haben, wobei ich von ihr Bilder in unzüchtigen Posen gemacht hätte, um sie dann am Ende zu verlassen, als sie schwanger wurde. An den Tagen danach wurde ich völlig geschnitten. Beim Essen in der Mensa saß ich allein, und im Hörsaal hatte ich keine Nachbarn mehr. Der Tag der Beerdigung kam, und fast alle meine Kollegen waren auf dem Friedhof. Die Trauergemeinde stand dichtgedrängt um das Grab, fast im Kreis – wenn nicht rechts und links von mir jeweils eine sichtbare Lücke gewesen wäre. Ich empfand diese plötzliche Isolierung um so stärker, als meine besten Freunde auf der anderen Seite standen und mir hin und wieder unsichere Blicke zuwarfen. Das Grab war ausgehoben, auf der einen Seite häufte sich die lose Erde, und auf der anderen stand der blumenbedeckte Sarg auf dem Rasen. Der Universitätspfarrer stand zu seinen Häupten, und die Eltern des Mädchens warteten schweigend an seinem Fußende. Sie waren wohl Bauern, oder auch kleine Kaufleute, und mir fiel plötzlich ein, daß das Mädchen mir niemals von ihrem Elternhaus oder ihrer Familie erzählt hatte. Verstohlen blickte ich auf den abgetragenen Anzug des Mannes, auf sein blasses, schmerzgezeichnetes Gesicht. Seine spärlichen grauen Haare flatterten im kalten Wind. Die Beine seiner Frau waren auf geradezu groteske Art und Weise krumm. Es war schwer zu glauben, daß sie und der Mann neben ihr mitein68
ander das Mädchen gezeugt haben sollten, das ich gekannt hatte. Jemand beugte sich zu ihnen und flüsterte etwas. Sie hoben die Köpfe und blickten mich an. Und gleichzeitig wandten alle Anwesenden, die bis jetzt das alte Ehepaar beobachtet hatten, mir ebenfalls ihre Blicke zu. Wo immer ich hinsah, starrten mir unnachgiebige Augen entgegen. Ich blickte versehentlich dem Vater direkt ins Gesicht. Einen Augenblick lang starrte er mich an. Dann stieß er seine Frau beiseite, welche stolperte und von den beiden Totengräbern vor einem Sturz bewahrt werden mußte. Wie rasend kämpfte er sich durch die Menge. Ich wußte, daß jetzt etwas Schreckliches passieren mußte, daß der alte Mann mich beschimpfen oder schlagen würde. Die Menge stand drohend da, war wie ein Gewicht, das bei jeder meiner geringsten Bewegungen auf mich herabstürzen würde. Ich konnte mich nicht rühren. Die Menge stand und starrte. Der alte Mann kam auf mich zu, er keuchte und rang nach Atem, seine Lippen waren zur Grimasse verzogen. Er blieb vor mir stehen, hob mühsam den Kopf und spie mir ins Gesicht. Ich wartete. Seine Augen schienen in ihre Höhlen zurückzusinken, und seine Hände fielen nun hilflos herunter. Er wandte sich ab, schweigend, müde, alt.
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ls ich ein Schulmädchen war, haben mich meine Eltern, die Lehrer und unser Pfarrer immer davor gewarnt. Man hat dir gesagt, daß man das nicht tut, nicht tun darf? Ja. Wenn eine Frau das tut, hat man mir gesagt, dann trifft sie irgendeine schreckliche Strafe, sie bekommt eine ekelerregende Krankheit, oder ein Auswuchs bildet sich an ihrem Körper. Und ein paar von meinen Freundinnen haben behauptet, daß der Geschmack scheußlich ist, ölig, schleimig, breiig … außerdem wäre es erniedrigend, fast so, als ob man lebendes Fleisch ißt. Du hast aber anscheinend oft daran gedacht. Ja, sehr oft. Aber der Pfarrer hat mir dafür die Absolution erteilt. Du bist zur Beichte gegangen? Ja. Und ich gehe auch heute noch. Weißt du, im Beichtstuhl trennt man die Absicht nicht von der Handlung. Man beichtet nur seine Schuld. Und hast du immer die Absolution erhalten? Bis jetzt – ja. Aber nur für meine Gedanken. Ich wäre schrecklich verlegen, wenn ich sagen müßte, daß ich wirklich … weißt du, es ist ein seltsames Gefühl, wenn man es im Mund hat. Als ob der ganze männliche Körper, mit allem, plötzlich in dieses eine Ding hineingeschrumpft ist. Und dann schwillt es mit einem Mal, füllt den ganzen Mund. Wird gewalttätig, und bleibt dabei doch so zart und verwundbar. Es könnte mich ersticken – oder ich könnte es abbeißen. Und wie es wächst, bin ich es, die ihm Leben gibt. Mein Atem erhält es, und es entrollt sich wie eine gewaltige Zunge. Ich liebe das, was aus dir herausgeschossen kam: Wie heißes Wachs schmolz es plötzlich überall auf mir, auf meinem Hals, auf meinen Brüsten und auf meinem Bauch. Es war mir, als würde ich getauft – so weiß und rein war es. 71
Ich sah mir die Karte an, aber ich konnte die Straße nicht finden, auf der ich fuhr. Ich beschloß an der nächsten Abzweigung, nach unten in das Tal abzubiegen, wo ich sicherlich auf eine kleine Stadt oder wenigstens auf ein größeres Dorf stoßen würde. Fünf oder sechs Kilometer weiter fuhr ich zwischen uneingezäunten Wiesen am Rande einer Ortschaft, in der die Kirche einen staubigen, holprigen Platz überragte. Bauernhäuser und Scheunen standen ringsum auf ebenem Grund. Alles war still. Es war Sonntag, und nirgendwo war eine Spur von Leben zu entdecken, außer den Rauchspiralen, die gemächlich aus den Schornsteinen aufstiegen. Dann hörte ich anschwellende Orgelmusik, und mir fiel ein, daß es die Zeit der Messe war. Ich hielt den Wagen an und stieg aus. Innerhalb von Sekunden bellten und heulten Hunde auf sämtlichen Höfen. Als ich ein paar Schritte tat, schien sich ihr Chor noch zu verstärken. Ich ging nicht auf die Kirche zu, sondern wandte mich vom Wagen weg nach der anderen Seite und fand mich vor einer einzelnen Scheune, die ein paar Meter von der Straße zurückgesetzt war. Ich setzte mich nieder, und meine Blicke streiften über die Erde, die in der schwülen Hitze dampfte, über den Klee und die mir unbekannten wildwachsenden Blumen an den Zäunen. Die Hunde hatten sich wieder beruhigt. Nur die gedämpfte Stimme der Orgel hing über den Häusern und Scheunen und verlor sich in den Feldern. Dann hörte ich plötzlich ein seltsames Geräusch, das aus der Scheune kam. Es klang wie das Winseln eines jungen Hundes oder das Jammern eines Kindes. Vorsichtig ging ich um den Schuppen herum und blieb vor dem mit einem Vorhängeschloß versperrten Tor stehen. Ich zog und rüttelte an diesem Schloß – es war zwar alt, aber es wollte nicht nachgeben. Ich versuchte es noch einmal: Da splitterte das morsche Holz. Ich schob den Torflügel zurück, stand auf der Schwelle zwischen Licht und Schatten, horchte und blickte in die Dunkelheit des Innern. Kein Laut mehr. Ich trat ein. Es roch nach Heu, nach dem Lehmboden der Tenne und nach fauligem Holz. Sehen konnte ich eine Weile lang überhaupt nichts. 72
Langsam gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit und erkannten zwei kleine Pflüge mit abgebrochenen Handgriffen, die an der Wand lehnten, daneben ein altes Pferdegeschirr und eine Reihe von Sensen, Rechen und Mistgabeln mit krummen und verbogenen Zinken. In einer Ecke sah ich einen Haufen von verrosteten, ausgebrannten Ofenrohren neben Schrotteilen, Haken, verbogene Schüreisen und Schaufeln. An der anderen Wand stand eine Reihe von kleinen Eimern, die mit Nägeln verschiedener Größe und Dicke, großen Metallschlüsseln und Teilen alter Bügeleisen gefüllt waren, daneben zerbrochene Holzkohlenpfannen, Teile von Fensterbeschlägen, Türklinken und -schlösser, alte Töpfe und Pfannen und Scherben von Küchengeschirr. Weiter hinten lagen Räder ohne Felgen und Berge von Hufeisen, Schnallen, Peitschen und Lederriemen hingen an einem Nagel an der Wand, zwei Äxte steckten in einem niedrigen, dicken Baumstumpf. Ich wandte mich um. Eine erschreckte Henne flatterte unter dem Heu hervor. Gackernd und mit den Flügeln schlagend rannte sie durch den halboffenen Torflügel nach draußen in den Hof. Dann wurde die Stille eine Zeitlang nur durch das Summen einer einsamen Wespe unterbrochen. Ich wollte gerade wieder gehen, als ich den Schrei wieder hörte. Er schien direkt von oben, aus der Dunkelheit unter dem Dach zu kommen. Ein durchdringendes Winseln schloß sich an. Ich trat zurück, zog das Tor weiter auf und suchte mit den Augen zwischen den schwach sichtbaren Umrissen der Dachbalken. Aber bis dorthin drang das Tageslicht nicht in den Raum. Ich ging zurück zum Wagen, um eine Taschenlampe zu holen. Dann trat ich wieder in die Scheune. Ich richtete den Strahl meiner Taschenlampe dorthin, woher der Schrei gekommen war. Ein großer Käfig schwebte im Gebälk. Er bestand aus eisernem Gitterwerk und hing an einem dicken Seil, das über einen großen Ring im Dachstuhl an der Wand herunterlief. Unten war es an einem kräftigen Haken befestigt. Wieder ertönte der seltsame Schrei: Der Schein meiner Lampe brach sich am Käfiggitter. Eine weiße Hand streckte sich mir zwischen den 73
eisernen Stäben entgegen, und dahinter, undeutlich zuerst, erschien ein Kopf im Licht der Lampe, umrahmt von wirren blonden Zotteln. Ich stand unschlüssig da, während meine Hand schon nach dem Seil griff. Einen Moment lang überlegte ich, ob ich nicht lieber Hilfe holen sollte. Aber ich war zu neugierig. Langsam ließ ich das Seil durch die Hände gleiten, Zentimeter um Zentimeter schwebte der Käfig herab, bis er schließlich direkt über dem Boden hin und her schwankte. Ich machte das Seil wieder fest. Eine nackte Frau saß hinter dem Gitter, lallte sinnlose Worte und starrte mich aus großen, wäßrigen Augen an. Ich näherte mich ihr. Sie machte eine Bewegung, schien aber keine Angst zu haben. Sie blickte mich an, und dann kroch sie auf mich zu, strich sich über den Körper, kratzte ihre Schenkel und spreizte die Beine. Ihr Gesicht war pockennarbig, die Fingernägel waren bis auf die Wurzel abgekaut, die abgemagerten Lenden mit bläulichen Flecken übersät. Es kam mir plötzlich in den Sinn, daß wir hier ganz allein in der Scheune waren: Ich und diese offensichtlich völlig wehrlose Frau. Ich sah sie noch einmal an: Sie war ohne Zweifel geistesgestört, machte jetzt einladende Gesten und zeigte dabei mit einem verzerrten Lächeln ihre unregelmäßigen Zähne. Ich fand etwas sehr Verführerisches an dieser Situation, in der man einem anderen Menschen gegenüber ganz sein eigenes Selbst sein könnte. Aber für mich gehörte dazu, daß dieser andere das auch erkannte: Und diese Frau hier im Käfig war nicht imstande, mich als Person zu erfassen. Ich zog den Käfig wieder hoch, während die Frau noch immer durch die Gitterstäbe schnatterte, band das Seil fest und verließ die Scheune. Draußen beschloß ich, gar nicht erst mit jemandem aus dem Dorf zu sprechen. Eine Stunde später hatte ich die für den Bezirk zuständige Polizeistation erreicht. Ein Sergeant sah mißtrauisch zu, während ein zweiter Beamter meine Geschichte von der Frau im Käfig zu Protokoll nahm. Kurz darauf fuhren drei Polizisten mit mir in das Dorf. Wir kamen an, als die Messe gerade vorbei war und die Straßen sich mit Leuten füllten, die aus der Kirche strömten. Sie trugen ihre Feier74
tagskleider, und die Kinder gingen gehorsam an der Seite der Erwachsenen. Wir hielten an der Scheune, vor der ein hochgewachsener Bauer saß und seine Stiefel auszog, die ihm zu eng geworden waren. Einer der Polizisten stellte ihm ein paar Fragen, und dann stieß er ihn vor sich her in die Scheune. Unsere kleine Prozession folgte. Die festliche Menge versammelte sich zunächst schweigend um unsere beiden Wagen. Dann aber, als würde ihr plötzlich der Zweck unseres Besuches klar, zerstreute sie sich und verschwand in den Häusern. In der Scheune richteten sich nun mehrere Taschenlampen auf den Käfig, der in ihrem Licht deutlich sichtbar wurde. Der Bauer mußte ihn, schwitzend und zitternd, aus dem Dachstuhl direkt vor die Füße der wartenden Polizisten herunterlassen. Die Frau im Innern klammerte sich an die Gitterstäbe. Der Sergeant befahl in scharfen Ton, das Schloß zu öffnen. Die unsicheren Finger des Bauern mühten sich mit dem Schlüssel ab, aber er wagte es nicht, dabei die Frau anzusehen, welche sich ängstlich in einer Ecke des Käfigs verkroch. Die Polizisten packten sie an Armen und Beinen und zerrten sie aus ihrem Gefängnis. Sie wehrte sich, aber man fesselte sie, trug sie hinaus und schob sie auf den Rücksitz des Wagens. Dann wurden dem Bauern Handschellen angelegt, und er wurde neben seine ehemalige Gefangene in den Wagen gestoßen. Ich sah, wie die Frauen von seinem Hof bewegungslos hinter unseren abfahrenden Wagen herstarrten.
