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In der Reihe der Ullstein Bücher:
Ullstein Buch Nr. 3178 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M — Berlin — Wien A...
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In der Reihe der Ullstein Bücher:
Ullstein Buch Nr. 3178 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M — Berlin — Wien Aus dem Amerikanischen
SCIENCE-FICTION-STORIES 46 (Ullstein Buch 3118) Erzählungen von Cordwayner Smith, Eric Frank Russell, H. Beam Piper, Gregory Benford
Umschlagillustration: ACE/Roehling Alle Rechte vorbehalten Copyright © 1938, 1951, 1952, 1956 by Eric Frank Russell Übersetzung © 1975 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M — Berlin — Wien Printed in Germany 1975 Gesamtherstellung: Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH ISBN 3 548 03178 1
SCIENCE-FICTION-STORIES 47 (Ullstein Buch 3130) Erzählungen von Gordon Eklund, Bob Shaw, Michael G. Coney, H. B. Hickey, R. A. Lafferty SCIENCE-FICTION-STORIES 48 (Ullstein Buch 3139) Erzählungen von Robert Silverberg, Isaac Asimov, Neal Barrett jr., Clifford D. Simak SCIENCE-FICTION-STORIES 49 (Ullstein Buch 3148) Erzählungen von Larry Niven, Gerald Jonas, Theodore Sturgeon, Ron Goulart, Arthur Sellings SCIENCE-FICTION-STORIES 50 (Ullstein Buch 3153) Erzählungen von Larry Niven, James Tiptree jr., Frederik Pohl SCIENCE-FICTION-STORIES 51 (Ullstein Buch 3159) Erzählungen von Robert Sheckley, Burt Filer, Poul Anderson, Robert Silverberg, Brian W. Aldiss, Damon Knight, Samuel D. Delany, E. G. Von Wald SCIENCE-FICTION-STORIES 52 (Ullstein Buch 3166) Erzählungen von Colin Kapp, R. A. Lafferty, Sidney van Scyoc, Laurence Yep, Ryu Mitsuse
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Science-Fiction-Stories 53 Vier Erzählungen von Eric Frank Russell
ein Ullstein Buch
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gescannt von Brrazo
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Inhalt DER KUNDSCHAFTER ................................................................. 7 REAKTION..................................................................................... 74 RATTENNEST................................................................................ 90 ICH BIN NICHTS ......................................................................... 131
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DER KUNDSCHAFTER Soweit man andromedische Denkformen überhaupt mit unseren Schriftzeichen ausdrücken kann, lautete sein Name Hara-sha Vanash. Seine schrecklichste Eigenschaft war seine Arroganz. Schrecklich deswegen, weil sie durchaus berechtigt war. Seine Überlegenheit war auf fünfzig feindlichen Welten auf die Probe gestellt worden und hatte sich als unbesiegbar erwiesen. Das größte Kapital, das ein lebendiges Wesen besitzen kann, ist seine schöpferische Erfindungsgabe. Das ist seine Energiequelle, sein Kraftzentrum. Doch für Vanash war der Geist seines Gegners dessen schwacher Punkt, ein Materialfehler in der Rüstung, ein Werkzeug, dessen man sich bedienen konnte. Doch auch Vanash waren Grenzen gesetzt. Er konnte keine Gehirne seiner eigenen Spezies beeinflussen, da diese sich mit ebenbürtigen Kräften widersetzten. Er konnte auch nicht viel mit Lebensformen anfangen, die geistlos dahinvegetierten. Doch wenn eine fremde Art denken und schöpferisch tätig sein konnte, war das sozusagen ein Fressen für ihn. Vanash war ein vierundzwanzigkarätiger Hypno. Setzte man ihm ein denkendes Wesen in eine Reichweite bis zu einer Meile, so konnte er es im Nu davon überzeugen, daß schwarz weiß, Recht Unrecht, die Sonne grün und blau gesprenkelt und der Kilometerstein der Kaiser von Äthiopien sei. Alles, was er suggerierte, blieb hängen, wenn er nicht seine Meinung änderte, daß es jetzt nicht so, sondern wieder anders sei. Selbst wenn der gesunde Menschenverstand sich dagegen sträubte — das Opfer legte darauf eidesstattliche Versicherung ab, schwor auf die Bibel oder den Koran oder Mao Tse Tung und wurde dann abgeführt, um auf seinen Geisteszustand untersucht zu werden. 7
Doch auch für ihn gab es eine absolute Grenze, die im gesamten Kosmos zu gelten schien: er konnte keine Lebensform dazu zwingen, sich selbst zu vernichten. An diesem kritischen Punkt wurde der Universalinstinkt des Selbsterhaltungstriebes geradezu störrisch und weigerte sich, nachzugeben. Doch konnte er in diesem Fall auf eine Ersatzlösung ausweichen. Er konnte das tun, was eine Schlange macht, wenn sie mit einem Frosch konfrontiert wird. Er konnte sein Opfer in den Glauben versetzen, es sei gelähmt und könne dem sicheren Tod nicht mehr ausweichen. Er konnte ein boozeisches Appolan nicht dazu überreden, sich selbst die Kehle zu durchschneiden; aber er konnte es dazu bringen, stillzuhalten, während er das Schneiden selbst besorgte. Ja, Harasha Vanash hatte allen Grund, sich für ein überragendes Wesen zu halten. Wenn man fünfzig Welten besucht hatte und nach Gutdünken mit ihnen umgesprungen war, konnte man zuversichtlich die einundfünfzigste heimsuchen. Die Erfahrung ist eine treue und zuverlässige Dienerin, die das Selbstbewußtsein eines Ego lange Zeit mit Nahrung versorgt, wenn man wüste Gebiete durchstreifen muß. Deshalb landete er auch mit unbekümmertem Selbstvertrauen auf dem Planeten Erde. Am Tage zuvor hatte er den Planeten von oben betrachtet und mit seiner Spionagetätigkeit die üblichen Gerüchte von fliegenden Untertassen ausgelöst, obgleich sein Raumschiff einer Untertasse nicht im entferntesten ähnlich sah. Er setzte unbeobachtet in den Bergen auf, stieg aus, schickte das Schiff wieder hinauf in den kosmischen Raum, wo es mit automatischer Steuerung als stecknadelgroßer Fixstern in einem extrem weiten Orbit um den Planeten kreiste. Das kleine, kompakte Steuergerät, mit dem er das Raumschiff wieder zum Landeplatz rufen konnte, versteckte er unter ein paar Felsbrocken. 8
Das Raumschiff war auf seinem Orbit vor irdischen Eingriffen sicher; denn es schickte keine Signale aus und befand sich weit außerhalb der Bahnen irdischer Satelliten. Und daß man es zufällig mit Teleskopen beobachten könnte, schien gleichermaßen ausgeschlossen. Falls die Irdischen aber das Raumschiff tatsächlich entdecken sollten, konnten sie trotzdem nichts dagegen unternehmen, weil ihre Raumkapseln in den allerersten Kinderschuhen steckten — sozusagen auf Steinzeitniveau. Sie hätten den extremen Orbit nie erreichen, sondern nur staunen und bekümmert in die Zukunft schauen können. Vanashs erste Erkundigungen hatten ihm nicht viel Aufschluß über die Gestalt und das Verhalten der herrschenden Lebensformen gegeben. Dafür war er von dem Planeten noch zu weit entfernt gewesen. Alles, was er zunächst wissen wollte, war die Antwort auf die Frage, ob es sich überhaupt lohnte, diesen Planeten näher zu erkunden, und ob die am höchsten entwickelte Lebensform geistige Kräfte besaß, die sich ausbeuten ließen. Es dauerte keine ganze Erdumdrehung, bis er herausfand, daß er hier ein besonders ergiebiges Betätigungsfeld entdeckt hatte. Eine Welt, die man unbedingt für eine spätere Konfiszierung durch Andromeda vormerken sollte. Die physische Beschaffenheit dieser zukünftigen Sklaven spielte vorerst keine Rolle. Seine äußere Erscheinung war völlig fremdartig nach den Begriffen dieser Welt. Er hätte sich nicht im Gesichtskreis ihrer Bewohner bewegen können, ohne sofort eine Panik auszulösen. Aber es würde keine Panik geben. Obgleich es mindestens ein Dutzend physische Abweichungen zwischen ihnen gab, würde er sie in dieser Hinsicht sogar eher angenehm berühren. Sie würden nämlich nie seine wahre Gestalt zu Gesicht bekommen — nur seine imaginäre. Er konnte sich nämlich in jeden und alles verwandeln — in der Einbildung der Irdischen, wohlgemerkt. 9
Deshalb war es auch seine erste Aufgabe, sich eine Dutzendgestalt zu verschaffen, die in einer Menge unbeachtet unterging. Er mußte sein imaginäres Aussehen — sein geistiges Image im wortwörtlichsten Sinne — festlegen und allen anderen geistigen Wesen, denen er begegnete, so einprägen, daß sie sich daran erinnerten. Und zwar so lange, bis er sich dazu entschloß, dieses imaginäre Aussehen wieder zu ändern. Auch die Verständigung würde kein Problem darstellen. Er konnte ja Gedanken lesen, die Fragen und Antworten selbst bestimmen und projizieren, wobei der Geist des anderen, der ihm Rede und Antwort stehen mußte, das Beiwerk und die Ausdrucksformen selbst mitlieferte. Falls sie sich durch Lautzeichen miteinander verständigten oder durch mechanische Zeichen — durch ausdrucksvolles Wedeln mit dem Schwanz zum Beispiel — würde er das Problem auf die gleiche Weise lösen. Er projizierte seine Botschaft in den Geist seines Gesprächspartners, worauf dieser sie in Lautzeichen oder Schwanzwedeln übersetzte. Er verließ den Landeplatz und setzte sich in Bewegung — auf eine stark befahrene Straße zu, die er während des Landeanflugs genau beobachtet hatte. Eine Staffel Düsenjäger zog Kondensstreifen über den Horizont. Er blieb eine Weile stehen, um den Flug dieser primitiven Maschinen zu beobachten. Er betrachtete sie nicht ohne Wohlwollen. Auf der Suche nach Sklaven auf anderen Welten hatte er sich immer darüber geärgert, daß sie zu stupide waren, um brauchbare Arbeit zu leisten. Das stand hier nicht zu befürchten. Er bewegte sich weiter, nur mit einem winzigen Kompaß ausgerüstet, den er zu seiner Orientierung brauchte, wenn er zu seinem Lande- und Startplatz zurückkehren wollte. Er trug weder Gepäck noch Waffen bei sich. Es war nicht nötig, sich mit todbringenden Werkzeugen abzuschleppen. Logischerweise waren die Waffen an Ort und Stelle die geeignetsten Abwehrmittel gegen 10
Angriffe mit ihnen. Falls er eine Waffe verwenden mußte, brauchte er nur dem Nächstbesten den geistigen Befehl zu geben, ihm seine Waffe auszuhändigen. Er würde sie ihm geradezu aufdrängen und sich noch bedanken. So einfach war das. Er hatte es dutzendemale ausprobiert, und es hatte immer funktioniert. Neben der Straße befand sich eine kleine Tankstelle mit vier Zapfsäulen. Hinter einem dichten Gebüsch verborgen, das ungefähr fünfzig Meter davon entfernt war, beobachtete Vanash, was sich dort abspielte. Hm — Zweifüßler, ihm nicht ganz unähnlich, aber mit halbstarren Gliedern und viel mehr Haaren. Einer dieser Zweifüßler bediente die Zapfsäulen, ein anderer saß in einem Wagen. Den Zweifüßler im Wagen konnte er nicht genau erkennen — nur dessen Kopf und Schultern. Der Zweifüßler an der Pumpe trug eine Mütze aus schimmerndem Material, mit einem Metallabzeichen. Der Anzug glich einer Uniform und hatte eine rote Aufschrift auf dem Rücken. Beide Wesen waren als Identitäts-Vorlagen nicht geeignet. Das eine verfügte über ein zu geringes Detailwissen, das andere war zu sehr spezialisiert. Einzelwesen in Uniform nahmen in der Regel Befehle entgegen, hatten ein fest umrissenes Aufgabengebiet und lenkten unangenehme Aufmerksamkeit oder Fragen auf sich, wenn sie an Örtlichkeiten auftauchten, wo sie nichts zu suchen hatten. Besser, sich ein Individuum auszusuchen, das sich nach Belieben überall frei bewegen und zeigen konnte. Der Wagen fuhr wieder los. Das Exemplar mit der Mütze wischte sich die Hände an einem Lappen ab und blickte die Straße hinunter. Vanash blieb auf seinem Beobachtungsposten. Nach ein paar Minuten hielt ein weiterer Wagen. Dieser hatte eine Antenne auf dem Dach und enthielt zwei Individuen, die gleich gekleidet waren — Schirmmützen, Metallknöpfe und -abzeichen. Sie hatten scharfe Falten im Gesicht, harte Augen und ein autoritäres Gehabe. Ungeeignet, überlegte Vanash — viel zu auffällig. 11
Einer der Polizisten — nicht ahnend, daß er beobachtet wurde — fragte den Tankwart: »Ist Ihnen irgend etwas Besonderes aufgefallen, Joe?« »Gar nichts. Bei mir läuft alles ruhig und normal.« Der Streifenwagen setzte seine Patrouillenfahrt fort. Joe verschwand im Tankstellengebäude. Vanash nahm eine Aromanuß aus der kleinen Packung und kaute darauf herum, während er seinen Gedanken nachhing. Die Zweifüßler hier waren also Mundredner, auf Sprechverbindung angewiesen und unfähig, Gedanken zu übertragen. Schablonendenker. Das waren Marionetten für einen Hypno, der sie beliebig nach seiner Pfeife tanzen lassen konnte. Trotzdem waren ihre Autos, ihre Düsenflugzeuge und ihre primitiven Raumkapseln der Beweis, daß sie auch gelegentlich Geistesblitze hatten — geistige Fünkchen sozusagen. Nach andromedanischer Theorie war die seltene Gabe des Genies das einzige, was einem Andromeder gefährlich werden konnte. Denn nur die geistige Genialität konnte seine Existenz entdecken, seinen Operationen folgen und ihn identifizieren. Das war eine logisch wohlfundierte Annahme — wenn man kosmische Kategorien zu Grunde legte. Alles, was die andromedische Kultur ausmachte, war durch zahllose Inspirationsschübe Wirklichkeit geworden, die jahrhundertelang aus dem Nichts gekommen waren — so unerklärlich, wie Inspirationen eben zu sein pflegen. Aber Inspirationen — oder Geistesblitze — entstehen spontan und aus eigenem Willen. Man kann sie nicht nach Belieben herstellen, und wäre die Nachfrage noch so groß. Jede Spezies konnte sich die Haare raufen, weil sich einfach kein fruchtbarer Gedanke einstellen wollte, und mußte eben wie jede andere darauf warten, bis sie an der Reihe war. Doch leider hatte diese wohlfundierte Theorie einen Webfehler. 12
Denn kein Neuling, der zum erstenmal mit einer fremden Kultur in Berührung kommt, kann sie lückenlos überschauen, sie restlos mit genialer Einfühlungsgabe erfassen oder ergründen. Wer konnte zum Beispiel von vornherein annehmen, daß die örtliche Lebensform aus einer Ansammlung von chronischen Neurotikern bestand? Oder daß diese Spezies — eben aus diesem Grund — nie Zeit dazu hatte, auf Inspirationen zu warten? Vanash wußte nicht — und konnte auch nicht vermuten — daß es auf der Erde eine ermüdend weitschweifige, schablonenhafte und in der Regel nicht besonders geschätzte Ersatzlösung für geniale Eingebungen gab. Diese Methode war langwierig, mühsam, zermürbend, schweißtreibend und alles andere als spektakulär — aber sie war brauchbar, immer einsatzfähig und nicht ohne Erfolg. Man hatte viele Bezeichnungen für diese Methode: Fleiß, Anstrengung, Leistung, Eifer, Phantasie und Erfindungsgabe oder schlicht und einfach Arbeit. Wer hatte auch schon von so etwas im Kosmos gehört? Vanash wenigstens nicht, und auch keiner von seinen Artgenossen. Er wartete also hinter seinem Busch, bis schließlich ein unauffälliges Individuum aus seinem Wagen stieg, sich bereitwillig von allen Seiten darbot und dabei jede Einzelheit seines Gesichts, Gehabes und seiner Kleidung preisgab. Dieses Exemplar schien nicht gebunden oder unersetzbar und konnte offenbar auf jeder belebten Straße massenhaft beobachtet werden. Vanash fotografierte dieses Exemplar im Geiste von allen Seiten, nahm dessen Steckbrief sozusagen geistig zur Kenntnis und war mit sich zufrieden. Fünf Meilen von der Tankstelle entfernt lag im Norden eine Kleinstadt, vierzig Meilen weiter eine Großstadt. Er hatte sie beide beim Landemanöver gut beobachten können und dabei beschlossen, 13
die Kleinstadt als Übungsplatz zu wählen, ehe er die Großstadt besuchen würde. Jetzt hätte er kühn aus seinem Versteck hervortreten und sein Original dazu zwingen können, ihn zu jedem beliebigen Ort zu transportieren. Diese Idee war verlockend, aber nicht ungefährlich. Ehe er mit der Bestandaufnahme dieses Planeten fertig war, würden dessen Lebensformen Dinge erleben, die sie sich nicht erklären konnten. Und es war klüger, das erste unerklärbare »Wunder« nicht in der Nähe des Ortes anzusiedeln, wo das Rendezvous mit seinem Raumschiff stattfinden mußte. Das Individuum mit der schimmernden Mütze redete dann vielleicht zu lang und zu ausführlich von einem Kunden, der einen Doppelgänger als Anhalter mitgenommen hatte. Und diese erstaunliche Laune des Zufalls erführe dann eine Bestätigung durch das Opfer selbst, das von einem Anhalter berichtete, der ihm wie sein eigenes Spiegelbild vorgekommen sei. Informationen dieser Art, wenn in genügender Anzahl gesammelt, konnten ein geistiges Feld aufladen, einen Inspirationsblitz auslösen und so die schreckliche Wahrheit ans Licht bringen. Vanash ließ also den Kunden weiterfahren und wartete, bis Joe wieder in dem Tankstellengebäude verschwunden war. Dann verließ er sein Versteck, ging eine halbe Meile an der Straße entlang nach Norden, blieb stehen und blickte nach Süden. Der erste Wagen, der herangebraust kam, wurde von einem Vertreter gelenkt, der nie — aber wirklich nie — einen Anhalter mitnahm. Er hatte schon von zu viel Fällen gehört, wo der Anhalter den Fahrer überfallen und beraubt hatte — wenn nicht Schlimmeres. Und soweit er es verhindern konnte, sollte Derartiges ihm nicht widerfahren. Leute, die am Straßenrand standen und Däumchen zeigten, konnten seinetwegen daran lutschen oder kauen, bis sie Wurzeln schlugen. 14
Er hielt an und nahm Vanash mit, ohne sich im geringsten Rechenschaft darüber zu geben, weshalb er es tat. Er wußte nur, daß er in einem Moment der Gedankenlosigkeit einen Grundsatz seines Lebens über den Haufen warf und ein Individuum in seinen Wagen steigen ließ, das wie ein Leichenbestatter aussah — so traurig, fahl und vom Lebenskampf mitgenommen kam ihm sein Anhalter vor. »Wollen Sie noch weit?« fragte der Handelsvertreter, während er sich darüber ärgerte, daß seine Prinzipien nicht so stark waren, wie er geglaubt hatte. »In die nächste Stadt«, erwiderte Vanash. Der andere glaubte wenigstens, sein Mitfahrer habe das gesagt, hörte ihn ganz deutlich diesen Satz sprechen und würde jeden Eid darauf ablegen, daß er diese Antwort vernommen habe. Vanash las auch gleich noch den Namen dieser Stadt in den Gedanken des Fahrers und suggerierte ihm den Nachsatz ein: »Nach Northwood.« »Wohin denn dort?« »Ist mir egal. Es ist nur ein kleiner Ort. Sie können mich absetzen, wo es Ihnen am besten paßt.« Der Fahrer brummte zustimmend und bot sich nicht zu weiterer Konversation an. Seine Gedanken waren aufgescheucht, verwundert über seine ungewöhnliche Nächstenliebe. In Northwood hielt er an einer beliebigen Stelle. »Weit genug?« »Vielen Dank«, Vanash stieg aus, »wirklich nett von Ihnen.« »Keine Ursache.« Der Handelsvertreter fuhr weiter, unberaubt und unbelästigt. Vanash sah dem Wagen nach, dann galt sein Interesse Northwood. Northwood war wirklich nichts Bedeutendes. Eine lange 15
Hauptstraße und zwei kurze Nebenstraßen mit Läden. Ein Personenund ein Güterbahnhof. Vier mittelgroße Industriebetriebe. Drei Banken, eine Post, ein Spritzenhaus, ein Rathaus, ein Gerichtsgebäude. Er schätzte die Bevölkerung auf fünftausend Einwohner. Ein Drittel davon arbeitete bestimmt in der Landwirtschaft. Er schlenderte die Hauptstraße hinunter und wurde von den Einheimischen vollkommen ignoriert, obwohl er ihnen fast auf die Füße trat. Dieses Phänomen überraschte ihn kaum. Er hatte das schon so oft auf anderen Welten erlebt, daß ihn diese Erfahrung inzwischen fast langweilte. Nur ein Hund, der ihm über den Weg laufen wollte, besann sich plötzlich anders, kläffte jaulend, kniff den Schwanz ein und rannte davon. Keiner beachtete den Hund, noch Vanash. Die erste Lektion kleinstädtischer Erziehung wurde ihm in einem Geschäft zuteil. Er war neugierig, wie die Kunden hier zu dem kamen, was sie haben wollten, und folgte ein paar Irdischen über die Schwelle. Sie verwendeten ein Tauschmittel, das aus gedrucktem Papier und geprägten Metallstücken bestand. Das bedeutete also, er konnte zeitraubende Umwege und Unbequemlichkeiten einfach dadurch vermeiden, indem er sich in den Besitz einer größeren Menge dieses Tauschmittels setzte. Er begab sich zu einem Supermarkt und gewann dort eine ziemlich genaue Vorstellung von der Höhe des Geldwertes und seiner Kaufkraft. Dann besorgte er sich eine kleine Summe Geld, und zwar klugerweise über einen Mittelsmann. Diese Technik war viel einfacher, als es selbst zu tun und sich der Gefahr, entdeckt zu werden, auszusetzen. Während er unauffällig an der Seite stand, konzentrierte er seine Gedanken auf eine plumpe, mütterliche Person, die offensichtlich ein 16
gewisses Ansehen genoß. Sie reagierte auf seine Gedankenimpulse, indem sie einer Frau neben ihr, die gerade Salatköpfe prüfte, die Geldbörse stahl. Dann schmuggelte sie ihre Beute aus dem Supermarkt, warf sie, ohne sie überhaupt zu betrachten, auf ein unbebautes Grundstück, ging nach Hause, dachte darüber nach, was sie getan hatte, und griff sich entgeistert an den Kopf. Vanash hob die Geldbörse auf und stellte fest, daß sie zweiundvierzig Dollar enthielt. Vanash ging mit der Beute in eine Cafeteria und verschwendete einen Teil davon für eine ausgedehnte Mahlzeit. Auf telepathische Weise hätte er diese Mahlzeit auch umsonst bekommen können; doch mit dieser Methode hätte er nur ungläubige Blicke auf sich gelenkt und unerwünschte Publicity getrieben, die wiederum Inspirationsfunken hätte auslösen können. Seinem Geschmacksempfinden nach war ein Teil der Speisen geradezu ekelerregend, anderes wieder genießbar. Bis er wußte, was und wo er speisen konnte, würde er sich zufriedenstellend ernähren können. Noch nicht zufriedenstellend gelöst war jedoch das Problem der Nachtruhe. Denn er brauchte den Schlaf zur Regeneration genauso wie niedrigere Formen des Lebens und mußte deshalb einen geeigneten Platz dafür finden. Eine Übernachtung in einer Scheune oder auf dem Feld war nicht standesgemäß. Wenn die Sklaven auf Seide schlafen, nimmt der Herr nicht mit Stroh vorlieb. Es dauerte eine Weile, bis er durch eigene Beobachtung und einige Fragen an Passanten — natürlich telepathisch suggerierte Fragen — herausgefunden hatte, daß für diesen Zweck ein Hotel oder eine Pension zur Auswahl standen. Das Hotel schien ihm weniger geeignet. Zu öffentlich — zu sehr seine Tarnung gefährdend. In einem Hotel hatte er wenig Gelegenheit, er selbst zu sein und sich gehenzulassen, was für seine Erholung wichtig war. 17
Aber in einer Pension für Dauergäste war er davor sicher, von Stubenmädchen oder Etagenkellnern mit Hauptschlüsseln überrascht zu werden. Dort konnte er seinen Geist frei schweifen lassen, mußte ihn nicht dauernd strapazieren, durfte schlafen und in Ruhe und Zurückgezogenheit Pläne schmieden. Er fand eine passende Pension ohne große Schwierigkeit. Eine pausbäckige Wirtin mit vier Warzen im Gesicht zeigte ihm seine zukünftige Bleibe, kassierte zwölf Dollar im voraus, weil er kein Gepäck dabeihatte, und fragte nach seinen Personalien. Er stellte sich als William Jones vor, der geschäftlich eine Woche in der Stadt bleiben müsse, und bestand darauf, nicht gestört zu werden. Im Gegenzug pries die Wirtin ihre Herberge als Palast des Friedens für alleinreisende Herren an. Falls es einem der Gäste einfallen sollte, ein Mädchen aufs Zimmer zu nehmen, müsse er sich auf der Stelle woanders umsehen. Er versicherte ihr, er denke nicht im Traum an so etwas — was der Wahrheit entsprach. Denn Intimitäten mit Irdischen waren undenkbar und als Vorstellung ein Alptraum. So zog sich denn die Wirtin befriedigt zurück. Er saß auf dem Bettrand und dachte nach. Auch hier wäre es einfach gewesen, die Wirtin zu bezahlen, ohne ihr in Wirklichkeit einen Cent auszuhändigen. Er hätte ihr diese Überzeugung einsuggerieren können. Aber später hätte sie dann beim Kassensturz festgestellt, daß ihr zwölf Dollar fehlten, und sich wahrscheinlich mächtig aufgeregt. Falls er länger hier wohnte, würde sich dieser Vorgang wiederholen, bis sie schließlich dahinterkam, daß ihre Verluste genau seinem Mietzins entsprachen. Und das wäre selbst für einen Idioten auf die Dauer unerträglich gewesen. Er hätte natürlich auch das Geld für die Miete von einem anderen stehlen können. Diese Taktik hatte ebenfalls ihre Nachteile. Wenn es sich herumsprach, daß ein Dieb in der Stadt sein Unwesen trieb, war er gezwungen, seine imaginäre Identität zu wechseln. 18
