Sinnformeln
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Linguistik ⫺ Impulse & Tendenzen Herausgegeben von
Susanne Günthner Klaus-Peter Konerding Wolf-Andreas Liebert Thorsten Roelcke 2
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Sinnformeln Linguistische und soziologische Analysen von Leitbildern, Metaphern und anderen kollektiven Orientierungsmustern Herausgegeben von
Susan Geideck Wolf-Andreas Liebert
Walter de Gruyter · Berlin · New York
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪
das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 3-11-017883-4 ISSN 1612-8702 Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ⬍http://dnb.ddb.de⬎ abrufbar.
쑔 Copyright 2003 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz: Claudia Wild, Stuttgart Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin
Danksagung Alle Autorinnen und Autoren haben sich durch lngere Kommentare der Herausgeber arbeiten mssen. Die Kommentare veranlassten die Autorinnen und Autoren zu teilweise deutlichen berarbeitungen. In jedem Beitrag ist das Bemhen sprbar, den Text interdisziplinr zugnglich zu machen, indem etwa bestimmte Termini erklrt werden, die im engeren Fachkontext selbstverstndlich sind. Fr diese Mhe sind wir den AutorInnen besonders dankbar. Schließlich mchten wir Heike Bcker und Thomas Metten, studentische Hilfskrfte am Campus Koblenz, fr die orthografische Durchsicht und Formatierung der Texte danken.
Inhalt Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Susan Geideck und Wolf-Andreas Liebert Sinnformeln. Eine soziologisch-lingustische Skizze . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Theoretische Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Tilla Siegel Denkmuster der Rationalisierung. Ein soziologischer Blick auf Selbstverstndlichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Karsten Kassner Soziale Deutungsmuster – ber aktuelle Anstze zur Erforschung kollektiver Sinnzusammenhnge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Martin Wengeler Argumentationstopos als sprachwissenschaftlicher Gegenstand. Fr eine Erweiterung linguistischer Methoden bei der Analyse ffentlicher Diskurse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Wolf-Andreas Liebert Wissenskonstruktion als poetisches Verfahren. Wie Organisationen mit Metaphern Produkte und Identitten erfinden . . . . . 83
Machtvolle Sinnformeln. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Brigitte Aulenbacher Rationalisierungsleitbilder – wirkmchtig, weil machtvoll und machbar . . . . . 105 Josef Klein Universitt als Unternehmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Nicole Hroch Metaphern von Unternehmern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
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Inhalt
Sinnformeln in Organisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Petra Wassermann Leitbildwandel und Gewerkschaften – institutionentheoretische berlegungen aus Anlass einer empirischen Fallstudie. . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Kirsten Nazarkiewicz Praxis der Leitbildentwicklung – eine ethnolinguistische Perspektive auf die Versprachlichung von Werten einer Organisation . . . . . . . . . . . . . . . 177 Alexander Bogner „Unsere Aufgabe ist es halt, ganz klare Grenzen zu ziehen“ – Gestaltungszwnge und professionelle Handlungsorientierungen in der Humangenetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Susan Geideck Leitbilder und organisationaler Wandel. Diskutiert am Beispiel der Reform der bundesdeutschen Kommunalverwaltungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225
Sinnformeln crosskulturell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Andreas Musolff Metaphor scenarios in political discourse in Britain and Germany . . . . . . . . . 259 Reiner Keller Kultur als Diskursfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283
Die Gegenwart der Vergangenheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Franc Wagner Metaphernszenarien in der Zwangsarbeiter-Kontroverse . . . . . . . . . . . . . . . 309 Olaf Jkel Die Geschichte der Konzeptualisierung von Wissenschaft als Entwicklungsgeschichte eines metaphorischen Szenarios . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347
Einleitung
Susan Geideck und Wolf-Andreas Liebert
Sinnformeln Eine soziologisch-linguistische Skizze Wir knnen nur in dem von uns selbst erzeugten Sinnhaften leben und berleben; der Sinn ist unser Milieu, das wir aufbauen, aufrecht erhalten, pflegen und bei Krisen reparieren und ab und an revolutionieren. Durch Antworten auf existenziell grundlegende Fragen spannen wir ein Koordinatensystem des Sinns auf, das uns eine grundlegende Orientierung verschafft. Zu den existenziellen Grundfragen zhlen wir die folgenden:1 Frage nach der Identitt: Wer sind wir? Frage nach der Geschichte: Woher kommen wir? Frage nach der Gegenwart: Wo stehen wir? In welcher Situation befinden wir uns? Frage nach der Zukunft: Wohin gehen wir? Was erwarten wir? Was erwartet uns? Was mssen wir tun? Die Antworten auf diese Grundfragen wollen wir als „Sinnformel“ bezeichnen. Eine Sinnformel ist ein symbolischer Formenkomplex, der eine komprimierte Antwort auf eine oder mehrere Grundfragen darstellt. Sie kann fr nur eine soziale Gruppe oder auch fr große Kollektive Gltigkeit haben. Die Antworten auf diese Frage knnen nun nicht beliebige sein, sondern mssen fr die betroffenen Akteure subjektiv sinnhaft sein. Sinn ist daher nicht objektiv bestimmbar, sondern subjektiv konstruiert. Ob etwas einen Sinn ergibt, kommt auf den Standpunkt des Betrachters an. Will man diesen Sinn erforschen, muss man deshalb die unterschiedlichen Standpunkte der verschiedenen Betrachter kennen lernen. Durch die Konstitution von Sinn entsteht eine Orientierung, die eine wechselseitige Bezugnahme der beteiligten Akteure ermglicht. Fr Max Weber stellt sie die Voraussetzung dar, berhaupt von sozialem Handeln und sozialen Beziehungen zu sprechen: „‚Handeln‘ soll dabei ein menschliches Verhalten heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden. ‚Soziales‘ Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist“ (Weber, 1980, §1).
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Zur Einfhrung von existenziellen Grundfragen als Grundlage der Sinnkonstitution in sozialen Gruppen vgl. Liebert 2003a, 2003b.
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Dass der subjektiv gemeinte Sinn ein zutiefst sozialer ist, die Sinnformeln immer kollektiv geteilte, interaktiv entstandene und in der Regel den Subjekten vorgngig, wenn auch nicht ußerliche sind, wird mit diesem berhmten Zitat ebenfalls deutlich. Ohne auf die zentrale Unterscheidung der verschiedenen Handlungstypen und die beiden Modi sozialer Beziehungen – Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung – hier nher einzugehen, wenden wir uns direkt einer weiteren konstituierenden Funktion von Sinn zu, die Weber ausmacht. Soziale Beziehungen, soziales Handeln als die wechselseitige Bezugnahme auf das sinnhafte Handeln des jeweils anderen werden stabilisiert durch soziale Regeln, denen ein Legitimittsglauben zugesprochen werden kann. Dieser Legitimittsglauben stellt die Verbindlichkeit von Regeln her. Zur Erluterung wollen wir das Beispiel der Fließbandarbeit einfhren: Es sind nicht einfach die Anweisungen und Handlungsmuster oder die arbeitsorganisatorischen Notwendigkeiten, nach denen Fließbandarbeiter handeln; vielmehr bentigt die Gesamtheit der Regeln eine legitimierende Idee. Erst wenn Regeln bzw. das Befolgen von Regeln einen Sinn ergeben, knnen sie als Legitimation des Handelns angesehen werden. In dem oben entwickelten Beispiel knnten wir von der Idee der Effektivitt der Fließbandarbeit oder – genereller – von der Idee der Rationalitt der Arbeitsorganisation sprechen (vgl. Siegel 2003). Erst die Sinnformel legitimiert die Regeln der Fließbandarbeit durch die zu Grunde liegende, nicht (mehr) bewusste Idee, dass die Arbeit dadurch rationaler erledigt werden kann. Weber geht an keiner Stelle seiner Ausfhrungen explizit auf die Rolle von Symbolen oder Sprache ein. Die Verbindung dazu ist jedoch evident, da beide – soziales Handeln und Sprache – konstitutiv fr soziale Prozesse sind. Webers Konzept der legitimierenden Idee erweitert also unseren Begriff der Sinnformel. Whrend Sinnformeln komprimierte Antworten auf existenzielle Grundfragen darstellen, beantwortet die legitimierende Idee die Frage nach dem „Warum“ der alten und neuen Antworten. Jede Sinnformel bentigt somit eine legitimierende Idee im Weberschen Sinne, die also dem Individuum nicht nur Antworten auf die Grundfragen erlaubt, sondern diese auch begrndet findet. Wir knnen die Notwendigkeit einer solchen legitimierenden Idee mit dem Prinzip vom zureichenden Grund verdeutlichen. Nach Leibniz gibt es zwei große Prinzipien der Vernunfterkenntnis, das Prinzip des Widerspruchs und das Prinzip des zureichenden Grundes.2 Es ist das Prinzip des zureichenden Grundes,
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Die philosophischen Debatten, die sich um dieses Prinzip gerankt haben und ranken, knnen wir hier nicht ausfhren.
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„kraft dessen wir annehmen, daß sich keine Tatsache als wahr oder existierend, keine Aussage als richtig erweisen kann, ohne daß es einen zureichenden Grund dafr gbe, weshalb es eben so und nicht anders ist – wenngleich uns diese Grnde in den meisten Fllen nicht bekannt sein mgen […].“ (Leibniz 1714/1982, Abs. 32, S. 41)
Die Frage nach dem Warum (Warum sind wir so und nicht anders? Warum befinden wir uns in genau dieser Situation und in keiner andern? Warum gehen wir dahin und nicht dorthin? Warum ist unsere Geschichte gerade so und nicht anders verlaufen?) kann auch in einer einzigen legitimierenden Idee mnden. Fr diese Sinnformeln ist dann eine ber Einzelinteressen und Einzelleben hinausgehende Idee konstitutiv. Sie verspricht den Akteuren berindividuelle Bedeutung. Der Einzelne ist dann Teil eines „Kampfs der Systeme“, Teil des „Fortschritts“, einer „gerechten Sache“ usw. Nach Max Weber mssen Ideen auch mit sthetischen Kategorien beschrieben werden, will man ihre soziale Wirkkraft erfassen. Fr wirksame Sinnformeln ebenfalls eine sthetische Dimension anzunehmen, scheint uns unmittelbar einleuchtend zu sein: Sinnformeln knnen erst richtig wirken, wenn sie bei den Akteuren eine sthetische Resonanz erfahren. Dazu ist es notwendig, dass sie emotional ansprechend sind. Wir gehen davon aus, dass Sinnformeln einen imaginativen Kern besitzen, d. h. eine Vorstellung, wie die Identitt, die Gegenwart, die Vergangenheit und die Zukunft der Gruppe aussehen sollen. Wenn wir von einer sthetik der Sinnformeln sprechen, so meinen wir nicht, dass alle Sinnformeln den Akteuren als schn erscheinen. Wir mssen hier zweifellos eine sthetik der sozialen Gruppen aufbauen. Eine Sinnformel wie „Dienstleistungskommune“ mag einer Verwaltungsorganisation oder generell in der Verwaltungs-„Szene“ ansprechend und geradezu anmutig erscheinen, whrend sie anderswo als fad und abgeschmackt bewertet wird. Es handelt sich hierbei um eine sthetik, die auf die poetische Funktion unserer Alltagssprache verweist (vgl. Jakobson 1960/1993). Sinnformeln sind meist verbalsprachlich, sie knnen Metaphern, aber auch andere Sprachformen sein, z. B. Schlsselwrter, Maximen, Slogans. Sinnformeln knnen aber auch andere symbolische Formen darstellen, z. B. Bilder. Eine besondere Form stellt dabei die Metapher dar. Sie ist zugleich verbal und bildhaft, ist perspektivittsgebunden, normativ und meist auch emotiv. Sie stellt auch als Einwortmetapher das Fragment eines Metaphernmodells dar und verweist damit auf einen grßeren Sinnzusammenhang, der auch ein ganzes Szenario enthalten kann. Neben der sthetischen Dimension ist der dynamische Charakter von Sinnformeln zentral, der sich zwischen den Polen der Kontroverse und der Nichtthematisierung bewegt.
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Es ist keinesfalls so, dass nichtthematisierte Sinnformeln nicht mehr wirksam wren, im Gegenteil: Gerade die nichtthematisierten Sinnformeln sind diejenigen, die zu „Selbstverstndlichkeiten“, zu kollektiven „Denkmustern“ (vgl. Siegel 2003) geworden und damit gerade besonders wirksam geworden sind. Wenn Sinnformeln in die Diskussion kommen, werden Grundfragen und die bisherigen Antworten und legitimierenden Ideen explizit gemacht. Es werden eine oder mehrere Grundfragen neu aufgeworfen und neu oder anders beantwortet. Wenn Karl Weick (1995) etwa vom „sensemaking“ in Organisationen spricht, so geht aus unserem Ansatz hervor, dass dem eine Phase des „sense breaking“ bzw. des „sense seeking“ vorausgehen muss. Zumeist entsteht ein Feld mit unterschiedlichen Antworten und unterschiedlichen Sinnformeln, die sich scheinbar „nur“ in sprachlichen Nuancen unterscheiden, aber meist fr sehr heterogene Konzepte stehen. Dauerbrenner oder Eintagsfliegen: Sinnformeln knnen in kleineren wie grßeren Kollektiven regelrechte „Hits“ werden. Sie knnen selbstverstndlich auch floppen, wie einst die Sinnformel von der „deutschen Leitkultur“. Wird auch nur eine der Grundfragen neu gestellt und vielleicht sogar in einem kollektiven Prozess beantwortet, so heißt das nicht, dass dadurch die anderen Grundfragen nicht tangiert wrden. Nehmen wir an, in einer Organisation wrde die Frage nach der Zukunft und ihren Zielen neu gestellt und beantwortet, dann wrden mit einer neuen Sinnformel „neues“ Wissen und dessen Akteure legitimiert werden, zugleich „altes“ Wissen und dessen Akteure delegitimiert. Eine neue Antwort, welche Ziele eine Gruppe oder Organisation anstreben will, fhrt dazu, dass auch deren eigene Vergangenheit neu bewertet, nicht selten neu geschrieben wird. Wenn wir nun nach minimalen Bedingungen fr erfolgreiche Antworten auf Grundfragen suchen, dann mssen neue Antworten eine attraktive Vorstellung sein, die in der gegenwrtigen Situation noch nicht realisiert ist, die aber doch machbar erscheint. Fr das Suchen und hufig kontroverse Konstruieren solcher neuen Antworten hat die Soziologie den Begriff „Leitbild“ geprgt. Leitbilder werden in der Soziologie als Machbarkeitsprojektionen in dem Sinne verstanden, dass sie auf der Basis der bisherigen Praxis machbar erscheinen und gleichzeitig ein paradigmatischer Entwurf in die Zukunft sind. Wir knnen Leitbilder somit als kontroverse Sinnformeln verstehen. Die Dynamik von Sinnformeln zwischen Kontroverse und Nichtthematisierung, zwischen reflektierter kollektiver Leitbildkonstruktion und selbstverstndlicher Denkmuster, zieht bestimmte Konsequenzen nach sich. Zur Erforschung von Sinnformeln ist es unerlsslich die sprachanalytische Betrachtung zu ergnzen. Nicht nur die Fragen, welche Sinnformeln in welcher Qualitt wie hufig genannt werden, sind zentral fr die Analyse der Reproduktion und Produktion von – neuen – Gewissheiten, die soziales Handeln und damit mensch-
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liches Zusammenleben orientieren. Um die Legitimitt und Wirkmchtigkeit von Sinnformeln einschtzen zu knnen, sind die Fragen, in welchem Kontext, wer zu wem spricht, welche Interaktionsmuster ausgebildet werden und welche Bezge die Sinnfomeln untereinander haben, ebenso zentral. Dazu ist es unerlsslich den Analysegegenstand zu kontextualisieren und zu historisieren. Um ein Beispiel zu geben: Mit Beginn der 60er Jahren verschwand das Wort „Leistung“ aus den ffentlichen Debatten, um erst mit Beginn der 90er Jahre wieder aufzutauchen. Dies lsst jedoch gerade nicht darauf schließen, dass „Leistung“ keine Sinnformel der 70er und 80er Jahre war. Aus soziologischer Forschung weiß man, dass gerade die 70er Jahre davon gekennzeichnet waren, dass leistungspolitische Arrangements als vllig unproblematisch zu realisieren waren. Zum einen gab es einen relativ hohen Beschftigungsgrad, zum anderen waren die Arrangements stabil. Die konomischen Krisen der 80er Jahre fhrten zur erneuten Debatte, die damit eher ein Zeichen fr die Labilitt und das „umkmpfte Terrain“ als fr die Wirkmchtigkeit ist. Ohne solch ein Kontextwissen wren die sprachwissenschaftlichen Ergebnisse unvollstndig geblieben und eine Interpretation entsprechend beschrnkt. Das Modell fr einen solchen Verlauf ist in Abbildung 1 dargestellt. Whrend ber Sinnformeln diskutiert wird, sind diese nicht besonders wirkmchtig. Erst wenn die Diskussion abebbt, kann gefragt werden, ob eine Sinnformel in einer Sozialitt konsensual geworden ist und unbewusst zu wirken beginnt, also zum Denkmuster wird. Die Wirkmchtigkeit einer Sinnformel wird also gerade dann am
linguistische Perspektive: Diskussion von Sinnformeln hochfrequente Diskussion ber die Sinnformel
mgliche Wiederbelebung der Diskussion implizite Manifestation in Habitus und Handlungen
bewusste, explizite sprachliche Manifestation
minimale Wirksamkeit der Sinnformel maximale Wirksamkeit einer Sinnformel soziologische Perspektive: Wirksamkeit von Sinnformeln
keine Diskussion ber die Sinnformel
Abbildung 1: Dynamik von Sinnformeln zwischen Thematisierung und Wirksamkeit (nach Geideck und Liebert, 2003)
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grßten sein, wenn sich keine sprachlichen Manifestationen beobachten lassen. Allerdings kann die Diskussion jederzeit wieder aufbrechen. Dann wird die Sinnformel schnell ihre unbewusste Wirkmchtigkeit einbßen: Vieles, was noch vor kurzem selbstverstndlich war, wird nun problematisch; vieles, was unkommentiert getan werden konnte, muss nun erlutert werden: die schweigende Einigkeit ist zerbrochen. Dieses dynamische Konzept von Sinnformeln zeigt, dass Sinnformeln in der „Schweigephase“ nur solange Gltigkeit besitzen und damit wirkmchtig sind, als sie bestndig reproduziert werden. In der Phase der Nichtthematisierung von Sinnformeln finden wir also den bestndigen ttigen kollektiven Vollzug und damit die Befolgung der in den Sinnformeln enthaltenen Orientierungen und Handlungsmuster, die sie ja als Antwort auf die existenziellen Grundfragen einer Gemeinschaft in sich bergen. Um so weniger die reproduzierten Sinnformeln hinterfragt werden, um so selbstverstndlicher diese erscheinen, desto besser funktioniert das Zusammenspiel und desto weniger sind sie den Beteiligten reflexiv zugnglich. Dieses Zusammenspiel betrifft dabei alle Beteiligten: Nicht nur die Protagonisten, sondern auch die Nebenfiguren und sogar die „Statisten“ mssen ihre Rollen so perfekt spielen, dass kein Zweifel an der Normalitt der Situation aufkommen kann. Im Gegensatz zu wirklichen Schauspielern, die ihre Rolle bewusst eintrainiert haben und spielen, bleiben die sozialen Regeln, nach denen die Akteure handeln, unbewusst: Die Akteure folgen den Regeln „blind“ (Wittgenstein 1969). Ebenfalls Teil der „Arbeit an der Stabilitt“ ist das permanente „Feintuning“ der sozialen Prozesse. Je nach Situation, Kontext und beteiligten Akteuren mssen Muster angepasst oder erweitert werden. Auch dies ist wiederum kein voraussetzungsloser Prozess, sondern geschieht ebenfalls auf der Basis von Sinnformeln, denn wir besitzen nicht nur Muster fr die Selektion von Inhalten, sondern auch dafr, wie wir diese verndern knnen (und drfen) und auch wie wir darber reden knnen und drfen. Wir wollen dies wieder am Beispiel der Fließbandarbeit erlutern: Die Fließbandarbeit und die Verwaltungsarbeit in großen brokratischen Organisationen gelten als Paradebeispiel fr taylorisierte Arbeit, die der Idee folgt, das rationalste Arbeitssystem sei ein solches, bei dem die ArbeitnehmerInnen mglichst unreflektiert explizite Regeln befolgen. Jede Form von Subjektivitt gilt als Strfaktor, Mitdenken gilt als dysfunktional. Doch selbst diese Arbeitsform lsst sich nur unter großen Ausblendungen als mechanistisches Abarbeiten von Regeln beschreiben. In jedem Fall ist auch hier einerseits die aktive Mitwirkung der ArbeitnehmerInnen innerhalb des vorgesehenen Arbeitssystems die Voraussetzung fr die Reproduktion der Handlungsablufe und der Struktur. Die ArbeitnehmerInnen mssen sie aktiv umsetzen. Gewichtiger ist jedoch, dass das Arbeitssystem nur funktioniert, wenn Strungen und Lcken selbstttig behoben bzw. geschlossen werden. Wrden Ar-
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beitnehmerInnen tatschlich ausschließlich regelkonform agieren, htte dies das permanente Stoppen bis hin zum Zusammenbruch des Systems zur Folge. Nicht zufllig galt der „Dienst nach Vorschrift“ immer als eine Form der Leistungszurckhaltung und kam in die Nhe von Streik. Gleichzeitig fhrte dieses Wissen lange Zeit nicht zum Bruch mit der dominanten Sinnformel, sondern diese wurde flexibel ergnzt und damit gesttzt. Allein an diesem kurzen Beispiel scheinbar mechanistischen Abarbeitens von Handlungsmustern zeigt sich, dass die „Arbeit an der Stabilitt“ immer als feinsinniges und widerspruchsreiches Zusammenspiel verstanden werden muss. Dass Muster aktiv gelebt werden, heißt eben nicht, dass sie unproblematisch sind. Am Beispiel der Stechuhr lsst sich zeigen, dass diese pars pro toto als Synekdoche der Zweckrationalitt der Arbeitsorganisation verstanden werden kann. Vielfach ist die Stechuhr der Anlass fr rger und Gefhle der Unwrdigkeit, dennoch wirkt das grundlegende Muster der Rationalisierung so stark, dass die als unangenehm empfundenen Gefhle eher als „normale“ individuelle und nichtreflektierte Anpassungsschwierigkeiten gewertet werden, denn fr große Kollektive Anlass zum Widerstand bieten. Je mehr eine soziale Gruppe aber auf Werte wie Demokratie und Mitbestimmung setzt, desto wichtiger wird der sprachliche Argumentationsprozess und auch die sprachliche Form von Sinnformeln. Dass der Ausdruck „Vertrauensarbeitszeit“ zur Sinnformel wird und nicht ein Ausdruck wie „innere Stechuhr“ zeigt, wie wichtig es den Betroffenen ist, eine Formel zu finden, mit der sie leben knnen. Wenn Sinnformeln fr die Betroffenen schn sind, kognitiv einleuchten, emotional passen und appellativ vernnftig, entwickeln sie eine eigene, fast hypnotische Kraft: Wenn eine Formel Anklang findet und im Glaubensnetz einmal als gltig integriert wird, fllt es uns schwer, uns ihr wieder zu entziehen. Wir interpretieren und elaborieren sie. Die Sinnformel wird Bestandteil von Schlssen und weiteren Glaubensstzen, die wir daraus ableiten; wir nutzen sie, um konkrete Handlungsanweisungen fr unser Alltagsleben zu gewinnen. Wenn wir sie einmal akzeptieren und erfahren haben, dass wir damit Seiendes verstehen knnen, dass sie fr uns also Sinn und Verstndnis in einer Weise schafft, in der sowohl unsere Wertvorstellungen als auch unsere Interessen aufgehoben und zugleich verwirklichbar erscheinen, dann entwickelt die Sinnformel durch ihren Erfolg eine Zwanghaftigkeit, sie wird in unserem Weltverstndnis unverzichtbar, ja Teil unserer Identitt. Wir knnen sie nicht ohne weiteres preisgeben, ohne schwere Strungen in unserem gesamten Weltverstndnis zu verursachen. Dies mag ein Grund sein, warum wir an Sinnformeln auch dann noch festhalten, wenn das Verstndnis, das einst leicht sich einstellte, nur noch unter Mhen herstellbar ist. „Sinnformeln“ stellen fr uns deshalb den Titel fr einen neuen interdisziplinren Arbeitszusammenhang dar. In diesem Sammelband knnen wir jedoch keine
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geschlossene Theorie der Sinnformeln vorlegen. Wir befinden uns erst in einer vorlufigen Phase, vergleichbar der Phase nach einem Brainstorming, wenn einzelne Ideen ausgewhlt und entwickelt werden. Das vorliegende Buch reprsentiert mithin den Stand dieser Suchbewegung und gibt gleichzeitig durch die einzelnen Beitrge vertiefte Hinweise darauf, wohin die Reise gehen kann und soll und welche Einzelanstze einen wichtigen Beitrag dazu leisten. Im Jahr 2001 haben wir Kolleginnen und Kollegen aus der Soziologie und der Linguistik eingeladen und gebeten, mit uns im Rahmen des Themenbereichs „Leitbild und Metapher“ auf der Jahrestagung „Sprache transdisziplinr“ der Gesellschaft fr Angewandte Linguistik (GAL) in Passau ihre jeweiligen Arbeiten vorzustellen und in diesem interdisziplinren Kontext zu diskutieren, um damit den Grundstein fr eine systematische Kontrastierung und Zusammenfhrung zu legen. Alle dort gehaltenen Vortrge sind hier versammelt. Darber hinaus haben wir weitere einschlgige Beitrge aufgenommen. Die Artikel unterscheiden sich nicht nur nach der wissenschaftlichen Disziplin. Es war uns ebenso wichtig, auch innerhalb der jeweiligen Disziplin verschiedene Ansatzpunkte in ihrer theoretischen und methodologischen Ausrichtung reprsentiert zu wissen. Alle Artikel eint einerseits die Frage nach der kognitiven und handlungsorientierenden Wirkweise von Sinnformeln und zum anderen die Suche nach Methoden, diese zu erforschen.
Zu den Beitrgen: Theoretische Konzepte Hier sind theoretische Ansatzpunkte und analytische Klrungen versammelt, die wir fr eine soziologisch-linguistische Fundierung von Sinnformeln hilfreich finden.3 Eine wichtige Begriffsunterscheidung zwischen impliziten und explizierten Sinnformeln nimmt Tilla Siegel vor. Anhand ihres eigenen Begriffes der „Denkmuster“ und in Kontrastierung zum Leitbildbegriff zeigt sie, dass Leitbilder reflexiv zugngliche Grßen sind, die dominanten Vorstellungen einer Gruppe entsprechen, wohingegen „Denkmuster“ als selbstverstndliche „Richtig-falsch-Vorstellungen“ wirken. Ebenfalls ber die Frage der analytischen Verortung und die Frage der Latenz der Sinnformeln reflektiert Karsten Kassner in seinem Beitrag. Er geht auf die Zentralitt von kollektiven Orientierungen fr individuell vollzogene Wandlungen ein. Dabei fhrt Kassner in das hermeneutische Konzept des Deutungsmusters ein. 3
Dies bedeutet jedoch nicht, dass in den brigen Beitrgen keine theoretischen Anstze prsentiert wrden. Insbesondere sei auf die Arbeiten von Reiner Keller und Petra Wassermann verwiesen.
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In der Phase der Kontroverse sind Sinnformeln Gebilde, die reflektiert in der Interaktion und/oder im Diskurs konstituiert werden. Dies wird im Beitrag von Martin Wengeler dargestellt. Er stellt dabei den Argumentationstopos ins Zentrum seiner berlegungen und entwickelt diesen anhand seiner eigenen Studien zum Migrationsdiskurs. Wolf-Andreas Liebert stellt einen Zusammenhang zwischen Denkmustern, Leitbildern, Metaphern und Sinnformeln her. Der Beitrag zeigt, wie Metaphernreflexion ein bereits etabliertes Verfahren der Beantwortung existenzieller Grundfragen von Organisationen darstellt, wie Organisatioen dieses Wissens bereits nutzen, um zu Innovationen zu gelangen, und welche Konsequenzen sich hieraus fr die Organisationsanalyse, die Organisationsentwicklung und eine Linguistik der Organisation ergeben. Machtvolle Sinnformeln Sinnformeln werden in Machtkonstellationen geformt. Dies hat Konsequenzen fr ihre Interpretation. Der Beitrag von Brigitte Aulenbacher geht auf die Leitbilddiskussion ein, wie sie in der Technikgenese gefhrt wurde. In den Arbeiten von Dierckes et al. wird Leitbild als eine auf die Zukunft gerichtete dominante Vorstellung verstanden. Aulenbacher greift dies auf und redefiniert den auf die Zukunft gerichteten Leitbildbegriff als „Machbarkeitsprojektion“. Sie zeigt, dass erst ber die Hinzuziehung einer Analyse der gesellschaftlichen Machtkonstellationen verstehbar wird, dass und warum Leitbilder diese Machtverhltnisse reproduzieren und eben eher selten neue Lsungen fr alte Grundfragen entstehen. Josef Klein analysiert die Metapher „Universitt als Unternehmen“. Darin zeigt er zum einen, wie machtvolle Akteure eine neue Sinnformel „installieren“ und zum anderen, dass diese Metapher eine große Selektivitt aufweist. Auch wenn Universitten immer wieder als Unternehmen betrachtet und Leistung und Wettbewerb als Schlsselwrter daraus abgeleitet werden, so wird den Universitten ein wesentliches, ja sogar das zentrale Konzept eines Unternehmens gerade nicht zugesprochen: Profit zu machen. Nicole Hroch geht in ihrem Beitrag den Metaphern von Unternehmensgrndern nach. Sie zeigt, wie stark deren metaphorische und nicht-metaphorische Vorstellungen aufgrund ihrer Position innerhalb des Betriebes diesen in seiner Struktur zu prgen imstande sind. Sinnformeln in Organisationen Von besonderem Interesse sind Sinnformeln fr die Organisationsanalyse, denn ber sie lsst sich die gelebte Struktur von Organisationen erforschen. Alle hier versammelten Beitrge beschftigen sich mit organisationalem Wandel, was fr Forschung ber Zweck und Wirkweise von Sinnformeln einen idealen Zeitpunkt dar-
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stellt, da alle Selbstverstndlichkeiten hinterfragbar sind und die Legitimationsund Sinnproduktion besonders intensiv verluft. Petra Wassermann zeigt die Problematik von Leitbildwechseln ber Metaphern an einem praktischen Beispiel: der Umorganisation der IG Metall. Dazu nutzt sie die institutionentheoretischen soziologischen Anstze, mit denen zum einen die „Arbeit an der Stabilitt“ und zum anderen die retardierende Funktion von Metaphern in einem Prozess der Leitbildinnovation sichtbar werden. Einen praktischen Fall stellt Kirsten Nazarkiewicz vor. Sie hat selbst einen Leitbildentwicklungsprozess eines kirchlichen Trgers organisiert und reflektiert aus ethnomethodologischer Perspektive ihre eigene Praxis. Dabei zeigt sie insbesondere auf, wie in der Sprache ganz bestimmte Stadien des Leitbildentwicklungsprozesses der organisationellen Dissonanz und des Konsens sichtbar werden. Alexander Bogner sucht in seinem Beitrag am Beispiel der impliziten Leitbilder und professionellen Orientierungsmuster von Medizinern in der Prnataldiagnostik deren Wirkweise bei permanenten Gestaltungs- und Entscheidungszwngen zu begreifen. Susan Geideck rekonstruiert den Prozess eines leitbildinduzierten organisationalen Wandels anhand der Reformgeschehnisse einer deutschen Kommunalverwaltung. Dabei wird deutlich, dass Leitbilder zwar machtvolle und legitimierende Rationalittskriterien mit sich bringen, diese aber nicht ‚von alleine’ wirken, sondern nur, indem sie im konkreten Prozess von den Akteuren auch tatschlich fr ihre Interessen genutzt und in neue organisationale Spiele umgesetzt werden. Sinnformeln crosskulturell Sinnformeln sind immer auch an eine bestimmte Kultur gebunden. Andreas Musolff weist durch seine Analyse des deutsch-britischen Europadiskurses darauf hin, dass der kulturelle Kontrast sich nicht unbedingt an der Nutzung unterschiedlicher Metaphern, wohl aber an der kontextuellen Deutung und den Konsequenzen, die aus den Metaphern gezogen werden, aufzeigen lsst. Dies gelingt nur durch eine Historisierung und Kontextualisierung. Der Beitrag von Reiner Keller zeigt, wie sich Sinnformeln im Diskurs konstituieren und im deutsch-franzsischen Kontrast divergieren. Dabei entwickelt er eine handlungsorientierte Diskursanalyse und zeigt am Beispiel des Mlldiskurses deren Anwendung. Die Gegenwart der Vergangenheit Wenn Sinnformeln als Antworten auf Grundfragen verstanden werden, dann mssen fr die Vergangenheit einer Gruppe ebenfalls Sinnformeln angenommen werden. Insbesondere die deutsche Vergangenheit ist dadurch gekennzeichnet, dass auf die Frage Woher kommen wir? kein stabiles Ergebnis zu erwarten ist, dass der Prozess
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vielmehr nach wie vor im Fluss ist. Waren die Deutschen Tter, Opfer oder Mitlufer unter dem Naziregime? Je nachdem, wie diese Frage beantwortet wird, ergeben sich deutlich unterschiedliche Konsequenzen fr das gegenwrtige Verstndnis der eigenen Rolle als deutscher Brger und fr das zuknftige Handeln. Am Beispiel von Franc Wagners Beitrag ber die schweizerische ZwangsarbeiterDebatte wird dies besonders deutlich: Die Metaphern, insbesondere die Metaphernszenarien, erweisen sich dabei als geeigneter Zugang, um den Interessenskonflikt in der Schweiz und die entsprechende Sinnformelgenese zu verstehen. Ebenfalls historisch ausgerichtet ist der Beitrag von Olaf Jkel. Er geht den Metaphern zentraler Wissenschaftstheoretiker (Aristoteles, Bacon, Kant, Popper und Kuhn) nach und zeigt zum einen, dass die metaphorische Konzeptualisierung von Wissenschaft sich durch eine begrenzte Anzahl von Metaphernmodellen auszeichnet, was auf ihre identittsstiftende und vereinheitlichende „Sensemaking“-Funktion verweist. Zum anderen zeigt Jkel aber auch die Differenzen zwischen den Metaphern, die die Vernderungen der Wissenschaftstheorie in verschiedenen Dimensionen spiegeln. Dieser Band stellt einen Anfang dar. Er ist eine Aufforderung zum Mit- und Weiterdenken und kein abgeschlossenes Produkt. Wir hoffen, dass die Beitrge gerade auch in ihrer Unterschiedlichkeit dazu anregen. Und wir hoffen, dass den Leserinnen und Lesern dies ebensoviel Freude bereitet wie uns die Zusammenarbeit mit den hier versammelten Kolleginnen und Kollegen.
Literatur Geideck, Susan/Liebert, Wolf-Andreas (2003): Leitbild und Metapher. Zur Entstehung eines interdisziplinren Forschungskontexts. In: Emons, Rudolf (Hg.): Sprache transdisziplinr. Frankfurt a.M./Bern u. a.: Lang. Jakobson, Roman (1960/1993): Linguistik und Poetik. In: Roman Jakobson: Poetik. Ausgewhlte Aufstze 1921 – 1971. Hg. von Elmar Holenstein und Tarcisius Schelbert. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 83 – 121. Liebert, Wolf-Andreas (2003a): Zu einem genetischen Konzept von Schlsselwrtern. In: Zeitschrift fr Angewandte Linguistik 38, 57 – 83. Liebert, Wolf-Andreas (2003b): Wissenskonstruktion als poetisches Verfahren. Wie Organisationen mit Metaphern Produkte und Identitten erfinden. In diesem Band. Leibniz, Gottfried Wilhelm (1714/1982): Monadologie. Hrsg. von Herbert Herring. Hamburg: Felix Meiner. 2. Aufl. (= Philosophische Bibliothek; 253).
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Susan Geideck und Wolf-Andreas Liebert
Siegel, Tilla (2003): Denkmuster der Rationalisierung. Ein soziologischer Blick auf Selbstverstndlichkeiten. In diesem Band. Weber, Max (1980): Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriss der verstehenden Soziologie. Tbingen: Mohr. Weick, Karl (1995): Sensemaking in Organizations. Newbury Park, C.A.: Sage. Wittgenstein, Ludwig (1969): Tractatus logico-philosophicus. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Theoretische Konzepte
Tilla Siegel
Denkmuster der Rationalisierung Ein soziologischer Blick auf Selbstverstndlichkeiten
ber Selbstverstndlichkeiten redet man nicht. Es gibt sie einfach. Vielleicht gerade deshalb nehmen sie einen so bedeutsamen Platz im Handeln der Menschen ein. Dieses ist ja nicht allein von „objektiven“ Gegebenheiten, also Zwngen, Einschrnkungen und Ermglichungen gesellschaftlich bestimmt. Vielmehr ist es auch von kollektiv geteilten Richtig-falsch-Vorstellungen geprgt, die als selbstverstndliche, gleichsam natrliche Handlungsorientierungen wirken. In der einen Kultur rlpst man laut, um dem Gastgeber zu zeigen, dass das Essen geschmeckt hat; in der anderen gerade nicht. In der einen gesellschaftlichen Schicht gilt der soziale Aufstieg als selbstverstndlich erstrebenswert; in einer anderen hingegen ist das Sich-Einrichten in die gegebene soziale Position „natrlich“ richtig. Zu dem einen historischen Zeitpunkt wird Effizienz zum „natrlichen“ Maßstab allen Handelns; zu einem anderen mag es die Wahrung der Tradition gewesen sein. Soweit einige Beispiele, um die Bedeutung von Handlungsorientierungen zu illustrieren, die das Handeln von Menschen gleichsam steuern, nicht aber, dies sei betont, vollkommen determinieren. Mit dem Begriff „Selbstverstndlichkeiten“ ist hier zunchst gemeint, dass diese Handlungsorientierungen nicht im diskursiven Bewusstsein angesiedelt sind, also die Begrndungen von den Handelnden nicht umstandslos abgerufen werden knnen. Mit dem Begriff „Richtig-falsch-Vorstellungen“ soll hervorgehoben werden, dass diese Handlungsorientierungen eben nicht natrlich, sondern gesellschaftlich produziert sind. Beide mglichst umfassenden Formulierungen wurden hier gewhlt, um zunchst das Gemeinsame der vielfltigen Begriffe und analytischen Zugnge hervorzuheben, mit denen in der soziologischen und sozialphilosophischen Theorienbildung versucht wurde (und noch wird), derartige kollektive Richtigfalsch-Vorstellungen in den Regelmßigkeiten sozialen Handelns zu identifizieren und damit historisch kulturelle Spezifika einer Gesellschaft zu bestimmen. Ein „klassisches“ Beispiel dafr sind die Ausfhrungen von Karl Marx zum „Fetischcharakter der Ware“ (Marx 1969, Kap. 1.4). Max Weber, um einen weiteren „Klassiker“ zu nennen, wies mit Begriffen wie „Anschauungsweise“ in der Protestantischen Ethik (1988, 37) oder „Legitimittsglaube“ in seiner Herrschaftssoziologie (1980, 122 f.) auf kollektive Handlungsorientierungen hin. In neueren gesellschaftstheoretischen Anstzen betont beispielsweise Pierre Bourdieu, dass die Bedeutung des „Habitus“ in der (Re)Produktion sozialer Ungleichheit gerade darauf beruht, dass
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er wie natrlich wirkt (Bourdieu 1992, 33 f.). Michel Foucault redet unter anderem1 von der Diskretion und relativen Unsichtbarkeit der „Disziplinen“ als einer Form von Macht, die den Menschen nicht bloß ußerlich ist (Foucault 1977, 280). Und in der feministischen Theorie ist beispielsweise Judith Butler reprsentativ fr jene, die gesellschaftlich dominante Vorstellungen von einer „natrlich“ binren Geschlechterordnung als soziale Konstruktion entschlsseln (Butler 1991). Soweit einige wenige Beispiele fr Begriffe, mit denen in der soziologischen und sozialphilosophischen Theorienbildung das benannt und untersucht wird, worber man im Alltagsleben gerade nicht spricht, nmlich die als natrlich erscheinenden und gerade deshalb so wirkmchtigen kollektiven Selbstverstndlichkeiten in den Orientierungen sozialen Handelns. Auf den ersten Blick scheint Rationalisierung nicht zu derartigen Orientierungen zu zhlen, ist sie doch als technisch-organisatorischer Wandel ein sichtbarer Prozess. Auch wird immer wieder ber sie geredet. Schließlich ist es das tglich Brot der Managementliteratur, zu verknden, wie richtig rationalisiert werden msse. Und zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbnden, zwischen Betriebsrten und Management wird unablssig darber verhandelt, wie Menschen richtig in die Rationalisierung eingebunden und wie die Frchte der Rationalisierung verteilt werden sollen. Doch geschieht all dies auf der Grundlage der kollektiv geteilten Vorstellung, dass es prinzipiell erstrebenswert und richtig sei, alles Handeln an einer bewusst kalkulierenden Optimierung der Zweck-MittelRelation auszurichten. Diese Vorstellung, die im Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts zu einer gesellschaftlich dominanten Norm richtigen beziehungsweise rationalen Handelns geworden ist, nenne ich den Rationalisierungsgedanken. Anstatt von „Norm“ spreche ich allerdings von „Denkmuster“. Damit will ich auf die ihm immanente Kombination von Handlungsorientierungen hinweisen. Im Verlauf des vorliegenden Beitrags verwende ich das Wort „Denkmuster“ mal im Singular, mal im Plural. Das liegt daran, dass ich analytisch zwischen der Rationalisierung (als Prozess beziehungsweise als Tun) und dem Rationalisierungsgedanken unterscheide. Eher von den Denkmustern der Rationalisierung spreche ich, wenn ich der berlegung Raum geben will, dass sich die Qualitt einiger der ihr zugrunde liegenden Richtig-falsch-Vorstellungen ndern kann.2 Hingegen spreche ich
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Man kann sagen, dass sich gerade Foucault, wenngleich mit wechselnden Begrifflichkeiten und analytischen Perspektiven, durchgngig mit dem befasste, was die unterschwelligen Zwnge aber – spter in seinem Werk – auch die Ermglichungen menschlichen Handelns ausmacht. So stellt er (rckblickend) fest, es sei ihm nicht lediglich um die Analyse von Macht (ihren Funktionsweisen und deren Vernderung) gegangen, sondern darum, „eine Geschichte der verschiedenen Verfahren zu entwerfen, durch die in unserer Kultur Menschen zu Subjekten gemacht werden“ (Foucault 1999, 161). Mit dem Entstehen eines neuen Leitbilds davon, wie richtig rationalisiert werden msse, zeichnet sich in unserer Zeit beispielsweise eine Vernderung in dem Streben nach Berechenbarkeit ab: von
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hinsichtlich des Rationalisierungsgedankens von einem Denkmuster, um ihn als Kombination verschiedener, aber in ihrer Logik mit einander verbundener Handlungsorientierungen zu charakterisieren. In beiden Fllen geht es mir um Muster des Denkens, die von den Handelnden gerade nicht mehr bewusst reflektiert werden und deren gesellschaftliche Wirkung weit ber den Bereich der Produktion materieller und immaterieller Gter hinaus reicht.3 Sie beinhalten den Glauben an eine als Methode verstandene Wissenschaft; den Glauben, dass nur das Berechenbare rational sei und das Unberechenbare berechenbar gemacht oder als irrational ausgeschlossen werden msse; dass man nur wissenschaftlich-rechenhaft und unverdrossen die Mittel-Zweck-Relation auf jeden Zweck hin optimieren msse, um Wohlstand und Glck fr alle zu produzieren; dass das Expertenwissen dem Erfahrungswissen berlegen sei; dass es nur gerecht sei, die Menschen nach dem Leistungsprinzip zu sortieren; dass gesellschaftliche Widersprche bereinigt werden knnten, wenn Einzelne und Gruppen – geleitet vom Rat der Experten – sich und ihre Beziehungen (formal) rational organisieren. Im Folgenden geht es zunchst um die allgemeine Frage, auf welcher analytischen Ebene der Begriff „Denkmuster“ als eine von vielen soziologischen Perspektiven auf kollektive Selbstverstndlichkeiten verortet werden kann. Danach soll am Beispiel des Rationalisierungsgedankens durchgespielt werden, wie die historische Perspektive dazu dienen kann, zur Selbstverstndlichkeit gewordene, mithin allenfalls indirekt artikulierte Handlungsorientierungen wieder diskutierbar zu machen. Zur Bestimmung der analytischen Ebene greife ich zurck auf Max Webers soziologische Kategorienlehre, mit der er die Soziologie als eine Wissenschaft etablieren wollte, „welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen urschlich erklren will“.4 Beginnen wir mit Webers Defini-
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dem Versuch, alle Elemente des Prozesses berechenbar zu machen, hin zum Versuch, eine Berechnungsgrundlage durch den bergeordneten Vergleich von Ergebnissen herzustellen. Siehe dazu Siegel (1993 und 1995). Im vorliegenden Beitrag blicke ich unter dem Gesichtspunkt der analytischen Verortung des Begriffs „Denkmuster“ auf eigene Forschungen zur Rationalisierung zurck, deren Ergebnisse in unterschiedlichen Publikationen und mit unterschiedlichen Schwerpunkten (Rationalisierung unter dem Nationalsozialismus, Geschichte der Rationalisierung im zwanzigsten Jahrhundert im diachronen und synchronen Vergleich, Entwicklungen der betrieblichen Leistungs(lohn)politik, Rationalisierung im gegenwrtigen gesellschaftlichen Umbruch, Rationalisierung und Geschlechterverhltnis) vorgelegt wurden. Da diese Ergebnisse hier in ußerst kurzer Form angesprochen werden, verweise ich an den entsprechenden Stellen auf die je ausfhrlicheren eigenen Publikationen. So, leicht paraphrasiert, der Beginn von §1 seiner soziologischen Kategorienlehre in dem posthum verffentlichten Werk „Wirtschaft und Gesellschaft“ (Weber 1980, 1). Max-Weber-ExpertInnen mgen mir verzeihen, wenn ich im folgenden mit seine Kategorien recht spielerisch umgehe und dabei die vielfltigen Differenzierungen außer Acht lasse, die seine Ausfhrungen schwer lesbar und dennoch so außerordentlich interessant machen. Worum es mir hier geht, ist nicht eine Exegese seines Werks, sondern lediglich die Verortung oben genannter analytischer Begrifflichkeiten.