Monate vergingen. Nach langem Nachdenken beschloß ich schließlich, noch einmal in das Dorf zurückzukehren. Ich fuhr aus der Stadt nachts ab, um gleich bei Anbruch des Tages anzukommen. Langsam und vorsichtig steuerte ich meinen Wagen durch die Schlaglöcher der Straße, die sich zwischen den Häusern dahinwand. Ein leichter Wind zerrte an dem aufsteigenden Nebel, der zuerst die Hütten und Scheunen verhüllt hatte und sie nun freigab. Ich parkte in der Nähe des Pfarrhauses und wußte nicht so recht, was ich als nächstes tun soll75
te. Eine Tür schlug zu, und ich sah, wie der Pfarrer ins Freie trat. Gemächlich ging er auf den Friedhofseingang zu und verschwand in den scharfgezeichneten Schatten, welche die Taxushecken an dem kurzen Pfad zur Kirche warfen. Ich stieg aus dem Wagen und eilte ihm nach. Der Pfarrer war stehengeblieben und beugte sich über einen Grabstein, als wolle er die Spuren der von Wind und Regen verwaschenen Inschrift entziffern. Seine zerknitterte Soutane war schmutzig und an vielen Stellen geflickt und gestopft. Als ich nähertrat, schrak er auf. »Sie sind also die ganze Strecke gefahren, nur um mit mir zu reden … warum gerade mit mir?« Er rieb ein paar Fäden von braunem Moos aus seiner Soutane und sah mich dabei ununterbrochen an. »Weil ich etwas mit Ihnen besprechen möchte – etwas Wichtiges«, sagte ich. »Was sind Sie von Beruf?« fragte er. »Ich bin an der Universität.« Der Pfarrer klopfte etwas Staub von seinen Ärmeln und strich sich die Soutane glatt. Dann führte er mich zurück zum Friedhofspförtchen. Sorgfältig umging er dabei die Gräber und bückte sich vor herabhängenden, nassen Zweigen. Im Hof des Pfarrhauses drängte sich eine Truthahnherde zwischen uns, die voller Würde den Pfad kreuzte. Der Pfarrer wartete an der Haustür auf mich. »Möchten Sie etwas Wein?« »Vielen Dank – gerne.« Wir traten ein. Er lockerte seine Schärpe und füllte zwei Gläser. Dann saßen wir uns am Tisch gegenüber. »Nun, junger Mann, was führt Sie zu mir?« »Ich bin wegen des Käfigs gekommen.« Ich beobachtete ihn scharf; eine dunkle Röte stieg langsam in seinem gedunsenen Gesicht auf, ergriff die feuchten Falten seines Mundes, die großporigen Wangen und die tiefliegenden Augen unter der runzligen Stirn. »Wegen … was?« fragte er. 76
»Der Käfig«, wiederholte ich, »mit der Frau.« »Ich kann nichts sagen«, antwortete der Pfarrer, »ich weiß nur das, was Sie auch wissen – das heißt, was in der Zeitung stand.« Er füllte mein Glas von neuem. »Aber wieso betrifft Sie das?« »Jetzt eigentlich nicht – aber damals, da betraf es mich durchaus. Ich war derjenige, der die Frau gefunden hatte. Ich hatte mich verfahren und zufällig an der Scheune angehalten.« »So – Sie waren das also. Natürlich – die Zeitungen haben Ihren Namen zwar nicht genannt, aber jetzt fällt mir ein, daß die Dorfbewohner damals von einem Fremden sprachen, der die Polizei hergebracht hätte.« Er nippte an seinem Glas. »Eine tragische Geschichte. Der Bauer und seine Familie wollten die Kosten für die Pflege im Krankenhaus sparen, und da sperrten sie diese geisteskranke Frau in einen Käfig.« »Es gab noch andere Dorfbewohner, die von der Frau – und von ihrem Gefängnis wußten, Herr Pfarrer.« Er überging meine Bemerkung. »Oder die Kosten für eine Anstalt – die arme Kreatur erkannte ja die Welt nicht mehr, in der sie lebte.« Er stellte sein Glas auf den Tisch. »Aber warum die ganze Geschichte wieder aufrollen? Die Schuldigen sind bestraft. Die Frau ist jetzt in einem Krankenhaus. Sind Sie hergekommen, um einen weiteren unflätigen Artikel über diese Affäre zu schreiben? Ist nicht schon genug geredet worden?« Die faltigen Hände kamen aus den Höhlen der schwarzen Ärmel zum Vorschein. Sie glichen Bündeln vertrockneten Unkrauts, wie sie da im Sonnenlicht auf der hölzernen Tischplatte lagen. »Ich habe nicht die Absicht, einen Artikel zu schreiben, Herr Pfarrer. Ich bin kein Reporter. Ich bin nur wegen meines eigenen Gewissens zurückgekehrt – nur meinetwegen.« »Was wollen Sie dann also?« »Ich wollte Sie besuchen, Herr Pfarrer – und mit Ihnen sprechen.« »Nun – Sie haben mich besucht, und wir haben miteinander gesprochen. Was kann ich sonst noch für Sie tun?« »Ich denke an die langen Jahre, die diese Frau in dem Käfig verbracht hat, Herr Pfarrer.« 77
»Aber was kann ich Ihnen denn noch darüber sagen! Sie wissen doch schon alles.« »Eine Frage nur, Herr Pfarrer. Eine einzige!« »Also gut – dann fragen Sie schon, damit wir endlich zu Ende kommen.« Ich nippte von meinem Wein und sah, wie sich die Sonnenstrahlen im gerundeten Boden des Glases brachen. »Sie leben seit mehr als dreißig Jahren in diesem Dorf, Herr Pfarrer, die letzten fünf Jahre eingeschlossen, in denen Dutzende von Männern sich immer wieder in der Scheune zu schaffen machten, in der die Frau war. Und obwohl diese Männer hartnäckig leugneten – die Polizei hat bewiesen, daß sie die Frau viele Male vergewaltigt und mißbraucht haben. Wer hätte auch ihre Lügen glauben können – daß sie nach Werkzeugen gesucht, Saatgut gelagert, Geräte repariert hätten, und was sonst noch! Und der Bauer, dem die Scheune gehört – hat er all sein Geld nur durch den Verkauf von Kohlköpfen verdient? Sogar eine ganze Anzahl Frauen in der Gemeinde wußte, daß die unglückliche Kreatur zweimal schwanger gewesen war und daß die Kräuterfrau die Abtreibungen vorgenommen hatte. Solche Sachen bleiben nicht lange ein Geheimnis, Herr Pfarrer.« »Warum erzählen Sie mir das alles? Ich habe schließlich auch die Zeitung gelesen.« »Ich denke ja auch nur laut, versuche nur, mir über meine eigenen Gefühle bei der ganzen Sache klar zu werden. Sie stört meinen inneren Frieden. Geht Ihnen das nicht auch so, Herr Pfarrer?« »Mein innerer Frieden ist eine Angelegenheit, die ich selbst mit meinem Gewissen abzumachen habe.« »Wenn in allen diesen Jahren nicht ein einziger der Gläubigen, die an den vielen Zusammenkünften in jener Scheune dort teilgenommen haben, Ihnen etwas darüber unter dem Siegel des Beichtgeheimnisses anvertraut hat – welchen Wert hat dann, Herr Pfarrer, Ihr Hirtenamt in dieser Gemeinde gehabt? Und wie steht es dann überhaupt mit dem Wert der Religion, die Sie den Menschen hier so eifrig empfehlen?« »Sie haben kein Recht, überhaupt kein Recht, über derartige Dinge 78
zu sprechen!« Die Stimme des Pfarrers donnerte mit einem Mal, als spräche er von der Kanzel, aber dann kehrte sie rasch wieder in ihre normale Lage zurück. »Sie haben kein Recht, mit mir über solche Sachen zu sprechen«, wiederholte er. »Doch – ich habe ein Recht: Ich habe den Käfig geöffnet und habe diese Frau befreit. Woher wissen Sie denn, Herr Pfarrer, daß es nicht Gott selbst war, der mich an jenem Sonntagmorgen zu der Scheune geführt hat? Wie gut kennen wir Gott? Ich habe ein Recht, Herr Pfarrer, Ihnen diese Frage zu stellen, denn ich kann nicht glauben, daß Sie von der eingesperrten Frau und ihren Peinigern nichts gewußt haben. Seit dreißig Jahren sind Sie hier der von allen geliebte Pfarrer. Die Leute sprachen von ihrem Seelenhirten mit Bewunderung und Verehrung, erzählten von der Beichte, der Heiligen Kommunion, der Absolution und den Prozessionen, von der Liturgie und den Namenstagen der Heiligen, die das ganze Dorf so gern feiert! Während der Gerichtsverhandlung sah ich die Gesichter dieser Leute, Herr Pfarrer, und sie waren alle davon überzeugt, daß die Frau im Käfig verflucht war wegen ihrer zweifelhaften Geburt, daß Sie irrsinnig und krank war. Sie behaupteten einstimmig, daß diese Frau außerhalb der Kirche stünde, denn schließlich sei sie ja nicht einmal getauft! Herr Pfarrer, ich bin überzeugt, daß Sie von diesem Käfig wußten, lange ehe ich kam und die Scheune betrat. Warum haben Sie den Käfig nicht geöffnet und die Frau befreit? Sie hätten dazu kein Beichtgeheimnis zu verletzen brauchen, Sie hätten auch nicht die Behörden einschalten müssen. Warum sind Sie nicht eines Nachts, als alle Ihre gläubigen Sünder in tiefem Schlafe lagen, in die Scheune gegangen und haben die Frau herausgelassen? Oder hatten Sie Angst wegen der Schwierigkeiten, die sie vielleicht machen würde, wenn sie einmal in Freiheit war?« Der Priester lehnte sich drohend nach vorn. Die Adern an seinem Hals schwollen an und schienen jeden Augenblick den schweißfeuchten Kragen sprengen zu wollen. »Ich will Ihnen überhaupt gar nicht erst zuhören!« schrie er, »Sie verstehen nichts … nichts! Sie haben ja nicht dreißig Jahre lang in diesem Dorf hier gelebt. Was wissen denn Sie von Bauern? Ich kenne die79
se Leute, jeden einzelnen von ihnen. Ich kenne sie genau – sie sind gute Familienväter, pflichtbewußte Ernährer. Manchmal werden sie schwach, und dann straucheln sie. Ja, ich höre ihre Beichte, sie bringen mir ihre Sünden wie Opfergaben. Aber ich höre sie auch schluchzen, wenn sie ihre Verfehlungen gestehen, und sie bitten nicht nur um Vergebung, sie flehen mich geradezu an, so wie sie eine gute Ernte erflehen. Es sind meine Leute, meine Gemeinde, und Sie kommen einfach hierher und greifen mich an und beleidigen mich mit Ihren unsinnigen Behauptungen!« Der Priester warf sich im Stuhl zurück und riß den Kragen herunter. Er zitterte und versuchte sich zu beherrschen. Ich goß ein zweites Glas ein und schob es ihm über den Tisch zu, während er mit starrem Blick an einem riesigen Gemälde hing, das eine Heilige darstellte. Sie saß unter einer Palme und hielt eine große Schere in der Hand. Vor ihr, auf einer Schale, lagen ihre abgeschnittenen Brüste. Mit einer ungeschickten, ablehnenden Handbewegung wollte der Pfarrer den Wein zurückweisen. Das Glas kippte, fiel auf den Boden, sprang noch einmal empor und rollte hinüber zur Wand. Der tiefrote Wein breitete sich auf dem Tisch aus und färbte das grobgemaserte Holz. Der Pfarrer stand auf und torkelte aus dem Zimmer. Eine alte Frau kam herein, grüßte scheu und machte sich daran, den Tisch mit einem Lappen zu säubern. Ich ging noch einmal zur Kirche zurück, trat ein und setzte mich auf eine der hinteren Bänke. Bald war ich ganz in der moosigen Kühle und dem Geruch modriger Steine gefangen. Alte Frauen in Schwarz standen betend im tiefen Schatten in der Nähe des Beichtstuhles. Jetzt humpelte eine nach vorn, kniete nieder, näherte erst ihren Mund und danach ihr Ohr dem hölzernen Gitter. Als sie endlich aufstand, schob sich eine knochige Hand aus der Dunkelheit des Gestühls. Die Frau beugte sich nieder und küßte sie. Die Hand schlug ein Kreuz in der feucht-düsteren Luft und zog sich wieder zurück. Gesichter spähten aus den Hütten, als ich in einer Staubwolke durch das Dorf davonfuhr. Aufgeschreckte Hennen liefen auseinander, Hunde bellten. Bald hatte ich wieder die Hauptstraße erreicht. 80
Der Angeklagte benahm sich so, daß er die Geschworenen gegen sich einnehmen mußte. Er gab nichts zu, ja – es schien ihm nicht einmal klar zu sein, daß seine Handlung ein brutales Verbrechen gewesen war. Und kein einziges Mal verteidigte er sich damit, daß er die Beherrschung verloren hätte, oder daß er nicht gewußt hatte, was er tat und so etwas auch niemals wieder tun könne. Er beschrieb nur einfach seinen Zusammenstoß mit dem Opfer, ohne jede Übertreibung, und in ganz gewöhnlichen Worten. Wir Geschworenen waren fast alle imstande, uns vorzustellen, wie er das Verbrechen begangen und was ihn dazu getrieben hatte. Wir diskutierten darüber, und um bestimmte Blickpunkte des Falles ganz deutlich zu machen, spielten einige von uns die Rolle des Angeklagten noch einmal nach, damit die anderen besser verstünden, was für Motive ihn bewegt hatten. Nach der Verhandlung wurde mir jedoch klar, wie wenig im Beratungszimmer des Gerichts über das Opfer nachgedacht worden war. Viele von uns konnten sich leicht in die Rolle des Tötenden versetzen, aber nur wenige waren imstande, sich vorzustellen, daß sie selbst irgendwie getötet würden. Wir bemühten uns nach besten Kräften, den Mörder zu verstehen: Der Mörder war ein Teil unseres Lebens, das Opfer nicht.
Nach der Arbeit ruhte ich oft auf einem nahegelegenen öffentlichen Platz ein wenig aus. Mehrere Male bemerkte ich dort einen elegant gekleideten Mann, der auf einer Bank saß und Zeitung las. Er war etwa vierzig Jahre alt und sah recht anziehend aus – häufig warfen ihm spazierengehende Frauen aufmerksame Blicke zu, und manchmal sprach er mit ihnen wie selbstverständlich und spielte mit ihren Kindern. Er trug teure Anzüge, und gelegentlich erschien ein Wagen mit Chauffeur, um ihn abzuholen. Eines Tages, als er gerade eine ausländische Illustrierte wegwerfen wollte, die er gelesen hatte, ging ich zu ihm und fragte, ob ich sie haben könnte. So kamen wir ins Gespräch. Wir trafen uns danach öfters, immer auf dem Platz, wo wir zusam81
men im Schatten saßen und die Passanten beobachteten. Nach der Art, wie er Frauen ansah und über sie sprach, war es offensichtlich, daß er großes Interesse am weiblichen Geschlecht hatte. Er vertraute mir an, daß er allein lebe und sich am liebsten mit Tänzerinnen aus den Revuetheatern und Nachtklubs befasse. Seit zwanzig Jahren gestatte es ihm sein Einkommen, so sagte er, zur gleichen Zeit die Karrieren dieser Mädchen zu fördern und sich dabei auch seine eigenen Wünsche zu erfüllen. Eines Tages fragte er mich, ob ich nicht Lust hätte, seine Freundinnen kennenzulernen. Ich war sofort einverstanden. Er schlug ein kleines Fest in seiner Wohnung vor, nicht mehr als sechs Personen. Wir sollten dabei die einzigen Männer sein, neben vier Nachtklubtänzerinnen. Sie wären nicht jung, sagte er, aber willig und erfahren. Natürlich, so fügte er hinzu, würden sie sich nicht spontan unseren Wünschen fügen. Er bemerkte meine Überraschung und fuhr fort, daß auch alles gleich sei, wenn es nur zur eigenen Erfüllung führe. Dies wäre, so sagte er, schon lange ein Bestandteil seiner Philosophie. Er habe die wesentliche Wahrheit seines Lebens immer in seinen Wünschen und Bedürfnissen gefunden. Dann sagte er abschließend, ich solle in genau einer Woche zu ihm kommen. Als ich eintrat, führte er mich durch einen langen Korridor an vielen geschlossenen Türen vorbei. Mit einem Glas Whisky setzten wir uns in das stille Wohnzimmer, in dem wertvolle, alte Möbel standen. Er bemerkte meine Neugierde und erklärte, daß die anderen Gäste schon da wären – jedes Mädchen in einem Zimmer für sich hinter einer der Türen auf dem Korridor. Er gab mir von jeder einzelnen eine kurze Beschreibung und empfahl mir dann, ich solle mich zuerst mit der Frau befassen, die sich in dem Raum direkt links vom Wohnzimmer befand. Wir tranken noch einen Whisky und erhoben uns dann. Er verschwand sofort in einem Zimmer auf der rechten Seite des Korridors, während ich aufgeregt vor der Tür stand, die er mir bezeichnet hatte. Zweimal klopfte ich an, aber es kam keine Antwort. Ich drückte die Klinke herunter und trat ein: Das Bett war aufgeschlagen, auf dem Nachttisch brannte eine helle Lampe, und in ihrem Licht glitzerten 82
Hunderte von Fotografien, auf den Wänden, auf der Decke, alle von derselben Frau und alle offensichtlich zu verschiedenen Zeiten während ihrer Bühnenkarriere aufgenommen. Eine chronologische Anordnung gab es nicht – auf manchen Bildern war ihr Körper jung und glatt, strömte in seiner Nacktheit erregende Sexualität aus, und auf anderen, direkt daneben, war er schwer und runzlig, schwammig und unförmig, dabei häufig immer noch fast unbekleidet. Mit einem einzigen Blick konnte ich sie hundertmal sehen: hier in wollüstiger Pose auf der Bühne, dort in ruhender Stellung in ihrem Zimmer, wie festgebannt in jeder nur möglichen Stellung. Wo immer ich hinsah, begegnete mir ihr Blick. Ich drehte mich um, und dabei erweckte das Fernsehgerät auf dem Tisch meine Aufmerksamkeit mit seinem leeren Schirm – es erschien merkwürdig unfähig, selbst noch ein Bild zu ertragen. Ich verließ die Wohnung, ohne mich von meinem Gastgeber zu verabschieden. Irgendwo im Haus wurde Violine gespielt. Während ich langsam die Treppe hinunterging, schien es, als ob die leisen Töne den Staubkörnchen nacheilten, die im grauen Licht des Treppenhauses schwebten. Einige Tage später traf ich den Mann wieder. Er erkundigte sich, ob ich mich gut amüsiert hätte, und sagte dann, daß ich ihn recht bald wieder besuchen solle, um auch seine übrigen Freundinnen kennenzulernen.