Er hatte keine Skrupel, sich ein Opfer als Geldlieferanten zu suchen oder seine Identität zu wechseln, sobald das notwendig wurde. Aber er hatte keine Lust, sich laufend wegen Nichtigkeiten einer Metamorphose zu unterwerfen. Wenn er sich zu sehr von irdischen Bedingungen in seiner Handlungsweise bestimmen ließ, bedeutete das, daß diese Fremdlinge ihm ihren Willen aufzwangen. Sein Ego ließ so etwas nicht zu. Trotzdem mußte er sich einer fundamentalen Prämisse irdischer Verhältnisse stellen und die notwendigen Konsequenzen auf sich nehmen. In dieser Welt brauchte man Geld, wenn man reibungslos vorankommen und ärgerlichen Komplikationen ausweichen wollte. Deshalb stand er vor der Alternative, sich einen ausreichenden Vorrat von echter Valuta zuzulegen oder ständig die Illusion zu erzeugen, er besitze es, ohne es wirklich zu haben. Man brauchte keine überragende Intelligenz dazu, einzusehen, welche Alternative die bequemste war. In anderen Welten waren die Lebensformen so primitiv und geistig träge gewesen, daß er ziemlich rasch einen Überschlag machen konnte, was sie als zukünftige Feinde und schließlich als Sklaven wert sein würden. Hier war die Situation erheblich komplizierter und verlangte eine eingehende und detaillierte Studie. Seiner Schätzung nach würde er hier ziemlich lange bleiben und sich einen Geldvorrat zulegen müssen, der größer war, als der durchschnittliche Bürger hier mit sich in der Tasche herumschleppte. Und wenn dieser Vorrat erschöpft war, mußte er sich Nachschub besorgen. Am folgenden Tag verwendete er eine gewisse Zeit darauf, festzustellen, wo der Geldstrom sich in genügender Quantität staute. Sobald er sich über den Kreislauf des Geldes Klarheit verschafft hatte, studierte er die Quellen noch eingehender. Im Jargon der Unterwelt ausgedrückt — er baldowerte eine Bank aus. 19
Der Mann, der sich durch den Korridor bewegte, wog zweihundertfünfzig Pfund, besaß mehrere Kinne und einen beträchtlichen Vorrat an Speck. Auf den ersten Blick schien er ein Vielfraß zu sein, der mangelhafte geistige Veranlagung physisch kompensierte. Doch der erste Blick täuscht oft. Mindestens ein halbes Dutzend solcher korpulenter Persönlichkeiten waren in früheren Jahren Weltmeister im Ringen gewesen. Edward G. Rider gehörte nicht in diese Kategorie — nicht ganz. Aber wenn er herausgefordert wurde, konnte er doch eine Menge Leute aufs Kreuz legen, ehe sie begriffen hatten, daß sie sich in einen Zweikampf eingelassen hatten. Er blieb vor einer Tür mit Milchglasscheibe stehen, auf der in Großbuchstaben zu lesen war: US SCHATZAMT — ERMITTLUNGEN. Er klopfte mit seinen schusterhammergroßen Knöcheln gegen die Scheibe, trat ein, ohne eine Antwort abgewartet zu haben, und nahm Platz — ebenfalls ohne Aufforderung. Das schmalgesichtige Individuum hinter dem Schreibtisch drückte milden Tadel aus. »Eddie, ich habe eine undurchsichtige Sache für dich.« »Hast du mir schon mal einen einfachen Fall anvertraut? Was ist es diesmal?« Er schneuzte sich. »Geldfälscher?« »Bankraub.« Rider zog die Stirn kraus. »Ich dachte, unser Arbeitsgebiet beschränke sich auf Falschgeld und Devisenvergehen. Seit wann haben wir mit Geld zu tun, das echt ist und gestohlen wird? Das fällt doch in den Aufgabenbereich der Polizei.« »Die Polizei kommt mit dieser Sache nicht mehr weiter.« »Wenn die Bank bei der Regierung rückversichert ist, können sie Bundespolizei anfordern.« »Sie ist nicht bundesrückversichert. Wir haben freiwillig Hilfe 20
angeboten. Du bist derjenige, der freiwillig hilft.« »Warum ich?« Der Schmalgesichtige holte tief Luft und erklärte ohne Pause: »Jemand hat die First Bank of Northwood um 25 000 Dollar erleichtert — und niemand weiß, wie es passiert ist. Captain Harrison von der Polizei in Northwood ist aus dem Häuschen. Seiner Ansicht nach hat jemand endlich erreicht, was niemand zuvor jemals gelungen ist — das perfekte Verbrechen.« »Das sagt jeder, der das Handtuch werfen muß.« Rider schüttelte den Kopf. »Wieso wurden wir in den Fall hineingezogen?« »Captain Harrison stellte bei der Tatortbesichtigung fest, daß die Beute unter anderem aus vierzig neuen Einhundert-Dollar-Scheinen bestand, die durchgehend numeriert waren. Diese Nummern sind bekannt. Die der anderen Geldscheine nicht. Er rief uns an, gab uns die Nummern durch und erwartet jetzt von uns, daß wir Nachforschungen anstellen, sobald einer dieser Scheine im Zahlungsverkehr auftaucht. Embleton nahm das Gespräch entgegen und bekam Interesse an der Theorie von wegen perfektes Verbrechen.« »So?« »Er sprach die Sache mit mir durch. Wir stimmten dahingehend überein, daß ein Verbrecher, der nach Gutdünken Banknoten abzweigen kann, genauso gefährlich für die Allgemeinheit ist wie ein Falschmünzer.« »Ich verstehe«, meinte Rider mit Zweifel in der Stimme. »Dann trug ich die Sache auf höchster Ebene vor. Ballantyne selbst hat entschieden, daß wir berechtigt sind, hier einzugreifen. Es könnte hier eine Entwicklung eingeleitet worden sein, die 21
größere Kreise zieht. Meine Wahl fiel auf dich. Die ganze Abteilung wird ruhiger arbeiten können, wenn du nicht mit deinen Latschen Größe achtundvierzig durch die Gänge trampelst.« Er zog sich ein paar Unterlagen heran und griff nach einem Schreibgerät. »Fahr nach Northwood und hilf Chief Harrison schön bei der Arbeit.« »Jetzt sofort?« »Gründe vorhanden, warum es erst morgen oder nächste Woche sein soll?« »Ich muß heute abend Babysitter spielen.« »Eine unverschämt lahme Ausrede.« »Die Ausrede ist nicht lahm«, erwiderte Rider, »das Baby ist sogar sehr aufgeweckt und munter.« »Pfui — du solltest dich schämen. Schließlich bist du noch nicht lange verheiratet. Zu Hause wartet eine süße und ahnungslose Frau auf dich.« »Die ahnungslose Frau ist ja das Baby«, meinte Rider. »Ich habe ihr ahnungslos und feierlich versprochen, daß ich mich nicht von ihrem Bett ent —« »... und ich habe Harrison und Ballantyne versprochen, daß du diesen Fall mit deiner üblichen elefantenartigen Tüchtigkeit lösen wirst! Möchtest du nun deinen Posten behalten oder in Zukunft mit Babysitting dein Geld verdienen? Ruf deine Frau an und erkläre ihr, daß die Pflicht zuerst kommt.« »Wenn es sein muß«, Rider stiefelte zur Tür und warf sie hinter sich zu. Dann trabte er mürrisch den Korridor hinunter, betrat die nächste Telefonzelle, steckte Münzen in den Schlitz und brauchte zweiundzwanzig Minuten, um seiner Frau zu erklären, daß die Pflicht Vorrang hat. Chief Harrison war groß, hager und mürrisch. Er sagte: »Warum 22
soll ich mir überhaupt die Mühe geben, Ihnen den Hergang genau zu erklären? Beweise aus erster Hand sind besser als aus zweiter. Wir haben den Tatzeugen hier. Ich ließ ihn extra kommen, als ich hörte, Sie kämen nach Northwood.« Er drückte einen Knopf auf der Rufanlage. »Schicken Sie Ashcroft zu mir!« »Was ist er von Beruf?« »Chefkassier bei der Bank, und ein verstörter Mensch.« Er wartete, bis der Zeuge ins Zimmer trat, und stellte die beiden Männer einander vor. »Dieser Herr ist ein Mitarbeiter des Bundesschatzamtes und heißt Rider. Er möchte Ihre Aussage selbst hören.« Ashcroft setzte sich und rieb sich müde die Schläfen. Er war in den Sechzigern, weißhaarig und dezent-elegant gekleidet. Rider klassifizierte ihn als genau, manchmal pingelig, aber solide. Der Typ, der oft als Stütze des Gemeinwohls gepriesen wird. »Das ist jetzt das einundzwanzigste Mal, daß ich die Geschichte wiederhole«, klagte Ashcroft, »und jedesmal kommt mir die Wiederholung verrückter vor. Mein Kopf drehte sich wie ein Spinnrad. Ich kann einfach keine plausible Erklärung...« »Machen Sie sich deshalb keine Gedanken«, beruhigte Rider ihn. »Sie berichten mir nur die Fakten — die Gedanken machen wir uns dann schon.« »Also — jede Woche stellen wir die Lohngelder für die DakinGlasfabrik zusammen. Die Summe schwankt zwischen zwanzig- und fünfundzwanzigtausend Dollar. Am Tage vorher schickt uns die Fabrik einen Boten mit einer Aufstellung, auf der die verlangte Summe mengenmäßig nach Noten verschiedenen Wertes aufgeschlüsselt ist. Wir stellen dann die Gelder in der gewünschten Sortierung bereit.« »Und dann?« 23
»Dann läßt die Fabrik das Bargeld abholen. Sie schickt einen Kassenboten zu uns in die Bank, der von zwei bewaffneten Werkspolizisten begleitet wird. Punkt elf betritt er unsere Schalterhalle. Bisher ist er noch nie früher als zehn vor elf oder später als zehn nach elf bei uns eingetroffen.« »Sie kennen den Kassenboten persönlich?« »Die Fabrik beschäftigt dafür zwei Männer, Mr. Swain und Mr. Letheren. Beide sind ermächtigt, das Geld abzuholen. Sie lösen sich von Zeit zu Zeit ab. Oder der eine springt ein, wenn der andere auf Urlaub, krank oder zu sehr beschäftigt ist. Beide sind mir seit Jahren gut bekannt.« »Schön — fahren Sie mit der Schilderung des Hergangs fort.« »Wenn der Kassenbote bei mir am Schalter eintrifft, hat er einen Lederkoffer bei sich. Den Schlüssel zum Schloß dieses Koffers trägt er in der Tasche. Er sperrt das Schloß des Koffers auf und reicht ihn mir über den Schalter. Ich sortiere die Geldbündel ein, und zwar so, daß er die Mengen nachprüfen kann. Dann reiche ich ihm den gefüllten Koffer wieder über den Schalter und lege ihm eine Empfangsbestätigung vor. Er schließt den Koffer, versperrt das Schloß, steckt den Schlüssel in die Tasche, unterschreibt die Quittung und verläßt die Bank. So war es immer, und so sollte es sich auch weiterhin abspielen.« »Scheint mir ein bißchen fahrlässig, wenn der gleiche Mann den Geldkoffer und den Schlüssel bei sich trägt.« Chief Harrison mischte sich ein: »Wir haben diesen Punkt zufriedenstellend geklärt. Einer der Wächter hat den Schlüssel. Er übergibt ihn dem Boten, sobald sie sich in der Bank befinden. Wenn er sie verläßt, nimmt der Wächter den Schlüssel wieder an sich.« Ashcroft wischte sich nervös über den Mund und fuhr fort: »Am 24
vergangenen Freitag hatten wir fünfundzwanzigtausendeinhundertzweiundachtzig Dollar für die Firma Dakin bereitgelegt. Mr. Letheren kam mit seinem Koffer in die Bank. Das war genau um zehn Uhr dreißig.« »Woher wissen Sie das so genau?« fragte Rider scharf. »Blickten Sie auf Ihre Uhr? Was veranlaßte Sie dazu?« »Ich blickte auf die Uhr, weil ich mich wunderte — Mr. Letheren kam ja fast eine halbe Stunde früher als sonst.« »Und es war genau zehn Uhr dreißig? Sie sind sich da absolut sicher?« »Ich bin mir absolut sicher«, erwiderte Ashcroft, als sei die Uhrzeit das einzige Normale bei der ganzen Affäre. »Mr. Letheren kam zu meinem Schalter und reichte mir den Koffer. Ich begrüßte ihn und machte eine belanglose Bemerkung, weil er diesmal so früh kam.« »Und seine Antwort?« »Ich kann mich an den genauen Wortlaut nicht mehr erinnern. Ich hatte keine Ursache, mir seine Antwort einzuprägen. Außerdem war ich mit dem Einfüllen der Banknoten beschäftigt.« Er dachte angestrengt nach. »Ach ja — er machte eine Anspielung auf ein Sprichwort. Besser zu früh als zu spät.« »Was geschah dann?« »Ich reichte ihm den Koffer zurück und schob die Empfangsbestätigung über den Schalter. Er verschloß den Koffer, unterschrieb die Quittung und ging.« »Das war alles?« »Das dicke Ende kommt noch«, mischte sich Chief Harrison ein. Er nickte Ashcroft aufmunternd zu: »Schildern Sie ihm den zweiten Akt!« 25
»Um fünf Minuten vor elf«, fuhr der Zeuge fort und schüttelte dabei leicht den Kopf, als könne er seine eigene Geschichte nicht glauben, »kam Mr. Letheren in die Bank zurück, stellte den Koffer auf meinen Schalter und sah mich erwartungsvoll an. Deshalb fragte ich ihn: >Ist etwas nicht in Ordnung, Mr. Letheren?< Er antwortete: >Was soll denn nicht in Ordnung sein?Wollen Sie vielleicht abstreiten, daß ich Sie mit diesem Wagen hierhergebracht habe?< Natürlich stritt ich es ab und ging achselzuckend wieder zu meinem Wagen hinüber. Ich dachte, er wollte mich auf den Arm nehmen. Vielleicht war er auch nicht ganz richtig im Kopf.« »Das ist sehr wichtig, Mr. Jones«, sagte Rider. »Wichtiger, als Sie ahnen. Können Sie uns vielleicht eine Beschreibung dieses Mannes geben, der Ihrer Meinung nach — äh — nicht ganz richtig im Kopf war?« Jones runzelte die Stirn. »Ungefähr vierzig Jahre alt, gut gekleidet, sicheres Auftreten, Vertretertyp. Auf dem Rücksitz seines Wagens lagen eine Menge Broschüren und Kartons mit Lackbüchsen.« »Aha — und was für einen Wagen fuhr der Mann?« »Einen Flash, neuestes Modell. Zweifarbenlackierung — grün und schwarzes Dach. Radio und Weißwandreifen. Die Zulassungsnummer habe ich mir natürlich nicht gemerkt.« Zehn Minuten später schickte Harrison wieder seine Leute los: »Klappert alle Tapezierer- und Farbengeschäfte ab! Der Mann 52
scheint Vertreter für Farben zu sein.« Nachdem Jones wieder nach Hause entlassen worden war, kam der erste Anruf aus einem Revier: »Der Mann, den Sie suchen, ist in der Lackbranche gut bekannt. Er heißt Burge Kimmelman und ist Bezirksvertreter für Acme Paint & Varnish. Wo er sich im Augenblick aufhält, läßt sich leider nicht feststellen. Da müssen Sie schon bei seinem Arbeitgeber nachfragen!« »Vielen Dank!« rief Harrison in die Muschel und wählte darauf die Nummer der Acme Paint. Man versprach Harrison, Kimmelman am Abend in seinem Hotel zu verständigen, damit er am nächsten Tag in Northwood eine Aussage machen konnte. Harrison legte den Hörer wieder auf. Verbittert und enttäuscht meinte er: »Das geht ins Uferlose. Kaum haben wir einen Verdächtigen gefunden, verwandelt er sich in eine andere Person, die wieder mit dritten Personen verwechselt wird und so fort. Das entwickelt sich ja wie eine geometrische Reihe. Und die kann so lange werden, daß wir in einem Jahr noch hier sitzen und Zeugen vernehmen.« »Vielleicht — vielleicht auch nicht«, erwiderte Rider gelassen. »Irgendwann stoßen wir schon auf den richtigen — oder auf einen Zufall, der uns weiterhilft. Die Mühlen der Menschen mahlen langsam, aber sie malen sehr klein.« Siebenhundert Meilen weiter westlich war auch ein Mann bei der Arbeit, der sich die Hacken ablaufen mußte, um das fehlende Genie zu ersetzen. Routinearbeit ist eine schreckliche Sache, wenn man ihr auch noch seinen Idealismus aufopfern muß. Dieser Mann, von dem wir sprechen, hieß Arthur Pilchard. Er wohnte in einer Mansarde, aß regelmäßig in einer Stehbierhalle, rauchte vierzig Zigaretten am Tag und wollte seit zwanzig Jahren den großen amerikanischen Bestseller schreiben — nur kam er leider nie dazu. 53
Er war Reporter und arbeitete für die letzte Seite, auf der die Abfälle aus den Papierkörben der Weltpresse sensationell aufbereitet wurden. Er ging gerade am Tisch des Lokalredakteurs vorbei, als dieser ihm einen Fetzen Papier zuschob. »Los, Pilchard — schon wieder ein Verrückter, der fliegende Untertassen gesichtet hat. Hier ist die Adresse!« Pilchard fuhr zu dem Haus, das auf dem Zettel notiert war. Ein junger, intelligent aussehender Mann öffnete ihm. »Sind Sie George Lamothe? »Bin ich«, bestätigte der junge Mann. »Ich komme von der Zeitung Call. Sie haben angerufen, Sie hätten eine fliegende Untertasse gesehen. Stimmt das?« Lamothe schnitt eine Grimasse. »Ich habe nicht behauptet, es handle sich um eine fliegende Untertasse. Ich habe das Objekt genau beschrieben und nur behauptet, es sei kein Naturphänomen!« »Ich glaube es Ihnen gern. Und wo haben Sie dieses Objekt gesehen?« »In der vergangenen Nacht. Und in der Nacht davor.« »Hier über der Stadt?« »Nein — aber es ist von hier aus sichtbar.« »Ich habe es nicht beobachtet. Soweit ich weiß, sind Sie der einzige, der es bisher gesehen hat. Wie können Sie sich das erklären?« »Mit dem bloßen Auge kann man es auch kaum erkennen. Dazu braucht man ein Teleskop.« 54
»Aha — ein selbstgebasteltes?« »Ja, ein Acht-Zoll-Teleskop.« »Na — dazu braucht man Spezialkenntnisse und Idealismus, um so etwas selbst zu basteln. Darf ich Ihr Teleskop mal sehen?« Lamothe zögerte kurz, sagte dann: »Also gut, kommen Sie mit!« Er führte seinen Besucher in den Speicher hinauf, wo ein Teleskop auf einem Stativ unter einer Dachluke stand. »Ein hübsches Ding — und Sie haben das Objekt tatsächlich durch Ihr Teleskop beobachtet, wie?« »Ja, zwei Nächte lang. Ich hoffe, ich werde es auch diese Nacht sehen können.« »Haben Sie eine Ahnung, um was es sich handeln könnte?« »Das ist eine Frage, die wohl keiner leicht beantworten kann«, erwiderte Lamothe vorsichtig. »Ich kann Ihnen nur sagen, daß es auf einer Satellitenbahn um die Erde kreist, die außerhalb unserer üblichen Reichweite liegt. Ich will damit sagen, daß wir mit unseren Raketen nicht bis dorthin kommen. Das Objekt ist kugelförmig und scheint ein künstlicher Raumkörper aus Metall zu sein.« »Haben Sie ein Foto von diesem Objekt?« »Leider nicht. Die Geräte dafür sind für mich unerschwinglich.« »Vielleicht kann einer unserer Kameraleute Ihnen aushelfen.« »Möglich — wenn er die geeigneten Geräte dafür hat«, stimmte Lamothe zu. Pilchard stellte noch zwanzig Fragen und beendete dann das Interview mit der etwas skeptischen Bemerkung: »Was Sie beobachtet haben, können andere Leute mit ihren Teleskopen ebenfalls beobachten. Die Welt ist voller Teleskope, und manche sind so groß, 55
daß eine Lokomotive durch ihr Objektiv hindurchfahren könnte. Weshalb hat außer Ihnen noch niemand dieses künstliche Objekt am Himmel entdeckt? Können Sie sich das erklären?« Lamothe lächelte und erwiderte: »Nicht jeder, der ein Teleskop besitzt, beobachtet damit vierundzwanzig Stunden lang den Himmel. Und selbst wenn es jemand tut, weil das sein Beruf ist, beschränkt er sich meistens auf ein bestimmtes Gebiet — auf eine Sternengruppe zum Beispiel, oder einen bestimmten Bereich des Himmels. Außerdem verbreiten sich Neuigkeiten immer erst dann, wenn man sie unter die Leute bringt. Einer muß damit den Anfang machen. Deshalb habe ich die Redaktion des Call benachrichtigt.« »Da haben Sie recht!« stimmt Pilchard zu und rieb sich insgeheim die Hände, weil er mindestens zwanzig Zeilen auf der letzten Seite unterbringen konnte. »Außerdem«, fuhr Lamothe fort, »haben andere das Objekt im Raum auch beobachtet. Ich habe drei Freunde vorgestern nacht angerufen, die Astronomie ebenfalls als Hobby betreiben. Sie bestätigten, daß sie das Raumobjekt beobachten konnten. Inzwischen wurden auch Observatorien in größeren Städten davon verständigt. Ich selbst habe bereits einen ausführlichen Bericht per Eilboten an die Raumfahrtbehörde abgeschickt und eine Fachzeitschrift verständigt.« »Olala!« Pilchard juckten bereits die Sohlen. »Da muß ich mich aber beeilen, daß ich in die Redaktion zurückkomme, ehe eine andere Zeitung den Bericht bringt.« Hastig notierte sich Pilchard die Rufnummern der Freunde, mit denen Lamothe gestern nacht seine Entdeckung erörtert hatte, und verabschiedete sich dann... Zwei Stunden später wurde die Nachtausgabe des Call ausgeliefert. Eine Vielzahl von Provinzblättern übernahmen die 56
Nachricht, die über Fernschreiber von der Redaktion des Call weitergegeben wurde: RAUMSTATION IM ALL IRDISCH ODER AUSSERIRDISCH Am nächsten Morgen saßen Harrison und Rider nebeneinander am Schreibtisch und arbeiteten sich mühsam durch einen Berg von Papieren. Diese Papiere berichteten meistens nur von einer Person — oder vielmehr einer imaginären Person, die Harrison den falschen Mr. Jones nannte. Man hatte ihn in Northwood herumstreichen sehen wie einen Touristen, der sich für alles interessierte. Er hatte die Auslagen in der Hauptstraße betrachtet, war im Supermarkt gewesen, als dort eine Geldbörse gestohlen wurde, hatte in Caféterias, Gaststätten und Snackbars gegessen und Bier getrunken. Ashcroft hatte ihn beobachtet, als er eine Woche vor dem mysteriösen Bankraub Erkundigungen am Schalter eingezogen hatte. Letheren und seine beiden Geldwächter hatten ihn herumlungern sehen, als sie eine Woche zuvor die Lohngelder abgeholt hatten. Kurz — die Berichte ergaben ein lückenloses Bild, was dieser falsche Mr. Jones zehn Tage lang in der Stadt angestellt oder nicht angestellt hatte. Um sich bei dieser sauren Routinearbeit die Zeit etwas zu verkürzen, hatte Harrison ein Transistorgerät ins Büro mitgebracht. Rider, der mit geschlossenen Augen seinen letzten Bericht verdaute, wurde durch den Nachrichtensprecher aufgeschreckt, der nach den Mittagsmeldungen mit dem Kommentar schloß: »Jedermann weiß, daß jemand eine künstliche Weltraumstation außerhalb unserer Satellitenbahnen um die Erde kreisen läßt. Jeder, der ein Teleskop besitzt, kann sich mit eigenen Augen davon überzeugen. Warum dementieren dann unsere Behörden immer noch hartnäckig, daß diese Weltraumstation existiert? Wenn die Russen 57
dafür verantwortlich sind — warum erzählt man uns das nicht? Wenn wir sie selbst hinaufgeschossen haben — warum bricht man dann nicht das offizielle Schweigen? Hält man uns für Kinder, die die Wahrheit nicht wissen dürfen? Wir fordern unsere Regierungsstellen auf, endlich ihr Schweigen zu brechen. Jedes weitere Zögern ist peinlich — wenn nicht sogar unverantwortlich!« »Der Mann hat ganz recht«, brummte Harrison und blickte von seinem Papierstapel auf. »Im nächsten Krieg werden sie uns auch erst benachrichtigen, wenn wir schon alle tot sind. Es ist...« Das Klingeln des Telefons unterbrach seine weltanschaulichen Betrachtungen. »Was gibt's?« rief Harrison, nachdem er abgehoben hatte. Sein Mienenspiel hätte jeden Pantomimen begeistert. Er sah aus wie ein moderner Don Quichote, der sich in die vierte Dimension verstrickt hat. »Okay«, keuchte Harrison, nachdem er den Hörer wieder auf die Gabel gedonnert hatte. »Es wird von Minute zu Minute verrückter.« »Was ist denn jetzt schon wieder los?« erkundigte sich Rider. »Diese komischen Mandelkerne. Das Labor kann nichts damit anfangen.« »Wundert mich nicht. Allwissend sind die Experten im Labor auch wieder nicht.« »Sie wissen aber, wo die Leute sitzen, die es genau wissen müssen. Deshalb haben sie diese komischen Mandelkerne an eine Firma in New York geschickt, die absolute Experten auf diesem Gebiet sind. Eben erhielten sie von dort Bescheid.« »Und?« »Gleiches Ergebnis — unbekannt und nie davon gehört. Sie haben 58
das Zeug destilliert, analysiert und katalysiert. Ergebnis: die Bestandteile dieser Nuß sind bei uns völlig unbekannt.« Harrison schnaubte wütend. »Sie fordern uns auf, ihnen ein halbes Dutzend von diesen Kernen zuzuschicken: Vielleicht handelt es sich um einen unbekannten Samen, den sie zum Keimen bringen können. Sie wollen feststellen, was für ein Unkraut daraus entsteht!« »Die sollen uns mal...« meinte Rider. »Das ist noch nicht alles!« knurrte Harrison. »Erinnern Sie sich noch an das durchsichtige Papier, das wir in der Pension fanden? Ich dachte, es handelte sich dabei um gefärbtes Zellophan. Irrtum. Das Laboratorium behauptet, es bestünde aus Zellen und Adern und müsse ein Blütenblatt einer bei uns noch nicht bekannten Pflanze sein!« »... falls aber diese Raumstation«, berichtete der Nachrichtensprecher im Transistorradio, »zu militärischen Zwecken mißbraucht werden soll — und wie anders sollen wir uns das hartnäckige Schweigen verantwortlicher Stellen erklären? — dann...« Was dann folgte, konnte man nicht mehr verstehen, weil die Sprechanlage auf Harrisons Schreibtisch einen kräftigeren Lautsprecher besaß: »Ein Mann namens Burge Kimmelman wartet im Vorzimmer, Chef.« »Schicken Sie ihn herein!« Kimmelman nahm sehr selbstbewußt Platz. Offensichtlich war er froh, gegen Spesenersatz durch die Behörden einen Tag Urlaub machen zu können. Er schlug die Beine übereinander und erzählte seine Geschichte: »Verrückteste Sache, die mir je passiert ist, Captain. Ich nehme nie Anhalter mit — aber ehe ich wußte, wie es geschah, saß der Kerl in meinem Auto...« »... wo war das?« unterbrach Rider. 59