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tion von sozialem Handeln. „Soziales Handeln (einschließlich des Unterlassens und Duldens) kann orientiert werden an vergangenen, gegenwrtigen oder knftig erwartetem Verhalten anderer [...] Die ‚Anderen‘ knnen einzelne oder bekannte oder unbestimmt viele und ganz unbekannte sein.“ (Weber 1980, 11) Fr unsere Zwecke hier ist der Passus „ganz unbekannte“ besonders interessant. Denn er zeigt, dass soziales Handeln nicht nur ein face-to-face Handeln sein muss. Vielmehr kann auch ein scheinbar rein selbstbezogenes Verhalten, wenn also jemand ohne ein konkretes Gegenber agiert, ein auf andere gerichtetes Handeln sein – dann nmlich, wenn die Orientierung des Handelns in nicht immer bewussten, aber durchaus prsenten kollektiv geteilten Richtig-falsch-Vorstellungen begrndet ist. Auf dieses Phnomen geht Weber zunchst nicht ein. Er diskutiert stattdessen am Beispiel von Menschen die ko-prsent sind, unter welchen Bedingungen gleichzeitiges Verhalten von Menschen als soziales Handeln begriffen werden kann. Er schreibt, „nicht jede Art der Berhrung von Menschen ist sozialen Charakters, sondern nur ein sinnhaft am Verhalten des anderen orientiertes eigenes Verhalten. Ein Zusammenprall zweier Radfahrer z. B. ist ein bloßes Ereignis wie ein Naturgeschehen. Wohl aber wre ihr Versuch, dem anderen auszuweichen, und die auf den Zusammenprall folgende Schimpferei, Prgelei oder friedliche Errterung ‚soziales Handeln‘.“ Weiterhin sei soziales Handeln nicht identisch „mit einem gleichmßigen Handeln mehrerer. Wenn auf der Straße eine Menge Menschen bei Beginn des Regens gleichzeitig den Regenschirm aufspannen, so ist (normalerweise) das Handeln aller gleichartig im Bedrfnis nach Schutz gegen Nsse.“ Denn, so fhrt er fort, ein „durch das Wirken der bloßen Tatsache ‚Masse‘ rein als solcher in seinem Ablauf nur reaktiv verursachtes oder mit verursachtes, nicht darauf sinnhaft bezogenes Handeln wrde begrifflich nicht ‚soziales Handeln‘ im hier festgehaltenen Wortsinn sein“ (ebd.). Wichtig ist fr Max Weber also, soziales Handeln nicht allein dahingehend zu definieren, dass Menschen zusammentreffen oder etwas gleichzeitig tun. Vielmehr geht es ihm darum, dass sie etwas sinnhaft tun. Dabei operiert Weber beileibe nicht mit einer normativen Gegenberstellung von „sinnhaft“ und „sinnlos“. Vielmehr geht es ihm um den „von den Beteiligten gemeinten, empirischen Sinngehalt, niemals um einen normativ ‚richtigen‘ oder metaphysisch ‚wahren‘ Sinn.“ (13) Allerdings sei es nicht so einfach, Verhaltensweisen danach zu unterscheiden, ob es sich um eine reine Reaktion oder um eine mit Sinn verbundenen (Re)Aktion handelt. Der Grund dafr liege darin, „dass die Orientierung an fremdem Verhalten und der Sinn des eigenen Handelns ja keineswegs immer eindeutig feststellbar oder auch nur bewußt und noch seltener: vollstndig bewußt ist.“ (12) „Das reale Handeln verluft in der großen Masse seiner Flle in dumpfer Halbbewußtheit oder Unbewußtheit seines ‚gemeinten Sinns‘“. (10) Aber: „Es lassen sich innerhalb des sozialen Handelns tatschliche Regelmßigkeiten beobachten, d. h. in einem typisch gleichartig gemeinten Sinn beim gleichen
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Handelnden sich wiederholende oder (eventuell auch: zugleich) bei zahlreichen Handelnden verbreitete Ablufe von Handeln.“ (14) Indem nun die Soziologie „generelle Regeln des Geschehens“ (9) sucht, bildet sie „ihre Begriffe durch Klassifikation des mglichen ‚gemeinten Sinns‘, also so, als ob das Handeln tatschlich bewußt sinnorientiert verliefe.“ (11) Denn: „Nur vom reinen (‚Ideal‘-)Typus her ist soziologische Kasuistik mglich.“ (10) Mit anderen Worten: Zwar treten die durch Klassifkation des mglichen „gemeinten Sinns“ gebildeten reinen Typen in der Realitt ebenso wenig auf „wie eine physikalische Reaktion, die unter Voraussetzungen eines absolut leeren Raums errechnet ist“(10). Aber sie weisen auf mgliche Handlungsverlufe hin, dienen also, soweit sie als signifikantes Element im beobachteten sozialen Handeln identifiziert werden, dazu, dieses „in seinem Ablauf und seinen Wirkungen urschlich zu erklren“ – um Webers oben zitierte Definition der Aufgabe der Soziologie zu wiederholen. Zentral in Webers Kategorienlehre – und ein weiterer Schritt in unserer Frage nach der analytischen Verortung kollektiv geteilter Richtig-falsch-Vorstellungen – sind seine idealtypischen Bestimmungsgrnde sozialen Handelns: „Wie jedes Handeln kann auch das soziale Handeln bestimmt sein 1. zweckrational: durch Erwartungen des Verhaltens von Gegenstnden der Außenwelt und von anderen Menschen und unter Benutzung dieser Erwartungen als ‚Bedingungen‘ oder ‚Mittel‘ fr rationale, als Erfolg, erstrebte und abgewogene eigene Zwecke, – 2. wertrational: durch bewußten Glauben an den – ethischen, sthetischen, religisen oder wie immer sonst zu deutenden – unbedingten Eigenwert eines bestimmten Sichverhaltens rein als solchen und unabhngig vom Erfolg, – 3. affektuell, insbesondere emotional: durch aktuelle Affekte und Gemtslagen, – 4. traditional: durch eingelebte Gewohnheit. Es sei darauf hingewiesen, dass es Weber mit dem Wortteil „rational“ in Unterscheidung zu anderen, von ihm gelegentlich auch „irrational“ genannten Bestimmungsgrnden nicht um eine normative Vorentscheidung im Sinne von eigentlich „richtig“ oder „vernnftig“ geht. Vielmehr steht „rational“ hier fr Begriffe wie „abwgend“ und „bewusst“. In diesem Sinne ist es durchaus (wert)rational, wenn jemand „ohne Rcksicht auf die vorauszusehenden Folgen handelt im Dienst seiner berzeugung von dem, was Pflicht, Wrde, Schnheit, religise Weisung, Piett oder die Wichtigkeit einer ‚Sache‘ gleichviel welcher Art ihm zu gebieten scheinen“. Ob andere Handelnde dies dennoch fr „irrational“ erklren, hngt vom Standpunkt ab: „Vom Standpunkt der Zweckrationalitt aus aber ist Wertrationalitt immer, und zwar je mehr sie den Wert, an dem das Handeln orientiert wird, zum absoluten Wert steigert, desto mehr: irrational, weil sie ja um so weniger auf die Folgen des Handelns reflektiert, je unbedingter allein dessen Eigenwert (reine Gesinnung, Schnheit, absolute Gte, absolute Pflichtmßigkeit) fr sie in Betracht kommt.“5 Aus der Sicht sozial konstruierter Handlungsselbstverstndlichkeiten scheinen sich Webers idealtypische Bestimmungsgrnde sozialen Handelns nach dem Krite-
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rium einordnen zu lassen, ob sie kollektiv geteilt oder individuell sind. Auf der einen Seite stnden dann das traditionale und das wertrationale Handeln, denn ersteres ist auf die gemeinsame Geschichte und das qua Tradition gleichsam gemeinsam Erlebte bezogen, und letzteres auf gemeinsame Werte, die „gemeinsame Sache“. Auf der anderen Seite stnden das affektuelle und das zweckrationale Handeln, die zwar auch auf andere bezogen sind (sonst ginge es in Webers Definition nicht um soziales Handeln), aber in ihren Bestimmungsgrnden rein individuelle Akte zu sein scheinen. Ganz so einfach ist es jedoch nicht. Denn auch das affektuelle und das zweckrationale Handeln finden nicht im luftleeren Raum statt. Hier mssen wir uns nun mit Webers „fr soziologische Zwecke (geschaffenen) begrifflich reinen Typen“ ein wenig dem realen Handeln nhern, das sich ihnen „mehr oder minder annhert, oder aus denen es – noch hufiger – gemischt ist.“ (13) Weber selber weist uns einen Weg mit seiner Kategorie der „legitimen Ordnung“.6 Denn „Handeln, insbesondre soziales Handeln und wiederum insbesondre eine soziale Beziehung knnen von Seiten der Beteiligten an der Vorstellung vom Bestehen einer legitimen Ordnung orientiert werden“(16). Die Motive, aus denen Handelnde „innerhalb des gleichen Menschenkreises“ eine Ordnung einhalten, sortiert Weber analog zu seinen idealtypischen Bestimmungsgrnden sozialen Handelns. Dabei sei eine nur aus zweckrationalen Motiven eingehaltene Ordnung „im allgemeinen weit labiler als die lediglich kraft Sitte [...] erfolgende Orientierung an dieser: die von allen hufigste Art der inneren Haltung.“ Diese wiederum sei „noch ungleich labiler als eine mit dem Prestige der [...] ‚Legitimitt‘ auftretende“ (16), das heißt eine Ordnung, der von den Handelnden kraft affektuellen oder wertrationalen Glaubens legitime Geltung7 zugeschrieben wird, oder weil sie an deren Legalitt glauben (vgl. 19). Auf mgliche Interpretationen dieser idealtypischen Unterscheidungen sei hier nicht weiter eingegangen. Betont sei lediglich, dass mit dem Begriff (Legitimitts)Glaube nicht not-
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Weber (1980, 12, 13). hnlich auch in der Protestantischen Ethik: „‚Irrational‘ ist etwas stets nicht an sich, sondern von einem bestimmten ‚rationalen‘ Gesichtspunkte aus. Fr den Irreligisen ist jede religise, fr den Hedoniker jede asketische Lebensfhrung ‚irrational‘, mag sie auch an ihrem letzten Wert gemessen, eine ‚Rationalisierung‘ sein. Wenn irgend etwas, so mchte dieser Aufsatz dazu beitragen, den nur scheinbar eindeutigen Begriff des ‚Rationalen‘ in seiner Vielseitigkeit aufzudecken.“ (Weber 1988, 35) Noch deutlicher wird dieser Weg in Webers Typisierung der Formen legitimer Herrschaft. (Weber 1980, 121 ff.) Ebenso wie bei den Worten „sinnhaft“ und „rational“ geht es also auch hier um die Grnde, aus denen eine Ordnung fr die Handelnden „legitim“ ist, und nicht etwa um eine vom Soziologen vorab definierte Unterscheidung zwischen „legitim“ und „illegitim“. Und: „An der Geltung einer Ordnung ‚orientieren‘ kann man sein Handeln nicht nur durch ‚Befolgung‘ ihres (durchschnittlicher verstandenen) Sinnes. ... Der Dieb orientiert an der ‚Geltung‘ des Strafgesetzes sein Handeln: indem er es verhehlt.“ (16)
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wendig gemeint ist, dass den Handelnden ihr Glaube bewusst ist. Vielmehr bezeichnet er einen Punkt, an dem die Soziologie in der Analyse sozialen Handelns ansetzen kann.8 Mit anderen, eigenen Worten: Die Bestimmungsgrnde sozialen Handelns sind eingebunden in eine tieferliegende prinzipielle Akzeptanz kollektiv geteilter Richtig-falsch-Vorstellungen. In der Realitt sozialen Handelns sind also auch die zunchst individualistisch scheinenden affektuellen und zweckrationalen Orientierungen kollektiv verankert. Dem (affektuellen) Wutausbruch, beispielsweise, ber das wild blhende Unkraut in Nachbars Garten und ber dessen nicht rechtwinklig gestutzte Hecke geht die kollektive Kategorisierung von Pflanzen als „Unkraut“ und das kollektiv gesttzte normative Verstndnis von einem „ordentlichen“ Garten voraus. Oder: Wie streng auch immer ein zweckrational orientiertes Individuum „sein Handeln nach Zweck, Mitteln und Nebenfolgen orientiert und dabei sowohl die Mittel gegen die Zwecke, wie die Zwecke gegen die Nebenfolgen, wie endlich auch die verschiedenen mglichen Zwecke gegeneinander rational abwgt“ (13) – die Wahl des Zwecks, der Mittel und der Legitimation von Mittel und Zweck unterliegt immer auch vorgngigen Orientierungen. Letzteres lsst sich recht gut anhand von Pierre Bourdieus Begriff Habitus als „System von Grenzen“ illustrieren, nmlich von Grenzen der Handlungsorientierungen und der Wahrnehmung von Handlungsmglichkeiten, die fr die Schicht, Ethnie und das Geschlecht charakteristisch sind, der/dem die Handelnden angehren.9 Nehmen wir an, ein zweckrational orientiertes Individuum plant seinen sozialen Aufstieg. Dann ist bereits diese Entscheidung mitbedingt durch seine soziale Herkunft und den sozialen Raum, die den Habitus dieses Individuums prgen. Denn nicht fr jede/n ist der soziale Aufstieg ganz selbstverstndlich richtiger und wichtiger als ein Sich-Einrichten in der sozialen Position, in der man/frau sich befindet. Gleichermaßen sind auch die Vorstellungen davon, was die richtigen, legitimen, ntzlichsten Mittel und die beste Art der Selbstreprsentation zum Zwecke des Aufstiegs seien, vom Habitus und damit von „innerhalb des gleichen Menschenkreises“ kollektiv geteilten Richtig-falsch-Vorstellungen geprgt.
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„In sehr vielen Fllen ist den fgsam Handelnden dabei natrlich nicht einmal bewußt, ob es sich um Sitte, Konvention oder Recht handelt. Die Soziologie hat dann die typische Art der Geltung zu ermitteln.“ (20) Recht eindrucksvoll beschreibt und analysiert Bourdieu den Willen zum Aufstieg der Mittelschichten im Kapitel „Bildungsbeflissenheit“ in seinem Buch Die feinen Unterschiede (Bourdieu 1984, Kap. 6). In diesem Buch geht Bourdieu allerdings nur auf die Verbindung von „Habitus“ und „Klasse“ systematisch ein. Mit dem paraphrasierten Bezug auf die soziologische Triologie „Klasse, Rasse, Geschlecht“ sei hier darauf hingewiesen, dass auch Ethnie und Geschlecht im Habitus als strukturiertes und strukturierendes Prinzip eine Rolle spielen – wohlgemerkt nicht im Sinne natrlicher Bedingtheiten, sondern als soziale Konstruktionen.
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All die eingangs beispielhaft genannten analytischen Begriffe – Fetischcharakter der Ware, Ideologie, Anschauungsweise, Legitimittsglaube, Habitus, Disziplinen, binre Geschlechterordnung und eben auch Denkmuster – stehen auf je eigene Art fr kollektive Orientierungen, aus denen sich, um Webers Formulierung zu nehmen, der „Glaube“ an die Legitimitt einer geltenden Ordnung speist und die so sozialem Handeln einen „Sinn“ geben. Diese Orientierungen tun dies, wie gesagt, gleichsam selbstverstndlich, „natrlich“, das heißt ohne dass sich die Handelnden je aktuell darber Rechenschaft ablegen. Wie aber identifiziert man sie, ja wie kommt man berhaupt darauf, sie identifizieren zu wollen, wo sie doch erst dann so richtig handlungsprgend sind, wenn „man“ nicht mehr ber sie spricht, mithin kaum noch ber sie nachdenkt? Diese Frage mssen sich insbesondere die Sozialwissenschaften stellen, soweit sie Teil ihres Untersuchungsgegenstandes sind, also ihre eigene Gesellschaft analysieren. Denn auch ihre Wahrnehmungen beziehungsweise Nicht-Wahrnehmungen sind geprgt von den je dominanten gesellschaftlichen Selbstverstndlichkeiten. Es gilt also, gleichsam einen ethnologischen Blick zu entwickeln, der als „Besonderes“ erkennen lsst, was als „natrlich“ gilt. Max Webers Bildung von Idealtypen ist eines der prominenteren Beispiele fr soziologische Anstze, die dazu dienen, auf theoretischmethodologischem Wege diese Distanz herzustellen. Die Beachtung und Analyse von Metaphern ist ein eher die Linguistik auszeichnender Weg, „Ordnungen“ beziehungsweise kollektive Orientierungen aufzuspren. berhaupt sind die oben genannten soziologischen und sozialphilosophischen Begriffe Beispiele fr jeweils unterschiedliche Fragestellungen, Perspektiven und analytische Zugnge, mit denen versucht wird, den von den Handelnden – zumeist unbewusst – unterstellten und in kollektiven Richtig-falsch-Vorstellungen verankerten Sinn zu identifizieren. Die Vielfalt der analytischen Begriffe spiegelt zudem die Mehrschichtigkeit kollektiver Orientierungen, die zum Teil durchaus auch gegenlufig sein knnen.10 Zentral fr die Antwort auf die Frage, wie es berhaupt dazu kommen kann, dass gesellschaftliche Selbstverstndlichkeiten explizit Thema werden, ist der Umstand, dass sie soziale Konstruktionen sind. Das heißt, sie mssen erst hergestellt werden, sie stehen in Konkurrenz zu anderen Orientierungen, und sie knnen brchig wer-
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Auch Max Weber weist darauf hin, dass nicht nur „verschiedene Auffassungen des Sinnes der Ordnung nebeneinander“ gelten knnen, sondern berhaupt verschiedene Ordnungen. „Es macht der Soziologie keine Schwierigkeiten, das Nebeneinandergelten verschiedener, einander widersprechender Ordnungen innerhalb des gleichen Menschenkreises anzuerkennen. Denn sogar der Einzelne kann sein Handeln an einander widersprechenden Ordnungen orientieren. Nicht nur sukzessiv, wie es alltglich geschieht, sondern auch durch die gleiche Handlung. Wer einen Zweikampf vollzieht, orientiert sein Handeln am Ehrenkodex, indem er aber dieses Handeln verhehlt oder umgekehrt: sich dem Gericht stellt, am Strafgesetzbuch.“ (Weber 1980, 16 f.)
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den. Dies sind die gesellschaftlichen Ursachen dafr, dass denn doch immer wieder ber sie geredet wird. Das gilt insbesondere fr den Rationalisierungsgedanken als einer bis dato gesellschaftlich dominanten Norm „richtigen“ Handelns. In den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts ging es darum, ihn als Selbstverstndlichkeit zu etablieren. Mithin wurde Rationalisierung in Deutschland (und nicht nur dort) zu dem gesellschaftspolitischen Thema und von der Rationalisierungsbewegung als Lsung geradezu aller Probleme und Konflikte propagiert.11 In den dreißiger und vierziger Jahren machte sich das nationalsozialistische Regime die dem Rationalisierungsgedanken innewohnende instrumentelle Vernunft auf hchst widersprchliche und brutale Weise zu eigen – nicht nur als effiziente Art der Durchsetzung seiner Ziele, sondern auch als Legitimation dieser Ziele (vgl. Sachse 1987; Siegel 1989; Siegel/ von Freyberg 1991). Es trug paradoxer Weise nicht unwesentlich dazu bei, dass dann in der Bundesrepublik zweckrationales Handeln als schlechthin vernnftig galt, wertrationale Orientierungen hingegen dem Ideologieverdacht unterlagen (Siegel 1993). Im Klima des Wirtschaftswunders brauchte die Rationalisierung (um sie einmal zu personalisieren) nicht mehr ber sich zu reden. Seit den spten 1960er Jahren brachten die Neuen Sozialen Bewegungen dann – explizit und implizit – das Unbehagen an dem mit dem Rationalisierungsgedanken verbundenen Leistungsprinzip zum Ausdruck. In den 1970er Jahren begann auch das herkmmliche Leitbild, wie rationalisiert werden msse, brchig zu werden. Zunchst zgerlich, ab den 1980er Jahren aber immer deutlicher, wurde es durch radikal neue Leitbilder berformt, und machte Rationalisierung so auch wieder gesellschaftspolitisch von sich reden, nmlich mit dem Versprechen, dass nun endlich „richtig“ rationalisiert werde (vgl. Siegel 1995; 1999b). Diese Rckbezge zur deutschen Geschichte mgen gengen, um zu illustrieren, dass es in je national spezifischen Formen immer wieder Zeiten gab, in denen Rationalisierung explizit verhandelt wurde. Insgesamt scheint es mir kein Zufall zu sein, 11
Der Rationalisierungsgedanke wurde auch in anderen Nationen zum gesellschaftspolitischen Thema – allerdings mit unterschiedlichen Begrifflichkeiten und zeitversetzt (vgl. Rafalski 1984, Hirdman 1995, Schweitzer 1995, Mattick 1995). Wenn fr das Deutschland der 1920er Jahre von einer wahren Rationalisierungseuphorie gesprochen werden kann (Sachse 1987, von Freyberg 1989), so hatte sich beispielsweise etwas frher in den USA unter dem Wort „efficiency“ eine ganz hnliche Euphorie ausgebreitet. In seiner Suche nach dem historischen Ursprung der Effizienzbegeisterung der Amerikaner der 1960er Jahre beschreibt Samuel Haber die Jahrzehnte um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, der „progressive era“, folgendermaßen: This „era is almost made to order for the study of Americans in love with efficiency. For the progressive era gave rise to an efficiency craze – a secular Great Awakening, an outpouring of ideas and emotions in which the gospel of efficiency was preached without embarrassment to businessmen, workers, doctors, housewives, and teachers, and yes, preached even to preachers. [...] efficiency and good came closer to meaning the same thing in these years than in any other period of American history.“ (Haber 1964, IX)
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dass gerade in Phasen seiner Herstellung, seiner widersprchlichen Durchsetzung und seines Brchig-Werdens große und außerordentlich kritische Analysen der Ursprnge und Folgen des Rationalisierungsgedankens entstanden. Stellvertretend fr viele andere „große“ und „kleine“ Analysen seien hier genannt: Max Webers Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1988, erstes Erscheinen: 1920), Max Horkheimers und Theodor W. Adornos Dialektik der Aufklrung. Philosophische Fragmente (1991, erstes Erscheinen: 1944)12 sowie Michel Foucaults Ausfhrungen zum „Panoptismus“ in berwachen und Strafen. Die Geburt des Gefngnisses (dt.: 1977, frz.: 1975)13. Alle drei auch heute nicht nur aus akademischem Interesse durchaus lesenswerten Schriften gehen in ihrer Suche nach den Ursprngen weit hinter die Anfnge des zwanzigsten Jahrhunderts zurck. Doch sie beziehen sich von der Fragestellung her auf gesellschaftliche Entwicklungen ihrer Zeit, in denen Rationalisierung zum expliziten gesellschaftspolitischen Thema wurde. Die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts und dann die 1970er und folgenden Jahrzehnte markieren den Anfang und das Ende einer gesellschaftlichen Epoche, die – im Nachhinein – in Bezug auf zwei ihrer Symbolfiguren mit dem Namen Fordismus oder Taylorismus belegt wurde.14 Bezogen auf diese Epoche und im Unterschied zu den oben genannten „großen“ Analysen der Wirkmchtigkeit des Rationalisierungsgedankens in der Entwicklung moderner Gesellschaften sei hier im historischen Rckblick das Denkmuster dargestellt, das in dieser Epoche mit der Rationalisierung selber propagiert wurde. Der Krze halber und im Vertrauen darauf, dass es den LeserInnen aus ihrem Alltagshandeln wenngleich nicht immer bewusst, so doch durchaus bekannt ist, beschrnke ich mich dabei im folgenden auf die Illustration der Grundzge des im Rationalisierungsgedanken angelegten Denkmusters.15
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Der Umstand, dass bis heute in der (populr)wissenschaftlichen Literatur hufig genug unterstellt wird, die Irrationalitt der nationalsozialistischen Politik htte darin gelegen, dass sie in ihrer Praxis wie in ihrer Legitimation nicht an der instrumentellen Vernunft orientiert gewesen sei, zeigt, wie sehr gerade die von Horkheimer und Adorno in ihrer totalitren Dynamik so bitter kritisierte instrumentelle Vernunft noch immer als Rationalittskriterium gilt. Zur Art, in der das nationalsozialistische Regime sich des Rationalisierungsgedankens praktisch und legitimatorisch bediente vgl. auch: Sachse 1987; Siegel 1989; Siegel/von Freyberg 1991. Wenngleich Foucault das Wort Rationalisierung nicht benutzt und sich historisch vorwiegend auf Frankreich bezieht, beschreibt er mit dem Begriff „Disziplinen“ Technologien der Zurichtung und Selbstzurichtung (dies mehr noch in seinen spteren Schriften), die erst im Zuge der gesellschaftlichen Rationalisierung im zwanzigsten Jahrhundert so richtig zur Wirkung kamen. Taylorismus und Fordismus waren auch Begriffe, die in den Anfngen dieser Epoche gebraucht wurden. Damals aber bezog sich ersterer auf eine spezifische Form der Organisation industrieller Arbeit und letzterer zudem auf die Vision einer – endlich – gut funktionierenden Gesellschaft. Ausfhrlicher zum Denkmuster der Rationalisierung und seinen aktuellen Wandlungen vgl. Siegel 1993, Siegel/Schudlich 1993, Siegel 1995, 1999a, 1999b sowie Menz/Siegel 2002.
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Zur sinnlichen Einstimmung auf die Utopie von Wohlstand und Freiheit (von Arbeit und Konflikten), die mit Rationalisierung verbunden wurde, sei jedoch zunchst eine diese Utopie mild ironisierende Passage aus Erich Kstners Buch Der 35. Mai (1997; erstes Erscheinen: 1931) wiedergegeben. Auf seinem Weg in die imaginierte Sdsee kommt der Junge Konrad mit seinem Onkel Ringelhuth und dem sprechenden Pferd Kaballo Negro in die restlos durchmechanisierte Stadt „Elektropolis“ und bestaunt die „Viehverwertungsstelle Elektropolis“ (109 – 112): „Unabsehbare Viehherden warteten darauf, nutzbringend verarbeitet zu werden. Sie drngten sich, muhend und stampfend, vor einem ungeheuer großen Saugtrichter, der gut seine zwanzig Meter Durchmesser hatte. Sie drngten einander in den Trichter hinein. Ochsen, Khe, Klber – alle verschwanden sie zu Hunderten, geheimnisvoll angezogen, in der metallisch glnzenden ffnung. [...] Konrad lief an der Lngsseite der Maschinenhalle entlang. Man hrte das Gerusch von Motoren und Kolben. Ringelhuth und das Pferd hatten Mhe, dem Jungen zu folgen. Endlich erreichten sie die Rckseite der Fabrikanlage. Dort standen, in langer Reihe, elektrische Gterzge. Und aus der Hinterfront des Gebudes fielen die Fertigfabrikate der Viehverwertungsstelle in die Eisenbahnwaggons. Aus einer der Wandluken fielen Lederkoffer, aus der anderen Fsser mit Butter, aus einer dritten purzelten Kalblederschuhe, aus einer vierten Bchsen mit Ochsenmaulsalat, aus einer fnften große Schweizerkse, aus einer sechsten rollten Tonnen mit Gefrierfleisch; aus wieder anderen Luken fielen Hornkmme, Dauerwrste, gegerbte Hute, Kannen voll Milch, Violinsaiten, Kisten mit Schlagsahne und vieles noch. Waren die Waggons gefllt, so lutete eine Glocke. Dann rckten die Zge weiter vor, und leere Waggons fuhren unter die Luken, um beladen zu werden. ‚Und nirgends eine Menschenseele! Nichts als Ochsen!‘, rief Onkel Ringelhuth. ‚Alles elektrisch! Alles automatisch!‘ Aber gerade als er das rief, kam ein Mann ber den Fabrikhof geschlendert. Er grßte und sagte: ‚Ich habe heute Dienst. Jeden Monat einmal. Zwlf Tage im Jahr. Ich beaufsichtige die Maschinerie.‘ ‚Eine Frage, Herr Nachbar‘, sagte das Pferd. ‚Was machen Sie eigentlich an den brigen dreihundertdreiundfnfzig Tagen des Jahres?‘ ‚Da seien Sie mal ganz ohne Sorge‘, meinte der Mann vergngt. ‚Ich habe einen Gemsegarten. Außerdem spiele ich gerne Fußball. Und malen lerne ich auch. Und manchmal lese ich Geschichtsbcher. Ist ja hochinteressant, wie umstndlich die Leute frher waren!‘“
Kstner war wohlgemerkt kein Propagandist der Rationalisierung. Vielmehr karikierte er hier in der einem Kinderbuch angemessenen Form die Vision einer heilen, von aller Mhsal und allen Konflikten befreiten Gesellschaft, so wie sie von der Rationalisierungsbewegung der 1920er Jahre suggeriert wurde. Als Beispiel nahm er nicht zufllig die „Viehverwertungsstelle“. Denn noch vor Henry Ford und seiner Einfhrung des Fließbands (1914) waren die Schlachthfe Chicagos zum berhmt berchtigten Wahrzeichen der arbeitsteiligen und mechanisierten Massenproduk-
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tion geworden. Zeitgenssische Schilderungen16 zeigen, dass Rationalisierung, soweit sie nicht mit kompensierenden wirtschaftlichem Wachstum verbunden ist, in der Tat Arbeitskrfte „freisetzt“. Nur landeten sie nicht im Wohlstand und Mßiggang, sondern im Elend. Auch kam die mechanisierte Produktion nie ohne Menschen aus – so sehr sich Rationalisierungsexperten auch die Eliminierung dieses „Strfaktors“ gewnscht haben mgen. Und schließlich war die Situation der in dieser Produktion arbeitenden Menschen keineswegs immer rosig. Der Rationalisierungsgedanke ist gleichsam die Inkarnation zweckrationalen Handelns, geht es doch darum, den Aufwand an Zeit, Kraft und Material „wissenschaftlich“ planend zu minimieren, um so den Ertrag zu optimieren. Da dieser Gedanke zunchst fr den am Zweck der Verwertung des Kapitals ausgerichteten kapitalistischen Betrieb entwickelt wurde, ging es jedoch nicht um die Reduktion des Aufwandes an Zeit, Kraft und Material schlechthin, sondern darum, das zu reduzieren, was aus der Sicht des Betriebszwecks, nicht aber aus der Sicht der Arbeitskrfte oder der Gesellschaft als „Vergeudung“ identifiziert wurde. Ein Paradebeispiel fr Rationalisierung sind die Grundstze der wissenschaftlichen Betriebsfhrung mit denen Frederick W. Taylor (1977/1911) das Ziel verfolgte, den (bezahlten) Aufwand menschlicher Arbeitszeit und Arbeitskraft systematisch zu minimieren. Das Menschenbild, von dem er ausging, war das des homo oeconomicus. Auf die Arbeiter bezogen (von Arbeiterinnen sprach er nicht) bedeutete dies fr ihn, dass sie einzig am Lohn interessiert seien und nach Mglichkeit, d. h. wenn man sie nicht kontrollierte, bei der Arbeit bummelten. Dieser Vergeudung sagte er den wissenschaftlichen Kampf an – wobei er Wissenschaft auf Methode reduzierte. Das wichtigste Mittel war die Trennung von Kopfund Handarbeit. Das hieß, dass Experten den Arbeitsprozesse analysieren, neu planen und ihn, indem sie genau vorgeben, was, wann, wie und wie schnell getan werden soll, der Kontrolle der Arbeitenden entziehen. Daraus resultiert erstens eine hierarchische Teilung der Arbeit: Ganz oben stehen die Analyse, Planung, Anweisung, berwachung und Kontrolle der Arbeit, und unten steht die Ausfhrung der Arbeit. Verbunden damit ist zweitens die funktionale Teilung der Arbeit. Jeder Funktion beziehungsweise Bewegungsausfhrung wird eine Arbeitskraft zugeteilt, was wiederum die „wissenschaftliche“ Auslese der Arbeitskrfte zur Folge hat. Die hierarchische und funktionale Arbeitsteilung, die ja auch ber die relative Wertigkeit der Ttigkeiten entscheidet, fhrt schließlich zur Hierarchisierung von Menschen, je nachdem, ob die Funktion, die sie ausben beziehungsweise fr die sie als geeignet scheinen, fr wichtig oder weniger wichtig erklrt wird, beziehungsweise zu welchen Kosten die dafr vorgesehenen Arbeitskrfte ausgetauscht werden knnten. 16
Besonders eindrucksvoll ist die Schilderung in Upton Sinclairs Roman Im Dschungel (dt.: 1981, am.: 1906).
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Henry Ford wiederum und die Einrichtung des Fließbands gelten als das Paradebeispiel fr die technisch-organisatorische Umsetzung des Anspruchs von Rationalisierung, jegliche Vergeudung von Zeit, Kraft und Material wissenschaftlich und planvoll zu minimieren. Sein Name steht aber auch fr das die Geschichte der Rationalisierung charakterisierende Bestreben, die Umwelt des Betriebs in den – rationalisierenden – Griff zu bekommen. Der „wissenschaftliche“ Blick hat nmlich die Aufmerksamkeit der Rationalisierungsexperten auf einen wichtigen Kostenfaktor gelenkt: die Strung. Je mehr die Elemente des Produktionsprozesses mechanisiert und miteinander verknpft sind, um ihn in sich strungsfrei zu machen, desto teurer werden Strungen, die von außen kommen. Damit das Fließband strungsfrei „fließen“ konnte, verband Henry Ford die ganze, wie es heute so schn heißt, „Wertschpfungskette“ von der Rohstoffgewinnung ber die Produktion bis hin zur Vermarktung unter einem Unternehmensdach. Darber hinaus begriff er, wie kostentrchtig Arbeitskrfte sein knnen, wenn sie ungesund und undiszipliniert sind und so zu Strfaktoren werden. Er richtete in seinem Unternehmen eine „soziologische Abteilung“ ein, die „Fabrikinspektoren“ aussandte, welche man eigentlich „Familieninspektoren“ nennen msste, sollten sie doch kontrollieren, ob sich Fords Arbeiter einer vernnftigen, d. h. nach damaligen Vorstellungen rationalisierungsgerechten Lebensweise befleißigten. Sie sollten sparsam, gesund, sauber in einer ordentlichen „amerikanischen“ Kleinfamilie leben, pnktlich und nchtern zur Arbeit erscheinen (Ford 1923). Taylor und Ford sind hier nur stellvertretend genannt, um den Blick von Rationalisierungsexperten auf die Menschen und die Gesellschaft zu illustrieren. Auch war, wie weiter oben erwhnt, die Entwicklung dieser Perspektive in der Epoche des Fordismus nicht nur den USA eigen. So gehrte es beispielsweise auch im Deutschland der Weimarer Republik zu den Charakteristika des Fordismus, dass das Prinzip, Strungen zu vermeiden, den Blick der industriellen Rationalisierung auf die „Erziehung der Massen“ richtete und zur Entwicklung von Maßnahmen betrieblicher Sozialpolitik fhrte, mit denen versucht wurde, die Arbeitskrfte – und ihre Familien – fr den rationalisierten Arbeitsprozess physisch und psychisch zu konditionieren (vgl. Sachse 1986). Die Wirkung der Rationalisierung auf die Gesellschaft lsst sich jedoch nicht allein auf Strategien des industriellen Managements reduzieren. Der Rationalisierungsgedanke wurde von Reformbewegungen unterschiedlichster Couleur als die vernnftige Orientierung menschlichen Handelns schlechthin propagiert. Analog zur tayloristischen Trennung zwischen Planung und Ausfhrung der Arbeit im Betrieb sollte auch in anderen Bereiche der Gesellschaft Expertenwissen ber Erfahrungswissen gestellt und die Vorstellung bernommen werden, dass es nur richtig sei, berall wissenschaftlich und planvoll den Aufwand zu reduzieren und Strungen zu vermeiden. Horden von Experten erteilten den Menschen und Institutionen Rat fr eine rationalisierte Lebensfhrung – im Woh-
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nen, im Essen, in der Gesundheitspflege, in der Krperkultur ..., ja sogar im Fußbodenwischen, im Tanzen, im Sexualverkehr. An anderer Stelle bin ich ausfhrlicher auf die Geschichte der Rationalisierung in Deutschland eingegangen (vgl. Siegel 1989, Siegel/von Freyberg 1991, Siegel 1993). Hier sollen die ußerst kurzen historischen Exkurse lediglich das illustrieren, was Rationalisierung als Denkmuster ausmacht: – Der Rationalisierungsgedanke ist abstrakt. Seine Devise, Vergeudung zu minimieren, kann (wenn man will) auf alle Lebensbereiche bertragen werden. – Die Attraktivitt des Rationalisierungsgedankens beruht darin, dass er mit dem Versprechen auf materiellen Wohlstand (weniger Vergeudung und mehr Ertrag) verbunden wird und die Gleichheit aller vor dem Gesetz der Effizienz suggeriert. Aber: – Rationalisierung ist ein „Um-zu-Handeln“. Sie setzt voraus, dass man sein Handeln an einem ußeren Zweck orientiert. Ein Tun um der Sache selber willen, etwa mßig im Caf rumsitzen oder durch Laufen dem Bewegungsdrang nachgeben, lsst sich in Kategorien der Rationalisierung nicht fassen – wohl aber das Geschftsessen, um einen Auftrag zu bekommen, oder das Jogging, um sich fr die Arbeit fit zu machen. – Rationalisierung setzt „Einzweckdenken“ voraus. Denn Vergeudung kann nur auf einen klar bestimmten Zweck hin definiert werden. Unter dem Gesichtspunkt der reinen Nahrungsaufnahme beispielsweise ist ein ausgedehntes Geschftsessen reine Zeitverschwendung; unter dem Gesichtspunkt eines daraus folgenden Vertragsabschlusses hingegen nicht. – Rationalisierung ist borniert. Sie richtet sich auf die Reduktion nur der Kosten, die in der Realisierung des jeweilig vorgegebenen Zwecks entstehen. Mit gleichsam strategischer Dummheit werden jene Kosten nicht bercksichtigt, die im Zuge dieser Reduktion auf andere Bereiche abgewlzt werden. Beispielsweise die den Menschen und der Gesellschaft aufgebrdeten Kosten betrieblicher Rationalisierung (etwa die physische und psychische Belastung der Arbeitskrfte oder aber Umweltverschmutzungen) geraten erst dann in den Blick der Rationalisierung, wenn sie „im Betrieb“ wieder als Strfaktoren auftauchen. – Das Einzweckdenken der Rationalisierung bedeutet auch, dass Zwecke (und Funktionen) separiert und als vorrangig, nachrangig und unwichtig hierarchisiert werden. Entsprechend werden auch die Menschen, die sie ausfllen (sollen), hierarchisiert. – Mit ihrem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit stellt Rationalisierung Expertenwissen ber Erfahrungswissen. – In dem Maße, wie der Rationalisierungsgedanke zur gesellschaftlich dominanten Norm richtigen Handelns wird, beansprucht er Exklusivitt. Andere Orientie-
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rungen des Handelns, mithin Menschen, die diesen folgen, gelten als irrational, unberechenbar, ineffizient. – Rationalisierung wurde gleichgesetzt mit Qualitten wie „objektiv“ und „rational“ im Gegensatz zu minder geachteten, ja sogar als strend definierten Qualitten wie „subjektiv“ und „emotional“. Indem erstere als „mnnlich“ und letztere als „weiblich“ konnotiert wurden, machte sich die Rationalisierung die durchaus auch genutzten „weiblichen“ Eigenschaften des Arbeitsvermgens als weniger zu honorierende zunutze und wirkte strukturierend auf das Geschlechterverhltnis.17 – In der Geschichte des Fordismus wurde als Pendant zum auf den mnnlichen Arbeitsnehmer zugeschnittenen Normalarbeitsverhltnis das damals rationalisierungsgerechte Konstrukt der Kleinfamilie als Normalfamilie geschaffen (Eckart 1993; Siegel 1999a) – „natrlich“ verdient der Mann die Brtchen und die Frau schmiert sie. Das Paradoxon dieser Geschichte ist, dass die Rationalisierung mit ihrem Versprechen, alle seien gleich vor ihrem Gesetz (der Effizienz), auch zur Auflsung der Normalfamilie und des Normalarbeitsverhltnisses beitrgt. – berhaupt kennt der Rationalisierungsgedanke aus sich selber heraus keinen Endpunkt. In jedem Aufwand kann immer wieder Vergeudung entdeckt werden. Das heißt, im historischen Verlauf wird auch das bereits rationalisierte wiederum rationalisiert und ndert sich – aufgrund vergangener Erfahrung – das „wie“ der Rationalisierung. Das Prinzip allerdings, unablssig nach Vergeudung zu fahnden, bleibt bestehen, solange rationalisiert wird. Soweit zentrale Charakteristika des Rationalisierungsgedankens, so wie er im Fordismus zu einer dominanten gesellschaftlichen Norm richtigen Handelns geworden ist. Sie legen es nahe, ihn als Ideologie zu bezeichnen. Dieser Begriff aber suggeriert einen Standpunkt, von dem aus man das Bewusstsein der anderen als falsch identifiziert – so als wre man selber im Besitz des richtigen Denkens. In der berzeugung, dass es insofern keinen Ort des „richtigen“ Denkens gibt, als wir alle historisch-kulturell spezifischen kollektiv geteilten Richtig-falsch-Vorstellungen unterliegen, ziehe ich als analytische Bezeichnung des Rationalisierungsgedankens den unverfnglicheren und in der soziologischen Theorienbildung weniger belasteten Begriff „Denkmuster“ vor. Der Wortteil „Denken“ mag suggerieren, dass sich das Ganze bewusst abspielt. Aber gerade darauf zielt der Begriff „Denkmuster“ nicht ab. Vielmehr geht es um Wenn-dann-Muster, gleichsam die logische Konsequenz, wenn sich Men-
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Zu einer ausfhrlichen Reinterpretation des Verhltnisses von Rationalisierung und der Kategorie Geschlecht in Hinblick auf gegenwrtige Entwicklungen vgl. auch Brigitte Aulenbacher, Rationalisierung und Geschlecht (im Erscheinen).
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schen in ihrem Handeln und dessen Legitimation am Rationalisierungsgedanken orientieren. An sich ist das Prinzip der Rationalisierung ja ußerst schlicht: Mit weniger (Aufwand) mehr (Ertrag). Doch sagt der Rationalisierungsgedanke als gesellschaftlich dominante Norm richtigen Handelns nicht nur, dass man den Betrieb, die Gesellschaft, sich selber und seine sozialen Beziehungen „rational“ und strungsfrei zu gestalten habe. Vielmehr schreibt er, je nach historisch spezifischer Variante der Rationalisierungsanforderungen und der entsprechend „richtigen“ Selbstrationalisierung, auch einen ganzen Rattenschwanz von Handlungsorientierungen vor. Wenn ich beispielsweise mein Leben endlich in Ordnung bringen will, weiß ich ohne viel nachzudenken, was ich zu tun habe. Ich verbiete mir das „sinnlose“ Rumtrdeln, gehe ins Fitness-Studio, um mich auf Vordermann zu bringen, plane meinen Tagesablauf rationell, kaufe mir Ratgeber, um meine Beziehung in Schwung zu bringen ... – und schme mich, wenn ich das alles nicht durchhalte. Dieses Beispiel mag illustrieren, dass der Rationalisierungsgedanke als kollektiv verankertes Denkmuster das Handeln zwar prgt, es aber keineswegs durchgngig determiniert. Er ußert sich nicht nur im Tun, sondern auch in der Legitimation des Tuns und darin, dass man, wenn man sich nicht ihm entsprechend verhlt, wenigstens so tut als ob oder sich schmt. Bemerkenswert ist allerdings, dass mit dem Rationalisierungsgedanken die zweckrationalen Bestimmungsgrnde sozialen Handelns gleichsam in die Rolle wertrationaler Bestimmungsgrnde geschlpft sind. Effizienz und die an einem berindividuellen Maßstab gemessene Leistung sind zum Wert an sich geworden. Wenn im Utilitarismus des neunzehnten Jahrhunderts die Ntzlichkeit zum Bewertungskriterium der sittlichen Qualitt einer Handlung erhoben wurde, so ist mit dem Einzweckdenken der Rationalisierung im zwanzigsten Jahrhundert die Effizienz zum Bewertungskriterium richtigen Handelns geworden.18 In dem Kinderbuch von Erich Kstner (1997/1931, 114) hat Rationalisierung ein Ende. Elektropolis und seine Viehverwertungsstelle drehen durch – aufgrund ußerer Ereignisse: „Die Katastrophe begann damit, dass die Elektrizittswerke der Stadt, infolge der berschwemmungen am Niagara, von der hundertfachen Kraft getrieben wurden. Die Maschinen der Viehverwertungsstelle liefen, als smtliche Herden verarbeitetet worden waren, leer. Schließlich liefen sie rckwrts, saugten die Butterfsser, den Kse, die Koffer, die Stiefel, das Gefrierfleisch, die Dauerwurst und alles brige aus den Waggons heraus und
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Im bergang zum 21. Jahrhundert scheint die Orientierung an der Effizienz zu erodieren und ersetzt zu werden von der an der Effektivitt – nach dem Prinzip: Egal wie, die Hauptsache ist der Effekt.
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spien, am Fabriktor, das ursprngliche Vieh wieder aus dem Trichter. Die Ochsen, Klber und Khe rannten brllend und nervs auf die Straße und in die Stadt hinein.“
Die raue postfordistische Wirklichkeit hingegen bedeutet nicht das Ende der Rationalisierung, wohl aber einen Wandel des Leitbilds davon, wie rationalisiert werden msse. Im Leitbild der „schlanken Produktion“ kommt zum Ausdruck, dass die Rationalisierung auch vor dem nicht halt macht, was sie selber hervorbrachte (vgl. Aulenbacher 1995; Siegel 1995, 1999b). War das fordistische Rationalisierungsleitbild von dem Bestreben geprgt, alles, aber auch alles kontrollierend in den Griff zu bekommen, um kostentrchtige Strungen zu neutralisieren, so zielt das Leitbild der „schlanken Produktion“ darauf ab, sich nach Mglichkeit der Kontrollkosten zu entledigen. Das hat betrchtliche gesellschaftliche Konsequenzen, von denen hier nur einige angedeutet seien. Das fordistische Versprechen beispielsweise, Rationalisierung werde zu allgemeinem Wohlstand fhren, wurde zwar nie nachhaltig verwirklicht, immerhin aber gemacht. Heute hingegen gilt es als ausgemacht, dass wir auch knftig mit einem hohen Sockel an Arbeitslosigkeit leben mssen. In diesem Zusammenhang ist die Metapher von der „atmenden Belegschaft“ signifikant. Gemeint ist damit, dass Unternehmen ihre Belegschaft je nach Bedarf ein- und ausatmen knnen sollen. Letztlich, so das Postulat, msse jede und jeder damit rechnen, ab und zu ausgeatmet zu werden, daher seien alle dazu aufgerufen, sich selber zu rationalisieren und auf stndig neue Arbeitsbedingungen einzustellen, denn nur so haben sie die Chance, auch wieder eingeatmet zu werden. Diesem Menschenbild entspricht ein Gesellschaftsbild, in dem sich die Abkehr von zwei fordistischen Richtigkeitsvorstellungen verbirgt: von der berzeugung, zum Zwecke einer florierenden Privatwirtschaft und zur Absicherung der industriellen Rationalisierung mssten die ffentlichen Einrichtungen anders, eben nicht nach dem Profitprinzip funktionieren, und von der berzeugung, der Staat msse Vorkehrungen zur mentalen und physischen Konditionierung „der Massen“ und zur Sicherung eines sozialen Konsenses treffen. Beide Vorstellungen, die einstmals als rationalisierungsgerecht galten, werden nun als zu teuer, mithin ineffizient revidiert. Als Argument wird die Notwendigkeit Kosten einzusparen angefhrt. Doch bleibt es nicht dabei. Vielmehr wird dieses Argument wie selbstverstndlich mit der bertragung von privatwirtschaftlichen Rationalisierungs- und Effizienzkriterien auf ffentliche Einrichtungen – Kommunalverwaltungen, Krankenhuser, Schulen, Universitten – verbunden19, so als seien diese Kriterien die „natrlich“ einzig richtigen und als funktioniere die Privatwirtschaft durchgngig effizient und rational. Die schlanke Reform des ffentlichen Dienstes signalisiert eine beeindruckende Radikalisierung des Rationalisierungsgedankens. Denn es entsteht das Bild einer 19
Ausfhrlich zur Neuorientierung der Kommunen und der Universitten vgl. den Beitrag von Susan Geideck und den Beitrag von Josef Klein im vorliegenden Band.