Sie hatte keine Ahnung, daß ich ihr Liebhaber gewesen war, obwohl wir nun schon seit langem in derselben Firma arbeiteten. Unsere Schreibtische standen sogar in demselben Zimmer, und oft saßen wir mittags in der Cafeteria nebeneinander. Fast ein Jahr war es nun her, daß ich es aufgegeben hatte, sie zum Essen einzuladen, ins Theater oder zu anderen Veranstaltungen, die sie doch nie besuchen wollte. Ich versuchte, aus unseren gemeinsamen Arbeitskollegen irgendwelche Informationen über sie herauszuholen, 83
aber die wußten noch weniger als ich. Niemand im Büro hatte sie jemals näher kennengelernt. Einer der Männer erzählte mir, er hätte gehört, daß sie vor ein paar Jahren geschieden worden sei, und daß ihr einziges Kind zusammen mit seinem Vater im Süden lebte. Ich begann, sie heimlich zu beobachten. Einmal drückte ich mich einen ganzen Sonnabend lang in eine Toreinfahrt gegenüber ihrem Haus. Am Nachmittag dieses Tages ging sie fort und kehrte gegen sieben Uhr zurück. Vor acht Uhr ging sie wieder aus und spazierte gemächlich in Richtung auf die Hauptstraße. Ich folgte ihr bis zu dem großen Platz, wo sie in ein Taxi stieg. Ich kehrte zu meinem Beobachtungsposten zurück. Lange stand ich in der flachen Einfahrt und wartete. Das ständige Nieseln verwandelte sich in heftigen Regen, und mein Mantel wurde schwer vor Nässe. Nach Mitternacht hielt ein Taxi vor ihrer Haustür. Sie stieg aus – allein. Ich brütete oft über meine Besessenheit nach und über die unsinnigen Nachtwachen, zu denen sie mich zwang. Und da ich nicht die geringste Chance zu haben schien, jemals ihr Liebhaber zu werden, beschloß ich schließlich, eine indirekte Methode anzuwenden, durch die ich mehr über sie herausfinden konnte. Ich wandte mich an einen meiner Freunde, von dem ich glaubte, daß er das Zeug hätte, mit ihr eine Verbindung anzuknüpfen, und vertraute mich ihm an. Er war bereit, mir zu helfen, und wir entwickelten sofort einen Plan. Mein Freund sollte zunächst einmal Geschäftsbeziehungen zur Firma meines Arbeitgebers aufnehmen. Danach würde er sich nach bestimmten Produkten erkundigen, deren Verkauf Sache jener Abteilung war, in welcher die Frau arbeitete. Zwei Tage später rief er mich an und berichtete, daß er für den nächsten Tag eine geschäftliche Besprechung vereinbart habe, und daß er vermutlich mit der Frau direkt verhandeln würde. Ich sah ihn das Büro betreten, und eine lähmende Spannung überfiel mich. Ohne mich anzusehen, ging er hinüber zum Abteilungsleiter. Dann hörte ich, daß er mit dem Mädchen sprach. Noch am selben Nachmittag teilte er mir mit, daß alles gutgegangen sei, und daß ein weiteres Treffen verabredet 84
worden wäre. Es war nach dieser zweiten geschäftlichen Zusammenkunft, daß sie seine Einladung zum Abendessen annahm. In derselben Woche noch wurde sie seine Geliebte. Seiner Beschreibung nach war sie ihm ergeben und war bereit, alles für ihn zu tun: Sie sei sein Werkzeug geworden, und wenn ich sie besitzen wolle, ließe sich das arrangieren. Er habe schon von ihr verlangt, fügte er hinzu, sie müsse ihm eines Tages ihre Liebe und Ergebenheit dadurch beweisen, daß sie sich auf seinen Wunsch einem anderen Mann hingebe. Er hatte ihr versichert, daß sie niemals erfahren würde, wer dieser andere sei, denn er würde ihr vorher die Augen verbinden. Zuerst war sie entrüstet und fühlte sich gedemütigt und beleidigt. Dann aber, so berichtete mein Freund, hatte sie eingewilligt. Am nächsten Abend verließ ich meine Wohnung und nahm ein Taxi zu seinem Haus. Ich kam zu früh und mußte erst noch eine Zeitlang in der Nachbarschaft umhergehen. Schließlich stellte ich mich lautlos vor die Tür und lauschte. Nichts war zu hören. Ich klingelte, mein Freund öffnete und bedeutete mir gelassen, ins Haus zu treten. In der Mitte des Schlafzimmers lag ein weißer, runder Wollteppich auf dem Boden. Eine abgedunkelte Lampe warf ihren gedämpften Schein über die nackte Frau, die auf ihm ruhte und eine breite, schwarze Binde trug, welche ihr Gesicht von der Stirn bis über die Nasenwurzel bedeckte. Mein Freund kniete sich neben sie und streichelte ihren Körper. Dann winkte er mir zu. Ich näherte mich. Vom Plattenspieler her tönte leise eine melancholische Ballade. Das Mädchen lag still und wußte offensichtlich noch nichts von der Anwesenheit eines Dritten. Ich sah zu, wie seine Finger mit leichter Berührung über ihre Haut strichen. Sie hob sich ihm entgegen, suchte ihn mit ihren Händen, und er flüsterte ihr etwas zu. Niedergeschlagen ließ sie sich zurück auf den Teppich fallen, drehte ihren Kopf nach der anderen Seite. Ihr Rücken krümmte sich, ihre Hände legten sich übereinander, wie zum Schutz. Ich zögerte. Geduldig begann mein Freund von neuem mit seinen Liebkosungen. Die Sehnen am Halse des Mädchens entspannten sich, ihre Finger waren nicht mehr verkrampft, aber sie wollte sich noch nicht erge85
ben. Mein Freund stand auf, nahm seinen Morgenrock und ging zur Tür. Ich hörte, wie er in der Bibliothek das Fernsehgerät einschaltete. Ich prägte mir noch einmal fest ein, daß ich kein Wort sagen durfte, und betrachtete ihr zerzaustes Haar, den klaren Schwung ihrer Schenkel, die Rundungen ihrer Schultern. Ich wußte, daß ich ihr nichts weiter bedeutete als eine Laune des Mannes, den sie liebte, daß ich für sie nur eine Erweiterung seines Körpers war, seiner Berührungen, seiner Liebe, seiner Verachtung. Mein Begehren wuchs, während ich vor ihr stand, aber das Bewußtsein meiner Rolle war stärker als der Wunsch, sie zu besitzen. Um dieses Bewußtsein zu überwinden, versuchte ich mir ins Gedächtnis zu rufen, was mich im Büro bei ihrem Anblick so oft in Erregung versetzt hatte: Eine zarte Mulde unter dem Arm im Ärmelausschnitt der Bluse, die Bewegungen ihrer Hüften in der Enge des Rockes. Ich schob mich an sie heran und spürte ihren Widerstand, aber sie versuchte nicht, sich mir zu entziehen. Ich berührte ihren Mund, ihr Haar, ihre Brüste, ihren Bauch und streichelte sie, bis sie aufstöhnte und die Arme hob mit einer Bewegung, die sowohl Abwehr wie auch Bitte bedeuten konnte. Ich legte mich über sie, um sie zu nehmen, die Augen geschlossen, um ihre Nacktheit nicht sehen zu müssen. Mein Gesicht berührte die glatte, schwarze Binde. Unvermittelt drang ich in sie ein: Sie wehrte sich nicht. Mit einer Bewegung, die beinahe schüchtern begann und dann fast leidenschaftlich wurde, zog sie mich an sich heran und preßte meinen Kopf an ihre Brust. Ihr offenes Haar fiel lose um ihr Gesicht, ihr Körper spannte sich, und ihre Lippen öffneten sich in wortlosem Erstaunen. Dann lief ein Zittern durch unsere Körper. Ich glitt von ihr herab zur Seite. Sie lag ganz still, die Muskeln angespannt, die Hände fromm über der Brust gefaltet, wie das Bild einer mittelalterlichen Heiligen. Ihr Körper war kalt, starr und ruhig. Nur ihr verzerrtes Gesicht hatte sich noch nicht der Ruhe unterworfen, die ihren Körper umfangen hatte. Die schwarze Binde war von dem Schweiß getränkt, der zwischen den angestrengten Falten auf ihrer Stirn herablief. Ich ging ins Badezimmer, gab meinem Gastgeber auf dem Wege 86
rasch ein Zeichen, zog mich an und verließ das Haus. In meiner eigenen Wohnung warf ich mich aufs Bett, und augenblicklich zerfiel meine Erinnerung an diese Frau in zwei Vorstellungen: Die kühle Person im Büro, vollständig angezogen, gleichgültig im Raum hin und her gehend, und das nackte Mädchen mit der Augenbinde, das sich auf Befehl eines anderen Mannes meinem Willen unterwarf. Beide Bilder standen klar und scharf vor mir – aber sie weigerten sich, miteinander zu verschmelzen. Noch stundenlang verdrängten und ersetzten sie einander vor meinem inneren Auge. Später in der Nacht wachte ich mehrere Male auf und konnte mich weder an die Form noch an die Bewegungen ihres Körpers erinnern, dafür aber deutlich und klar an jede noch so geringe Einzelheit ihrer Kleidung. Es war, als ob ich sie für immer und ewig auszöge, für immer und ewig von ihr getrennt durch Berge von Blusen, Röcken, Strumpfgürteln, Strümpfen, Mänteln und Schuhen.
Kurz nach dem Kriege, erinnere ich mich, ging ich häufig Schmetterlinge fangen. Ein ganzes Viertel der Stadt war von Bomben völlig zerstört worden, und niemand lebte mehr dort. Die stinkenden Trichter zwischen den Ruinen waren zur Hälfte mit nicht mehr erkennbaren Gegenständen angefüllt, die einmal irgendwelcher Hausrat gewesen sein mußten, und zwischen ihnen führten Horden von Katzen Krieg gegen ganze Armeen ausgehungerter Ratten. Hier und da, zwischen Bergen von Schutt und verfaulendem Holz oder in der Asche ausgebrannter Häuser, kämpften Unkraut und wildwachsende Blumen um einen Weg zum Licht aus Lehm und modrigen Ziegelhaufen, brachen hervor als jähe Lanzen von Grün. Schmetterlinge schwärmten wie rebellische Splitter eines geborstenen Regenbogens vor den rauchgeschwärzten Mauern. Meine Freunde und ich fingen sie dutzendweise in selbstgemachten Netzen. Sie ließen sich leichter ergreifen als die streunenden Katzen, die Vögel oder die wilden, hungrigen Ratten. Eines Tages sperrten wir eine ganze Menge Schmetterlinge in ein 87
großes Einmachglas, das wir mit der Öffnung nach unten auf einen alten Tisch stellten, und zwar so, daß es auf der einen Seite ein wenig über den Rand ragte. Die so entstandene Öffnung war groß genug, um Luft hereinzulassen, aber so eng, daß die Schmetterlinge nicht entkommen konnten. Das Glas polierten wir sorgfältig. Zunächst merkten die Schmetterlinge gar nicht, daß sie gefangen waren, und versuchten, durch das Glas davonzufliegen. Sie stießen aneinander und flatterten umher wie frischgeschnittene Blumen, die sich unter der Hand eines Zauberers von ihren Stengeln erhoben hatten und nun ein eigenes Leben führten. Aber die unsichtbaren Wände hielten sie zurück, als wäre die Luft rings um sie plötzlich undurchdringlich geworden. Nachdem wir das Glas fast ganz mit Schmetterlingen angefüllt hatten, hielten wir brennende Streichhölzer an den unteren Rand. Langsam stieg bläulicher Rauch zwischen die pulsierenden Blüten im Innern. Zuerst schien es, als brächte jedes neue Streichholz nicht den Tod, sondern nur noch mehr Leben in diese Menge lebendiger Blütenblätter, denn die Insekten bewegten sich rascher und rascher, stießen zusammen und schlugen einander den bunten Staub von den Flügeln. Mit jeder Rauchwolke, die das Glas milchig färbte, wiederholte sich dieses rasende Gewirbel. Wir schlossen Wetten darüber ab, welcher Schmetterling es wohl am längsten aushalten würde, und wieviel brennende Streichhölzer die einzelnen wohl noch vertrugen. Der Strauß unter dem Glas wurde blasser und blasser. Als die letzte Blüte herabgesunken war und mit den anderen leblos am Boden lag, hoben wir das Glas wieder hoch, und vor uns lag eine Palette lebloser Fetzen. Der Wind verwehte den Rauch, und es schien, daß die kleinen Schmetterlingsleichen bebten und mit den Flügeln zuckten, als wollten sie sich wieder in die Lüfte erheben.
Draußen vor der Stadt lag eine alte, verlassene Fabrik. Seit Jahren schon sollte sie abgerissen werden, keine Scheibe in den Fenstern war mehr 88
ganz. Die Maschinen waren aus den Sälen verschwunden, und selbst die elektrischen Leitungen hatte man herausgerissen. Hier konnte ich schlafen, ohne daß mich jemand störte. Nachts wurde die Fabrik von einem alten Wächter bewacht, der keine Ahnung hatte, daß ich in ihren Mauern lebte. Seine gewohnheitsmäßigen Rundgänge auf dem Hof vom Anbruch der Nacht bis zum frühen Morgen führten ihn niemals in die Gebäude. Aber obwohl er sich überhaupt kaum um irgend etwas kümmerte, fand ich seine Anwesenheit störend. Der Wächter hatte keinen Platz zum Ausruhen, außer einem Torbogen. Unter den setzte er häufig seinen Stuhl und schaukelte vor und zurück. Ich hatte den Eindruck, daß er eigentlich kaum jemals an die Fabrik dachte. Es schien mir durchaus möglich, daß er nur deswegen hier war, weil er nichts Besseres zu tun hatte. Eines Nachts konnte ich nicht schlafen, und ich beobachtete den alten Mann, wie er auf dem Hof umherging und manchmal stehenblieb, um sich seine Pfeife anzuzünden. Ich überlegte, ob es ihm wohl jemals in den Sinn gekommen war, daß außer ihm noch jemand anders hier sein könnte. Überall, in den Stockwerken und auf den Treppen, lagen leere Bierflaschen herum. Lautlos stellte ich ein paar am Fenster auf und beobachtete sorgfältig Hof und Wächter. Die erste Flasche zerplatzte ein paar Schritte links von ihm. Er machte einen Satz, schrie auf und flüchtete unter den Torbogen. Aufgeschreckte Katzen sprangen von den leeren Ölfässern. Dann war alles still. Was würde der Wächter jetzt tun? Er konnte unter dem Torbogen bleiben, außer Sicht für mich und bereit, sich gegen weitere Angriffe zu verteidigen, und so den Morgen erwarten. Oder er konnte die Fabrik stehenden Fußes verlassen. Statt dessen aber tauchte er wieder auf, vorsichtig im Zickzack laufend, als wolle er mir das Zielen schwermachen. Dann bückte er sich rasch, um die Glassplitter auf der Erde zu inspizieren. Er spähte ringsum ins Dunkel, sicherlich immer noch ängstlich, immer noch mit der Möglichkeit einer neuen Attacke rechnend – aber er konnte nicht feststellen, wo die Flasche hergekommen war. Dann 89
schien er allmählich seine Fassung wieder zu gewinnen, zündete seine Pfeife an und nahm seinen Rundgang wieder auf. Wieder zielte ich sorgfältig und ließ die zweite Flasche direkt vor seine Füße fallen. Krachend zersplitterte sie und übertönte seinen Schrei. Er rannte zurück unter den Torbogen, aber dieses Mal kam er ebenso schnell wieder heraus. Sein Kopf zuckte krampfhaft hin und her. Offensichtlich wollte er sich einfach nicht verstecken. Obwohl er wissen mußte, daß er dort mitten im Hof ein ideales Ziel abgab. Als die nächste Flasche ganz dicht vor ihm zerbarst, sprang er zurück – aber die folgende krachte dann direkt hinter seinen Fersen aufs Pflaster, so genau hatte ich gezielt. Er verschwand schleunigst wieder im Schatten des Torbogens. Dort wartete er in sicherer Deckung ab, was ich als nächstes tun würde. Nur seine Tabakspfeife glühte im Dunkeln. Was dachte er sich wohl über seinen Gegner? Er mußte spüren, daß sein Leben in Gefahr war, und daß ihn sein Peiniger aus einem der dunklen Fenster hoch über dem Hof belauerte. Er wußte, daß jede dieser Flaschen seinen Tod bedeuten konnte. Unter dem Torbogen blieb es dunkel, dann flammte wieder ein Streichholz auf. Der alte Mann schob sich langsam, fast unmerklich, an der Mauer entlang in Richtung auf den scherbenübersäten Hof. Ich zielte und warf drei Flaschen kurz hintereinander. Eine davon mußte seinen Rücken getroffen haben, denn er fluchte laut und zog sich in einen Seitengang zurück, der knapp außerhalb meiner Reichweite lag. Ich hörte, wie er dort auf und ab stampfte und wütend mit seinem Stock auf den Boden schlug. Unerwartet erschien er dann wieder in Schußweite. Ich wartete und sah zu, wie er mit seinem Spazierstock anscheinend unbekümmert die Scherben beiseite fegte, sie mit dem Fuß vor sich herstieß und dabei ein altes Reiterlied pfiff. Ich feuerte zwei Flaschen zu gleicher Zeit ab. Aber der alte Mann trat nun nicht mehr den Rückzug an: Er sprang nur zur Seite, leichtfüßig wie ein Fechter. Die nächsten Würfe kamen nicht einmal in seine Nähe, und er schwang seinen Stock in spöttischem Gruß. Ich versuchte es noch einmal, aber diesmal ging der Wurf viel zu weit. Und der Wächter kümmerte sich überhaupt nicht mehr um die Angriffe. Die 90
sprühenden Funken aus seiner Pfeife zeigten deutlich an, wo er stand. Ich stapelte die restlichen Flaschen wie Granaten neben mir auf und kalkulierte sorgfältig die Entfernung. Am nächsten Tag berichteten die Zeitungen, daß ein alter Mann von einer Bierflasche getroffen worden sei, die ein unbekannter Angreifer geworfen hatte, und auf der Stelle getötet worden wäre. Er sei als Nachtwächter angestellt gewesen, als die Fabrik noch in Betrieb war, und als sie schloß, habe er sich geweigert, seinen Posten zu verlassen. Davor hatte er lange Zeit im Gefängnis verbracht, weil er während des Krieges aus der Armee desertiert war.