»In der Nähe von Seegers Tankstelle. Er wartete am Straßenrand. Ich nahm ihn mit nach Northwood, setzte ihn ab und fuhr quer durch die Stadt weiter. Ich mußte einen Kunden im nördlichen Außenbezirk besuchen. Ich halte also an, steige aus — und wer steht da am gegenüberliegenden Straßenrand? Mein Anhalter!« »Weiter!« drängte Rider. »Also gut — ich fragte ihn, wie er es geschafft habe, mich zu überholen. Und da benimmt der Bursche sich, als hätte er mich noch nie in seinem Leben gesehen! Mißverständnis und so, behauptete, er wäre mit seinem eigenen Wagen in die Stadt gekommen und so weiter.« Kimmelman zuckte hilflos die Achseln. »Eine verrückte Sache, sage ich Ihnen. Ich habe lange darüber nachgedacht, aber kann mir das Ganze einfach nicht erklären. Ich wußte, daß ich den Burschen in die Stadt mitgenommen hatte — aber da stand er nun und benahm sich so überhöflich und korrekt, als verhandelte er mit einem Verrückten!« »Als sie den Mann am Straßenrand auflasen«, meldete sich Harrison zu Wort, »hat er Ihnen da nähere Angaben gemacht? Hat er von seinem Beruf oder seiner Familie erzählt? Oder hat er Angaben darüber gemacht, wo er herkam oder wie weit er an diesem Tage noch reisen wollte?« »Nicht ein Wort! Wenn Sie mich fragen — er stand da, als sei er eben vom Himmel gefallen!« »Das trifft für unseren ganzen Fall zu«, bemerkte Harrison trocken. »Unbekannte Mandelkerne und Blütenblätter als Einwickelpapier, die man nicht identifizieren kann. Vom Himmel gefallen...« Harrison brach mitten im Satz ab. Er ließ den Mund offenstehen und seine Augen traten aus den Höhlen. 60
»... trotzdem ist diese Raumstation außerhalb der Reichweite aller uns zur Verfügung stehenden Abwehrraketen. Sollte es deshalb einer Macht, die ich nicht näher bezeichnen möchte, gelungen sein...« Rider schaltete das Radio ab und wendete sich dann dem Vertreter zu. »Würden Sie vielleicht einen Moment draußen warten, Mr. Kimmelman?« Nachdem der Zeuge die Tür hinter sich geschlossen hatte, klopfte Rider seinem Kollegen auf die Schulter. »Entscheiden Sie sich, Harrison — Schlaganfall oder Klapsmühle! Wir haben keine Zeit zu verlieren!« Harrison rang nach Worten, aber er brachte es nur zu ein paar taubstummenähnlichen Gesten. Rider zuckte die Achseln und zog das Telefon zu sich heran. »O'Keefe — was wissen Sie Neues von der künstlichen Raumstation?« fragte er scheinheilig, nachdem das Gespräch nach Washington durchgestellt war. »Das fragen Sie mich? Ich wollte Sie eben anrufen, weil ich etwas Wichtiges für Sie habe. Und Sie erkundigen sich nach Raumstationen!« »Was gibt's?« »Elf von diesen Banknoten sind aufgetaucht. Die letzten beiden wurden in New York in Zahlung gegeben. Ihr Mann kommt viel herum. Und wenn er wieder eine Bank plündert, dann bestimmt im Stadtgebiet von New York!« »Wahrscheinlich. Vergessen Sie Ihre Banknoten mal einen Augenblick. Was ist mit dieser Raumstation? Rauchen in Washington deswegen die Köpfe?« »Es summt wie in einem Bienenkorb. Bis jetzt wissen wir nur, daß es nicht von uns stammt. Ein Regierungsobservatorium hat das 61
Ding bereits vor einer Woche beobachtet. Irgend jemand in der Regierung muß die Nachricht zurückgehalten haben.« »Weshalb?« »Da fragen Sie mich! Ich bin im Schatzamt, nicht bei der NASA. Weshalb interessieren Sie sich plötzlich so sehr für Raumkörper?« »Ich habe eine Idee. Sie ist so verrückt, daß Harrison neben mir lieber einen Schlaganfall bekommt, als sie auszusprechen. Der künstliche Satellit ist wahrscheinlich gar kein künstlicher Satellit, sondern ein für uns noch...« »Hören Sie mal gut zu«, fuhr O'Keefe ihm in die Parade, »ehe ich einen Wutanfall bekomme. Ich habe Sie nach Northwood geschickt, um Harrison bei der Aufklärung eines Falles zu helfen. Wenn Sie den ganzen Tag nichts anderes zu tun haben, als Science-FictionRomane zu lesen, habe ich hier genügend Beschäftigung, um ...« »Ich verplempere nicht das Telefongeld für Ferngespräche«, unterbrach Rider, »weil es mir Spaß macht, wenn Sie einen Wutanfall bekommen. Die Sache ist viel zu ernst. Da oben im Raum fliegt ein Ding herum, von dem wir nicht wissen, wie es dorthin gekommen ist. Zur gleichen Zeit marschiert bei uns herunten ein Ding herum, das sich in Personen verwandelt, Banken ausraubt, Abfälle verstreut, die niemand identifizieren kann, Nüsse kaut, die es bei uns nicht gibt und vieles mehr. Kurz ein Ding, von dem keiner weiß, was es ist. Zwei und zwei ist vier. Sie können es sich selbst zusammenreimen, wenn Sie den Mut dazu haben!« »Eddie — sind Sie verrückt geworden?« »Das wäre noch die bequemste Lösung. Ich gebe Ihnen mal alles durch, was wir bisher festgestellt haben, und Sie entscheiden dann selbst. Also hören Sie gut zu...« Rider las einen zusammenfassenden Bericht vor. »Hängen Sie sich an die Strippe. Dieser Fall übersteigt bei weitem die Kompetenz des Schatzamtes. Wenden Sie sich an das 62
Weiße Haus. Man muß etwas unternehmen!« Als er auflegte, hatte Harrison seine Sprache wiedergefunden. »Ich kann es nicht glauben«, stöhnte er. »Wenn ich dem Bürgermeister melden muß, ein Marsbewohner habe unsere Bank um fünfundzwanzigtausend Dollar erleichtert, entläßt er mich auf der Stelle und überweist mich in eine Gummizelle.« »Haben Sie eine bessere Theorie?« »Eben nicht! Das ist ja das Verrückte!« Rider zuckte die Achseln und ließ sich mit der Acme Paint Company verbinden. Nach kurzer Verhandlung mit dem Verkaufschef hängte er wieder ein und ließ Kimmelman hereinrufen. »Wahrscheinlich werden wir Sie hier noch ein paar Tage brauchen«, eröffnete er dem Vertreter. »Ihr Arbeitgeber ist bereits verständigt. Er hat nichts dagegen einzuwenden.« »Kann mir nur recht sein«, meinte Kimmelman. »Aber da muß ich gleich ein Zimmer im Hotel bestellen. Wenn Sie mich für eine halbe Stunde entschuldigen wollen...« »Sofort«, unterbrach ihn Rider. »Ich habe nur noch eine Frage an Sie. Hat der Mann, den Sie am Straßenrand aufgelesen haben, irgendwelches Gepäck bei sich gehabt?« »Nein.« »Nicht einmal eine Reisetasche oder ein Paket?« »Er hatte nichts bei sich. Vielleicht einen Geldbeutel oder eine Brieftasche. Was er in den Taschen trug, konnte ich ja nicht sehen.« In Riders Augen leuchtete es auf. »Vielen Dank — das könnte uns vielleicht weiterhelfen.« Am nächsten Morgen traf eine Wagenkolonne in Northwood ein. 63
Aber die Wagen reihten sich so geschickt in den Verkehr ein und machten sich so unauffällig, daß die Presse es gar nicht spitz bekam, wer sich da alles im Polizeipräsidium versammelte. Man mußte den Schreibtisch aus Harrisons Büro entfernen, damit genügend Stühle für die hohen Gäste aufgestellt werden konnten. Unter den Gästen war der Präsident des Schatzamtes, der Präsident der NASA, die Chefs der Raketentruppen sämtlicher Waffengattungen, fünf Raketenexperten, drei Generäle, ein Admiral, drei Bezirksdirektoren des FBI, der Chef des militärischen Abwehrdienstes, der Chef des CIA, ihre Stäbe, Sekretäre, technische Berater, Stenografen, drei Herren vom Brain Trust des Präsidenten, zwei Astronauten, ein Radarexperte, vier Astronomen, ein halbes Dutzend Wissenschaftler aus anderen Sparten und ein ziemlich aufgeregter Gentleman, der eine Kapazität auf dem Gebiet der Insektenkunde war. Die Herren lauschten schweigend dem Bericht, teils interessiert, teils skeptisch. Harrison setzte sich nach seinem Vortrag und wartete auf den Kommentar der hohen Herren. Ein grauhaariger Gentleman, ein Mitglied vom Brain Trust des Präsidenten, räusperte sich zuerst: »Ich persönlich neige zu der Annahme, daß es sich hier um ein Lebewesen aus dem Kosmos handelt. Ich betone, ich spreche für mich selbst — nicht für den Präsidenten der Vereinigten Staaten. Mir scheint, Debatten über dieses Phänomen sind überflüssig. Es wird dadurch gelöst, daß man dieses Lebewesen fängt. Das ist unser einziges Problem. Wie läßt sich das lösen?« »Nach den üblichen Methoden bestimmt nicht«, meinte einer der Herren vom FBI. »Ein Individuum, das keines ist, sondern sich nach Belieben in ein anderes verwandeln kann, ist nicht leicht zu fangen. Wir brauchen bestimmte Merkmale, woran man es erkennt. Ändert es ständig seine Merkmale, fangen wir es nie.« 64
»Selbst ein Eindringling aus dem Kosmos würde kein Geld stehlen, wenn er es nicht unbedingt brauchte«, bemerkte der Präsident der NASA lächelnd. »Oder meinen Sie vielleicht, unsere Astronauten würden statt Gesteinsproben vom Mond Banknoten mitbringen, wenn sie dadurch ihre Mission gefährden würden? Nein — wir gehen bestimmt nicht fehl in der Annahme, daß dieses kosmische Lebewesen dieses Geld für irdische Ausgaben benötigt. Doch das Geld reicht nicht ewig, wenn man es ausgibt. Ist es aufgebraucht, wird dieses unbekannte Wesen aus dem Weltall eine neue Bank ausrauben. Wenn wir daher alle Banken dieses Landes in eine Falle für kosmische Wesen verwandeln, werden wir es bestimmt fangen.« »Das ist leicht gesagt«, lachte der Chef der CIA, »aber, werter Kollege — wie wollen Sie dieses kosmische Wesen fangen, wenn es in der Gestalt Ihres besten Bankkunden auftritt?« Er grinste hinterhältig. »Wie wollen Sie zum Beispiel beweisen, daß nicht ich der gesuchte Kollege vom anderen Stern bin? Oder können Sie vielleicht das Gegenteil beweisen?« Niemand war über diesen Vergleich besonders glücklich. Sie lachten zwar, aber man hatte das Gefühl, der Chef des CIA habe sich einen makabren Scherz erlaubt. Schließlich meldete sich Rider zu Wort: »Ehrlich gesagt, ich halte es für pure Zeitverschwendung, ein Wesen zu suchen, das in der Lage ist, sich in ein beliebiges anderes Wesen zu verwandeln. Ich habe lange darüber nachgedacht, wie man das bewerkstelligen könnte — leider ohne Ergebnis.« »Vielleicht gibt es eine Lösung, wenn wir wissen, welcher Verwandlungstechnik sich dieses Wesen bedient«, meinte ein Psychologe vom Expertenstab. »Gibt es in dieser Richtung gewisse Anhaltspunkte?« »Leider nicht, Sir.« 65
»Ich tippe auf Hypnose«, sagte der Psychologe. »Sie können recht haben, Sir«, erwiderte Rider, »aber beweisen läßt sich das bis jetzt nicht.« Rider schwieg einen Moment und fuhr dann fort: »Meines Erachtens gibt es nur eine Möglichkeit, dieses Wesen zu fangen.« »Wie?« »Dieses Wesen will sich bestimmt nicht für immer auf der Erde niederlassen. Dagegen spricht das Raumschiff im Orbit. Es wartet auf Befehle, um das Wesen wieder abzuholen, sonst bliebe es ja nicht im Orbit. Und um die Befehle dorthin zu übermitteln, braucht das Wesen einen Sender oder ein Fernsteuerungsgerät.« »Mit Peilgeräten können wir aber den Sender nicht orten, falls er Befehle hinauf zum Raumschiff funkt. Dazu ist die Zeit zu kurz!« rief der Radarexperte. »Daran habe ich auch nicht gedacht«, winkte Rider ab. »Ich gehe von unseren Zeugenaussagen aus. Alle bestätigten, daß das Wesen ohne Gepäck nach Northwood gekommen ist. Selbst eine kosmische Zivilisation ist wohl kaum in der Lage, so kleine Fernsteuerungsgeräte zu bauen, die man in der Hosentasche mit sich herumtragen kann. Besonders dann nicht, wenn man ein Raumschiff aus einem weit entfernten Orbit herunter auf die Erde manövrieren muß. Der Energieaufwand für so ein Gerät erlaubt keine Reduzierung auf ein so extrem kleines Maß.« »Sie meinen — das Wesen aus dem All hat das Gerät irgendwo versteckt?« »Höchstwahrscheinlich.« »Aber dieses Gerät könnte doch überall versteckt sein. Ihre Theorie hilft uns nicht weiter!« »Im Gegenteil!« Rider las noch einmal Passagen aus Harrisons 66
Bericht vor. »Es gibt also etwas, das dieses Wesen nicht verstecken kann, gleichgültig, was für eine Form es annimmt: sein Verhalten. Hätte es sich dazu entschlossen, sich als Elefant zu verkleiden, um wißbegierig die Welt zu betrachten, wäre es bestimmt ein überzeugender Elefant geworden — und sehr neugierig.« »Worauf wollen Sie hinaus?« erkundigte sich der Admiral. »Er benahm sich wie ein kleiner Bauernjunge, der zum erstenmal in die Stadt kommt. Northwood muß für dieses Wesen die erste Begegnung mit unserer Zivilisation gewesen sein. Und das bedeutet, daß sein Landeplatz — der logischerweise auch wieder sein Startplatz werden muß — gar nicht weit von Northwood entfernt sein kann, und zwar in unmittelbarer Nähe der Stelle, wo Kimmelman dieses Wesen als Anhalter mitgenommen hat.« Man diskutierte eine halbe Stunde. Dann wurde ein Unternehmen beschlossen, dessen gigantischer Apparat eben nur auf höchster Ebene ausgelöst werden kann. Kimmelman bezeichnete die Stelle auf der Landstraße, wo er das Wesen aus dem All aufgelesen hatte, und diese Stelle wurde das Zentrum des Einsatzgebietes. Im Umkreis von zehn Meilen fragte man jeden Menschen, ob er an dem Tag, als Kimmelman den unfreiwilligen Samariter spielte, etwas Verdächtiges beobachtet hatte. Dieses Massenverhör dauerte vier Tage. Das Ergebnis waren drei Personen, die irgend etwas gesehen haben wollten, das vom Himmel fiel oder sich in umgekehrter Richtung bewegte. Diese drei Personen führte man an die Stelle, von der aus sie die »fliegende Untertasse« gesehen hatten. Man ließ sie durch einen Theodoliten den Punkt am Horizont anvisieren, wo dieses merkwürdige Objekt auf- oder niedergegangen war. Sie wüßten das natürlich nicht so genau, entschuldigen sich die drei, aber sie taten ihr Bestes. 67
Aus den Schnittpunkten der drei Visierlinien ergab sich ein längliches Dreieck, das eine Fläche von einer Quadratmeile bedeckte. Man bestimmte den Mittelpunkt des Dreiecks und erklärte das Gebiet im Umkreis von zwei Meilen als Operationszone A. Dann rückte ein ganzes Heer von Polizisten, Pionieren und Spezialeinheiten an und durchkämmte dieses Gebiet mit Spaten, Minensuchgeräten, Horchgeräten, Geigerzählern und so weiter. Kurz vor Anbruch der Dunkelheit schlug der Zeiger eines Suchgerätes aus. Rider, Harrison und ein paar Generäle eilten an die Stelle, wo eine Gruppe von Polizisten und Pionieren vorsichtig Steine und Felsbrocken beiseite räumten. Dann lag das Fernsteuerungsgerät vor ihnen. Das Gerät war nicht größer als ein Autoradio. Zwölf Silberringe waren teleskopartig auf der Oberfläche ineinandergeschoben. Das mußte die Peilantenne sein. Eigenartig geformte Hebel deuteten auf Skalen, waren offensichtlich auf bestimmte Frequenzen eingestellt. Und eine Art Druckknopf in einer besonderen Farbe — offensichtlich eine Warnfarbe — löste anscheinend den Mechanismus aus. Die Experten wußten natürlich genau, was sie zu tun hatten. Sie fotografierten das Ding von allen Seiten, nahmen genau Maß, wogen und begutachteten es und versteckten es dann wieder so, wie sie es gefunden hatten. Scharfschützen mit Nachtgläsern und Spezialgewehren bezogen in getarnten Positionen Stellung. Während man die Fotografien des Fernsteuerungsgerätes entwickelte und die Meßdaten auswertete, wurden Horchgeräte zwischen der Straße und dem Versteck des Zauberkastens aus dem All in die Erde eingegraben. Eine Befehlszentrale richtete sich auf einem Bauernhof im Gebirge ein. Hinter Büschen, Felsen und Bäumen lauerten Scharfschützen, die 68
miteinander durch Funksprechgeräte Verbindung hielten. Für jeden gewöhnlichen Dieb hätte eine Straßensperre genügt. Doch für diesen Verwandlungskünstler aus dem All war das natürlich nicht ausreichend. Er hätte ja als Erzbischof von Canterbury oder Konsul aus Mexiko bestimmt freie Durchfahrt bekommen. Aber sobald ein Erzbischof es wagte, Hand an das Steuergerät zu legen... Zwei Tage später kam ein Lastwagen aus der Stadt, holte das Steuergerät ab, ersetzte es durch eine perfekte Nachbildung, die jedoch nicht in der Lage war, irgendwelche Raumschiffe aus dem Orbit abzurufen. Das Doppelgängerspiel beherrschten die Irdischen auch, wenn es sein mußte. Doch niemand spielte mit dem Druckknopf auf dem Steuergerät herum. Die Zeit dazu war noch nicht gekommen. Solange das Raumschiff dort oben um die Erde kreiste, wiegte sich der geheimnisvolle Besucher aus dem All in falscher Sicherheit. Früher oder später mußte er also in ihre Falle tappen. Die Erde hatte viel Zeit und Geduld. Die mußte sie auch aufbringen. Denn vier Monate lang näherte sich nichts Verdächtiges dem Versteck in den Bergen... Doch inzwischen wurde eine zweite Bank in Long Island beraubt. Die gleiche Technik: Kunde am Schalter, achttausend Dollar kassiert, Unterschrift (die unerklärlicherweise wieder verschwand), weg. Zur gleichen Zeit besuchte ein hoher Marineoffizier die Werftanlagen in Brooklyn und eine Theatervorführung in Greenwich Village. Ein Beamter besichtigte die technischen Einrichtungen eines Fernsehstudios im zweiundzwanzigsten Stockwerk eines Wolkenkratzers, während er gleichzeitig im zehnten Stockwerk des gleichen Gebäudes in das Mikrofon eines Diktiergerätes sprach. Der Fremdling aus dem All hatte inzwischen so viel gelernt, daß er sich 69
reichlich frech benahm. Er schnüffelte durch geheime Laboratorien, studierte Atomanlagen, Raketenabschußrampen, ließ sich als angeblicher Großabnehmer von Düsenflugzeugen die Planpausen zeigen und von zwei Direktoren im Werk herumführen. Es gab keine Tür, die ihm verschlossen blieb. Und doch ging auch für Harasha Vanash, den Unsichtbaren, nicht alles glatt. Selbst der Klügste macht mal einen Fehler. Vanash zahlte in einem Restaurant mit einem Hunderter, den er von einem dicken Bündel schälte. Man folgte ihm zu seinem Schlupfwinkel. Am nächsten Tag, als er seine Spionagetour fortsetzte, durchsuchten ein paar Experten sein Zimmer. Bei seiner Rückkehr mußte Vanash feststellen, daß die Beute seines letzten Bankraubes verschwunden war. Das war ärgerlich für ihn; denn er mußte seine Spionagetätigkeit ein paar Tage unterbrechen, um sich neues Geld von der Bank zu besorgen. Doch am 21. August war es soweit. Er hatte sich auf eines der hochzivilisiertesten Gebiete der Welt konzentriert und einen genauen Überblick gewonnen, was die Andromeder hier vorfinden würden. Mit diesem Material würden die Hypnos des kosmischen Reiches, das bereits zweihundert Planeten umfaßte, ohne Schwierigkeit den zweihundertundersten Planeten dazuerobern können. In der Nähe von Seegers Tankstelle stieg er aus dem Wagen und bedankte sich höflich bei dem Fahrer, der ihn bis hierher mitgenommen hatte. Dieser wunderte sich immer noch, weshalb er den Mann hierhergebracht hatte, der ihm doch gar nichts bedeutete. Kopfschüttelnd brauste er davon. Inzwischen betrachtete Vanash die Umgebung. Alles schien so, wie er es verlassen hatte. Für jeden, der sich im Bereich seines telepathischen Kraftfeldes befand, sah er aus wie ein etwas behäbiger 70
Geschäftsmann, der die Aussicht bewunderte. In der Hand trug er eine Aktentasche, die mit Skizzen und Notizen gefüllt war. Betrachtete man ihn aus größerer Entfernung, hatte er immerhin noch so viel Ähnlichkeit mit einem irdischen Zweibeiner, daß man kein zweites Mal mehr hinschaute. Doch die Polizisten und Soldaten, die hinter Büschen und Bäumen auf der Lauer lagen, betrachteten ihn aus einer Entfernung von anderthalb Meilen durch Ferngläser und Teleskope. Und durch die Okulare sahen sie, wie er wirklich aussah. Eben wie — ein Ding. Wie ein Etwas, das nicht von dieser Welt war. Sie hätten also ihn oder es auf der Stelle fangen können. Doch in Anbetracht der gewaltigen Vorbereitungen, die sie für seinen Empfang getroffen hatten, glaubten die Irdischen, sich Zeit lassen zu können. Langsam, aber desto sicherer. Dachten sie ... Vanash packte seine Aktentasche und eilte schnurstracks auf das Versteck seines Fernsteuerungsgerätes zu. Er brauchte jetzt nur noch den Druckknopf zu betätigen, sich nach Northwood zurückzubegeben, zu essen und zu schlafen und morgen wieder hierherzukommen. Das Raumschiff würde dem Leitstrahl folgen und hier landen — aber dafür brauchte es genau achtzehn Stunden und zwanzig Minuten. Vor dem Versteck schaute sich Vanash noch einmal vorsichtig um. Niemand zu sehen weit und breit. Den Himmlischen sei Dank — das Steuergerät lag noch an der alten Stelle. Er beugte sich vor und drückte auf den Knopf. Das Ergebnis war ein lautes Puff und eine Wolke von Betäubungsgas. Dieses Gas war eine Fehleinschätzung der irdischen Häscher. Sie rechneten damit, die Wirkung der Gaswolke würde den Fremdling aus dem All mindestens vierundzwanzig Stunden aufs Kreuz legen. Sie hatten nicht mit dem total verschiedenen Grundumsatz des Wesens vom anderen Stern gerechnet und auch 71
nicht mit seinem andersartigen Abwehrsystem. Das Ding hustete und rannte dann wie der Blitz davon. Fünfhundert Meter von ihm entfernt tauchten vier Männer hinter einem Felsen auf, rissen die Gewehre hoch und schrien: »Halt! Stehenbleiben!« Weitere zehn Beamte sprangen aus ihren Schützenlöchern und brüllten: »Stehenbleiben oder wir schießen!« Das Ding grinste nur und zeigte ihnen die Zunge, die es gar nicht hatte. Vanash konnte die Beamten natürlich nicht dazu zwingen, sich selbst umzubringen. Aber er konnte sie veranlassen, sich gegenseitig diesen Gefallen zu erweisen. Die vier warteten geduldig, bis er das Schußfeld passiert hatte und eröffneten dann das Feuer auf ihre zehn Kollegen. Diese hielten es genauso und ballerten auf die vier. Das Ding rannte wie der Blitz weiter. Er hätte sich auf einem Felsen räkeln und in Ruhe abwarten können, bis jeder jeden umgebracht hatte. Doch er wußte nicht, wie weit der Hinterhalt reichte. Es konnten immer noch Leute außerhalb seines hypnotischen Wirkungsbereiches lauern. Das Vernünftigste schien ihm, die Reichweite automatischer Waffen so schnell wie möglich zu verlassen, um auf der Straße einen Wagen anzuhalten, der ihn wieder in die irdische Zivilisation zurückbrachte, wo er im Meer der vielen Millionen Zweifüßler mit Leichtigkeit untertauchen konnte. Und seines Senders wieder habhaft zu werden, war auch kein unlösbares Problem — wenigstens nicht für ein Ding, das sich in den Präsidenten der Vereinigten Staaten verwandeln konnte. Vanashs Befürchtungen waren nur zu begründet. Denn rund eine Meile von ihm entfernt lag ein Beamter hinter einem Maschinengewehr, dem der Ausbruch eines Bürgerkrieges dicht vor seiner Nase eine unerträgliche Herausforderung schien. Und als das glitzernde Etwas, das auf diese Entfernung betrachtet eine Zumutung 72
war, sich durch die Reihe seiner Kollegen schlängelte, fluchte er laut, visierte durch sein Zielfernrohr und zog den Abzugshebel zurück. Trotz der großen Entfernung lag die Salve genau richtig. Sie traf Harasha Vanash im vollen Lauf. Er wurde zur Seite geschleudert, fiel nieder und erhob sich nicht mehr. Das Ding war tot. Als die Meldung von Harrison und Rider an den Generalstab und das Weiße Haus weitergegeben worden war, begab sich eine Gruppe von Experten mit dem Fernsteuerungsgerät auf einen Feldflugplatz, stellten die Trickkiste auf die Rollbahn, drückten auf den Knopf und warteten. Die Horden der Hypnos hatten eine lange, lange Geschichte. Deswegen hatten sie auch jenen hohen Stand der Technik erreicht, der sie zu Recht an die Spitze des Kosmos setzte. Geistesblitze und Funken der Eingebung hatten sich im Laufe zahlloser Jahrhunderte eingestellt und angesammelt, bis das gewaltige Potential des angehäuften Genies ihnen den Schlüssel zum Weltall verlieh. Wie viele alte Leute hatten sie für die jungen Stürmer und Dränger nur Verachtung übrig. Oder zumindest erhebliche Vorbehalte. Doch ihre Verachtung hätte sich zu Entsetzen gesteigert, hätten sie beobachten können, mit welcher methodischen Sturheit eine Horde von Spezialisten sich über ihre Raumstation hermachte. Oder mit welchen Methoden die Irdischen die Pläne für eine riesige Armada ähnlicher Raumschiffe entwarfen. Ähnliche Raumschiffe, nur viel größer. Und mit einer Menge Verbesserungen... Originaltitel: LEGWORK