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Gesellschaft, in der sich die Rationalisierung aus sich selbst, als reine Zweckrationalitt legitimiert – so als gbe es keine anderen Orientierungen sozialen Handelns und als knnten die Mittel und die Zwecke rein „sachlich“, das heißt jenseits des Aushandelns gesellschaftlicher Werte definiert werden. Nun unterliegt man, wenn man sich mit dem Denkmuster der Rationalisierung befasst, all zu leicht der in ihm angelegten gleichsam gnadenlosen Dynamik – und findet sich dann in guter Gesellschaft beispielsweise mit Weber oder Horkheimer und Adorno. Deren Sicht auf die gesellschaftlichen Folgen des Rationalisierungsgedankens konnte pessimistischer nicht sein.20 Deshalb sei abschließend betont, dass die dem Denkmuster der Rationalisierung innewohnende Dynamik nicht mit gesellschaftlicher Entwicklung schlechthin gleichzusetzen ist. Der Rationalisierungsgedanke ist zwar eine wirkmchtige Orientierung des Handelns, aber auf der Ebene des tatschlichen Handelns konkurriert er mit anderen Orientierungen und wird seine Dynamik dort hufig genug gebrochen. Zudem kann man die Geschichte der Rationalisierung auch als einen Lernprozess begreifen, in dem die Menschen immer wieder auch die Folgen der strategischen Dummheit der Rationalisierung sprten. Und schließlich kann man mit (dem „spten“) Foucault vermuten, dass die Fhigkeit, das selbstverstndlich „natrliche“ des Rationalisierungsgedankens als soziales Konstrukt zu entschlsseln, sicherlich auch ein Produkt der Erfahrungen und Lernprozesse mit Rationalisierung ist.
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Max Weber (1988/1920, 203) sprach von dem ’mchtigen Kosmos der modernen, an die technischen und konomischen Voraussetzungen mechanisch maschineller Produktion gebundenen, Wirtschaftsordnung [...], der heute den Lebensstil aller einzelnen, die in dies Triebwerk hineingeboren werden ..., mit berwltigendem Zwange bestimmt und vielleicht bestimmen wird, bis der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglht ist.“ Und Horkheimer/Adorno (1991/1944. 43): „Je komplizierter und feiner die gesellschaftliche, konomische und wissenschaftliche Apparatur, auf deren Bedienung das Produktionssystem den Leib lngst abgestimmt hat, um so verarmter die Erlebnisse, deren er fhig ist. Die Eliminierung der Qualitten, ihre Umrechnung in Funktionen bertrgt sich von der Wissenschaft vermge der rationalisierten Arbeitsweisen auf die Erfahrungswelt der Vlker und hnelt sie tendenziell wieder der der Lurche an.“
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Karsten Kassner
Soziale Deutungsmuster – ber aktuelle Anstze zur Erforschung kollektiver Sinnzusammenhnge 1. Einleitung – Kollektive Sinnzusammenhnge Alltagshandeln ist typischerweise dadurch gekennzeichnet, dass wir tagtglich die uns umgebende Welt einordnen, in verschiedenster Weise sortieren und daran unser Verhalten ausrichten. Dies tun wir jedoch beilufig, wie selbstverstndlich und ohne jedesmal bewußt darber nachzudenken. Auch haben wir uns die zugrundeliegenden „Sortierraster“ in der Regel nicht selbst ausgedacht. Es sind vielmehr berindividuelle Bestandteile eines zumeist fraglos gegebenen und gemeinsam geteilten Alltagswissens, das sich vorreflexiv im Rahmen von alltglichen Handlungsvollzgen praktisch umsetzt. Dieses Alltagswissen und die darin eingelagerten kollektiven Sinnzusammenhnge sind Gegenstand des folgenden Aufsatzes. Konzeptionell geht es dabei um die Frage, in welcher Weise die Einsicht zu fassen ist, dass es Sinngehalte sozialer Praxis gibt, die ber den subjektiven Sinn von Wahrnehmungs-, Interpretations- und Handlungspraxen innerhalb sozialer Situationen hinausweisen. Zugleich ist damit die Frage nach der Verortung der Sinngehalte gestellt, wenn diese nicht dem subjektiv gemeinten Sinn und also einem intentionalen Handeln zugerechnet werden sollen. Nehmen wir das handelnde Subjekt als Ausgangspunkt, lsst sich der gesuchte ‚Ort‘ in lebensgeschichtlichen Erfahrungszusammenhngen finden, die ber aktuelle Handlungssituationen hinausragen, gleichwohl aber Eingang in subjektive Handlungsvollzge finden. Die abgelagerten Erfahrungsschichten des gelebten Lebens sind allerdings vielfltiger Art und umfassen die persnliche Entwicklungsgeschichte ebenso, wie die Einbindung des Individuums in komplexe gesellschaftliche Zusammenhnge. Insofern grnden kollektive Sinnzusammenhnge weniger in den Besonderheiten der individuellen Biografie als in sozialen Feldern unterschiedlicher Grße und Persistenz, die einen bestimmten gemeinsamen Erfahrungszusammenhang konstituieren. Hinter dieser theoretischen Figur steckt im Prinzip nichts anderes als die wissenssoziologische Grundfrage nach der Seinsgebundenheit bzw. Standortgebundenheit des Wissens. Diese lsst sich analytisch weiter auffchern in die Fragen danach, welches Wissen in Form und Inhalt gemeint ist, in welcher Weise dieses Wissen ‚gebunden‘ und an was genau es gebunden ist? Je nach Ausgangsfrage und soziologischer Tradition sind immer wieder Versuche unternommen worden, die Ebene dieser alltagsweltlichen Wissensbestnde konzeptionell auf den Begriff zu bringen. Sie verbindet sich unter anderem mit Begriffen wie soziale Deutungsmuster, Orientierungsmuster, Rahmen oder Habitus (vgl. u. a.
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Meuser/Sackmann 1992; Willems 1997). Whrend sich die letztgenannten Kategorien jedoch bestimmten und klar abgrenzbaren theoretischen Entwrfen zurechnen lassen, ist das beim Deutungsmusterbegriff keineswegs in gleicher Weise der Fall.1 Der Deutungsmusteransatz geht ursprnglich auf ein Papier von Oevermann aus den 70er Jahren zurck, ist von diesem aber damals nicht systematisch weiterverfolgt worden.2 Auch oder gerade wegen fehlender exakter Bestimmung hat der Begriff in der Folge – zumeist im Sinne eines heuristischen Konzepts – jedoch vielfltige Verwendung innerhalb qualitativ orientierter empirischer Sozialforschung gefunden.3 In jngster Zeit sind nun einige Arbeiten vorgelegt wurden, die den Versuch einer theoretischen und methodischen Konkretisierung unternehmen. Aus einer eher strukturtheoretischen Sicht hat zum einen Oevermann selbst die Thematik erneut aufgegriffen (2001b und 2001c). Zum anderen gibt es aus einem wissenssoziologischen Selbstverstndnis heraus eigene Konzeptionalisierungsvorschlge durch Plaß/Schetsche (2001) sowie durch Ullrich (1999a und 1999b). Im Folgenden sollen diese Arbeiten zum Ausgangspunkt genommen werden, um daran Gemeinsamkeiten und Unterschiede der konzeptionellen Herangehensweise an eine Deutungsmusteranalyse nher herauszuarbeiten. Dazu mchte ich mit drei Textauszgen beginnen, die jeweils eine erste definitorische Annherung versuchen.
2. Das Konzept sozialer Deutungsmuster und seine Bedeutungsgehalte Ullrich ist primr mit methodischen Fragen der Analyse lebensweltlich verankerter sozialer Deutungsmuster beschftigt und stellt dazu das eigens entwickelte Konzept des diskursiven Interviews zur Debatte. Hinsichtlich des Deutungsmusterbegriffs greift er (Ullrich 1999a, 429) auf einen Definitionsversuch von Arnold (1983, 894) zurck: „Als Deutungsmuster werden die mehr oder weniger zeitstabilen und in gewisser Weise stereotypen Sichtweisen und Interpretationen von Mitgliedern einer sozialen Gruppe be1
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Der Begriff des Orientierungsmuster, verbunden mit der dokumentarischen Methode der Interpretation, ist von Bohnsack in Anknpfung an die wissenssoziologischen Arbeiten von Karl Mannheim in die Diskussion gebracht worden (Bohnsack 1997 und 2001), der Rahmenbegriff geht zentral auf die Rahmenanalyse von Goffman (1977) zurck und der Begriff des Habitus ist in der Soziologie untrennbar mit der Theorie der Praxis Pierre Bourdieus (1993) verbunden. Neuerdings werden vor allem auch zwischen der dokumentarischen Methode und der Habitustheorie Gemeinsamkeiten herausgestellt (vgl. dazu ausfhrlich Meuser 1999 und 2001). Das Papier von 1973 existierte lange Zeit nur als unverffentlichtes Manuskript, hat aber gleichwohl große Wirkung entfaltet. Erst krzlich ist es nun durch den Autor publiziert worden (Oevermann 2001a). Vergleiche fr eine berblick unter anderem die Aufstze von Arnold 1983, Lders 1991, Lders/ Meuser 1997 oder Meuser/Sackmann 1992.
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zeichnet, die diese zu ihren alltglichen Handlungs- und Interaktionsbereichen lebensgeschichtlich entwickelt haben. Im einzelnen bilden diese Deutungsmuster ein Orientierungs- und Rechtfertigungspotential von Alltagswissensbestnden in der Form grundlegender, eher latenter Situations-, Beziehungs- und Selbstdefinitionen, in denen das Individuum seine Identitt prsentiert und seine Handlungsfhigkeit aufrechterhlt.“
Demgegenber beschreibt Oevermann (2001b, 37) rckblickend den Grundgedanken des Deutungsmusteransatzes wie folgt: „Der Grundgedanke war ein einfacher: Auf der einen Seite haben wir ein kollektiv vereinheitlichendes, gemeinsames Handlungsproblem in seiner objektiven Gegebenheit vor uns (...). Dieses Problem zieht in seiner Krisenhaftigkeit eine Deutungsbedrftigkeit nach sich. Es ist so gravierend, dass es nicht jedes Mal von neuem gewissermaßen von Null aus gelst werden kann und muss, sondern jede einzelne Sozialisationspraxis sich auf voreingerichtete Traditionen – oder eben: Deutungsmuster – wie von selbst sttzen knnen muss. Auf der anderen Seite stehen also den objektiven Handlungsproblemen, worin sie im einzelnen auch immer bestehen mgen, kollektiv verbrgte, in konkreten Milieus oder Lebenswelten verankerte Muster ihrer routinisierten Deutung gegenber, die einen veralltglichten Umgang mit diesen Problemen ermglichen.“
Plaß/Schetsche (2001, 523) wiederum wollen in ihrem Aufsatz die Grundzge einer wissenssoziologischen Theorie sozialer Deutungsmuster entwickeln und fhren dazu aus: „Deutungsmuster sind sozial geltende, mit Anleitungen zum Handeln verbundene Interpretationen der ußeren Welt und der inneren Zustnde. Es handelt sich um lebensweltliche Wissensformen, die sich von anderem Alltagswissen hinsichtlich ihres Modellcharakters, Handlungsbezugs und Verbreitungsgrades unterscheiden. Deutungsmuster strukturieren das kollektive Alltagshandeln, in dem sie Modelle von (ideal-)typischen Situationen bereitstellen, unter die Sachverhalte, Ereignisse und Erfahrungen anhand bestimmter Merkmale subsumiert werden. Durch die damit verbundene Reduktion von Komplexitt werden Situationen fr die Subjekte kognitiv und praktisch bewltigbar, einzelne Informationen werden mit Sinn erfllt, bewertet und in vorhandenes Wissen eingebaut.“
2.1. Objektive Handlungsprobleme – Deutung – Alltagspraxis In den eben zitierten Textpassagen sind sich die AutorInnen darber einig, dass mit dem Begriff Deutungsmuster Wissensbestnde benannt sind, vermittels derer alltgliche Wahrnehmungs-, Interpretations- und Handlungsprozesse ablaufen. Insofern stimmen sie im Grundsatz berein, dass soziale Deutungsmuster eine „konstitutive Bedingung der Handlungsfhigkeit von Individuen“ (Ullrich 1999b, 3) darstellen. In der genauen Modellierung des Zusammenhangs von individuellem Alltagshandeln, kollektiven Deutungsangeboten und lebensweltlichen Strukturbedingungen bestehen jedoch durchaus Unterschiede.
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Fr Oevermann sind Deutungsmuster funktional auf objektive Handlungsprobleme, d. h. auf „immer wiederkehrende und insofern universell virulente und deshalb deutungsbedrftige Strukturprobleme des sozialen Lebens“ (2001c, 545) bezogen. Gemeint sind damit kollektiv geteilte Handlungsprobleme, welche die Gesellschaftsmitglieder weder subjektiv noch situationsbezogen immer wieder von neuem lsen. Vielmehr finden sie in ihrer Lebenswelt feststehende und voreingerichtete Interpretationsmuster und Sinnzusammenhnge vor, die ihnen als je historisch spezifische ‚Lsungen‘ gegenbertreten. Diese ermglichen im Alltag einen fraglosen und selbstverstndlichen Umgang mit den Handlungsproblemen. Sie sind damit zugleich Formen der Wahrnehmung und Interpretation der sozialen Welt – geben also einen Rahmen fr mgliche Erfahrungen ab – als auch Mittel zur Handlungsbewltigung. Bereits in seinem Papier aus den 1970er Jahren hat Oevermann dabei betont, dass sozialstrukturell induzierte objektive Handlungsprobleme und soziale Deutungsmuster unauflslich in einem zirkulren Wechselverhltnis stehen. Die Handlungsprobleme selbst sind immer schon vermittels Deutungsmustern interpretiert, welche wiederum aus der Interpretationsbedrftigkeit der strukturell wiederkehrenden Probleme erwachsen. Analytisch lsst sich dieser prozesshafte Zusammenhang letztlich nur durch ein historisch-genetisches Spiralmodell erfassen, in welchem „willkrlich zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt objektive Handlungsprobleme als Anfangsbedingungen fr die soziale Konstruktion von Deutungsmustern angegeben werden, und dann der Prozess der Verselbstndigung der Deutungsmuster analysiert wird“ (Oevermann 2001a, 5). Auch Ullrich und Plaß/Schetsche nehmen dieses Wechselverhltnis zwischen der Konstruktion sozialer Wirklichkeit im Deutungsprozess und der verobjektivierten Realitt sozialer Konstrukte grundstzlich in Anspruch, lsen es aber strker in Richtung einer situativen Handlungstheorie auf. Deutungsmuster stehen fr Ullrich (1999b, 3f ) in einem funktionalen Bezug zu „objektiven Situationen“.4 Im Rckgriff darauf entwickeln Handelnde jeweils adquate Situationsdefinitionen und Handlungsorientierungen, die, bei interaktiver Besttigung, zugleich das Deutungsmuster verfestigen. Plaß/Schetsche wiederum verfolgen am strksten eine sozialkonstruktivistische Perspektive, in der die „mustergeleitete Definition einer Situation“ (2001, 523) zwar in konkretes Handeln eingeht, sich darber jedoch vor allem der Prozess der Konstruktion sozialer Wirklichkeit vermittelt. Insofern lsen sie den durch Oevermann betonten Zusammenhang einseitig in eine Richtung auf. „‚Objektive Handlungsprobleme‘“, so schreiben sie, „(...) sind in diesem Verstndnis weniger die Voraussetzung, als vielmehr die Folge der Verbreitung spezifischer sozialer Deutungsmuster“ (Plaß/Schetsche 2001, 533).
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Allerdings verwendet er diesen Begriff offenbar synonym mit Handlungs- bzw. Bezugsproblem.
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Deutlich wird an diesem Punkt, dass die AutorInnen die grundlegende Modellierung sozialer Praxis und handelnder Subjekte unterschiedlich handhaben. Whrend Oevermanns Verstndnis sich beispielsweise mit dem von Bourdieu weitgehend trifft, in dem Struktur und Praxis – vermittelt ber den Habitus – als unaufhrlicher Prozess einer strukturierten und strukturierenden Praxis in eins fallen5, nehmen Plaß/Schetsche – und tendenziell auch Ullrich – nicht soziale Praxis sondern das in sozialen Situationen handelnde Individuum zum analytischen Ausgangspunkt. Zumindest implizit fassen sie damit das Verhltnis von Individuum und Gesellschaft in einer Weise, die z. B. Elias (1970, 128 ff.) von einem „homo clausus“ sprechen lsst und in der Individuen in verdinglichter Form der sozialen Welt gegenberstehen und gewissermaßen erst nachtrglich mit ihr in Vermittlung treten.
2.2. Eigene Realitt sozialer Deutungsmuster und ihre individuelle Reprsentation Gleichwohl sind sich die AutorInnen einig darber, dass Deutungsmuster eine eigenstndige soziale Realitt besitzen. Fr Ullrich (1999b, 4) sind sie als Folge stabiler Prozesse sozialer Interaktionen „emergente Phnomene“ und Plaß/Schetsche (2001, 522) verstehen Deutungsmuster als eine „Formkategorie sozialen Wissens“ die „spezifisch strukturierte kollektive Wissensbestnde“ bezeichnet. In beiden Fllen besteht ihre Eigenstndigkeit darin, sich als kollektive Sinnzusammenhnge von ihrer individuellen Adaption zu unterscheiden. Auch Oevermann (bspw. 2001a, 19 f. und 23 f. oder 2001b, 51 ff.) betont den Status relativer Autonomie von Deutungsmustern, meint damit aber ber die Frage nach ihrer subjektiven Reprsentation hinaus das Verhltnis zu den objektiven Strukturbedingungen, auf die sie funktional bezogen sind. Eben damit ist der Zusammenhang berhrt, der sich fr Oevermann analytisch nur als historisch-genetisches Spiralmodell denken lsst. Insofern sind soziale Deutungsmuster immer beides zugleich. Einerseits gehen sie unablssig in die Strukturierung sozialer Praxis ein. Andererseits besitzen sie eine eigene soziale Realitt – sowohl jenseits individueller Einstellungen als auch der objektive Handlungsprobleme aufgebenden gesellschaftlichen Bedingungen. Als historisch gewordene und relativ stabile strukturierte Sinnzusammenhnge treten sie 5
Fr Bourdieu ist der Habitus „mit einer bestimmten Klasse von Existenzbedingungen verknpft“ (1993, 98) und meint ein System „dauerhafter und bertragbarer Dispositionen, als strukturierte Strukturen, die wie geschaffen sind, als strukturierende Strukturen zu fungieren, d. h. als Erzeugungs- und Ordnungsgrundlagen fr Praktiken und Vorstellungen, (...) die objektiv ‚geregelt‘ und ‚regelmßig‘ sind, ohne irgendwie das Ergebnis der Einhaltung von Regeln zu sein“ (Bourdieu 1993, 98 f.). Insofern sieht Oevermann (2001b, 45 ff.) in der Abgrenzung der Begriffe Habitus und Deutungsmuster auch ein „Dauerproblem“.
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dem Einzelnen vielmehr in verobjektivierter Form gegenber. In ihrer Aktualisierung im Rahmen sozialer Praxis knnen sie nun wiederum allmhlichen Vernderungen unterliegen. Sie mssen daher als „Weltinterpretationen mit generativem Status gedacht werden, die prinzipiell entwicklungsoffen sind“ (Oevermann 2001a, 8). Insofern ist es nicht recht nachzuvollziehen, wenn Plaß/Schetsche (2001, 522) bemngeln, dass „Deutungsmuster als kategoriale Wissensformen ungengend von Deutungsmustern als subjekttheoretischer Kategorie abgegrenzt“ seien – ein Vorwurf, gegen den sich Oevermann (2001c, 539) entsprechend verwehrt. Allerdings scheint dies nicht zuletzt auch eine Frage der eingenommenen Perspektive zu sein. Aus einer praxeologischen Sicht sind beide Aspekte zwei Seiten einer Medaille und mit dem Gedanken verknpft, dass verobjektivierte kollektive Sinnzusammenhnge empirisch nicht direkt zugnglich sind und immer nur vermittels ihrer Reprsentation im Wissen von Subjekten rekonstruiert werden knnen. Aus der Perspektive des handelnden Subjekts stellt sich dieser Zusammenhang dagegen zunchst als ein getrennter dar. Hier haben wir tatschlich individuelle Reprsentationen von Wissen auf der einen und kollektive Wissensbestnde auf der anderen Seite. Jenseits dieser Differenzen im Detail treffen sich die AutorInnen jedoch in der praktisch-empirischen Konzeptionalisierung des Zusammenhanges. Denn letztlich stehen auch fr Plaß/Schetsche (2001, 524 f.) soziale Deutungsmuster als sozial gltige Wissensform in unmittelbarer Beziehung zu ihren individuellen Reprsentationen, wie sie beispielsweise in Interviews vorliegen. Analytisch mssen beide jedoch voneinander unterschieden werden. Deutlich bringen dies Oevermann und Ullrich zum Ausdruck, wenn sie davon sprechen, dass subjektive ußerungen als „Derivate“ (Oevermann 2001a, 20, 2001b, 42 f.) bzw. „Derivationen“ (Ullrich 1999a, 430, 1999b, 4 f.) sozialer Deutungsmuster aufzufassen sind. Im subjektiven Bewusstsein erscheinen Deutungsmuster immer nur partiell und in einer je spezifisch individuellen Adaption. Auch wenn beide in sozialer Praxis miteinander verknpft sind, so sind sie keineswegs identisch. Vielmehr gehen soziale Deutungsmuster via Situationsdefinitionen und Handlungsorientierungen in praktische Handlungsvollzge ein. Ebenso sind sie prsent in Meinungen und Vorstellungen, in Beschreibungen, Erklrungen und Begrndungen der sozialen Welt und des eigenen Handelns. Nur diese sind als Derivationen empirisch direkt zugnglich. Soziale Deutungsmuster selbst dagegen mssen anhand dieser Derivationen erschlossen und rekonstruiert werden. Die subjektive Aneignung sozialer Deutungsmuster wiederum, auch da sind sich die AutorInnen weitgehend einig, erfolgt in Sozialisationsprozessen bzw. fortwhrend in aktuellen Handlungsvollzgen. Plaß/Schetsche (2001, 523 f.) sprechen hier von einem „reproduktiven Mustertransfer“, der fr sie jedoch weitaus strker systematisch und auch (massen-)medial vermittelt ist, als bspw. fr Oevermann (2001a,
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24 f.). Dieser geht viel mehr von einem lebensgeschichtlichen Prozess der berwiegend praktischen und selbstttigen Aneignung von Deutungsmustern aus, die in konkreter Praxis immer wieder angewandt, aktualisiert und darber auch partiell verndert und ausdifferenziert werden.
2.3. Stabilitt – Reichweite – kollektive Geltung Soziale Deutungsmuster setzen sich also im konkreten Handeln keineswegs starr und unvernderlich um. Gleichwohl greifen sie unterschiedlich weit in Gesellschaft aus und besitzen eine relative Stabilitt und Kontinuitt. Konzeptionell weisen sie ber situative Interpretationen hinaus und besitzen Beharrungsvermgen in der Zeit. Aufgrund ihrer prinzipiellen Entwicklungsoffenheit sind Stabilitt und Wandel von Deutungsmustern allerdings letztlich eine empirische Frage. Ihr Status als sozial gltiges Wissen wird insbesondere in Krisensituationen und in gesellschaftlichen Umbruchphasen zum Problem, wie immer wieder hervorgehoben wird.6 In der exakten Bestimmung des Zusammenhangs von zeitlicher bzw. sozialrumlicher Reichweite und Gltigkeit sind sich die AutorInnen jedoch keineswegs einig. Zunchst einmal ist offen, auf welche Gruppe von Menschen Deutungsmuster in welcher Weise zugerechnet werden knnen. Grundstzlich sind verschieden stark ausgreifende Ebenen denkbar: von Deutungsmustern kleiner lokaler Gruppen, ber milieu- oder geschlechtsspezifische bis hin zu epochal, gesellschafts- oder kulturspezifischen Deutungsmustern. Oevermann (2001a, 19) teilt eine solche formale Bestimmung, fasst unter der Rubrik soziale Deutungsmuster allerdings im besonderen solche Sinnstrukturen, die „historisch, kulturell und je nach Milieu spezifisch inhaltlich ausgeformt sind, also epochale Typen darstellen“ (2001b, 40). Er bindet Deutungsmuster damit an sozialstrukturell ausdifferenzierte Lebenspraxis, an je konkrete Formen vergemeinschafteter Lebensweisen. Insofern unterscheidet er auch deutlich zwischen Ideologien und Deutungsmustern. Erstere gehren als interessengeleitete Rechtfertigungsmuster der Sphre der Vergesellschaftung an. Letztere dagegen sind lebensweltlich verankert und insofern „kognitive Formationen, deren Geltungsreichweite sich mit der konkreten historischen Praxis von Vergemeinschaftungen als Kollektivitten von ganzen Personen deckt, und deren Geltungsbasis in der vollziehenden Praxis dieser Vergemeinschaftungen verwurzelt ist“ (Oevermann 2001b, 43 f.). Fr Ullrich und Plaß/Schetsche bleibt die Rckbindung von Deutungsmustern an soziale Gruppen dagegen strker unbestimmt. Ullrich (1999a, 432 f.) will die 6
Vgl. Lders 1991, 378; Lders/Meuser 1997, 73; Meuser/Sackmann 1992, 20; Oevermann 2001a, 23 f. und 2001b, 76 f., Plaß/Schetsche 2001, 518.
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Frage danach, wer welche Deutungsmuster tatschlich teilt, ausdrcklich als eine empirische offen lassen und „nicht voreilig an bestimmte soziale Kategorien binden“. Auch Plaß/Schetsche bleiben ihrer oben beschriebenen Stoßrichtung treu und heben konsequenterweise weniger die gesellschaftliche Fundierung von Deutungsmustern hervor, als vielmehr umgekehrt deren gemeinschaftsbildenden Charakter. „Indem Deutungsmuster gemß den Erwartungen der sozialen Umwelt antizipierbares Handeln erzeugen, stiften sie Gemeinschaft“ und bilden damit „den sozialen Kitt fr die Mitglieder einer Gruppe, die sie teilen“ (Plaß/Schetsche 2001, 526 f.). Ullrich (1999a, 432) und Plaß/Schetsche (2001, 519) haben zudem explizit milieubergreifende Deutungsmuster im Visier. Vor allem Plaß/Schetsche (2001, 524) betonen dabei die Zunahme einer massenmedialen Verbreitung von Deutungsmustern und schlagen vor, die Analyse auf eben dieses Phnomen zuzuspitzen. Ihr Fokus liegt damit weniger auf Deutungsmustern, die genuin aus lebensweltlichen Problemstellungen erwachsen, als auf der wirklichkeitsgestaltenden Kraft eines (massen-)medial vermittelten und spezifisch geformten sozialen Wissens. Demgegenber hlt Oevermann an der Stoßrichtung fest, lebensweltlich verankerte Deutungsmuster zu untersuchen. Ullrich (1999a, 432) nimmt gewissermaßen eine Zwischenstellung ein, wenn er davon ausgeht, dass „soziale Deutungsmuster nicht nur ber milieugebundene Interaktionen, sondern auch ber ffentliche Diskurse gebildet und ‚validiert‘ werden“ knnen. Eine Differenz zur Perspektive Oevermanns ergibt sich hier vor allem aus der unterschiedlichen Verwendung des Milieubegriffs. Ullrich scheint „milieugebundene Interaktion“ vergleichsweise eng zu fassen, wohingegen unterschiedliche soziale Milieus fr Oevermann (2001b, 47) zwar mit unterschiedlichen Deutungsmustern zusammenfallen, sich diese jedoch auf bergreifende Problemstellungen beziehen. In diesem Sinne sind Deutungsmuster fr Oevermann (2001b, 42) „historisch-epochale Gebilde, in denen sich die komplexe ‚Lage‘ einer historisch-gesellschaftlichen Situation bndelt und zusammenzieht“. Insofern scheint die zentralere Frage tatschlich diejenige nach dem Zusammenhang von lebensweltlichem Wissen und davon unterschiedenen anderen Formen kollektiven Wissens zu sein. Ullrich expliziert nicht weiter, in welchem Verhltnis ffentliche Diskurse zu einem lebensweltlich gebundenen Wissen stehen bzw. wie und in welcher Weise beide ineinander berfhrt werden. Demgegenber betonen Plaß/Schetsche (2001, 519) die zunehmende Durchdringung lebensweltlicher Deutungsmuster mit massenmedialem Wissen und gehen im Weiteren von einer Vielschichtigkeit lebensweltlichen Wissens aus, welches „massenkulturelles, subkulturelles, massenmediales, milieuspezifisch gewachsenes, wissenschaftliches und in sozialen Gruppen interaktiv evaluiertes Wissen“ beinhaltet (Plaß/Schetsche 2001, 521). Oevermann (2001a, 9 ff. und 2001b, 71 ff.) widmet sich in diesem Zusammenhang speziell dem Phnomen der Versozialwissenschaftlichung des Alltagswissens und damit der fr die Sozialwissenschaften konstitutiven Reziprozitt von Wissenschaft
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und ihrem Gegenstand. Gleichwohl werfen ihm Plaß/Schetsche (2001, 520) einen verengten und gewissermaßen auf ein originr lebensweltliches Wissen abstellenden Deutungsmusterbegriff vor. Oevermann beharrt gegenber diesem Vorwurf auf der zentralen analytische Differenz zwischen zunchst ‚ußerlichen‘ Deutungsangeboten und lebensweltlich verankerten Deutungsmustern. Fest macht er diese Differenz an der vorgngigen und praxisbezogenen Genese lebensweltlichen Wissens. Er schreibt: „Dass es im realen Leben empirisch konkret immer um Vermischungen geht, ist eine triviale Feststellung. Aber in der Analyse dieser Realitt mssen wir, allein schon um die Vermischungen als Vermischungen bemerken zu knnen, sorgfltig differenzieren. Eine solche notwendige Differenzierung sehe ich auch in der zwischen Deutungsmustern, die als solche krisenhaft erzwungene Deutungen aus der Perspektive einer bestimmten Lebenswelt darstellen, und Interpretationen, Ansichten und Meinungen einschließlich von Lebensstilen, die den Lebenswelten aus welchen Quellen und Medien auch immer angesonnen werden. Es ist dann selbst eine Funktion der lebensweltlichen Praxis und darin wesentlich von den ihr eigenen Deutungsmustern, was aus diesem Ansinnen gemacht wird“ (Oevermann 2001c, 544). Dennoch ist die Frage berechtigt, inwieweit diese ußeren „Ansinnen“ – welcher Art auch immer sie sind – nicht doch auf die Ebene des praktischen Sinns durchzuschlagen vermgen und dazu fhren, dass sich soziale Deutungsmuster verndern oder mit anderen Wissensformen vermischen. Meines Erachtens muss diese Frage offen gehalten und konkret in der empirischen Analyse geklrt werden.
2.4. Implizites Wissen und regelgeleitetes Handeln Die Bestimmung ‚implizit‘ trifft ins Zentrum des Deutungsmusteransatzes. Denn die anvisierten lebensweltlichen Wissensbestnde, wie sie in soziale Praxis eingehen, sind fr das handelnde Subjekt nur bedingt reflexiv verfgbar. Gleichwohl sind sie in konkreten Handlungssituationen prsent und in diesem praktischen Sinne handlungsleitend. Oevermann (2001b, 38) spricht auch davon, dass Deutungsmuster „wie implizite Theorien verselbstndigt operieren, ohne dass jeweils ihre Geltung neu bedacht werden muss“. Sie sind damit vor allem ein vordiskursives Phnomen, gewissermaßen ein ruhender Wissensvorrat, der nicht mit im Bewusstsein aktualisiertem und intentional verfgbarem Wissen bereinstimmt. Deutungsmuster wirken im wesentlichen vermittels eines praktischen Sinns – das heißt im praktischen Interpretations- und Handlungsvollzug. Plaß/Schetsche (2001, 525) sprechen ebenfalls davon, dass Deutungsmuster in kollektiver Weise Wahrnehmungen „steuern“ und Interaktionen „regeln“. Dennoch bleibt der exakte bewußtseinsmßige Status in einigen ihrer Formulierungen ambi-
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valent, wenn Deutungsmuster etwa „auch Deutungs- und Handlungsanleitungen bereit[stellen], mit deren Hilfe das Handeln an die Besonderheiten der jeweiligen Situation und die aktuelle Motivlage des Subjekts angepasst werden kann“ (Plaß/ Schetsche 2001, 523). Auch hier nimmt Ullrich (1999a, 430; 1999b, 4) am ehesten eine vermittelnde Position ein, wenn er davon ausgeht, dass sich Deutungsmuster zwar grundstzlich im Zustand einer relativen Latenz befinden, den handelnden Subjekten in reflexiven Akten aber zumindest teilweise zugnglich sind und insofern auch manifest werden knnen. Klar unterschieden werden msste hier aber zwischen dem aktuellen Vollzug eines Handlungsstroms und einer von praktischen Handlungszwngen enthobenen Reflexion ber die eigene Handlungspraxis. Die prinzipielle Mglichkeit der reflexiven Verfgbarkeit von Deutungsmustern drfte vor allem im letzteren Fall gegeben sein. Dementsprechend knnen fr Ullrich (1999a, 430; insb. 1999b,4 ff.) Deutungsmuster vor allem in Handlungsbegrndungen strker manifest werden, die dann jedoch nicht zu verwechseln sind mit den tatschlich wirksamen Handlungsorientierungen. Bereits in seinem frhen Papier hat Oevermann (2001a, 6 ff.) den Charakter des impliziten Wissens von Deutungsmustern vor allem mit Bezug auf den Begriff des regelgeleiteten Handelns erklrt.7 Zwar ist soziales Handeln fr Oevermann keineswegs immer und alleinig nur regelgeleitet. Andererseits ist aber regelgeleitetes Handeln konstitutiv fr einen soziologischen Blick auf soziale Wirklichkeit. Gemeint ist damit die Vorstellung, dass sich soziale Praxis typischerweise in geregelter Form vollzieht, wobei diese Regelhaftigkeit keineswegs nur eine an der Empirie vorgenommene analytische Abstraktion ist, sondern davon ausgegangen wird, dass die Subjekte in ihrer Handlungspraxis solchen Regeln praktisch folgen. Akteure vollziehen im Alltagshandeln ihre Interpretationen und Handlungen gemß dieser Regeln. Auch knnen sie vor diesem Hintergrund wechselseitig Urteile ber die Angemessenheit von Handlungen und Interpretationen fllen. Aber obwohl die Handlungssubjekte diesen Regeln praktisch folgen, knnen sie diese nicht ohne weiteres explizieren. Im routinisierten und selbstverstndlichen Vollzug ihrer Alltagspraxis brauchen sie dies allerdings auch nicht. Regeln in diesem Sinne sind immer sozial geteilte Regeln, die als emergente Phnomene aus sozialen Handlungssystemen erwachsen. Ansonsten wre wechselseitiges Verstehen im Alltagshandeln – gar in einer unproblematischen Weise – nicht mglich. Insofern haben Regeln fr die Erzeugung strukturierter sozialer Praxis einen gewissermaßen generativen Status. Oevermann nutzt in diesem Zusammenhang auch explizit den englischen Begriff des „tacit knowledge“, um damit den bewußtseinsmßigen Status eines Wissen zu beschreiben, dass „faktisch im Handeln operiert, obwohl es nicht bewusst 7
Die bernahme der Idee eines regelgeleiteten Handeln geht nicht zuletzt auf den Begriff der generativen grammatischen Regel von Chomsky zurck.
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reprsentiert ist und entsprechend tatschlich ihm eine psychische Reprsentanz in welcher Weise auch immer zukommt, es also das Wissen eines konkret handelnden Subjekts betrifft“ (2001b, 41).8
2.5. Funktion und Struktur von Deutungsmustern – Normalitt und Konsistenz Mehrfach wurde hervorgehoben, dass soziale Deutungsmuster als lebensweltliche Wissensbestnde konstitutiv fr Alltagshandeln sind und diesem einen plausiblen und selbstverstndlichen Charakter verleihen. Fr Oevermann sind sie intern nach Konsistenzregeln strukturiert, die praktisch die Angemessenheit und Gltigkeit von Interpretationen und Handlungen sicherstellen. Als eingespielte vordiskursive Interpretations- und Handlungsregeln zur Erzeugung stabiler und konsistenter Weltsichten haben Deutungsmuster Gewissheitscharakter. In ihnen drcken sich vorherrschende Leitbilder des Normalen und Selbstverstndlichen aus. Insofern fasst Oevermann (2001a, 9 ff.) Deutungsmuster gewissermaßen parallel zu wissenschaftlichen Theorien auch als Theorien resp. Paradigmen der Alltagserfahrung. Als solche haben sie „die Funktion, Einzelerfahrungen in ihrer allgemeinen Bedeutung aufzubewahren. Insofern verhalten sie sich wie Theorien zu Daten. Aber es sind Theorien, die vom Problemdruck der Handlungspraxis unmittelbarer betroffen werden und sich ihm weniger entziehen knnen, als wissenschaftliche Theorien“ (Oevermann 2001a, 14). Strker auf situative Handlungskontexte fokussiert versteht auch Ullrich (1999b, 2 f.) Deutungsmuster zugleich als Grundlage von Handlungsorientierungen und als Mittel zur Handlungsbewltigung. Fr ihn besitzen sie eine kognitive, evaluative 8
Da in der Rezeption des ursprnglichen Papiers von Oevermann das implizite regelgeleitete Wissen sozialer Deutungsmuster immer wieder unter der Rubrik „latente Sinnstrukturen“ verhandelt wurde, hat Oevermann seine Aktualisierung zudem zum Anlass genommen, diesen aus der Objektiven Hermeneutik entlehnten Begriff systematisch vom dem des „tacit knowledge“ zu unterscheiden (2001b, 39 ff.; 2001c, 537 f.). Jenseits dieser grundstzlichen Unterscheidung ist der mit dem Begriff des impliziten Wissens bezeichnete Wissensbereich fr Oevermann (2001b, 56 und 59 f.) hinsichtlich seiner Form und Reichweite aber noch keineswegs eindeutig bestimmt. Von einem expliziten Wissen unterscheidet er sich dadurch, dass er nicht in schriftlicher Form fixiert, in einer oralen Tradition kodifiziert oder zumindest auf Nachfrage direkt abrufbar ist. Wohl aber kann implizites Wissen in den Herstellungsprozess materieller Kulturgter eingehen und somit in vergegenstndlichter Form vorliegen. Daneben existiert es vor allem in seiner Form als vorbewusstes praxisstrukturierendes Wissen. Doch unter diese Kategorie fallen fr Oevermann nun wiederum auch das verdrngte Unbewusste, individuell habituelle Routinen, universale kognitive Urteilsstrukturen, semantische Gehalte einer Einzelsprache, intuitives Wissen, wie schließlich das beschriebene sozial geteilte praktische Regelwissen (vgl. auch Plaß/Schetsche 2001, 517). Eine Deutungsmusteranalyse zielt auf jene letztgenannte Form des impliziten Wissens.
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und eine normative Dimension und ermglichen damit einerseits adquate Situationseinschtzungen (was ist hier der Fall?), andererseits entsprechende Bewertungen (was ist legitimerweise richtig und wnschenswert?). Faktisch reduzieren soziale Deutungsmuster Komplexitt, in dem sie die Vielschichtigkeit und Widersprchlichkeit von Handlungssituationen zu einem konsistenten Ganzen zusammenbringen und dadurch in routinisierter Weise zu praktischer Handlungsfhigkeit und wechselseitigem Sinnverstehen befhigen. Plaß/Schetsche (2001, 525) wiederum sehen die zentrale Funktion sozialer Deutungsmuster darin, die „Reaktionen von Menschen auf Ereignisse“ sowie die „Interaktionen zwischen den Subjekten“ zu strukturieren. Im einzelnen arbeiten sie vier miteinander verbundene Teilaufgaben sozialer Deutungsmuster heraus: Einerseits heben sie die Komplexittsreduktion von Handlungssituationen hervor, wie sie auch von Ullrich beschrieben wird. Zweitens erlauben Deutungsmuster die Antizipation von Situationsentwicklungen, indem sie kollektiv geteilte Erfahrungsgehalte zu typischen Erwartungshaltungen bndeln.9 Soziale Deutungsmuster ermglichen drittens eine Verstndigung ber Grenzsituationen. Das heißt, sie fungieren gewissermaßen als Chiffren, die adquate und sozial geteilte Deutungsangebote auch in schwer einschtzbaren Situationen bereitstellen und somit den Raum des gemeinsam Denkmglichen abstecken. Auf eine vierte Aufgabe von Deutungsmustern, ihre integrative Funktion, ist oben bereits eingegangen worden. Insofern Deutungsmuster sozial erwartbares Handeln generieren und damit eine sinnhafte soziale Ordnung stiften, erzeugen sie soziale Gemeinschaft und Zugehrigkeit. Eine grundlegende Eigenschaft sozialer Deutungsmuster wird von Plaß/Schetsche (2001, 527) schließlich gesondert hervorgehoben und in Form eines Kompatibilittstheorems gefasst. Bei aller Unterschiedlichkeit der subjektiven Adaptionen sozialer Deutungsmuster, mssen diese individuellen Reprsentationen in ihrer Substanz kompatibel zueinander sein, damit soziale Deutungsmuster ihre sozial-kommunikative Funktion ausben knnen. In anderen Worten – es ist das Gemeinsame im Besonderen, das den Charakter von sozialen Deutungsmustern ausmacht. Die Frage nach der Kompatibilitt sozialer Deutungsmuster stellt sich auch Oevermann (2001a, 21 f.), nimmt dabei allerdings weniger die individuellen Reprsentationen in den Blick, als vielmehr die Ebenen der internen und externen Kompatibilitt. Im Gegensatz zu Plaß/Schetsche hebt er zudem eher Kompatibilittsprobleme hervor. Intern ist die Menge der einem Deutungsmuster zugehrigen Elemente fr Oevermann nie vollstndig kompatibel, andernfalls wre sozialer Wandel 9
Plaß/Schetsche gehen dabei davon aus, dass handelnde Subjekte blicherweise wechselseitig unterstellen, die Situation im Rahmen des gleichen Deutungsmusters in den Blick zu nehmen. Dies ist eine Engfhrung, die hinsichtlich der Annahme einer generellen Antizipationsfunktion von Deutungsmustern gar nicht notwendig ist, die andererseits aber den typischen Charakter von Alltagshandeln aus der Perspektive handelnder Subjekte widerspiegelt.
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schlechterdings nicht denkbar. Solche immanenten Inkompatibilitten knnen dabei sowohl auf der inhaltlichen Seite von Deutungsmustern auftreten, als auch auf der Seite der jeweils zugrundeliegenden Standards, welche die Geltung des Deutungsmusters praktisch absichern. Zwischen beiden besteht zudem eine Wechselbeziehung. Externe Inkompatibilitten ergeben sich demgegenber aus der Differenz zwischen der Deutung und dem interpretierten Sachverhalt selbst. Institutionell sich verfestigende nichtintendierte Folgen von Handeln fhren beispielsweise zu einer Vernderung sozialer Wirklichkeit, die dann nicht mehr vollstndig passfrmig ist zu eingeschliffenen Deutungsmustern. Mit diesen berlegungen zielt Oevermann auf die innere Logik sozialer Deutungsmuster, denn eine Deutungsmusteranalyse muss „ausfindig machen, welche Konsistenzregeln jeweils gelten, nach denen sich Kompatibilitt und Inkompatibilitt der Elemente von Deutungsmustern jeweils bemessen. Nur unter diesem Gesichtspunkt der Annahme von Konsistenzregeln ist es sinnvoll, von einer Struktur sozialer Deutungsmuster zu sprechen“ (Oevermann 2001a, 20). Soweit Deutungsmuster analog zu wissenschaftlichen Theorien als Paradigmen der Alltagserfahrung funktionieren und darber das Handeln und Denken strukturieren, stehen sie einerseits vor der Notwendigkeit, schlssige und gltige Weltsichten zu liefern, dies andererseits aber nicht in der formalisierten und explikationspflichtigen Form wissenschaftlicher Begrndungen leisten zu knnen. Sie sind vielmehr unmittelbar an soziale Praxis gebunden, stehen also „pragmatisch unter der Verpflichtung von Widerspruchsfreiheit“ (Oevermann 2001a, 11) bzw. reagieren, wie Oevermann (2001b, 67) an anderer Stelle pointiert hervorhebt, „auf das Problem von Lebenspraxis als widersprchlicher Einheit von Entscheidungszwang und Begrndungsverpflichtung“. Jenseits der Kennzeichnung einzelner inhaltlicher Elemente von Deutungsmustern besteht die zentrale Aufgabe daher in der Herausarbeitung derjenigen strukturierenden Schlsselkonzepte oder eben Konsistenzregeln, welche die vorhandenen Inkonsistenzen und Brche verdecken, gltten und die Widerspruchsfreiheit der praktisch wirksamen Geltungsstandards verbrgen. Auch Plaß/Schetsche (2001, 528 ff.) schlagen ein „Modell von der inneren Struktur sozialer Deutungsmuster“ vor, beschrnken dies aber vornehmlich auf einzelne inhaltliche Elemente. Außer der Annahme, dass diese Elemente funktional miteinander verknpft seien, stellen sie keine weiteren berlegungen zu deren inneren Zusammenhang an. Insbesondere in ihrer massenmedialen Verbreitungsform sind Deutungsmuster fr sie durch folgende sechs Elemente bestimmt. Erstens durch ein Situationsmodell als Kern des jeweiligen Deutungsmusters. Dieses ist gewissermaßen ein Wahrnehmungs- und Handlungsskript, welches die zentralen musterhaften Aspekte der Situationsdefinition enthlt. Hinzu kommt zweitens ein Erkennungsschema als inhaltlich und auch symbolisch verdichtete Form des Situationsmodells. Ergnzt werden diese beiden drittens durch Priorittsattribute, welche sowohl auf
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der Wahrnehmungs- wie auch auf der Handlungsebene die Relevanz der Situation festlegen. Mit dem Hintergrundwissen ist viertens ein allgemeines Wertesystem angesprochen, auf das bei der Beurteilung der moralischen Korrektheit und sachlichen Richtigkeit des mit dem Deutungsmuster verbundenen Situationsmodells zurckgegriffen wird. Ein Emotionsmuster umfasst fnftens die in der jeweiligen Situation sozial angemessenen emotionalen ußerungen. Abschließend und sechstens steuern in pauschaler Form vorliegende Handlungsanleitungen die konkrete und situativ angemessene Reaktion des Handlungssubjekts.