Das Taxi rollte in schneller Fahrt durch die Straßen der Hauptstadt, an den Parteigebäuden vorbei, an der Universität mit ihren alten Statuen, den Museen und modernen Wolkenkratzern, und dann über die Brücke, die den Fluß überspannte. Ich war auf dem Wege zum Flughafen. Mir wurde klar, daß ich dies alles hier zum letzten Male sah. Irgendwo zwischen diesen Gebäuden verstreut, die Statuen umschwebend wie unsichtbarer Nebel, mußten sich vierundzwanzig Jahre meines Lebens befinden. Ich war mir dessen bewußt, aber es bewegte mich nicht – es hätten ebenso vierundzwanzig Tage oder vierundzwanzig Jahrhunderte sein können. Meine Erinnerungen waren holprig und uneben wie eine alte, kopfsteingepflasterte Straße. Der Flughafen. Die Paßkontrolle. Der weichgepolsterte Sitz im Flugzeug. Der Start. Ich mußte immer weiter darüber nachdenken, daß ich mein eigenes Viertel dieses Jahrhunderts damit zugebracht hatte, auf diese Abreise zu warten. Und daß die Zeit, in die ich nun aufbrach, mir eigentlich unvorstellbar war. Jetzt, bereits in der Luft, wurde mir plötzlich unbehaglich bei der Feststellung, daß ich während der letzten Jahre nichts getan hatte, um meine immer näher heranrückende Ankunft auf einem neuen Kontinent für mich wirklicher zu machen. Nur die Abreise war real. Ich fühlte mich betrogen und beraubt: So viele Jahre hatten nichts erbracht als einen Sitz im Flugzeug. 91
Wäre es mir möglich gewesen, das Flugzeug in der Luft für immer festzuhalten, die Kräfte zu überwinden, die es nach oben stießen und nach unten zogen, mich dem Wind und den Wolken entgegenzustemmen – ich hätte es gern getan. Ich wäre in meinem Sessel sitzengeblieben, die Augen geschlossen, Kräfte und Leidenschaften verflogen, mein Geist so still wie ein Kleiderständer unter einem vergessenen Hut – zeitlos, von niemandem gemessen, von niemandem gerichtet und niemandem zum Ärger, auf ewig bewegungslos zwischen meiner Vergangenheit und meiner Zukunft schwebend.
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as Flugzeug landete, rollte und kam schließlich endgültig vor dem Flughafengebäude zum Stehen. Ich zog meinen Pelzmantel an. Obwohl es Winter war, fiel immer weiter ein warmer, frühlingshafter Regen. Es war ein großartiger Mantel aus den Pelzen sibirischer Wölfe, er war weich, glänzte silbrig, hatte einen riesigen Kragen und weite, flatternde Ärmel. In einer kleinen Stadt mitten in der Steppe hatte ich ihn erworben. Ich erinnerte mich noch genau an den Mann, der ihn mir verkaufte. Nur in einem solchen Mantel könne man es wagen, hatte er gesagt, den Nordpol zu überqueren, und nur in den westlichen Ländern könnten sich die Leute solche Mäntel leisten. Vom Flugzeug zu den Gebäuden mußte man zu Fuß im Freien gehen, und mit jedem Schritt wurde mein Mantel schwerer, saugte mehr und mehr Wasser auf. Ich ging den langen Korridor zur Zollkontrolle entlang. Hinter mir bildete sich eine wäßrige Spur. Die anderen Passagiere starrten mich neugierig an. Außer mir trug niemand einen Pelzmantel, und es schien mir, daß der Verkäufer in der Steppe den Reichtum des Westens beträchtlich übertrieben hatte. Ich holte meinen Koffer ab, der mit Wörterbüchern vollgestopft war, und wollte gerade quer durch den Wartesaal gehen, als der Griff plötzlich riß. Der Koffer schlug auf den Boden, brach auf wie eine riesige Muschel und spie seinen Inhalt von sich. Leute drehten sich um, Kinder lachten. Die Jugendherberge war überfüllt. Der Verwalter erlaubte mir schließlich, nachdem ich ihn mit ein paar Rollfilmen bestochen hatte, in einer fensterlosen Werkstatt neben dem Heizungskeller zu 93
schlafen. Abends, wenn irgendwelche automatischen Einrichtungen die Boiler in Betrieb gesetzt hatten, rauschte heißes Wasser durch Rohre und Wände, und strahlende Hitze erfüllte den Raum. Mein Pelz, immer noch schwer vom Regen des Tages, dampfte wie unter einem Plätteisen. Erst trocknete der Kragen, dann die Schultern, danach der Rücken und schließlich die Vorderseite und die Umschläge der Ärmel. Während die letzte Feuchtigkeit schwand, schrumpfte der Mantel ein und wurde bretthart. Der Pelz war rauh, weil sich die Haare verfilzt und verknotet hatten. Fast gleichzeitig schien keine Luft mehr im Raum zu sein. Mein Mund und meine Nase waren ausgetrocknet, und ich warf mich ruhelos auf der Pritsche hin und her. Jeden Morgen hoffte ich, daß Schnee und Frost kommen und meinen Mantel vor dem Tod retten, neues Leben in seine schrumpfenden Schultern hauchen, seine Ärmel wieder strecken und frischen Glanz über seinen einstmals schimmernden Rücken breiten würden. Ich besaß keinen anderen Mantel, den ich bei der Arbeitssuche hätte anziehen können. Und es regnete immer weiter, tagelang. Der Pelz verwandelte sich langsam in einen filzigen Klumpen. Den ganzen Tag lief ich herum und bot in der Nachbarschaft meine Dienste an, aber da ich die Sprache so gut wie überhaupt nicht beherrschte, wollte mich niemand haben. Meinen letzten Rollfilm hatte ich hergegeben, um etwas zu essen zu bekommen. Ich wanderte durch die Straßen und stellte fest, daß mein Interesse für die gefüllten Schaufenster der Lebensmittelgeschäfte immer stärker wurde. Ich war völlig ausgehungert. In den Läden und Supermärkten häuften sich die Nahrungsmittel zu Bergen, aber keins der Geschäfte war voll genug, als daß sich ein hungriger Dieb im Pelzmantel ohne weiteres in der Menge verbergen konnte. Außerdem paßten nicht nur die Verkäufer auf, sondern überall hingen an strategischen Punkten riesige Spiegel unter der Decke, in denen ich mich entweder grotesk vergrößert sah, oder flach wie ein Pfannkuchen auf einer Unterlage von exotischem Obst. Ich war beinahe daran, einfach einen Apfel oder eine Semmel zu stehlen, aber dann fehlte mir 94
jedesmal der Mut. Ich verließ die Geschäfte eilig wieder, verfolgt von den Blicken amüsierter Kunden. Am Abend drängten sich die Leute dichter in den Läden. Ich war sowohl hungriger als auch kühner geworden. In einem großen Supermarkt wanderte ich umher, zog die Gerüche ein, bemühte mich, anderen Kunden nicht mit meinem nassen Pelz zu nahe zu kommen, und war auf der ständigen Suche nach irgendwelchen nahrhaften Lebensmitteln, die gleichzeitig so klein waren, daß man sie leicht verbergen konnte. Es schien mir, daß ich zum Beispiel die kleinen Glasbüchsen, vor denen ich stand, ohne große Schwierigkeiten erst in der Hand verbergen und dann rasch in die äußere Brusttasche meines Mantels gleiten lassen könnte. Ich hielt eines der kleinen, kalten Dinger ein Weilchen betrachtend zwischen den Fingern, hob dann die hohle Hand wie zufällig zum Kinn und ließ die Büchse direkt in die Tasche rutschen. In aller Ruhe verließ ich das Geschäft. In den folgenden Tagen besuchte ich noch viele weitere Läden. Ich stahl nur schwarzen, echten Kaviar, denn ich wußte, wie nahrhaft und kräftigend er als Speise war.
Ich wurde angeworben, um Farbe und Rost von den Flanken eines Schiffes abzuklopfen, das neu überholt werden sollte. Der Vermittler sagte, daß ich nur nachts arbeiten könne. Es sei illegal, Leute auf dem Schiff zu beschäftigen, die nicht der Gewerkschaft angehörten. Er erklärte mir, daß andererseits niemals Beschwerden von der Gewerkschaft kamen, solange die weniger anstrengende und besser bezahlte Beschäftigung als Maler nur an Mitglieder vergeben wurde. Aber die Malarbeit konnte nicht beginnen, ehe nicht die alten Farbschichten entfernt waren, und diese Arbeit lag weit unter der Würde der Gewerkschaftsmitglieder, solange es bessere Arbeit gab. Abends wurden wir in großen Gruppen auf das Schiff gebracht. Die angeheuerten Arbeiter waren alles neu eingetroffene Emigranten, durchweg arm, oft im Zustand völliger Verzweiflung. Viele von ihnen waren entweder illegal ins Land gekommen oder hatten andere Grün95
de, die Behörden zu meiden. Die Bezahlung war nur ein Drittel des normalen Lohns, aber ich war erleichtert, daß ich überhaupt eine Art von geregeltem Einkommen hatte. Obwohl das Schiff am Kai vertäut lag, rollte es in den kurzen Wellen des winterlichen Hafens heftig hin und her. Man hatte uns weder Stiefel noch Overalls gegeben – jeder bekam einfach nur einen Meißel mit breiter Schneide und einen Hammer in die Hand gedrückt. Beim Abklopfen mußten wir achtgeben, daß die Farbsplitter nicht unseren Arbeitsgenossen weiter unten auf die Köpfe fielen. Mir flogen sie beim Arbeiten ins Gesicht und setzten sich in meiner Kleidung fest. In unseren Bootsmannsstühlen hingen wir hoch über der Wasserfläche und schwankten hin und her, wenn der eisige Wind vom Meer hereinblies. Die Bullaugen des Schiffes waren dunkel. Wenn ich einen Blick in eines von ihnen warf, sehnte ich mich jedesmal danach, in der Kabine dahinter zu sein. Wie gerne wäre ich der einzige Passagier auf diesem verlassenen Schiff gewesen, um zu schlafen, geschützt von Stahlwänden auf allen Seiten, und dann am Morgen in irgendeinem fernen Ozean zu erwachen, meine Identität vergangen und mein Bestimmungsort auf keiner Karte verzeichnet. Ich arbeitete in meinem Pelzmantel, der bald mit klebrigen Farbteilchen übersät war und von Stunde zu Stunde schwerer und steifer wurde. Am frühen Morgen kehrte ich in meine überheizte Unterkunft zurück. Die Hitze dort, vermischt mit dem ständigen Farbgeruch, zehrte an meiner Kraft und machte mir übel. Ehe ich einschlief, kratzte ich an den Farbsplittern und versuchte, sie aus dem Pelz zu entfernen, ehe sie hart wurden. Aber ich war zu erschöpft, und die Zeit reichte nie aus. Später am Tag, wenn ich fortgehen wollte, mußte ich mich wieder mit dem widerspenstigen Mantel auseinandersetzen. Seine Ärmel wehrten sich, wenn meine Arme hineinschlüpfen wollten, und seine Taschen schienen sich zu weigern, meine Hände aufzunehmen. Wenn ich ihn vor der Brust zusammenzog, knirschte er vorn in ärgerlichem Protest. Der Arbeitsvermittler gab mir einen Brief mit, den ich einem meiner Kollegen aushändigen sollte. Namen und Adresse waren in fremden Buchstaben geschrieben. Ich kannte die Sprache nicht, aber ich 96
beherrschte ihr Alphabet und konnte einzelne Wörter entziffern. Auf dem Deck des Schiffes rief ich den Namen aus und versuchte, ihn möglichst korrekt auszusprechen. Ein Mann erschien und griff nach dem Umschlag. Auch er sprach eine fremde Sprache. Ich bedeutete ihm mit Gesten, daß ich ihn nicht verstand. Er sagte noch etwas. Ich wußte nicht, was es war. Er ging fort und kam nach ein paar Minuten mit drei anderen Männern wieder. Aufgeregt redend, standen sie um mich herum. Ich wollte ihnen klarmachen, daß ich sie nicht verstand, aber sie glaubten mir nicht. Ich merkte, daß sie mich für einen der ihren hielten, der sich seiner Herkunft schämte und sie nicht zugeben wollte. Sie stießen mich auf dem Deck herum. Obwohl mich mein Mantel vor ihren Schlägen schützte, hatte ich große Angst. Denn wenn ich über Bord fiel, dann mußte ich in meinem schweren Pelz ertrinken. Ich sah mich schon auf dem Grunde der See, von meinem Mantel bedeckt wie von einem Leichentuch. Die Männer schlugen immer weiter auf mich ein. Die Knöpfe sprangen von meinem Pelz, und die Nähte begannen zu platzen. In diesem Augenblick erschien der Arbeitsvermittler, und meine Angreifer zogen sich zurück. Ich stand auf und zog die zerlumpten Fellstreifen um mich zusammen. Der Vermittler nannte mich einen Unruhestifter: Ich mußte das Schiff sofort verlassen und durfte nie wieder zurückkommen.