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REAKTION Dr. Blains Sprechstundenhilfe und Faktotum hatte heute Ausgang, somit war er gezwungen, den automatischen Türöffner selbst zu bedienen, um den späten Patienten einzulassen. Ehe er diesen jedoch aus dem Wartezimmer holte, stellte er einige Geräte und Gegenstände wieder an Ort und Stelle, eine Tätigkeit, die ansonsten seinem Gehilfen oblag. Dann, nachdem er seinen weißen Mantel ein wenig zurechtgezogen hatte, ging er hinüber zur Tür und öffnete sie. Der Patient lag mehr als er saß in einem der bequemen Sessel. Dr. Blain stutzte einen Moment, als er die leichenblasse Gesichtsfarbe des Besuchers erblickte, in die hervorquellenden Fischaugen sah und auf die weißen, blutleeren Hände starrte. Die Kleidung hing dem Fremden gleich einem Sack schlotternd um den Körper. Blain schätzte den Besucher gleich als einen sehr ernsten Fall ein, oder aber als einen Versicherungsvertreter. Er hatte nicht die Absicht, eine Versicherung abzuschließen. Der Mann machte einen unheimlichen Eindruck und flößte ihm unsagbares Grauen ein. »Sie sind Dr. Blain«, stellte der Besucher fest. Die Stimme hatte einen seltsamen Tonfall, sie war unsicher und nicht normal. Blain erschrak, ohne zu wissen warum. Ohne eine Antwort abzuwarten und die starren Augen auf Blain gerichtet, fuhr der Fremde fort: »Wir haben eine leichenblasse Gesichtsfarbe, besitzen hervorquellende Fischaugen, und unsere Hände sind blutleer.« Dr. Blain sank fassungslos in den nächsten Sessel. Seine Finger umkrallten die Lehne, bis die Knöchel weiß hervortraten. Sein Besucher sprach mit der seltsam gurgelnden Stimme weiter: »Die Kleidung hängt uns wie ein Sack schlotternd um den Körper. 74
Wir sind entweder ein sehr ernster Fall oder aber ein Versicherungsvertreter, dessen Angebot Sie abzulehnen gedenken. Wir machen einen unheimlichen Eindruck auf Sie und flößen Ihnen ein unsagbares Grauen ein.« Der Fremde rollte mit den bisher so todesstarren Augen und sah Blain, der wie vom Donnerschlag gerührt im Sessel lag, kalt an. Dann fuhr er fort: »Das plötzliche Rollen unserer todesstarren Augen hat Sie so erschreckt, daß Sie wie vom Donnerschlag gerührt sind.« Blain riß seine ganze Willenskraft zusammen und lehnte sich vor. Er zitterte am ganzen Körper und fühlte, daß die Haare in seinem Nacken zu Berge standen. Ehe er jedoch seinen Mund auch nur öffnen konnte, sagte sein Gegenüber die Worte, die er zu sagen beabsichtigt hatte: »Herr im Himmel! Sie lesen meine Gedanken!« Während die kalten Totenaugen Blain ansahen, sprang dieser entsetzt auf die Füße. Doch der Fremde befahl: »Bleiben Sie sitzen!« Blain blieb stehen. Kalter Schweiß brach aus seinen Poren, lief in perlenden Tropfen die Stirn hinab und rollte in die Falten seines plötzlich sehr müden Gesichtes. Dringlicher und warnender gurgelte der andere: »Setzen Sie sich!« Blain fühlte die Schwäche in seinen Knien und sank wieder in den Sessel zurück. Sein Blick löste sich von den starren Pupillen des anderen. Er stammelte: »Wer sind Sie?« 75
»Das!« sagte der Besucher und schob ihm eine Zeitungsnotiz hin, die augenscheinlich aus dem Abendblatt herausgerissen worden war. Blain warf einen schnellen Blick darauf, stutzte, las dann aufmerksamer. Er hob den Kopf und protestierte: »Diese Meldung besagt, daß aus der städtischen Leichenhalle unter merkwürdigen Umständen eine Leiche verschwunden ist!« »Stimmt!« »Was soll denn das?« Blains Gesicht zeigte nichts als Verwunderung, die sogar seine namenlose Furcht zu verdrängen schien. »Dies«, sagte der andere und zeigte mit einem seiner weißen Finger auf sich selbst, »ist diese Leiche.« »Was?« Zum zweitenmal sprang Blain aus dem Sessel hoch. Achtlos flatterte der Zeitungsausschnitt zu Boden. Fassungslos sah er auf den Fremden hinab und suchte vergeblich nach Worten. »Dies ist die Leiche!« wiederholte der Unbekannte, und seine Stimme klang, als käme sie blubbernd durch dickes Öl. Er zeigte auf den Zeitungsausschnitt am Boden. »Sie haben vergessen, sich das Foto anzusehen. Betrachten Sie es genau. Und dann vergleichen Sie es mit dem Gesicht, welches wir haben.« »Wir?« wiederholte Blain und hatte das Gefühl, als bestehe sein Gehirn aus einer durcheinanderwirbelnden Masse. »Ja, wir! Es sind viele von uns! Wir haben uns in den Besitz dieses Körpers gesetzt. Setzen Sie sich!« »Aber...« »Sie sollen sich setzen!« Das Wesen ließ die Hand in die Tasche des zu großen Anzuges 76
gleiten. Als es sie wieder herauszog, lag in ihr eine schwere Pistole. Der Lauf zeigte auf Blain. Dem schien es, als blicke er in ein großes, dunkles Loch. Langsam setzte er sich, hob dabei den Zeitungsausschnitt vom Boden auf und starrte auf das Bild. Die Unterschrift lautete: Der verstorbene James Winstanley Clegg, dessen Leiche unter geheimnisvollen Umständen verschwand. Blain sah auf den Fremden, dann auf das Bild, und schließlich wieder auf den Fremden. Es gab keinen Zweifel mehr: Sein Besucher und die verschwundene Leiche waren identisch. Das Blut begann in Blains Adern zu hämmern. Die Mündung der Pistole sank ein wenig, schwankte leicht hin und her, kam dann aber wieder hoch. »Um Ihre Fragen gleich zu beantworten, die Sie zu stellen beabsichtigen«, sagte der verstorbene James Winstanley Clegg mit seiner blubbernden Stimme, »folgendes: Sie sehen hier keinen Fall von Wiedererweckung eines Toten. Dieser Gedanke ist zwar logisch, würde aber nicht das Gedankenlesen erklären.« »Was ist es denn sonst?« fragte Blain schwach. »Eine Besitzergreifung, mehr nicht! Wir haben von diesem Körper Besitz ergriffen. Im übrigen scheint es so, daß dieser Mensch, in dem wir jetzt wohnen, zu Lebzeiten einen gewissen Sinn für Humor besessen hat.« »Aber das ist doch ...« »Ruhe!« Die Mündung der Pistole zeigte auf seine Brust. »Wir reden, Sie haben nur zuzuhören. Ihre Gedanken werden von uns verstanden.« Blain lehnte sich zurück in den Sessel und sah hinüber zur Tür. »Gut«, sagte er und war allmählich davon überzeugt, es mit einem 77
Irren zu tun zu haben. Es konnte gar nichts anderes sein, selbst trotz des Gedankenlesens und der Ähnlichkeit zwischen Zeitungsfoto und Besucher. »Vor zwei Tagen«, begann Clegg oder was einst Clegg gewesen war, »ging außerhalb dieser Stadt ein Meteor nieder.« »Ich habe davon gelesen«, gab Blain zu. »Aber obwohl man ihn suchte, konnte man keine Einschlagstelle finden.« »Man wird sie nie finden, denn es war kein Meteor, sondern das, was Sie als Raumschiff bezeichnen würden.« Die blasse Hand sank ein wenig herab, und auf den Knien blieb sie liegen, die Waffe fest umklammernd. »Es war das Raumschiff, welches uns von unserer Heimatwelt Glantok hierher gebracht hatte. Von irdischem Standpunkt aus gesehen war es nur ein kleines Schiff, aber auch wir sind sehr klein. Gewissermaßen mikroskopisch klein — aber zu Milliarden kamen wir. Nein, keine intelligenten Bakterien!« beantwortete er die gedachte Frage Dr. Blains. »Wir sind noch weniger als das.« Er machte eine Pause, als suche er nach einer rechten Erklärung. »Im Ganzen gesehen ähneln wir vielleicht einer Flüssigkeit. Betrachten Sie uns ruhig als intelligente Viren, das käme der Wahrheit ein wenig nahe.« »Oh!« machte Blain und überlegte, wie viele Schritte es bis zur Tür waren. Er würde sie erreichen müssen, ohne seine Absicht gedanklich verraten zu müssen. »Wir Glantokaner sind Parasiten, denn wir vermögen nur in den Körpern der niederen Lebewesen zu wohnen. Wir kamen zu Ihrer Welt in dem Körper eines kleinen Tieres unserer Welt.« Er hustete mit einem rauhen und blubbernden Geräusch. Dann fuhr er fort: »Als wir landeten und das Schiff verließen, jagte ein Hund unser Tier und fing es auch. Wir fingen den Hund. Das Tier starb, als wir 78
es verließen. Der Hund war für unsere Zwecke nicht geeignet, aber er brachte uns in die Stadt und ließ uns diesen menschlichen Körper finden. Wir siedelten in ihn über. Als wir den Hund verließen, starb er.« Draußen im Vorgarten ging das Türchen; schnelle, leichte Schritte wurden hörbar. Sie näherten sich der Haustür. Blain saß da und wartete. Seine Augen hatten sich weit geöffnet. »Wir übernahmen also diesen toten Körper, verflüssigten das geronnene Blut, beseitigten die Totenstarre und aktivierten die erhärteten Muskeln. Das Gehirn dieses Menschen besaß eine beachtlich hohe Intelligenzquote. Selbst jetzt sind wir noch in der Lage, einzelne Erinnerungen wahrzunehmen. Die Kenntnisse des toten Hirns kamen uns sehr zunutze, denn sonst könnten wir jetzt nicht mit Ihnen sprechen. So aber lernten wir schnell, mit Ihren Gedanken zu denken.« Die näherkommenden Schritte waren nicht mehr weit entfernt. Blain zog seine Füße ein wenig zurück, stützte sich auf sie. Seine Hände legten sich um die Sessellehnen, und er strengte sich an, nicht an das zu denken, was er tat. Sein Gegenüber schien nichts zu bemerken. Es starrte Blain mit seinem Leichengesicht nur an und fuhr in seiner Rede fort: »Unter unserer Kontrolle stahl dieser Körper Kleidung und eine Waffe. Wir erfuhren, wie man sie benutzt. Auch erzählte uns das tote Gehirn von Ihnen.« »Von mir?« Blain sah den ehemaligen Clegg verwundert an. Er schätzte die Entfernung ab und wußte, daß er kaum schnell genug sein würde, um dem eventuellen Schuß auszuweichen. Draußen hatten die Schritte die Treppe erreicht. 79
»Vorsichtig!« warnte die blubbernde Stimme des Dings, das behauptete, eine Leiche zu sein. Die Waffe hob sich. »Ihre Gedanken sind anders als Ihre Worte.« Blain lauschte. Die Schritte machten vor der Flurtür Halt. »Eine Leiche ist nur Notbehelf«, fuhr der Fremde fort. »Was wir benötigen, ist ein lebender Körper. Und zwar ein gesunder lebender Körper. Wenn wir uns vermehren, benötigen wir weitere Körper. Unglücklicherweise steht doch die Empfindlichkeit des menschlichen Nervensystems in direktem proportionalen Gegensatz zur Intelligenz des Betreffenden. Daher können wir nicht garantieren, ob ein intelligenter Mensch, den wir besitzen, normal bleibt. Wahrscheinlich jedoch ist, daß er wahnsinnig wird. Und ein solches Gehirn ist für uns noch nutzloser als ein totes.« Die Schritte draußen klangen wieder auf, nachdem sich die Flurtür geöffnet und wieder geschlossen hatte. Sie kamen näher und hielten vor der Tür zum Wartezimmer. »Daher ist es notwendig«, sprach Blains Gegenüber weiter, »daß wir von dem Körper während einer Bewußtlosigkeit Besitz ergreifen und vollkommene Kontrolle darüber haben, wenn er wieder erwacht. Wir benötigen also die Hilfe einer Intelligenz, die willig ist, genau nach unseren Wünschen zu handeln. Sie muß die Menschen bewußtlos machen, ohne daß etwas auffällt. Mit anderen Worten: Wir benötigen die Hilfe eines Arztes!« Die todesstarren Augen quollen hervor. »Da es selbst nicht in unserer Macht liegt, diesen Körper, in dem wir uns jetzt befinden, länger zu beleben, benötigen wir schnellstens einen neuen Körper, einen frischen, lebenden und gesunden Körper.« Die Tür zum Wartezimmer öffnete sich. In diesem Augenblick lehnte sich der tote Clegg vor und zeigte 80
mit dem linken Zeigefinger auf Blain, während die Pistole unverändert ihre Stellung beibehielt. »Sie werden uns dabei helfen!« sagte er. Dann wies der gleiche Finger zur Tür. »Und dieser Körper wird fürs erste genügen.« Das Mädchen stand auf der Schwelle. Es war eine blonde, hübsche Person, etwas zu mollig vielleicht. Ihre schreckhaft geöffneten Augen waren auf die blutleere Maske hinter dem ausgestreckten Finger gerichtet. Für einen Augenblick herrschte vollkommenes Schweigen. Der Fremde hatte sich erhoben und ging einige schwankende und unsichere Schritte auf das Mädchen zu, das ihm entsetzt entgegenstarrte. Dann schrie sie auf, gellend und furchtbar. Der lebende Leichnam streckte die Hände nach ihr aus — und das war zuviel für sie. Mit geschlossenen Augen sackte sie zusammen. Noch ehe sie den Boden berührte, war Blain bei ihr. Ein gewaltiger Satz brachte ihn an Clegg vorbei. Nur so konnte er verhindern, daß sie hart aufschlug. Er fing sie in seinen Armen auf, legte sie dann auf den Teppich. »Sie wurde ohnmächtig«, sagte er ärgerlich. »Vielleicht ist sie krank und benötigt Hilfe. Vielleicht...« »Genug!« Die blubbernde Stimme war kurz und hart, trotz der Unsicherheit in ihr. Der Lauf der Automatik zeigte auf Blains Kopf. »Der Zustand der Ohnmacht ist ein vorübergehender, wie wir aus Ihren Gedanken erfahren können. Vertiefen Sie die Ohnmacht durch ein Betäubungsmittel, damit wir von dem jungen Körper Besitz ergreifen können. Er wird uns gute Dienste leisten.« 81
Blain kniete neben dem Mädchen und sah zu dem Fremden auf. »Der Teufel soll dich holen, du Scheusal!« sagte er. »Warum sagen Sie das, wir verstehen Sie auch so!« sagte die Leiche mit einem teuflischen Grinsen. »Wenn Sie nicht das tun, was wir befehlen, dann tun wir es eben selbst. Eine Kugel durch Ihr Herz, und wir übernehmen Ihren Körper. Die Wunde wird geheilt, und Sie gehören uns. Aber wir wollen Sie lebend, hören Sie?« Da nun Blain seine augenblickliche Hilflosigkeit einsah, schickte er ein Stoßgebet zum Himmel und ärgerte sich sofort über das hämische Grinsen im Gesicht des Fremden. Er hob das Mädchen auf und trug es hinüber in das Behandlungszimmer, wo er es in einen Sessel legte. Das Wesen, welches den Körper von Clegg beherrschte, stolperte hinter ihm her. Der Arzt begann, die bleichen Wangen des Mädchens zu reiben. Röte überzog das Gesicht, die Augenlider zuckten. Blain trat hinüber zum Schrank, seine Hände griffen nach einem Glasbehälter, auf dem SAL VOLATILE stand. Im gleichen Augenblick stieß etwas Hartes gegen seinen Rücken. Es war der Lauf der Automatik. »Sie vergessen immer wieder, daß ihre Gedanken für uns ein offenes Buch sind! Sie versuchen Zeit zu gewinnen und das Mädchen zu beleben.« Die gräßliche Stimme wirkte lähmend auf seine Muskeln. »Legen Sie den Körper auf den Tisch dort und narkotisieren Sie ihn.« Unwillig löste Blain seine Finger von dem Glasbehälter. Er schritt zurück zum Sessel, hob das Mädchen heraus und legte sie wie befohlen auf den Tisch. Dann schaltete er die grelle Lampe ein. »Löschen Sie das Licht! Eine Lampe genügt!« Blain schaltete die Lampe wieder aus. Er drehte sich langsam um und sah in die Mündung der Waffe. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. 82
»Hören Sie zu, ich mache Ihnen einen Vorschlag!« »Unsinn!« Der verstorbene Clegg kam mit langsamen Schritten auf ihn zu. »Sie wollen Zeit gewinnen; Ihre Gedanken verraten das nur zu deutlich.« Er machte eine Pause und sah zum Mädchen hin, das sich bewegte und unverständliche Worte zu murmeln begann. »Schnell, die Narkose!« Bevor einer von ihnen es verhindern konnte, richtete sich das Mädchen auf — und schaute direkt in das gräßlich verzerrte Gesicht eines Wahnsinnigen. Sie stieß einen Schrei aus, ehe sie sagte: »Laßt mich hier heraus! Bitte, laßt mich 'raus!« Eine blasse Hand streckte sich aus, und ehe sie in Berührung mit ihr kam, sank sie auf den Tisch zurück. Blain glaubte, aus dieser Situation einen Vorteil ziehen zu können. Seine Hände tasteten hinter seinem Körper über die Wand und fanden metallischen Widerstand. Der kleine Klopfhammer! Noch während er die provisorische Waffe ergreifen wollte, drehte sich der Tote um und richtete die Pistole auf ihn. »Sie vergessen sich!« sagte er blubbernd. »Telepathie kennt keine Grenzen! Wir sehen auch dann, wenn die Augen in die andere Richtung blicken. Binden Sie das Mädchen!« Gehorsam fand Blain Stricke und band das Mädchen am Tisch fest. Seine grauen Haare waren genauso feucht wie das Gesicht. Er verknotete die Stricke und blickte in die angstvoll aufgerissenen Augen des Mädchens. »Nur Mut!« flüsterte er und warf einen bezeichnenden Blick auf die an der Wand hängende Uhr. »Haben Sie keine Furcht!« »Aha, Sie erwarten Hilfe!« sagten die intelligenten Viren durch 83
den Mund des Toten. »Ihren Assistenten Rod Mercer. Er sollte eigentlich schon hier sein? Wir wundern uns darüber, daß Sie von ihm Hilfe erwarten, obwohl Sie doch nicht viel von seiner Intelligenz halten. Ihrer Meinung nach ist er ein Ochse, mehr nicht.« »Sie Teufel!« sagte Blain. »Lassen Sie diesen Mercer nur kommen — wir werden uns über ihn freuen. Ein lebender Dummkopf ist nützlicher als ein toter Intellektueller. — So, und nun betäuben Sie endlich das Mädchen, wir haben lange genug gewartet.« »Ich habe keinen Äther«, stellte Blain plötzlich fest. »Sie haben schon etwas da, was unserem Zweck genügt. Und nun beeilen Sie sich, sonst übernehmen wir Ihren Körper — auf Kosten Ihres Verstandes allerdings.« Blain ging erneut zum Schrank und hob die Hand. Während er angestrengt dachte: »Äther! Äther! Äther!« griff seine Hand zu einer Flasche, auf der »Schwefelsäure« stand. Es war furchtbar anstrengend, nur an Äther zu denken, dabei jedoch die Schwefelsäure zu ergreifen. Seine Hand erreichte die Flasche und entfernte den Glaspfropfen. Als er sich umdrehte, blickte er in die Pistolenmündung. »Äther!« höhnte die Stimme von Clegg. »Ihre Gedanken rufen ständig dieses eine Wort, aber im Unterbewußtsein denken Sie an Säure. Glauben Sie, uns irreführen zu können? Glauben Sie etwas zerstören zu können, was schon tot ist? Sie Narr! Los, holen Sie nun den Äther!« Die Pistole machte eine warnende Bewegung. Blain gab keine Antwort. Er stellte die Flasche wieder an ihren Platz, ging zu einem anderen Schränkchen und nahm die Flasche mit 84
Äther heraus. Während er den Schrank verschloß, stellte er die Flasche auf die Heizung. Aber schon sagte Clegg: »Nehmen Sie die Flasche von der Heizung! Sie hoffen, daß die Hitze den Äther verdampfen läßt und so die Glaswandung der Flasche sprengt.« Blain nahm die Flasche und ging langsam zum Tisch. Das Mädchen sah ihm entgegen, mit schreckverzerrten Zügen. Er blickte zur Uhr. Doch der Unheimliche hatte den Gedanken schon erraten. »Er ist bereits da!« sagte er blubbernd. »Wer ist da?« begriff Blain nicht so schnell. »Rod Mercer, Ihr Assistent. Er ist draußen auf dem Flur. Seine Gedanken zeugen von einer außerordentlichen Dummheit. Sie hatten wirklich recht mit Ihrer diesbezüglichen Diagnose.« Eine Tür schlug zu. Das Mädchen richtete sich auf, schien neuen Mut zu schöpfen. »Schieben Sie ihr etwas zwischen die Zähne. Sie werden ihren Körper durch den Mund betreten.« Im Wartezimmer wurden Schritte laut. »Und holen Sie den Idioten herein. Wir brauchen ihn ebenfalls.« Blain fühlte die Adern an seiner Schläfe anschwellen, als er rief: »Rod! Kommen Sie hierher.« Er fand einen Zahnknebel, während die Erregung durch seinen Körper raste. Wenn Rod sich nur richtig stellen würde, damit Clegg zwischen ihnen war. Eine Pistole kann niemals gleichzeitig nach zwei Richtungen zugleich schießen. Oder wenn ... »Denken Sie nicht an solche Dinge«, warnte die blubbernde Stimme. »Sonst machen wir es kurz und übernehmen euch beide.« 85
Rod Mercer kam in das Zimmer. Er war ein korpulenter, massiger Mann mit einem Mondgesicht, auf dem zweitägige Bartstoppeln sprossen. Er blieb stehen, als er das Mädchen auf dem Tisch liegen sah. Sein fragender Blick ging zu Blain. »Teufel, Doc«, sagte er verwundert. »Ich hatte eine Reifenpanne, daher verspätete ich mich ein wenig.« »Das macht nichts«, kam eine spöttische Stimme blubbernd von der Seite. »Sie haben noch Zeit genug.« Rod drehte sich langsam um und bewegte dabei seine Füße, als seien sie einige Zentner schwer. Er starrte das Ding an, das einst Clegg gewesen war, und sagte: »Verzeihung, Mister. Ich hatte Sie nicht gesehen.« Seine großen Kuhaugen wanderten desinteressiert über den Körper des Fremden, über die auf ihn gerichtete Automatik und schließlich hinüber zu Blain. Dann öffnete er den Mund, als wolle er etwas sagen, aber statt dessen erschien auf seinem Gesicht ein Ausdruck leichter Verwunderung. Seine Augen kehrten zu Clegg zurück. Und betrachteten die Pistole. Er schien sie erst jetzt zu sehen. Und in der gleichen Sekunde handelte er. Seine Faust kam hoch, traf das schwammige Gesicht des Toten mit einem furchtbaren Schlag, der diesen taumeln und stürzen ließ. »Schnell!« rief Blain und stürzte vor. »Die Pistole!« Er schob den Tisch zur Seite, der samt Mädchen umkippte und zu Boden fiel. Die Pistole lag noch in der Leichenhand Cleggs. Rod Mercer stand unbeweglich da. Seine Augen sahen etwas erstaunt drein und suchten die von Blain. Der Arzt trat mit dem Fuß in die Richtung des Handgelenks. Aber Clegg zog dies schnell beiseite und feuerte. Der Schuß krachte, und das Projektil zischte an Blain vorbei in die Wand. 86
Er trat ein zweites Mal zu, abermals daneben. Diesmal ging die Kugel in den Schrank. Zerbrechendes Glas gab Aufschluß über das Ziel, das sie gefunden hatte. Das Mädchen schrie gellend auf. Dieser Schrei war es, der Mercer endlich begreifen ließ. Er stampfte seinen schweren Fuß auf den Boden und zerquetschte das Handgelenk des unheimlichen Gegners. Dann bückte er sich, nahm die Pistole aus den eiskalten Fingern. Er richtete sie auf den Kopf des sich unruhig Bewegenden. »So kannst du es nicht töten!« rief Blain und stieß Mercer beiseite. »Los, schaffe das Mädchen hinaus, schnell. Schnell!« Blains drängende Stimme genügte, Mercer aus seiner Lethargie erwachen zu lassen. Er reichte dem Arzt die Waffe, lief zum Tisch hinüber und löste die Stricke. Dann trug er das weinende Mädchen aus dem Raum. Auf dem Boden wand sich die lebende Leiche und versuchte, wieder auf die Füße zu kommen. Die Augenhöhlen waren leer, aber dafür quoll aus ihnen jetzt eine grünliche, dickflüssige Masse. Der Mund hatte sich geöffnet, und das gleiche widerliche Schauspiel wiederholte sich auch hier. Die Bewohner von Glan-tok verließen den menschlichen Gastkörper. Der Körper setzte sich aufrecht hin, mit dem Rücken an die Wand gelehnt. Die Glieder zuckten in einem gräßlichen Krampf. Immer mehr von dem grünen Schleim verließ den Körper, wand sich in Schlangen über den Boden des Raumes. Blain erreichte mit einem einzigen Satz die Tür, wobei er blitzschnell die Ätherflasche ergriff, die den Fall heil überstanden hatte. Er warf sie mit aller Wucht hinein in die Pest, daß sie zerbarst. Gleichzeitig ließ er das Feuerzeug aufflammen, warf es hinterher. Ein greller Blitz zuckte auf, hüllte das Zimmer in glosendes Feuer. Die Hitze trieb ihn und die anderen aus dem Haus. 87
Das Mädchen hing an Blain, der den Arm um sie gelegt hatte. Sie sahen hinüber zu dem brennenden Haus. »Ich wollte Sie holen«, sagte sie mit immer noch zitternder Stimme. »Mein kleiner Bruder hat die Masern.« , »Ich werde nach ihm sehen«, versprach Blain. Eine Limousine kam die Straße herauf, hielt mit kreischenden Bremsen direkt vor der Gruppe. Ein Polizist steckte den Kopf aus dem Fenster. »Himmel, was für ein Feuer! Wir haben die Feuerwehr benachrichtigt!« »Die wird, fürchte ich, zu spät kommen«, sagte Blain ruhig. »Sind Sie versichert,« erkundigte sich der Polizist mitfühlend. »Ja.« »Keiner mehr im Haus ?« Blain schüttelte den Kopf, worauf der Polizeiwagen anfuhr. Doch der Mann am Steuer sagte noch: »Wir müssen weiter. Irgendwo hier in der Gegend befindet sich ein Irrer. Er ist aus der Anstalt entsprungen.« »He!« brüllte Blain und lief dem Wagen nach. »Warten Sie!« Er erreichte den haltenden Wagen. »Hieß der Verrückte etwa James Winstanley Clegg?« »Clegg?« fragte der Polizist verwundert. »Das ist doch die Leiche, die aus dem Leichenhaus verschwand, als der Wächter ihr für einen Augenblick den Rücken kehrte. Komische Sache das. Sie fanden an der Stelle, an der die Leiche hätte liegen müssen, einen toten Hund. Die Reporter meinen zwar, es sei ein Werwolf, aber für mich bleibt und ist es ein ganz normaler Hund.« 88