2.6. Erkenntnisinteresse und methodische Implikationen Unterschiede zwischen den AutorInnen bestehen also sowohl in der Frage, was eine Deutungsmusteranalyse zentral in den Blick nehmen muss, als auch darin, wie sie dies empirisch umsetzt und mit welchem Erkenntnisinteresse sie dies tut. Eine Deutungsmusteranalyse im Sinne von Oevermann analysiert kollektive Bewusstseinsstrukturen als Bestandteil alltglicher Lebenspraxis. Ihr geht es um die Herauslsung des kollektiv Geteilten aus dem lebensgeschichtlich Individuellen und damit um die Rekonstruktion des Gemeinsamen im Besonderen in seiner Bedeutung fr lebensweltlich gebundenes Alltagshandeln. Rckblickend betont Oevermann (2001c, 540), dass ihm „vor allem wichtig [war], damit fr eine historisch konkrete Form der Vergemeinschaftung kollektiv verbindliche Deutungen zu erfassen, die (...) auf eine problematische gesellschaftliche, diese Vergemeinschaftung spezifisch und tendenziell schicksalhaft betreffende Lage reagieren und sich als solche zu bewhren haben. (...) Anders ausgedrckt: Sie [die betroffenen Handlungssubjekte, K.K.] mssen etwas deuten und damit durchschaubar machen, was zugleich Herausforderungen, Enttuschungen und Entbehrungen in sich birgt. In dieser Auffassung sind Deutungsmuster also etwas spezifisches und nicht einfach interessante, in Muße studierbare Erkenntnisse oder Informationen ber die erfahrbare Welt, wie sie bestndig und in zunehmender Masse ber die Medien verbreitet werden“. Damit grenzt sich Oevermann entschieden von dem Perspektivenwechsel ab, den Plaß/Schetsche (2001, 530 ff.) vorschlagen. Denn ihrem Ansatz einer wissenssoziologischen Analyse sozialer Deutungsmuster geht es weniger um Alltagspraxis und deren Voraussetzungen in verobjektivierten gesellschaftlichen Wirklichkeitskonstruktionen, als in gegenteiliger Perspektive um „die Analyse der Formen, die kollektive Deutungen annehmen mssen, um gesellschaftliche Wirklichkeit hervorbringen zu knnen, und der (insbesondere medialen) Prozesse, in denen diese Deutungen verbreitet werden und soziale Geltung erlangen“ (Plaß/Schetsche 2001, 533). Handlungssubjekte und deren lebensweltlich gebundene Alltagspraxis sind nicht ihr zentraler Gegenstand. Im Mittelpunkt steht vielmehr die Rekonstruktion von
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Deutungsmustern in ihrer reinen Formbestimmtheit als soziales Wissen. Aus diesem Grund schlagen Plaß/Schetsche auch vor, Deutungsmuster berwiegend in non-reaktiven Verfahren vermittels der Analyse von Dokumenten aller Art zu rekonstruieren. In ihrem forschungspraktischen Vorgehen nhern sie sich damit deutlich einer Diskursanalyse an, wie sie in einer Fußnote selbst anmerken. Im Kern umfasst ihre Analyse folgende vier Schritte (Plaß/Schetsche 2001, 532): Anhand unterschiedlicher Quellen soll zunchst eine Abschtzung der historischen resp. aktuellen Verwendung des in Frage stehenden Deutungsmusters vorgenommen werden. Vermittels einer historischen Rckschau soll zudem zweitens der Zeitraum der Verbreitung und mglichst auch der Ursprung des Deutungsmusters bestimmt werden. Zentral ist drittens die Rekonstruktion der oben angefhrten inhaltlichen Formelemente des Musters, bevor viertens seine Geltung anhand des Grads der Selbstverstndlichkeit seiner Verwendung bemessen wird. Die operationale Annahme ist hier, dass der Geltungsgrad eines Deutungsmusters umso hher ist, je fragmentarischer und unhinterfragter es reprsentiert wird. Dies mag fr individuelle Reprsentationen durchaus zutreffen, ist aber im Falle medial vermittelter Deutungsmuster keineswegs in gleicher Weise anzunehmen. Vielmehr fehlt hier ein entscheidender Zwischenschritt, da mit der Rekonstruktion des Musters auf medialer Ebene noch nichts ber die tatschliche Rezeption und alltgliche Verwendung gesagt ist. Aus eben diesem Grund wollen Plaß/Schetsche trotz der favorisierten Dokumentenresp. Medienanalyse auch nicht gnzlich auf die reaktiven Verfahren des Interviews und der Gruppendiskussion verzichten. Demgegenber favorisiert Ullrich (1999a, 433 ff.) zur Rekonstruktion lebensweltlich verankerter Deutungsmuster die von ihm ausgearbeitete Interviewform des diskursiven Interviews und stellt dieser ein entsprechendes Auswahl- und Auswertungsverfahren zur Seite. Allerdings nutzt er die Erhebungstechnik des qualitativen Interviews in einer sehr spezifischen Weise. Denn auch ihm geht es weniger um individuelles Alltagshandeln und dessen lebensweltliche Voraussetzungen, als um die Ausarbeitung einer mglichst umfassenden Typologie der sozialen Deutungsmuster eines interessierenden Bezugsproblems (1999a, 443). Fr ihn gilt das „primre Erkenntnisinteresse der Deutungsmusteranalyse (...) weder den individuellen Einstellungen und Handlungsorientierungen noch deren Zurckfhrung auf sozialstrukturelle Merkmale, sondern den jeweils spezifischen Konstitutionsbedingungen von Handlungsorientierungen“ (1999a, 429). Diese gesuchten Konstitutionsbedingungen finden sich in den zu rekonstruierenden sozialen Deutungsmustern. Daher ist auch fr ihn die Ebene des zu analysierenden „Falls“ keineswegs das einzelne Interview oder gar eine befragte Person. Der Fokus richtet sich vielmehr auf die verschiedenen Elemente des in Frage stehenden sozial geteilten Deutungsmusters, die erst in unterschiedlichen Einzelinterviews in ihrer Gnze zum Vorschein kommen. Die Befragten interessieren Ullrich somit nicht als Handlungssubjekte, sondern haben
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„die Funktion eines (in dieser Hinsicht ahnungslosen) Informanten ber soziale Deutungsmuster“ (1999a, 434). Das diskursive Interview selbst entwirft er als ein halboffenes leitfadengesttztes Interview und macht sich zu dessen metatheoretischer Fundierung ausdrcklich die im Deutungsmusterkonzept steckenden theoretischen Ideen zunutze. Denn soweit eine Deutungsmusteranalyse auf Interviews als Methode zurckgreifen will, muss sie notwendigerweise an den sprachlichen ußerungen der Individuen ansetzen. Und diese lassen sich als individuelle Derivationen von Deutungsmustern begreifen (vgl. insb. Ullrich 1999b, 4 ff.). Als Begrndungen und Legitimationen faktischer Handlungsweisen sind sie gewissermaßen die kommunikative Konkretisierung von Deutungsmustern. Nur diese Derivationen sind als sprachlicher Ausdruck im subjektiven Sinn existent und empirisch direkt zugnglich. Die Analyse sozialer Deutungsmuster muss also rekonstruktiv vorgehen und aus den individuellen Derivationen Rckschlsse auf die Struktur des zugrundeliegenden Deutungsmusters ziehen. Aus diesem Grund bricht Ullrich explizit mit der sonst in qualitativen Interviews blichen Vorgehensweise der Gesprchsfhrung. Um gezielt zu Stellungnahmen und Begrndungen zu kommen, setzt das diskursive Interview ausdrcklich auf einen konfrontativen Interviewstil und schlgt entsprechende Fragetechniken vor (Ullrich 1999a, 437 ff.). Die so entstehenden Interviewprotokolle werden daraufhin nicht einzelfallbezogen ausgewertet, sondern queranalytisch einer systematisch vergleichenden Fallkontrastierung unterzogen. Diese zielt darauf, einzelne Deutungsmuster zu entdecken, voneinander abzugrenzen und insgesamt in eine typologische Ordnung zu bringen. Ein Rckbezug auf die interviewten Handlungssubjekte und deren Verstricktheit mit der eigenen lebensweltlichen Praxis wird nicht angestrebt. Aus diesem Grund ist fr Ullrich (1999a, 445) auch die Validittsfrage kein Problem, da „Derivationen (..) als Derivationen, also als kommunizierte Deutungsangebote, gar nicht invalide sein [knnen]. Das Problem der Validitt stellt sich daher nur beim Verhltnis von Derivationen und individueller Situationsdefinition, also bezglich der Frage, ob sich die Derivationen mit den tatschlich situativ wirksamen Deutungsmustern decken, nicht aber beim Verhltnis von Derivation und sozialem Deutungsmuster.“ Oevermann dagegen setzt genau an dieser Stelle ein, denn das Ziel seiner Analyse besteht darin, anhand der im Datenmaterial vorliegenden Ausdrucksgestalten die sozialen Deutungsmuster einer je spezifischen, jedoch kollektiv geteilten, Lebenspraxis zu erschließen. Auch er geht davon aus, dass Deutungsmuster als eine Form impliziten Wissens besondere Verfahren der Datenerhebung und Datenauswertung erfordern (vgl. Oevermann 2001a, 26 ff. und 2001b, 60 ff.). Hinsichtlich der Datenerhebung und Protokollierung betont Oevermann die Notwendigkeit eines nicht-standardisierten Vorgehens. Soweit dieses mittels Interviews umgesetzt werden soll, schlgt er – hnlich wie Ullrich – problembezogene offene Gesprchssituationen und einen konfrontativen Interviewstil vor, um Begrndungen und Recht-
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fertigungen hervorzulocken. Jenseits einer eigens durchgefhrten Herstellung von Daten empfiehlt er jedoch zunchst den Rckgriff auf „natrliche“ Daten, die im Feld bereits vorhanden sind und nicht erst zum Zweck sozialwissenschaftlicher Analyse produziert werden. Im Zentrum steht fr ihn darber hinaus jedoch die Methode der Auswertung: „Weil Deutungsmuster ein implizites Wissen darstellen, mssen sie aus dem, was explizit geußert oder dargestellt worden ist, gltig erschlossen werden“ (Oevermann 2001b, 62 ff.). Grundstzlich unterscheidet er zwischen subsumtionslogischen und rekonstruktionslogischen Verfahren. Erstere klassifizieren und ordnen das Material mittels von außen angetragenen Kategorien, whrend letztere das Ziel verfolgen, durch ein sequenzanalytisches Vorgehen die dem Material zugrundeliegenden Regelstrukturen herauszuarbeiten. Insofern hlt auch Oevermann (2001b, 66 ff.) ein rekonstruktionslogisches Verfahren zur Analyse der Struktur sozialer Deutungsmuster fr unabdingbar. Die in dieser Hinsicht zentrale Analyseprozedur ist oben bereits benannt worden. Sie besteht zunchst darin, systematisch nach im Datenmaterial enthaltenen Inkonsistenzen zu suchen, die gleichsam konstitutiv fr Deutungsmuster sind. Der Maßstab zur Beurteilung solcher Inkonsistenzen wird jedoch nicht von außen an das Material angetragen, sondern muss in einem zweiten Schritt aus diesem selbst heraus rekonstruiert werden. Gesucht wird damit nach den immanent operierenden Schlsselkonzepten resp. Konsistenzregeln, d. h. nach „Prinzipien, Argumenten und Konzeptualisierungen, in deren Geltungshorizont jene nachweisbare Inkonsistenz dem Sprecher oder Autor der Ausdrucksgestalt und damit der subjektiven Lebenspraxis, fr die das in Rede stehende Deutungsmuster gilt, als solche gar nicht ins Bewusstsein tritt. Anders ausgedrckt: Jene Konzeptualisierungen, die bewirken, dass die Inkonsistenzen als solche keine Aufmerksamkeit erregen und mithin erfolgreich unthematisiert bleiben als Bedingung dafr, dass zentrale Deutungen der Welt weiterhin ihre Gltigkeit, ihren Orientierungswert und ihre Strukturierungsleistung behalten knnen“ (2001b, 68). An die Stelle des queranalytischen Fallvergleichs tritt hier also ein sequenzanalytisches Vorgehen mit der Absicht, Deutungsmuster als Ausdruck einer konkreten milieugebundenen Lebenspraxis zu rekonstruieren.
3. Fazit Zusammenfassend lsst sich festhalten, dass auch in den diskutierten neueren Arbeiten zur Analyse sozialer Deutungsmuster keine Einigkeit ber den kategorialen Status und die Verwendungsweise des Konzepts hergestellt wird. Eine wesentliche Differenz besteht dabei in der Frage danach, welche Erkenntnisinteressen mit dem Ansatz verbunden sind. Ullrich und Plaß/Schetsche verfolgen recht hnliche Zielsetzungen, die sie methodisch jedoch in unterschiedlicher Weise umsetzen. Auf
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einer konzeptionellen Ebene arbeiten beide handlungstheoretische Implikationen sozialer Deutungsmuster heraus, ohne dies im Weiteren fr das Verstndnis konkreter lebensweltlich gebundener Alltagspraxis in Anschlag zu bringen. Zwar reformulieren sie die Strukturiertheit sozialer Praxis als Wissenstatsachen – als kollektive handlungsleitende Sinnzusammenhnge jenseits des nur subjektiv gemeinten Sinns – und machen sie damit einer interpretativen empirischen Sozialforschung zugnglich. In ihrer Analyse verbleiben sie allerdings ausschließlich auf der Formebene des sozialen Wissens selbst und begngen sich gewissermaßen mit einer Katalogisierung sozialer Deutungsmuster. Es stellt sich die Frage, was damit gewonnen ist? Denn soweit ber eine solche Kartografierung hinaus eine gegenwartsdiagnostische Einschtzung gesellschaftlicher Handlungsbedingungen und sozialen Wandels angestrebt wird, braucht es notwendigerweise Vermittlungsschritte, die jene Wissensebene mit sozialer Praxis in Zusammenhang bringen. Perspektivisch bietet Oevermann in dieser Hinsicht die weitergehenden Vorschlge. Zum einen, weil er Deutungsmuster nicht bloß als auf einzelne Situationen bezogene Deutungsmglichkeiten begreift, sondern als in zentralen Problemen der lebensweltlichen Praxis verankerte Deutungsnotwendigkeiten. Zum anderen, weil er Deutungsmuster als Ausdruck einer je spezifischen gemeinsamen Lebenspraxis versteht und kollektive Sinnzusammenhnge somit als strukturelle Rahmungen lebensweltlich gebundener Alltagspraxis. Fluchtpunkt der Analyse knnte damit sowohl die Herausarbeitung typischer und gemeinsam geteilter Deutungsmuster sozialrumlich abgrenzbarer Gruppen sein, als auch die systematische Beachtung dieser gemeinsamen Sinnzusammenhnge fr das Verstndnis individuellen Alltagshandelns. Wird eine solche Perspektive angelegt, rckt also die Frage nach der kollektiven Reichweite sozialer Deutungsmuster strker in den Vordergrund. Auf welches „Gemeinsame“ wird abgestellt, wenn nach dem Gemeinsamen im Besonderen gesucht wird? Ein weiteres kommt hinzu. Denn soweit sich Deutungsmuster auf bergeordnete lebenspraktische Handlungsprobleme beziehen, die nicht ausschließlich einer spezifischen sozialen Gruppe eigen sind, drften zugleich immer mehrere, parallel bestehende oder auch konkurrierende Deutungsmuster eines Bezugsproblems existieren. In welchem Verhltnis stehen diese zueinander? Gibt es mglicherweise ein hegemoniales Deutungsmuster, das die anderen berlagert? Wo und in welcher Weise lassen sich Brche und Inkonsistenzen ausmachen – innerhalb des vorherrschenden Musters, zwischen konkurrierenden Mustern, zwischen Deutungsmuster und lebensweltlicher Praxis? Wenn es richtig ist, dass sich das Gewohnte und Normale in Zeiten beschleunigter gesellschaftlicher Entwicklung zu verflssigen beginnt, seine Selbstverstndlichkeit verliert und legitimationsbedrftig wird, kann der Deutungsmusteransatz eine Heuristik zur Verfgung stellen, um solche Fragen zu beantworten und den Blick
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zu schrfen fr die Verwerfungen und Brche der alltglichen Lebenswelt. Vorfindbare Inkonsistenzen und Widersprche knnen dann zugleich Indizien fr diesen kulturellen Wandel sein. Mit den konzeptionellen berlegungen, wie sie Ullrich und Plaß/Schetsche vorstellen, wird dazu ein erster Schritt unternommen. Sie bieten den Versuch einer Systematisierung und inhaltlichen Bestimmung lebensweltlich vorhandener und medial vermittelter Deutungsmuster, auf den aufbauend auch die Frage nach mglichen internen Widersprchen gestellt werden kann. Das Verhltnis zur Ebene lebensweltlicher Praxis und damit die Frage, wie die handelnden Subjekte mit den zu deutenden Problemen umgehen und welche externen Widersprche sich mglicherweise zwischen Deutungsmustern und Alltagpraxis auftun, bleibt jedoch weitgehend ausgespart. Meines Erachtens ist aber gerade dies fr empirische Sozialforschung die tatschlich spannende Frage, so schwierig sie im einzelnen zu beantworten ist. Soweit sie dazu fhrt, nun systematisch nach dem Zusammenhang von vergemeinschafteten milieugebunden Lebensweisen und sozialen Deutungsmustern zu suchen, ist sie empirisch hchst voraussetzungsvoll (vgl. Oevermann 2001b, 69 ff.). Denn dazu mssten zunchst die objektiven Lebensbedingungen benannt und konkret ausbuchstabiert werden, die voneinander unterscheidbare Sozialrume kennzeichnen und die den jeweils handlungspraktischen Problemhorizont fr die sich darin bewegenden Individuen aufspannen. Gleiches gilt im Prinzip auch fr die vom Anspruch weniger umfassende Variante einer Deutungsmusteranalyse, die lediglich anhand geringer Fallzahlen typische Strukturmerkmale jenseits des nur individuell Verstehbaren herauszuarbeiten sucht. Ich gehe allerdings davon aus, dass die Frage nach der sozialrumlichen Verortung der am Einzelfall rekonstruierten sozialen Deutungsmuster niemals bloß eine empirische sein kann, sondern immer auch theoriegeleitet und an das jeweilige Erkenntnisinteresse gebunden ist. Zugleich pldiere ich dafr, nicht nur von solch zentralen Kategorien wie Milieu und Klasse – oder aber Geschlecht, Ethnie, Generation usw. – auszugehen, sondern auch von Gemeinsamkeiten in der konkreten Lebenspraxis, also von Gemeinsamkeiten in der Umgangsweise mit objektiven Handlungsproblemen, die womglich quer zu diesen Kategorien liegen und sich zum Beispiel in bestimmten Formen alltglicher Lebensfhrung niederschlagen. Eine empirische Deutungsmusteranalyse htte damit die Mglichkeit, verschiedene Bedingungskonstellationen eines gemeinsamen Bezugsproblems in den Blick zu nehmen und somit das eine zu tun, ohne das andere zu lassen: Der Differenziertheit sozialer Praxis Raum zu geben, ohne dabei die Relevanz großrumiger gesellschaftlicher Strukturzusammenhnge zu vernachlssigen.
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Martin Wengeler
Argumentationstopos als sprachwissenschaftlicher Gegenstand. Fr eine Erweiterung linguistischer Methoden bei der Analyse ffentlicher Diskurse 1. Einleitung In der Soziologie und in der Soziolinguistik und Sprachgeschichtsschreibung wird mit verschiedenen Begriffen und Kategorien versucht, allgemein verbreitete Denkweisen, Orientierungsmuster, intersubjektiv geteilte Wirklichkeitskonzepte, „kollektives Wissen“ zu erfassen. Es wird dabei erforscht, wie sich solche Orientierungen, Konzepte oder Denkweisen in verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen oder Kulturen unterscheiden, wie sie sich historisch verndern, wie sie interaktiv, im Gesprch konstituiert werden oder wie mit ihnen ffentliche Wirklichkeitskonstruktionen geschaffen und durchgesetzt werden. Im vorliegenden Sammelband werden einige solcher Begriffe wie Denkmuster, Leitbild und Metapher dargestellt und fr empirische Untersuchungen genutzt. Auch der folgende Beitrag stellt einen Begriff vor, mit dem gesellschaftlich verbreitete Denkmuster oder Denkweisen untersucht werden knnen. Er will zeigen, dass ein argumentationstheoretisch fundierter Topos-Begriff gerade fr ffentlich kontroverse Debatten, in denen es darum geht, fr die eigene Position zu werben und daher mindestens implizit argumentative Muster oder Schemata verwendet werden mssen, einen Beitrag leistet zum Begriffs- und Methoden-Mix einer wissenssoziologisch oder epistemologisch orientierten sozialund sprachwissenschaftlichen Forschung. Dies soll anhand der theoretischen Herleitung des Topos-Begriffs sowie an einigen Beispielen der Anwendung des damit gewonnenen methodischen Zugangs verdeutlicht werden. Dabei wird der Topos-Begriff in einer Weise genutzt, die verschiedene Konvergenzen und Divergenzen zu seiner Nutzung in sozial-, sprach-, rechts- und literaturwissenschaftlichen Studien aufweist, auf die aber im Folgenden nicht eingegangen werden soll.1
2. Topos als diskursgeschichtliche Analysekategorie Was also ist ein Topos im hier gemeinten, fr diskursanalytische Zwecke brauchbaren Sinn? Wie der Ausdruck Argumentationstopos andeutet, ist der rhetorische To-
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Vgl. dazu Wengeler 2003, Kap. II.
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Martin Wengeler
pos-Begriff gemeint, wie er in Aristoteles’ Topik- und Rhetorik-Schrift eingefhrt wurde. Aristoteles allerdings hat Topos fr recht unterschiedliche „Entitten“ verwendet, und daher knnen sich auch die verschiedensten Topos-Verstndnisse auf ihn berufen. Hier ist der folgende Zusammenhang wesentlich: Die Einfhrung des Begriffs topos sowie die Behandlung der Topoi bei Aristoteles erfolgen im Rahmen der Errterung der sog. Enthymeme. Als Enthymeme werden bestimmte Schlussverfahren bezeichnet, „denen Notwendigkeit grundstzlich nicht zugeschrieben werden kann“ (Sprute 1975, 72). Sie werden von Aristoteles auch als rhetorische Syllogismen bezeichnet, was sowohl auf hnlichkeiten wie auf Unterschiede zum wissenschaftlichen Syllogismus verweist. Bei letzterem handelt es sich um ein formallogisch schlssiges Verfahren, mit dem Sachverhalte bewiesen, „Wahrheiten“ begrndet werden sollen.2 Im Ausdruck rhetorischer Syllogismus verweist das Nomen darauf, dass auch diese Schlussverfahren die Struktur des wissenschaftlichen Syllogismus haben, das Attribut rhetorisch darauf, dass es eben nicht formallogisch strenge, auf Wahrheit zielende Schlsse sind, sondern quasi-logische oder alltagslogische Schlussverfahren, die auf Wahrscheinlichkeiten, auf Plausibilitten zielen. Es drfte einleuchtend sein, dass bezglich einer diskursgeschichtlichen Untersuchung nur eine Begrifflichkeit hilfreich sein kann, die solche auf Plausibilitten zielenden Argumentationen zu erfassen erlaubt. D.h., eine diskurs- und mentalittsgeschichtliche Analyse von Argumentationen hat nichts Wesentliches gemeinsam mit Anstzen, die Aussagen auf ihre formal-logisch gltige Schlssigkeit befragen. Sie braucht eine Methode, die die „nur“ plausiblen, berzeugungskrftigen, aber nicht unbedingt logisch „wahren“ Argumente zu erfassen erlaubt, mit denen in ffentlich-politischen Debatten Meinungen, Beschlsse, Handlungen begrndet werden. Denn es geht um das Erkennen der blichen und verbreiteten Denkweisen in einem Themenfeld, die mit „Wahrheit“ oder „Logik“ nichts zu tun haben mssen. Als Enthymem wird nun das prototypische Argumentationsverfahren mit einem Dreischritt aus Argument, Schlussregel und Konklusion bezeichnet: Eine strittige Aussage (die Konklusion) wird dadurch glaubhaft, berzeugend gemacht, dass ein Argument, eine unstrittige Aussage vorgebracht wird. Deren berzeugungskraft fr die Plausibilitt der die Konklusion bildenden Aussage wird garantiert durch das, was seit Toulmin Schlussregel (vgl. Toulmin 1975, 89) heißt.
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Die formale Logik ist das wissenschaftliche Gebiet, das sich mit diesen Schlussverfahren beschftigt. Wissenschaftliche Disziplinen, die ihren Wahrheitsanspruch und ihre Schlsse auf deren Prinzipien sttzen, genießen bis heute mehr Dignitt als solche, die auf die erkenntnistheoretischen Grundlagen der antiken Rhetorik zurckgreifen und deren Schlussverfahren rhetorische Syllogismen sind. Kienpointner (1992, 156) hat das erkenntnistheoretische Paradigma, das auf solche „nur“ wahrscheinliche, plausible wissenschaftliche Aussagen zielt, rhetorischen Relativismus genannt.
Argumentationstopos als sprachwissenschaftlicher Gegenstand
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Das bliche Beispiel fr diesen argumentativen Dreischritt ist eines, das das Schlussschema vom Ganzen auf seine Teile bzw. von der Gattung auf die Spezies verwendet. Um die Aussage „Prof. Schmidt ist ein hervorragender Wissenschaftler“ zu sttzen, kann als Argument vorgebracht werden: „Seine Bcher sind ins Englische und Chinesische bersetzt worden“. Als Schlussregel, die die berzeugungskraft dieser Aussage fr die Konklusion sichert, fungiert dabei die Aussage: „Diejenigen, deren wissenschaftliche Bcher (sogar) in andere Sprachen bersetzt werden, sind hervorragende Wissenschaftler“. Als weiteres Beispiel sei ein normatives kausales Schlussschema vom Grund auf die Folge angefhrt: Die Konklusion „Das Asylrecht muss gendert werden“ kann durch die Aussage „Das Asylrecht wird von vielen missbraucht“ gesttzt werden. Als Schlussregel dient die Aussage: „Wenn ein Recht von vielen missbraucht wird, sollte die rechtliche Grundlage verndert werden“. Schematisch sieht der argumentative Dreischritt des Enthymems, auf dem u. a. auch das viel rezipierte, zwei weitere Positionen enthaltende Toulminsche Argumentationsschema (Toulmin 1975, 95) beruht, wie folgt aus: Konklusion (K)
Schlussregel (SR) Argument (A) Solche Schlussregeln, die den legitimen bergang von der unstrittigen Aussage zur strittigen Konklusion sichern sollen, sind in der Aristotelischen „Topik“ erstmals gesammelt worden. Als – sehr formale bzw. allgemeine – Topoi gelten dabei u. a. die angesprochenen Schlussmuster von der Gattung auf die Spezies oder vom Grund auf die Folge. Wesentlich fr die Bestimmung des enthymemischen Schlusses im Gegensatz zum wissenschaftlich-syllogistischen Schluss ist, dass er auf Plausibilitt und nicht auf letzte Gewissheit zielt. Zudem ist es kennzeichnend fr ihn, dass er „auf charakteristische Weise verkrzt [ist], d. h. einer oder sogar zwei der insgesamt drei Teilschritte werden nicht ausgesprochen und mssen vom Zuhrer entsprechend ergnzt werden. Fast immer fehlt die ‚Schlußregel‘, so dass nur Argument und Konklusion ‚sichtbar‘ werden [...]. Im Extremfall kann neben der Schlußregel auch die Konklusion fehlen, so dass nur das Argument benannt wird“ (Ottmers 1996, 74 f.).
Diese Kennzeichen enthymemischen Argumentierens lassen sich an den genannten Beispielen nachvollziehen, deren intendierter argumentativer berzeugungsgehalt
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jeweils auch ohne Nennung der Schlussregel, evtl. auch ohne Nennung der Konklusion gegeben ist. Fr deskriptive Interessen ist allerdings nur der in der Schlussregel hergestellte Zusammenhang, der damit gegebene „Topos“ interessant. Fr dessen Analyse ist der zuletzt genannte Aspekt der enthymemischen Argumentation wesentlich, dass er nmlich zumeist nicht explizit ausgesprochen wird. Er muss also erst interpretativ aus den sprachlich realisierten Bestandteilen der Argumentation erschlossen werden. Das Zielen auf Plausibilitt und die mangelnde Explizitheit der Argumentation sind augenscheinlich auch Kennzeichen der ffentlich-politischen Argumentation. Das legt gerade ihre Analyse mit der Kategorie des Topos nahe. In dieser Darstellung scheint aber auch auf, dass unter Topos auch in diesem Sinn zweierlei verstanden werden kann: Zum einen ein sehr allgemeines, sehr formales Schlussschema (Einordnungsschema Teil-Ganzes oder Gattung-Spezies nach Kienpointners (1992, 1996) Typologie), zum anderen eine inhaltlich, material gefllte, kontextspezifische Schlussregel im Sinne Toulmins. Die formalen Schlussschemata liegen fr den Sprecher bei jedem Thema bereit, und er kann sie mit thematisch passenden Inhalten ausfllen. Angesprochen ist damit eine Unterscheidung, die Aristoteles zwischen allgemeinen und besonderen Topoi macht und die in der modernen Argumentationsanalyse etwa von Kopperschmidt (1989, 189; 1991, 53 f.) mit den Begriffen formale und materiale Topik gefasst wird. „Wenn sogar die Gtter nicht alles wissen, um wieviel weniger die Menschen“ (Aristoteles: Rhetorik 1397b 4). Dies ist ein Aristotelisches Einsetzungsbeispiel fr einen hier exemplarisch herausgegriffenen allgemeinen oder – in anderer bersetzung – gemeinsamen Topos. Ein eigenes Beispiel fr diesen „Topos des Mehr oder Minder“ knnte man zur Rechtfertigung potenzieller Schwchen der hier dargebotenen Darstellung anfhren: „Wenn nicht einmal international renommierte Rhetorik-Professoren genau wissen, was ein Topos ist, wie soll dies dann ein einfacher Sprachwissenschaftler wissen.“ Das allgemeine Schlussprinzip dieses Topos ist so reformulierbar: Wenn nicht einmal das Wahrscheinlichere gilt/der Fall ist, dann ist erst recht das weniger Wahrscheinliche nicht der Fall bzw. in umgekehrter Richtung Wenn schon das weniger Wahrscheinliche der Fall ist, dann erst recht das Wahrscheinlichere. Ein solcher allgemeiner Topos ist ein „Kunstgriff, der in allen mglichen Wissensbereichen angewendet werden kann“ (Eggs 1984, 343), mit dem „ber Gegenstnde aus den verschiedensten Gebieten“ (Sprute 1975, 83) Enthymeme gebildet werden knnen. Daraus folgt, dass in analytischer Absicht in den verschiedensten Wissensbereichen Enthymeme bzw. rhetorische Syllogismen gefunden werden knnen, die „auf eine identische Struktur zurckfhrbar sind“ (Eggs 1984, 343). Allgemeine Topoi stellen also „das abstrakte Strukturprinzip einer Argumentation“ (Ottmers 1996, 90) dar. Zu den allgemeinen Topoi, die bei jedem zu errternden Gegenstand vorkommen knnen, gehren neben dem Topos des Mehr oder Minder z. B. Beru-
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fungen auf anerkannte Autoritten (Topos aus der Autoritt) oder Aussagen, die dem Opponenten Glaubwrdigkeit, Kompetenz oder Sorgfalt absprechen (Topos aus der Person), sowie die in den Beispielen fr Enthymeme angesprochenen Topoi aus Gattung und Spezies und aus Grund und Folge. Ein Charakteristikum dieser allgemeinen Topoi ist es auch, dass man aus ihnen „im Hinblick auf denselben strittigen Sachverhalt ganz unterschiedliche, ja sogar gnzlich kontrre Argumentationen ableiten kann“ (Ottmers 1996, 88). Sie sind also in keiner Weise inhaltlich bestimmt. Solche allgemeinen Topoi drfte es in unserem Denken und Argumentieren nur endlich viele geben, und diese sind in verschiedenen Typologien seit der Antike zusammengestellt worden. Theoretisch knnen anhand einer solchen Liste in konkreten Texten die typischen argumentativen Muster von Einzelpersonen, sozialen Gruppen, historischen Epochen, fremden Gesellschaften herausgefunden werden. Und wenn solche allgemeinen Topoi bei jedem Gegenstand, Wissensbereich, Thema benutzt werden knnen, so mssten sie auch in jeder ffentlich-politischen Debatte vorkommen und analysierbar sein. Zustzlich kennt die Rhetorik seit Aristoteles die Klasse der besonderen oder spezifischen Topoi, womit „generelle Aussagen oder Meinungen, die fr […] ein bestimmtes Wissensgebiet spezifisch sind“ (Eggs 1984, 341), gemeint sind: Diese spezifische[n] Gesichtspunkte [...] sind solche, welche von Aussagen abgeleitet werden, die spezifischen Arten und Gattungen von Gegenstnden angehren, wie es z. B. Aussagen aus der Physik gibt, aus denen weder ein rhetorischer noch ein dialektischer Schluß fr die Ethik gewonnen wird, und aus diesen wiederum andere Aussagen, aus denen es keine solchen fr die Physik gibt. hnlich verhlt es sich auf allen Gebieten. (Aristoteles: Rhetorik 1358a 21)
Die besonderen Topoi sind also im Gegensatz zu den allgemeinen formalen Schlussmustern inhaltlich spezifizierte „Schlussregeln“, die entsprechend nur in einem bestimmten inhaltlichen Bereich verwendbar sind, um plausible Argumentationen zu realisieren. Es drfte allerdings in der Regel so sein, dass sie sich jeweils auch auf ein formales Schlussmuster zurckfhren lassen. Sie selbst bewegen sich aber auf einer anderen Abstraktionsstufe, sind konkreter. Sie enthalten inhaltliche Elemente aus den Sachgebieten, fr die sie Gltigkeit beanspruchen. Die allgemeinen Topoi knnen auch als kontextabstrakte Schlussmuster, die besonderen Topoi als kontextspezifische Muster bezeichnet werden. In dem Beispiel aus dem Einwanderungsdiskurs beruht die angefhrte Begrndung fr eine nderung des Asylrechts etwa auf dem kontextabstrakten Kausalschluss von einem Grund auf eine Folge, der kontextspezifische Topos kann – der oben angefhrten Schlussregel hnlich – so formuliert werden: Weil ein Recht/ein Hilfsangebot o... missbraucht wird, sollte das Recht gendert/ die Hilfe gestrichen oder gekrzt werden bzw. es sollten bestimmte Maßnahmen gegen den Missbrauch durchgefhrt werden.
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So verstandene kontextspezifische Topoi entsprechen m.E. den besonderen Topoi Aristoteles’. Die hier vorgestellte Topos-Analyse will auf der einen Seite nicht die abstrakten, formalen allgemeinen Topoi der Argumentation in bestimmten Debatten untersuchen, denn dies wrde zu sehr nur auf allgemeine, in beliebigen inhaltlichen Zusammenhngen vorkommende Argumentationsmuster abheben. Dabei wrden z. B. die meisten in einer politisch-parlamentarischen Debatte vorkommenden Schlussmuster als Kausalschlsse, als Schlsse aus Ursachen und Wirkungen bzw. aus Grund und Folgen eingeordnet (vgl. dazu Klein 2000). Dies knnte dann als typisch fr politische Diskussionen allgemein oder fr einen speziellen thematischen Diskurs deklariert werden, sagte aber m.E. nichts ber die inhaltlich fr diesen Themenbereich relevanten Denkweisen und Argumentationsmuster aus. Nur diese aber vermgen einem bewusstseins- und mentalittsgeschichtlichen Analyseinteresse gerecht zu werden. Auf der anderen Seite sollen aber bei diskursgeschichtlichen Untersuchungen, die inhaltlich hnliche Diskussionen zu einem Thema wie z. B. dem Thema Einwanderung ber einen lngeren Zeitraum hinweg betrachten, auch nicht die einzelnen, mit singulren Tatsachen angereicherten Argumente verglichen werden, sondern die ihnen bei verschiedenen Fragestellungen zu Gunde liegenden und sprachlich-argumentativ hergestellten Sachverhaltszusammenhnge. Diese erhalten ihre Plausibilitt einerseits durch die allgemein-formalen Schlussmuster, auf denen sie beruhen, andererseits enthalten sie aber auf die konkrete Fragestellung bezogene Spezifizierungen. Es soll also mit dieser Abstraktionsebene der Topoi z. B. mglich sein, die Aussage Anfang der 70er Jahre, das Gastrecht werde missbraucht und daher mssten bestimmte einwanderungspolitische Maßnahmen ergriffen werden, und die Argumentation der 80er Jahre, das Asylrecht werde missbraucht und daher msste das Grundrecht gendert werden, als verschiedene Realisierungen eines MissbrauchsTopos und nicht als zwei verschiedene, jeweils in einem konkreten inhaltlichen Zusammenhang verwendete Argumente anzusehen. Damit sollen gemeinsame Denkmuster dieser Argumentationen erschlossen werden, die aber andererseits spezifischer sind als die bloße Feststellung, dass hier mit Kausalschlssen gearbeitet werde. Der Aristotelische Gedanke der besonderen Topoi in verschiedenen Wissenschaftsbereichen ist fr die hier anvisierten Analysezwecke auf nicht-wissenschaftliche Bereiche, auf ffentlich diskutierte Themen zu bertragen. Fr einen solchen Themenbereich, fr eine inhaltlich bestimmte politisch-ffentliche Fragestellung, sollte zu diesem Zweck eine mglichst vollstndige Liste vorkommender Topoi erstellt werden. Die seit der Antike gefhrte Diskussion, ob Topoi eher formalen Charakter haben oder ob sie eher inhaltlich bestimmt sind, wird also in der hier vorgenommenen bernahme des Topos-Begriffs dahingehend genutzt, dass Topos als eine eher inhaltlich bestimmte Kategorie aufgefasst wird – auch wenn die kontextspezifischen Topoi sich auf formale Schlussmuster zurckfhren lassen. Allerdings werden Topoi
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nicht als so inhaltlich spezifiziert aufgefasst wie in der verbreiteten Topos-Rezeption, die Topoi als zu sprachlichen Gemeinpltzen geronnene Klischees (z. B. „Die da oben, wir hier unten“) oder auch als literarische Motive oder Themen (z. B. der greise Knabe oder die edle Einfalt) auffasst. Topoi werden dem entgegen anhand ihres – allerdings inhaltlich spezifizierten – Schlussregelcharakters bestimmt, der sich konkret auch in sprachlichen Gemeinpltzen realisieren kann. Als Anregung fr die diskursgeschichtliche Nutzung eines solchen Topos-Begriffs, mit dem das regelhafte ffentlich-politische Sprechen ber ein Thema erfasst werden soll, dient dabei vor allem der jngste und umfassendste Versuch, die allgemeinen, formalen Muster der Alltagsargumentation vollstndig zu klassifizieren. Diesen Versuch hat Manfred Kienpointner unternommen. Es ist das folgende Forschungsziel Kienpointners, das auch fr diskursgeschichtliche Zwecke relevant ist: Wenn es gelnge, die Zuordnung konkret realisierter Argumente zu einzelnen Argumenttypen „aufgrund plausibler Kriterien“ zu klren, „knnen anhand der Frequenz bestimmter Typen interessante Fragen beantwortet werden wie etwa, welche topoi bzw. aus diesen gewonnene Argumente fr (bestimmte Subgruppen) eine(r) Sprachgemeinschaft besonders charakteristisch sind [...]. Diachron knnte die Ab-/ Zunahme bestimmter Argumenttypen festgestellt werden [...]“ (Kienpointner 1982, 180).
Mit seinen kontextabstrakten Argumentationsmustern geht es Kienpointner vor allem um Topoi, „die fr das Argumentieren aller Sprecher einer Sprachgemeinschaft oder zumindest großer Gruppen von nicht speziell vorgebildeten Sprechern typisch sind und somit zum ,kollektiven Wissen‘ einer Sprachgemeinschaft gehren“ (Kienpointner 1982, 181). Das ist fr eine diskursgeschichtliche Untersuchung dahingehend zu modifizieren, dass auch die Unterschiede in der Verwendung typischer Topoi zwischen verschiedenen Gruppen zu einem Zeitpunkt und zwischen diesen Gruppen zu verschiedenen Zeitpunkten in einem Themenbereich herausgefunden werden sollen. Kienpointner will fr diesen Zweck „eine mglichst kohrente und empirisch fundierte Typologie [...] erstellen, die die Vorzge der reichen typologischen Tradition ntzt und ihre Schwchen soweit als mglich zu vermeiden versucht. [...] Dies geschieht im Interesse einer mglichst vollstndigen Erfassung aller Klassen von plausiblen Mustern der Alltagsargumentation. Vollstndigkeit ist aber nur auf der Ebene der maximal kontextabstrakten Versionen von Argumentationsschemata mglich“ (1992, 232).
Kienpointners systematische Typologie unterscheidet die Argumentationsschemata nach drei Großklassen und 21 Unterklassen, aus denen sich u. a. durch die Differenzierung nach deskriptiven und normativen Schemata rund sechzig kontextabstrakte Argumentationsmuster ergeben.3 Zu den Unterklassen gehren z. B. die bereits er3
Vgl. Kienpointner (1992, 246). Knappere berblicke ber die Typologie finden sich bei Ottmers (1996, 93 – 117) und Kienpointner (1996, 83 – 184).
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luterten Topoi Genus-Spezies und Grund-Folge sowie das Autoritts- oder das Analogiemuster. Zum Grund-Folge-Schema gehrt ein fr politische Argumentationen zentrales Muster, das als „pragmatisches Argument“ oder als „KonsequenzTopos“ bezeichnet wird und das wegen seiner Relevanz kurz erlutert werden soll: Mit dem Grund-Folge-Schema werden solche Argumentationsmuster erfasst, die sich von Argumentationen, die mit der Hinzuziehung von Ursache und Wirkung arbeiten, dadurch unterscheiden, dass es bei ihnen um die Grnde oder die (prognostizierten bzw. eingetretenen) Folgen menschlicher Handlungen geht. Neben dem deskriptiven Schema Wenn X Handlung Y vollzieht, treten Folgen Z auf. X vollzieht Handlung Y. Also: Folgen Z treten auf sind besonders die beiden Varianten des normativen Schemas fr politische und Alltagsargumentationen zentral: Handlung A fhrt zu Folge B. B ist positiv/negativ zu bewerten. Also: Handlung A ist positiv/negativ zu bewerten und daher zu vollziehen/zu unterlassen (vgl. Kienpointner 1996, 149). Es wird also „von der positiven oder negativen Bewertung der Folgen auf die entsprechende Bewertung der Ursache, nmlich Handlung A, geschlossen. Die positive oder negative Bewertung von A verhilft schließlich zu einer Entscheidung ber die Durchfhrung oder Unterlassung von A“ (Kienpointner 1996, 149).
Bei politischen Diskussionen, in denen es um konkrete Entscheidungen pro oder contra eine bestimmte Maßnahme, Gesetzesnderung bzw. -einfhrung oder eine andere politische Handlung geht, ist diese Handlung der Grund (Handlung A), aus dem bestimmte Folgen abgeleitet werden. Wegen dieser Folgen wird pro oder contra Handlung A votiert oder (bei entsprechender Handlungsbefugnis) Handlung A ausgefhrt oder unterlassen. Sehr hufig wird dabei mit den prognostizierten positiven oder negativen Folgen einer Handlung bzw. Entscheidung argumentiert, also das Argumentationsschema in einer fiktiven Variante angewendet. Ebenso kann aber auch in der realen Variante des Schemas mit bereits eingetretenen Folgen vergangener Handlungen/Entscheidungen fr oder gegen deren Richtigkeit argumentiert werden. Das hat wiederum den weiter gehenden Zweck, diese als ausreichend und keiner nderung bedrftig oder als unzureichend und daher zu ndern auszuweisen. Kienpointners Argumentationsmuster sind aber nun ebenso wie die meisten der allgemeinen Topoi der antiken Rhetorik fr eine diskursgeschichtliche Analyse zu kontextabstrakt formuliert. „Untersuchungen mit anders gelagerten Intentionen knnten jedoch thematisch-kontextuell weit mehr ins Detail gehen, wenn etwa [...] die Argumentation einer bestimmten politischen, religisen oder generations- bzw. geschlechtsspezifischen Subgruppe nher analysiert werden soll, oder wenn die Argumentation einer Einzelperson beschrieben werden soll“. (Kienpointner 1992, 235)
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Oder wenn eben die Argumentation in einem Themenbereich, in einem Diskurs beschrieben werden soll. Um also etwas ber typische Wirklichkeitskonstruktionen in thematisch bestimmten ffentlichen Debatten auszusagen, ist es notwendig und sinnvoll, diese allgemeinen Strukturmuster nur als Orientierung, als Rahmen zu nehmen, der mit kontextspezifischeren Inhalten zu fllen ist. Solche den „besonderen Topoi“ der Tradition entsprechenden Argumentationsmuster lassen sich in jedem inhaltlich bestimmten Diskurs auffinden, und ihre Analyse und evtl. die Auszhlung ihrer Hufigkeit knnen dann Aussagen liefern ber typische, wichtige oder dominante Denkweisen, Sichtweisen, Wahrnehmungsmuster bestimmter Gruppen, in einem bestimmten Zeitraum, bezogen auf ein bestimmtes Thema. Sie knnen den von Kienpointner unterschiedenen kontextabstrakten Mustern jeweils zugeordnet werden. Fr drei verschiedene „Diskurse“ oder Debatten wird im Folgenden die Nutzung solcher kontextspezifischer Argumentationstopoi dargestellt.
3. Empirische Topos-Analysen 3.1 Migrationsdiskurse Fr diskursgeschichtliche Zwecke muss also jeweils zunchst eine Typologie themen- bzw. kontextspezifischer, also inhaltlich-kategorial bestimmter Argumentationsmuster erstellt werden. Diese knnen in Anlehnung an formale, kontextabstrakte Muster definiert werden, erweisen sich aber durch ihre inhaltliche Bestimmtheit als Bestandteile einer „materialen Topik“. Der Status solcher Muster sei kurz an einem Beispiel erlutert. Mit dem Topos vom wirtschaftlichen Nutzen (s.u.) oder dem Missbrauchs-Topos werden z. B. inhaltliche, material-kategorial bestimmte Problemzugnge erfasst. Als rein formale Argumentationsmuster wren solche Topoi lediglich den Kausalschemata zuzuordnen, da in dem einen Fall mit den zu erwartenden Folgen, im anderen Fall mit einem vorliegenden Grund argumentiert wird. Die kontextspezifischen Topoi knnen insofern bezglich ihrer rein formalen Struktur zu Gruppen zusammengefasst werden, die z. B. das gleiche formale Muster des Kausalschemas, das mit positiven oder negativen Folgen operiert, verwenden (etwa Nutzen-Topoi, Gefahren- und Belastungs-Topos). Innerhalb des Spannungsfeldes zwischen konkreter Sachargumentation auf der einen und universellem rhetorischen Schema auf der anderen Seite sind die hier analysierten Topoi auf einem mittleren Abstraktionsniveau angesiedelt. Dieses ermglicht, das Vorkommen von Argumentationsmustern in verschiedenen Teildiskursen, also fr verschiedene Fragestellungen zu vergleichen, ohne nur Argumentationsschemata zu analysieren, die vllig unabhngig vom sachlichen Gehalt der Diskurse sind. Wesentlich ist aber auch, dass nicht konkrete Argumente oder Konklusionen betrachtet werden, son-
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dern Schlussregeln bzw. Topoi. Denn Argumente und Konklusionen sind stark kontext- und einzeltextspezifisch und daher prinzipiell in unendlicher Zahl vorhanden, whrend Schlussregeln in mehr oder weniger kontextabstrakter Form formuliert und daher in thematisch verschiedenen und sprachlich unterschiedlich realisierten Argumentationen rekonstruiert und verglichen werden knnen. Dabei geht es nicht um die Erfassung und Analyse aller, sondern nur der wichtigsten, relevantesten, herausragenden Phnomene, die natrlich sowohl von der Auswahl der Texte wie von der Interpretationsleistung des Analysierenden abhngig sind.4 Es geht also fr einen thematischen Bereich um zwar inhaltlich bereits angereicherte Muster, die aber dennoch so allgemein sind, dass sie zu verschiedenen Zwecken gefllt werden knnen. So kann z. B. der Missbrauchs-Topos zum einen dazu verwendet werden, Flchtlingen die Ausnutzung der deutschen Gesetzgebung vorzuwerfen, um deren nderung zu legitimieren. Zum anderen kann er aber auch dazu dienen, Kommunen vorzuwerfen, Brgerkriegsflchtlinge ins Asylverfahren gedrngt zu haben, um Kosten zu sparen. Damit missbrauchten sie die Gesetzgebung. Dieser „Missbrauch“ msse bekmpft und die missbrauchten Gesetze beibehalten werden. Das Beispiel zeigt noch einmal, auf welchem Abstraktionsniveau Topoi analysiert werden: Es sind eher Denkfiguren des Herangehens an eine politische Fragestellung. Sie werden pro und contra eine bestimmte Position, Handlung oder Entscheidung in einem Diskurs versprachlicht und knnen so analytisch in Texten erfasst werden. Bei der quantitativen Auswertung muss nicht nur eruiert werden, wie verbreitet der Missbrauchs-Topos ist, sondern auch wie hufig er von welchen Gruppen fr einwanderungsbegrenzende Maßnahmen und wie oft er gegen solche benutzt wird. Analysiert wurde ein Korpus von 1300 Pressetexten zum Diskurs ber Arbeitsmigration von 1960 – 1985 (vgl. ausfhrlicher Wengeler 2000, 2003). Dabei wurden keine Vorentscheidungen getroffen, welche der in Archiven gefundenen Pressetexte fr den Einwanderungsdiskurs besonders relevant seien und daher bevorzugt 4
Dafr ist eine Auszhlung, eine Quantifizierung des Vorkommens der einzelnen Topoi ntig. Indem gezhlt wird, in wie viel Prozent der ausgewerteten Artikel ein Topos in drei zu vergleichenden Zeitrumen vorkommt, soll lediglich die Dominanz, sollen Tendenzen des Vorhandenseins bestimmter Denkfiguren in der ffentlichkeit und ihre relative Relevanz aufgezeigt werden. Die Quantifizierungen liefern keine statistisch abgesicherten Ergebnisse. Sie werden nur als Hilfsmittel benutzt, das Vorgehen setzt aber vor allem auf den hermeneutischen Verstehensprozess sowohl bei der Textanalyse als auch bei der Auswertung der Zahlen. Dieser ist wichtiger als die „Zahlen-Empirie“. Die Zahlen dienen also nur als Orientierungspunkte fr die Einschtzung der Wichtigkeit der Topoi, deren Funktion dann anhand ihrer einzelnen Vorkommen interpretiert und beschrieben wird. In dieser Form der Diskursgeschichte, die gleichzeitig Mentalittsgeschichte sein will, wird also mit quantitativer Absicherung und methodisch kontrollierter Textinterpretation etwas ber das Denken und Wollen historischer Subjekte und Gruppen bezglich des gewhlten Themenbereichs herausgefunden.