Ich arbeitete auf einem langgestreckten, schmalen Parkplatz und lebte von den Trinkgeldern, die man mir gab. Eines Tages kam ein Mann, um seinen luxuriösen, ausländischen Wagen abzuholen. Ich fuhr den Wagen vor, und der Mann fragte mich nach meinem Herkunftsland. Dann winkte er mich zu sich in den Wagen und fragte mich ohne Umschweife, ob ich nicht etwas Geld verdienen wolle. Dabei zeigte er mir ein ganzes Bündel Banknoten und fügte hinzu, mit etwas Geschicklichkeit könne ich genausoviel Geld verdienen und noch genug darüber, um auch einen solchen Wagen zu kaufen und mir eine Woche 97
mit einem Mädchen im besten Hotel der Stadt zu leisten. Der Mann fragte mich über meinen Lebenslauf aus und sagte dann, auch er wäre einst ein Neuling in diesem Land gewesen. Die meisten Menschen hier, sagte er, wüßten schon, wo das Geld zu finden sei – aber nicht, wie sie sich ihren Teil davon holen sollten. Ein paar jedoch, wie er selbst, hätten mehr als nur ihren Teil. Er fügte hinzu, daß es in der heutigen Welt schwierig sei, viel Geld auszugeben, wenn man der Steuerbehörde nicht nachweisen konnte, wo es herkam. Man brauchte eine legale Firma, betonte er, durch die das Geld geschleust werden mußte, damit es einen ehrlichen Anstrich bekam. Er zog eine Banknote aus der Tasche. Ich hätte von ihrem Gegenwert drei Monate lang leben können. Er zerriß sie in zwei Hälften, gab mir die eine und sagte, die andere könne ich mir verdienen, wenn ich jemandem eine Nachricht von ihm überbrächte. In der Nähe des Parkplatzes gab es ein Restaurant, erklärte er mir, das einem alten Mann mit zwei Töchtern gehörte. Es war ziemlich groß, hatte aber nur wenig Kundschaft. Der alte Mann war schon mehrere Male von Leuten angesprochen worden, die daran interessiert waren, das Restaurant entweder zu kaufen oder Teilhaber zu werden. Aber er hatte sich auf keines der Angebote eingelassen. Da dieser alte Mann ursprünglich aus demselben Land stammte wie ich, hoffte mein Auftraggeber, daß sein eigenes Angebot etwas mehr Gewicht bekäme, wenn ich es übermittelte. Ich mache einen sehr überzeugenden Eindruck, meinte er. Und mein Auftrag bestünde einfach darin, den alten Mann aufzufordern, einen Vetter meines neuen Bekannten als Partner ins Geschäft zu nehmen. Wenn er einwilligte, dann war ihm ein beträchtlicher Teil des Profits sicher. Er brauchte nur eine bestimmte Telefonnummer anzurufen, die ich ihm geben sollte, und dann würde alles in die Wege geleitet. Wenn er sich aber weigerte, dann sollte ich ihm sagen, daß er im Grunde genommen keine Wahl hätte – wenn er seine Töchter liebte. Mir war sofort klar, daß der Sinn dieser geplanten Partnerschaft darin bestand, das Lokal offiziell mehr Gewinn abwerfen zu lassen, als wirklich der Fall war, und auf diese Weise illegal verdientes Geld in die Bücher zu schmuggeln. Ich ging, um den alten Mann auf98
zusuchen. In dem Restaurant traf ich nur eine Frau, die den Fußboden aufwischte. Ich sagte ihr, daß ich den Eigentümer sprechen wolle, und sie rief ihn herbei. Als ich ihn begrüßte, erkannte er sofort meinen Akzent und meinte, daß wir doch sicher aus derselben Gegend stammten. Zuerst sagte ich ihm, daß ich ihm etwas auszurichten hätte von jemandem, der ihm helfen wollte. Er brauche keine Hilfe von Fremden, sagte er darauf. Im letzten Krieg habe jemand seiner gelähmten Frau auf einen Zug geholfen, und dieser Zug sei in ein Konzentrationslager gefahren. Die Helfer seien jung und eifrig und sauber uniformiert gewesen. Er wolle keine Hilfe von Fremden, wiederholte er. Dann fragte ich ihn auftragsgemäß nach seinen Töchtern, und seine Lippen wurden bleich. »Warum sprechen Sie von meinen Kindern?« fragte er. »Die haben mit meinem Geschäft nicht das geringste zu tun. Wieso wissen Sie überhaupt von ihnen?« »Der Mann, der mich geschickt hat«, sagte ich, »macht keinen Unterschied zwischen Ihrer Familie und Ihrem Geschäft. Er hat mir von Ihren Töchtern erzählt: Die jüngere geht jeden Morgen zu Fuß in die Schule, und die ältere überquert jeden Tag die Allee dort drüben auf dem Weg zum Klavierunterricht. Mein Auftraggeber weiß sogar, wer ihr Zahnarzt ist.« Der alte Mann stand auf. Er zitterte am ganzen Leibe. »Ich werde die Polizei rufen!« schrie er, aber er machte keine Anstalten, den Tisch zu verlassen. »Das werden Sie nicht tun«, sagte ich. »Die Polizisten sind jung und eifrig und sauber uniformiert. Glauben Sie, die werden Ihre Töchter jeden Tag in die Schule, zum Zahnarzt und zum Musikunterricht begleiten? Glauben Sie das?« Der alte Mann setzte sich wieder, ganz still, und begrub das Gesicht in den Händen. »Mein Auftraggeber«, fuhr ich fort, »liebt gleichfalls die Musik. Es wäre doch ein großer Jammer, hat er zu mir gesagt, wenn Ihre Tochter sich die Hände verletzen würde und niemals Pianistin werden könnte. Und, dieser Mann, der mich geschickt hat, meinte auch, ein alter Mann wie Sie, der alle seine Verwandten verloren hat, sollte ein Restaurant nicht über seine Töchter stellen.« 99
Der alte Mann schwieg. Ich wartete. Aus dem oberen Stockwerk ertönte Klaviermusik. Der Alte merkte, daß ich aufmerksam geworden war. »Sie wird eines Tages eine große Pianistin sein«, sagte er, »Musik bedeutet ihr mehr als die menschliche Sprache.« Noch einen Augenblick überlegte er. »Geben Sie mir die Telefonnummer von diesem Mann«, sagte er dann. »Ich werde ihn anrufen. Ich muß mich wohl mit diesem Partner abfinden.« Am nächsten Tag war ich wie üblich auf meinem Parkplatz. Gegen Mittag fuhr mein neuer Auftraggeber vor. »Das war gute Arbeit«, sagte er. »Eines Tages werden Sie es sicherlich noch zum Rechtsanwalt bringen oder selbst ein Restaurant besitzen.« Zwischen den Fingern hielt er die zweite Hälfte des Geldscheins. Ungefähr ein Jahr später ging ich zu meinem Friseur. Er war erst vor kurzem in dieses Land gekommen, hatte einen kleinen Laden übernommen und war selbständig geworden. Sein Geschäft war hell und sauber, und von der Straße aus konnte man durch das große Schaufenster direkt hineinsehen. Aber heute war der Friseur unruhig und aufgeregt. Er könne mich nicht rasieren, sagte er, dafür wäre er zu nervös. Ich hatte das Gefühl, daß etwas Ernsthaftes vorgefallen war. Deshalb schlug ich vor, in ein Lokal zu gehen und zu plaudern. Beim Mittagessen erzählte mir der Friseur, was passiert war. Vor ein paar Tagen war ein Besucher mit einer Botschaft erschienen – daß nämlich sein Schaufenster Schutz brauche. Und wenn er diesen Schutz nicht annehmen und auch nicht dafür bezahlen wolle, dann könne es passieren, daß die große Scheibe von irgendwelchen Herumtreibern aus der Nachbarschaft eingeschlagen würde. Der Friseur hatte erwidert, er habe sein Geschäft seit fast einem Jahr hier, ohne daß irgend etwas passiert sei – warum sollte jetzt auf einmal sein Schaufenster eingeschlagen werden? Und in jedem Falle käme ja die Versicherung für solche Schäden auf. Aber der Besucher wiederholte hartnäckig, daß es ein paar junge Männer in der Gegend gebe, die nachts auf Motorrädern durch die Straßen fuhren und Ziegelsteine durch die Scheiben gewisser Läden warfen. Und natürlich würde auch die großzügigste Versicherung nicht immer wieder für zerbrochene Scheiben zahlen. Außerdem hielten die 100
Reparaturarbeiten jedesmal das Geschäft auf. Und deshalb, schlug der Besucher vor, solle der Friseur den inoffiziellen nachbarlichen Schutzdienst in Anspruch nehmen, wie das schon viele andere kleine Geschäftsleute in der Gegend taten. Der monatliche Beitrag richtete sich nach seinem Umsatz. Die Summe, die ihm der Besucher genannt hatte, betrug mehr als die Hälfte seines Nettoeinkommens pro Monat. Er hatte eine Woche Zeit, sich die Sache zu überlegen. »Und was wollen Sie tun?« fragte ich. »Ich kann nicht zahlen. Ich habe eine schwangere Frau. Ich weiß, daß die Polizei mich nicht lange schützen kann. Also in jedem Fall verliere ich. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als meinen Laden zu verkaufen.« Ich sah sofort, daß der Friseur keine Ahnung hatte, wie man sich wehrt. Ich erklärte ihm, daß ich die Sache regeln könne, wenn er mich zu seinem Teilhaber mache. Erst wollte er mir nicht glauben, aber ich erklärte ihm die Sache in allen Einzelheiten. Dann ging ich mit ihm zur Bank und zum Rechtsanwalt, ließ den Vertrag aufsetzen, und noch am selben Abend war ich sein gesetzmäßiger Teilhaber. Als der Abgesandte am Ende der Woche wiederkam, verwies ihn der Friseur an mich. Er meldete sich telefonisch bei mir. Als ich ihn fragte, von wo aus er anriefe, antwortete er, daß er in seinem Wagen säße – direkt vor meiner Haustür. Ich blickte zum Fenster hinaus: Ein Mann mit einem Telefonhörer in der Hand winkte mir vom Fahrersitz eines Sportwagens aus zu. Ich ging wieder an meinen Apparat und lud ihn ein, heraufzukommen. Gleich darauf stand er vor der Tür. »Gefällt Ihnen mein Wagen?« fragte er. »Toller Schlitten, was?« Ich bewundere ihn sehr, sagte ich. »Gibt einem ein phantastisches Machtgefühl«, fuhr er fort. »Man setzt sich 'rein mit einer schönen Frau und läßt den Motor an. Und wenn man den Fuß von der Kupplung nimmt, dann springt der Wagen mit einem solchen Satz nach vorn, daß es das Mädchen ganz woanders, ganz weit drin spürt, wenn man ihr vorher die Hand aufs Knie gelegt hat.« 101
Er blickte sich um, setzte sich und schob die Bücher auf dem Tisch beiseite. »Was sollen denn die vielen Bücher hier? Ich dachte, Sie beschäftigen sich nur mit dem, was außen an den Köpfen ist?« Ich erklärte ihm, daß das Haarschneiden erst seit kurzem ein Steckenpferd von mir sei, genau wie Sportwagenfahren sicherlich auch für ihn etwas Neues wäre. Ich fragte ihn, was er eigentlich wolle, und er wiederholte mir noch einmal, was er dem Friseur schon vor einer Woche gesagt hatte. Ich teilte ihm mit, daß ich nicht die Absicht hätte, für irgendwelchen Schutz zu zahlen, und daß ich damit rechne, mein Schaufenster dennoch in Zukunft jederzeit unbeschädigt vorzufinden. Und während er noch dasaß, rief ich den Mann an, der meine Dienste in der Sache mit dem Restaurant in Anspruch genommen hatte. Ich erkannte seine Stimme sofort, als er an den Apparat kam, aber ihm mußte ich erst erklären, wann und wo wir uns kennengelernt hatten. Ich sagte ihm, daß ich jetzt ein Geschäft aufgemacht hätte – zwar wäre ich kein Rechtsanwalt und auch nicht einmal ein Restaurantbesitzer geworden, wie er das damals prophezeit hatte, sondern nur Teilhaber an einem kleinen Friseurgeschäft. Dieses Geschäft wäre jetzt bedroht. Und ich bat ihn um Hilfe, so wie ich ihm damals geholfen hatte. Ich wüßte zwar nicht, sagte ich, ob er mit den Leuten bekannt wäre, die Friseurgeschäfte zur Zahlung von Schutzgebühren zwangen, aber ich hätte großes Vertrauen in seine Macht und in seine Verbindungen. Wenn er mir nicht helfen wolle, so fügte ich hinzu, und mein Schaufenster würde eingeschlagen, dann würde ich ihm oder seinem Vetter oder auch ihren Familien dasselbe antun, was wir seinerzeit für die Töchter des alten Restaurantbesitzers geplant hatten. Ich selbst hatte weder Kinder noch Familie, fuhr ich fort, aber dafür sei ich Scharfschütze in der Armee gewesen. Ich wäre mit den Verhältnissen in der Stadt recht gut bekannt, und wenn ich auch am Ende selbst dabei drauf gehen würde, so hätte ich doch die Absicht, mich recht teuer zu verkaufen. Ich wartete gar nicht erst auf seine Antwort, sondern übergab den Hörer gleich an meinen Besucher. Der nahm ihn etwas verwirrt in die Hand, und dann sprachen die beiden Männer eine Zeitlang in einer 102
fremden Sprache miteinander. Ich konnte nicht verstehen, was sie sagten, aber eine Minute später ging mein Gast ohne ein Wort. Am nächsten Tag traf ich mich mit meinem Teilhaber und erzählte ihm, was passiert war. Er war immer noch aufgeregt und ängstlich. Wochen vergingen. Einige Schaufenster in der Umgebung wurden eingeschlagen, aber unsere Scheibe blieb unberührt. Nach einiger Zeit lösten wir unseren Teilhabervertrag in aller Stille.