»Jedenfalls suchen wir einen Wilson, und keinen Clegg«, unterbrach ihn der andere Polizist, den Blain nicht gesehen hatte. »Hier, sehen Sie sich das Bild an. Vielleicht kennen Sie ihn.« Er hielt eine Fotografie aus dem Fenster, und Blain warf im Schein der Laterne einen kurzen Blick darauf. Es hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit seinem Besucher. »Ich werde mir das Gesicht merken«, versprach Blain. »Wissen Sie etwas Neues über diesen Fall Clegg?« fragte der Fahrer. »Ich weiß nur, daß er tot ist!« sagte Blain wahrheitsgemäß; der Polizeiwagen fuhr davon. Dann sah er hinüber zu den lodernden Flammen, die sein Haus einäscherten. Er wandte sich schließlich an Mercer. »Eins verstehe ich nicht: Wie konntest du das Ding niederschlagen, ehe es deine Gedanken erriet und dich niederschoß?« »Ich sah die Pistole und schlug zu.« Mercer schien sich entschuldigen zu wollen. »Ich schlug einfach zu, ohne mir etwas dabei zu denken.« »Ohne dir etwas dabei zu denken!« wiederholte Blain und erkannte des Rätsels Lösung. »Ohne zu denken!« Nach einem hellen Aufflackern sank das Dach in das Flammenmeer hinab. Blain stand da, nagte an seiner Unterlippe. Nicht mit seinen Ohren, aber mit seinem Verstand vernahm er ein unirdisches Gewimmer, das schwächer und schwächer wurde, bis es schließlich erstarb. Und dann hörte er nur noch das Prasseln der Flammen. Originaltitel: IMPULSE 89
RATTENNEST Es heißt das Schicksal herausfordern, wenn man sich leichtsinnig mit dem Unbekannten einläßt. Und gerade das tat Burman. Heutigentags gibt es eine ganze Menge Leute, die einen tiefsitzenden Haß gegen alles haben, was klickt, tickt, sirrende Laute von sich gibt oder sich einfach ganz allgemein wie ein asthmatischer Wecker verhält. Sie sind an Mechanophobie erkrankt, und die Schuld daran trägt Dan Burman. Wer hätte nicht schon von der Burmanschen Bullfrogbatterie gehört? Er ersann sie vom ersten bis zum allerletzten Detail und krönte das Ganze mit seinem heute weltberühmt gewordenen Schlagwort: »Energie in Ihrer Tasche.« Es war zweifellos eine gewaltige Leistung, ein Ding in der Größe einer Zigarettenpackung zu ersinnen, das die hundertfache Leistung der bislang bekannten wirksamsten Geräte dieser Art abgab. Burman selbst unterschied sich von der ganzen übrigen Welt dadurch, daß er seine Erfindung als keineswegs aus dem Rahmen des gewöhnlichen fallend betrachtete. Burman blickte mich zunächst sehr eingehend an, ehe er sagte: »Damals vor zwölf Jahren, als jene Fachzeitschrift Sie zu mir schickte, zeigten Sie sich meinen Ausführungen gegenüber sehr aufgeschlossen und interessiert. Sie behandelten mich nicht etwa als eitlen Träumer oder von Geburt an Verrückten, sondern schrieben einen guten Artikel über mich, der den Grundstein für die Berühmtheit legte, die mir schließlich beträchtliche Summen einbrachte.« »Es geschah nicht etwa deshalb, weil ich Sie besonders geliebt hätte«, versicherte ich ihm, »sondern einzig und allein deshalb, weil ich ehrlich überzeugt war, daß Ihre Batterie etwas taugte.« »Vielleicht.« Er sah mich mit einem forschenden Blick an, der 90
verriet, daß er etwas auf dem Herzen hatte, das er gern losgeworden wäre. »Wir sind seit jener Zeit in ziemlich guten Beziehungen zueinander gestanden. Wir haben gemeinsam so manche müßige Stunde ausgefüllt, und ich habe das Gefühl, daß Sie derjenige unter meinen nur wenigen Freunden sind, dem ich ein scheinbar albern klingendes Geständnis machen kann.« »Legen Sie los«, ermunterte ich ihn. Wir standen tatsächlich auf gutem Fuß miteinander. Es lag einfach daran, daß wir uns mochten und einander sympathisch fanden. Burman war ein kluger Bursche, hatte aber nicht das geringste von der Pedanterie eines Professors an sich. In den Vierzigern stehend, normal und von angenehmem Äußeren, hätte man ihn dem Aussehen nach sehr wohl für einen allgemein beliebten Zahnarzt halten können. »Bill«, sagte er sehr ernst, »ich habe jene Batterie gar nicht erfunden.« »Nein?« »Nein!« bestätigte er. »Ich habe die Idee geklaut. Und um das Ganze noch ausfallender zu machen, ich wußte nicht einmal sicher, was ich eigentlich stahl, ja noch verrückter, ich weiß überhaupt nicht, wem ich es gestohlen habe.« »Womit nun völlige Klarheit geschaffen wäre«, bemerkte ich. »Aber das ist noch gar nichts. Nach zwölf Jahren sorgfältigster und genauester Arbeit habe ich etwas anderes gebaut. Es muß wohl das komplizierteste Ding der Schöpfung sein.« Er schlug mit der Faust auf sein Knie, und seine Stimme hob sich und nahm einen kläglichen Ton an. »Und jetzt, da ich es fertiggestellt habe, weiß ich nicht, was ich eigentlich gemacht habe.« »Sicherlich weiß doch ein Erfinder, wenn er experimentiert, was er tut?« 91
»Nicht ich!« Burman war von einer erheiternden Kläglichkeit. »Ich habe nur eine einzige Sache in meinem Leben erfunden, und das war mehr auf den Zufall, als auf meinen gesunden Verstand zurückzuführen.« Ruckartig hob er den Kopf. »Aber jene eine Sache war der Schlüssel zu einer Million Ideen. Dadurch kam ich auch zur Batterie. Beinahe hätte es mir Dinge von noch größerem Wert gegeben. Bei mehreren Gelegenheiten war das fast der Fall, jedoch nicht ganz. Es wären dadurch in meine ungeeigneten Hände und meinen, nur halb die Bedeutung erfassenden Verstand Pläne gegeben worden, die die Welt weit mehr verändern würden, als Sie es sich überhaupt vorstellen können.« Sich vorneigend, um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen, sagte er: »Jetzt hat mir jenes Ding ein Geheimnis in die Hand gegeben, das mich zwölf Jahre harte Arbeit und eine ziemlich hohe Summe Geldes gekostet hat. Vergangene Nacht habe ich es fertiggestellt. Ich weiß nicht, was zum Teufel es eigentlich ist.« »Wenn ich es mir vielleicht einmal ansehen könnte...« »Gerade das wäre mir sehr lieb.« Seine Stimmung schlug rasch in wachsende Begeisterung um. »Es ist eine wunderbare Arbeit, selbst wenn ich das sage. Ich wette, Sie werden nicht sagen können, was es ist oder für welchen Zweck es gedacht ist.« »Vorausgesetzt, daß es überhaupt etwas tun kann«, warf ich ein. »Allerdings«, stimmte er zu. »Aber ich bin fest davon überzeugt, daß es irgendeine Funktion hat.« Er erhob sich und öffnete eine Tür. »Kommen Sie bitte mit.« Es war tatsächlich eine erstaunliche Sache. Das Ding, von dem Burman gesprochen hatte, war ein Metallbehälter mit glänzender, rhodiumverkleideter Oberfläche. Der allgemeinen Größe und Form nach hatte es eine schwache Ähnlichkeit mit einem umgekehrten Sarg und hatte auch dessen düsteres und unheilvolles Aussehen, das zu verkünden scheint, daß sein Eigentümer den Geist aufgegeben hat. 92
An seiner Vorderseite waren ein paar kleine Glasscheiben, durch die man eine Vielzahl von Rädern sah, die außergewöhnlich präzis gefertigt waren. Von anderen Stellen starrten einen winzige Linsen mit sphinxhafter Gleichgültigkeit an. An einer Seite waren drei Klappen, an der anderen zwei und in der Vorderseite eine große. Oben standen zwei Metallstäbe mit kugelförmigen Enden wie die Hörner einer Ziege heraus, die dem unbestimmten Ausdruck dieser Konstruktion einen fast satanischen Zug verliehen. »Ein automatischer Leichenwärter«, schlug ich vor und betrachtete die Vorrichtung mit unverhohlenem Abscheu. »Sein Aussehen gefällt Ihnen also auch nicht«, bemerkte Burman. Aus einem in der Nähe stehenden Schrank zog er eine Schublade und riß eine Menge Zeichnungen heraus. »Hier sehen Sie seine Eingeweide. Es hat einen Stromkreis, Transformatoren, Kondensatoren und noch etwas, das ich noch nicht ganz verstehe, von dem ich aber vermute, daß es ein winziger, hochgradig wirksamer elektrischer Schmelzofen ist. Ferner sind Teile darin, die ich als Zahn- und Kegelradfräser ausgemacht habe. Es sind mehrere Vielfachstanzmaschinen kleinen Maßstabes darin enthalten, die offensichtlich zur Verarbeitung von Blechen bestimmt sind. Man kann die schwachen Andeutungen eines Montagebandes erkennen, das in jener großen Kammer endet, die durch die große Klappe an der Vorderseite abgedeckt wird. Sehen Sie sich die Zeichnungen selbst an. Sie werden feststellen, daß es eine äußerst komplizierte Anlage zur Herstellung eines nicht minder komplizierten Produktes ist.« Die Zeichnungen gaben ihm völlig recht. Sie zeigten jedoch nicht alles. Ein guter Maschinenkonstrukteur hätte die Funktionen dieses Apparates genau ableiten können, wenn man ihm alle Einzelheiten angegeben hätte. Burman gab das auch zu und sagte, einige Teile 93
habe er »im Drang des Augenblicks« angefertigt, während er bei anderen wieder »einfach gezwungen worden sei, sie zu zeichnen«. Da man die Maschine schließlich nicht auseinanderreißen konnte, blieben gerade genug Einzelheiten, um die Neugier anzustacheln, jedoch nicht, um sie zu befriedigen. »Setzen wir das verdammte Ding doch einmal in Betrieb und sehen zu, was es tut.« »Ich habe es versucht«, sagte Burman. »Es springt einfach nicht an. Es ist kein Anlasser vorhanden, nichts, das andeuten würde, wie man es in Betrieb setzen kann. Ich habe alles nur Erdenkliche versucht, jedoch ergebnislos. Der Stromkreis endet in jenen Antennen an der Oberseite, und ich habe sogar Strom durch sie geschickt, doch nichts geschah.« »Vielleicht ist es ein sich automatisch einschaltender Apparat«, mutmaßte ich. Während ich das Ding anstarrte, kam mir plötzlich ein Gedanke. »Vielleicht ist es auf eine bestimmte Zeit eingestellt«, fügte ich hinzu. »Hm?« »Na ja, auf eine ganz bestimmte Zeit eingestellt. Wenn die Stunde dann schlägt, wird es von selbst losgehen, wie eine Zeitbombe.« »Werden Sie jetzt nur nicht melodramatisch«, sagte Burman voll Unbehagen. Sich vorneigend, starrte er in eine der winzigen Linsen. »Bz-z-z!« begann der Kasten plötzlich kaum hörbar zu summen. Burman schnellte zurück. Dann trat er noch weiter zurück, beäugte das Ding ganz vorsichtig und wandte seinen Blick mir zu. »Haben Sie das gehört?« »Natürlich!« Ich nahm die Zeichnungen und blätterte darin herum. 94
Es dauerte einige Zeit, bis ich jene kleine Linse gefunden hatte, aber sie war tatsächlich angegeben. Dahinter befand sich eine Selenzelle. »Ein Auge«, sagte ich. »Es sah Sie und reagierte. Es ist also keineswegs ein totes Ding, selbst wenn es nur herumsteht, nichts Böses sehend, hörend oder sprechend.« Ich hielt ein weißes Taschentuch vor die Linse. »Bz-z-z!« wiederholte der Sarg mit größerer Lautstärke. Burman nahm das Taschentuch und hielt es vor die übrigen Linsen. Nichts geschah. Kein einziger Laut war zu hören, einfach gar nichts. »Das begreife ich nicht!« gestand er. Zu dieser Zeit war ich der Sache ziemlich überdrüssig. Wenn dieses verrückte Gerät funktioniert hätte, dann hätte ich einen guten Artikel darüber geschrieben, und vielleicht hätte ich dadurch wieder zu Burmans Gunsten eine Geldlawine ins Rollen gebracht. Doch man kann nichts mit einem Kasten anfangen, der summt, wann immer es ihm gerade einfällt. Man muß die Sache schon fester anpacken, kam ich mit mir ins reine. »Sie haben doch so furchtbar geheimnisvoll und verschwiegen um die Art und Weise getan, wie Sie zu diesem Geistesprodukt gelangt sind«, sagte ich. »Weshalb können Sie sich denn nicht an dieselbe Quelle um eine Auskunft über den Zweck dieses Dings wenden?« »Das will ich Ihnen erzählen — oder besser noch, ich will es Ihnen zeigen.« Burman holte aus seinem Safe eine Kiste, aus der er einen Apparat heraushob. Dieser war weit einfacher als die nutzlose Menge einer Unzahl von Mechanismen, die drüben an der Wand lag. Beinahe sah das Ding wie eines jener altmodischen Kristallgeräte aus, nur daß der Kristall sehr groß und glänzend war und sich in 95
einer Horizontalvakuumröhre befand. Auch die gleiche einfache Skala mit der den Schnurrhaaren einer Katze ähnelnden Einstellvorrichtung war vorhanden. Durch ein Verbindungskabel war an den Gesamtapparat ein einem Kopfhörer ähnliches Gerät angeschlossen, das jedoch an Stelle der Hörer sanft gerundete kupferne Schleifen aufwies, die so geformt waren, daß sie sich dicht an den Schädel hinter den Ohren anschmiegten. »Das ist meine einzige Erfindung«, sagte Burman nicht ohne einen gerechtfertigten Anflug von Stolz in der Stimme. »Was ist es?« »Eine Vorrichtung für die Zeitreise.« »Ha, hak Mein Lachen klang ziemlich säuerlich. Ich hatte von solchen Dingen gelesen. Ja, ich hatte sogar selbst darüber geschrieben. Es war immer eitles Geschwätz gewesen. Niemand konnte die Zeit durchreisen, weder rückwärts noch vorwärts. »Lassen Sie mich doch mal sehen, wie Sie sich auflösen und in der Zukunft verschwinden.« »Ich werde Ihnen sehr schnell etwas zeigen.« Burman sagte dies mit einer Sicherheit, die mir nicht gefiel. Er sagte es mit der selbstsicheren Miene eines Mannes, der sehr wohl weiß, daß er etwas tun kann, von dem alle Welt annimmt, daß es nicht getan werden kann. Mit einem Finger auf das Kristallgerät deutend, erklärte er: »Es wurde nicht auf den ersten Anhieb entdeckt. Tausende müssen es schon versucht und dabei versagt haben. Ich war nun einmal der Glückspilz. Ich muß einen ganz besonderen Kristall ausgewählt haben; ich weiß noch immer nicht, wie es das fertigbringt, was es tut; es ist mir noch nie gelungen, seine Leistungen nachzuahmen, selbst nicht mit einem augenscheinlich völlig identischen Kristall.« »Und es befähigt Sie zur Zeitreise?« 96
»Nur vorwärts. Es kann mich nicht in die Vergangenheit zurückführen, nicht einmal für einen einzigen Tag. Es bringt mich jedoch in eine unermeßlich ferne Zukunft, vielleicht sogar bis zum Anbruch des Jüngsten Tages, ja, vielleicht sogar durch die ganze Ewigkeit hindurch.« Jetzt hatte ich ihn am Wickel. Er hatte sich unrettbar in seine eigenen Ungereimtheiten verstrickt. Ich konnte mein Lachen einfach nicht mehr zurückhalten. »Sie können also in die Zukunft, nicht aber in die Vergangenheit reisen, nicht einmal um einen Tag. Wie, zum Teufel, können Sie denn dann in die Gegenwart zurückkehren, wenn Sie erst einmal in die Zukunft gegangen sind?« »Ganz einfach deshalb, weil ich nie die Gegenwart verlasse«, erwiderte er ruhig. »Ich nehme ja nicht an der Zukunft teil, ich überblicke sie nur vom Standpunkt der Gegenwart aus. Nichtsdestoweniger handelt es sich um eine Zeitreise im wahrsten Sinn des Wortes.« Er ließ sich in einen Sessel nieder. »Sehen Sie mal, Bill, was sind Sie denn?« »Wer, ich?« »Ja, was sind Sie?« Er fuhr fort, die Antwort auf seine Frage selbst zu geben. »Ihr Name ist Bill. Sie sind ein Körper und ein Geist. Welches von beiden ist nun Bill?« »Beides zusammen«, sagte ich entschieden. »Richtig — es sind aber doch verschiedene Teile Ihrer selbst. Sie sind keineswegs gleich, obwohl sie einhergehen wie siamesische Zwillinge.« Seine Stimme klang jetzt ernst. »Ihr Körper bewegt sich stets in der Gegenwart, der Grenzlinie zwischen Vergangenheit und Zukunft. Ihr Geist jedoch ist freier. Er kann denken und befindet sich dann in der Gegenwart. Er kann sich erinnern und hält sich sogleich 97
in der Vergangenheit auf. Er kann sich etwas vorstellen, und auf der Stelle begibt er sich in die Zukunft, ganz nach der Wahl, die er unter allen denkbaren Zukunftsmöglichkeiten trifft. Ihr Geist kann durch die Zeit reisen!« Er hatte mich glatt überrumpelt. Ich konnte natürlich in seiner Beweisführung Punkte finden, wo ich einhaken und mit ihm argumentieren konnte, aber ich wußte, daß er im Grunde genommen recht hatte. Von diesem Blickwinkel aus hatte ich die Frage noch nicht betrachtet, aber er hatte recht, wenn er sagte, daß jedermann innerhalb der Grenzen seines Gedächtnisses und seiner Einbildungskraft durch die Zeit reisen konnte. In jenem Augenblick konnte ich auf der Stelle um zwölf Jahre zurückgehen und ihn im Geist als einen noch jüngeren, blasseren, schmaleren und leicht erregbaren Mann sehen, der noch nicht so kühl und selbstsicher war. Das Bild hatte denselben Grad von Deutlichkeit, der der Güte meines Gedächtnisses entsprach. Für jenen kurzen Augenblick war ich außerhalb meines Körpers um zwölf Jahre zurückversetzt. »Ich nenne dieses Gerät ein Psychophon«, fuhr Burman fort. »Wenn Sie sich eine Vorstellung über die Zukunft machen, dann treffen Sie eine ganz besondere Wahl unter allen logischen Möglichkeiten; Sie greifen die Ihnen am besten zusagende aus einer Unmenge von Zukunftsmöglichkeiten heraus. Das Psychophon schaltet sich nun auf irgendeine Weise — Gott allein weiß wie — in die Zukunftswirklichkeit ein. Es läßt Sie in Ihrem Geist die Zukunft so sehen, wie sie in Wirklichkeit sein wird, und schaltet alle nicht eintretenden Möglichkeiten aus.« »Es handelt sich also um einen Phantasieerreger, eine Traummaschine«, spottete ich und fühlte mich dabei nicht so sicher, wie es nach außen schien. »Wie wollen Sie denn feststellen, daß Ihnen das Gerät tatsächlich die Wirklichkeit zeigt?« 98
»An Hand der immer wiederkehrenden gleichen Bilder«, antwortete er ernst. »Er wiederholt dieselben Hauptzüge und denselben Zukunftsablauf mit einer Häufigkeit, die viel zu groß ist, als daß man sie dem puren Zufall zuschreiben könnte. Außerdem«, und dabei machte er mit der Hand eine überzeugende Geste, »habe ich ja die Batterie aus der Zukunft erhalten. Sie funktioniert doch, oder etwa nicht?« »Allerdings«, gab ich widerwillig zu. Auf sein Psychophon zeigend, bedeutete ich ihm: »Auch ich kann durch die Zeit reisen. Wie wäre es denn, wenn Sie es einmal mich versuchen ließen. Vielleicht kann ich das Geheimnis lüften.« »Sie können es natürlich versuchen, wenn Sie wollen«, erwiderte er bereitwilligst. Er zog einen Sessel heran. »Setzen Sie sich hier hin, und ich werde Sie in die Zukunft sehen lassen.« Burman stülpte mir den Bügel über den Schädel, legte die Schleifen aus Kupfer dicht an den Kopf an, so daß die Ohren nach vorn gedrückt wurden, und schloß das Gerät an das Stromnetz an. Dann schaltete er den Apparat ein, oder deutlicher gesagt, er machte irgendwelche Manipulationen, von denen ich annahm, daß sie eine Art Einschalten bewirkten. »Jetzt«, sagte er, »brauchen Sie nur noch die Augen zu schließen und sich zu sammeln; dann versuchen Sie es einmal, Ihren von Einbildungskraft beflügelten Geist in die Zukunft wandern zu lassen.« Er hantierte an dem Einstellgerät herum. Mehrmals sagte er: »Ah!« Und jedesmal, wenn er das sagte, hatte ich ein sonderbar zuckendes Gefühl rund um meine bedauernswerten Ohren. Nachdem so einige Sekunden vergangen waren, dehnte sich sein Ausruf zu einem »A-a-ah!« aus. Ich war nicht ganz ehrlich und spähte unter gesenkten Augenlidern hervor. Der Kristall glühte in schwachem Hochrot wie die Augen einer Ratte in einem Keller. 99
Meine eigenen Sehwerkzeuge schließend, ließ ich meinen Geist auf Wanderschaft gehen. Irgend etwas floß zwischen jenen Kupferelektroden, ein seltsames, unbeschreibliches Etwas, das mit verstohlen tastenden Fingern irgendeinen geheimen Teil meines Gehirns erfaßte. Ich hatte den Eindruck, als wären es die geschickten Finger eines noch nicht geborenen Magiers, der gleich »Presto!« rufen und das mißbrauchte Häufchen meines Hirnes unter einem Hut aus dem dreißigsten Jahrhundert hervorziehen würde — sofern man im dreißigsten Jahrhundert überhaupt noch Hüte trug. Wie sah es eigentlich im dreißigsten Jahrhundert aus, oder besser gesagt, wie würde es in jener Zeit aussehen? Würde in jener Zeit ein Rückschritt eingetreten sein? Würde sich die Menschheit erneut aus laut heulenden, in Felle gekleideten und in Höhlen dahindämmernden Geschöpfen zusammensetzen? Oder würde sich der Fortschritt fortgesetzt haben — vielleicht sogar bis zur Entwicklung von gottähnlichen Menschen? Und dann geschah es! Ich schwöre es! Ganz nach meinem Willen sah ich das Bild eines Wilden und dann ein großes, breitschultriges Geschöpf mit funkelnden Augen — wobei das letztere als meine Version der Häßlichkeit zu werten war, die wir erreichen könnten. Mitten in diesem unsteten Traum wischten jene unheimlichen Finger mein Gehirn leer, lösten meine Phantomgestalten in ein Nichts auf und ersetzten sie durch ein aufgezwungenes Bild, das ich mit all der Hilflosigkeit und Klarheit eines Alptraumes verfolgte. Ich sah einen dicken Mann, der deklamierte. Er war ein durchaus normaler Mensch, soweit es sein Äußeres anging. Ja, er sah sogar so normal aus, daß er wie ein Pantoffelheld wirkte. Er war jedoch in eine römische Toga gekleidet und trug einen kleinen schwarzen Kasten an der Stelle, an der sich sein Lorbeerkranz hätte befinden müssen. Seine Zuhörerschaft war ähnlich gekleidet, und alle balancierten, wie eine Versammlung von Marktweibern, ihren 100
Kasten auf dem Kopf. Die Rede des Dicken war mir ein unverständliches Gebrabbel, aber er sagte seine Sprüche auf, als ob er von seinen Worten wirklich überzeugt wäre. Die Menge hatte sich unter freiem Himmel versammelt, wo im Hintergrund in weitem Rund Sitzreihen sichtbar wurden. Vermutlich handelt es sich um irgendeine Art Freilichtbühne. Der Entfernung der hintersten Sitzreihe nach zu schließen, mußte die Anlage von gewaltigen Ausmaßen sein. Fern hinter seinem geschwungenen Außenrand stach ein großes Gebäude in den Himmel, ein würfelförmiges Gebilde mit Mauern aus glänzenden Quadern, gleich einem riesigen Glashaus. »F'was?« stieß der Dicke, offensichtlich in Hitze geraten, hervor. »Abet, Abet, Abet, meh, nununnimm! Hu errt, ört ies, ört as.« Dabei zeigte er mißbilligend mit einem Finger auf den geheimnisvollen Gegenstand auf seinem Schädel. »Hu errt, Abet, Abet, Abet. F'was?« und dabei starrte er um sich. »F'nix!« Die Menge murmelte etwas schüchtern Beifall. Aber es genügte für den Dicken. Entschlossen hob er die plumpe Faust und brüllte: »Zr Ölle mit'em!« Dann riß er den Kasten von seinem Schä-dei. Niemand sagte ein Wort, niemand rührte sich. Stumm und mit weit geöffneten Augen stand die Menge einfach da und starrte vor sich hin, als ob sie vom Anblick eines menschlichen Wesens ohne Kasten auf dem Kopf gelähmt worden wäre. Irgend etwas mit langem, schlankem und stromlinienförmigem Körper und breiten Schwingen stieg in der Ferne anmutig empor und schoß über die Freilichtbühne hinweg, aber noch immer stand die Menge bewegungslos und tonlos. Mit einem Lächeln des Triumphes auf dem breiten Gesicht bellte der Dicke: »La-se je Abet tu! La-se je A-« Er kam nicht weiter. Mit einer dem Schwanzende nebelartig 101