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oder ausschließlich auszuwerten seien, und die Texte wurden auch nicht nach dem Kriterium ausgewhlt, dass sie dann besonders wichtig sind, wenn hufig auf sie Bezug genommen wird. Es gibt also im Korpus keine Leittexte oder besonders relevante Texte (vgl. dazu Teubert 1998, 190). Es wurden nur die Texte aus der Auswertung ausgeklammert, in denen gar keine Argumentationsmuster vorkamen. Da es auch auf die Quantitt des Vorkommens bestimmter Argumentationsmuster in Presseberichten ankam, wurden aber ausfhrliche Hintergrundreportagen zum Thema Einwanderung ebenso bercksichtigt wie kurze Berichte ber punktuelle Ereignisse oder einzelne Statements von Politikern. Denn wenn es um dominante Tendenzen im ffentlichen Sprechen und Denken ber ein Thema geht, bringt die Auswahl vereinzelter Texte als reprsentativ immer ein zustzliches willkrliches Element in die Auswertung ein. Auch theoretisch ist dieses Vorgehen begrndet: Wenn es bei der Diskursanalyse um die „Regeln des Erscheinens diskursiver Ereignisse“ (Busse 1987, 257) geht, dann kann die Bercksichtigung einer Vielzahl solcher „Ereignisse“ statt nur der Auswertung einiger weniger, als besonders relevant oder typisch erklrter Einzel-Ereignisse besser Aufschluss geben ber die Regelhaftigkeit und somit die Verbreitung einer bestimmten sprachlichen Konstruktion von Wirklichkeit. Letztlich aber knnen bei der Konstitution jedes Korpus’ einer diskursgeschichtlichen Analyse nur die Untersuchungsergebnisse erweisen, dass mit dem Korpus ein sinnvolles Untersuchungsobjekt konstituiert ist. Fr die Analyse des bundesdeutschen Einwanderungsdiskurses von 1960 – 1985 wurden nach einer ersten Lektre von Bundestagsdebatten und Zeitungsartikeln zu den Themenbereichen Asylrecht und Gastarbeiter die kontextspezifischen Topoi formuliert, deren Vorkommen in den Texten im Anschluss daran ausgewertet wurde. Die Kategorien der Analyse werden also aus der Interpretation der Texte selbst gewonnen. Im Verlauf der Textlektre und -auswertung wurden die anfnglichen Definitionen der Topoi z. T. modifiziert, neue Topoi kamen hinzu, einzelne zunchst zu allgemein gefasste Topoi wurden ausdifferenziert, andere zunchst erfasste Topoi wurden bei der Auswertung nicht mehr bercksichtigt, weil sie – anders als zum Zeitpunkt ihrer Definition erwartet – keine quantitativ oder qualitativ bedeutsame Rolle spielen. All dies erfordert einen weiteren Bearbeitungsdurchgang, um zu einer einheitlichen Auswertung zu gelangen. Wesentlich fr die Auswertung ist aber auch zu beachten, dass auf diese Weise einzelne Textexemplare oder -ußerungen zunchst nur zu einem vordefinierten Topos zugeordnet werden. Es geht in einem weiteren Bearbeitungsschritt darum, die unterschiedlichen Ausgestaltungen der Topoi zu bercksichtigen. Im Folgenden sollen exemplarisch ein paar wenige Ergebnisse solcher Analysen genannt werden. Es lsst sich z. B. gut zeigen, wann, von wem und wie oft die heute im Einwanderungsdiskurs wieder dominierenden Topoi vom wirtschaftlichen Nutzen auf der einen Seite und von der Belastung auf der anderen Seite die Wahrnehmung und die
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ffentliche Konstruktion des Themas bestimmt haben. Um dies zu verdeutlichen, prsentiere ich die Definition der Topoi und Textbeispiele, die diese Topoi enthalten:
Der Topos vom wirtschaftlichen Nutzen Weil eine Handlung unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten einen / keinen Nutzen bzw. Schaden erbringt, sollte sie ausgefhrt/nicht ausgefhrt werden. Kann es sich die Bundesrepublik wirklich leisten, arbeitswillige Leute auf diese Weise abzuwimmeln? [...] Wer braucht denn eigentlich Arbeitskrfte? (D I E W ELT 25.5.1961) Auslndische Arbeitskrfte sind heute fr viele Betriebe, fr unsere ganze Wirtschaft unentbehrlich geworden. Ohne sie knnte die Leistung der Industrie wie der verschiedensten Dienstleistungsbereiche nicht erhalten werden. (D I E W ELT 22.4.1964) Nachdem die inneren Reserven weitgehend erschpft seien, bleibe nur noch die Mglichkeit, auf Auslnder auszuweichen. (SZ 6.5.1964) Mehr als eine Million Gastarbeiter sind zur Zeit in der Bundesrepublik beschftigt. Die steigende Wirtschaftskraft wre ohne sie undenkbar. (SZ 26.11.1964) Soll das Wirtschaftswachstum nicht gehemmt werden, so wird […] eine Ergnzung der einheimischen Arbeitskrfte durch Auslnder unentbehrlich bleiben. (D I E Z E I T 7.5.1965) Es gibt Großstdte, in denen angeblich die Mllabfuhr zusammenbrechen wrde, fnde man nicht immer noch auslndische Arbeitskrfte, die bereit sind, diese Arbeit zu nehmen. (RP 12.6.1965) Wenn die deutsche Industrie ihre Stellung auf den Weltmrkten behaupten will (von der wiederum der Lebensstandard abhngt), dann braucht die deutsche Wirtschaft die auslndischen Arbeitskrfte. (FAZ 28.7.1965) Wenn der deutsche Arbeitsmarkt leergefegt ist, nimmt man dankbar jeden, sofern er nur einen klaren Kopf und zwei krftige Hnde hat. [...] Rund eine Million auslndischer Gastarbeiter haben zwar eine sprbare Erleichterung gebracht, doch ausreichend ist diese Zahl immer noch nicht. (RP 13.12.1965)
Der Belastungs-Topos Weil eine Person/eine Institution/ein Land mit bestimmten Problemen stark belastet oder berlastet ist – oder weil eine solche Belastung droht, sollten Handlungen ausgefhrt werden, die diese Belastung vermindern bzw. verhindern. „Wir kommen damit an die Grenze der Aufnahmefhigkeit“, sagte am Montag Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher. Auch Bundeskanzler Willy Brandt hat sich vor kurzem in Kassel in diesem Sinne geußert. (FR 17.10.1973)
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Nach Ansicht der Oppositionsabgeordneten [...] ist die Grenze der Belastbarkeit der Infrastruktur durch die [...] rund vier Millionen Gastarbeiter und ihre Familienangehrigen „vielerorts bereits erreicht und in Ballungsgebieten sogar schon berschritten“. (FR 13.8.1974) Neubauer [Berliner Innensenator] sagte, der hohe Auslnderanteil in diesen Bezirken [...] habe zu einer Belastung der Infrastruktur gefhrt, die nicht mehr vertretbar sei. Ein weiteres Anwachsen des Auslnderanteils knnten die ffentlichen Einrichtungen dieser Bezirke nicht mehr verkraften. (SZ 31.10.1974) In der Bundesrepublik ist nach Ansicht des nordrhein-westflischen Arbeitsministers Friedhelm Farthmann die „Grenze der Aufnahmefhigkeit“ auslndischer Arbeitnehmer erreicht. (FR 24.4. 1980) In der Bundesrepublik drfte die soziale Integrationsfhigkeit sowie die ethnische Belastbarkeit erschpft sein. (FAZ 9.11.1981) Der Asylanten-Strom ins westliche Deutschland schwillt an. [...] Aber die Aufnahmefhigkeit unseres Landes ist begrenzt. Brgermeister, die [...] nicht wissen, wohin mit ihnen, schlagen Alarm. [...] Die Flchtlingslast wird zu schwer fr die Bundesrepublik. Wie soll dieses enge, bervlkerte Land immer neue Zehntausende aufnehmen knnen? Wie soll die jetzt schon berstrapazierte Natur fertig werden mit den unvermeidlichen Folgen der Ansiedlung von immer mehr Asylbewerbern? (FAZ 5.9.1985)
Fr den Topos vom wirtschaftlichen Nutzen habe ich hier nur Belege aus den frhen 60er Jahren aufgefhrt. hnliche Belege finden sich in großer Zahl auch Anfang der 1970er Jahre. Mit ihnen kann illustriert werden, wie die seit Schrders Greencard-Initiative vom Februar 2000 wieder im Mittelpunkt stehende Argumentationsweise schon vor 30 bis 40 Jahren die Migrationsdebatte beherrscht hat. Der Einwanderungsprozess wurde lange Zeit ausschließlich unter wirtschaftlichen und Arbeitsmarktgesichtspunkten betrachtet. Allerdings war diese Argumentationsweise zwischenzeitlich aus der ffentlichen Debatte fast verschwunden. Die Anfhrung des wirtschaftlichen Nutzens der Gastarbeiter fr die gesamte Volkswirtschaft, fr einzelne Branchen oder Betriebe war bis zu den Anfngen der 1980er Jahre das dominierende Argumentationsmuster zur Erklrung oder Rechtfertigung von Zuwanderung. Erst mit der auslnderpolitischen Wende nach 1982 nahm seine Bedeutung rapide ab, so dass insgesamt fr den untersuchten Zeitraum von 1980 bis 1985 ein Rckgang dieses Topos zu verzeichnen ist und er erst seit Anfang 2000 wieder in den Mittelpunkt der Diskussionen gerckt ist. Die Belastung der deutschen Gesellschaft oder bestimmter Institutionen wird ab 1973 zu dem neben der Gefahren-Beschwrung zentralen Argument, Zuwanderung abzulehnen. In den 70er Jahren ist es dabei zumeist die Infrastruktur, die berlastet sei und keine weitere Zuwanderung zulasse, in den 80er Jahren sind es die Unterbringungskapazitten fr Flchtlinge oder die mit Asylverfahren befassten Gerichte, die ber- oder belastet seien. Allgemein wird die Grenze der Belastbarkeit, der Aufnahmefhigkeit der deutschen Gesellschaft seither stereotyp angefhrt, wenn es
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darum geht, die Verhinderung von Zuwanderung zu legitimieren. Und als Otto Schily bereits kurz nach Amtsantritt der ersten rot-grnen Bundesregierung diesen Topos zum rger der Grnen und einiger Parteifreunde in einer der ersten Stellungnahmen zur Einwanderungspolitik benutzte, befand er sich damit in guter sozialliberaler Gesellschaft von Willy Brandt und Hans-Dietrich Genscher, wie die Belege zeigen – wenn auch der Topos fr die Konservativen immer eine wichtigere Rolle gespielt hat und auch in der aktuellen Diskussion um ein Einwanderungsgesetz spielt. Ohne dies hier mit weiteren Topos-Definitionen und Textbelegen darstellen zu knnen, sollen noch ein paar weitere Analyseergebnisse erwhnt werden, die den Stellenwert von quantitativ wie qualitativ wichtigen Topoi, die in den Jahren 1960 – 1985 einerseits contra, andererseits pro Einwanderung hufig angefhrt wurden, zeigen: Eine wesentliche Kontinuitt in den Denkfiguren, mit denen die Ablehnung von Zuwanderung bzw. Zuwandernden begrndet wird, besteht in der Konstruktion verschiedener Gefahren, die mit Zuwanderung verbunden sind. Aufgrund solcher Gefahren werden anfangs eher allgemeine Bedenken gegen Zuwanderung geußert und spter vor allem Maßnahmen befrwortet, die weitere Zuwanderung verhindern sollen. Bereits in den frhen 1960er Jahren werden dabei die Gefahren beschworen, mit der Zuwanderung knnten Slums und ein neues Proletariat, mit ihm eine neue soziale Frage entstehen und der soziale Frieden knnte so gefhrdet werden. Solche Befrchtungen von Gettos, neuem Subproletariat, sozialen Spannungen, Minderheitenkonflikten sind dann vor allem in den 1970er Jahren prgend, whrend in den 80er Jahren neben diesen Gefahren vor allem die Beschwrung der Gefahr weiteren Massenzuzugs bei bestimmten politischen Maßnahmen oder Unterlassungen hinzukommt. Diese Gefahr war zwar auch zuvor schon ausgemalt worden, aber nicht so dominierend wie in den 80er Jahren. Zeittypisch fr die 60er Jahre waren Befrchtungen vor kommunistischer Infiltration und vor Krankheiten und Seuchen durch Zuwanderer, die in der spteren Zeit jeweils kaum noch vorkommen. Entgegen der immer wieder wiederholten Einschtzung, dass „der“ Diskurs ber Zuwanderer in Deutschland fremdenfeindlich und ablehnend sei – was fr bestimmte Gruppen und auch hinsichtlich konkreter politischer Maßnahmen zutreffen mag –, ist andererseits festzuhalten, dass bei der vorgenommenen Presseauswertung rein quantitativ auch pro Zuwanderung oder Zuwanderer vorgebrachte Argumentationen eine wichtige Rolle spielen und den ffentlichen Diskurs mitprgen – obwohl sie andererseits die einwandererablehnenden Tendenzen dadurch besttigen, dass sie zunehmend defensiv gegen Forderungen nach Zuwanderungsbeschrnkungen gerichtet sind: Quantitativ durchgngig dominant ist in der Zeit von 1960 – 1985 zum einen die Befrwortung von Zuwanderung aufgrund von humanitren und individuell-pragmatischen berlegungen. Zum anderen wird eine „reali-
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stische“ Sichtweise der Zuwanderung zunehmend wichtig, die von Beginn an neben der humanitren und pragmatischen Sichtweise vorhanden ist: Einwanderung und Einwanderer begnstigende Maßnahmen werden dabei damit gerechtfertigt, dass es nun einmal Realitt, ein Faktum sei, dass ein bestimmter Prozess stattgefunden habe, auf den man nun mit angemessenen Maßnahmen reagieren msse. D.h.: Deutschland ist de facto ein Einwanderungsland geworden, es hat eine zahlenmßig umfangreiche Zuwanderung stattgefunden. Dies ist die Realitt, daher sind bestimmte rechtliche oder soziale Verbesserungen anzustreben und Maßnahmen zu vermeiden, die diese Realitt missachten. In den 1980er Jahren ist dieser Topos zum wichtigsten pro Einwanderung verwendeten Argumentationsmuster geworden: Zusammen mit der Zunahme juristischer Argumentationen pro Zuwanderung gehrt der Topos allerdings zu einer in dieser Zeit dominanten defensiven Pro-Einwanderungs-Argumentation, die den nun vorherrschenden Abwehrdiskurs gegen Einwanderer besttigt: Whrend in den 70er Jahren und in Rudimenten auch von 1980 bis 1982 noch offensiv Gerechtigkeits- und „Realitts“-Gesichtspunkte fr eine Besserstellung der Einwanderer angefhrt wurden, gilt es nun, mit der Realitts-Argumentation rigide Nachzugsbeschrnkungen zu verhindern. Der zweite wesentliche Strang der Befrwortung der Zuwanderung besteht aus humanitren berlegungen sowie Denkweisen, die den Nutzen fr die einzelnen Zuwanderer pragmatisch in den Mittelpunkt stellen. Dabei ist die Betonung des individuellen Nutzens, den die „Gastarbeit“ fr die einzelnen Zuwanderer, aber auch fr einzelne Deutsche (etwa durch die Ermglichung krzerer Arbeitszeit oder lngeren Urlaubs) habe, quantitativ zu Beginn der ffentlichen Wahrnehmung der Zuwanderer in den 1960er Jahren am strksten. Dies besttigt die geschichtswissenschaftlichen Thesen, dass ffentlich gerade in dieser Frhzeit gegen unterstellte Vorbehalte in der Bevlkerung mit Sympathiewerbung in der verffentlichten Meinung angegangen wurde. Auch die relative Relevanz von Verstndnis- und Vorurteils-Topos in dieser Zeit besttigt dies: Durch die Zuwanderung empfundene Probleme sollen sich dadurch lsen lassen, dass sich Einheimische und Fremde besser kennen lernen, dass besonders die Einheimischen mehr Verstndnis fr die Probleme der Zuwanderer entwickeln und ihre Vorurteile ablegen. Andererseits nehmen humanitre Argumentationsmuster quantitativ in den 70er und 80er Jahren zu. Dafr sind in erster Linie Kirchen, Wohlfahrtsverbnde und Menschenrechtsinitiativen verantwortlich, die seit Beginn der 70er Jahre die Interessen der im demokratischen System ohne Stimme bleibenden Auslnder vertreten. Humanitre Argumentationen sind zusammen mit dem zuvor erluterten Topos vom menschlichen Nutzen in der Frhzeit des Einwanderungsdiskurses charakteristisch auch fr die paternalistische Sichtweise der Einwanderung, die sich in der Aussage Gastarbeiter sind auch Menschen widerspiegelt. Demgegenber wird die humanitre Argumentation, der Verweis auf menschenrechtliche Standards, gegen die po-
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litische Entscheidungen nicht verstoßen drften, in der Diskussion der 80er Jahre weitaus konkreter politisch eingesetzt, etwa im Streit um Nachzugsbeschrnkungen oder asylrechtliche Einschrnkungen. Mit diesem kurzen Einblick in die eigene Anwendung der Analyse von Topoi will ich es an dieser Stelle bewenden lassen. Um zu zeigen, dass die Methode offenbar bei verschiedenen Fragestellungen geeignet ist, ein großes Textkorpus hinsichtlich der darin enthaltenen inhaltlichen Strukturen, hinsichtlich dominanter Weltwahrnehmungen, Wirklichkeitskonstruktionen, Argumentationen oder Denkmuster zu erfassen und zu ordnen, mchte ich stattdessen kurz auf zwei Untersuchungen eingehen, die die Methode zur Analyse zweier zeitlich begrenzter Debatten angewendet haben.
3.2 Die Ordnung medieninszenierter Diskurse: Die Sloterdijk-Debatte 1999 Martin Steinseifer und Gernot Kasel haben die Methode der Analyse kontextspezifischer Argumentationsmuster nicht dazu genutzt, diachron die Konstanz oder Vernderung zentraler Denkmuster in ber lngere Zeitrume verlaufenden Diskursen zu erforschen, sondern sie haben die Methode angewendet auf solche Diskurse, die in einem relativ kurzen Zeitraum intensiv in den Medien – oft in den Feuilletons der Printmedien – gefhrt werden und dabei alltagssprachlich als Debatten bezeichnet werden und in der Rezeption und Rckschau mit den Namen der Protagonisten verbunden bleiben. Der eine untersucht die sog. Sloterdijk-Debatte aus dem Herbst 1999, der andere die Walser-Bubis-Debatte ein Jahr zuvor. Beide Debatten haben ihren Ausgangspunkt in einem Prototext, auf den sich die folgenden Beitrge beziehen, und entsprechen insofern idealtypisch dem Definitionskriterium eines Diskurses als einem Ensemble von Texten, die explizit oder implizit aufeinander verweisen. Und in beiden Debatten geht es einerseits um Themen, bei denen mit dem Rckbezug auf die Geschichte der Deutschen eine gesellschaftliche Selbstverstndigung verhandelt wird. Andererseits geht es um typische Prozesse und Inszenierungen des Mediensystems, das spezifischer Ablufe und Muster bedarf, um Aufmerksamkeit zu erzeugen und die eigene gesellschaftliche Relevanz zu reproduzieren. Um diese spezifischen Inszenierungen und Verlufe einer Mediendebatte geht es in Steinseifers Analyse der Debatte um Peter Sloterdijks Rede auf Schloss Elmau im Juli 1999 mit dem Titel „Regeln fr den Menschenpark“ (2001). Ohne auf deren Inhalte, um die es ja in der Diskussion auch insofern ging, als umstritten war, was Sloterdijk „eigentlich“ sagen wollte, hier einzugehen, ist in diesem Zusammenhang relevant zu sehen, warum und wie Steinseifer die oben skizzierte Methode, in einer ffentlichen Debatte vorkommende Argumentationen nach kontextspezifischen Argumentationsmustern oder Topoi zu ordnen, nutzt und zu welchen Ergebnissen er
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kommt. Es geht ihm darum, die mediale und argumentative Dynamik solcher Debatten exemplarisch zu erfassen und zu bewerten. Die so vorgefhrte Analyse knne auch auf andere medieninszenierte Debatten bertragen werden und so im Vergleich zu Erkenntnissen ber moderne mediale Debatten-„Kulturen“ im Allgemeinen fhren, denn kontextspezifische Argumentationstopoi oder -muster erscheinen ihm als besonders geeignet, um die „kommunikativen Konstellationen des analysierten Diskursausschnitts innerhalb eines einheitlichen methodischen Rahmens“ (2001, 201) systematisch und kontextnah-beschreibend zu interpretieren. Darber hinaus verndere die Konzentration auf solche Muster nicht nur das Kommunikationsbewusstsein, sondern auch die eingreifende Kompetenz des Analysierenden. Sich der Probleme bewusst, die aus der Bestimmung der Argumentationsmuster, ihrer Abgrenzung und der Zuordnung konkreter Textausschnitte zu solchen Mustern erwachsen und die bei einem solchen qualitativen Verfahren unvermeidlich sind, nutzt Steinseifer die Methode, um die „Ordnung der Debatte“ „im Sinne einer ‚dichten Beschreibung’“ (2001, 80) darzustellen. Seine argumentativen Muster knnten dabei z. T. „eine versteckte Ebene der Gemeinsamkeiten, die dann den publikumswirksamen Dissens erlaubt“, bilden, jedenfalls konnten die Beteiligten „bewusst oder unbewusst auf die Plausibilitt der Muster setzen und sich mehr oder weniger explizit bei der Produktion ihrer Beitrge darauf berufen“ (2001, 119). In diesen unterstellten Plausibilitten zeigen die Muster eben auch, was die in einer solchen Debatte sagbaren Positionen ausmacht, die, nachdem man sie sich analytisch vor Augen gefhrt hat, „ebenso plausibel wie problematisch“ erscheinen, da sie „unauffllig vertraut“ (2001, 163) wirkten und ja wohl gerade deshalb als argumentative Muster in Anschlag gebracht werden. Das Besondere der Debatte liegt in der Kombination der Muster, die darauf abzielt, im Mediensystem „Aufmerksamkeitspotenziale zu erzeugen“ (2001, 164), in der Sloterdijk-Debatte etwa die Kombination von Mustern, die mit der deutschen Geschichte argumentieren, mit solchen, die Entwicklungen der Biotechnologie thematisieren. Die in der Debatte vorkommenden Muster unterteilt Steinseifer in verschiedene Bereiche. Der erste bezieht sich auf die Ordnung der Kommunikation, der zweite auf Argumentationen, die die Philosophie selbst und ihre Rolle in der ffentlichkeit betreffen, der dritte Bereich betrifft die Wahrnehmung und Bewertung der Biotechnologie und der vierte die Ordnung und Bewertung geschichtlicher Ablufe. Dazu nun Beispiele, die wiederum zeigen sollen, wie die vorgeschlagene Methode angewendet werden kann. Zur „Ordnung einer Kommunikation“, die sich zentral um einen Prototext dreht, gehrt ein Argumentationsmuster, das Steinseifer „Text-Bedeutungs-Muster“ nennt: „Weil ein schriftlicher Text eine bestimmbare Bedeutung hat, kann nach genauem Lesen des Textes zwischen richtigen und falschen Interpretationen entschieden werden“ (Steinseifer 2001, 127). Mit diesem Muster griff nicht nur Sloterdijk
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seine Kritiker an, es wurde auch gegen ihn selbst gewendet, insofern ausdrcklich auf den Originaltext verwiesen wurde, um die Kritiker-Position zu sttzen. Steinseifer unterscheidet einige solcher Muster, bei denen um die Regeln des akzeptierten Umgangs mit Texten gestritten wird. Davon abgegrenzt werden Muster, bei denen es um die Form der ffentlichen Auseinandersetzung und das Problem ihrer Komplexitt geht. Hier wird ausgehandelt, wie Beteiligungsformen zu bewerten und die Debatte zu strukturieren ist. Dazu gehrt etwa das „Kern-Muster“, in dem begrndet und behauptet wird, dass etwas Bestimmtes den „eigentlichen“ Kern der Debatte ausmache und dass deshalb bestimmte Beitrge der Debatte angemessen seien und andere nicht „zur Sache“ gehren: „Weil eine Debatte einen thematischen Kern hat, sollten sich Beitrge auf diesen Kern beziehen (und sind folglich danach zu bewerten, inwieweit sie dies auch tun)“ (2001, 131). Whrend es hier also eher um typische Argumentationsmuster medieninszenierter Debatten geht, sind im dritten Bereich solche Argumentationsmuster versammelt, die fr themenbezogene politische Debatten typisch und hier kontextspezifisch auf das Thema „Biotechnologie und ihre Bewertung“ bezogen sind, z. B. das Realitts- oder das Konsequenz-Muster: „Weil die Biotechnologie aktuell bestimmte Mglichkeiten bietet, sollte in bestimmter Weise reagiert/gehandelt/bewertet werden“ (2001, 147). „Weil bestimmte biotechnische Handlungen unbekannte oder unerwnschte Konsequenzen haben knnen, sollten sie unterlassen werden“ (2001, 152). hnliche Muster kommen auch in der Einwanderungsdebatte immer wieder vor. Die Muster, die „die Ordnung der Geschichte“ betreffen, sind fr bundesrepublikanische Debatten ebenfalls diskursbergreifend relevant und zeigen insofern die anfangs genannten Selbstverstndigungsversuche einer durch die NS-Vergangenheit belasteten demokratischen Gesellschaft und damit die immer wieder virulente Debatte um den ffentlichen Umgang mit der Vergangenheit. Als prototypisch hat sich dabei der Vorwurf der Nhe zu faschistischem Gedankengut und seine Replik, mit dem Faschismusvorwurf den Gegner diskreditieren oder nur Aufmerksamkeit erregen zu wollen, herauskristallisiert. Steinseifer benennt diese Muster „Faschismusvorwurf“ und „Alarmismusvorwurf“. Die hier an Beispielen aufgezeigte Anwendung der Methode der Analyse von kontextspezifischen Argumentationstopoi zur dichten Beschreibung einer mglicherweise fr solche Debatten typischen „Debattenordnung“ hlt Steinseifer hinsichtlich seines Zieles, die Funktionen und Tendenzen des Mediensystems zu erfassen, fr hilfreich. „Innerhalb eines einheitlichen methodischen Rahmens“ (2001, 165) knnten so die vielfltigen Debattenbeitrge zunchst in einer bersichtlichen Form systematisiert werden, um auf dieser Grundlage die jeweilige Fragestellung zu beantworten. Durch die Identifikation solcher Muster knne auch gezeigt werden, dass die einzelnen Debattenbeitrge nicht individuellen, sondern medieninduzierten allgemeinen Strategien der Inszenierung und Aufmerksamkeitsgewinnung folg-
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ten, die berindividuell als kulturell verankerte Deutungsmuster bereit lgen und inhaltlich fr eine konkrete Debatte je speziell gefllt wrden. Insofern wird hier also wiederum – wie in vielen Diskursanalysen – festgestellt: Es sind sowohl individuelle Akteure mit ihren Intentionen, die sprechen und Interessen verfolgen, als auch „der Diskurs“, der spricht, im Sinne berindividueller Regeln einer ffentlichen, medieninszenierten Debatte, denen die Akteure folgen und die als kulturelle, die Individuen bergreifende Denkmuster analytisch zu erkennen sind.
3.3 Latenter Antisemitimus?: Die Walser-Bubis-Debatte 1998 Diese Frage, wieweit „der Diskurs“, wieweit „es“ durch die individuellen Akteure spricht, ist auch eine Grundfrage bei der Analyse der Walser-Bubis-Debatte, die ber die Debatte hinaus Relevanz hat: Denn das, was hier mglicherweise zum Ausdruck kommt, ist der Antisemitismus, von dem vermutet wird, dass er in Deutschland weiterhin verbreitet ist, der aber fr ffentliche ußerungen tabuisiert ist. Die Walser-Bubis-Debatte bietet also die Mglichkeit, anhand eines konkreten Anlasses und eines grßeren Textkorpus’ ffentlicher Stellungnahmen zu eruieren, ob es in Deutschland einen latenten Antisemitismus gibt, der sich hier Bahn bricht und dessen Artikulation daher von den Betroffenen zu Recht angegriffen wird. Um dies herauszubekommen, hlt Gernot Kasel (2000) die hier vorgestellte Analyse kontextspezifischer Argumentationsmuster fr geeignet, weil sie eben auch Zugriff auf Nicht-Gesagtes, nur Mitgemeintes, aber dennoch „Kommuniziertes“ ermgliche – und das nicht nur auf Einzelaussagen oder Einzeltexte hin, sondern bezogen auf ein gesamtes Debattenkorpus. Es geht Kasel also nicht um die „richtige“ Interpretation des Prototextes, also von Walsers Friedenspreisrede in der Frankfurter Paulskirche 1998. Vielmehr geht es ihm darum, wie aus der – natrlich auch umstrittenen – Situationsfeststellung heraus, der Text sei uneindeutig, missverstndlich etc., Argumentationen abgeleitet werden, die auf die Folgen oder aber auf die Grnde bzw. Motive fr solch vage sprachliche Handlungen abheben. Solche Argumentationen nennt er Vagheits-Topos mit den zwei Varianten: „Wenn jemand sich vage ußert und der Kontext ein bestimmtes Verstndnis nahe legt, dann wird die ußerung in diesem Sinn verstanden“ (Folgen) bzw. „hat der Sprecher dieses Verstndnis beabsichtigt/billigend in Kauf genommen/nicht beabsichtigt, aber fahrlssig verschuldet“ (Grnde, Motive). Kasel geht es in seiner Studie aber darum, mit der Methode der Topos-Analyse zu eruieren, wie der in der Antisemitismus-Forschung sog. sekundre Antisemitismus argumentativ rationalisiert wird und sich nicht nur – wie in der soziologischen Forschung bisher herausgestellt – durch die Reproduktion von Stereotypen „auszeichnet“. Als sekundrer Antisemitismus wird eine Haltung der Erinnerungsabwehr be-
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zeichnet, die sich bemht, „die Verbrechen des Nationalsozialismus zu vergessen und sich auch all der damit verbundenen Gefhle zu entledigen“ (Rommelspacher 1995, 42). Dieses Bemhen vermischt sich mit Positionen des primren Antisemitismus und weist letztlich den Juden die Schuld dafr zu, dass die Deutschen kein „normales“ Volk sein drften und immer wieder mit ihrer Schuld konfrontiert wrden. Ein solcher Antisemitismus existiert nicht trotz, sondern wegen Auschwitz: „Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen“ (der israelische Psychoanalytiker Zvi Rex). Kasel findet diese Form des Antisemitismus in verschiedenen kontextspezifischen Topoi der Walser-Bubis-Debatte, die er nach den formalen Argumentationsmustern Kienpointners ordnet. Zu den „antisemitischen Topoi“, die „Abwehraggressionen gegen Juden [bzw. gegen die, die an die NS-Vergangenheit erinnern] rationalisieren knnen“ (2000, 99), gehren der Beschuldigungs-Topos, der Aufrechnungs-Topos, der Nutzen-Topos und der Normierungs-Topos:
Normierungs-Topos Wenn Juden ußerungen anderer ber den Umgang mit der NS-Vergangenheit kritisieren, dann wollen sie den Umgang mit der NS-Vergangenheit normieren/ihre Art des Umgangs damit/ihre Erinnerung daran als die allein gltige durchsetzen. Immer schon ist Bubis ein leidenschaftlicher Verteidiger von Tabus fr die Deutschen gewesen, und das hat mir lange Zeit eingeleuchtet. Aber anders als Bubis habe ich mit Entsetzen wahrgenommen, dass diese Tabus inzwischen ein solch großes Terrain umfassen, dass man zum Holocaust sicherheitshalber nur noch sagen sollte, was auch Ignatz Bubis schon gesagt hat. (FAZ 14.11.1998)
Aufrechnungs-Topos Wenn Juden nicht besser gehandelt haben als nichtjdische Deutsche, dann sollten Juden die nicht-jdischen Deutschen nicht verurteilen. In der Zeit des Kommunismus haben auch Juden zugesehen, wenn Menschen an ihrer Seite verschleppt wurden. Wenn sie nicht gar selbst an Deportationen beteiligt waren oder diese sogar initiierten. Auch Juden knnen wegsehen. Jude zu sein ist kein moralisches Privileg. Im Lager sind die Menschen keine Heiligen geworden. (Gyrgy Konrd, D I E Z E IT 22.12.1998)
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Beschuldigungs-Topos Wenn Juden an den Holocaust erinnern/aktuelle Ereignisse in Deutschland dazu in Beziehung setzen, dann wollen sie die nichtjdischen Deutschen (kollektiv) beschuldigen/ anklagen/verurteilen/bestrafen. Wenn ich richtig informiert bin, kennt die jdische Tradition das Schuldigwerden eines ganzen Volkes und die entsprechende Bestrafung aller seiner Teile sowie die Haftbarmachung fr geschehene Schuld auch ber Generationen hinweg. (FAZ 28.11.1998)
Nutzen-Topos Wenn Juden an den Holocaust erinnern/aktuelle Ereignisse damit vergleichen/nichtjdische Deutsche beschuldigen, dann wollen sie daraus politischen/finanziellen Nutzen ziehen. Aber immer spielt dabei mit, dass viele Heutige mit dem Argument „Auschwitz“ Deutschland eigentlich das Recht auf Selbstbestimmung verweigern wollen. Viele wollten Deutschland kleiner machen, als es in Wirklichkeit ist. Nicht nur mchte Bubis als Interessenvertreter die Erinnerung so vergrßern, dass sie einschchternd auf deutsche Brger und Verantwortungstrger wirkt, auch die Nachbarlnder haben es sich mit einer gewissen Hingabe im Schatten der Untaten, die in deutschem Namen begangen wurden, bequem gemacht. (FAZ 12.12.1998). Denn Walsers Rede war die Klage eines Deutschen – allerdings eines nichtjdischen Deutschen ber den allzu hufigen Versuch anderer, aus unserem Gewissen eigene Vorteile zu schlagen. (Klaus von Dohnanyi, FAZ 14.11.1998)
Viele der Topoi, so Kasel, enthielten zwar antisemitische Stereotype, aber nur mit dem Topos-Begriff knnten alle Rationalisierungen des Antisemitismus erfasst werden. Whrend es Kasel also mit dem Topos-Begriff gelingt, solche ffentlich gemachten Rationalisierungen eines latent vorhandenen Antisemitismus in der konkreten Debatte aufzuzeigen, schlgt er vor, diese Analyse diachron zu erweitern, indem mit der Topos-Analyse hnlich gelagerter Debatten (Goldhagen, 8. Mai, Wehrmachtsausstellung) die Entwicklung des ffentlich zu Tage tretenden Antisemitismus erforscht werden knne.
4. Schlussbemerkung Mit den hier jeweils kurz referierten Anwendungsmglichkeiten der Analyse von kontextspezifischen Topoi sollte der Versuch gemacht werden zu zeigen, dass und wie die Methode der Analyse von Argumentationstopoi fr konkrete empirische
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Untersuchungen genutzt werden kann, weil sie eine handhabbare und flexible Methode ist, um Ordnung in eine Vielzahl von Texten eines Diskurses zu bringen und um auf Grundlage dieser Ordnung verschiedene Fragestellungen zu verfolgen. Mit der sprachwissenschaftlich begrndeten Methode kann detaillierter, methodisch einheitlich und kontrolliert etwas ber typische oder dominante Denkmuster herausgefunden werden, indem „tiefensemantisch“ jeweils unterschiedlich formulierte, inhaltlich aber sehr hnliche Strukturen erfasst werden.5 Der Analysierende braucht sich dabei einerseits nicht auf das Vorkommen und die Analyse bestimmter Schlsselwrter oder Metaphern zu verlassen, andererseits muss er nicht auf noch weniger textuell-materiell gesttzte Kategorien wie Deutungsmuster oder Leitbild ausweichen. Insbesondere bietet sich der Topos-Begriff auch fr kontroverse Debatten an, weil davon ausgegangen werden kann, dass bei diesen mindestens implizit zu berzeugen oder zu berreden versucht wird und Stellungnahmen sich daher immer auch als Argumentationsmuster manifestieren. Und wo argumentiert wird, kann geschlossen werden, dass diesen Argumentationsmustern nicht nur bei den Akteuren, sondern auch bei den Rezipienten, die ja berzeugt werden sollen, Denkmuster zugrunde liegen, ber die die Analyse von Diskursen etwas aussagen will. Die zu untersuchende Typik oder Dominanz von Denkmustern kann sich dabei sowohl auf einzelne ffentliche Themenfelder, ber die in einem lngeren Zeitraum diskutiert wird, beziehen als auch auf medieninszenierte kurzfristige, aber intensive ffentliche Debatten, die sich zumeist an einem Prototext „aufhngen“ und mit ihren intertextuellen Bezugnahmen quasi-idealtyisch einen „Diskurs“ im von Busse/ Hermanns/Teubert herausgearbeiteten Sinn konstituieren. Die sprachliche Konstruktion von Wirklichkeiten kann also im Rahmen unterschiedlicher Fragestellungen mit der Methode relativ textnah eruiert und beschrieben werden. Es soll allerdings nicht behauptet werden, mit dieser Methode sei ein Knigsweg fr die Analyse ffentlicher Diskurse gefunden worden. Die etablierten sprachwissenschaftlichen Methoden der Analyse von Schlsselwrtern und Metaphern knnen diese Methode auf der textnahen Mikroebene ebenso sinnvoll ergnzen wie sie eingebettet werden kann in bergreifende soziologische Konzepte von Interpretationsrepertoires, Deutungsmustern u.. Den Theorie- und Methoden-Mix von sozial- und sprachwissenschaftlich ausgerichteten Diskursanalysen und/oder Analysen kollektiven Wissens, von Denkmustern und Leitbildern kann die hier vorgeschlagene und an Beispielen vorgefhrte Methode sinnvoll ergnzen.
5
Vgl. zur Einordnung der Topos-Forschung in eine (tiefen-)historische Semantik als Epistemologie Busse (2003, 17).
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Wissenskonstruktion als poetisches Verfahren Wie Organisationen mit Metaphern Produkte und Identitten erfinden Es geht im Wissen nicht immer um Beherrschen. Es geht um Vertrautsein. Hans-Georg Gadamer (1997, 288)
1. Einleitung Sind Metaphern fr die Wissenskonstruktion in Organisationen relevant? Diese Frage kann nach dem Vorliegen einer Reihe von Forschungsarbeiten, die weiter unten vorgestellt werden, bejaht werden. Doch welche Rolle spielt dabei das poetische Denken in Metaphern und welche Rolle kann es spielen? Diesen Fragen werde ich nachgehen, indem ich zunchst eine These formuliere, die besagt, dass Organisationen vor hnlichen existenziellen Sinnfragen stehen, wie Individuen und soziale Gruppen und dass Organisationen Antworten auf diese Fragen bereithalten mssen. Organisationen mssen aber nicht nur Antworten, sondern darber hinaus auch Verfahren besitzen, wie innerhalb der bestehenden Organisationsstruktur existenzielle Grundfragen gestellt und wie sie beantwortet werden knnen. Als ein zentrales Verfahren soll dabei die Metaphernreflexion herausgestellt werden. Ich werde mich dabei auf Formen der Wissenskonstruktion innerhalb der Felder Produktinnovation und Identittsentwicklung beschrnken. Im Bereich der Produktinnovation soll der Ansatz zur Wissensorganisation durch Metaphern von Nonaka und Takeuchi (1997) und das Synektik-Verfahren von Gordon (1961), im Bereich der Identittsentwicklung das Multimetaphern-Konzept von Morgan (2000) diskutiert werden. Diese Arbeiten zeigen, dass im Wissensmanagement, insbesondere im Bereich der Wissenskonstruktion, die „poetische Dimension des Wissens“ als feste Grße verankert ist. Schließlich sollen aus der Diskussion Konsequenzen fr die linguistische Betrachtung der Wissenskonstruktion in Organisationen gezogen werden.1
1
Fr kritische Kommentare danke ich Susan Geideck und Ulrich Frank.
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2. Existenzielle Grundfragen von Organisationen Das Konzept der existenziellen Grundfragen geht davon aus, dass soziale Akteure bestimmte Fragen stellen und beantworten mssen, um sinnvoll in ihrer Umwelt handeln zu knnen. Als allgemeinsten Begriff fr Antworten auf solche Grundfragen kann man den Begriff „Sinnformel“ verwenden (vgl. Geideck und Liebert, in diesem Band). Bei den existenziellen Grundfragen handelt es sich um Fragen, die in Anlehnung an die in der Philosophie immer wieder thematisierten Menschheitsfragen (vgl. z. B. Bloch, 1990) formulierbar sind (vgl. Liebert, 2003). Dazu zhlen die Fragen nach der Identitt (Wer sind wir?), nach der Geschichte (Woher kommen wir?), nach der Gegenwart (Wo stehen wir? In welcher Situation befinden wir uns?) und nach der Zukunft (Wohin gehen wir? Was erwarten wir? Was erwartet uns? Was mssen wir tun? Was drfen wir hoffen?). Die Fragen nach der Wir-Identitt (auch und gerade in Abgrenzung zu anderen sozialen Akteuren), der Wir-Geschichte (Vergangenheit), den Wir-Zielen, der WirZukunft sowie die Frage nach der aktualen Situationsdefinition und ihre Antworten konstituieren damit ein soziales Sinnsystem und schaffen einen grundlegenden Orientierungsrahmen. Die Antworten auf diese Fragen werden von den Akteuren teils einmtig, teils in heftigen Streits gefunden (und auch wieder verloren). Im Prozess der Durchsetzung von Antworten spielen Machtstrukturen und -ressourcen eine wichtige Rolle. Da sich die Akteure in einem sich wandelnden Umfeld bewegen, verndern sich auch die Anworten im Verlauf der Existenz des Akteurs, d. h. die Antworten sind dynamisch. Wenn Antworten akzeptiert und die daraus abgeleiteten Handlungsmuster befolgt werden, dann entschwinden sie nach und nach der Reflexion und erreichen durch ihr blindes Befolgen (vgl. Wittgenstein, 1969) ihre grßte Wirksamkeit. Tilla Siegel spricht in diesem Fall von „Denkmustern“ (vgl. Siegel, in diesem Band). Als Analysierender steht man somit vor dem Problem, dass es gelingen mag, einzelne Denkmuster, die einer Vielzahl von Personen (z. B. in einer Organisation) nicht mehr bewusst ist, zu entdecken. Der Analysierende kann sich aber nie ganz sicher sein, alle Denkmuster entdeckt zu haben, denn diejenigen Denkmuster, die der Analysierende selbst blind befolgt, kann er eben deshalb auch nicht sehen. Durch verschiedene Anlsse knnen einzelne oder alle Grundfragen neu gestellt und die bisherigen Antworten, auch wenn sie zu Denkmustern geworden sind, zur Disposition gestellt werden. Wenn Antworten auf Grundfragen in einem reflektierten Prozess gesucht und (neu) diskutiert werden, so sollen diese der Reflexion noch zugnglichen Antworten bzw. Anwortkandidaten „Leitbilder“ heißen.2 2
Vgl. dazu die Beitrge von Geideck und Liebert sowie von Aulenbacher in diesem Band.
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Die prozesshafte, diskursive Sicht macht deutlich, dass nicht eine einzelne Antwort, eine einzelne Sinnformel, gefunden und diskutiert werden wird, sondern, das vielmehr mit einem Feld mglicher Sinnformeln zu rechnen ist, die im Verlauf des Antwortprozesses modifiziert und in ihrer Anzahl minimiert werden. Obwohl Sinnformeln unsere Sicht der Welt und unser Handeln zum großen Teil unbewusst leiten, sind sie jedoch potenziell von jedem Individuum immer hinterfragbar, und von vielen Philosophen werden die zu Grunde liegenden Existenzialfragen nicht nur offen gehalten, sondern auch neu gefasst oder gar das Prinzip der Frage an sich in Frage gestellt (vgl. Derrida, 2001).
2.1 Metaphern als Sinnformeln Die Formen von Antworten auf Grundfragen sind vielfltig. Sie umfassen sprachliche und nichtsprachliche Ausdruckweisen (z. B. Bilder, Visionen und Trume). Die sprachlichen Formen reichen von ausformulierten Stzen und Texten bis hin zu Schlsselwrtern3 und Metaphern. Nur insofern Sinnformeln als Metaphern formuliert werden, sollen sie hier von Interesse sein. Ich will hier deshalb kurz auf den zu Grunde liegenden Metaphernbegriff eingehen. Metaphern sind nicht einfach sprachliche Phnomene auf der Wortebene, sondern Kategorien unseres Denkens und Erlebens. Sie basieren auf Als-ob-Sprachspielen, aus denen variable Weltzugriffe hervorgehen. Metaphern bestehen immer aus zwei semantisch getrennten Bereichen, einem Herkunftsbereich oder Bildspender und einem Zielbereich oder Bildempfnger.4 Wenn wir sagen, eine Organisation kmpfe um ihr berleben, so personifizieren wir die Organisation, tun so, als sei sie eine kmpfende Person. Diese Konzeptionalisierung einer Organisation als Organismus ist weit verbreitet und grßtenteils unbewusst, da es sich hierbei um ein konventionalisiertes MetaphernSprachspiel handelt. Wir finden es in vielen Formulierungen, etwa wenn wir Organisationen zugestehen, dass sie planen, einstellen oder entlassen knnen. In der Rechtssprechung hat dieses Metaphern-Sprachspiel seinen Niederschlag in der Kategorie der „juristischen Person“ gefunden, die bestimmten Organisationen zukommen kann. Die Wahl und Ausformulierung bestimmter Bildspendebereiche stellt 3 4
Vgl. dazu Liebert, 2003. Fr den Kontext meiner Ausfhrungen scheint mir diese Terminologie, die vor allem von Jost Trier (1934) und Weinrich (1976) entwickelt wurde, angemessen zu sein. Im Rahmen der Theorie des conceptual blending (vgl. Fauconnier und Turner, 2002) geht man etwa von vier Bereichen aus, wobei der dritte Bereich als berblendungsbereich dient, in dem die beiden Bereiche berblendet werden, die blicherweise als Herkunfts- und Zielbereich bezeichnet werden. Diese Theorie ist zwar deutlich elaborierter als die Bildfeldtheorie und prinzipiell auch mchtiger, ihre Einfhrung wrde aber den Rahmen dieses Artikels sprengen.