Er war der Schlagzeuger einer kleinen Band, welche die Hauptattraktion eines Restaurants in der Nachbarschaft bildete. Ich saß oft dort, und er mußte bemerkt haben, daß ich immer allein war, denn eines Abends kam er in der Pause zwischen zwei Nummern an meinen Tisch und fragte, ob er etwas mit mir besprechen könne. Er habe gehört, daß ich Arbeit suche, sagte er, und er hätte mir etwas anzubieten. Das Schlagzeugspielen sei nur sein Steckenpferd, erklärte er. Tagsüber arbeitete er als Lastwagenfahrer. Wenn er die ganze Nacht gespielt hatte, war er oft zu müde, um am nächsten Tag seinen Wagen richtig fahren zu können. Er wollte seinen gutbezahlten Posten als Fahrer nicht verlieren, aber andererseits auch bei der Kapelle bleiben. Er fragte mich, ob ich gelegentlich für ihn fahren wolle. Er würde mich gut bezahlen, sagte er. Früh am nächsten Morgen holte er mich ab, um mir beizubringen, wie man den Lastwagen fuhr. Es war ein gewaltiges Fahrzeug. Der Motorwagen hatte sechs Räder, und der Anhänger lief noch einmal auf vier Achsen. Wenn ich in eine Kurve schwenkte, dann wehrte sich dieser Anhänger, als ob er lebendig wäre, und wollte hartnäckig in seiner eigenen Fahrtrichtung bleiben wie der plötzlich steif gewordene Körper einer riesigen Schlange. Ich brauchte das ganze Wochenende, um zu lernen, wie man diesen Wagen fuhr. Am Montag war ich dann auf mich selbst gestellt. Der Fuhrhof lag am Rande der Stadt und hatte seine eigene ständig wechselnde Bevöl103
kerung von Mechanikern, Verladearbeitern, Fahrdienstleitern und Fahrern. Ich ging direkt zu meinem Wagen, prüfte Reifen und Bremsen, ließ den Motor warmlaufen und fuhr, nachdem ich mir meine Routen eingeprägt hatte, hinaus auf die Straßen. Ich hatte Hüte von einer Fabrik zu Geschäften in der ganzen Stadt zu fahren. Ich litt Todesangst dabei, nicht nur wegen der Größe des Wagens, sondern auch wegen der Straßen, von denen manche plötzlich für Lastwagenverkehr gesperrt sein konnten oder mit einem Mal so schmal oder so verstopft waren, daß ich überhaupt nicht mehr durchkam. Dazu kamen noch vorübergehend gesperrte Plätze, Kinder auf der Straße, Baustellen – alles mögliche. Jedesmal, wenn ich anhielt und auf dem Stadtplan suchte oder jemanden nach der Richtung fragte, kam hinter mir der ganze Verkehr zum Stehen. Jeder Versuch, zurückzustoßen, konnte den Verkehr kilometerweit ins Stocken bringen und die Polizei auf die Bildfläche rufen. Ich fuhr durch die verkehrsreichen Straßen, und meine Aufmerksamkeit wechselte ständig zwischen dem, was vor mir war, und dem, was hinter mir passierte. Ich mußte im vorhinein Entfernungen schätzen und gleichzeitig den Platz berechnen, den ich für das Schwenken des Motorwagens und des Anhängers mit seinem eigenen weiten Drehkreis benötigte. Ich konnte mich dabei auf niemanden und nichts verlassen – zuallerletzt auf die verzerrten Spiegelbilder der Spaziergänger in den Rückspiegeln oder auf die Fußgänger, die direkt vor dem Wagen vom Bürgersteig heruntertraten und über die Straße liefen. So kam es zwangsläufig, daß der Lastwagen und ich zu einer Einheit wurden. Ich begann direkt körperlich zu spüren, wieviel Platz noch zwischen den Hinterrädern und der Bordsteinkante war, oder zwischen dem Wagen und sorglos abgestellten Fahrrädern. Ich wußte genau, welcher der Reifen gerade eine leere Bierdose plattwalzte, und konnte haarscharf den nötigen Zentimeterabstand zwischen den wippenden Markierungsstäben auf meiner vorderen Stoßstange und der Uniform des Polizisten halten, der vor mir den Verkehr regelte. Ich entdeckte, daß das Lastwagenfahren etwas mit dem gemeinsam hatte, was ich auch auf Skiern erlebt hatte – man mußte sich seinem Körper voraus 104
in eine Bewegung versetzen, die noch gar nicht begonnen hatte und dennoch weder aufgehalten noch rückgängig gemacht werden konnte. Eines Morgens fuhr ich durch das Geschäftsviertel und stellte fest, daß mir schon seit längerer Zeit ein Personenwagen folgte. Ich hatte Angst, daß es sich um die Polizei oder um einen Vertreter der Gewerkschaft handeln könnte. Als ich langsamer fuhr, überholte mich der fremde Wagen, und der Neger an seinem Steuer machte mir ein Zeichen, daß ich anhalten solle. Nachdem ich gestoppt hatte, kam er heran und sagte, daß ihm meine Fahrweise gefallen hätte. Er wäre beeindruckt, wie schnell, sicher und beherrscht ich sei. Er hätte mich gerne, sagte er, als seinen Chauffeur und wäre bereit, mir das Doppelte meines jetzigen Lohnes zu zahlen. Ich blickte in sein offenes Gesicht und auf das weichgepolsterte Innere seines Wagens. Alles, was er von mir verlange – so fuhr er fort – wäre, seinen Wagen genauso schnell und geschickt zu fahren wie meinen Lastwagen. Aber er hätte auch noch einen anderen Grund, weshalb er mich anstellen wollte. Nicht etwa, weil ich weiß und er schwarz war. Es hinge vielmehr damit zusammen, daß er sich regelmäßig mit Geschäftsfreunden in seinem Wagen zusammensetzte, um wichtige Dinge zu besprechen. Während dieser Besprechungen mußte das Fahrzeug dauernd in Bewegung bleiben, damit irgendwelche anderen – er bezeichnete sie als ›die anderen Kerle‹ – keine Möglichkeit zum Mithören hatten. Er erklärte, daß es sich bei seinen Geschäften um Angelegenheiten handele, die ein Außenseiter gar nicht erst versuchen solle zu verstehen. Und er wolle, daß ich während dieser Zusammenkünfte den Wagen nicht wie üblich, sondern eben sehr schnell und ganz dicht an anderen Fahrzeugen vorbeifahren solle, damit seine Geschäftsfreunde den Eindruck bekamen, daß jeden Augenblick ein Unglück passieren könne. Und das, hoffte er, würde ihnen so viel Angst machen, daß sie viel weniger Aufmerksamkeit für ihn übrig hätten als sonst. Es war ganz sicher, so meinte er, daß es ihnen dabei ihr Stolz verbieten würde, ihre Furcht vor einem weißen Mann zu zeigen. Ich nahm sein Angebot an. Der Wagen reagierte wundervoll, und ich gewöhnte mich schnell an seine Stärke und Bequemlichkeit. Wenn 105
ich meinen neuen Arbeitgeber durch die Stadt fuhr, machte er Bemerkungen über meine Fahrweise und forderte mich ständig auf, noch schneller zu fahren und noch riskanter zu überholen. Nach einigen Übungsstunden kritisierte er meine Geschwindigkeit und die Frechheit meiner Überholmanöver nicht mehr. Ein paarmal verlor er sogar selbst die Fassung und riß die Hände hoch, als wolle er sich vor dem anscheinend unvermeidlichen Zusammenstoß schützen. Er konnte kaum glauben, daß der Wagen jedesmal ohne jeden Kratzer davonkam. Eines Morgens holten wir seine Geschäftsfreunde ab. Nachdem sie sich im Fond des Wagens niedergelassen hatten, gab mir mein Chef seine Anweisungen und den Befehl zur Abfahrt. Ich jagte mit höchster Geschwindigkeit davon. Die Fahrgäste hielten sich an den Lehnen der Vordersitze fest und starrten mit ungläubigem Schrecken durch die Fenster. Mein Chef saß neben mir, seelenruhig den anderen halb zugewandt, die Arme lässig auf das Armaturenbrett gestützt. Dann begann die Verhandlung. Nach den plötzlichen Unterbrechungen und langen Pausen zu urteilen, waren die Gäste viel zu sehr mit ihrer gefährlichen Lage beschäftigt, als daß sie viel Zeit für geschäftliche Gedanken gehabt hätten. Ich erwartete, daß mich jemand bitten würde, langsamer zu fahren, oder daß einer verlangte, ich solle vorsichtiger sein – aber jedesmal, wenn ich in den Rückspiegel sah, erblickte ich nur krampfhaft gleichmütige Gesichter. Als die Besprechung zu Ende war, befahl mir mein Arbeitgeber, anzuhalten. Ich stieg aus und öffnete die hinteren Türen. Die Fahrgäste kletterten heraus, schweißnaß und mitgenommen. Kein einziger von ihnen sah mich an.
Ich könnte bestimmt Geld dabei verdienen, sagte er, und erklärte mir, um welche Sportart es ging. Sie nannte sich ›Bücher-Bumsen‹, und die Regeln waren ganz einfach. Zunächst mußten sich die Fahrer über eine Strecke einigen. Meist wählte man eine Einbahnstraße, in der entwe106
der auf einer oder auch auf beiden Seiten Autos geparkt waren. Dann befestigten Unparteiische eine Anzahl von Büchern, die nach ihrem Gewicht ausgesucht wurden, mit Klebestreifen an den parkenden Wagen. Sie waren etwa fünf bis sieben Zentimeter dick und wurden in Höhe der Stoßstangen angebracht. Keiner der Fahrer wußte vorher, an welchen. Sie warteten in ihren Wagen zwei Straßen weiter und wurden nacheinander vom Schiedsrichter herbeigewinkt. Nach dem Signal mußte jeder Fahrer mit einer Mindestgeschwindigkeit von achtzig Stundenkilometern über die Strecke fahren und dabei so dicht an die Wagen mit den Büchern herankommen, daß er mit seiner Stoßstange möglichst viele herunterriß. Ein Zeitnehmer überwachte die Geschwindigkeit der Fahrer, und der Schiedsrichter zählte die eroberten Bücher. Wer am meisten herabgestoßen hatte, war Sieger. Die Eigentümer der teilnehmenden Wagen legten Geld für einen Preis zusammen, und der wurde, zusammen mit den Einnahmen aus den Wetten, zwischen dem siegreichen Fahrer und dem Eigentümer seines Wagens aufgeteilt. Mein Chef sagte, er habe so viel Vertrauen zu mir, daß er mich ohne weiteres mit seinem neuen und wertvollen Wagen ins Rennen schicken würde. Er war sicher, daß sehr hohe Wetten gegen uns plaziert würden. Denn jedermann erwartete, daß der Fahrer eines solchen Wagens sehr vorsichtig sein mußte, um das kostbare Fahrzeug nicht zu beschädigen. Mein Chef garantierte mir das Übliche, nämlich ein Drittel des Einsatzes als Gewinn, warnte mich aber gleichzeitig, daß er mich fallenlassen würde, wenn ich dreimal hintereinander verlor. Wegen der Geschwindigkeit der Wagen und der Schäden, die sie verursachten, waren diese Rennen natürlich etwas Verbotenes. Sie wurden daher heimlich abgehalten, nachts, auf schlecht beleuchteten Straßen, in die kaum jemals eine Polizeistreife kam. Als ich mit meinem Arbeitgeber zum ersten Mal bei einem Rennen erschien, war die Straße schon voller Zuschauer. Der Schiedsrichter und seine Helfer hatten bereits die Bücher an den Wagen befestigt, welche dicht an dicht die Straße entlang geparkt waren. Die versammelten Fahrer gaben einander und dem Schiedsrich107
ter die Hand. Die Zuschauer sahen sich die Wagen an, mit denen wir das Rennen fahren sollten, und schlossen ihre letzten Wetten ab. Der Schiedsrichter warf eine Münze hoch, um festzulegen, auf welcher Straßenseite jeder Fahrer bei seinem Durchgang zu bleiben hatte. Mir fiel die rechte Seite zu – die Seite, von der man im Fahrersitz am weitesten entfernt ist. Der erste Teilnehmer ging auf die Strecke. Ich konnte das Quietschen der Reifen und das dumpfe Aufschlagen der Bücher hören, die von seinem Wagen auf die Straße geschleudert wurden. Der Schiedsrichter zählte sie, und seine Helfer brachten sie erneut an anderen Wagen an. Dann war ich an der Reihe. Das Licht meiner Scheinwerfer spiegelte sich in den glänzenden Stoßstangen der geparkten Wagen. Von meinem Platz hinter dem Steuerrad konnte ich die Bücher nicht sehen, aber ich wußte, daß sie da waren, daß sie mit ihren zerknitterten Seiten zwischen den steifen, goldverzierten Lederdeckeln regungslos darauf warteten, abgepflückt zu werden wie Schnecken. Ich raste in die Zielgerade, hielt mich scharf nach rechts, starrte nach vorn in das Licht meiner Scheinwerfer, um auch den geringsten Schimmer meiner Ziele nicht zu übersehen, lauschte angestrengt auf das Plumpsen herabfallender Bücher und war die ganze Zeit darauf gefaßt, im nächsten Moment auch das Schmettern von Stahl auf Stahl zu hören. Mein Instinkt leitete mich eher als mein Auge. Am Ende der Strecke angelangt, wollte ich gleich hören, wie ich abgeschnitten hatte, und ging hinüber zum Schiedsrichter. Meine Geschwindigkeit war dieselbe gewesen wie die der anderen Teilnehmer, aber ich hatte doppelt so viele Bücher heruntergerissen. Mein Chef kam herbeigerannt und umarmte mich aufgeregt. Zusammen ließen wir uns den Preis auszahlen, und er überreichte mir sofort meinen Anteil. Jetzt war die zweite Gruppe fertig zum Statt. Als Sieger in der ersten Runde hatte ich das Recht, mich nochmals zu beteiligen. Der Schiedsrichter warf die Münze hoch – wieder zog ich die rechte Straßenseite. Der erste Fahrer ging auf die Strecke. Wenige Augenblicke später hörten wir einen scharfen Knall: Er war zu dicht an die parkenden Autos gekommen und hatte eines von ihnen mit der Stoßstange gerammt. 108
Der Zeitverlust warf ihn aus dem Rennen. Ich kam wieder an die Reihe. Ich erinnerte mich an einen Mann, der im Kriege beide Arme verloren hatte. Er behauptete, daß er dennoch nie das Gefühl in seinen Händen und Fingerspitzen verloren hätte. Es wäre, erklärte er, als ob die nicht mehr vorhandenen Glieder zu Organen geworden wären, die Echos auffingen und damit fühlten. Dadurch wurde der Spürsinn seiner anderen Körperteile auf Gegenstände und Orte ausgedehnt, die sonst nicht zu erreichen gewesen wären. Auch ich spürte jetzt Echos dieser Art. Ich schob eine Stereo-Tonbandkassette in das Gerät des Wagens. Die Musik ließ meine innere Anspannung noch steigen, und ich fuhr immer schneller. Meine Nerven kontrollierten Steuerung und Geschwindigkeit und maßen die Entfernung. Ich spürte, wie ein Buch nach dem anderen fiel. Ich hatte gewonnen. Wochen vergingen. Das Spiel wurde in verschiedenen Gegenden der Stadt fortgesetzt. Ich wurde allgemein bekannt, trat gegen viele Fahrer an und verlor kein einziges Mal. Aber eines Nachts war es mit allen Spielen vorbei. In einem der geparkten Wagen entlang der Rennstrecke saß ein Pärchen. Das Röhren der vorüberjagenden Wagen und das zornige Aufheulen der Motoren mußte sie gestört haben: Plötzlich öffnete einer der beiden die Wagentür, stieg aus und stand verwundert da, einen Augenblick lang von der Tür verdeckt. Im selben Moment rammte einer der teilnehmenden Wagen diese Tür und schlug sie zu. Die Gestalt verschwand. Nur der Kopf blieb draußen, als sei er auf die messerscharfe Türkante gesetzt. Dann rollte er herab und schlug auf den Asphalt wie eines der abgerissenen Bücher. Fahrer und Zuschauer erschraken und zerstreuten sich. In den folgenden Tagen stellte die Polizei eine gründliche Untersuchung an.