entströmenden Fahne hinter sich, jedoch völlig geräuschlos, schwebte das aufsteigende Ding über ihm und schickte eine Lanze schwachen silbrigen Lichts hinab. Das Licht berührte den Dicken. Er fiel auf der Stelle, wie vom Tod selbst angerührt, in sich zusammen und wurde zu Staub, der er einst gewesen war. Es war furchtbar. Die Zuschauer flohen nicht, nicht der geringste Ausdruck von Furcht, Haß oder Abscheu zeigte sich um ihre festverschlossenen Lippen. Sie ständen in völligem Schweigen da, starrten und starrten wie eine Armee von Holzsoldaten. Das Ding am Himmel kreiste, um sein Werk zu überblicken, und schoß dann dicht über die Menge hinweg, wobei eine kurze Antenne an seinem Bug wild Funken sprühte. Wie ein Mann machte die Masse linksum. Wie ein Mann begann sie sich in Marsch zu setzen, links, rechts, links, rechts. Mir den Übertragungsbügel vom Kopf reißend, erzählte ich Burman, was ich gesehen hatte, oder besser gesagt, von was sein Gerät mir die Überzeugung eingegeben hatte, ich hätte es gesehen. »Was, zum Teufel, bedeutete das alles?« »Automatone«, murmelte er. »Glashäuser und Düsenschiffe.« Er griff nach einem dicken Tagebuch, das mit Notizen in seiner Handschrift angefüllt war, und durchblätterte es. »Ach ja, es sieht ganz so aus, als ob Sie dem dreißigsten Jahrhundert sehr nahe gewesen wären. Vor der Antikasten-Rebellion herrschte zwanzig Jahre lang dauernde Unruhe.« »Vor welcher Rebellion?« »Nun, der Antikasten-Rebellion — einer Revolte der Automatone gegen die Technokraten des einunddreißigsten Jahrhunderts. Jackson-Dkj-99717, ein erfolgreicher und listiger Ränkeschmied mit gebogenem Kasten als Kopfbedeckung, rief heimlich Hunderte von diesen Kastenträgern zusammen, und im Jahre 3047 führte er die Rebellion schließlich auch zum Sieg. Sein Urenkel, ein dickköpfiges 102
und gefräßiges Individuum, verursachte die Rebellion der kastenlosen Freileute gegen seine eigene Clique der Jacksokraten.« Ich lauschte seiner Erzählung offenen Mundes und sagte dann: »So wie Sie das erzählen, könnte man beinahe meinen, es handle sich um tatsächliche Geschichte.« »Es ist natürlich auch Geschichte«, versicherte er. »Geschichte, die erst noch geschehen muß.« Eine Weile war er nachdenklich. »Das Studium der Zukunft wird Ihnen vielleicht als ein unheimlicher Vorgang erscheinen, für mich aber ist das eine völlig normale Angelegenheit. Ich habe es jetzt seit Jahren betrieben, und vielleicht hat die Vertrautheit damit in mir eine gewisse Verachtung dafür geschaffen. Das Übel an der ganzen Sache ist jedoch, daß es sehr schwierig ist, jeweils die gewünschten Zeiten herauszugreifen. Sie können zwanzig Mal hintereinander einen ganz bestimmten Zeitpunkt auswählen, aber Sie werden sich nie im selben Monat, auch nur im selben Jahr wiederfinden. Ja, es ist sogar so, daß Sie schon von Glück reden können, wenn Sie zweimal in dasselbe Jahrzehnt gelangen. Das Ergebnis ist natürlich, daß meine Unterlagen nur sehr lückenhaft sind.« »Das kann ich mir vorstellen«, sagte ich zu ihm. »Wer gut zu schätzen vermag, dem mag es vielleicht gelingen, die genaue Zeit innerhalb einer Irrtumsgrenze von einer bis zwei Minuten zu bestimmen, jedoch nie auf zehn bis fünfzehn Sekunden.« »Ganz richtig«, erwiderte er. »Ärgerlich an der ganzen Sache ist daher stets gewesen, daß ich zwar das Vorrecht hatte, das Panorama der Zukunft vor meinen Augen abrollen zu sehen, jedoch in so skizzenhafter Weise, daß ich die genaue Zeit derselben nie erfassen konnte. Einst hatte ich das außergewöhnliche Glück, zufällig im fünfundzwanzigsten Jahrhundert auf eine Szene zu stoßen, in der gerade eine Energiequelle vom Anfang bis zum letzten Handgriff 103
zusammengesetzt wurde. Ich konnte jede Einzelheit aufnehmen, ehe das Bild wieder meinen Augen entschwand. Es ist mir nie wieder gelungen, darauf zu stoßen, aber ich baute jene Energiequelle nach — und das Ergebnis kennen Sie ja.« »Auf diese Weise haben Sie also Ihre berühmte Batterie ausgeheckt!« »Allerdings. Doch die meine, so gut sie auch sein mag, reicht bei weitem nicht an die heran, die ich gesehen habe. Irgendein kleiner Faktor fehlt noch.« Seine Stimme klang plötzlich gepreßt, als er hinzufügte: »Es ist mir etwas entgangen, weil es mir einfach entgehen mußte!« »Weshalb?« fragte ich völlig bestürzt. »Weil die Geschichte, sei es nun Vergangenheit oder Zukunft, kein augenfälliges Paradoxon zuläßt. Ganz einfach deshalb, weil ich, der ich nun einmal diese Batterie aus dem fünfundzwanzigsten Jahrhundert geklaut habe, in jenem Zeitalter als der Erfinder dieses Gerätes aus dem zwanzigsten Jahrhundert verzeichnet sein werde. Sie werden in den kommenden fünf Jahrhunderten diesem Ding eine leichte Verbesserung geben, doch eben diese Verbesserung bleibt mir auf ganz automatische Weise vorenthalten. Die zukünftige Geschichte liegt ebenso unabänderlich für die Gegenwart fest wie die Geschichte der Vergangenheit.« »Dann«, bat ich ihn, »erklären Sie mir doch bitte auch jenes komplizierte Gerät, das nur Summgeräusche von sich gibt.« »Verdammt«, sagte er mit offenkundigem Zorn, »das ist es ja gerade, was mich so verrückt macht! Es kann kein Paradoxon sein, es kann es einfach nicht sein.« Dann fuhr er, etwas vorsichtiger geworden, fort: »Es muß sich also um ein scheinbares Paradoxon handeln.« 104
»Okay. Erzählen Sie mir also, wie man ein scheinbares Paradoxon auf den Markt bringen kann und welchen wirtschaftlichen Nutzen es hat, und ich werde einen erstklassigen Artikel darüber schreiben.« Meinen Sarkasmus einfach übergehend, fuhr er fort: »Ich habe die Zukunft zu erforschen versucht, soweit der menschliche Geist überhaupt in sie vordringen kann. Ich sah nichts, nichts als die ungeheure Weite unfruchtbaren Bodens, auf dem eine seltsame Maschine stand, blinkend in schweigender und einsamer Majestät. Irgendwie schien sie sich meines Forschens durch den Strom unzählbarer Zeiten hindurch bewußt. Sie hielt meine Aufmerksamkeit mit einer geradezu hypnotischen Macht auf sich gelenkt. Mehr als einen vollen Tag, nämlich dreißig Stunden lang, stand jene Vision vor meinem inneren Auge, ohne daß ich sie verlor — es war die längste Zeit, die ich je eine zukünftige Szene im Auge behalten konnte.« »Na und?« »Ich zeichnete sie auf. Ich fertigte vollständige Pläne davon an und löste diese Aufgabe mit all der Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit eines Maschinenkonstrukteurs. Das Innere dieser Maschine war nicht zu sehen, aber irgendwie flogen mir ihre Einzelheiten zu, irgendwie kannte ich sie. Als ich die Szene schließlich aus dem Auge verlor, war es vier Uhr morgens, und ich fand mich von Bergen schwierigster Zeichnungen umgeben, mit pochendem Schädel, bleischweren Augenlidern und einem leichten Gefühl der Furcht im Herzen wieder.« Einen kurzen Augenblick schwieg er. »Ein Jahr später hatte ich schließlich wieder Mut gefaßt und begann das von mir aufgezeichnete Ding zu bauen. Es hat mich eine ungeheure Zeit und eine Unmenge Geld gekostet. Aber ich habe es gebaut — es ist fertig.« »Und dabei summt es jetzt nur«, bemerkte ich mit aufrichtigem Mitempfinden. 105
»Ja«, seufzte er, von Zweifeln geplagt. Es blieb nichts mehr zu sagen übrig. Burman starrte düster auf die Wand, mit den Gedanken weit, weit weg. Völlig ziellos spielte ich mit den kupfernen Ohrschleifen des Psychophons. Meiner Schätzung nach war meine Einbildungskraft eben so gut wie die irgendeines Menschen, aber um alles in der Welt konnte ich mir auch nur andeutungsweise keinen rentablen Markt für einen Metallsarg voll Uhrmacherschrott vorstellen. Nein, selbst dann nicht, wenn dieser seltsame Geräusche von sich gab. Vom Sarg her ertönte ein leises und sanftes Sirren. Es war ein neuer Laut, der uns herumriß und uns den Metallkörper mit weit aufgerissenen Augen anstarren ließ. Sirrr-r-r erklang es wieder. Ich sah feinst gearbeitete Räder hinter dem Fenster an der Vorderseite in rasendem Lauf. »Um Gottes willen!« sagte Burman. Bz-z-z! Sirr-r-r! Klick! Der ganze Kasten glitt plötzlich auf verborgenen Laufrädchen seitwärts. Ein bekannter Teufel ist halb so furchterregend wie ein unbekannter. Ich will damit natürlich nicht sagen, daß uns diese plötzliche Demonstration von Leben und Bewegung etwa Furcht eingejagt hätte, aber sie erschreckte uns im ersten Augenblick und ließ unsere Herzen ein paar Dutzend Schläge mehr in der Minute ausführen. Dieses Sargungeheuer war, oder mochte es zumindest sein, ein Teufel, den wir nicht kannten. Deshalb standen wir ganz einfach Seite an Seite da und starrten es fasziniert an, wobei in uns die Sorge vor etwas aufstieg, das wir nicht kannten. Die Bewegung hörte wieder auf, nachdem das Ding etwa einen Meter über den Boden geglitten war. Dort stand es: schweigsam, gleichmütig, und mit seinen Linsen an der Vorderseite beobachtete es uns mit einer glasigen Ausdruckslosigkeit. Dann glitt es wieder 106
einen Meter vorwärts. Wieder hielt es an. Eine noch ausdruckslosere Betrachtung, und danach glitt es schnell, direkt bis an den Labortisch, weiter. Dort hielt es an und begann unterschiedliche, jedoch synchrone Tickgeräusche von sich zu geben, die sich anhörten gleich einer Anzahl der altvertrauten Uhren unserer Großväter. Burman sagte ruhig: »Irgend etwas wird geschehen!« Hätte die Maschine sprechen können, dann hätte er ihr die Worte aus dem Mund genommen, denn er hatte kaum seinen Satz ausgesprochen, als an der Seite der Maschine eine Klappe aufging. Ein aus Gelenken zusammengesetzter Metallarm streckte sich mit schlangenartigen Bewegungen vorsichtig durch die Öffnung und langte nach einem auf dem Tisch stehenden Navigationschronometer. Mit einem Fluch der Überraschung auf den Lippen stürzte Burman vor, um den Chronometer zu retten, doch er kam zu spät. Der Arm ergriff die Uhr, ließ sie blitzschnell im Innern der Maschine verschwinden, und die Klappe schloß sich mit einem lauten Knall, wie das bösartige Klirren einer zuschlagenden Bärenfalle. Gleichzeitig öffnete sich in der Vorderseite blitzschnell eine zweite Klappe, ein anderer Gelenkarm schoß hervor und wieder hinein. Das Ganze ging mit einer so wahnwitzig schnellen Bewegung vor sich, daß man es mit den Augen kaum verfolgen konnte. Auch jene Klappe schlug wieder zu, und Burman stand offenen Mundes da und starrte auf seine zerrissene Kleidung hinab, von der seine kostbare Uhr und seine ebenso kostbare goldene Kette abgerissen waren. »Bei Gott!« sagte Burman und trat gleichzeitig von der Maschine zurück. Wir standen eine Weile da und betrachteten sie. Sie bewegte sich nicht mehr, sondern verharrte ruhig auf dem gleichen Fleck, ein 107
gleichmäßiges Ticken von sich gebend, so als ob sie ihre willkommene Mahlzeit wiederkäue. Ihre Linsen sahen uns mit dem ruhigen und interesselosen Blick einer gutgefütterten Kuh an. Ich hatte den idiotischen Gedanken, daß sie zufrieden das Durcheinander von winzigen Zahn- und Kegelrädern verdaute. Da der leichte Ausdruck einer Drohung von ihr gewichen zu sein schien, oder vielleicht auch, weil wir witterten, daß sie im Augenblick völlig mit ihrer Aufgabe beschäftigt war, machten wir einen Versuch, Burmans kostbaren Zeitmesser zu retten. Burman zerrte gewaltig an der Klappe, durch die seine Uhr verschwunden war, jedoch es mißlang ihm völlig, sie auch nur um das geringste zu bewegen. Ich half ihm bei seiner Anstrengung, ebenso ergebnislos. Das Ding war so fest verschlossen, als ob es zugeschweißt worden wäre. Auch mit einem großen Schraubenzieher gelang es nicht, die Klappe zu öffnen. Mit einer Brechstange wäre es uns natürlich gelungen, doch als wir diese Überlegung anstellten, entschied sich Burman, daß er die Maschine nicht zerstören wollte, die ihn mehr als seine Uhr gekostet hatte. Tick-tick-tick! machte der Sarg unverdrossen weiter. Wir standen wieder am gleichen Punkt, von dem wir ausgegangen waren, spielten mit unseren Fingern und waren ebenso klug wie zuvor. Man konnte nichts tun, und ich hatte das Gefühl, daß der verfluchte Apparat das auch wußte. Dort stand er, starrte durch seine Linsen und verhöhnte uns mit seinem Tick-tick-tick. Aus seinem Leib oder von dort, wo er gewesen wäre, falls er einen gehabt hätte, strahlte langsam Wärme aus. Burmans Zeichnungen zufolge war das die Gegend, wo sich der winzige elektrische Schmelzofen befand. Das Ding funktionierte, daran konnte es keinen Zweifel mehr geben! «Wenn Burman das gleiche Gefühl wie ich hatte, dann mußte er in höchstem Maße wütend sein. Da standen wir wie ein paar preisgekrönte Tölpel, nicht wissend, was die Maschine eigentlich tun 108
sollte, und die ganze Zeit über vollbrachte sie direkt vor unseren Augen die Aufgaben, für die sie entworfen worden war. Von wo nahm sie ihre Energie her? Sogen jene Antennen, die wie Hörner aus ihrem Kopfteil herausragten, emsig Strom aus der Atmosphäre? Oder absorbierte sie vielleicht Radioenergie? Oder hatte sie gar eigene innere Energie? Der Augenschein deutete lediglich darauf hin, daß sie irgend etwas machte, daß sie irgend etwas hervorbrachte, doch was schuf sie? Tick-tick-tick! war die einzige Antwort. Unsere Fragen waren noch immer unbeantwortet, unsere Neugier noch immer unbefriedigt, und die Maschine tickte noch immer emsig um die Mitternachtsstunde. Wir verschoben die Lösung des Problems bis zum nächsten Morgen. Burman verschloß sein Laboratorium doppelt, ehe wir weggingen. Die Aufgabe des Polizisten Burke war sehr einfach. Er brauchte lediglich immer wieder um den Häuserblock herumzugehen, ein wachsames Auge auf die Geschäfte im allgemeinen und den großen Juwelierladen im besonderen gerichtet zu halten und stündlich von seinem Posten an der Ecke aus das Revier anzurufen. Nachtarbeit entsprach Burges schweigsamer Veranlagung. Er liebte es, seine Runden zu gehen, sich mit sich selbst zu unterhalten und sich von nichts stören oder von seinen Überlegungen abbringen zu lassen. In jenem Viertel geschah nie etwas zur Nachtzeit, rein gar nichts. Vor dem Schaufenster halt machend, hinter dem Edelsteine in der Auslage hingestreut lagen, spähte er durch die Scheibe und das starke Scherengitter dahinter auf das Innere, wo eine schwache Lampe ihr Licht über den Safe ergoß. Darin lag der Schatz eines Maharadscha. Die Wache, das Scherengitter, die automatischen Alarmeinrichtungen und mehrere sinnreiche Fallen behüteten ihn vor den 109
abenteuerlustigen Fingern derer, die einen Maharadscha berauben wollten. In den vergangenen zwanzig Jahren hatte nie jemand den gewagten Schritt unternommen. Nie hatte jemand es auch nur versucht, den Inhalt der scherengittergeschützten Schaufensterauslage zu rauben. Er warf einen Blick zum Himmel, auf den leuchtenden Wolkenstreifen, hinter dem sich der Mond versteckte. Dann wandte er sich ab und ging weiter. Eine Katze schlich an ihm vorbei, vorsichtig ihre Pfoten setzend, lautlos und sich eng an die Hauswand drückend. Seine scharfen Augen erspähten ihre huschende Gestalt selbst in der vom indirekten Mondlicht nur schwach erhellten Nacht, doch er schenkte ihr keine Beachtung und setzte seinen Weg zur Ecke fort. Hinter ihm strich die Katze unter dem Schaufenster entlang, durch das er gerade eben noch gespäht hatte. Sie hielt an, eine Vorderpfote halb erhoben, mit nach vorn gestellten Ohren. Dann streckte sie sich, so daß sie mit dem Bauch beinahe den Beton des Bürgersteigs berührte. Ihre brennenden Augen waren weit geöffnet, wachsam, gespannt. Ihr Schwanz bewegte sich langsam von einer Seite zur anderen. Irgendein kleiner und heller Körper schoß auf sie zu, bewegte sich mit mäuseartiger Schnelligkeit und Behendigkeit an der Hauswand entlang. Die Katze spannte sich, als der Gegenstand näher kam. Plötzlich war das Ding in ihrer Reichweite, und sie schlug mit geschmeidiger Behendigkeit zu. Gierige Krallen trafen auf eine Oberfläche, die nicht etwa aus weichem Fell bestand, sondern hart, hell und glatt war. Das Ding schoß umher wie ein von einem Uhrwerk angetriebenes Spielzeug, als die Katze vergeblich versuchte, es festzuhalten. Schließlich versetzte ihm die Katze mit einem bösartigen Fauchen einen heftigen Schlag, der es ein paar Meter weit über den Bürgersteig hinweg beförderte, wo es auf den Rücken fiel, ein leises Klicken des Protestes ausstieß und einen um 110
Hilfe rufenden Impuls ausstrahlte, den sein Angreifer nicht wahrnehmen konnte. Mit einem einzigen Satz erreichte die Katze die Gosse und duckte sich erneut. Irgend etwas anderes kam näher. Die Katze spannte ihre Muskeln, und ihre Augen funkelten. Ein anderer Gegenstand, der dem sonderbaren Ding, das sie gerade eben gefangen hatte, ziemlich ähnlich sah, nur daß er etwas dicker und geräuschvoller war und sich in seiner Form sehr von dem ersten unterschied, tauchte vor ihr auf. Er ähnelte einem kleinen vergoldeten Zylinder mit konischer Spitze, aus der eine schmale Messerklinge herausragte, und er glitt auf unsichtbaren Rädern schnell auf sie zu. Die Katze sprang erneut. Drunten an der Ecke hörte Burke ihren kurzen Schrei und das darauffolgende Gurgeln. Der Laut störte Burke nicht — er hatte Katzen, Ratten und anderes Ungeziefer aller Arten sonderbare Geräusche in der Nacht ausstoßen hören. Phlegmatisch setzte er seine Runde fort. Eine dreiviertel Stunde später hatte der Polizist Burke seine Runde gemacht und stieß auf den Schauplatz des Kampfes. Seine Taschenlampe auf den toten Körper richtend, drehte er das reglose Tier mit dem Fuß um. Die Kehle war durchschnitten. Sie war mit einer derartigen Heftigkeit durchschnitten worden, daß sich der Kopf beinahe vom Körper gelöst hatte. Burke sah stirnrunzelnd darauf nieder. Er persönlich liebte Katzen nicht sonderlich, aber er fand es doch schwierig, sich jemand vorzustellen, der diese Tiere so hassen konnte! »Irgend jemand«, murmelte er, »muß es besonders lieben, sie lebendig zu schinden.« Sein großer Fuß schob die tote Katze in den Rinnstein zurück, wo die Straßenkehrer sie am nächsten Morgen entfernen konnten. Er wandte seine Aufmerksamkeit dem Schaufenster zu und sah das 111
Licht noch immer auf den unberührten Safe scheinen. Seine Gedanken weilten bei der toten Katze, während seine Augen die Auslage betrachteten und ihm sagten, daß irgend etwas nicht in Ordnung war. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder seinen Aufgaben zu, erkannte, was nicht in Ordnung war, und Schweiß begann ihm aus jeder Pore zu treten. Es war nicht der Safe, es war das Schaufenster. Die dichtgedrängten Schalen mit den wertvollen Ringen glänzten noch immer unberührt hinter der Scheibe. Zur Rechten leuchtete das Silbergeschirr noch immer in der gleichen Ordnung. Aber auf der linken Seite war eine kleine Auslage zierlicher und sehr kostbarer Uhren gewesen. Sie waren nicht mehr dort, nicht eine einzige. Er erinnerte sich, daß ganz vorn ein wunderbarer KalenderChronometer gelegen hatte, dessen Preis einem Jahresgehalt gleichkam. Auch er war verschwunden. Der Strahl seiner Taschenlampe zitterte, als er nachprüfte, ob die Tür verschlossen war und fand, daß sie noch fest und sicher war wie zuvor. Die Tür dahinter war ebenfalls fest verschlossen. Der Querbalken war vorgelegt und gesichert, und das starke Scherengitter war unverändert. Er suchte das Schaufenster ab und fand schließlich ein kleines, sauber ausgeschnittenes Loch darin. Es maß etwa fünf Zentimeter im Durchmesser und lag in der unteren Ecke auf der den fehlenden Uhren am nächsten gelegenen Seite. Burkes Fluch kam einer Explosion gleich, als er sich umwandte und zur Straßenecke lief. Seine Hand zitterte vor Entrüstung, als er das Telefon aus dem Wandkasten riß. Er rief sein Revier an und berichtete. Er glaubte, sich eine gute Vorstellung von dem Geschehenen machen zu können und bildete sich ein, schon einmal von einem ähnlichen Einbruch gelesen zu haben, der irgendwo anders stattgefunden hatte. 112
»Sieht so aus, als hätten die Burschen ein Loch in das Schaufenster geschnitten, das herausgeschnittene Glasstück mit einem Saugnapf herausgehoben und dann mit einem Teleskopstab durch das Loch hindurch ihre Beute herausgefischt.« Er lauschte einen Augenblick und sagte dann: »Ja, ja. Das ist es ja gerade, was mich so in Erstaunen versetzt — die Ringe sind zehnmal mehr wert.« Seine immer noch erschreckt starrenden Augen blickten die Straße hinab, während er auf die Stimme am anderen Ende der Leitung achtete. Die Augen wanderten langsam abwärts, trafen auf die Gosse und blieben auf dem undeutlich sichtbaren Schatten darin haften. Noch eine tote Katze. Das Telefon noch immer am Ohr, trat Burke hinaus, soweit es ihm das Kabel erlaubte, streckte einen Stiefel aus und rollte die Katze vom Bordstein weg. Der Schein der Taschenlampe blieb darauf hängen. Genau wie die andere — von Öhr zu Ohr! »Und noch etwas«, brüllte er in das Telefon, »irgendein Verrückter treibt sich hier in der Gegend herum und metzelt Katzen nieder.« Er legte den Hörer wieder auf und hastete zu dem mißhandelten Schaufenster zurück, vor dem er auf Wache stehenblieb, bis der Streifenwagen kam. Vier Leute sprangen heraus. Der erste sagte: »Katzen! Man könnte meinen, jemand müßte einen fürchterlichen Haß auf Katzen haben! Ein paar Häuserblocks weiter sind wir an zwei weiteren vorbeigefahren. Sie lagen mitten auf der Straße, direkt im Scheinwerferlicht, und waren beinahe guillotiniert worden. Ihre Körper waren noch warm.« Der zweite brummte etwas, näherte sich dem Schaufenster, starrte auf das kleine, fein säuberlich herausgeschnittene Loch und sagte: »Die Bande, die das getan hat, war zu raffiniert, um auch nur einen einzigen Abdruck zurückzulassen.« 113
»So raffiniert waren sie jedenfalls doch nicht, sonst hätten sie nicht die Ringe übersehen«, knurrte Burke. »Vielleicht haben Sie damit recht«, gab der andere zu. »Wenn sie das eine zurückgelassen haben, dann haben sie vielleicht auch das andere hinterlassen. Wir wollen jedenfalls einmal nach Abdrücken suchen.« Ein Taxi bog in die dunkle Straße ein und hielt hinter dem Polizeiwagen. Ein elegant gekleidetes, aufgeregtes und geschwätziges Individuum stieg aus und eilte auf die wartende Gruppe zu. Schlüssel klirrten in seiner bleichen und feuchten Hand. »Maley ist mein Name. Ich bin der Geschäftsführer — Sie haben mich angerufen«, erklärte er atemlos. »Meine Herren, es ist furchtbar, einfach furchtbar! Die Schaufensterauslage ist Tausende wert! Tausende! Welch ein Verlust, welch ein Verlust!« »Wie wäre es, wenn Sie uns einließen?« fragte einer der Polizisten ruhig. »Natürlich, selbstverständlich.« Hastig öffnete er das Tor, schloß die Tür auf und verwendete für diese Arbeit etwa sechs Schlüssel. Dann gingen sie hinein. Maley drehte die Lichter an, steckte seinen Kopf zwischen die aus Glasplatten bestehenden Etagen der Auslage und überblickte das geplünderte Schaufenster. »Meine Uhren, meine Uhren«, jammerte er. »Es ist schrecklich, es ist schrecklich«, sagte einer der Polizisten, mit schöner Feierlichkeit sprechend. Dabei blinzelte er seinem Kollegen verstohlen zu. Maley lehnte sich weiter vor, um besser in eine leere Ecke blicken zu können. »Alles weg, alles weg«, jammerte er weiter, »meine 114
schönen teuren Uhren — uiih!« Sein gellender Schrei ließ sie alle zusammenfahren. Maley bückte sich hastig und versuchte, sich zwischen den behindernden Gestellen hindurch auf das Scherengitter und das dahinterliegende Schaufenster zu zuzwängen. »Meine Uhr! Meine eigene Uhr!« Die andern stellten sich auf die Zehenspitzen, starrten über seine Schultern hinweg und sahen die goldene Schnalle einer schwarzsamtenen Uhrtasche durch das Loch im Schaufenster verschwinden. Burke war als erster draußen und suchte mit seiner stets griffbereiten Taschenlampe den Betonboden ab. Dann entdeckte er die Uhr. Sie bewegte sich schnell vorwärts, dicht an der Hauswand entlang, doch sie verharrte sofort regungslos, als sein Lichtstrahl auf sie traf. Er bildete sich ein, noch einen anderen, ebenfalls glänzenden und metallischen Körper zu sehen, der schnell in die Dunkelheit außerhalb des Lichtkreises davonschoß. Burke hob die Uhr auf und blieb dann lauschend stehen. Durch den Lärm, den die anderen beim Herauslaufen verursachten, wurde er daran gehindert, deutlich zu hören, doch er hätte schwören können, daß er einen leise sirrenden Laut und ein hastiges Ticken vernommen hatte, das nicht von dem Instrument in seiner Hand herrührte. Wahrscheinlich hatte ihm seine beunruhigte Einbildung einen Streich gespielt. Mit tiefen Falten auf der Stirn kehrte er zu seinen Kollegen zurück. »Es war niemand da«, versicherte er. »Sie muß aus Ihrer Tasche gefallen und davongerollt sein.« Verdammt, dachte er, konnte eine Uhr so weit davonrollen? Was, zum Teufel, war nur in dieser Nacht los? Weit die Straße hinauf schrie etwas schrill und gab dann ein gurgelndes Geräusch von sich. Burke schauderte — er konnte sich wohl denken, was da vorging! Er sah zu den anderen hin, doch offensichtlich hatten diese den Laut nicht gehört. 115