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immer bestimmte Merkmale des Bildempfngers in den Vordergrund, whrend sie andere Eigenschaften ausblendet: Wer eine Organisation als handelnde Person sieht, verbirgt, dass es immer Angehrige einer Organisation sind, die handeln: Ein aus konkreten Individuen bestehender Vorstand plant, ein leibhaftiger Chef entlsst oder stellt ein. Dabei mssen diese Merkmale (im Zielbereich) aus metapherntheoretischer Sicht nicht unbedingt bereits vorhanden sein, sondern knnen durch die Metaphorisierung erst erzeugt werden. Eine Metapher definiert damit immer eine bestimmte, beschrnkte Perspektive (vgl. Liebert, 2002). Diese Eigenschaften der Metapher haben viele Autoren aus den unterschiedlichsten Disziplinen erkannt und in mehr oder weniger elaborierter Weise dargestellt. Die Mglichkeit, bekannte Gegenstnde neu zu kategorisieren und zu perspektivieren, hat der Metapher eine zentrale Rolle bei der Wissenskonstruktion in Organisationen verschafft, insbesondere bei der Produktinnovation und bei der Identittsentwicklung.
2.2 Produkt und Identitt im Rahmen des Konzepts der Grundfragen Fr bestimmte Organisationen ist es konstitutiv, dass sie Produkte oder Dienstleistungen erzeugen und an Kunden mit entsprechenden Bedrfnissen mit Gewinn verkaufen.5 Diese Organisationen sollen im Folgenden „Unternehmen“ genannt werden. Dieser Zusammenhang soll nun im Rahmen der existenziellen Grundfragen reformuliert werden, allerdings auf die Frage Wer sind wir? beschrnkt. Dabei ist zu beachten, dass die Gewinnorientierung eines Unternehmens, den Rahmen fr alle Grundfragen vorgibt, mgliche Antworten sind also durch diese Vorgabe determiniert, auch wenn in Sinnformeln das Wort „Gewinn“ oder vergleichbare Ausdrcke nicht vorkommen. Wenn wir eine Identittsbeschreibung einer solchen Organisation leisten wollen, so wird jede mgliche Antwort auf die existenzielle Grundfrage Wer sind wir? – unabhngig wie die Antwort sonst ausfallen mag – immer eine Geschftsdefinition, die das Produkt, Kunden und/oder Kundenbedrfnisse umfasst, enthalten. Diese Definitionen knnen etwa die Form annehmen: Wir bieten Produkt p (bzw. Dienstleistung d) an. Oder: Wir erfllen Bedrfnis b des Kunden k. 5
Auch wenn die Gewinnorientierung in der momentanen Situation allgegenwrtig ist, ist sie doch eine sozialhistorisch zu verstehende Grße im Rahmen der kapitalistischen Produktionsweise und nicht generell konstitutiv fr Organisationen, die Produkte oder Dienstleistungen erzeugen. Die Definition ist deshalb mit dieser Einschrnkung zu verstehen. Selbstverstndlich gibt es auch in der gegenwrtigen kapitalistischen Wirtschaftsordnung Organisationen, die nicht gewinnorientiert definiert sind.
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Wenn Produkt, Kunden und ihre Bedrfnisse Teil der Identitt eines Unternehmens sind, dann kann die Vernderung der einen Grße auch Auswirkungen auf die anderen Grßen haben. Werden neue Produkte entwickelt, hat dies Auswirkungen auf Kunden und ihre Bedrfnisse – viele Produkte haben Bedrfnisse und damit eine Kundengruppe erst geschaffen. Umgekehrt gilt auch, dass sich wandelnde Kundengruppen und -bedrfnisse die Produktentwicklung beeinflussen. Ein zentraler Teil der Identitt eines Unternehmens besteht also in der Definition eines Produkts (oder einer Dienstleistung), das die Bedrfnisse einer Kundengruppe erfllen soll. Wenn es nun Konkurrenten gibt, die mit hnlichen Produkten die gleichen Bedrfnisse der gleichen Kundengruppe erfllen wollen, dann muss es ein Teil der Identitt werden, wie die Organisation im Unterschied zu dem/den Konkurrenten diese Bedrfnisse besser erfllt. Aus dem oben Gesagten folgt, dass die Grundfragen fr Unternehmen lauten: Welche Produkte stellen wir her? Welche knnten wir herstellen? Welche knnten wir verkaufen? Was ist das Wesen unserer Produkte? In welcher Art knnten wir das Wesen unserer Produkte verndern? Wer sind unsere Kunden? Welche Bedrfnisse haben sie? Welche knnten sie haben? Wer knnten unsere Kunden sein? Wie knnen wir uns von den unmittelbaren Konkurrenten unterscheiden? Auf welche Weise erfllen wir die Bedrfnisse unserer Kunden besser als unsere Konkurrenten? Diese Fragen stellen fr Unternehmen existenzielle Grundfragen dar. Antworten auf diese Grundfragen stellen das identittsbezogene Produktwissen eines Unternehmens dar, sie werden mit Sinnformeln, z. B. Metaphern, konzeptualisiert. Fr viele der eben aufgefhrten Fragen, etwa danach, welche Produkte verkauft oder welche Bedrfnisse bei potenziellen Kunden geweckt werden knnten, ist charakteristisch, dass die Antworten nicht ein fr allemal feststehen, denn diese Fragen sind nicht abschließend beantwortbar, selbst wenn einzelne Antwortprozesse ein Ende finden. Die Organisationsstruktur bestimmt dabei, wie diese Fragen gestellt und beantwortet werden knnen und das heißt vor allem auch, wer welche Fragen stellen und beantworten darf. Auf diesen Punkt soll spter noch eingegangen werden.
3. Mit Metaphern Produkte erfinden Wenn Produkte fr die Identitt von Unternehmen konstitutiv sind, dann ist das Unternehmen stets mit den Fragen konfrontiert: Welche Produkte knnten wir herstellen? Wie knnten wir sie verbessern? Unternehmen beschftigen sich deshalb stndig mit der Weiterentwicklung von Produkten. Große Unternehmen verfgen des-
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halb ber eigene Entwickungabteilungen, die neue Produkte erfinden sollen. Dabei wurde bereits in den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts nach geistigen Methoden gesucht, um das Erfinden von Produkten selbst zum Verfahren zu machen (vgl. Kreibich, 1986). Eines dieser Verfahren ist die Metaphernreflexion, die nun an Beispielen aus dem Wissensmanagement (Nonaka/Takeuchi, 1997) und der Synektik (Gordon, 1961; Prince, 1970) diskutiert werden soll. Der Prozess des Managements von Wissen in Organisationen kann durch die Teilprozesse der Wissenskonstruktion, Wissenstransformation, Wissensreprsentation und Wissensdiffusion beschrieben werden.6 Die Grundfrage eines Unternehmens, welche Produkte es herstellen knnte oder wie es seine bestehenden Produkte verbessern knnte, wird im Wissenmanagement der Wissenskonstruktionsphase zugeordnet. Fr Nonaka und Takeuchi (1997) ist der Teilprozess der Wissenskonstruktion zentral, ein Bereich, der in vielen Wissensmanagementtheorien ausgeblendet wird.7 Dieser Teilprozess ist fr alle Arten von Innovation in der Organisation zentral, vor allem fr Entwicklungsabteilungen. Nonaka und Takeuchi (1997) beschreiben nun mehrere Flle von Produktinnovationen, bei denen Metaphern eine wichtige Rolle spielen. Eines ihrer Beispiele mchte ich nun darstellen und diskutieren. Nonaka und Takeuchi (1997) berichten einen Fall aus dem Honda-Konzern. Betrachten wir diesen Fall im Rahmen der Grundfragen. Die Unternehmensfhrung von Honda wollte ihren PKW Honda Civic neu gestalten und stieß diesen Prozess an, indem sie fr die Entwicklungsabteilung das Motto „Let’s Gamble!“ ausgab. Damit warf die Unternehmensfhrung von Honda nicht nur die Frage auf, Welchen neuen PKW-Typ knnten wir herstellen?, sie machte durch die Risikometapher deutlich, dass sie eine besonders „gewagte“ Antwort erwartete, die ber eine der blichen Produktverbesserungen hinausging. Wir knnen die von der Unternehmensfhrung aufgeworfene Grundfrage also reformulieren als Welchen PKW-Typ knnten wir herstellen, wenn wir etwas ganz Neues wagen? In der zweiten Phase dieser Neugestaltung prgte der Projektleiter Hiroo Watanabe eine Sinnformel als Antwort auf diese Frage. Diese Sinnformel war die Metapher „Autoevolution“. Evolution ist zunchst ein Begriff, der auf den Bereich der Lebewesen angewendet wird. Indem Watanabe den Begriff auf den Bereich der Autoentwicklung anwendete, schaffte er einen Raum mglicher Interpretationen, also einen Bedeutungsberschuss. Dieser Bedeutungsberschuss kann nun zur Gewinnung neuen Wissens genutzt werden. Den vielfltigen Interpretationen einer Sinnformel wie „Autoevolution“ kann nun nachgegangen werden, bis man zu einer fr die Produktentwicklung interessanten Interpretation gelangt. Diese Interpretations- und Auslegungshandlun6 7
Zur Wissensdiffusion zhlt auch die Prsentation von Wissen in der inner- und außerorganisationellen Wissensvermittlung. Vereinzelt wird hier in ungenauer Weise von Wissensaquisition gesprochen.
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gen wurden bei Honda von den Entwicklern vorgenommen. Evolution wurde hier so verstanden, dass sich das Auto mit der Evolution des Menschen mitentwickelt und sich so dem Menschen anpasst und nicht umgekehrt. Die Entwickler transformierten diese Metapher, indem sie die mglichen Interpretationen einschrnkten und daraus eine relativ klare Handlungsanweisung formulierten, die das Motto fr die nchsten Autogenerationen sein sollte: ,,man maximum, machine minimum“, d. h. der Mensch mit seinen Bedrfnissen und seiner Weiterentwicklung steht im Vordergrund, dem sich das Auto in seiner ,,Evolution“ nach und nach anpassen muss. Aus dieser Idee wurde der ,,Tall Boy“ entwickelt, ein hoher Kleinwagen in relativ rundlicher Form, die den Sitzbedrfnissen der Insassen angepasst war und der mit den damaligen Autodesignkonventionen brach. Das neue Modell wurde Honda City genannt und ist nach Nonaka/Takeuchi (1997) Teil der Erfolgsgeschichte des Konzerns. Aus einer Metapher ist in einem kooperativen Kommunikations- und Auslegungsprozess ein erfolgreiches zunchst geistiges und dann materielles Produkt geworden. Zentral fr die Betrachtung von Sinnformeln in Organisationen sind also nicht Sinnformeln allein, sondern sprachliche Transformationsprozesse von Sinnformeln. Jede Abteilung auf unterschiedlichen Hierarchieebenen bzw. in unterschiedlichen Funktionseinheiten nimmt eine Sinnformel aus einer vorgesetzten bzw. zuarbeitenden Abteilung also nicht als Input, der nun entweder 1:1 bernommen werden oder in seinem propositionalen Gehalt ausbuchstabiert werden msste. Vielmehr werden die Input-Sinnformeln (z. B. „Autoevolution“) interpretiert und ausgelegt und schließlich eine eigene Sinnformel generiert („man maximum – machine minimum“), die nun eine transformierte Antwort auf die Grundfrage (z. B. Welchen PKW-Typ knnten wir herstellen, wenn wir etwas ganz Neues wagen?) darstellt. Die Frage, die Nonaka/Takeuchi beantworten, ist diejenige, wie Sinnformeln in Wissen transformiert werden, die Frage, die sie offen lassen, ist, wie Sinnformeln gefunden werden. Da Nonaka/Takeuchi (1997) von einer Ost-West-Dichotomie ausgehen, kann es nicht verwundern, dass sie Metaphernreflexion im Unternehmen dem „stlichen“ Denken zuordnen, whrend sie im „westlichen“ Management hier Defizite ausmachen. Nonaka/Takeuchi meinen, „dass westliche Manager loskommen mssen von ihrem bisherigen Verstndnis, man knne Wissen ausschließlich mit Hilfe von Handbchern oder Vortrgen erwerben oder weitergeben. Statt dessen sollten sie der weniger formalen und systematischen Seite des Wissens mehr Beachtung schenken: den subjektiven Einsichten, Einfllen und Ahnungen, zu denen man durch die Verwendung von Metaphern, Bildern und Erfahrungen gelangt. Erst dann werden die westlichen Manager begreifen, worin das Erfolgsrezept japanischer Unternehmen liegt“ (Nonaka/Takeuchi, 1997, 21 f.).8
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Diese ußerung wurde sicherlich auch aus dem berschwang des damaligen Erfolgskurses der japanischen Wirtschaft gemacht.
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Die Idee, Metaphern zur Wissenskonstruktion in Organisationen einzusetzen, ist jedoch nicht, wie Nonaka und Takeuchi (1997) meinen, ein von japanischen Unternehmen bevorzugtes Verfahren, das sie „westlichen“ Unternehmen berlegen macht. Metaphernreflexion als Verfahren der Wissenskonstruktion in der Produktinnovation reicht bis in die 60er Jahre zurck. Sie wurde im Rahmen einer Kreativittstechnik eingefhrt, die ihr Erfinder, William J.J. Gordon, Synektik nannte. Der Ansatz von Gordon beantwortet die von Nonaka/Takeuchi unbeantwortete Frage, wie man denn zu neuen Metaphern kommt, die dann zu neuen Produkten fhren sollen. In der Synektik wird davon ausgegangen, dass Produktinnovationen ber Metaphern in Gruppenprozessen erzeugt werden knnen. Dabei wird in einem mehrstufigen Verfahren die ursprngliche Problemstellung mit Metaphern verfremdet und mit Assoziationen angereichert, so dass das ursprngliche Problem neu gesehen wird. Zunchst wird eine Metapher gesucht, die vom semantischen Bereich des Produkts bzw. der zu optimierenden Produkteigenschaft mglichst weit entfernt sein soll. Geht es beispielsweise um die Erfindung neuer Autos oder Eigenschaften von Autos, sollte die Metapher nicht den semantischen Bereichen von Maschinen oder Fahrzeugen entstammen. Die zuerst gefundene Metapher wird dann durch Interpretationen, Assoziationen und Pointierungen elaboriert, um dann durch eine weitere, ebenfalls semantisch nicht verwandte Metapher weiter verfremdet und wiederum durch Assoziationen, Interpretationen und Pointierungen expliziert zu werden. Es sind noch weitere Verfremdungsstufen mit wieder neuen Metaphern mglich. Schließlich wird in einer „Force Fit“ genannten Phase, die nun mehrfach verfremdete Metapher auf die ursprngliche Problemstellung zurckbezogen und damit hufig neuartige Produktideen gewonnen.9 Beide Konzepte, das von Nonaka und Takeuchi (1997) ebenso wie dasjenige von Gordon (1961), zielen auf die Produktinnovation. Die Mglichkeiten der Entwicklung des innovativen Potenzials durch Metaphern reichen jedoch weiter. Wenn man nmlich die perspektivittsdefinierenden Eigenschaften der Metapher ausnutzt, dann kann man durch Metaphernreflexion und Metaphernwechsel nicht nur Teile der Organisationsidentitt, beispielsweise neue Produkte, erfinden, sondern auch die Organisation als Ganzes. Ein solches Verfahren schlgt Gareth Morgan vor, dessen Ansatz nun diskutiert werden soll.
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Auf eine Beispieldarstellung muss hier verzichtet werden. Protokolle von Synektiksitzungen werden bei Gordon (1961) und Prince (1970) dargestellt.
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4. Metaphernreflexion als Verfahren der organisationellen Identittsbildung Eine der Grundfragen jeglicher Organisationstheorie lautet: Was ist das Wesen einer Organisation? Antworten auf diese Frage sind im Rahmen des Konzepts der existenziellen Grundfragen Sinnformeln. Organisationstheorien, die Managementtheoretiker, angefangen bei Taylor, entworfen und auch umgesetzt haben, basieren deshalb auf Sinnformeln. Betrachtet man die Geschichte der Organisationstheorie, so kann diese auch anhand der Bilder und Metaphern geschrieben werden, die sich Organisationstheoretiker von der Organisation gemacht haben. Diese Arbeit hat Gareth Morgan (2000) in Bilder der Organisation geleistet. In Tabelle 1 sind die von Morgan analysierten Metaphern zusammenfassend dargestellt. Organisation betrachtet als
fokussierte Merkmale
Maschine
przise Regeln, genaue Wissenschaftliches Kontrolle ber Ablufe und Management (Taylor), Mitarbeiter Brokratieforschung
Organismus
berleben der Organisation Kontingenztheorie sichern, Anpassung des Unternehmens an Umweltbedingungen
Informationsverarbeitungssystem
Wissensmanagement, holographische Sicht des Unternehmens
Entscheidungstheorie
Kultur
kommunikative Stile, Zusammenleben, Zusammenhalt durch Symbole
Symbolischer Interaktionismus
politisches System
Interessensgruppen und -konflikte
Macht- und Konfliktforschung
psychisches Gefngnis
festgefahrene Denk- und Verhaltensweisen
Psychoanalyse
autopoietisches System
Selbstorganisation, Organi- Konstruktivismus sation als Teil eines grßeren wechselwirkenden Systems, Identitt als Prozess
Instrument der Ausbeutung
Klassengegenstze
Tabelle 1: Was Metaphern an Organisationen sichtbar machen
Sozialtheorien
Marxismus
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In der ersten Spalte der Tabelle 1 wird zunchst der Bildspender notiert, d. h. das Modell, als das die Organisation betrachtet wird. Da eine Metapher immer bestimmte Eigenschaften des Bildempfngers hervorhebt, andere dagegen ausblendet, sind in der zweiten Spalte die Merkmale aufgefhrt, die durch die jeweilige Metapher fokussiert werden. In der dritten Spalte werden dann Hinweise auf diejenigen Sozialtheorien gegeben, die Morgan den entsprechenden Organisationsmetaphern zuordnet. Morgan betont immer wieder, dass die von ihm genannten Metaphern nicht als abgeschlossene Liste verstanden werden sollen. Gerade in praktischen Organisationsanalysen kann es sinnvoll sein, andere Metaphern als die von ihm genannten einzufhren. Die hier aufgefhrten Metaphern der Organisation als Maschine, als Organismus, als informationsverarbeitendes System, als Kultur, als politisches System, als psychisches Gefngnis, als autopoietisches System und als Machtinstrument wurden dem wirtschaftswissenschaftlichen Diskurs entnommen. Die schrittweise Einfhrung der einzelnen Metaphern bedeutet jedoch nicht, dass diese sich ausschließen; vielmehr geht es Morgan darum, die verschiedenen Metaphern zum Aufbau einer komplexen Perspektive zu nutzen, die dem komplexen Gegenstand der Organisation angemessen ist. Wenn bei Morgan eine Organisation zunchst als Maschine betrachtet wird, so ist damit die Vorstellung eines deterministischen Gebildes gemeint. Die Regeln sind festgelegt und die Akteure sind angehalten, strikt den Regeln zu folgen. Das unbedingte Einhalten der Regeln erlaubt deterministisch das Vorhersagen eines Outputs, ganz so, wie man bei einer Maschine eine bestimmte Stckzahl an Produkten in einem bestimmten Zeitraum angeben kann. Stark maschinenhnliche Organisationen werden als Brokratien bezeichnet. Hier werden immer mehr Regeln, Regelungen und ganze Regelwerke produziert, die ein situatives Handeln und damit auch eine angemessene Behandlung des Einzelfalls praktisch unmglich machen, wenn man sich an die Regeln handeln wrde. Da aber hufig situativ gehandelt werden muss, entsteht die paradoxe Situation, dass die „Maschine“ nur „funktioniert“, wenn die Beteiligten die Regeln immer wieder missachten. Die einzelnen Akteure besitzen minimalen Gestaltungsspielraum, denn die Entscheidungen werden hierarchisch top-down getroffen. Die Entscheidungswege knnen in großen Organisationen deshalb recht lang und undurchsichtig sein. Sie mssen aber vor jeder Entscheidung auf einer niedrigen Hierarchiestrufe abgewartet werden. So kann eine Organisation zu einem kafkaesk anmutenden Universum undurchschaubarer Regelsysteme werden. Wenn die Organisation dagegen als Organismus betrachtet wird, dann liegt ein animistisches Verstndnis zu Grunde. Morgan diskutiert verschiedene Managementtheorien, die auf dieser Metapher basieren. Will ein Lebewesen berleben, muss es sich an eine sich wandelnde Umwelt anpassen; hnlich muss sich auch eine
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Organisation an eine sich wandelnde Umwelt, d. h. wandelnde Mrkte, Kunden usw., anpassen, um zu berleben. Diese Metapher zeigt die Organisation im berlebenskampf, wobei die Umwelt hufig als feindlich wahrgenommen wird: Die Konkurrenten sind potenzielle Nahrungsruber und deshalb nur in Ausnahmefllen fr eine Kooperation gut. Wenn die Metapher als informationsverarbeitendes System betrachtet wird (Morgan nennt hier als konkreten Bildspender etwa das Gehirn), dann kommen organisationelle Lernprozesse oder Konzepte wie das ,,organizational memory“ in den Blick. Theorien der ,,lernenden Organisation“ werden deshalb dieser Sichtweise zugeordnet. Dagegen macht die Kulturmetapher die Art der Zusammengehrigkeit, gemeinsame Werte, Symbole und Rituale sichtbar. Eine Organisation ist jedoch auch immer ein Schauplatz von Interessen und Interessenskonflikten. Dies wird in den eben angefhrten Metaphern weitgehend ausgeblendet. Betrachtet man die Organisation jedoch als politisches System, dann zeigen sich Herrschaftsstile, Interessensgruppen und ihre Kmpfe sowie die alltglichen Debatten, Strategien, Winkelzge und Intrigen, die eine Organisation eben auch bestimmen. Wenn eine Organisation als psychisches Gefngnis betrachtet wird, dann werden Denkfallen und eingefahrene Gewohnheiten sichtbar, aus denen die Betroffenen aus eigener Kraft nicht mehr herausfinden. Morgan beschreibt das ,,hssliche Antlitz“ von Organisationen, indem er sie als Machtinstrument konzeptualisiert. Durch diese Sichtweise kommen soziale Gegenstze und Unterdrckung in den Blick, aber auch die Ausbeutung vieler Entwicklungslnder durch westliche Unternehmen. Nach Morgan knnen wir nun Organisationsanalyse betreiben, indem wir Metaphernanalyse betreiben. Mit den eben vorgestellten Metaphern stehen uns Zugnge zur Verfgung, die uns eine Organisation aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten lassen. Beispielsweise kann man fr eine Organisation deren Maschinencharakter und deren kreative Informationsverarbeitung analysieren. Morgans Ansatz bietet nicht einen Zugang, sondern viele Zugnge zugleich. Komplexitt wird nicht reduktionistisch vereinfacht, sondern erhalten und dennoch handhabbar gemacht. Es wird eine ,,Multiperspektivik“ (Frank 2002) erreicht, die das Bewusstsein von dem erweitert, was eine Organisation im Allgemeinen ausmacht, aber auch von dem, was im Rahmen einer praktischen Organisationsanalyse das Einzigartige der zu analysierenden Organisation darstellt. Es existieren auch bereits erste praktische Anstze, bei denen Organisationsanalyse als Metaphernanalyse durchgefhrt wird (Gester und Lauterbach 2002). Hier knnte man noch einen Schritt weitergehen und Organisationsanalyse als Sinnformelanalyse betreiben. Separat soll nun die Metapher vom Fluss und Wandel besprochen werden, da sie aufzeigt, wie Organisationen ihre Identitt im Einklang mit ihrem Umfeld entwi-
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ckeln knnen. Morgans Metaphorik vom Fluss und Wandel ist komplex und umfasst u. a. die Betrachtung der Organisation als autopoietisches System. Dieser Ausdruck stammt aus der konstruktivistischen Biologie und besagt, dass biologische Systeme „autopoietisch“ sind, d. h. sich selbst erschaffen und erhalten, sowie, dass sie ihre Umwelt nicht intern reprsentieren, sondern dass sie ihr internes Modell selbst verndern, auf die Wirklichkeit anwenden und ihre Erfahrung in dieses interne Modell einpassen. Ein autopoietisches System wird daher als energetisch offen, aber als informationell geschlossen betrachtet. Nur die Vernderung des eigenen internen Modells schafft neue Erfahrungsrume. Verfgen autopoietische Systeme ber die Fhigkeit, reflektierend die eigenen inneren Zustnde zu verndern, werden sie als ,,selbstreferenziell“ bezeichnet. Zugleich werden autopoietische Systeme als Teile grßerer, interdependenter Netzwerke betrachtet. Die Vernderung eines Systems bewirkt daher immer auch Turbulenzen im Gesamtsystem. Denken wir im Rahmen dieser Metapher, dann ist der Erfolg einer Organisation in starkem Maße davon abhngig, welche Identitt sie sich zuschreibt und in welchem Maße sie fhig ist, die eigene Identitt reflektiert zu verndern. Denn da eine Organisation informationell geschlossen ist, wird sie ihre Identitt nach außen projizieren und in ihrer Umwelt entsprechende Turbulenzen hervorrufen. Gleichzeitig versuchen andere Organisationen ebenfalls ihre Umwelt zu verndern, so dass sich eine Organisation immer auch in einem Netzwerk von Organisationen verstehen muss, mit denen sie in wechselseitiger Abhngigkeit lebt. Dieses Denken zieht als Konsequenz nach sich, dass die Konzeptualisierung von Konkurrenten als Feinden, ein Bild, das wir als charakteristisch fr die Organismusmetapher herausgestellt hatten, in dieser Perspektive als nicht angemessen erscheint: „Wenn wir erkennen, dass das Umfeld kein unabhngiger Bereich ist und dass wir nicht notwendigerweise mit ihm konkurrieren oder dagegen ankmpfen mssen, wird eine vllig neue Beziehung mglich. Zum Beispiel kann eine Organisation mgliche Identitten und die Bedingungen, unter denen sie verwirklicht werden knnen, eingehend untersuchen. Organisationen, die sich dieser Selbstentdeckung verschrieben haben, knnen eine Art systemischer Weisheit entwickeln. Sie werden sich ihrer Rolle und Bedeutung innerhalb des Ganzen strker bewusst und ebenso auch ihrer Fhigkeit, Vernderungs- und Entwicklungsmuster zuzulassen, damit sich ihre Identitt gemeinsam mit der des weiteren Umfelds entwickeln kann.“ (Morgan 2000, 359, Herv. i. Orig.)
Wenn wir also wie Morgan eine Organisation als autopoietisches System betrachten, dann ist auch die Antwort auf die existenzielle Grundfrage Wer sind wir? nicht festgelegt, sondern wird im Kontakt mit dem Umfeld immer wieder neu beantwortet. Inbesondere erhebt sich bei der Entwicklung vom Partikulardenken zum Systemdenken (der Entwicklung „systemischer Weisheit“ nach Morgan) die Frage, was denn mit „wir“ gemeint sein knnte bzw. was denn auf welchen Systemebenen unter „wir“ verstanden werden kann. Diese kontinuierliche Befragung der eigenen Identitt kann einerseits Angst vor dem Verlust der Identitt auslsen, sie kann jedoch auch eine Frei-
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heit fr die Organisation bedeuten, da sie sich unabhngig von den von ihr selbst festgelegten Grenzen machen und zugleich ein Verstndnis fr das Wohl des großen Ganzen entwickeln kann. Dies kann auch bedeuten, das eigene „hssliche Antlitz“ zu betrachten und die Frage nach dem Sinn des Gesamtsystems zu stellen.
5. Beantwortung existenzieller Grundfragen und Organisationsstruktur Wenn vorhin davon gesprochen wurde, dass eine Organisation bestimmte Verfahren des Fragenstellens und Beantwortens im Rahmen der bestehenden Organisationsstruktur bereithalten msse, so ist es nun angebracht zu erlutern, welche Organisationsstrukturen hiermit gemeint sind. Grundstzlich fllt das organisationale Stellen und Beantworten von Grundfragen in das Feld der Organisationsentwicklung. Dabei soll Organisationsentwicklung nach der klassischen Definition von French und Bell jr. (1977) gefasst werden als: „eine langfristige Bemhung, die Problemlsungs- und Erneuerungsprozesse in einer Organisation zu verbessern […]“ (French und Bell jr. 1977, 31). Um nun der Frage nachzugehen, welche Organisationsform welche Mglichkeiten des Stellens und Beantwortens existenzieller Grundfragen erffnet, soll zunchst eine organisationssoziologische Grundannahme von Crozier und Friedberg (1993) eingefhrt werden. In dieser Grundannahme wird das Verhltnis von sozialer Struktur und subjektiver Handlungsautonomie in fundamentaler Weise festgelegt. Diese Annahme soll folgendermaßen formuliert werden: Wie stark auch immer gesellschaftliche und organisationelle Strukturen auf Akteure und ihre Rollenfestlegung wirken, der Akteur verfgt immer ber eine bestimme Autonomie, die jedes auch noch so festgelegt erscheinende soziale System zu einem nicht-deterministischen Phnomen macht. Rechne mit der Unberechenbarkeit der Akteure!
Aus dieser Annahme folgt, dass letztlich alle Organisationsprozesse einmalig und einzigartig sind und nicht deterministisch aus sozialen Strukturen abgeleitet oder vorhergesagt werden knnen. Daraus ergeben sich verschiedene Konsequenzen fr die Untersuchung von Kommunikation und Vernderungsprozessen in Organisationen, die jetzt an zwei prominenten Organisationsstrukturen (top down und bottom up) dargestellt werden soll. Man kann eine Top-down- von einer Bottom-up-Struktur unterscheiden, je nachdem wie die Hierarchie in einer Organisation aufgebaut ist und in welche Richtung dieser Hierarchie entscheidungsrelvante Kommunikation stattfindet.10 10
Vgl. dazu auch Argyris (1997), der deutlich macht, dass die Dichotomisierung in top-down und bottom-up eine idealisierende, analytische Trennung darstellt. So finden bis auf wenige Ausnahmen keine reinen Bottom-up-Prozesse statt, da die Organisationsfhrung den Vernderungspro-
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Nonaka und Takeuchi (1997) schlagen als eine Mischstruktur das so genannte „Middle-up-down-Management“ vor: „Innerhalb dieses Modells artikuliert die Unternehmensfhrung eine Vision oder einen Traum, whrend die Mitarbeiter an der Basis den Realitten ins Auge sehen. Die Kluft zwischen Traum und Realitt wird von den Mittelmanagern durch die Schaffung von Ttigkeitsfeldern und Produktkonzepten berbrckt. Dabei verschmelzen sie das implizite Wissen von Spitze und Basis, machen es explizit und setzen es in neue Technologien, Produkte und Programme um. Fr uns besteht kein Zweifel daran, dass Mittelmanager eine Schlsselrolle fr die Wissensschaffung im Unternehmen spielen“ (Nonaka und Takeuchi 1997, 262 f.).11
Auch wenn vorhin herausgestellt wurde, dass die Teams Freiheit in der Transformation der Sinnformeln haben, so ist der Kommunikationsablauf klar an der Unternehmenshierarchie orientiert. Das „Middle-up-down-Management“ soll deshalb ebenfalls als eine Top-down-Struktur betrachtet werden. Bevor nun Top-down- und Bottom-up-Strukturen besprochen werden, soll eine Anmerkung zur Terminologie gemacht werden: Wenn sich Organisationen existenzielle Grundfragen neu stellen und beantworten, so sprechen sie selbst meist allgemein davon, dass sie sich ein „Leitbild“ geben wollen. Whrend vorhin mit der Ausdifferenzierung der existenziellen Grundfragen eine weitverzweigte Definition des Leitbildbegriffs mglich wurde, deckt der Leitbildbegriff, wie er von vielen Organisationsangehrigen oder Organisationsberatern verwendet wird, einen nicht przise beschreibbaren Bereich ab. So fassen manche darunter die Frage nach den Zielen und der Identitt, manche zustzlich oder allein Willensbekundungen und manche auch einfach nur eine neue Geschftsdefinition. Wenn also im Folgenden von Leitbild gesprochen wird, so wird es durch den Kontext oder auch durch explizierende Zustze klar gemacht werden, ob von dem hier theoretisch definierten Begriff die Rede ist oder von einer alltagsprachlichen Verwendung. Welche Mglichkeiten zum Stellen von Grundfragen bestehen nun in einer Topdown-Struktur? Betrachten wir als Beispiel einen organisationellen Vernderungsprozess, bei dem die Identitt einer Organisation durch ein externes Leitbild festgeschrieben wird, etwa im Rahmen einer Reorganisation durch eine Unternehmensberatung, und das dann durchgesetzt werden soll. Angenommen, eine Unternehmensberatung htte nach einiger Zeit ein neues Leitbild entworfen, das nun topdown mitgeteilt werden wrde, d. h. es wrde in der Firmenzeitung darber berich-
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zess insgesamt befrworten und mit entsprechenden Ressourcen untersttzen muss, auch wenn die entscheidungsrelevante Kommunikation insgesamt bottom-up verluft. Meiner Ansicht nach fhrt das „Middle-up-down-Management“ vor allem zu Magengeschwren im mittleren Management und dies umso schneller, je labiler und flchtiger die Visionen der Unternehmensfhrung sind.
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tet und per Meetings oder Brief bermittelt werden und hinge auch in verglasten Rahmen in den Gngen und Fluren der Organisation. Nun liegt es im Spielraum der Akteure, das verordnete Leitbild aufzunehmen und weiterzuentwickeln oder aber eben nicht. Man kann sogar einen Schritt weitergehen und sagen, die Organisation ist auf die Aufnahme und Diskussion und Aneignung des Leitbilds angewiesen. Nicht selten nutzen die Akteure ihren Spielraum jedoch zum Spott hinter vorgehaltener Hand. Allerdings ist dieser Spielraum begrenzt, denn offener Widerstand kann durch die mchtigen Akteure wirkungsvoll unterdrckt werden, so dass dem kritischen Akteur wenige Optionen verbleiben: Er kann das System verlassen (Exitoption) oder seine Identitt ndern und auch innerlich auf Linie gehen (Konformittsoption) oder eine Art Doppelleben, bestehend aus einer kritischen und einer angepassten Rolle, entwickeln (Subversionsoption). Schließlich kann er versuchen, den mchtigen Akteur zu beseitigen und einen anderen, ggf. auch sich selbst, an seine Stelle zu setzen (Putschoption). Wenn wir uns berlegen, woher der Spott, der sich ber viele Leitbilder, die doch Identifikation leisten sollen, kommt, dann speist er sich aus einer bestimmten Quelle: Es ist genau der oben genannte, autonome, spontane Bereich der Individuen, der auch die Quelle des Widerstands gegen solche ,,verordneten Leitbilder“ bildet. Der autonome, spontane Bereich der Individuen bildet aber nicht nur die Quelle der Subversion, sondern auch die Quelle originellen Wissens, denn wenn etwas neu in die Organisation gebracht werden soll, wenn durch die Vorstellungs- und Erfindungskraft Innovationen bewirkt werden sollen, dann mssen sich die Individuen kraft ihrer Autonomie ber die Vorgaben der organisationellen Struktur in irgendeiner Weise hinwegsetzen, sie zumindest partiell durchbrechen. Der autonome, spontane Bereich der Individuen bildet somit die innere poetische Kraft einer Organisation. Was kann in diesem Zusammenhang ,,poetisch“ heißen? Poetisch meint zunchst einfach die imaginative Dimension, d. h. die Vorstellungsbilder jedes Einzelnen von der Organisation als Ganzem oder von Teilen von ihr. Es geht aber auch um poetische Formen, denn diese Vorstellungsbilder sind meist nicht klar und deutlich verfgbar und zunchst nur in poetischen Formen wie der Metapher mitteilbar, wie dies auch im Fallbeispiel des Honda City deutlich wurde.
6. Konsequenzen Fr mich ergeben sich aus den bisherigen berlegungen Konsequenzen sowohl fr die Organisationsanalyse und -entwicklung als auch fr die Linguistik, die sich mit Kommunikation in Organisationen beschftigt und die ich hier abkrzend „Organisationslinguistik“ nennen will.
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6.1 Konsequenzen fr die Organisationsanalyse und -entwicklung Eben wurde formuliert, dass sich aus der Grundannahme der prinzipiellen Autonomie der Akteure ergibt, dass jede Organisation und ihre Entwicklung als ein nichtdeterministischer, einzigartiger Prozess zu bestimmen ist. Das Ziel der Organisationsentwicklung muss es deshalb sein, sich mit dieser Einzigartigkeit vertraut zu machen, sie auszuformulieren und die darin liegenden Chancen in ergreifbare Nhe der Akteure zu bringen. Wenn nicht nur Einzelne Quellen der Originalitt sein sollen, sondern mglichst viele, dann muss ein Bottom-up-Weg eingeschlagen werden, der an der „Poetik des Wissens“ der Akteure ansetzt. Hieraus lsst sich fr unseren Kontext auch ein neuer Begriff der Vernderung einer Organisation entwickeln: Ein Vernderungsprozess einer Organisation entwickelt die innere poetische Kraft der Organisation und bringt sie immer deutlicher zur Sprache, lsst sie sich nach und nach explizieren, transformieren und vermitteln. Auf diese Weise knnen auch die Grundfragen nach der Identitt, Zukunft und Vergangenheit der Organisation gemeinsam entwickelt und weiterentwickelt werden. Fr die Organisationsanalyse fhrt Morgan Metaphern als bewusstseinserweiternde Multiperspektivik ein. Betrachtet man die Metaphern, die Morgan zur Analyse von Organisationen heranzieht, so handelt es sich um externe Kategorien, die unterschiedlichen Sozialtheorien entnommen wurden. Aus der Grundannahme eines Freiraums an Spontaneitt und Autonomie der Akteure ergibt sich jedoch, dass es von besonderer Bedeutung fr die Identitt und Fortentwicklung eines Unternehmens ist zu bercksichtigen, welche Bilder der Organisation die Akteure selbst haben. Als Konsequenz ergibt sich daraus fr die Organisationsanalyse und Organisationsvernderung, dass auch die Metaphern der Akteure analysiert werden mssen, und zwar nicht nur die Metaphern einer oder weniger ranghoher Akteure, sondern die Metaphern vieler, wenn mglich aller Akteure. Zentral ist dabei die Transparenz des Weges der einzelnen Vorstellungen zur Identitt. Es gengt nicht, die Mitglieder der Organisation etwa per standardisiertem Fragebogen nach ihren Werten und/oder Metaphern zu fragen und dann ein Leitbild zu prsentieren, ohne dass der Umwandlungsprozess eines Leitbilds aus den einzelnen Vorstellungen durchsichtig wre. Sonst wird die Organisationsentwicklung leicht zum Ersatz fr eine echte Transmutation der Einzelvorstellungen zu einem gemeinsamen Modell. Es wird hier bewusst von ,,Transmutation“ gesprochen und nicht von „Translation“ oder,,Transformation“. Denn man kann sich das Erfinden eines neuen Produkts oder einer neuen Organisationsidentitt durch Metaphernreflexion und -konstruktion nicht als eine irgendwie geartete Addition von Einzelmetaphern vorstellen. Ebenso wenig kann man klare Regeln angeben, wie aus Einzelvorstellungen eine kollektive Leitvorstellung generiert werden knnte, was etwa mit dem Begriff der „Translation“ oder,,Transformation“ verbunden wre.
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Es handelt sich vielmehr um einen kreativen Sprung, der eher einem knstlerischen, einem poetischen Einfall entspricht. Dem so gefundenen Leitbild haftet natrlich ein gewisses Risiko an, das darin besteht, dass, wie so oft in der Kunst, der Funke zum Betrachter eben nicht berspringt und es der Auslegung bedarf, bis sich ein Verstehen einstellt – aber auch das ist keineswegs sicher. Wenn aber die so geschaffene, identifikationsstiftende Kollektivvorstellung eine innere Resonanz in der Organisation und ihren Mitgliedern findet, dann kann sie durch ihr identifikationsstiftendes Moment die Organisation zum „Schwingen“ bringen, denn nun fhlen alle gemeinsam ihre Verbindung, den Sinn, warum sie in dieser Organisation und in keiner anderen sind und haben eine gefhlte Orientierung, wohin alle gemeinsam gehen wollen und gehen werden.
6.2 Konsequenzen fr die Organisationslinguistik Eine Konsequenz fr die Phase der Wissenskonstruktion ist es, Wissen nicht nur als propositional darstellbares Wissen zu bercksichtigen, sondern als einen wechselwirkenden, sprachlich vermittelten Prozess von Idee und materieller Umsetzung zu verstehen. Deshalb sollten auch Formen wie z. B. Metaphern, die noch viele Interpretationen zulassen, als konstitutiver Teil des Wissenskonstruktionsprozesses einbezogen werden. Fr die Phase der Wissensdiffusion ergibt sich die Konsequenz, nicht nur einzelne Teams zu untersuchen, sondern die Team bergreifende Kommunikation, wie sie bei der Arbeit an Grundfragen in hierarchisch strukturierten Organisationen typisch ist. Dabei wird man den Begriff der Wissenvermittlung neu definieren mssen. Es sind nmlich Wissenstransformationen, die im Verlauf der Team bergreifenden Kommunikation stattfinden, d. h. Aneignungsprozesse der jeweiligen Arbeitsgruppen, die einerseits Sinnformeln aufgreifen, diese aber verndern und neue, fr die jeweilige Arbeitsgruppe oder Funktionseinheit angemessene Sinnformeln generieren. Metaphern sind feste Bestandteile im Wissenskonstruktionsprozess vieler Organisationen. Whrend Metaphernreflexion schon frh fr Produktinnovationen eingesetzt wurde, werden sie in neurer Zeit auch zur Organisationsanalyse und zur Entwicklung von Identitten herangezogen. Das theoretische Konzept der Sinnformel machte es mglich, beide Formen der Organisationsentwicklung als eine Arbeit an den existenziellen Grundfragen der Organisation zu verstehen. Ausgehend von Konzepten der Organisationssoziologie wurden die individuellen Widerstnde, Abweichungen und nonkonformen Vorstellungen sowohl in ihrem Potenzial als subversive als auch als kreative Kraft betrachtet. Wenn die Linguistik sich nicht nur als die sprachliche Praxis analysierende sondern in sprachliche Praxis intervenierende
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Wolf-Andreas Liebert
Wissenschaft begreift, dann kann sie auch Beitrge fr neue Formen der Innovation leisten.
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Machtvolle Sinnformeln
Brigitte Aulenbacher
Rationalisierungsleitbilder – wirkmchtig, weil machtvoll und machbar 1. Die Frage nach der Wirkmchtigkeit von Rationalisierungsleitbildern Rationalisierungsleitbilder sind Thematisierungsweisen von Zukunft, die mit anderen Vorstellungen und Visionen zur gesellschaftlichen Entwicklung1 konkurrieren. Beispielhaft seien hier drei prominente Rationalisierungsleitbilder genannt: die menschenleere Fabrik, die schlanke Produktion, das multikulturelle Unternehmen. In dieser Reihenfolge sind sie, einander jeweils im Zehn-Jahres-Rhythmus ablsend, von den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts an bis heute Gegenstand teilweise heftiger Auseinandersetzungen um den richtigen Weg in der Ausgestaltung von Produktions-, Arbeits- und Lebensverhltnissen geworden. Angesichts der Assoziationen, die diese Rationalisierungsleitbilder wecken, mag es verblffen, dass hier von der Ausgestaltung von Produktions-, Arbeits- und Lebensverhltnissen und nicht nur von Industrieorganisation die Rede ist. Daher sei dies vorweg kurz erlutert. Hierzu ist es hilfreich, sich zu vergegenwrtigen, dass Rationalisierung zwar vielfach mit industrieller Rationalisierung gleichgesetzt wird, letztere aber doch nur ein Teil des gesellschaftlichen Rationalisierungsprozesses ist (vgl. Reese u. a. 1993; Wupper-Tewes 1995; Aulenbacher/Siegel 1995). Fr die Zeit vom zweiten Jahrzehnt bis zu den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts hat Tilla Siegel (1993) gezeigt, wie die industrielle Rationalisierung mit einer auf die Lebensverhltnisse und die Lebensfhrung der Menschen gerichteten „sozialen Rationalisierung“ (Reese u. a. 1993, 10) verbunden worden war. Indem die Menschen betrieblicherseits zur ‚richtigen‘, nmlich rationalen und rationellen Lebensfhrung angehalten wurden, wurde die industrielle Rationalisierung „mental“ und „kulturell“ vorbereitet, eine den betrieblichen Erfordernissen gemße Passung von Arbeit und Leben erreicht und letztlich ein neuer, der Rationalisierung gemßer „‚Menschentyp‘“ geformt (Siegel 1993, 375). Solche direkten Eingriffe in das ‚Privatleben‘ der Menschen sind heute in den westlichen Industriegesellschaften nicht mehr blich, sie sind aber auch nicht mehr erforderlich. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass das Rationalisierungsdenken im Laufe der vergangenen Epoche von den Menschen 1
Darunter sind zunchst einmal jedwede Vorstellungen zur gesellschaftlichen Entwicklung zu verstehen. Angesprochen werden im weiteren mit Frauenfrderung ein Konzept, das aus einer Bewegung hervorgegangen ist, und am Beispiel der nachhaltigen Entwicklung ein Leitbild, bei dem es sich nicht um ein Rationalisierungsleitbild handelt.
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auch verinnerlicht wurde und sich eine rationalisierungsgemße Passung von Arbeit und Leben scheinbar von selbst ergibt. Insofern ist die Rationalisierung als gesamtgesellschaftlicher Prozess heute weniger sichtbar, als sie es zu Beginn der Epoche noch war, beziehungsweise bedarf es genaueren Hinsehens, um diese Dimension wiederzuentdecken. So schreiben beispielsweise die Autoren der Automobilstudie des Massachusetts Institute of Technology, die der von dem japanischen Automobilhersteller Toyota entwickelten schlanken Produktion ihren Namen gegeben und an vorderster Stelle fr ihre Propagierung gesorgt haben: „... die Autoindustrie ist von grßerer Bedeutung fr uns, als es scheint. Zweimal in diesem (dem zwanzigsten, BA) Jahrhundert hat sie unsere Grundkonzepte der Produktion von Gtern gendert. Und wie wir Gter produzieren, bestimmt nicht nur, wie wir arbeiten, sondern auch, was wir kaufen, wie wir denken und wie wir leben.“ (Womack/Jones/Roos 1992, 17) „Schlanke Produktion wird Unternehmen und Nationen herausfordern und verndern.“ (Womack/Jones/Roos 1992, Klappentext). Heute, da die ra der schlanken Produktion weitgehend hinter uns liegt, wissen wir, dass sich die Erwartung der Autoren so nicht erfllt hat. Gleichwohl hatte und hat sich bezogen auf die menschenleere Fabrik, die schlanke Produktion und das multikulturelle Unternehmen, um bei diesen Beispielen zu bleiben, jeweils ein heftiger „Streit um die Leitbilder“ (Roth2) entzndet. Er hat sich ausgehend von den wenigen Großunternehmen in den wirtschaftlichen Kernsektoren, denen sie entstammen, auf nahezu alle Industrien und teilweise auch auf den Dienstleistungsbereich einschließlich des ffentlichen Dienstes ausgeweitet. Er ist nicht nur in Unternehmen, sondern auch zwischen Verbnden gefhrt worden, hat in weitere Institutionen und Organisationen wie beispielsweise das Rationalisierungskuratorium der Deutschen Wirtschaft oder die politischen Parteien hinein gereicht, ist durch die Presse gegangen und fllt die Regale der Universittsbibliotheken. Im Ergebnis sind die menschenleere Fabrik, die schlanke Produktion und das multikulturelle Unternehmen, wenn auch nicht in aller, so doch in vieler Munde gewesen und haben Arbeit und Leben vieler Menschen mehr oder weniger, direkt und indirekt beeinflusst. Damit bin ich bei der Frage nach der Wirkmchtigkeit von Rationalisierungsleitbildern, um die es in diesem Beitrag geht, angelangt. Unter dem Begriff Wirkmchtigkeit werden zwei Aspekte des Rationalisierungsgeschehens thematisiert: zum einen die Wirkung von Rationalisierungsleitbildern und zum anderen die Grnde dafr, dass sie in der soeben skizzierten Weise wirksam werden. Ansprechen lsst sich die Frage nach der Wirkmchtigkeit von Rationalisierungsleitbildern dabei mit Blick auf die Rationalisierungspraxis und mit Blick auf den Rationalisierungsdiskurs. 2
Diese sehr treffende Formulierung stammt von Siegfried Roth, ist meines Wissen aber nicht schriftlich dokumentiert.