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Wie hast du sie kennengelernt? Sie wohnte im selben Gebäude. Dann war es also ein Zufall? Nicht so ganz. Es gab in diesem Gebäude mehrere hundert Mieter – es ist eigentlich ein ganzer Häuserblock, weißt du – und ich hatte die Stimmen einer ganzen Anzahl von ihnen gehört. Ihre Stimme war eine unter vielen. Was meinst du mit ›eine unter vielen‹? Ich meine, unter vielen Stimmen. Verstehst du, ich hatte meinen Mietvertrag schon unterschrieben, als das Haus noch im Bau war, und so konnte ich in den halbfertigen Wohnungen herumwandern. Zu jener Zeit interessierte ich mich für Elektronik. In allen Wohnungen meines Stockwerks, und ebenso in den zwei Stockwerken unter mir, versteckte ich je ein Miniaturmikrophon, das gleichzeitig ein Sender war. Die Geräte waren nicht größer als ein Knopf, aber sie nahmen jeden Laut auf und übertrugen ihn drahtlos auf eine Entfernung von einem halben Kilometer. In meiner Wohnung baute ich einen Spezialempfänger auf, mit dem ich die Sendungen auffangen konnte – und so belauschte ich Stimmen. Aber das ist ja unglaublich! Wo hast du denn diese Mikrophone bekommen? Dort, wo sie jeder andere beziehen kann – sie werden in Illustrierten angepriesen und von Versandhäusern verkauft. Wie lange hast du diese Stimmen, diese Leute belauscht? Monatelang. Zunächst hatte ich natürlich Schwierigkeiten, die einzelnen Stimmen auseinanderzuhalten. Mit meinem Empfänger konnte ich jeweils eine von ihnen hören, aber ich konnte dabei nicht feststellen, aus welcher Wohnung sie kam. Ich mußte sehr vorsichtig sein. Ich konnte zum Beispiel nicht dauernd auf den Korridor herumlaufen, um zu sehen, wer aus den Wohnungen kam, in denen ich meine Mikrophone verborgen hatte. Um die Identität der einzelnen festzustellen, mußte ich mich sehr harmlos verhalten – jetzt ein Gespräch im Aufzug anfangen, dann jemanden auf dem Flur grüßen. Ich brauchte fast drei Monate dazu, die Stimmen, die ich aufgefangen hatte, mit den richtigen Leuten in Verbindung zu bringen. 110
Aber – es ist dir gelungen? Ja. Jede einzelne habe ich identifiziert. Aber natürlich haben mich nur sehr wenige interessiert. Die dieser Frau zum Beispiel, nicht wahr? Ja. Ihre Wohnung lag auf meinem Stockwerk. Ich erkannte ihre Stimme wieder, als sie jemanden im Treppenhaus begrüßte. Sie war eine von denen, die ich lange Zeit belauscht hatte. Was hast du gemacht? Ich blieb mehrere Tage lang zu Hause und ließ meinen Empfänger nur auf den Sender eingestellt, den ich in ihrer Wohnung versteckt hatte. Sie lebte allein, und sie ging nicht arbeiten. So konnte ich ihr den ganzen Vormittag zuhören, wenn die ›anderen Stimmen‹ alle fort waren. Und wie hast du es angestellt, sie kennenzulernen? Ich veranstaltete eine Unterschriftensammlung wegen der vernachlässigten Flure und der defekten Klimaanlage. Ich ging zu allen Mietern, und auch zu ihr. Danach bin ich dann öfters mit ihr ausgegangen. Aber – war das nicht ein bißchen unfair? Ich meine, du warst ihr gegenüber doch so im Vorteil. Im gewissen Sinne stimmt das natürlich. Aber ehe ich sie wirklich kennenlernte, gab es doch noch eine Menge Sachen, die ich von ihrem Leben nicht wußte. Zum Beispiel war es in ihrer Wohnung oft lange Zeit hindurch ganz still. Dann hörte ich Geräusche, die ich nicht identifizieren konnte. Sogar ihre Stimme änderte sich manchmal, als würde sie absichtlich verstellt. Zu anderer Zeit waren Geflüster und Unterhaltungen zu hören, manchmal übertönt von Radio, Plattenspieler oder Fernseher. Als du dann mit ihr ausgingst – hast du ihr dann erzählt, daß du sie vorher belauscht hattest? Nein. Hast du sie immer noch weiter belauscht? Eine Zeitlang – ja. Aber dann habe ich bald damit aufgehört. Ich kam mir wie ein Wissenschaftler vor, der seine Untersuchungen abgeschlossen hat: Das Objekt, das er so lange Zeit beobachtet, analysiert und in Tabellen erfaßt hat, ist nun kein Geheimnis mehr. Ich konnte mit dem Mädchen tun, was ich wollte: Sie hatte sich in mich verliebt. 111
Es kam mir damals der Gedanke, daß ich sie vielleicht mit gewissen Drogen bekanntmachen sollte. Und wenn sie süchtig wurde, dann konnte sie sich vielleicht völlig von dem lösen, was sie jetzt war. Dann wurde sie vielleicht eine ganz andere Frau, und obwohl ich sie weiterhin besaß, würde mein Wissen um ihre Vergangenheit keinen Wert mehr für mich besitzen. Eine völlig neue Beziehung würde beginnen. Die Rauschgiftsucht würde vielleicht alles an ihr zu neuem Leben erwecken, was schwächlich und lebensunfähig geworden war, und gleichzeitig alles Steife und Verkrampfte lösen. Sie würde neue Begierden entwickeln und neue Gewohnheiten annehmen und sich völlig freimachen von dem, was sie jetzt von mir dachte und für mich empfand. Wie ein Polyp würde sie sich entfalten und unvorhersagbar in neue Richtungen streben.
Wenn du in mir bist, warum verlangst du dann, daß ich mich gleichzeitig noch selbst streichle? Ich spüre dich, warum also soll ich mich gleichzeitig noch selbst anfassen? Du hast mir zugegeben, daß dich meine Zärtlichkeiten dazu zwingen, deinen Körper bewußter zu erleben. Das ist richtig – aber das hier mit mir selbst zu tun – das kommt mir pervers vor. Aber es reizt dich doch und regt dich noch mehr auf. Ja. Dann ergib dich doch einfach dem, was du fühlst. Freu dich deiner Bewußtheit. Liebende sind keine Schnecken – sie müssen nicht aus ihrem Gehäuse herauskriechen und einander auf halbem Wege treffen. Begegne mir in deinem eigenen Innern. So habe ich das noch nie gesehen, wie du es jetzt darstellst. Es wäre mir von allein nicht eingefallen. Aber du – was fühlst du? Ich will dich, nur dich. Aber jenseits von dir und mir und unserer Gemeinsamkeit sehe ich mich selbst, wenn wir uns lieben. Und dieses Bild 112
von mir selbst als dem Mann, der dich liebt, das möchte ich mir erhalten, das möchte ich wirklicher machen. Aber du willst mich auch als das, was ich selber bin, ganz unabhängig von dir – ja? Ich kenne dich ›unabhängig von mir‹ überhaupt nicht. Wenn ich allein bin, wenn du nicht hier bist, dann bist du nicht mehr wirklich. Dann ist alles wieder nur Vorstellung. Dann brauchst du mich nur als Bühne für dich, um dich selbst zu projizieren und zu betrachten und um zu sehen, wie deine abgestreiften Erfahrungen wieder lebendig werden, wenn sie auf mich wirken. Habe ich recht? Du willst gar nicht, daß ich dich liebe. Du willst nur, daß ich mich den Träumen und Phantasien ergebe, die du in mir wachrufst. Nur diese Regung, diesen Moment willst du erhalten und verlängern.
Du hast geschlafen, du hast die Klingel nicht gehört. Wer war es? Der Händler. Er hat die Mittel gebracht. Ach ja, der. Der Reiche. Verdient er eine Menge Geld? Jetzt schon. Was meinst du damit? Angefangen hat er als Botenjunge für eine Apotheke hier in der Gegend. Bei den Stammkunden holte er die ärztlichen Rezepte ab und brachte dann die Medizin. Eines Tages verwickelte ihn ein gutangezogener, wohlhabender älterer Mann in ein Gespräch und fragte ihn, ob er nicht mehr Geld verdienen wolle – vier- oder fünfmal so viel wie den Lohn, den er damals erhielt. Der Laufjunge war natürlich einverstanden. Der ältere Herr verlangte weiter nichts, als daß er ihm die Namen derjenigen Kunden aufschrieb, die öfters bestimmte Medikamente bestellten, und die nervös und unruhig wurden, wenn sich die Lieferung einmal verspätete. 113
Ich wanderte durch die Viertel, in denen sie lebten, inmitten von Krankheit und Verwesung. Sie hatten nichts, was ihnen gehörte, nichts, worauf sie stolz sein konnten. Sie waren nur vereint durch die Farbe ihrer Haut – und darum beneidete ich sie. Ich ging in der Hitze des schwülen Tages durch die Straßen und blickte in Räume voll schreiender Babys und verfaulender Matratzen auf dem blanken Boden. Die Kranken und die Alten lagen flach auf ihren Lagern oder beugten sich mühselig in ihren Stühlen. In den engen Sackgassen standen die Mädchen beisammen und kicherten. Ich sah den schreienden Jungen zu, die auf leeren Bauplätzen Fußball spielten, und ich sah die Süchtigen und die Lahmen auf den Bürgersteigen liegen als lebende Hindernisse für die Blinden und die Blöden. Ich beobachtete die dreckverschmierten Kinder, wie sie leere Flaschen an den übervollen Mülltonnen zerschmetterten, wie sie Katzen, Hunde und ihresgleichen um die verlassenen Autowracks jagten, aus denen jeder Teil von irgendwelchem Wert und jeder Fetzen Stoff oder Gummi von unermüdlichen Gelegenheitsdieben herausgerissen worden war. Ich beneidete sie, die hier lebten und so frei erschienen, weil sie nichts zu bereuen und nichts zu erwarten hatten. In der Welt der Geburtsurkunden, der amtsärztlichen Untersuchungen, der Lochkarten und der Elektronengehirne, in der Welt der Telefonbücher, Reisepässe, Bankkonten, Lebensversicherungen, Testamente, Kundenkreditkarten, Alterspensionen, Hypotheken und Kredite waren sie unabhängig, lebte jeder von ihnen nur nach seinem eigenen Bild. Wenn ich eine Zauberformel wüßte, durch die ich ihre Sprache sprechen und die Farbe meiner Haut, die Form meines Schädels und die Beschaffenheit meines Haares ändern könnte: Dann würde ich mich verwandeln und wäre einer von ihnen. Dann würde ich das Bild dessen vertreiben, was ich einmal war und was vielleicht aus mir werden könnte. Ich würde die Gesetzesfurcht verjagen, in der ich aufgewachsen war, den Begriff dafür, was Mißerfolg bedeutet und den Maßstab des Erfolges. Ich würde den Traum vom Besitz in die Verbannung schicken, den Traum von Dingen, die man besitzen, benutzen und verbrauchen muß, und ebenso die Symbole des Eigentums – Zeugnisse, 114
Diplome, Besitzurkunden. Keine andere Wahl würde mir diese Verwandlung geben als die: Am Leben zu bleiben. So würde dann die Welt mit mir beginnen und auch mit mir sterben. Die Stadt wäre für mich ein zum Ungeheuer mutiertes Wunder dieser Welt: Ihre Schornsteine verpesten die Luft, ihre Wurzeln vergiften die Erde, in ihren Fangarmen kämpft ein Mann gegen den anderen, und beide werden von ihnen erwürgt in hoffnungslosem Ringen. Einprägen würde ich mir den Plan dieser Stadt, ihre Straßen, ihre Tunnels und Brücken, ihre Untergrundbahnen und Kanäle, ihre eleganten Vorstadtvillen voller unschätzbarer Kostbarkeiten, wertvoller Bibliotheken und erlesen möblierten Zimmern, ihr schlau angelegtes Netz von Rohren und Kabeln und Drähten unter den Straßen, ihre Polizeistationen und Nachrichtenzentralen, Krankenhäuser, Kirchen und Tempel, ihre mit überlasteten Elektronengehirnen, Telefonen und unterwürfigen Angestellten vollgestopften Verwaltungsgebäude. Dann würde ich Krieg führen gegen diese Stadt, als sei sie ein lebendiger Körper. Die Nacht wäre mir willkommen, Schwester meiner Haut und Vetter meines Schattens, und sie müßte mich schützen und mir helfen in meinem Kampf. Die Stahldeckel der Kanäle würde ich heben und Sprengstoff in die dunklen Schlünde werfen, dann fliehen und mich verbergen und auf den Donner warten, der in stummen Telefondrähten Millionen ungehörter Worte gefangensetzt und eben noch strahlend helle Räume voll schreckerstarrter Menschen in Dunkelheit taucht. Ich würde den mitternächtlichen Sturm abwarten, der durch die Straßen peitscht und alle Formen verschwimmen läßt, und dann mein Messer zücken gegen den Rücken des goldbetreßten Portiers, der eben noch ahnungslos gähnte. Ich würde ihn zwingen, mich die Treppe hinaufzuführen und ihm dann die Klinge in den Leib stoßen. Ich würde die Reichen und die Bequemen und die Ahnungslosen besuchen, ihre letzten Schreie würden ersticken in schweren Vorhängen, alten Gobelins und unbezahlbaren Teppichen, und auf ihre unter zerbrochenen Statuen begrabenen Leichen würden messerzerfetzte Ahnenbilder blicken. 115
Dann würde ich hinaus auf die Autobahnen und Schnellstraßen eilen, die sich auf die Stadt zuschwingen. Ich hätte Säcke voll krummer Nägel bei mir, um sie auf den Asphalt zu werfen. Ich säße stumm und wartete auf die Dämmerung, auf die heranrasenden Autos, Lastwagen und Omnibusse. Ich hörte das Platzen ihrer Reifen, das Kreischen ihrer Räder, das Dröhnen ihrer stählernen Körper – hilflos waren sie plötzlich, wenn sie aneinanderschmetterten wie Weingläser, die man vom Tisch fegt. Und wenn der Morgen käme, dann schliefe ich ein und lächelte dem Tag ins Angesicht, dem Bruder meines Feindes.
Wenn ich einer von ihnen werden könnte. Wenn ich mich nur von meiner Sprache trennen könnte, von allen meinen Gewohnheiten, von meinem Besitz.
Ich befand mich in einer Bar, in einem verkommenen Stadtviertel hinter dem Bazar. Ohne Zögern ging ich auf den Mann hinter der Theke zu. Als er sich zu mir herüberbeugte, begann ich mein TaubstummenSpiel und bedeutete ihm, daß ich ein Glas Wasser wollte. Er winkte mich ungeduldig zur Seite, aber ich blieb hartnäckig und wiederholte meine Pantomime. Ich spürte die Blicke der Leute im Lokal. Als ich wie ein Spastiker mit den Schultern zuckte und mir mit der Hand aufs Ohr klatschte, sahen sie mir ganz genau zu, und ich fühlte, daß ein paar von ihnen mit einem Mal Interesse an mir gefunden hatten. Ich wußte, daß ich mich vor ihrem Mißtrauen, vor jedem Versuch, herauszufinden, wer ich war oder woher ich kam, sehr in acht nehmen mußte. Zwei Männer und eine Frau schoben sich an mich heran und berührten mich. Zuerst ignorierte ich ihre Annäherungsversuche, gab der von den dreien am entschlossensten und schweigsamsten vorgehenden Frau eine Gelegenheit, die anderen beiseite zu drängen. 116
Immer wieder bat ich mit Gesten um Wasser. Ein Mann trat neben mich und wollte sogleich einen Drink für mich bestellen, aber ich lehnte ab, verzog das Gesicht als Zeichen meines Abscheus vor Arrak und machte gleichzeitig alle möglichen entschuldigenden Bewegungen. Ein Paar drängte sich heran, winkte mir zu, mit ihm zu gehen. Ich verstand nicht, was die beiden sagten. Ich tat so, als wäre ich von dem glitzernden Schmuck angezogen, den sie trugen, wandte mich langsam um und sah ihnen ins Gesicht. Ihre Blicke fielen über mich her. Es gab einen Laden, in den ich öfters ging. Er unterschied sich durch nichts von den anderen in der Gegend. Fast alle Bars und Läden der Umgebung waren in illegale Geschäfte verwickelt, hatten etwas mit dem Schwarzen Markt zu tun, mit Diebesgut oder mit Mädchenhandel. In diesem Geschäft drückte ich mich herum, bis es Zeit zum Schließen war, und beobachtete dann, wie die Kunden durch die Hintertür zu dem Schuppen im Hof gingen. In mir, dem taubstummen, herumfuchtelnden Spastiker, sahen sie keine Gefahr – man konnte mir irgendeinen Auftrag geben, ein paar Münzen dazu, und mich wegschicken. Ich ging ihnen schließlich einfach nach, aber man schob mich zurück in den Laden und hinaus auf die Straße. Beim letzten Mal blieb ich da und versuchte, mich den Männern gleich anzuschließen. Erst hielt mich niemand auf, aber an der Tür des Schuppens bedeutete mir eine Frau, stehen zu bleiben und Wache zu halten. Von meinem Beobachtungsposten aus spähte ich in den Schuppen. Ich sah einen großen Kreis aus nackten Männern, die auf dem Rücken lagen und ihre Beine nach der Mitte streckten wie die Speichen eines Rades. Dort stand zwischen ihren Füßen eine Frau und zog ihr zerlumptes Kleid aus. Sie war schwerfällig und dick, ihre Haut feucht und behaart. Aus einem hölzernen Eimer goß sie Wasser über ihren Bauch und ihre Beine. Und während sie sich wusch und das Wasser auf dem Boden platschte, rückten die Männer unruhig hin und her, spielten mit zuckenden Fingern über ihre Schenkel oder verschoben die Arme rastlos hinter dem Kopf. Es war, als sei die Frau zur heilenden Zauberin für diese gebrochenen Männer geworden, und beim Plätschern des Wassers ging ein Augenblick lang eine Welle durch die Körper dieser 117
Taschendiebe und armseligen Zuhälter. Die Frau trat schwerfällig zum ersten und hockte sich über ihn. Ein paar Augenblicke lang grunzte er, schrie heiser auf, reckte sich halb empor und fiel schwer zurück. Sie löste sich von ihm und schob sich über seinen Nachbarn, glitt weiter wie eine aufgeschwollene Kröte über glattgeschliffene Steine in einem schlammigen Teich. Einen nach dem anderen befriedigte sie, und die sie noch nicht erreicht hatte, zitterten vor Anstrengung, die durch ihre Lenden strömende Energie zu beherrschen. Und einer nach dem anderen sanken sie zurück und lagen wie in flachen Särgen aufgebahrte Leichen. Es sah aus, als wäre der Schuppen benutzt worden, die Toten und Sterbenden eines Eisenbahn-Unglücks unterzubringen. Als sich die Frau erhob und noch einmal um die nun ganz stilliegenden Männer herumging, war sie wie eine Krankenschwester, die ein letztes Mal nach den Opfern sieht. Sie wusch sich, und wieder plätscherte das Wasser. Kein Laut kam diesmal als Antwort, nichts regte sich mehr. Manchmal wurde meine Maske auch zu einer Gefahr. Eines Tages wanderte ich länger als sonst herum und beschloß, etwas zu essen, ehe ich mir einen Platz zum Schlafen suchte. Ich ging in ein Lokal, von dem ich wußte, daß es normalerweise voll war. Aber an diesem Abend war es fast leer, jedenfalls in der Bar. Ich entdeckte jedoch mehrere bekannte Gesichter – eine Gruppe von Arbeitern ganz vorn im Raum und zwei oder drei Unterweltbosse des Ortes, die an einem Tisch im Hintergrund die Köpfe zusammensteckten. Ein verdrießlicher Bauer stand an der Theke, trank und murmelte dabei vor sich hin. Drüben an der Wand, im Schatten kaum zu erkennen, saß ein Mann zusammengekauert über seinem Glas. Plötzlich flog die Tür zur Straße auf und ein Dutzend Polizisten kam hereingestürmt. Einige postierten sich zwischen den Gästen und dem Ausgang, während die anderen von einem der Küchenjungen zu dem Mann geführt wurden, der sich so tief über sein Glas beugte. Die Polizisten richteten ihn auf und zogen ihn von seinem Hocker. Wie sich sein Körper drehte, sah ich das Messer, das zwischen seinen Rippen steckte. An der Wand war ein Blutfleck. Unter der Menge 118
im Lokal erhob sich aufgeregtes Murmeln. Erst in diesem Augenblick wurde mir klar, daß der Verdacht am ehesten auf mich fallen würde. Ich konnte für meinen Aufzug, mein Benehmen und meine Anwesenheit keine Erklärung geben. Blieb ich aber weiterhin taubstumm, dann wurde dieses Verbrechen auf mich abgewälzt als sinnlose Handlung eines geistig Defekten. Ich säße durch meine angenommene Maske erst recht in der Falle. Versuchte ich, mit einem Sprung die Polizeikette zu durchbrechen, dann riskierte ich eine Kugel. Es wurde mir plötzlich klar, daß nur noch Sekunden vergehen konnten, ehe ich zusammen mit den anderen abgeführt wurde. Ich drehte mich zur Theke, nahm das Wischtuch des Kellners auf, ergriff ein Tablett mit schmutzigen Kaffeetassen und trottete in die Küche.