Am Morgen waren sämtliche Zeitungen von diesen Ereignissen voll. Insgesamt ging es um sechzig Uhren und acht Katzen sowie um einige Ersatzteile aus dem kleinen Vorratslager eines ortsansässigen Herstellers von wissenschaftlichen Instrumenten. Ich las davon, als ich zu Burmans Wohnung unterwegs war. Die Einzelheiten waren umfangreich, jedoch nicht vollständig. Ich erfuhr sie vollständig zu einem späteren Zeitpunkt, als wir die wahre Bedeutung dessen entdeckten, was geschehen war. Burman wartete bereits auf mich, als ich ankam. Er schien sowohl verärgert als auch besorgt. Drüben in der Ecke tickte der Sarg stetig vor sich hin, und die von ihm ausgehenden Geräusche klangen viel lauter als am Vortag. Das Ding hörte sich an, als ob es ein ganzer Korb voll emsiger Bienen wäre. »Nun?« fragte ich. »Während der Nacht hat es sich viel herumbewegt«, sagte Burman. »Es hat ein paar Thermometer zerschlagen und deren Quecksilberinhalt herausgenommen. Ich fand einige offene Schubladen und Wandschränkchen und auch andere, die noch geschlossen waren, aber ich habe das ungute Gefühl, daß das Ding alles genauestens durchsucht hat. Ein Paket Nickelfolie ist verschwunden, und eine Rolle Kupferdraht ist ebenfalls weg.« Mit dem Finger deutete er ärgerlich auf den unteren Rand der Tür, durch die ich eben eingetreten war. »Und ich schreibe ihm auch die Schuld an jenen ausgenagten Rattenlöchern zu. Sie waren gestern noch nicht vorhanden.« Tatsächlich, am unteren Rand der Tür war eine Anzahl von Löchern. Aber keine Ratte hatte sie gemacht — sie waren zu sauber und glatt und rund, beinahe so, als ob ein Schreiner sie mit einer Lochsäge gemacht hätte. »Welchen Sinn soll es denn haben, wenn das Ding diese Löcher 116
machte?« forschte ich. »Es kann doch nicht durch Öffnungen jener Größe kriechen.« »Worin liegt denn überhaupt der Sinn der ganzen Sache?« parierte Burman. Mit gefurchter Stirn sah er auf die emsige Maschine, die ihn ihrerseits mit ihren ausdruckslosen Linsen anstarrte und unbeirrt weitersurrte. Tick-tick-tick! fuhr das verwirrende Ding fort. Und dann erklang plötzlich: Sirr-r-r — Klatsch — Klick! Ich öffnete den Mund in der Absicht, eine sarkastische Bemerkung über die Maschine zu machen, als plötzlich ein dünnes und feines, jedoch ungeheuer schrilles und singendes Geräusch ertönte. Irgendein kleiner metallischer und glitzernder Körper schoß durch eines der Rattenlöcher herein und flitzte über den Boden auf das surrende Ungeheuer zu. Eine Klappe öffnete sich und verschlang es mit einer derartigen Schnelligkeit, daß es verschwunden war, noch ehe ich erkannt hatte, was ich eigentlich gesehen hatte. Das Ding war ein zylindrischer polierter Gegenstand gewesen, der dem Schiffchen einer Nähmaschine ähnelte, jedoch etwa viermal so groß war. Und es hatte einen ähnlichen kleinen und metallischen Gegenstand hinter sich hergezerrt. Burman starrte mich an, und ich starrte auf Burman. Dann durchsuchte er hastig das Laboratorium, fand ein dreißig Zentimeter langes und einen halben Zoll dickes Stahlrohr, und einen Sessel neben die Tür zerrend, setzte er sich und umklammerte das Rohr wie einen Knüppel. Aufmerksam beobachtete er die Rattenlöcher. Ungerührt beobachtete ihn die Maschine und ließ ihr Tick-tick-tick hören. Zehn Minuten später ertönten plötzlich wieder ein Klicken und ein leises singendes Geräusch. Nichts schoß durch die Löcher herein, sondern das seltsame Ding, das wir bereits gesehen hatten — oder aber ein anderes, das ihm völlig gleichsah — fiel aus der Klappe und schoß auf die Tür zu, an der wir warteten. 117
Burman war völlig überrascht davon. Er holte mit dem Stahlrohr mächtig aus, als das Ding flink an seinen Füßen vorbeistrich und durch ein Loch verschwand. Es war bereits weg, als seine Waffe auf den Boden krachte. »Verdammt!« sagte Burman herzhaft. Er hielt das Rohr lose in seiner Faust, während er böse zu dem beständig arbeitenden Sarg hinüberstarrte. »Ich würde diesen Kasten ja in Stücke schlagen, wenn ich nicht gern zuerst eines dieser kleinen Dinger erwischt hätte!« »Passen Sie auf!« schrie ich gellend. Er kam zu spät. Er riß seine Aufmerksamkeit von dem Sarg los und richtete sie auf die Löcher, wobei er gleichzeitig mit einem bestürzten Ausdruck auf dem Gesicht das schwere Rohr hob. Aber er hatte bei weitem zu langsam reagiert. Drei dieser kleinen und geheimnisvollen Dinger waren durch die Löcher geschlüpft und bereits halb durch den Raum gehuscht, noch ehe er seine Waffe zum Zuschlagen bereit hatte. Der Sarg verschlang sie mit klirrend zuschlagender Klappe. Das eindringende Trio war hintereinander durch den Raum geeilt, und ich hatte mir sie diesmal besser ansehen können. Die beiden ersten waren goldene Schiffchen, dem ersten, das wir gesehen hatten, sehr ähnlich. Das dritte war größer und schneller und erweckte in mir den Eindruck, daß es weit wendiger als die anderen war. An der Vorderseite hatte es eine lange scharfe Spitze, ein gefährliches und unheilvolles Ding, das dem Skalpell eines Chirurgen ähnlich war. Der Geschwindigkeit wegen konnte ich es mir nicht näher ansehen, aber ich stellte mir vor, daß die Spitze des Skalpells rot gefärbt gewesen war. Mir brach der Schweiß aus. Von der Außenseite der Tür her erklang ein irritiertes Kratzen, und dann schob sich eine weißgefleckte Pfote tastend durch eines der Löcher. Die Katze zog sich in sichere Entfernung zurück, als Burman 118
die Tür öffnete, doch sie blickte aufmerksam zum Labor hin. Ihre Anwesenheit bedurfte keiner Erklärung — das wachsame Tier mußte jene höllischen kleinen Zischdinger erblickt haben. Wir hatten beide zur gleichen Zeit denselben Gedanken; Katzen packen schnell zu, sehr schnell. Vielleicht konnte diese, wenn man ihr eine Chance gab, für uns einen Fang machen. Wir lockten sie mit netten Worten und beruhigenden Geräuschen in den Raum. Ihr Eifer besiegte ihre normale Vorsicht Fremden gegenüber, und sie kam herein. Wir schlossen die Tür hinter ihr; Burman ergriff wieder sein Rohr, setzte sich neben der Tür nieder und versuchte ein Auge auf die Löcher, das andere auf die Katze gerichtet zu halten. Er konnte nicht beides zugleich tun, doch er versuchte es. Die Katze schnupperte und strich durch das Labor, kläglich miauend. Ihr Verhalten deutete an, daß sie mehr mit den Augen als mit ihrem Geruchssinn suchte. Sie konnte nirgends einen Geruch aufnehmen. Mit katzenhafter Ausdauer suchte das Tier das ganze Labor ab. Es strich mehrmals an dem summenden Sarg vorbei, ließ ihn jedoch völlig außer acht, Die Katze gab es schließlich auf, setzte sich an den Rand des Labortisches und begann ihr Gesicht zu waschen. Tick-tick-tick! machte die große Maschine. Dann erklang es Sirrr-r-klatsch. Eine Klappe fiel herab, ein Schiffchen fiel heraus und raste auf die Tür zu. Ein zweites folgte. Das erste war selbst für die Katze zu schnell, zu schnell natürlich auch für den überraschten Burman. Päng! Das Stahlrohr schlug klatschend auf, als das erste Schiffchen wie eine Kugel triumphierend durch ein Loch schoß. Aber die Katze erwischte das zweite. Mit einem mächtigen Satz, mit ausgestreckten Pfoten und herausstehenden Krallen fing sie ihr Opfer knapp vor der Tür ein. Sie versuchte, das schlüpfrige Ding zu packen, doch es mißlang ihr, und sie verlor es für einen Augenblick. 119
Das Schiffchen schwenkte in einer wahnwitzigen Schleife herum. Die Katze erwischte es wieder, verlor es erneut, stieß ein wütendes Fauchen aus und schmetterte es gegen die Fußleiste. Das Schiffchen blieb dort auf dem Rücken liegen, und vier winzige Rädchen an seiner Unterseite drehten sich in rasendem Lauf mit einem hohen, kaum wahrnehmbaren singenden Laut. Mit vor Erregung weit geöffneten Augen legte Burman seine Waffe weg und ging hinüber, um das Schiffchen aufzuheben. Gleichzeitig schlich die Katze darauf zu, bereit, damit zu spielen. Das Schiffchen lag dort auf dem Rücken, hilflos funktionierend, und ehe Burman oder die Katze es erreicht hatten, klirrte es von der Maschine her! Eine Klappe öffnete sich, und ein zweites Ding schoß daraus hervor. Mit atemberaubender Schnelligkeit wandte sich die Katze um und ging auf dieses neue Opfer los. Und dann erhob sich ein Höllenlärm. Die Beute machte geschickt eine Schleife und leuchtete dabei wechselnd golden auf. Die Katze folgte ihrer Beute fauchend und spuckend. Schwarz-weißes Fell wirbelte in einem tollen Kampfgetümmel herum, in dem es gelegentlich golden aufleuchtete. Über dem Zischen und Fauchen der Katze lag anhaltend der singende hohe Ton, der anschwoll oder absank, je nachdem, ob sich die Rädchen schneller oder langsamer drehten. Die Katze stieß ein sonderbares Keuchen aus, und Blut spritzte auf den Boden. Das Tier schlug wild um sich und stieß erneut einen keuchenden Laut aus, der von einem Gurgeln gefolgt wurde. Sie zitterte und fiel schlaff in sich zusammen. Ein hellroter Strom floß aus dem tiefen und großen Schnitt in ihrer Kehle. Wir hatten kaum Zeit gehabt, die volle Bedeutung dieser geisterhaften Szene zu erfassen, als der Sieger auf Burman zuschoß. Er stand neben der Fußleiste und hielt das noch immer laut surrende 120
Schiffchen in der Hand. Seine Augen traten vor äußerstem Entsetzen hervor, aber er behielt doch noch genügend Geistesgegenwart, um einen verzweifelten Sprung zu machen, eine Sekunde bevor die wie eine Kugel dahinschießende Drohung seine Füße erreichte. Er kam hinter dem Ding wieder auf den Boden, aber es drehte sich um seine eigene Achse und schoß erneut auf ihn zu. Ich sah den spiegelgleichen Schimmer seines Skalpells, als es mit wahnsinniger Geschwindigkeit durch den Raum jagte, und dieser Schimmer wurde fast von einem klebrigen Hochrot erstickt, das sich mehrere Zentimeter entlang der Schneide hinzog. Burman sprang erneut über es hinweg, erreichte den Labortisch und schwang sich hinauf. »Mein Gott!« keuchte er. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich das Rohr ergriffen, das er weggeworfen hatte. Ich umklammerte es, fühlte sein wohltuendes Gewicht und versuchte dann mein Bestes, um das summende Stück Ungeheuer durch das Fenster hindurch und über die Dächer hinweg zu schlagen. Es war zu wendig für mich. Es wirbelte herum, beschleunigte seine Fahrt, glitt selbst noch direkt unter dem Ende des herabsausenden Stahlrohrs hindurch und schoß zweimal wie der Blitz rund um den Tisch, auf dem Burman Zuflucht gesucht hatte. Es ließ mich völlig außer acht. Irgendwie hatte ich das Gefühl, daß es auf irgendeinen geheimnisvollen Ruf des Schiffchens in Burmans Hand reagierte. Ich schlug verzweifelt zu und traf erneut daneben, obwohl ich, und das kann ich beschwören, auf den Millimeter genau gezielt hatte. Irgend etwas flitzte durch die Löcher in der Tür und floh an mir vorbei in die große Maschine hinein. Undeutlich hörte ich, wie Klappen sich öffneten und wieder zufielen, und über allen anderen Lauten ertönte jenes gleichmäßige, anhaltende Tick-tick-tick. Erneut schlug ich wild zu und erreichte nichts anderes als eine Vertiefung im Boden und eine Prellung meines Schultergelenks. 121
Völlig unerwartet hielt das verdammte goldene Ding plötzlich in seinen wahnsinnigen Drehungen und Wendungen auf dem Boden und rund um den Tisch inne. Mit einem scharfen Klicken und einem Sirren, das viel lauter als zuvor war, raste es an einem Bein des Tisches hinauf und erreichte dessen Platte. Burman verließ seine Zuflucht mit einem gewaltigen Sprung. Noch immer hielt er das Schiffchen fest umklammert. Noch nie zuvor hatte ich sein Gesicht so weiß gesehen. »Die Maschine!« sagte er heiser. »Schlagen Sie sie in Grund und Boden!« Klatsch! machte die Maschine. Eine Klappe gähnte und entließ einen zweiten Dämon mit einem Skalpell. Zss-s-s! Ein dritter schoß durch die Löcher in der Tür herein. Vier Schiffchen rasten hinter ihm her auf die Maschine zu und erreichten sie. Ein fünftes kam langsam herein. Es zerrte eine Autoventilfeder hinter sich her. Noch während ich vergeblich einen Schlag gegen eines der Dinger mit dem Skalpell führte, stieß ich es gegen die Wand. Mit einem zweiten Sprung entging Burman einem der Angreifer. Ein zweiter trennte die Kappe seines rechten Schuhs ab, als er aufsetzte. Erneut erreichte er den Tisch, den sein erster Gegner wieder verlassen hatte. Alle drei Dinger mit Skalpellen schossen mit einer furchterregenden Energie auf den Tisch zu. »Lassen Sie doch das verdammte Schiffchen fallen!« schrie ich gellend. Er ließ es nicht fallen. Als das Kampftrio die Tischbeine hinaufsirrte, schleuderte er das Schiffchen mit aller Macht gegen den Sarg, der es hervorgebracht hatte. Es schlug auf, verbeulte das Gehäuse und fiel auf den Boden. Burman stieg erneut vom Tisch herab, Das Schiffchen, das er geworfen hatte, lag zerschmettert und geräuschlos auf dem Boden, und seine kleinen Laufräder standen still. 122
Die bewaffneten Geräte, die um den Tisch herumjagten, schienen ihre Absicht gleichzeitig mit dem Zerschmettern des gefangenen Schiffchens zu ändern. Gemeinsam rasten sie vom Tisch herunter und jagten durch die Löcher in der Tür davon. Ein viertes kam aus der Maschine heraus und begleitete zwei Schiffchen, und auch diese verschwanden jenseits der Tür. Eine oder zwei Sekunden später kam ein von den übrigen verschiedenes Ding durch eines der Löcher in der Tür herein. Es war lang und rund, mit abgeplatteter Spitze und hatte etwa die halbe Länge eines Polizeiknüppels. An seiner Unterseite hatte es sechs Räder, und vorn waren eine Doppelreihe sonderbarer Zahnungen zu sehen. Es bewegte sich beinahe bummelnd durch den Raum, während wir es fasziniert beobachteten. Ich sah, wie sich die Verzahnungen bewegten und verlagerten, als es durch die herabgelassene Klappe in die Maschine kletterte. Es waren winzige Raupenketten! Burman hatte endgültig genug, und er faßte einen unumstößlichen Entschluß. Er ergriff das Stahlrohr, umklammerte es fest und näherte sich dem Sarg, dessen Linsen ihn spöttisch anzublicken schienen, als er vor ihm stand. Endlose Tage und Nächte der Anstrengung und Mühe sollten mit einem einzigen Schlag zunichte gemacht werden. Aber Burman fragte jetzt nicht mehr danach. Mit einem wilden Schlag zerschmetterte er das Glas, und mit einem heftigen Hieb zerschlug er das ganze Aggregat der dahinterliegenden Zahn- und Kegelrädchen. Der Sarg erzitterte und glitt unter seinen immer wütenderen Schlägen weg. Klappen fielen herab und spien leblose Exemplare der metallischen Brut dieses Apparates aus. Ein Knirschen und Mahlen ertönte aus dem verfluchten Gegenstand, während Burman ihn in Stücke schlug. Dann war er still und lahmgelegt, eine form- und nutzlose Masse von verkrümmten und zerbrochenen Teilen. Ich hob das eingebeulte Gehäuse des Gegenstandes auf, der 123
zuletzt hereingeglitten war. Es war schwer, erstaunlich schwer, und selbst nach teilweiser Zerstörung konnte man noch erkennen, von welch wunderbarer Arbeit es war. Es hatte ein winziges, kaum wahrnehmbares Auge an der Vorderseite, aber die Miniaturlinse war gesprungen. War es zur Reparatur und Überholung zurückgekommen? »Das«, sagte Burman mit hörbarem Keuchen, »wäre getan!« Ich öffnete die Tür, um nachzusehen, ob der Lärm Aufmerksamkeit erregt hatte, was jedoch nicht der Fall war. Vor der Tür lag ein lebloses Schiffchen, und einen Meter dahinter ein zweites. Am ersten war an einem winzigen Haken, der an seiner Rückseite herausragte, ein kurzes Stück Messingkette festgemacht. Die Vorderverkleidung des zweiten hatte sich fächerartig geöffnet, wie ein Irisdiaphragma, und darin lagen ein Paar Metallarme mit Gelenken, die einen mittelgroßen Diamanten umklammert hielten. Es sah so aus, als wären sie gerade im Begriff gewesen, in den Raum einzudringen, als Burman die große Maschine zerstörte. Ich hob sie auf und trug sie hinein. Ihre völlige Reglosigkeit, obwohl sie doch unbeschädigt waren, deutete darauf hin, daß sie von der großen Maschine gesteuert worden waren und ihre Bewegungsenergie von ihr empfangen hatten. War dem aber so, dann hatten wir unser Problem auf einfache Weise gelöst, und indem wir die eine zerstörten, hatten wir sie alle vernichtet. Burman hatte wieder Atem geschöpft und begann zu reden. Er sagte: »Die Robotermutter! Das war es, was ich gemacht habe — ein Duplikat der Robotermutter. Ich erkannte das nicht, sondern baute das gefährlichste Ding der ganzen Schöpfung, ein Ding, das deshalb eine schreckliche Drohung ist, weil es mit der Menschheit die Fähigkeit der Vermehrung gemein hat. Gott sei Dank haben wir der Sache rechtzeitig einen Riegel vorschieben können.« 124
»So«, bemerkte ich, da mir wieder einfiel, daß er behauptet hatte, er hätte es aus fernster Zukunft erhalten, »diese Maschine wird also dereinst der Herr oder die Herrscherin der Erde sein. Das sind ja fürwahr trübe Aussichten für die Menschheit, oder nicht?« »Nicht unbedingt. Ich weiß nicht, wie weit ich eigentlich in die Zukunft vorgedrungen bin, aber ich habe den Eindruck, daß es so ungeheuer weit in der Zukunft war, daß die Erde, vom Standpunkt der Menschen aus gesehen, unfruchtbar geworden war. Vielleicht werden wir dann zu irgendeinem anderen Punkt im Kosmos ausgewandert sein und unsere halbintelligenten Sklavenmaschinen zurückgelassen haben, damit sie um ihr Weiterbestehen oder ihren Untergang kämpfen. Sie kämpften — und überlebten.« »Und dann klauen Sie die Dinger zu Versuchszwecken und wandeln die Vergangenheit zu Ihren Gunsten«, deutete ich an. »Nein, das möchte ich nicht sagen.« Burman war jetzt viel ruhiger geworden. »Ich glaube nicht, daß es ein feiger Versuch, sondern vielmehr ein interessantes Experiment war. Die ganze Geschichte war verdammt weit vorangetrieben, weil der Erfolg ein unmögliches Paradoxon bedeutet hätte. Im nächsten Jahrhundert gibt es weder Roboter noch überhaupt irgendwelche Kenntnisse über sie. Deshalb müssen diese Eindringlinge ausgelöscht und vergessen worden sein.« »Was bedeutet«, warf ich ein, »daß Sie nicht nur die Maschine, sondern auch all Ihre Zeichnungen, alle Ihre Notizen ebenso wie das Psychophon zerstört haben müssen, so daß nichts als einige seltsame Ereignisse und eine Geschichte zurückbleiben, über die ich berichten kann.« »Genau das — ich werde alles zerstören. Ich habe mir die ganze Sache überlegt, und erst jetzt habe ich begriffen, daß mir das Psychophon nie auch nur vom geringsten Nutzen sein kann. Es erlaubt mir nur, jene Dinge zu entdecken oder zu erfinden, von denen 125
die Geschichte festgelegt hat, daß ich sie erfinden soll, und die ich daher mit oder ohne dieses Gerät finden werde. Ich kann mit der Geschichte nicht herumspielen, weder mit der Vergangenheit noch mit der Zukunft.« »Hmm!« Ich konnte in seiner Begründung keinerlei schwache Stellen entdecken. »Haben Sie«, fuhr ich fort, »den Anklang an Bienenpsychologie in unseren Widersachern bemerkt? Sie bauen den Bienenkorb, und daraus tauchten die Arbeiterinnen, Krieger, und« — ich zeigte auf die toten Dinger, die so langsam da-hingebummelt waren — »die Drohnen auf.« »Ja«, sagte er kläglich. »Und ich denke an den Honig — achtzig Uhren! Ganz zu schweigen von irgendwelchen anderen Dingen, über die die Abendzeitungen noch berichten werden, sowie von den Klagen, die wegen der gemetzelten Katzen eingehen werden. Es ist nur gut, daß ich wohlhabend bin.« »Niemand weiß, daß Sie irgend etwas mit diesen Vorfällen zu tun haben. Sie können ja insgeheim bezahlen, wenn Sie es wünschen.« »Das werde ich tun«, erklärte er. »Nun«, fuhr ich fröhlich fort, »Ende gut, alles gut. Gott sei Dank sind wir wieder losgeworden, was wir selbst über uns heraufbeschworen haben.« Mit einem Seufzer der Erleichterung ging ich auf die Tür zu. Das hohe singende Geräusch von Zwergmotoren lenkte meine bestürzte Aufmerksamkeit auf den Boden. Während Burman und ich entgeistert starrten, glitt ein goldenes Schiffchen leicht durch eines der Rattenlöcher, spürte dann den Tod der Robotermutter und schoß durch das andere Loch wieder hinaus, noch ehe ich es aufhalten konnte. Wenn Burman zuvor tief betroffen gewesen war, dann war er es 126
jetzt doppelt. Er kam zur Tür herüber, starrte ungläubig auf den kleinen Ausgang, den das Schiffchen gerade benützt hatte, und dann auf die beiden anderen leblosen, aber unbeschädigten Dinger, die im Raum herumlagen. »Bill«, stieß er schließlich hervor. »Ihre Bienenanalogie war vollkommen. Verstehen Sie denn nicht? Es gibt einen zweiten Schwärm. Eine Königin ist ausgeflogen!« Es gab tatsächlich einen zweiten Schwärm. Während der nächsten achtundvierzig Stunden trieb es dieser ganz toll. Burman verbrachte diese Zeit im Polizeihauptquartier und versuchte die Leute davon zu überzeugen, daß es sich bei seinen Aussagen keineswegs nur um eine phantastische Geschichte handelte, aber was ihm schließlich dabei half, die Polizei von seiner Wahrhaftigkeit zu überzeugen, waren die ebenso phantastischen Berichte, die laufend eingingen. Zunächst hatte der alte Gildersome in seinem Laden gegen Mitternacht einen lauten Krach gehört. Sogleich dachte er an sein wertvolles Lager von Kameras und Miniaturfilmprojektoren, zog seine Hosen an und eilte die Treppe hinab. Ein rasiermesserscharfes Instrument stach ihm durch seinen rechten Spann, als er halbwegs unten war, und er fiel den Rest der Treppe hinab. Dort lag er, schlimm zugerichtet und halb betäubt, während es rings um ihn in der Dunkelheit und Düsternis klickte, tickte und sirrte. Eines nach dem anderen verschwand der kostbare Inhalt seines Kastens mit teuren Linsen durch ein Loch in der Tür. Eine Anzahl von Kegelrädern und Zahnrädern aus den Projektoren verschwanden ebenfalls. Zehn Leute beklagten sich, des Nachts ihrer Uhren und Wecker beraubt worden zu sein. Zwei waren hysterisch. Einer beschwor, daß der Bandit »ein zwei Meter großer schwarzer Käfer« gewesen wäre, der surrte wie ein Spielzeugkreisel. Als er aus dem Bett gestiegen 127
wäre, hätte er seinen Fuß daraufgestellt und gespürt, wie sich das alte und harte Vieh unter ihm weggedrückt hätte. Von Abscheu erfüllt, hätte er darauf schnell seinen Fuß ins Bett zurückgezogen, gerade als ein zweiter Käfer auf ihn zugekommen sei. Burman erzählte diesem erregten Kläger nicht, wie nahe er daran gewesen war, seinen Fuß zu verlieren. Dreißig weitere Berichte liefen am nächsten Tage ein. In ein Dutzend Häuser war eingedrungen worden, und vier Geschäfte waren von Dingern ausgeraubt worden, die an Beweglichkeit und Schnelligkeit Ratten ähnelten — außer daß sie leise tickten und summende Geräusche von sich gaben. Eines war von einem nach Hause gehenden Eisenbahner gesehen worden, wie es die Straße entlangraste. Er versuchte, es aufzuheben, verlor seinen Zeigefinger und Daumen und blieb auf der Stelle stehen und versorgte die beiden Stümpfe, bis ein Ambulanzwagen ihn eilig wegbrachte. Seltene Metalle und Uhrwerksteile waren die Beute dieser tickenden Räuber. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie Burman oder irgend jemand anders sie ein für allemal vernichten konnte, aber er brachte es fertig. Er brachte es fertig, indem er sie wie Ratten köderte. Ich ging mit ihm durch die Gegend und half ihm bei seiner Arbeit, während er eine Stadtkarte studierte. »Jeder Bericht«, sagte Burman, »führt zu dieser Straße hier. Ein Wecker, der plötzlich zu rasseln begann, wurde hier im Stich gelassen. Zwei Autos wurden hier kleiner Teile beraubt. Schiffchen sind hier in dieser Gegend gesehen worden. Fünf Katzen wurden praktisch an diesem Fleck hier umgebracht. Jeder andere Vorfall ist in allernächster Nähe geschehen.« »Was bedeutet«, vermutete ich, »daß die Königin sich irgendwo in der Nähe dieser Stelle befinden muß?« »Ja.« Er starrte die ruhige und leere Straße hinauf und hinab, über 128