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Was die Praxis angeht, so hat die legendre Halle 54 des Volkswagenwerks Wolfsburg mit ihren ‚Geisterschichten‘ der menschenleeren Fabrik Gestalt verliehen (vgl. Brdner 1985). Die Adam Opel AG in Rsselsheim hat mit dem Besichtigungsprogramm „Opel live“ eine breite ffentlichkeit an der erfolgreich eingefhrten, unternehmenseigenen Variante der schlanken Produktion teilhaben lassen. Im multikulturellen Unternehmen werden transnationale Konzerne, etwa der chemischpharmazeutischen Industrie, leibhaftig und managing diversity soll Belegschaftsinteressen und Produktionserfordernisse in bereinstimmung bringen (vgl. Rothe 1997). Und so zeigen zahlreiche Erfolgsmeldungen und euphorische Schilderungen, dass und wie mit der Umsetzung des einen oder des anderen Rationalisierungsleitbildes der Weg in die Zukunft schlechthin gefunden worden ist – zumindest frs erste und bis ein neues Leitbild sich als noch verheißungsvoller zeigt. Den Erfolgsmeldungen steht aber auch – und zwar auch bereits zu Zeiten der Hochkonjunktur der jeweiligen Leitbilder – eine beachtliche Bilanz des Scheiterns gegenber. Die sffisante Beschreibung von Automationsruinen in der pannenreichen und, da von Reparaturteams bevlkerten, gar nicht mehr so menschenleeren Fabrik gehrt zur Folklore verschiedenster Branchen (vgl. auch: Fiedler/Regenhard 1991, 11 – 16). Die Beispiele fr die Rcknahme von technisch-organisatorischen Vernderungen nach Maßgabe der schlanken Produktion sind ebenfalls Legion (vgl. Tokunaga/Altmann/Demes 1992). ber Grenzen des multikulturellen Unternehmens wird noch entschieden. Und außerdem weiß jenseits von Erfolg und Misserfolg wer sich in Wissenschaft und Praxis mit Rationalisierungsleitbildern befasst, dass sie aufgrund ihrer großbetrieblichen und branchenspezifischen Prgung ohnehin nicht flchendeckend umgesetzt werden und dass das alles sowieso nicht funktioniert oder zumindest nicht so, wie es im Leitbild ‚eigentlich’ vorgesehen gewesen ist. Festzuhalten ist also, dass die Praxis als Indikator fr die Wirkmchtigkeit von Rationalisierungsleitbildern uneindeutig ist. Damit bleibt dann zu fragen, wie es hinsichtlich des Rationalisierungsdiskurses aussieht. Warum sind Rationalisierungsleitbilder und nicht gleichermaßen auch andere Vorstellungen und Visionen Gegenstand vehementer Auseinandersetzungen, wie kommt es zu ihrer Dominanz im Diskurs? Was bewirken sie und was bewirkt ihre Dominanz hinsichtlich der gesellschaftlichen Thematisierung von Zukunft? Um diese Fragen geht es nun in zwei Schritten. Im ersten Schritt greife ich den Leitbild-Ansatz des Wissenschaftszentrums Berlin in der Fassung von Meinolf Dierkes, Ute Hoffmann und Lutz Marz (1992) auf. Dabei handelt es sich um einen Ansatz aus dem akteursorientierten Spektrum soziologischer Technikgeneseforschung3. Er bietet, was die Soziologie angeht, die nach wie 3
Die soziologische Technikgeneseforschung ist Teil der interdisziplinren Wissenschafts- und Technikforschung. Sie ist Anfang der achtziger Jahre aus der Industriesoziologie und der Wissen(-
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vor ausgearbeitetste Erklrung der Wirkungsweise von Leitbildern. Diesen Ansatz in Gnze zu diskutieren, ist hier weder der Ort noch der Raum (vgl. ausfhrlich hierzu: Aulenbacher 1995); daher werden lediglich einige zentrale Gedanken herausgegriffen. Im zweiten Schritt werden diese Gedanken dann auf das hier verfolgte Thema, die Frage nach der Wirkmchtigkeit von Rationalisierungsleitbildern, angewandt.
2. Die Wirkungsweise von Leitbildern aus der Sicht soziologischer Technikgeneseforschung Der Leitbild-Ansatz von Meinolf Dierkes, Ute Hoffmann und Lutz Marz (1992, 30 ff.) ist fr die Beantwortung meiner Fragen deshalb besonders interessant, weil er der Leitbildprgung von Technikgeneseprozessen in den berschneidungs- und Kooperationsfeldern, in den Worten der AutorInnen, der „Interferenz“ der daran beteiligten „Wissens-Kulturen“ nachgeht. Die Parallele zu meinem Untersuchungsgegenstand liegt auf der Hand: Auch Rationalisierungsleitbilder werden erst in den, wie ich in Anlehnung an die AutorInnen hier einmal formulieren will, berschneidungs- und Kooperationsfeldern verschiedener „Wissens-Kulturen“ wie Unternehmen, Arbeitgeberverbnden, Gewerkschaften, Politik, Wissenschaft wirkmchtig. Neben dieser gegenstandsbezogenen Parallele zwischen dem Thema dieses Aufsatzes und dem Berliner Leitbild-Ansatz im Besonderen gibt es außerdem auch einen Berhrungspunkt zwischen meiner Betrachtung von Rationalisierungsleitbildern als Thematisierungsweisen von Zukunft und dem programmatischen Anspruch soziologischer Technikgeneseforschung im Allgemeinen (vgl. einschlgig hierzu: Dierkes/Hoffmann 1992). Der Anspruch dieser Teildisziplin besteht darin, jenseits notwendiger Technikfolgenabschtzung, Technikentwicklung als gesellschaftlichen Prozess in den Blick zu nehmen. Von hervorgehobener Bedeutung ist dabei die Betrachtung der Ungewissheitszonen im Geneseprozess. Dies liegt daran, dass darin noch verschiedene technische Optionen existieren und auffindbar sind, die, wenn im weiteren dann eine dieser Optionen durchgesetzt worden ist, hinter ihr verschwinden, dadurch unsichtbar werden und letztlich in Vergessenheit geraten. Vom Ergebnis her sieht es dann so aus, als habe nur diese eine Technik entstehen oder, allgemeiner, als habe es gar nicht anders kommen knnen. In hnlicher Weise, wie die Technikgeneseforschung dies in Bezug auf die Technikentwicklung anspricht, schafts)soziologie hervorgegangen und befasst sich, wie der Name schon sagt, mit der Genese von Technik. Mit ihren diesbezglichen Erkenntnissen hat sie die in der Soziologie bis dato dominante technikdeterministische Interpretationsweise, wonach Technikentwicklung eigenlogisch erfolge, mit ihren Resultaten gleichwohl aber die gesellschaftliche Entwicklung ‚determiniere‘, widerlegt. (vgl. zu einem berblick ber diese Teildisziplin: Dierkes/Hoffmann 1992)
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zeigen sich auch in der Rationalisierung Ungewissheitszonen. Dies liegt daran, dass es sich bei der Rationalisierung um einen sozialen Prozess und damit grundstzlich auch um einen gesellschaftlichen Auseinandersetzungs- und Aushandlungsprozess handelt, auch wenn die Auseinandersetzungen und Aushandlungen bisweilen stillgestellt sind oder stillgestellt zu sein scheinen. In diesem Sinne ist in der Rationalisierung heute aber auch grundstzlich offen, was morgen sein wird. Und nicht nur prinzipiell, sondern auch tatschlich sind im Rationalisierungsprozess verschiedene Optionen virulent, von denen sich die einen im Spiel von „Krften und Gegenkrften“ (Horkheimer) als mehr und die anderen als weniger oder gar nicht durchsetzungsfhig erweisen. Und nicht selten kommen im zuletzt genannten Fall auch Rationalisierungen im psychoanalytischen Sinne von Verdrngung zum Tragen, durch welche die nicht durchsetzungsfhigen Optionen im Laufe der Zeit dem strukturierten Vergessen anheim gegeben und in dieser Weise gesellschaftlich unbewusst gemacht werden. In Nachhinein entsteht dann der Eindruck, es sei nie anders gewesen und habe alles auch gar nicht anders kommen knnen. (vgl. zu dieser Dimension von Rationalisierung: Becker-Schmidt 1989, 1992) Die VerfasserInnen des Berliner Leitbild-Ansatzes, auf den ich nun zurck komme und eingehe, ben Kritik an der soziologisch recht diffusen Annahme einer irgendwie gearteten Leitbildprgung von Technik. Selber fragen sie nach den Orientierungsleistungen, die im Technikgeneseprozess und insbesondere in seinen Ungewissheitszonen durch Leitbilder erbracht werden (vgl. Dierkes/Hoffmann/Marz 1992, 9 ff., 30 ff.). Wie sie diese Orientierungsleistungen thematisieren, wird nun in den fr die hier verfolgte Fragestellung relevanten Auszgen skizziert. Zuerst geht es dabei um Meinolf Dierkes’, Ute Hoffmanns und Lutz Marz’ (1992, 30 ff.) Definition von „Wissens-Kulturen“ und ihre sich daran anschließende Betrachtung des Geschehens in und zwischen verschiedenen „Wissens-Kulturen“. ber diesen Weg komme ich dann auf ihre Thematisierung der Wirkungsweise von Leitbildern zu sprechen. „Wissens-Kulturen“ sind nach Meinolf Dierkes, Ute Hoffmann und Lutz Marz (1992, 36) vierdimensional zu betrachtende, „soziale Handlungsrume“. Bei den vier Dimensionen handelt es sich: erstens um die „Reproduktion“ der jeweiligen „Wissens-Kultur“ durch die Erzeugung von Wissen im Gegenstands-, Akteurs- und Selbstbezug der daran beteiligten Menschen; zweitens um ihre „Reprsentation“ durch die Erzeugung von Zeichen, welche die Handlungen in der jeweiligen „Wissens-Kultur“ und letztlich die ihr eigene „Rationalitt“ symbolisieren; sowie, mit Blick bereits auf die berschneidungs- und Kooperationsbereiche von „WissensKulturen“, drittens um die „Kommunikations-“ und viertens um die „Individuationsebene“. Die „Kommunikations-“ und die „Individuationsebene“ werden nun eingehender betrachtet. Auf der „Kommunikationsebene“ wird den VerfasserInnen zufolge die Zusammenarbeit in und zwischen den „Wissens-Kulturen“ initiiert,
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weitergefhrt und stabilisiert. Dadurch vollziehe sich deren „Interferenz“. Auf der „Inviduationsebene“ werde die innere Entsprechung zu diesen Vorgngen herausgebildet. Hier werde bewirkt, dass die Individuen in Kooperationsbezgen aktiv werden und sie aufrecht erhalten. Beide Ebenen sind in ihrem analytischen Konstrukt also untrennbar mit den Individuen und durch sie miteinander verbunden, wobei in diesem Zusammenspiel den AutorInnen zufolge Synchronisationsprobleme und -notwendigkeiten auftreten. Synchronisationserfordernisse ergben sich bezglich der Kommunikations- und Individuationsprozesse je fr sich und untereinander. Sie machten sich in den Ungewissheitszonen des Technikgeneseprozesses geltend, in denen dem Handeln der verschiedenen Akteure in und aus den verschiedenen „Wissens-Kulturen“ noch keine gemeinsame Orientierung zugrunde liegt. Diese Synchronisationserfordernisse wrden, und damit komme ich zum nchsten und hauptschlichen Punkt meines Rekurses auf den Berliner Leitbild-Ansatz, durch Leitbilder erbracht. Leitbilder knnen diese Synchronisationsleistungen nach Meinolf Dierkes, Ute Hoffmann und Lutz Marz (1992, 40) deshalb erbringen, weil sie ber die dafr notwendigen Voraussetzungen verfgten: Sie existierten auf der Ebene der Individuation und Kommunikation als Gegenstnde der Selbstverstndigung und Verstndigung der Akteure; sie seien evident, da sie ein offenkundiges Problem benennen und zum Kooperationsgegenstand machen und sie seien, da sie „wissenskulturspezifisch und -unspezifisch“ sind, in und zwischen verschiedenen „Wissens-Kulturen“ kommunizierbar. Aufgrund all dieser Eigenschaften stimulierten, orientierten und stabilisierten sie die „Interferenz“ von „Wissens-Kulturen“, indem sie den Individuations- und Kommunikationsprozessen eine gemeinsame Richtung wiesen, das „Auseinanderdriften der Wissens-Kulturen“ verhinderten und dadurch auch in ihren inhaltlichen Vorgaben richtungsweisend wirkten. Die richtungsweisende Bedeutung von Leitbildern erklren die AutorInnen eingehender noch, indem sie zwischen der „Leit-“ und der „Bildfunktion“ von Leitbildern unterscheiden: In ihrer „Leitfunktion“ bndelten Leitbilder Absichten und Wissen im Hinblick auf die „Wnsch- und Machbarkeit“ der zu erzielenden Ergebnisse, bnden sie Wahrnehmungs- und Bewertungsformen in ein gemeinsames „Richtungsfeld“ und synchronisierten sie individuelle Bewertungen, wobei sie auch (noch) nicht vorhandene, gemeinsame Regelsysteme und Entscheidungslogiken ersetzten. In der „Bildfunktion“ wrden Begriffe reduziert, gedanklich in Zeichen und Symbole umgesetzt, begrifflich und bildlich reprsentiert und wrden bildliche und begriffliche Reprsentationsformen umgewandelt. Das Leitbild werde hier zum „Denkzeug“, durch welches die Persnlichkeit aktiviert und mit dessen Hilfe Konflikte reguliert wie Kooperationsbezge stabilisiert wrden. Hervorzuheben ist an dieser Stelle, dass es sich in der Logik von Meinolf Dierkes’, Ute Hoffmanns und Lutz Marz’ analytischem Konstrukt bei all diesen Synchronisationsleistungen um
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dezentrale, weil grundstzlich von den Individuen zu vollziehende Prozesse handelt (vgl. Dierkes/Hoffmann/Marz 1992, 42 ff., 54 ff.) Mit Blick auf das im Berliner Leitbild-Ansatz analysierte Geschehen in und zwischen verschiedenen „Wissens-Kulturen“ lsst sich zusammenfassend nun folgendes festhalten: Die Orientierungsleistung, die Leitbilder anbieten, erklren die AutorInnen aus deren Beschaffenheit heraus. Wirkmchtig werden Leitbilder in der Logik ihres Ansatzes aber erst aufgrund ihrer Rezeption durch die individuellen wie darber vermittelt dann auch die kollektiven Akteure im Geneseprozess. Die Strke ihres analytischen Konstrukts besteht darin, genau diese Verbindung sichtbar zu machen. Im Hinblick auf meine Frage nach der Wirkmchtigkeit von Rationalisierungsleitbildern hat es aber auch zwei Schwchen: Erstens schenken die AutorInnen den „Wissens-Kulturen“ selber kaum Aufmerksamkeit, wodurch Hierarchien und Machtungleichgewichte innerhalb von und zwischen verschiedenen „Wissens-Kulturen“ – hier etwa reprsentiert durch Unternehmen, Arbeitgeberverbnde, Gewerkschaften, Forschungsinstitute ... – unthematisiert bleiben. Zweitens binden sie die Wirkmchtigkeit von Leitbildern ausschließlich an deren Beschaffenheit und Rezeption Und so entscheidet sich, was im Unterschied zu Wunschbildern zum Leitbild wird, den Autorinnen zufolge in „kollektiven Projektionen“ im „Schnittpunkt von Wnsch- und Machbarkeit“ und letztlich zugunsten des Machbaren im Sinne des alltagsweltlich als machbar Erfahrenen. In dieser Weise wird die „Fusion von Wnsch- und Machbarkeitsprojektion“, durch die aus einer bloßen Vorstellung ein Leitbild wird, bei ihnen als alltagsweltlicher Prozess thematisiert. (Dierkes/Hoffmann/Marz 1992, 44) Seine Einbettung in gesellschaftliche Strukturen und Prozesse liegt ebenso außerhalb des analytischen Einzugsbereichs ihres Ansatzes wie die gesellschaftlichen Zusammenhnge und zeitgeschichtlichen Kontexten, in denen Leitbilder entstehen. Der Blick auf gesellschaftliche Strukturen und Prozesse und insbesondere auch die darin eingelagerten Machtungleichgewichte ist in der Frage nach der Wirkmchtigkeit von Rationalisierungsleitbildern jedoch bedeutsam. Darum geht es nun abschließend.
3. Rationalisierungsleitbilder als machtvolle Machbarkeitsprojektionen Bei Rationalisierungsleitbildern handelt es sich, so sei der Eingangssatz dieses Beitrags nun vervollstndigt, nicht um beliebige, sondern um wissenschaftlich sanktionierte Thematisierungsweisen von Zukunft, die aus der Rationalisierung selber hervorgehen. Die Tatsache, dass Rationalisierungsleitbilder wissenschaftlich sanktioniert sind, ist fr SoziologInnen nicht verblffend. Schließlich fußt die Rationalisierung auf der abendlndischen Entwicklung von Wissenschaft und Technologie (Weber 1973, 317) und lsst sie sich von ihrer Genese her betrachtet als
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Formalisierung und Verwissenschaftlichung der Kapitalverwertung begreifen4. Von dieser Verwissenschaftlichung ‚profitieren’ auch Rationalisierungsleitbilder. Im Rahmen des rationalisierungseigenen Verstndnisses von „Wissenschaft als Methode“ und der fr die Rationalisierung typischen Hherbewertung des Expertenwissens gegenber vor allem auch dem Erfahrungswissen (Siegel 1993, 370) markieren sie ‚rationale‘, also ‚objektiv‘ begrndete und nachvollziehbare Wege in die Zukunft. Wenngleich ihre wissenschaftliche Sanktionierung somit fr die Frage nach ihrer Wirkmchtigkeit vermutlich nicht belanglos ist, will ich ihre Betrachtung dennoch nicht vertiefen. Ausbuchstabieren mchte ich stattdessen die darber hinausgehenden Implikationen meiner obigen Feststellung, dass Rationalisierungsleitbilder aus der Rationalisierung selber hervorgehen. Die eingangs beispielhaft angefhrten Rationalisierungsleitbilder – die menschenleere Fabrik, die schlanke Produktion, das multikulturelle Unternehmen – entstammen wie schon gesagt Großunternehmen aus den konomischen Kernsektoren, welche auch historisch betrachtet Vorreiter der Rationalisierung waren und sind. Sie wurden, werden die Industrielandschaft insgesamt und das Geflle etwa zwischen Großund Kleinbetrieben oder konomisch zentralen und peripheren Sektoren bedacht, im top-down-Verfahren und, was die kollektiven und korporativen Akteure anbelangt, im wahrsten Sinne des Wortes, mit Macht, in den gesellschaftlichen Diskurs eingespeist. Dies ist im Hinblick auf ihre Wirkmchtigkeit beachtenswert. Sie lsst sich allerdings nicht daraus ableiten und zwar aus zwei Grnden nicht: Zum einen sind der gesellschaftliche Diskurs im weiteren und der Rationalisierungsdiskurs im engeren ebenfalls fr konkurrierende Vorstellungen zur zuknftigen Rationalisierung, aber auch fr bottom-up-Verfahren und fr gnzlich andere Visionen zur gesellschaftlichen Entwicklung zugnglich. Solche ganz anderen Vorstellungen sind dabei nicht nur virulent, sondern sie werden teilweise auch in rationalisierungskonformer Weise aufgegriffen und umgeformt. Ein Beispiel hierfr ist der Frauenfrdergedanke: Der Frauenbewegung entstammend und auf die Gleichstellung der Geschlechter zielend ist in Unternehmen nicht nur versucht worden, ihn der „betrieblichen Modernisierungspolitik unter(zu)ordnen, nachdem Konflikte mit gleichstellungspolitischen Zielen von Frauenfrderung allzu deutlich geworden waren“, sondern „wird Frauenfrderung jetzt an die Entwicklung von Personalressourcen als wichtiges Element der Modernisierungspolitik in Unternehmen gebunden“. (Schumm 2000, 206 – 207) Ein weiteres Beispiel ist das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung. Es bestimmt in 4
Dies gilt selbstredend nur fr die Rationalisierung in dem Sinne, wie sie hier interessiert: als industriegesellschaftliches Problemverarbeitungsmuster. Bemessen an einem sozialphilosophischen Verstndnis von Rationalisierung, wie es sich bei den modernen Klassikern der Soziologie, etwa Max Weber oder Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, findet, handelt es sich dabei nur um einen „Spezialfall“ (Wupper-Tewes 1995, 35) im Rahmen der rationalen Durchdringung der gesellschaftlichen Traditionsbestnde insgesamt (vgl. Habermas 1981, 299 – 331, 489 – 533).
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seiner ursprnglichen Fassung das Verhltnis von Gesellschaft und Natur neu, verknpft dabei „Natur- und Geschlechterthematik“ und darin wiederum Fragen von kologie, Subsistenzproduktion und Wachstum. In seiner rationalisierungsgemßen Umformung bindet es diese Fragen dann in ein „nachfordistisches Wohlstandsmodell“ (vgl. Grg 1995, 184 – 192) ein, in dem sich das kapitalistische Wachstums- und Effizienzstreben nunmehr auch auf die Bearbeitung der kologischen Krise richtet. Zum anderen darf die Tatsache, dass Rationalisierungsleitbilder mit Macht in den gesellschaftlichen Diskurs eingespeist werden, nicht darber hinweg tuschen, dass damit noch nicht ber die Art und Weise ihrer Rezeption entschieden ist. Es handelt sich eben um einen „Streit um die Leitbilder“ (Roth), in dem ber ihre affirmative und/ oder kritische Rezeption wie die Durchsetzungsfhigkeit der jeweiligen Argumente nicht allein dadurch entschieden wird, wie und mit welchen Ressourcen sie in den Diskurs eingespeist werden. Vielmehr ist ihre Rezeption selber – darauf macht der Ansatz von Meinolf Dierkes, Ute Hoffmann und Lutz Marz (1992) aufmerksam – eine Angelegenheit, die letztlich in Prozessen der Individuation vollzogen wird. Diese individuelle Rezeption und die, im Sinne der AutorInnen, in Kommunikationsprozessen auf den Weg gebrachte kollektive Rezeption von Rationalisierungsleitbildern, lsst sich, was das Verhltnis von Affirmation und Kritik angeht, sicher nicht nach dem Motto: „das Sein bestimmt das Bewusstsein“ aus den ungleichen materiellen und ideellen Ressourcen der individuellen und kollektiven Akteure ableiten. Umgekehrt darf die Ressourcenungleichheit im Hinblick auf die Durchsetzungsfhigkeit der jeweiligen Argumente im Diskurs aber auch nicht vernachlssigt werden. Und so lsst sich, was all diese Momente angeht, zusammenfassend zunchst einmal festhalten, dass Rationalisierungsleitbilder von den Akteuren des Rationalisierungsgeschehens her betrachtet machtvolle, wenngleich umstrittene Projektionen zur zuknftigen gesellschaftlichen Entwicklung sind. Allerdings sind Rationalisierungsleitbilder nicht nur deshalb machtvolle Projektionen, weil sie mit Macht eingebracht werden, sondern auch deshalb, weil es sich bei ihnen um Machbarkeitsprojektionen handelt und zwar in einem anderen Sinne, als Meinolf Dierkes, Ute Hoffmann und Lutz Marz (1992, 44) dies, wie weiter oben ausgefhrt ist, fr Leitbilder der Technikgenese mit diesem Begriff ansprechen. Insofern bernehme ich den Begriff hier zwar, flle ihn aber anders: Machbarkeitsprojektionen sind Rationalisierungsleitbilder deshalb, weil sie aus der Rationalisierung selber hervorgehen und zwar nicht nur, wie dies im Berliner Leitbild-Ansatz zu denken wre, aus der alltglichen Erfahrung mit Rationalisierung, sondern auch aus dem historisch-gesellschaftlichen Prozess der Rationalisierung. In dieser Weise rekurrieren sie auf das Rationalisierungsdenken, auf die Ergebnisse der bis dato vollzogenen Rationalisierungsprozesse, auf bisherige Rationalisierungskonzepte und -methoden und dabei auf ihre Erfolge ebenso wie auf ihr Scheitern. Kurzum: Ihnen wohnt die geschichtliche Erfahrung mit Rationalisierung inne. Außerdem
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nehmen sie, da sie aus der Rationalisierung selber hervorgehen, den von ihr mithervorgebrachten Status quo der gesellschaftlichen Entwicklung auf. So befand sich beispielsweise in den achtziger und neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts der „Mensch im Mittelpunkt“ der Rationalisierung beziehungsweise konnte die IG Metall, von der dieser Slogan stammt, eine auf den Menschen und seine Belange fokussierte Betrachtungsweise einfordern, nachdem und weil sich die ‚Geisterschichten‘ der menschenleeren Fabrik als Flop erwiesen hatten (vgl. auch: Fiedler/Regenhard 1991). Und so geht es erst heute, im Zusammenhang mit einem global agierenden und mobilen Management um Wege ins multikulturelle Unternehmen, whrend eine solche Vision, zumal in dieser positiven Konnotation kultureller Verschiedenheit in der Bundesrepublik Deutschland der sechziger Jahren und somit zum Zeitpunkt des grßten Gastarbeiterzuzugs, wie dies damals hieß, schlicht undenkbar gewesen wre. Dass Rationalisierungsleitbilder Machbarkeitsprojektionen sind, heißt, wie an diesen Beispielen schon deutlich wird, also nicht, das Alles beim Alten bleibt. Vielmehr geht es gerade darum, die bislang beschrittenen Rationalisierungspfade neuen gesellschaftlichen, nicht zuletzt in der Rationalisierung selber hervorgebrachten Erfordernissen anzupassen, aber nicht als Bruch mit der Rationalisierung, sondern in ‚adquater‘ Vernderung und Fortfhrung des Rationalisierungsdenkens wie der Rationalisierungskonzepte und -methoden. Mit diesem Standbein im mehr oder minder ‚Bewhrten’ und davon ausgehend mit ihrer Orientierung am ‚Machbaren‘ reprsentieren sie – unter gegebenen gesellschaftlichen Verhltnissen – realittsbezogene Wege in die Zukunft und keine unrealistischen Wunschvorstellungen. Ihre Visionen bewegen sich im Gleichklang mit den gewachsenen Strukturen und Verhltnissen. Insofern verfgen Rationalisierungsleitbilder zustzlich dazu, dass sie mit Macht in den gesellschaftlichen Diskurs eingespeist werden, auch aus sich heraus ber „Realittsvorteile“, wie ich mit einer begrifflichen Anleihe bei Oskar Negt (1985, 1005) formulieren will, in der Konkurrenz der Vorstellungen und Visionen. Beides zusammen bietet eine Erklrung fr ihre Dominanz im gesellschaftlichen Diskurs um die Ausgestaltung der Produktions-, Arbeits- und Lebensverhltnisse. Wege in die Zukunft zeigen Rationalisierungsleitbilder, und damit komme ich auf Meinolf Dierkes’, Ute Hoffmanns und Lutz Marz’ (1992, 42 ff., 54 ff.) Thematisierung der „Leit-“ und „Bildfunktion“ von Leitbildern zurck, in paradigmatischer Weise auf. Indem sie Bilder und Begriffe zur Verfgung stellen, machen sie das Rationalisierungsgeschehen im Vorgriff auf die Zukunft zwischen den verschiedenen Akteuren und den verschiedenen „Wissens-Kulturen“ verhandlungsfhig. Sie
5
Oskar Negt (1985, 100) selber verwendet diesen Begriff im Kontext von Arbeitszeitfragen; er beschreibt damit den Vorteil, den unternehmerische Strategien zur Arbeitszeitflexibilisierung in ihrer partiellen Deckungsgleichheit mit individuellen Belangen der Beschftigten gegenber den kollektiven Arbeitszeitmodellen haben, wie sie gewerkschaftlicherseits ins Gesprch gebracht werden.
Rationalisierungsleitbilder – wirkmchtig, weil machtvoll und machbar
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greifen ganz im Sinne des Berliner Leitbildansatzes zu einem Zeitpunkt, zu dem entsprechende Verfahren, Regeln oder Arrangements noch nicht existieren, und bereiten, mehr noch, ihrer Aushandlung den Weg. Dies tun sie, wie ich hier weiterhin in Anlehnung an Meinolf Dierkes, Ute Hoffmann und Lutz Marz (1992, 42 ff., 54 ff.), aber mit Blick nicht nur auf die individuelle Rezeption von Leitbildern sagen will, indem sie Wahrnehmungen und Bewertungen, wie sie in den verschiedenen „Wissens-Kulturen“ virulent sind, auf ein gemeinsames „Richtungsfeld“ hin bndeln (vgl. Dierkes/Hoffmann/Marz 1992, 42 ff., 54 ff.) und der Auseinandersetzung um die zuknftige Ausgestaltung von Produktions-, Arbeits- und Lebensverhltnissen damit ihre Kontur verleihen. In dieser Weise definieren sie mit, was als verhandlungsfhig gilt und was nicht und wer Gehr findet und wer nicht. Die Wirkmchtigkeit von Rationalisierungsleitbildern besteht, so lsst sich nun zusammenfassen, vor allem darin, dass sie der gesellschaftlichen Auseinandersetzung um die Ausgestaltung von Produktions-, Arbeits- und Lebensverhltnissen, was ihre Inhalte und die Beteiligten angeht, Richtung und Kontur verleihen. Ermglicht wird dies durch all die genannten Elemente zusammen, die Macht, mit der Rationalisierungsleitbilder in den Diskurs eingespeist werden, die ihnen eigenen „Realittsvorteile“ (Negt 1985) und ihre Fhigkeit, Zukunft verhandelbar zu machen. Warum manche Rationalisierungsleitbilder dabei im Zentrum stehen, andere eher am Rande Beachtung finden, die einen langlebig sind, den anderen hingegen eine nur kurze Konjunktur beschert ist, lsst sich mit Blick auf diese Elemente allein und je fr sich aber nicht ohne weiteres erklren. Hierzu wren sie zum einen in ihren Mischungsverhltnissen in den Blick zu nehmen. Dies ist aber nur im Einzelfall mglich und wre ein anderer Aufsatz. Zum anderen wren weitere Elemente mit in Betracht zu ziehen. So drngt sich im Rahmen des vorliegenden Sammelbandes zwar die Frage nach der Beschaffenheit der Begriffe und Bilder, die von Rationalisierungsleitbildern bereit gestellt werden, und nach dem Einfluss, die ihre Qualitt auf den Rationalisierungsdiskurs und die Rationalisierungspraxis hat, geradezu auf; Antworten darauf lassen sich wohl aber erst unter Einsatz linguistischer und soziologischer Kompetenzen im Rahmen interdisziplinrer Forschungen gewinnen.
Literatur Aulenbacher, Brigitte (1995): Das verborgene Geschlecht der Rationalisierung. Zur Bedeutung von Rationalisierungsleitbildern fr die industrielle und technische Entwicklung. In: Aulenbacher, Brigitte/Siegel, Tilla (Hg.): Diese Welt wird vllig anders sein. Denkmuster der Rationalisierung. Pfaffenweiler: Centaurus. 121 – 138.
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Brigitte Aulenbacher
Aulenbacher, Brigitte/Siegel, Tilla (Hg.) (1995): Diese Welt wird vllig anders sein. Denkmuster der Rationalisierung. Pfaffenweiler: Centaurus. Becker-Schmidt, Regina (1989): Technik und Sozialisation. Sozialpsychologische und kulturanthropologische Notizen zur Technikentwicklung. In: Becker, Dietmar/Becker-Schmidt, Regina/Wacker, Ali: Zeitbilder der Technik. Essays zur Geschichte von Arbeit und Technologie. Bonn: Dietz. 17 – 74. Becker-Schmidt, Regina (1992): Verdrngung Rationalisierung Ideologie, Geschlechterdifferenz und Unbewußtes, Geschlechterverhltnis und Gesellschaft. In: Knapp, Gudrun-Axeli/Wetterer, Angelika (Hg.): Traditionen Brche. Entwicklungen feministischer Theorie. Freiburg: Kore. 65 – 113. Brdner, Peter (1985): Fabrik 2000. Alternative Entwicklungspfade in die Zukunft der Fabrik. Berlin: edition sigma. Dierkes, Meinolf/Hoffmann, Ute/Marz, Lutz (1992): Leitbild und Technik. Zur Entstehung und Steuerung technischer Innovationen. Berlin: edition sigma. Dierkes, Meinolf/Hoffmann, Ute (Eds.) (1992): New technology at the outset: social forces in the shaping of technological innovations. Frankfurt a. M./New York: Campus. Fiedler, Angela/Regenhard, Ulla (1991): Mit CIM in die Fabrik der Zukunft? Probleme und Erfahrungen. Opladen: Westdeutscher Verlag. Grg, Christoph (1996): Sustainable Development – Blaupause fr einen „kologischen Kapitalismus“?. In: Brentel, Helmut/Grg, Christoph/Reusswig, Fritz (Hg.): Gegenstze, Elemente kritischer Theorie. Frankfurt/New York: Campus. Habermas, Jrgen (1981): Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bde. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Negt, Oskar (1985): Lebendige Arbeit, enteignete Zeit. Politische und kulturelle Dimensionen des Kampfes um die Arbeitszeit. Frankfurt/New York: Campus. Rothe, Isabel (1997): Rationalization and Workplace Interest Politics. Examples of the Dynamic of Organizational Change. In: Aulenbacher, Brigitte/Siegel, Tilla (Hg.): The New Spirit of Efficiency, International Journal of Political Economy. Vol.25, No.4, Winter 1995 – 96. Armonk/New York: M.E. Sharpe. 38 – 64. Reese, Dagmar/Rosenhaft, Eve/Sachse, Carola/Siegel, Tilla (Hg.) (1993): Rationale Beziehungen? Geschlechterverhltnisse im Rationalisierungsprozeß. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Schumm, Wilhelm (2000), Geschlechterpolitik im Unternehmen. Analysen zur betrieblichen Frauenfrderung in der Bundesrepublik. Frankfurt/New York: Campus. Siegel, Tilla (1993): Das ist nur rational. Ein Essay zur Logik der sozialen Rationalisierung. In: Reese, Dagmar/Rosenhaft, Eve/Sachse, Carola/Siegel, Tilla (Hg.): Rationale Beziehungen? Geschlechterverhltnisse im Rationalisierungsprozeß. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 363 – 396.
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Tokunaga, Shigeyoshi/Altmann, Norbert/Demes, Helmut (Hg.) (1992): New Impacts on Industrial Relations. Internationalization and Changing Production Strategies. Mnchen: Iudicium. Weber, Max (1973): Universalgeschichtliche Analysen. Politik. Stuttgart: Krner. Womack, James/Jones, Daniel T./Roos, Daniel (1991): Die zweite Revolution in der Autoindustrie, Konsequenzen aus der weltweiten Studie des Massachusetts Institute of Technology. Frankfurt/New York: Campus. Wupper-Tewes, Hans (1995): Rationalisierung als Normalisierung, Betriebswissenschaft und betriebliche Leistungspolitik in der Weimarer Republik. Mnster.
Josef Klein
Universitt als Unternehmen „Unternehmen Hochschule – Hochschule unternehmen“,1 „Unternehmen Hochschule“,2 „Auf dem Weg zur unternehmerischen Hochschule“3 – das sind Konferenz- und Beitragstitel, wie man sie in den letzten Jahren gehuft findet. Mit dem Leitwort „Unternehmen“ ist eine Modellvorstellung (‚kognitives Modell‘) indiziert, die auch hinter typischen Titelvokabeln wie „Benchmarking“, „Wettbewerb“, „betriebswirtschaftliches Steuerungsmodell“ u. . steht. Beim von der Hanns Martin Schleyer-Stiftung, der Heinz Nixdorf Stiftung und der Technischen Universitt Mnchen veranstalteten Symposium „Wie gestaltet man Spitzenuniversitten?“, wo sich fhrende Hochschulpolitiker und Universittsvertreter mit hochrangigen Reprsentanten der Wirtschaft trafen, unternahm Utz-Hellmuth Felcht, Vorstandsvorsitzender von „Degussa“ sogar den – aus meiner Sicht allerdings wenig gelungenen – Versuch, unter den Kategorien ‚Ziele‘, ‚Nutzen‘ und ‚Wertgeneratoren‘ eine vollstndige Analogie zwischen Wirtschaftsunternehmen und Universitt durchzubuchstabieren.4 Aus linguistischer Perspektive fllt hier dreierlei auf: – in pragmatischer Hinsicht der Schlagwortcharakter der eingangs genannten Titelvokabeln, – in kognitiv-semantischer Hinsicht ein Einzelwort-Metaphern bergreifendes und integrierendes ‚kognitives Modell‘, – in diachronischer Hinsicht der Einblick in einen aktuellen semantischen – damit konzeptuellen, damit politischen – Kampf um Leitbild und knftige Realitt der Universitt. (Demgegenber sind in den klassischen Arbeiten von Lakoff/Johnson (1980), Lakoff (1987) und in germanistisch-linguistischen Arbeiten in dieser Tradition wie Liebert (1992) oder Klein (2002a, 2002b) durchweg etablierte, nicht mehr umkmpfte Metaphernnetze thematisiert worden.) Wre die Konzeptualisierung der Zieldomne Hochschule nach dem Modell der Herkunftsdomne privatwirtschaftliches Unternehmen schon als Selbstverstndlichkeit etabliert, wrden sich die Leitwrter dieses Modells kaum als Aufmerksamkeit heischende Titelvokabeln fr Kongresse, Vortrge und Public Relations-Texte 1 2 3 4
CHE-Symposium, 3./4. Febr. 2000 Bonn. Symposium an der Universitt Wien im Rahmen der ‚Informatik 2001’. Beitrag in der Broschre „special. Wissenschaftsmanagement“ der Universitt Mainz aus Anlass der Verleihung des Titels „best-practice-Hochschule 2002“. Vgl.: Melzer, Arnulf/Casper, Gerhard (Hg.): Wie gestaltet man Spitzenuniversitten? Antworten auf internationale Herausforderungen, Kln 2001. 153 – 161.
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Josef Klein
Universität als Unternehmen Wissenschafts-/Bildungsmarkt (global, international)
Dienstleistungsunternehmen
Wettbewerb
Wissenstransfer
Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit
Bedienung des Arbeitsmarktes wissenschaftlich ausgebildeter ArbeitsKräfte
Effizienzsteigerung Leitung als Hochschulmanagement
Ausgründungen Qualitätsmanagement Qualitätssicherung
Evaluation
Qualitätsverbesserung
Zielvereinbarungen
Qualitätskontrolle Optimierung der Kosten-Leistungs-Relation Kaufmännische Buchführung Controlling Personalentwicklung Kostensenkung
Outsourcing
Universität als Anbieter und Standortfaktor Kundenorientierung
Hochschulmarketing
Profilbildung
Corporate Identity
Benchmarking Finanzierung (über staatliche und Drittmittel hinaus) Studiengebühren Sponsoring Fundraising Public-private-partnership Stiftungsprofessuren Strategische Allianzen Abbildung 1: konomisch inspiriertes „Leitbild“
eignen. In der Typologie der Schlagwrter gehren Formulierungen wie „Unternehmen Universitt“ oder „unternehmerische Universitt“ zu den ‚Programmwrtern‘,5 und sie begegnen uns dementsprechend vornehmlich in programmatisch ausgerichteten ‚Reform‘-Diskursen. Es wird benannt, was grßtenteils 5
Vgl. Armin Burkhardt, Politolinguistik, Versuch einer Ortsbestimmung, in: Josef Klein/Hajo Diekmannshenke (Hrsg.), Sprachstrategien und Dialogblockaden, Berlin/New York 1996, S. 92.
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Universitt als Unternehmen
Wissenschaft als Suche
(Wissenschaft als Weg der
nach Erkenntnis/Wahrheit
höchsten Bildung der Persönlichkeit)
(in Distanz zur Welt der „Nützlichkeiten“) Einheit von Forschung und Lehre Unabhängigkeit von
Universität als
Forschung und Lehre
Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden
Autonomie der Universität Abbildung 2: Traditionelles (an Humboldt orientiertes) „Leitbild“ der Universitt
(noch) nicht realisiert ist. In solchen Diskursen wird das realittsgestaltende Potenzial von Sprache deutlich: Es ist die Attraktivitt sowohl des Modells auf der kognitiven Ebene als auch der deontischen und konnotativen Suggestion der Leitvokabeln dieses Modells, die die von den Promotoren erhoffte Realisierung krftig befrdern soll. Schaut man nun in die Texte, und nicht nur auf die Titelvokabeln dieses Hochschulreformdiskurses, so stßt man auf einen umfangreichen Bestand hochfrequent verwendeter Wrter, die in der Mehrzahl weniger als Schlagwrter denn als diskursspezifische Fachvokabeln fungieren und die zusammengenommen eine komplexe, durch Implikationsbeziehungen vernetzte Lexemstruktur zur Reprsentation eines Leitbildes von knftiger Universitt bilden (vgl. Abb. 1), z. B.: der „internationale/ globale Wissenschafts-/Bildungsmarkt“ impliziert „Wettbewerb“, Teilnahme an diesem verstrkten „Wettbewerb“ impliziert „Verbesserung der Wettbewerbsfhigkeit“, was wiederum „Effizienzsteigerung“, ein Verstndnis von Universitt als „Anbieter und Standortfaktor“ sowie „Benchmarking“ impliziert etc.
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Josef Klein
Um schlaglichtartig deutlich zu machen, welche Distanzen zwischen Konzepten von Universitt herrschen, sei hier auch das an Humboldt orientierte Konzept dagegengestellt – ohne dass dies im Folgenden weiter thematisiert werden soll. In Abb. 2 ist das Humboldtsche Modell dargestellt; in Klammern gesetzt sind Elemente, die Humboldt selbst fr wichtig hielt, die spter aber auch in dem an Humboldt orientierten Universittsverstndnis kaum eine oder gar keine Rolle spielten. Metaphern beleuchten ihre Referenzobjekte perspektivisch. Sie heben bestimmte Aspekte hervor, andere treten in den Hintergrund. Lakoff/Johnson (1980) przisieren dieses bei der Einzelwort-Metapher seit je bekannte Phnomen fr die metaphorische Beziehung zwischen multilexemisch reprsentierten umfassenderen Konzepten, indem sie darauf hinweisen, dass die Herkunftskonzepte die Zielkonzepte immer nur partiell strukturieren. Eine Ahnung dessen steckt hinter der Redensart: Vergleiche hinken. Wo hinkt beim Kampf um das Leitbild der Vergleich zwischen der knftigen Universitt und Unternehmen? Die hier vertretene These ist: Sofern die Universitt ihrer Kernfunktion als wichtigste unabhngige Institution zur Generierung wissenschaftlicher Erkenntnis (Forschung) und zu deren Weitergabe (Lehre) mit breitem Zugang fr die dazu geeigneten Gesellschaftsmitglieder gerecht werden soll, ist der Vergleich in entscheidenden Punkten irrefhrend. In dreierlei Hinsicht divergieren Unternehmenskonzept und das in Abb. 1 reprsentierte Universittskonzept: 1. Zentrale Begriffe des konomischen Modells (Herkunftsdomne) fehlen bezeichnender Weise im Lexemkomplex fr die moderne Universitt. Traditionell formuliert: Sie entziehen sich der Transposition in die Zieldomne Universitt. Vor allem der betriebswirtschaftliche Zentralbegriff des „Gewinns“ und damit die Zielgrße aller Unternehmensaktivitten in der Marktwirtschaft, fehlt im konomisch inspirierten Hochschulreformdiskurs – und das aus gutem Grund: Es gibt kein ernsthaft diskutiertes Reformmodell, das im betriebswirtschaftlichen Sinn auf Gewinnmaximierung orientiert ist. Dass die gesamte Volkswirtschaft von guter universitrer Lehre und Forschung einen Gewinn habe, lsst sich hin und wieder lesen oder hren – aber dabei handelt es sich um die alltagssprachliche Verwendung von „Gewinn“ und nicht um die hier in Rede stehende Verwendung im Rahmen der wirtschaftswissenschaftlichen Fachsprache. 2. Auch der konomisch inspirierte Hochschulreformdiskurs kommt nicht umhin, an zentraler Stelle Begriffe zu verwenden, die nicht dem betriebswirtschaftlichen Fachdiskurs entstammen. Das gilt vor allem fr den Bereich „Finanzierung“. Es ist kein Versehen, dass in Abb. 1 kein Implikationspfeil von der betriebswirtschaftlichen Implikationskette „...markt fi Wettbewerb fi Verbesserung der Wettbewerbsfhigkeit fi ...Benchmarking“) zum Begriff „Finanzierung“ fhrt. Denn die als Mittel der Hochschulfinanzierung empfohlenen Instrumente
Universitt als Unternehmen
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(„Studiengebhren“, „Sponsoring“, „Fundraising“, „Public-private-partnership“) haben zwar berwiegend die Konnotation von Wirtschaftsnhe – aber keiner dieser Begriffe hat einen Platz im Konzept der Finanzierung privatwirtschaftlicher Unternehmen. 3. Manche aus dem Unternehmensmodell stammende Lexeme bereiten unter dem Aspekt der Angemessenheit erhebliche Probleme, wenn man in der Zieldomne Universitt nach geeigneten Bezugsgrßen (Referenzobjekten) sucht. So bei den Zentralbegriffen „Wettbewerb“ und „Kunde“/„Kundenorientierung“: In der Wirtschaft stehen Unternehmen miteinander im Wettbewerb. In Lehre und Forschung sind es jedoch primr Subinstitutionen, nmlich Institute oder Fachbereiche, die in ihrer jeweiligen Disziplin mit Instituten oder Fachbereichen anderer Hochschulen im Wettbewerb stehen – und nur in einem sehr abgeleiteten Sinne konkurriert die eine Universitt als Gesamtheit mit anderen Universitten als Gesamtheit. Das gilt zumindest fr die deutschen Universitten, wo es anders als etwa in den USA keine Unterschiede in der Bezahlung des wissenschaftlichen Personals von Universitt zu Universitt gibt. hnliches gilt fr den Begriff der „Kundenorientierung“. Wer sind die „Kunden“ der Universitt? Mal liest man, es seien die Studierenden, mal die Wirtschaft, mal der Arbeitsmarkt, mal die Gesellschaft. Hlt man sich dies alles vor Augen, so zeigt sich: Die Strukturierung der Zieldomne Universitt durch die Herkunftsdomne Unternehmen ist – bezogen auf den lexematischen Hauptbestand des unter dem Schlagwort „Universitt als Unternehmen“ laufenden Teils des Hochschulreformdiskurses – sehr fragmentarisch. Das fhrt zu zwei Fragen: 1. Worin besteht, bei aller Fragmentaritt, die Schnittmenge zwischen Unternehmenskonzept und Universittskonzept? 2. Was verleiht diesem Konzeptualisierungsversuch trotz seiner Fragmentaritt seine suggestive Kraft?