Hin und wieder versuchte ich, stundenweise Arbeit zu bekommen. Eines Abends war ich in einem der Restaurants in der Gegend als Aufwärter beschäftigt und sah, wie der Inhaber sich an einem Tisch mit den letzten Gästen unterhielt – drei Männer und einer Frau. Im Keller hatte es einen Kurzschluß gegeben. Ich ging an den Tisch und gestikulierte vor dem Gesicht des Restaurantbesitzers. Ich bemerkte den erschrockenen, unsicheren Blick der Frau, und sofort begann ich, meine Rolle zu übertreiben. Mit der flachen Hand schlug ich mir mehrmals hintereinander auf das rechte Ohr, und die Männer lachten laut. Die Frau errötete, als schäme sie sich ihrer Tischgenossen, aber sie beobachtete mich weiter. Ein paar Tage später kam sie in Begleitung eines Mannes wieder, den ich noch nie gesehen hatte. Es war schon spät, und die meisten Tische waren leer. Der Besitzer war nicht da, und so ging ich zu den beiden hin, sobald sie sich gesetzt hatten. Die Frau hatte ihre linke Hand flach auf das Tischtuch gelegt und schob versunken mit dem rechten Zeigefinger ihre Nagelhäute zurück. Ich leerte den Aschenbecher, schob Servietten und Besteck zurecht. Der Mann sagte etwas, und als ich 119
nur demütig die Schultern zuckte, sprach die Frau, erklärte wohl, daß sie mich schon kannte und daß ich weder sprechen noch hören könne. Der Mann betrachtete mich mit kaltem Blick, dann lehnte er sich entspannt wieder zurück, während ich ein unsichtbares Staubkörnchen vom Tisch wedelte. Die Frau zerknüllte nervös ihr Taschentuch, offensichtlich machte ihr meine Nähe zu schaffen. Ich zog mich zurück, ohne mich dabei umzudrehen, und schlug mir wieder mit der flachen Hand auf die Ohren. Am nächsten Tag rief mich der Besitzer des Restaurants und erklärte mir mit Gesten, daß ich von nun an eine andere Arbeit zu tun hätte. Eine Stunde später führte mich einer der Kellner zu einem großen Wohnhaus, wo wir mit dem Aufzug in den oberen Stock fuhren. Die Wohnungstür öffnete sich, und vor mir stand die Frau aus dem Restaurant.
Ich wurde angestellt, nach ihren häufigen großen Parties wieder aufzuräumen. Diese Parties wurden von dem Restaurant beliefert, bei dem ich vorher gearbeitet hatte, und die Gäste entstammten oft der Unterwelt. Ich hütete mich, bei meiner Arbeit den Zimmern zu nahe zu kommen, deren Türen abgeschlossen waren. Ich wußte von zu vielen Leuten, die aus diesem Stadtviertel wegen ihrer Neugierde einfach verschwunden waren. Nach ein paar Tagen war meine Gegenwart und das Summen meines Staubsaugers so selbstverständlich wie das Knarren des Parkettbodens oder das gelegentliche Klappern in den Röhren der Zentralheizung. Ich staubte die Möbel ab und blickte dabei im Spiegel heimlich auf das Gesicht der Frau: Ihr Bild zerbrach in viele Splitter, während sie ihre Frisur ordnete. Wenn ich ihren zögernden Blick auffing, lächelte ich höflich. Ich arbeitete ungestört, denn meine Pflichten waren einfach, und niemand brauchte mir Anweisungen zu geben. Es fiel mir auf, daß meine neue Arbeitgeberin jedesmal verlegen wurde, wenn sie mir et120
was sagen wollte, und daß mein wildes Ohrengeklatsche sie aus der Fassung brachte. Ein paarmal stellte sie mich auf die Probe. Einmal wischte ich gerade Staub, als sie leise zum Flügel ging und einen Akkord anschlug. Ein anderes Mal, ich stellte gerade die Weingläser in den Schrank, trat sie hinter mich und stieß plötzlich einen lauten Schrei aus. Es gelang mir, auch das mindeste Zucken zu unterdrücken. Eines Abends bedeutete sie mir, ihr zu folgen. Sie sah mich nicht dabei an. Sie vergaß sich völlig, als sie sich unter mir streckte und die Augen zum Kopfende des Bettes verdrehte. Ihr ganzer Körper schien tief Atem zu holen, trieb in Strömungen und Gezeiten, die in raschen Wellen kamen und gingen. Wie ein Büschel Tang in der See wogte sie auf und nieder, erbebte, und ein reißender Strom von Worten brach wie Schaum über ihre Lippen. Es war, als sei ich der Herr dieser flutenden Leidenschaft und die sich überstürzenden Worte deren letzte Woge. Am Ende ihres Ausbruchs verfiel die Frau in eine Sprache, die ich verstehen konnte, und sie redete von sich selbst als von einer fanatisch Gläubigen, die eine vor langer Zeit aus den Trümmern heidnischer Tempel erbaute Kirche betrat, sie sah sich im innersten Heiligtum dieser Kirche, eine Novizin, die nicht wußte, vor wessen Altar sie kniete oder zu welchem Gott sie betete. Ihre Stimme wurde rauh und heiser, sie wand sich auf dem Bett, warf sich von einer Seite zur anderen. Ich hielt sie an den Armen, schüttelte sie und tauchte mit aller Kraft in sie hinein. Wie eine übermütige Stute im engen Stall schrie sie wieder und wieder auf, als wolle sie in Worte formen, was mit ihrem Fleisch verschmolzen war. Sie flüsterte, daß sie auf die Sonne zutaumele und in ihrer Hitze vergehen müsse. Ihre Sätze fluteten und brachen sich. Sie murmelte, nach der Sonne bliebe nur der Schimmer der einander streifenden Sterne. Dann wurden ihre Lippen allmählich trocken und rissig – sie schlief.
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Gerüchte wurden laut, daß ein gewisses Land kurz vor der Revolution stünde. Seine Zentralregierung war dabei, sich aufzulösen. Die Bevölkerung war in zwei Lager geteilt: Auf der einen Seite die Studenten und die Bauern, die gegen den Präsidenten standen, und auf der anderen Seite die Arbeiter, die nun die Zeit für reif hielten, mit ihrer Partei die Macht zu ergreifen. Der Präsident, so besagten die Gerüchte, hatte sich auf die Seite der Partei geschlagen. Denn er war davon überzeugt, daß sie Hilfe von einem benachbarten Land erhalten würde, wo sie schon seit fast zwei Jahrzehnten an der Macht war. Für mich war das eine einmalige Gelegenheit. Noch nie hatte ich eine Revolution mitgemacht oder auch nur gesehen. Meine bisherigen Kenntnisse stammten aus Zeitungsberichten und Fernsehsendungen. Ich gab meine Stellung auf und saß am nächsten Tag im Flugzeug. Nach der Landung auf einem palmenumsäumten Flugplatz stellte ich meinen Koffer in einem kleinen Hotel ab und mischte mich unter die dichten Haufen von Männern, die durch die Stadt streiften. Immer mehr von ihnen führten Waffen und Fahnen mit sich. Ich verstand die Sprache der Menschen dieses Landes nicht und spielte deshalb den Taubstummen. Ich spielte meine Rolle gut. Jede der Gruppen, auf die ich traf, legte mich sofort für sich in Beschlag, gab mir Waffen und Abzeichen, als sei es für alle die normalste Sache der Welt, daß auch ein Spastiker für die Zukunft kämpfte, die sie ihrem Lande bereiten wollten. Eines frühen Abends erschütterte eine Reihe von Explosionen die Hauptstadt. Ich wurde zu einem schweren Lastwagen befohlen, der mit allen möglichen Waffen beladen war, und wußte, daß der Putsch begonnen hatte. Als wir durch die dunkle Stadt fuhren, erfaßten unsere Scheinwerfer die Umrisse anderer bewaffneter Haufen, die unseren Weg kreuzten oder sich hinter umgestürzten Bussen und hastig errichteten Barrikaden verschanzten. Bald sahen wir Tote wie vergessene Mehlsäcke in Blutpfützen auf den Bürgersteigen liegen. Andere bewaffnete Gruppen stießen zu uns, und zusammen rasten wir hinaus an den Rand der Stadt. Die Lastwagen hielten an, und wir sprangen herunter, Karabiner und große Buschmesser in den Händen. In122
nerhalb von Sekunden hatten wir eine Gruppe von Gebäuden umzingelt. Die Männer drangen in die Häuser ein; wir anderen standen inzwischen erwartungsvoll im Hintergrund. Die Gefangenen wurden einer nach dem anderen herausgebracht. Viele von ihnen waren halbnackt. Einige waren völlig verwirrt, wußten gar nicht, was eigentlich geschehen war, und versuchten Fragen zu stellen oder etwas zu sagen. Aber sie wurden rasch zum Schweigen gebracht. In den Gebäuden schrien Frauen, weinten Kinder. Die Zahl der Gefangenen vor uns wurde immer größer. Bald waren es Dutzende. Der Anführer unserer Gruppe befahl den Gefangenen, sich mit dem Gesicht zur Wand aufzustellen. Ich war sicher, daß man sie nun erschießen werde. Ich wollte mit der Hinrichtung nichts zu tun haben und wandte mich daher an den Mann neben mir. Mit Gesten bot ich ihm an, meinen Karabiner gegen sein Buschmesser einzutauschen. Der Mann war einverstanden, und gerade wollte ich mich hinter einem der Lastwagen verstecken, als ich von anderen Männern, die gleichfalls Buschmesser trugen, brutal vorwärtsgestoßen wurde. Jeder von uns mußte sich hinter einem der Gefangenen postieren. Ich blickte mich verstohlen um: Bewaffnete Männer, angespannt und bereit zum Feuern, standen rechts und links und hinter mir. Jetzt erst wurde mir klar, daß die Gefangenen enthauptet werden sollten. Und wenn ich mich weigerte, diesen Befehl auszuführen, dann wurde ich zusammen mit denen hingerichtet, die da vor mir standen. Ich konnte ihre Gesichter nicht mehr erkennen, aber ihre Hemden befanden sich nur ein paar Zentimeter vor der Klinge meines Messers. Es ist unfaßbar, dachte ich, daß ich nun einem anderen Menschen den Hals durchschneiden soll, nur weil mich die Ereignisse zufällig in seinem Rücken aufgestellt haben. Ich konnte dem, was ich jetzt gleich tun mußte, nicht mehr entrinnen, und doch war es so unwirklich, daß es jeden Sinn verlor: Ich mußte mir vorstellen, daß ich nicht mehr ich selbst war, und daß alles, was nun geschah, nur Einbildung sein konnte. Ich sah mich selbst als einen anderen, der nichts fühlte, der kühl und gesammelt dastand und entschlossen genug war, seine Armmuskeln zu spannen, die Waffe fester zu packen, zu heben und das Hin123
dernis auf seinem Wege niederzuhauen. Daß ich kräftig genug dafür war, wußte ich. Ich konnte mich an die Exaktheit erinnern, mit der ich früher junge Bäume gefällt hatte: Ich hörte ihr Seufzen und Knirschen und sah ihr Zittern, und war sicher, daß ich noch rechtzeitig beiseite springen konnte, wenn sie splitterten und fielen und ihre Blätter über meine Füße wischten.
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enn ich fort bin, werde ich für dich nur noch eine Erinnerung sein, die dich ungebeten überfällt, deine Gedanken aufrüttelt und deine Gefühle verwirrt. Und in dieser Frau wirst du dich dann selbst erkennen.
Sie blickte in das Zimmer. Sein Bett war ordentlich gemacht, die Vorhänge zurückgezogen. Sie wandte sich um und ging langsam die Treppe hinunter. Der Portier saß hinter seinem Pult. Ihr langsames Näherkommen verwirrte ihn, und er nickte kaum merklich. Sie tat so, als wolle sie die Postkarten auf dem Drehständer betrachten, aber gleichzeitig warf sie einen verstohlenen Blick über die Theke. In einem Winkel des Regals sah sie ein paar Briefumschläge mit seiner Handschrift. Der Portier hatte ihren Blick aufgefangen und nahm die Briefe in die Hand. »Es sind alles eingeschriebene Briefe«, sagte er, »deswegen liegen sie noch hier. Der Boy soll sie nachher zum Postamt bringen.« Er sah sie an und wartete auf irgendeine Erwiderung. Aber sie sagte nichts, und er schob die Briefe nervös übereinander. Sie sah, daß ein paar von ihnen an Banken gerichtet waren, andere an Rechtsanwälte. Der Portier legte sie wieder beiseite. »Der Herr ist heute morgen abgereist«, sagte er. »Er hat nur diese Briefe hinterlassen, das Geld und den Auftrag für den Boy. Er käme nicht zurück, hat er gesagt.« Der Portier zögerte einen Moment, und dann fügte er hinzu: »Bleiben Sie noch allein hier?« 125
Sie blickte auf seine schweißfeuchte Stirn. »Ich weiß nicht«, sagte sie, »ich weiß es noch nicht.«
Sie zog sich aus, watete ins Meer und begann zu schwimmen. Sie spürte die Bewegungen ihres Körpers und die Kühle des Wassers. Ein kleines, braun verrottetes Blatt berührte ihre Lippen. Sie holte tief Atem und tauchte unter. Auf dem Grunde der See glitt ein Schatten über die Algen und verlieh dem Meeresboden Leben und Bewegung. Sie blickte nach oben durch das Wasser, um zu sehen, woher der Schatten kam, und ihr Blick fiel auf das winzige, braune Blatt, das sie vorhin berührt hatte.
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