die die Mondsichel ihr schwaches Licht goß. Es war morgens zwei Uhr. »Wir werden diese Angelegenheit sehr bald zu einem Abschluß bringen.« Er befestigte das Ende einer Rolle festen Baumwollzwirns an einer kleinen Silberkette, nagelte die Fadenrolle an der Hauswand fest und ließ die Kette auf den Betonboden fallen. Ich tat dasselbe mit dem Werk einer defekten Taschenuhr. Wir verstreuten mehrere kleine Kugelräder, einige Zahnräder aus Uhren, mehrere Kamerabestandteile sowie einige Kupferdrahtenden und andere verlockende Gegenstände. Drei Stunden später kehrten wir von der Polizei begleitet zurück. Die Polizisten hatten Vorschlaghämmer und andere schwere Gegenstände bei sich. Wir alle trugen stählerne Fuß- und Beinverkleidungen, die kurzfristig angefertigt worden waren. Die Köder waren angenommen worden! Mehrere Baumwollfäden waren abgerissen, nachdem sie eine kurze Strecke abgerollt worden waren. Andere aber waren noch intakt. Alle führten oder zeigten auf ein Stahlgitter, das zum Keller unter einem verlassenen Lagerhaus hinabführte. Als wir hinabblickten, konnten wir einige aufschlußreiche Fäden erkennen, die alle durch einen unter uns liegenden Fensterrahmen liefen. Burman sagte: »Jetzt!« und wir stürzten eilig hinein. Rostige Schlösser schnappten auf, morsche Türen brachen zusammen. Wir stürmten durch das Lagerhaus in den Keller hinab. Dort stand ein kleiner sargförmiger Gegenstand an der einen Wand, ein Ding, das beständig weitertickte, während seine Linsen mit einer gespenstischen Ausdruckslosigkeit auf uns starrten. Es war der Robotermutter sehr ähnlich, hatte jedoch nur etwa ein Viertel ihrer Größe. Im Schein einer Polizeistablampe war es ein dräuendes, unheilvolles Ding voll schrecklicher Bedeutung. Rundherum 129
schwärmte eine äußerst lebendige Sippschaft summend und tickend mit metallischer Wildheit über den Boden. Inmitten wütenden Sirrens und des Krachens von gegen Stahl stoßenden Skalpellen, wateten wir schnurstracks durch die Meute hindurch. Burman erreichte den Sarg zuerst und zerschlug ihn mit einem einzigen mächtigen Schwung eines Zwölfpfundhammers. Dann vernichtete er ihn bis zur Unkenntlichkeit mit einer schnellen Folge von Schlägen. Erschöpft hielt er inne. Die Tochter der Robotermutter existierte nicht mehr, und ihr Stamm rührte und regte sich nicht mehr. Sich auf eine morsche Kiste niedersetzend, rieb Burman seine Augenbrauen und sagte: »Gott sei Dank, das wäre getan!« Tick-tick-tick! Er schoß hoch und ergriff mit einem wilden Blick in den Augen seinen Hammer. »Es ist nur meine Taschenuhr«, entschuldigte sich einer der Polizisten. »Es ist ein billiges Ding, und macht einen höllischen Lärm.« Er zog die Uhr heraus und zeigte sie dem besorgten Burman. »Tick! Tick!« machte die Uhr mit mechanischer Selbstsicherheit. Originaltitel: MECHANICAL MICE
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ICH BIN NICHTS »Schicken Sie das Ultimatum ab!« stieß David Korman zwischen den Zähnen hervor. »Jawohl, Sir, aber —« »Was aber?« »Das bedeutet vielleicht Krieg.« »Was ist schon dabei?« »Nichts, Sir.« Der andere suchte nach einem Ausweg. »Ich dachte nur —« »Sie werden nicht dafür bezahlt, daß Sie denken«, erwiderte Korman scharf, »sondern daß Sie meine Befehle ausführen.« »Natürlich, Sir. Gewiß.« Dienstbeflissen raffte er seine Papiere zusammen und ging rückwärts schreitend zur Tür. »Ich werde das Ultimatum an Lani sofort abschicken lassen.« »Es könnte schon unterwegs sein.« Unwillig schaute Korman über seinen prunkvollen Schreibtisch hinweg zur Tür, die leise geschlossen wurde. Ein Speichellecker! Er war von Speichelleckern umgeben, von Feiglingen, Schwächlingen. Überall standen sie unterwürfig bereit, seinem Wink zu gehorchen. Sie trugen ein falsches Lächeln zur Schau, pflichteten jedem Wort bei, das er äußerte. Die übertriebene Achtung, die sie ihm entgegenbrachten, diente nur dazu, ihre eigene Feigheit zu verdecken. Und warum taten sie das? Er, David Korman, war stark. Seine Stärke, die sich in jeder seiner Bewegungen, in jedem seiner Worte äußerte, machte ihn unangreifbar. Sein stämmiger Körperbau, sein energisches Kinn, die buschigen Augenbrauen und die stahlharten 131
grauen Augen ließen auf den ersten Blick erkennen: Er war ein Mensch mit unbegrenzter Macht, mit geistiger und körperlicher Stärke! Und das war auch gut so. Es ist ein Naturgesetz, daß der Schwache dem Starken weichen muß. Ein Gesetz, das keine Ausnahmen kennt. Und außerdem brauchte Morcine einen starken Mann. Morcine ist ein kleiner, noch unbedeutender Planet eines Sonnensystems, dem unzählige, kriegerische Planeten angehören, und wie diese aus dem lange unentdeckt gebliebenen Nebel der Sonne Sol entstanden. Mit seinem breiten, schweren Daumen drückte er auf einen Knopf seiner Sprechanlage und sprach in das kleine Mikrofon aus Silber: »Schicken Sie sofort Flottenkommandeur Rogers herein!« Es klopfte an die Tür. Auf sein herrisches »Herein!« wurde die Tür geöffnet. Als Rogers vor seinem Schreibtisch stand, bellte Korman: »Das Ultimatum ist unterwegs.« »Wirklich, Sir? Glauben Sie, daß es angenommen werden wird?« »Das spielt keine Rolle«, erklärte Korman. »Wir verfolgen auf jeden Fall unseren eigenen Kurs.« Sein Blick hatte etwas Herausforderndes an sich. »Ist die Flotte mobilisiert, wie ich befohlen habe.?« »Jawohl, Sir.« »Sind Sie dessen sicher? Haben Sie sich selbst davon überzeugt?« »Jawohl, Sir.« »Gut. Meine Befehle lauten: Die Flotte beobachtet die Ankunft unseres Kuriers auf Lani und gewährt dem Planeten vierundzwanzig Stunden Zeit für eine zufriedenstellende Antwort.« »Und wenn diese ausbleibt?« 132
»Dann erfolgt eine Minute später Angriff auf der ganzen Linie. Die Flotte hat zunächst die Aufgabe, einen Brückenkopf zu erobern und ihn zu halten. Sodann wird Verstärkung herangezogen. Danach wird die Eroberung des Planeten in Angriff genommen.« »Verstanden, Sir.« Für Rogers war die Unterhaltung beendet. »Keine weiteren Befehle?« »Doch«, hielt ihn Korman zurück. »Es ist mein Wunsch, daß bei der Landeaktion das Schiff meines Sohnes als erstes auf Lani landet.« Rogers fuhr zusammen. Nervös gab er zu bedenken: »Aber, Sir, als junger Leutnant kommandiert er nur ein kleines Schiff mit ungefähr zwanzig Mann Besatzung. Man müßte eines unserer größeren Schlachtschiffe —« »Mein Sohn landet als erster!« Korman stand auf und beugte sich über seinen Schreibtisch, den Blick kalt auf sein Gegenüber gerichtet. »Die Nachricht, daß Reed Korman, mein einziges Kind, in vorderster Front gekämpft hat, wird eine ausgezeichnete psychologische Wirkung auf die breite Masse des Volkes ausüben. Dies ist ein Befehl, Rogers!« »Und wenn ihm etwas zustößt?« fragte Rogers zögernd. »Wenn er verletzt wird? Oder getötet?« »Dadurch«, hielt ihm Korman entgegen, »kann die psychologische Wirkung nur erhöht werden.« »Zu Befehl, Sir.« Rogers machte eine Kehrtwendung und verließ mit unbewegter Miene das Zimmer. Unbeweglich und mit ausdruckslosen Gesichtern stand die Polizei-Eskorte, als Korman aus seinem riesigen Dienstwagen stieg. Wie üblich schaute er mit seinem strengen Blick über sie hinweg, während der Fahrer die Tür aufhielt. Dann stieg Korman die Treppe 133
zu seinem Haus hinauf. Als er die sechste Stufe betrat, wurde die Wagentür zugeklappt. Jeden Tag war es die sechste Stufe, nie die fünfte oder die siebente. Innen wurde er vom Dienstmädchen erwartet, das jeden Tag an derselben Stelle bereitstand, um ihm Mütze, Handschuhe und Mantel abzunehmen. Sie bewegte sich steif und schüchtern und schaute ihm nie ins Gesicht. Kein einziges Mal in vierzehn Jahren hatte sie die Augen aufgeschlagen. Mit einer unwilligen Gebärde schob er sie beiseite und betrat das Speisezimmer. Korman setzte sich und betrachtete über das breite, mit Silber und Kristall beladene Tischtuch hinweg nachdenklich seine Frau. Sie war groß und blond, mit blauen Augen, und mußte früher eine außerordentliche Schönheit gewesen sein. Wie oft hatte er sich früher an der katzenhaften Geschmeidigkeit ihrer Bewegungen erfreut. Jetzt war ihre Figur voller geworden, und rund um ihre treuen, geduldigen Augen hatten sich Falten eingegraben, die nicht vom Lachen stammten. »Ich hatte es satt mit Lani«, verkündete er. »Wir wollen ein Exempel statuieren. Das Ultimatum ist unterwegs.« »Ja, David.« Genau diese Antwort hatte er erwartet, er hätte sie an ihrer Stelle geben können. Diese Antwort war sozusagen ihr Losungswort, an dem er sie erkannte. So war es schon immer gewesen, und so würde es auch bleiben. Vor vielen Jahren, vor genau einem Vierteljahrhundert, hatte er mit der gebührenden Höflichkeit gesagt: »Mary, ich möchte Sie heiraten.« »Ja, David.« 134
Sie hatte diese Heirat nicht gewollt — ihre Familie hatte diese Vereinbarung für sie getroffen, und sie hatte darin eingewilligt. So ist das Leben: Es gibt Menschen, die geschoben werden, und solche, die sie schieben. Mary gehörte zu den ersteren. Und diese Tatsache hatte Korman bald den Geschmack an der Liebe verdorben. Die Eroberung war ihm zu leicht gefallen. Korman war der Typ eines Eroberers und mochte keine leichten Eroberungen. Später, als die Zeit dazu gekommen war, hatte er zu ihr gesagt: »Mary, ich möchte einen Sohn.« Und auch diesen Befehl hatte sie widerspruchslos ausgeführt. Ohne Ausflüchte zu versuchen, ohne ihm zum Zeichen eines passiven Widerstandes ein so nutzloses Wesen wie eine Tochter zu gebären. Nein — ein Sohn war es, acht Pfund schwer, der dann später Reed genannt wurde. Den Namen hatte natürlich er ausgesucht. Seine breite Kinnlade schob sich herausfordernd nach vorn, als er fortfuhr: »Ich bin fast sicher, daß dieses Ultimatum Krieg bedeutet.« »Ja, David?« Ihre Antwort verriet nicht die geringste innere Anteilnahme. Unverändert, mit ausdruckslosem Gesicht und unterwürfigem Blick, sah sie ihn an. Schon immer hatte er sich gefragt, ob sie ihm gegenüber einen so abgrundtiefen Haß empfand, daß sie diesen um jeden Preis verbergen wollte, aber nichts herausgefunden. Eines stand fest: Sie fürchtete ihn und hatte dies vom ersten Tag an getan. Alle fürchteten ihn. Alle, ohne Ausnahme. Denen, die ihn nicht von der ersten Begegnung an fürchteten, brachte er es früher oder später bei. Es war gut, gefürchtet zu sein. Es war ein ausgezeichneter Ersatz für Gefühle, die er nie empfunden und nie gekannt hatte. Als Kind hatte er sich schrecklich vor seinem Vater gefürchtet; auch vor seiner Mutter. So sehr, daß er ihren Tod als eine ungeheuere 135
Erleichterung empfand. Jetzt war er an der Reihe. Auch das ist ein Naturgesetz, recht und billig. Was eine Generation errungen hat, soll sie an die nächste weitergeben. Und was ihr versagt war, soll auch der nächsten Generation versagt bleiben. Das war die Gerechtigkeit! »Reed steht mit seinem Aufklärer bei der Flotte in Alarmbereitschaft.« »Ich weiß, David.« Er zog die Augenbrauen hoch. »Woher weißt du das?« »Ich habe vor ein paar Stunden einen Brief von ihm bekommen.« Sie gab ihm ein Blatt Papier. Langsam und bedächtig faltete er es auseinander. Er wußte im voraus, wie die ersten zwei Worte lauteten. Als er es geöffnet hatte, stellte er fest, daß er es verkehrt in der Hand hielt, drehte es um und las. »Liebe Mutter.« Das war ihre Rache! Mary, ich möchte einen Sohn. Sie hatte ihm den Sohn geboren — und wieder genommen. Jetzt kamen die Briefe, manchmal zwei in der Woche, manchmal einer in zwei Monaten, je nach dem Standort seines Schiffes. Immer waren sie so geschrieben, als wären sie an beide gerichtet, immer enthielten sie den Ausdruck der Zuneigung zu beiden Elternteilen, den Wunsch, es möge ihnen beiden gut gehen. Aber immer begannen sie mit »Liebe Mutter«. Nie mit »Lieber Vater«. Das war die Rache! 136
Die Stunde X kam und ging vorüber. Morcine befand sich in einem Zustand fieberhafter Aufregung. Niemand, auch Korman nicht, wußte, was draußen im Weltraum geschah, die Nachrichten brauchten zu lange für diese ungeheuere Entfernung. Die Funksprüche der Flotte wurden erst viele Stunden später aufgefangen. Die erste Meldung wurde auf kürzestem Wege zu Korman geleitet, der an seinem Schreibtisch saß und darauf wartete. Sie besagte, die Lanier hätten mit einem Protest und einem — wie sie es nannten — Appell an die Vernunft geantwortet. Gemäß den ihm erteilten Befehlen hatte der Kommandeur der Flotte diese Antwort als unbefriedigend zurückgewiesen. Der Angriff rollte. »Sie bitten um Vernunft«, grollte er. »Das heißt, wir sollen sanft mit ihnen umgehen. Das Leben ist nicht für die Sanften gemacht.« Er blickte auf. »Oder?« »Nein, Sir«, stimmte der Kurier pflichtbewußt zu. »Sagen Sie Bathurst, er soll das Tonband zur Sendung freigeben.« »Jawohl, Sir.« Als der Mann die Tür hinter sich geschlossen hatte, schaltete er sein Funkgerät ein und wartete. Nach zehn Minuten kam sie, die lange, lautstarke, tönende Rede, die er schon vor mehr als einem Monat aufgesetzt hatte. Zwei Themen hatte sie zum Inhalt: Zielstrebigkeit und Stärke. Besonders Stärke. Grimmig, aber ohne sich hinreißen zu lassen, legte er die angeblichen Gründe dieses Krieges im einzelnen dar. Diese Selbstbeherrschung war ein rhetorischer Kunstgriff; er sollte zeigen, daß die gegenwärtige Lage unvermeidlich war und daß die Starken so viel Selbstvertrauen zeigen können, daß sie sich niemals zu etwas hinreißen lassen. 137
Die Aufzählung selbst langweilte ihn. Der Starke weiß, daß es nur einen Grund für den Krieg gibt. Und daß die Vielzahl der Gründe, von denen die Geschichtsbücher nachher berichten, in Wirklichkeit keine Gründe sind, sondern nur plausibel präsentierte Vorwände. Es gibt nur einen einzigen echten Anlaß für den Krieg, und dieser bestand schon zu der Zeit, als der Mensch noch im Urwald lebte. Wenn zwei Affen dieselbe Banane haben wollen — dann gibt es Krieg. Natürlich durfte er das in seiner Rundfunkansprache nicht so drastisch ausdrücken, sondern mußte seinen Hörern die Lage schonend beibringen. Schwache Gemüter brauchen Brei. Rohes Fleisch können nur die Starken vertragen. Und diese Diät verschrieb er seinen Hörern, die an ihren Geräten seine Ansprache an das Volk des ganzen Planeten Morcine verfolgten. Nachdem seine Sendung mit ermutigenden Ausführungen über die unüberwindbare Stärke des Morcine geendet hatte, lehnte er sich in seinen Sessel zurück und überlegte. Es konnte keine Rede davon sein, Lani durch ein Bombardement aus großer Höhe zur Unterwerfung zu zwingen. Alle Städte dieses Planeten lagen unter einem bombensicheren Schutzmantel aus hemisphärischen Kraftfeldern. Aber auch ohne diesen Schutz hätte er ihre Vernichtung nicht befohlen. Es bedeutete keinen Sieg, öde Bombentrichter zu erobern. Er hatte genug von solchen Siegen. Unwillkürlich glitt sein Blick hinüber zum Bücherschrank, zu der Fotografie, die er selten und auch dann nur flüchtig betrachtete. Jahrelang stand sie schon dort, ein Gegenstand, den er nur noch im Unterbewußtsein vermerkte. Sie war nicht mehr so, wie ihr Bild sie zeigte. Und wenn er darüber nachdachte, dann war sie eigentlich nie so gewesen. Sie hatte ihm Gehorsam und Furcht entgegengebracht, noch bevor er erkannt 138
hatte, daß er dies in Ermangelung eines anderen Gefühls brauchte. Die ganze Zeit über hatte er etwas erwartet, was er nie finden konnte. Soweit er sich entsinnen konnte, hatte er es selbst in seiner Jugend nie finden können, bei niemandem und nie. Nie. Er zwang sich wieder, an den Krieg gegen Lani zu denken. Der Schlachtplan richtete sich nach den örtlichen Gegebenheiten. Ein Brückenkopf mußte erobert werden, in den ohne Unterbrechung Truppen, Waffen und Hilfseinheiten nachgeschoben wurden. Von da aus mußten sich die Truppen Morcines ausbreiten und Stück um Stück das ungeschützte Gelände einnehmen, bis schließlich die durch Energieschirme geschützten Städte eingekesselt waren. Die Städte wurden dann so lange belagert, bis sie sich wegen Mangel an Verpflegung ergeben mußten. Die Eroberung des feindlichen Geländes war das hauptsächliche Ziel. Trotz der interplanetarischen Raumschiffe, trotz der Kraftfelder und trotz aller anderen Erfindungen der Neuzeit war es also immer noch der Infanteriesoldat, der die Schlacht entschied. Maschinen konnten zwar angreifen und vernichten, aber nur Menschen konnten etwas erobern und verteidigen. Deshalb war es auch kein Blitzkrieg von fünf Minuten, der jetzt bevorstand. Er konnte ein paar Monate dauern, vielleicht auch ein Jahr, und er würde sich genau so abspielen wie im Krieg des alten Stils: Landkämpfe um befestigte Plätze, Bombardierungen von Rollbahnen, von strategisch wichtigen Knotenpunkten, Ansammlungen und Aufmarschgebieten des Feindes und ungedeckten, aber hartnäckig verteidigten Städten. Vieles würde zerstört werden, restlos vernichtet. Und in der Stunde seines Triumphes würde Morcine den Feinden Furcht einflößen. Morcine und er, Korman. Wer gefürchtet ist, wird auch geachtet, und das gehört sich so. 139
Gegen Ende des Monats trafen die ersten farbigen Bildberichte aus dem Kampfgebiet ein. Die erste Aufführung fand bei ihm zu Hause statt, in einer geschlossenen Gesellschaft von Leuten, die er selbst ausgesucht hatte. Seine Frau, eine Gruppe von Regierungsbeamten und ein paar auserwählte Stabsoffiziere. Unbeeindruckt von der Luftabwehr auf Lani, die sich von Anfang an als sehr schwach erwiesen hatte und die jetzt schon beinahe völlig vernichtet war, landeten die langen, schwarzen Flugkörper von Morcine auf dem Brückenkopf, der ständig erweitert wurde, und brachten Nachschub heran. Die Truppen stießen auf ihrem Vormarsch nur auf vereinzelte Widerstandsnester, die sie mit ihrer haushohen Übermacht an Waffen und Material niederwalzten. Dann schwenkte die Kamera des Berichterstatters auf eine große Brücke, in der riesige Lücken klafften. Die Stützbalken und Pfeiler lagen kreuz und quer durcheinander. Darauf führte die Kamera die Zuschauer durch sieben zerstörte Dörfer, die sich nicht sofort ergeben hatten. Überall auf den Straßen waren tiefe Bombentrichter, und die Häuser waren bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Dann kam ein Angriff auf einen Bauernhof, vom Berichterstatter in vorderster Front gefilmt. Eine Patrouille wurde plötzlich beschossen, ging in Deckung und zog sich zurück. Auf ihre Anforderung erschien ein mächtiges Ungetüm mit ohrenbetäubendem Rasseln, ging in Reichweite der Kamera in Stellung und richtete den Turm drohend auf das Haus. Ein dicker, wuchtiger Strahl ergoß sich über das Dach und steckte das Anwesen in Brand. Gestalten erschienen im Freien und suchten Schutz in einem nahegelegenen Dickicht. Im Lautsprecher ertönte ein ratterndes Geräusch. Die Gestalten stürzten zu Boden, wälzten sich und blieben dann regungslos liegen. Als der Film zu Ende war, sagte Korman: »Ich gebe den Streifen zur Veröffentlichung frei.« Dann erhob er sich und fügte unwillig hinzu: »Aber ich habe daran etwas auszusetzen. Mein Sohn hat das 140
Kommando einer Infanteriekompanie übernommen. Er tut seine Pflicht wie jeder andere. Warum wurde er nicht gezeigt?« »Wir wollten ihn ohne Ihre ausdrückliche Genehmigung nicht filmen, Sir«, entschuldigte sich einer. »Ich genehmige es nicht nur — ich befehle es. Sorgen Sie dafür, daß er das nächste Mal zu sehen ist. Nicht im Vordergrund. Gerade so, daß er vom Volk erkannt wird, wie er die Gefahren und Entbehrungen mit den anderen teilt.« »Jawohl, Sir!« Sie packten ihre Geräte ein und gingen. Korman wanderte ruhelos auf dem dicken Teppich vor der elektrischen Heizung auf und ab. »Sie sollen wissen, daß Reed dabei ist«, brummte er, als ob er sich dafür zu verantworten habe. »Ja, David.« Sie hatte ihre Stricknadeln zur Hand genommen und klapperte eifrig damit. »Er ist mein Sohn.« »Ja, David.« Er blieb stehen und nagte gereizt an seiner Unterlippe. »Kannst du mir nichts anderes antworten?« Sie hob den Blick zu ihm auf. »Soll ich das denn?« »Ob du sollst!« Er ballte die Fäuste, als er seine ruhelose Wanderung fortsetzte, während sie sich wieder ihren Stricknadeln zuwandte. Vier Monate später war der Brückenkopf auf Lani auf tausend Quadratmeilen erweitert worden, und immer noch strömte der Nachschub an Truppen und Waffen. Es ging langsamer voran, als man erwartet hatte. Vom Oberkommando waren geringfügige Fehler begangen worden, unvorhergesehene Hindernisse waren aufgetaucht, 141
die bei einem Krieg mit langem Anmarschweg unvermeidbar sind, und erbitterter Widerstand war geleistet worden, wo man ihn am wenigsten erwartet hatte. Trotzdem ging es voran. Korman kam nach Hause und hörte die Wagentür zuschlagen, als er auf der sechsten Stufe stand. Alles war wie früher, nur daß sich die Leute jetzt darin gefielen, ihn bei sich zu Hause zu feiern. Das Dienstmädchen wartete, nahm ihm seine Sachen ab. Schwerfällig stapfte er ins Wohnzimmer. »Reed ist zum Capitain befördert worden.« Sie gab keine Antwort. Er baute sich breit und massig vor ihr auf und fragte: »Interessiert dich das nicht?« »Natürlich, David.« Sie legte ihr Buch beiseite, faltete die Hände und schaute zum Fenster hinaus. »Was ist mit dir los?« »Mit mir?« Ihre blonden Augenbrauen wölbten sich, als sie den Blick zu ihm hob. »Nichts. Warum fragst du?« »Ich weiß es aber.« Sein Ton wurde schärfer. »Und ich will es dir sagen: Es paßt dir nicht, daß Reed dort draußen ist. Du nimmst es mir übel, daß ich ihn dir weggenommen habe. Du glaubst es sei mehr dein Sohn als meiner. Du —« Ruhig hielt sie seinem Blick stand. »Ich glaube, du bist müde, David. Du hast Sorgen.« »Ich bin nicht müde«, wehrte er ab, lauter als es nötig gewesen wäre. »Und ich habe auch keine Sorgen. Nur Schwache haben Sorgen.« »Vielleicht bist du nur hungrig.« Sie setzte sich zu Tisch. »Iß eine Kleinigkeit. Es wird dir guttun.« 142
Unzufrieden und verstimmt nahm er sein Abendessen ein. Mary verschwieg ihm etwas. Er kannte sie genau genug, um das zu wissen, denn schließlich hatte er sein halbes Leben mit ihr verbracht. Aber er brauchte es nicht mit Gewalt aus ihr herauszuholen. Als er seine Mahlzeit beendet hatte, rückte sie mit ihrem Geheimnis heraus. »Von Reed ist ein Brief gekommen.« »Ja?« Er griff nach seinem Weinglas. Das Essen hatte ihn etwas beruhigt, aber er wollte sich das nicht anmerken lassen. »Ich weiß, daß es ihm gut geht, daß er gesund und unverletzt ist. Wenn ihm etwas zustoßen würde, wäre ich der erste, der es erfährt.« »Willst du nicht sehen, was er schreibt?« Sie holte den Brief von ihrem kleinen dunkelbraunen Schreibtisch und hielt ihn Korman entgegen. Er warf einen kurzen Blick darauf, ohne ihn jedoch in die Hand zu nehmen. »Vermutlich das übliche Gequassel über den Krieg.« »Ich glaube, du solltest ihn doch lesen«, forderte sie hartnäckig. »Wirklich?« Er nahm den Brief aus ihrer Hand, faltete ihn auseinander und schaute sie fragend an. »Warum sollte mich dieses Schreiben besonders interessieren? Ist es anders als die übrigen Briefe? Ich weiß, ohne ihn gelesen zu haben, daß er nur an dich gerichtet ist. Nicht an mich. Noch nie in seinem Leben hat Reed einen Brief ausdrücklich an mich geschrieben.« »Er schreibt an uns beide.« »Warum beginnt er dann nicht mit >Lieber Vater und liebe Mutter