An anderer Stelle (Klein 2002a, 2002b) habe ich ihm Rahmen frametheoretisch orientierter Metaphernanalysen fr solche Schnittmengen den Begriff des ‚Brckenframe‘ eingefhrt. Aus Zeit- und Platzgrnden wird hier auf die frametheoretische Analyse verzichtet. Brckenframes sind – etwas vereinfacht ausgedrckt – im Bereich multilexemischer Metaphernfelder (oder Metaphernnetze) die Entsprechung zum (kognitivistisch reformulierten) „tertium comparationis“ der Einwortmetapher. Es drngt sich auf, dass die Schnittmenge bzw. das tertium comparationis zwischen betriebswirtschaftlichem Unternehmensmodell und dem Universittsmodell des Hochschulreformdiskurses in einem – unscharf gefassten – Konzept von Rationalisierung und Effizienz besteht (vgl. Siegel, 2003). Damit stehen wir auch schon vor der Beant-
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Josef Klein
wortung der zweiten Frage: Warum ist es das Unternehmensmodell und kein anderes Modell von Rationalisierung und Effizienz, das im Hochschulreformdiskurs so große suggestive Kraft entfaltet? Zur genauen Beantwortung dieser Frage wre erhebliche empirische Forschung notwendig, die hier nicht geleistet werden kann. Dennoch erlaube ich mir am Ende eine vielleicht etwas spekulative Antwort: Kein anderes Modell hat mit dem globalen Siegeszug der Privatwirtschaft soviel politischen, konomischen und medialen Rckenwind wie das Modell des Unternehmens im marktwirtschaftlichen Rahmen. Es wird vor allem auch von denen forciert, die es als ihr eigenes erleben: die Vertreter der (Privat-)Wirtschaft, deren Nhe die Universitten in Zeiten knappster ffentlicher Kassen verstrkt suchen und die ihrerseits im Zeichen einer entstehenden „Wissensgesellschaft“ die Nhe der Wissenschaft suchen. Aber gerade wenn man – wie der Autor dieses Beitrages – als Verantwortlicher in der Leitung einer Universitt die Kooperation mit der Wirtschaft fr unverzichtbar hlt, ist es um so wichtiger, einer unangemessenen rhetorisch-konzeptuellen Vermischung von Domnen entgegenzutreten, die als gesellschaftliche Subsysteme am besten und – bezogen auf ihre unterschiedlichen Funktionen – am effizientesten wirken, wenn sie nach der Logik ihrer je eigenen Aufgabenstellungen arbeiten – und das ist in der Domne Universitt die Aufgabe in mglichster Unabhngigkeit des Geistes Wahrheit und Erkenntnis zu gewinnen. Privatwirtschaftlich organisierte Unternehmen haben andere Aufgaben.
Literatur Armin Burkhardt (1996): Politolinguistik. Versuch einer Ortsbestimmung. In: Klein, Josef/Diekmannshenke, Hajo (Hg.): Sprachstrategien und Dialogblockaden. Berlin/New York.75 – 101. Klein, Josef (2002a): Metapherntheorie und Frametheorie. In: Pohl, Inge (Hg.): Prozesse der Bedeutungskonstruktion. Frankfurt a. M. u. a.. 179 – 185. Klein, Josef (2002b): ‚Weg‘ und ‚Bewegung‘. Metaphorische Konzepte im politischen Sprachgebrauch und ein frame-theoretischer Reprsentationsvorschlag. In: Panagl, Oswald/Strmer, Horst (Hg.): Politische Konzepte und verbale Strategien. Frankfurt a.M. u. a.. 221 – 235. George Lakoff (1987): Women, Fire, and Dangerous Things. What Categories Reveal About the Mind. Chicago/London. George Lakoff/Mark Johnson (1980): Metaphors we live by, Chicago, London. Liebert, Wolf-Andreas (1992): Metaphernbereiche der deutschen Alltagssprache. Kognitive Linguistik und die Perspektiven einer kognitiven Lexikographie. Frankfurt a.M. Siegel, Tilla (2003): Denkmuster der Rationalisierung. Ein soziologischer Blick auf Selbstverstndlichkeiten. In diesem Band.
Nicole Hroch
Metaphern von Unternehmern 1. Einleitung Am Anfang einer jeden unternehmerischen Ttigkeit steht eine Vision, in der ein zuknftiges Bild der Unternehmung entworfen wird. Diese ist individuell geprgt und resultiert aus den subjektiven Vorstellungen der jeweiligen Fhrungspersnlichkeit (vgl. Hinterhuber 1992; Matje 1996). Weiterhin vertreten einige Organisationsforscher die Meinung, dass diese Visionen und Vorstellungen des Unternehmers den unternehmerischen Alltag prgen (vgl. z. B. Henzler 1988; Bonsen 1989; Bleicher, 1994). Einen Einblick in die zugrunde liegenden Vorstellungen des Unternehmers kann die Analyse des metaphorischen Sprachgebrauchs liefern, denn Metaphern sind wichtiger Bestandteil unserer Sprache und liefern Hinweise auf unser konzeptuelles System (vgl. Lakoff/Johnson 1980). Daraus resultiert die dem Beitrag zugrunde liegende Forschungshypothese, dass der metaphorische Sprachgebrauch von Unternehmern einen Einfluss auf das unternehmerische Handeln besitzt. Zur berprfung dieser These wird zum einen der metaphorische Sprachgebrauch von Unternehmern analysiert und zum anderen untersucht, inwieweit sich Parallelen zwischen den Metaphernkonzepten des Unternehmers und den empirischen Hinweisen auf den Unternehmensalltag, wie beispielsweise Beobachtungen und Beschreibungen der betrieblichen Ablufe, ergeben. Der Gedanke, dass sich im metaphorischen Sprachgebrauch von Unternehmern deren Vorstellungen widerspiegeln, ist nicht neu. Bereits John Joseph Clancy analysiert in seiner Arbeit ‚The Invisible Powers‘ (1989) die Metaphorik von Unternehmern. Als Materialien zieht er Autobiographien, Reden und verffentlichte Interviews mit Personen, die ein Unternehmen gegrndet und/oder geleitet haben, heran. Seiner Ansicht nach spiegeln die verwendeten Metaphern auf der einen Seite die gesellschaftlichen Umstnde wider. Auf der anderen Seite prgen sie die Gedanken und Handlungen der Unternehmer. „My principal assumption, based on the idea that metaphor shapes thought, is that the metaphorical usage of business leaders is both a reflection and a prime determinant of their intellectual frame-work and, hence, their action.“ (Clancy 1989, 28 f.)
Wie auch Clancy untersucht der vorliegende Beitrag die Metaphorik von Unternehmern. ber die reine Analyse der Metaphern hinaus wird jedoch zudem nach Parallelen zu weiteren Informationen zu der Person bzw. des Unternehmens gefragt.
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Nicole Hroch
2. Untersuchungsdesign Die Basis der Untersuchung bilden, vergleichbar mit dem Material von John Clancy, Selbstausknfte von Unternehmern. Es handelt sich dabei um Interviews,1 die im Rahmen einer Untersuchung zum Stand und Entwicklung des Umweltmanagements2 im Unternehmen durchgefhrt wurden. Dieses Interviewmaterial wurden in einem ersten Schritt einer Metaphernanalyse3 unterzogen. Ziel der Metaphernanalyse ist es, die einzelnen metaphorischen ußerungen auf der sprachlichen Ebene bergeordneten, gesamthaften Konzepten zuzuordnen (vgl. Wiedemann, 1986; Schmitt, 1996). Die extrahierten Metaphern wurden in einem mehrstufigen Auswertungsverfahren zu Gruppen zusammengefasst, um die tiefer liegenden Grundstrukturen des jeweiligen Sprachgebrauchs zu ermitteln. Dabei zeigte sich, dass die Interviewpartner zur Beschreibung des jeweiligen Unternehmens und des eingesetzten Umweltmanagements unterschiedliche Herkunftsbereiche herangezogen haben. Um zu den im ausgewerteten Material zentralen Metaphernkonzepten zu gelangen, wurde anhand folgender Kriterien eine Auswahl getroffen: – Wiederholung des metaphorischen Konzeptes, d. h. die Hufigkeit, mit der Metaphern in dem Interview genannt und dem gleichen Konzept (z. B. ‚Das Unternehmen ist ein Organismus‘) zugeordnet werden knnen, – Ausarbeitung des metaphorischen Konzeptes, d. h. ob das Metaphernkonzept vom Interviewpartner besonders detailliert ausgefhrt wird (vgl. Steger 2001). Fr die mithilfe der Metaphernanalyse und den angelegten Kriterien identifizierten Metaphernkonzepte erfolgte in einem zweiten Schritt der Abgleich mit zustzlichen Daten zu dem jeweiligen Interviewpartner bzw. dem jeweiligen Unternehmen. Folgendes Material wurde dazu herangezogen: • Nicht-metaphorische Aussagen des Interviewpartners • Beobachtungen whrend des Interviews • Biographische Daten des Interviewpartners
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Insgesamt wurden 38 Umweltverantwortliche in der Schweiz und in Deutschland befragt. Das Projekt wurde mit der finanziellen Untersttzung der Stiftung Gesellschaft-Mensch-Umwelt (MGU) der Universitt Basel durchgefhrt. Die Gesamtleitung oblag Herrn Dr. H. Caviola, das Teilprojekt „konomie“ wurde von Herrn Prof. Dr. S. Schaltegger, Center for Sustainability Management (CSM) e.V. Universitt Lneburg, geleitet. Umweltmanagement kann folgendermaßen definiert werden: „Unter Umweltmanagement werden im deutschsprachigen Raum in der Regeln alle gezielten betriebswirtschaftlichen Aktivitten zur Beeinflussung der Umwelteinwirkungen eines Unternehmens, ihrer Standorte und Betriebe, einer Branche, eines Verbandes oder dergleichen verstanden“ (Schaltegger 2000, 113). Die Vorgehensweise orientiert sich an dem von Schmitt (1997) vorgeschlagenen Ablaufschema der Metaphernanalyse.
Metaphern von Unternehmern
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• Unternehmenskommunikation (z. B. Homepage, Geschfts-, Umweltbericht, Produktinformationen etc. des Unternehmens)
Das Heranziehen dieser zustzlichen Informationen dient der Erweiterung der Materialbasis und ermglicht den Vergleich zum Basismaterial der Interviews. Whrend beispielsweise der Vergleich zwischen dem metaphorischen und dem nichtmetaphorischen Sprachgebrauch des Befragten Aufschluss ber die sprachliche bereinstimmung zwischen den beschriebenen Sachverhalten gibt, knnen die whrend des Interviews gemachten Beobachtungen (z. B. Ausgestaltung der Rumlichkeiten etc.) Erkenntnisse ber die vorherrschende Unternehmenskultur liefern. Biographische Daten vermitteln einen Einblick in die Lebensgeschichte des Interviewpartners und geben Hinweise auf individuelle Erfahrungen und Vorlieben. Ferner wird die meist schriftliche Selbstdarstellung des Unternehmens, wie beispielsweise die unternehmenseigene Homepage, der Geschfts- bzw. Umweltbericht in die Analyse mit einbezogen. Bei der Verwendung und Auswertung des dargestellten Materials stellt sich zum einen die Frage, inwieweit die im Interview getroffenen Aussagen reprsentativ fr die betreffende Person sind. Auch Clancy (1989) war sich bewusst, dass es sich bei der Verwendung sprachlichen Materials von Unternehmern nicht um aufrichtige Aussagen des Autors handeln knnte. Seiner Ansicht nach ist dieser Einwand jedoch nicht in diesem Maße wirksam, da es sich weniger um ungewhnliche oder literarische Metaphern handelt als vielmehr um eine hochgradig konventionelle Metaphorik, wie sie sich auch bei den beiden vorgestellten Einzelfllen zeigt. Nach Clancy wren die genannten Einwnde „... more valid if the metaphors used were exceptional, highly extended, or literary, but in fact, these speakers use such commonplace expressions, as we shall see, that we can be reasonably certain that the metaphors are indicative of the speakers` mental ‚furniture‘.” (Clancy 1989, 29)
Wer sich konventioneller Metaphorik bedient, der ist sich der damit verbundenen Sinn- und Bedeutungsinhalte meist nicht bewusst (vgl. Lakoff/Johnson 1980). Auch Moser nutzt in ihrer Arbeit ‚Metaphern des Selbst‘ (2000) die Analyse von Metaphern zur Selbstbildforschung. Ihrer Ansicht nach ist die Analyse von Metaphern zur Untersuchung kognitiver Modelle gut geeignet, da die Verwendung konventioneller Metaphorik meist unbewusst und daher relativ frei von Selbstprsentationsstrategien ist. Daraus folgt die dieser Untersuchung zugrunde liegenden Annahme, dass die identifizierten metaphorischen Konzepte als Reprsentanten mentaler Strukturen des Interviewpartners4 herangezogen werden knnen. Die Ver4
Einschrnkend muss darauf hingewiesen werden, dass sich die im folgenden angefhrten Metaphernkonzepte vor allem auf die in dem Datenmaterial abgefragten und bewusst fokussierten Be-
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Nicole Hroch
wendung von Metaphern spiegeln zum einen Persnlichkeitsmerkmale des Autors und zum anderen Merkmale der ihn umgebenden Gesellschaft wider (vgl. Straub/ Seitz 1998; Moser 2000).5 Zum anderen ist insbesondere bei den im Interview und in der Unternehmenskommunikation beschriebenen Zielen und Ablufen zu fragen, inwieweit diese der betrieblichen Realitt oder einem Wunschdenken entsprechen, bzw. sogar auf eine bewusste Beeinflussung zielen. Chris Argyris (Argyris/Schn 1978), einer der ersten Forscher auf dem Gebiet der Aktionsforschung, unterscheidet zwischen der vertretenen Theorie („espoused-theory“) und der handlungsleitenden Theorie („theoryin-use“)6. Whrend die espoused-theory die nach außen vertretene Theorie darstellt, die sich hufig in offiziellen Leitbilder und Programmen manifestiert, ist es bei der theory-in-use das tatschliche Verhalten, auf welches beispielsweise anhand von Beobachtungen des Unternehmensalltags geschlossen werden kann (vgl. Argyris/Schn 1978). In Bezug auf die fr die Analyse herangezogene Unternehmenskommunikation ist anzumerken, dass die ffentlichkeitswirksame Kommunikation grßtenteils vom Interviewpartner selbst stammt und somit zumindest hinsichtlich der Reprsentativitt der Vorstellungen und Werte des Interviewpartners mit dem Interviewmaterial vergleichbar ist. Bestehen bleibt jedoch die Mglichkeit, dass die im Interview und in der Unternehmenskommunikation getroffenen Aussagen zwar die Vorstellungen des Interviewpartners jedoch nicht das tatschliche Unternehmensverhalten widerspiegeln. Von daher kann allein anhand der Beschreibungen der Interviewpartner nicht automatisch auf eine handlungsleitende Wirkung der unternehmerischen Metaphernkonzepte geschlossen werden. Nur im Zusammenhang mit weiteren empirischen Daten ist eine Aussage mglich. Im Folgenden wird auf die Ergebnisse der zwei Einzelfallanalysen eingegangen. Bei den Interviewpartnern7 handelt es sich um die Inhaber einer Arztpraxis und eines Handwerksbetriebes. Nach einer einleitenden Vorstellung des Interviewpartners und des Unternehmens werden die von dem Befragten verwendeten Metaphern-
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reiche des Unternehmens und des Umweltmanagements beziehen und von daher nur einen Ausschnitt der Persnlichkeitsstruktur darstellen. Die in diesem Beitrag analysierten Metaphernkonzepte ergeben zwar ein kohrentes Bild, es ist aber nicht auszuschließen, das unter anderen Gesichtspunkten, wie beispielsweise der Betrachtung der Familie andere Konzepte zum Tragen kommen knnen. Nach Schmitt (1997) lsst sich anhand Einzeluntersuchungen die Rolle von Metaphern fr das Denken genauer herausarbeiten. Die Ergebnisse einer spezifischen Fallstruktur ermglichten zum einen den Vergleich mit einer individuellen Metaphorik sowie zum anderen mit einer kollektiven Metaphorik einer grßeren Untersuchungsgruppe. Nach Argyris & Schn (1974) entwickelt und verndert sich die theory-in-use teils bewusst, teils unbewusst aus der espoused-theory (vgl. Seufert 1999). Die Namen der Interviewpartner wurden gendert.
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konzepte sowie deren Zielbereich vorgestellt und anhand einiger markanter Beispiele8 verdeutlicht. An die Darstellung des metaphorischen Konzeptes des Interviewmaterials und der Unternehmenskommunikation schließt sich der Vergleich mit der nicht-metaphorischen Sprache des Interviewpartners sowie den Beobachtungen, Beschreibungen und Hinweisen auf den Unternehmensalltag an.
3. Einzelfallanalyse I 3.1 Vorstellung des Interviewpartners und des Unternehmens Der Interviewpartner Herr Schmitt ist Inhaber der von ihm in den 80er Jahren gegrndeten Praxis. Neben dem Medizinstudium hat Herr Schmitt eine militrische Pilotenausbildung absolviert. Die Fliegerei spielt fr ihn auch als Hobby eine wichtige Rolle. Weiterhin treibt Herr Schmitt gerne Sport in seiner Freizeit. In seiner Praxis sind rund 17 Mitarbeiter9 beschftigt, wobei ein Teil des Personals nach Bedarf eingesetzt wird. Als erstes Unternehmen in der medizinischen Branche ist die Praxis nach unterschiedlichen internationalen Normen, wie der ISO 9001 (Qualittsmanagement) sowie der ISO 14001 (Umweltmanagement10) zertifiziert. Weiterhin hat das Unternehmen ein TQM-System11 eingefhrt. Die Leitung und Organisation dieser Managementsysteme unterliegen Herrn Schmitt persnlich, im Bereich des Umweltmanagements wird er von einer Mitarbeiterin untersttzt.
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Zur Wahrung der Anonymitt werden grßere Textbestandteile lediglich aus dem Interviewmaterial und nicht aus dem weiteren Material angegeben. Zitate aus diesem Interviewmaterial wurden mit dem „I“, sowie der Angabe der betreffenden Frage aus dem Interview als Spezifikation der Angabe versehen. Textstellen aus dem weiteren Informationsmaterial sind mit dem Abkrzungszeichen „WIM“ sowie dem jeweiligen Krzel des Materials gekennzeichnet. Die Liste der Krzel ist am Ende des Beitrages angefgt. Aus Grnden der vereinfachten Lesbarkeit wird im Text ausschließlich die mnnliche Bezeichnung verwendet. Sie schließt jedoch auch die weibliche Bezeichnung mit ein. In der betreffenden Norm wird das Umweltmanagementsystem folgendermaßen definiert: „Ein Umweltmanagementsystem ist der Teil eines gesamten Managementsystems, der die Organisationsstruktur, Planungsttigkeiten, Verantwortlichkeiten, Verhaltens- und Vorgehensweisen fr Verfahren und Mittel fr die Festlegung, Durchfhrung, Verwirklichung, berprfung und Fortfhrung der Umweltpolitik betrifft.“ (ISO 14001, § 3.5). Das „Total Quality Management“-System (TQM) basiert auf der Annahme, dass hhere Qualitt sowohl die Kunden zufrieden stellt, als auch den Nutzen sowohl fr die Mitarbeiter als auch fr die Gesellschaft erhht und somit langfristig den Geschftserfolg der Unternehmung sichert. Der Qualittsbegriff wird in diesem Ansatz umfassend definiert und umfasst neben der Prozess-, Produkt- und Servicequalitt im weiteren auch die Qualitt in Bezug auf die Belange der Mitarbeiter sowie der Gesellschaft (vgl. z. B. Schaltegger et. al. 2002, 113).
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3.2 Sprachanalyse Die Sprache von Herrn Schmitt ist durch eine ausgeprgte Metaphorik gekennzeichnet. Aus dem Interviewmaterial wurden folgende Metaphernkonzepte herausgearbeitet: 1. Das Unternehmen und das Umweltmanagement sind eine Maschine. 2. Das Erreichen von Unternehmenszielen ist Sport. 3. Die Planung und Umsetzung von Prozessen ist ein Kampf. Die Konzepte berschneiden sich teilweise. Zum einen bestehen berschneidungen zwischen der Maschinen und der Kampfmetapher, was aus der historischen Entwicklung heraus zu betrachten ist. Die Sichtweise von Organisation als eine Maschine wurde wesentlich durch die industrielle Revolution im 19. Jh. geprgt. Der Einsatz neuer Maschinentechnik machte neue Organisationsformen notwendig, um den vernderten Bedingungen gerecht zu werden. Viele Ideen und Maßnahmen wurden dabei aus dem militrischen Bereich herangezogen (vgl. Morgan 1986). Zum anderen bestehen berschneidungen zwischen den Konzepten Kampf und Sport, wie schon der Begriff des Wettkampfes nahe legt. In ihrer Untersuchung zur Metaphorik in der Alltagssprache fhrt Baldauf (1997, 228) das Konzept ‚Sport ist Krieg‘ an: „Als Tummelplatz kriegerischer Metaphorik hat sich der Bereich des kompetitiven Sports erwiesen, der die der Kriegs-Konstellation entsprechende polare Grundstruktur erkennen lßt“. Im weiteren Verlauf ihrer Arbeit merkt sie an: „Die weite Verbreitung der Kampfmetaphorik in diesem Bereich ist jedoch auch aufgrund der Tatsache nicht weiter erstaunlich, dass Sport als eine Form des ritualisierten Kampfes angesehen werden kann.“ (1997, 229). Sowohl Kampf als auch der kompetitive Sport ist, in einer Situation des Gegeneinanders, in erster Linie auf das Siegen ausgerichtet. Whrend jedoch der Kampfmetaphorik viel strker das Bild der Niederlage, das bis zur Vernichtung gehen kann, zugrunde liegt, verfgt das Konzept Sport ber deutlich mehr spielerische Aspekte.
3.3 Das Unternehmen und das Umweltmanagement sind eine Maschine 3.3.1 Metaphernauswahl Sowohl das Unternehmen als auch das Umweltmanagement, als ein Teil des TQMSystems, werden vom dem Unternehmensinhaber Herrn Schmitt als Maschine konzeptualisiert. Diese Vorstellung ist vor allem durch klar definierte Ablufe und eine hierarchische Struktur charakterisiert. Wie eingangs erlutert, hatte die industrielle Revolution einen maßgeblichen Einfluss auf die Sichtweise auf Organisationen als
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Maschine. In Anlehnung an die neuen Technologien wurden Ablufe innerhalb eines Unternehmens nach einem festgelegten Plan mit festen Strukturen organisiert. Das Unternehmen selbst wird als rationales System verstanden, das so effizient wie mglich funktionieren soll. Die an die Maschinen gestellten Funktionsanforderungen werden nach diesem neuen Verstndnis auch auf die Mitarbeiter bertragen. Die Rolle der Mitarbeiter kann mit Zahnrdern verglichen werden, ihnen werden bestimmte Aufgabenbereiche und Arbeitsschritte zugeteilt. Das Arbeitstempo und die Arbeitsintensitt sind vorgegeben, damit die Arbeitsvorgnge ‚wie gelt‘ ablaufen (vgl. Morgan 1986). Die von Herrn Schmitt verwendete Maschinenmetapher ist fr die Beschreibung von Unternehmen nicht ungewhnlich (vgl. z. B. Gloor 1987; Jkel 1994; Morgan 1986), auffllig ist jedoch die hufige Wiederholung sowie die Verwendung zahlreicher metaphorischer Ausdrcke, die dieses Konzept in Herrn Schmitts Darstellung des Unternehmens und des TQM-Systems reprsentieren. Das Konzept „Das Unternehmen ist eine Maschine“ kann damit als sehr gut ausgearbeitet angesehen werden. Als eine Untergruppe des Maschinenkonzeptes ist die Fahrzeugmetapher zu betrachten, die von Herrn Schmitt bildhaft als in Form des Flugzeugs sehr gut ausgefhrt wird. Sie findet sich sowohl im Interviewmaterial als auch in den weiteren Materialien in Bezug auf die Unternehmensablufe im Rahmen der Balanced Scorecard12. Das folgende Zitat stammt aus dem Interviewmaterial: • „Als Pilot fhle ich mich als Cockpit-Chart, wie der Pilot im Flugzeug, der die wichtigsten Instrumente im Auge behalte muss. (...) Das sind die wichtigsten Cockpit-Instrumente, daneben gibt es noch die Warnlampen, z. B. den ldruck. Der ist nicht so wichtig fr den Pilot, dass er immer drauf schauen muss, aber wenn er pltzlich ein Problem mit dem ldruck hat, dann hat er ein strategisches Problem. Die Warnlampe mssen wir noch definieren.“ (I:2 – 4) Dieses Bild ist auch beim zustzlich hinzugezogenen Material feststellbar. Neben den bereits im Interview genannten Bildern des Cockpits und des Piloten werden „Flugdaten“ (WIM:H) wie „Flughhe, Geschwindigkeit, Tankfllung und Flugrichtung“ (WIM:H) als weitere Metaphern in der Unternehmenskommunikation angefhrt. Diese Daten mssen „whrend des Fluges“ (WIM:H) stndig berprft werden und falls notwendig frhzeitig korrigiert werden, um „auf dem richtigen Kurs“ (WIM:H) zu bleiben. Auch diese Angaben verdeutlichen die gute Ausfhrung der Maschinenmetaphorik. In Bezug auf die Zielsetzung seines Unternehmens und auch in der Beschreibung von innerbetrieblichen Ablufen sowie der Umweltpolitik verwendet Herr Schmitt 12
Die Balanced Scorecard dient der Umsetzung der Unternehmensstrategie durch die bertragung in operative Grßen ( vgl. z. B. Schaltegger et. al. 2002, 109).
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weitere mechanistische Metaphern, wie die folgenden Beispiele aus dem Interviewmaterial zeigen: • „Im Moment ist konkret Stress das Thema. Das Thema ist sehr komplex, das muss man auseinander nehmen, sogenannte Reflexionen als Tool. Es gibt unterschiedliche Tools, diese Woche ist es das Stresstagebuch. (I:2 – 2)/Oder zum Beispiel das Stressbarometer, Liste mit Anerkennungen, Praxismobil, Stressschulungen. Jeder muss einmal im Monat etwas berprfen (...).“ (I:1 – 1) • „Wir schauen, dass wir wieder auf die Schiene kommen und weiter runter [mit dem Stromverbrauch]13 kommen.“ (I:3 – 2) • „Jedes Jahr gibt es eine große Lagebeurteilung, wo wir das [Umweltpolitik] hinterfragen. Kein 180-Kurswechsel, das ist in der Regel nicht gut, das sind nur Nuancen, 10 – 30 Kurswechsel, vielleicht 1 bis 2 Wrter“ (I:3 – 3) In diesen Zitaten findet sich zum einen die bereits beim Cockpit-Bild erkennbare Instrumentenmetapher wieder. Betont wird mit dieser Metapher vor allem die Mess- und Kontrollierbarkeit der Unternehmensablufe. Das Bild des Barometers bringt dies deutlich zum Ausdruck. Zum anderen ist in den angefhrten Zitaten wiederum die Fahrzeugmetapher auszumachen, in die auch das Bild des Kurses bzw. des Kurswechsels14 einzuordnen ist. Die Fahrzeugmetapher wird auch in der Unternehmenskommunikation bildhaft aufgegriffen. Die Unternehmenshomepage zeigt unter der Rubrik „Jahresmotto“ das Bild eines Schiffes (Eisbrecher), das seinen Weg durch das Eis bahnt (WIM:H). Herr Schmitt vollzieht des weiteren die bertragung des Maschinengedankens auch auf seine Mitarbeiter, die in der Unternehmenskommunikation als „Software“ (WIM:H) betitelt werden. Diese Computermetapher wird daraufhin in Herrn Schmitts Beurteilung weiter ausgefhrt, dass an ein Computersystem bestimmte Anforderungen gestellt und Analysen eingeholt werden knnen, wohingegen Mitarbeiter rein nach dem Gefhl ausgesucht werden und zumeist einen hheren Kostenfaktor darstellen, was im Falle von Fehlentscheidungen zu unkalkulierbar erhhten Kosten fhren kann. Herrn Schmitts Sichtweise ‚Das Unternehmen ist eine Maschine‘ wird ferner durch eine im Interview durchgefhrte Einschtzung des Unternehmens bzw. des Umweltmanagements gesttzt. Dabei sollten die Interviewpartner anhand von vorgegebenen Bildern beurteilen, inwieweit sich diese auf das eigene Unternehmen 13 14
Die Angaben in den eckigen Klammern sind Angaben der Verfasserin, die der Verstndlichkeit der Zitate dienen sollen. Die Metapher des Kurswechsels kann dem von Baldauf (1997, 142) beschriebenen Konzept „Genderte Vorgehensweise ist Orientierungsnderung“, als Unterkategorie des Wegkonzeptes zugeordnet werden. Auf die enge Verbindung der Fahrzeug- mit der Fortbewegungsmetapher weist sie in ihrem Buch ‚Metaphern und Kognition‘ (1997) hin.
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bzw. Umweltmanagement bertragen lassen. Die Auswahl der Bilder basiert auf der von Morgan (1986) in seinem Buch ‚Images of Organization‘ vorgenommen Einteilung.15 Neben der Beurteilung wurden die Interviewpartner ferner gebeten, die von ihnen mit den Bildern verbundenen Gedanken bei der Beurteilung zu ußern. Bei dieser Beurteilung wurde von Herrn Schmitt das Bild der Maschine sowohl fr das Unternehmen als auch fr das Umweltmanagement als passend eingestuft. Folgende Assoziationen verbindet Herr Schmitt mit dem Maschinenbild: • „Eine Maschine, das wre schn, ist aber nicht immer so. Im Moment haben wir zum Beispiel keinen Lehrling. Das ist ein Problem, das wir haben. Die Praxis luft wie ein gut gelte Maschine, alles ist eingespielt. Wenn der Respekt zuwenig ist, muss ich l dazu tun. Der Lehrling ist eines Tages ein eingeschliffenes Zahnrdchen, soll aber vom ersten Tag an mitlaufen. Das gibt gewaltige Probleme. Ich habe den Anspruch, dass ich ausbilde. Ich habe die hchste Produktivitt und viel Stress. Wenn sie [Lehrling] charakterlich nicht stark ist, dann zerbricht sie an dem. Das haben wir schon gehabt.“ (I:6)
3.3.2 Nicht-metaphorische Sprachebene, Beobachtungen und Beschreibungen des Unternehmensalltages Nach der Identifizierung und Auswahl des metaphorischen Konzeptes werden im folgenden die metaphorischen Aussagen zunchst mit dem nicht-metaphorischen Sprachgebrauch sowie im weiteren mit den whrend des Interviews gemachten Beobachtungen sowie den Beschreibungen des Unternehmensalltages gegenber gestellt. Die Maschinenmetapher impliziert vor allem eine klare Hierarchie sowie Regelung und Kontrolle der Unternehmensablufe. Im metaphorischen Sprachgebrauch von Herrn Schmitt wird dies vor allem durch die Instrumentenmetapher wie der Warnlampe und dem ldruck deutlich. Im nicht-metaphorischen Sprachgebrauch ist vor allem die Festlegung und Kontrolle bestimmter Routinen auszumachen. Derartige Formulierungen zeigen sich in der Unternehmenskommunikation, wenn beispielsweise von „internen berprfungen“ (WIM:H), der „regelmßigen Analyse“ (WIM:H) zur systematischen Fehleraufdeckung oder auch von Ablufen, die mit „klar definierten Prozessen geregelt“ (WIM:H) werden, die Rede ist. Bei den Beobachtungen, die whrend des Interviews gemacht wurden, fielen zum einen die Diagramme und Grafiken des Controllings im Bro und im Eingangsbereich des Unternehmens auf, die den aktuellen Erfllungsgrad unterschiedlicher Zielsetzungen zeigten. Zum anderen ließ sich im Labor, das von Herrn Schmitt be15
Zur Beurteilung wurden die folgenden Bilder ausgewhlt: Maschine, Lebewesen, Gehirn, Ordnungshter, Kultur, Fluss und Wandel und Machtinstrument.
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schriebene Stressbarometer wieder finden, auf dem die einzelnen Mitarbeiter ihre aktuelle Befindlichkeit in Bezug auf die eigene Arbeitsauslastung eingetragen hatten. Fr die Gegenberstellung sind im weiteren die Beschreibung des Unternehmensalltages im Interview und der Unternehmenskommunikation von Interesse, insbesondere in Bezug auf den Umgang mit den Mitarbeiter. In der Art, wie Herr Schmitt den Unternehmensalltag beschreibt, kommt den Mitarbeitern die Rolle von Maschinen oder Maschinenteilen zu, deren Anschaffung sich lohnen muss. Dies wird beispielsweise in der Handhabung von Aus- und Weiterbildung deutlich. Nach den Schilderungen in der Unternehmenskommunikation wird den Arbeitnehmern die Teilnahme an Weiterbildungen im Rahmen der Arbeitszeit unter der Voraussetzung ermglicht, dass pro Weiterbildungstag eine gewisse Anzahl neuer Verbesserungsvorschlge in das Unternehmen eingebracht werden. Andernfalls wird diese Zeit als Urlaub verbucht. Weiterhin werden laut den Aussagen der Unternehmenskommunikation zur berprfung der Funktionsfhigkeit der Mitarbeiter regelmßig die „Mitarbeiterzufriedenheit“, „Mitarbeiterfluktuation“, „Krankheitstage“ (WIM:H) sowie die „Anzahl der Versptungen“ (WIM:H) erfasst. Dort wird auch der Einsatz eines als „Selbstkontrollinstrument“ (WIM:H) bezeichneten Verfahrens beschrieben. Dabei handelt es sich um eine anonyme berprfung der Mitarbeiter sowie Herrn Schmitts selbst, indem beispielsweise kurz vor Feierabend ein Anruf eines Patienten erfolgt, der angibt, unter Schmerzen zu leiden. Wird der Patient abgewiesen, dann widerspricht dies der festgelegten Regel, solche Patienten noch am gleichen Tag zu behandeln. Trotz den beschriebenen Kontrollmaßnahmen kann es mitunter zu einer ‚Maschinenstrung‘ kommen. Die hohe Arbeitsbelastung wurde von Herrn Schmitt im Interview als großes Problem genannt. Derartige Strungen werden nach den Aussagen von Herrn Schmitt systematisch analysiert, um anschließend Maßnahmen zur Behebung einzusetzen, wie beispielsweise das „Stressbarometer“ oder „Stressschulungen“ (I:1 – 1). Wenn ntig, wird auch schon einmal ein ‚Reparaturdienst‘ gerufen, beispielsweise wenn in konfliktreichen Zeiten eine „externe Beraterin“ (I:2 – 2) ins Haus kommt. Zeigen diese Maßnahmen keinen Erfolg, dann zieht Herr Schmitt Konsequenzen und ersetzt die entsprechenden Mitarbeiter. Im Interview wurde deutlich, dass einige Mitarbeiter bereits das Unternehmen verlassen mussten. Schließlich weist auch das Fhrungsverhalten Parallelen zum verwendeten Maschinenkonzept auf. Es zeigte sich, dass Herr Schmitt als Praxisinhaber das Unternehmen in allen Bereichen selbst leitet und sich seiner dominanten Fhrungsrolle durchaus bewusst ist. Im Rahmen der Unternehmenskommunikation wird unter dem Aspekt „Fhrung“ (WIM:H) diese herausragende Rolle graphisch als „Leadership-Haus“ (WIM:H) dargestellt. Diese der Bauwerkmetapher zuzuordnende Dar-
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stellung unterstreicht die hierarchische Strukturierung des Unternehmens. Herr Schmitt selbst bezeichnet die Art seiner Mitarbeiterfhrung im Interview als „militrischen Fhrungsstil“ (I:2 – 2) Wie bereits erlutert bestehen berschneidungen zwischen der Maschinen- und Kampfmetapher. Eine strenge hierarchische Ordnung ist beiden Konzepten gemeinsam.
3.4 Das Erreichen von Unternehmenszielen ist Sport 3.4.1 Metaphernauswahl Whrend das Maschinenkonzept von Herrn Schmitt vor allem zur Strukturierung interner Prozesse verwendet wird, spiegelt die Sportmetapher Herrn Schmitts Haltung gegenber der Erreichung von Unternehmenszielen, insbesondere in Bezug auf das Unternehmensumfeld wider. Auf die berschneidungen dieses Konzeptes mit der Kampfmetapher wurde bereits hingewiesen, die sich nicht nur auf die begriffliche Ausleihe des Wortes ‚Wettkampf‘ beschrnken lsst. Im gesamten Sportkonzept sind bertragungen aus dem Kampfbereich feststellbar. Beispielsweise sind beim Fußball der ‚Angriff‘ oder die ‚Defensive‘ gelufige Begriffe und es ist das Ziel vieler Sportarten den ‚Gegner zu schlagen‘. Trotz der berschneidungen haben die Implikationen der Sportmetapher jedoch einen anderen Schwerpunkt, geht es hier weniger um die Vernichtung des Gegners als um ein spielerisches Krftemessen, womit die Sportmetapher wiederum Schnittbereiche mit der Spielmetapher aufweist.16 Die Sportmetapher ist in der Betriebswirtschaftslehre nicht so gelufig wie das Maschinen- oder Kampfbild, aber auch nicht ungewhnlich. Herr Schmitt greift die Sportmetapher in verschiedenen Bereichen wiederholt auf. In Bezug auf die Tiefe der Metapher, d. h. die Verwendung eines metaphorischen Bildes mit unterschiedlichen, aufeinander bezogenen metaphorischen Ausdrcken, ist die Sportmetapher von Herrn Schmitt sehr gut ausgearbeitet. Hufig wird das Sportbild von Herrn Schmitt auf die Art der Zielerreichung des Unternehmens bertragen. Beispiele des sportlich geprgten Konzeptes finden sich beispielsweise in der Beschreibung der Zielsetzung innerhalb des TQM-Systems, bzw. in der Gegenberstellung von TQM- und ISO 14001-System. In der Art, wie Herr Schmitt diese beiden Systeme im Interview vergleicht, ist die gute Ausarbeitung der Fußballmetapher zu erkennen:
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Auf die berschneidungen zwischen Sport- und Spiel- bzw. auch Kampfmetapher weist Baldauf (1997, 186) hin, indem sie den Sport bzw. das Spiel als „milde Form des Gegeneinanders“ beschreibt. Im Folgenden sollen daher auch Beschreibungen, die eher der Spielmetaphorik zuzuordnen sind, im Rahmen der Sportmetapher vorgestellt werden.
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• „Den Unterschied zwischen der ISO und dem TQM knnen Sie mit dem Fußball[spiel] vergleichen. Die ISO, das ist die Defensive, dass sie kein Goal [Tor] bekommen und das TQM, das ist der Angriff, der Sturm. Die werden aktiv und schießen ein Goal. Mit dem TQM mssen sie nachweisen, dass sie aufgrund einer hervorragenden Organisation hervorragende Ergebnisse zeigen.“ (I:1 – 1) • „Man muss Ziele setzen, eine Messlatte zum hoch springen. Man kann noch so toll trainieren, aber wenn er keine Latte hat, zum drberspringen, dann wird er nicht besser. Das ist wieder der TQM-Ansatz, der da reinspielt, also sich Ziele zu setzten.“ (I:4 – 1)
Das erste Zitat verdeutlicht anhand der gut ausgefhrten Fußballmetapher die Zielsetzung von Herrn Schmitt. Er fordert ein aktives Handeln und nicht eine passive Haltung, wenn es um die Erreichung der Unternehmensziele geht. Mit dem zweiten Zitat wird mit der Metapher der Messlatte ein weiterer zentraler Aspekt in Herrn Schmitts Vorstellungen, die Messung der erbrachten Leistung, eingefhrt. Als Messlatte fr die internen Vorgnge dient die Punkteskala des TQM-Systems, die fr fast alle Unternehmensbereiche die maximal zu erreichenden Werte, sozusagen als ‚Bestzeit‘, festlegt. Neben den intern hoch gesteckten Zielen des TQM-Systems ist die sportliche Komponente auch in der Betrachtung der Wettbewerber auf dem Markt auszumachen. Das folgende Zitat aus dem Interviewmaterial veranschaulicht das Krftemessen von Herrn Schmitt mit anderen Unternehmen: • „Im letzten Jahr haben wir viel erreicht mit 13 Mitarbeitern. Wir haben 1195 Verbesserungsvorschlge umgesetzt. Damit haben wir die Japaner mit dem besten Benchmark17 deutlich geschlagen.“18 (I:1 – 1) Auch bei der Unternehmenskommunikation ist im gleichen Zusammenhang davon die Rede, andere Marktteilnehmer als „Weltmeister“ (WIM:H) zu „bertrumpfen“ (WIM:H). Im Weiteren wird von unterschiedlichen Wettbewerben in Bezug auf die Unternehmensqualitt berichtet, die vom Unternehmen „gewonnen“ (WIM:H) wurden. In diesen Zitaten kommt zum Ausdruck, dass das Bestehen seines Unternehmens in seinem Umfeld von Herrn Schmitt als Wettkampf angesehen wird und der Wettbewerb bzw. das Gewinnen bestimmter Wettbewerbe ein wichtiges Ziel fr Herrn Schmitts eigene Positionierung im Unternehmensumfeld darstellt.
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Beim Benchmarking werden die eigenen Unternehmensablufe, Produkte, Dienstleistungen oder Unternehmensstrukturen mit denen des besten Wettbewerbers oder dem Industriefhrer („best in class“) verglichen (vgl. z. B. Schaltegger et. al. 2002, 27). Obwohl diese Metapher ursprnglich dem Kampfbereich entspringt, wird sie in vorliegenden Fall der Sportmetaphorik zugeordnet, da es sich um eine Art spielerischen Wettkampf zwischen Unternehmen handelt.
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3.4.2 Nicht-metaphorische Sprachebene und Hinweise auf den Unternehmensalltag Die kompetitiv ausgerichtete Sportmetaphorik stellt das Gegeneinander zweier oder mehrerer Parteien in den Vordergrund. Das Ziel eines Wettkampfes ist es, den Wettkampf fr sich entscheiden zu knnen. Die von Herrn Schmitt verwendete Sportmetaphorik wird in den folgenden Abschnitten zunchst zum nicht-metaphorischen Sprachgebrauch sowie im Weiteren zu Hinweisen auf das unternehmerische Handeln in Beziehung gesetzt. Im nicht-metaphorischen Sprachgebrauch verwendet Herr Schmitt Bezeichnungen, die sehr gut zum Sportkonzept passen und dieser Metaphorik hneln, im gebrauchten Zusammenhang jedoch als wrtlicher Sprachgebrauch aufzufassen sind. Beispiele zeigen sich vor allem in der Unternehmenskommunikation, wenn an einigen Stellen die Rede davon ist, dass der untersuchten Praxis als „erstes Unternehmen“ (WIM:H) eine bestimmte Ehrung zugesprochen wurde, sie als „einzige Praxis“ (WIM:H) ber gewisse Auszeichnungen verfgt bzw. als „bestes Unternehmen“ (WIM:H) sowohl im nationalen als auch internationalen Vergleich abgeschnitten hat. Auch in Bezug auf andere Bereiche werden von Herrn Schmitt Formulierungen verwendet, die dem Sportkonzept auf der wrtlichen Ebene hneln. Erklrtes Ziel von Herrn Schmitt ist es, die Kunden „zufriedener zu stellen“ (WIM:H) als die Mitbewerber, bzw. „bessere Resultate“ (WIM:H) in Bezug auf die unterschiedlichen Kriterien des TQM-Systems vorweisen zu knnen. Formuliertes Ziel von Herrn Schmitt ist es, den Wettbewerb mit anderen Unternehmen zu gewinnen bzw. im Vergleich besser abzuschneiden. Hinweise auf ein dem Sportkonzept entsprechendes Handeln zeigen sich in der Teilnahme des Unternehmens an zahlreichen Wettbewerben, wie beispielsweise dem European Quality Award (EQA) (WIM:H), der forcierten Suche nach Vergleichspartnern in Form von Benchmarks19 als ‚Messlatte’ fr das Unternehmen sowie dem Bestreben, als erstes Unternehmen bestimmte Auszeichnungen zu erlangen. Dass diese Beschreibungen dem realen Unternehmensverhalten entsprechen wird an den vielen Ehrungen und Preisen, die das Unternehmen erhalten hat, deutlich.
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Ist ein Vergleich mit den sog. ‚Klassenbesten‘ nicht mglich, sucht das Unternehmen aktiv per Internet nach einem Vergleichsunternehmen, indem es per Fragebogen Vergleichsdaten ermittelt (WIM:H).
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3.5 Die Planung und die Umsetzung von Prozessen sind ein Kampf 3.5.1 Metaphernauswahl Als drittes Konzept wurde die Kampfmetaphorik identifiziert. Diese wird von Herrn Schmitt vor allem im Zusammenhang mit der Unternehmensplanung sowie der Planung und Umsetzung von Prozessen verwendet. Dieses Konzept betont zum einen den Aspekt von kontrren, unvereinbaren Interessen, zum anderen das Vorhandensein einer klaren Hierarchie. Das Kampfbild ist sowohl in der Darstellung von betrieblichen Ablufen als in unserem alltglichen Sprachgebrauch ein gebruchliches Konzept. Wenn auch nicht in der Hufigkeit wie bei den vorangegangenen Metaphern, so zeigt sich auch in diesem Fall eine detaillierte Ausarbeitung. Beispiele der Kampfmetapher finden sich beim Interviewmaterial im Zusammenhang mit Herrn Schmitts Fhrungsstil sowie in der Beschreibung des Umgangs der Mitarbeiter untereinander: • „Wir haben eine externe Beraterin da gehabt, weil wir hier im Clinch gewesen sind. Ich musste realisieren, dass mein militrischer Fhrungsstil (...) erstens einmal ein Problem darstellt. Es [militrischer Fhrungsstil] hat einen gewissen Vorteil, gewisse Sachen, die stimmen, die richtig sind (...).“ (I:2 – 2) • „Es ist ein Clinch und ein Kampf, meine Frau ist der Hygiene-Papst und auf der anderen Seite der Umwelt-Papst. Meine Aufgabe ist es, das unter einen Deckel zu bringen. Das ist der Nachteil, wenn man nicht militrisch sagen kann, es wird geritten, es wird geblasen.“ (I:3 – 2) Diese Zitate zeigen, dass Herr Schmitt das Verhltnis zu seinen Mitarbeitern und zwischen den Mitarbeitern als konfliktbeladen ansieht, was aus einer dualistischen Interessenslage resultiert. Die wiederholt verwendete Militrmetapher sowie die Betonung der mit dem militrischen Fhrungsstil einhergehenden Vorteile verdeutlichen Herrn Schmitts Favorisierung dieses Konzeptes, auch wenn er einrumt, dass mit seinem Fhrungsstil gewisse Probleme verbunden sind. Weiterhin ist in Herrn Schmitts Beschreibungen das Kampfbild in Bezug auf die Unternehmensplanung und -entwicklung auszumachen. Die unternehmerischen Handlungsgrundstze seines Unternehmens wurden von Herrn Schmitt als „Vision“, „Strategie“, „Mission“, „Leitbild“ und „Innovation“ (I: 2 – 4) spezifiziert und in seinem Bro sowie im Eingangsbereich der Praxis ausgehngt. Das folgende Zitat aus dem Interview beschreibt diesen Sachverhalt: • „Wir haben einen sehr strengen Balanced-Scorecard-Ansatz, das wird vom TQM gefordert. (...) Unsere letzte Vision haben wir erfllt, die ersten Finalisten im (...) zu werden. Diese Vision wird weiter entwickelt, daneben haben wir eine Strategie, eine Mission, ein Leitbild.“ (I:2 – 4)
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Sowohl im Interview als auch in der Unternehmenskommunikation wird die Strategiemetapher als Einzelwort bzw. als Kompositum, wie beispielsweise der Begriff der „Strategieumsetzung“ (WIM:H) hufig wiederholt. Ferner ist dort von der Festlegung der „Marschrichtung“ (WIM:H) in Bezug auf die zuknftigen Ziele des Unternehmens die Rede. Neben den internen Prozessen wird auch das Verhalten des Unternehmens auf dem Markt mit Hilfe der Kampfmetapher strukturiert, wie das folgende Zitat des Interviewmaterials zeigt: • „Wir haben den (...) Wettbewerb gewonnen und haben den (....) mitgemacht und dort zu den Finalisten vorgestoßen.“ (I:1 – 1) Die Metapher des Vorstoßes beinhaltet den Aspekt der Eroberung. In Bezug auf Herrn Schmitt handelt es sich um verschiedenartige Wettbewerbe, die als neues Terrain fr das Unternehmen erobert werden sollen.
3.5.2 Beobachtungen Die mit der Kampfmetapher einhergehenden Implikationen sind neben den von unterschiedlichen Interessen geprgten Beziehungen innerhalb und außerhalb des Unternehmens, die straffen Hierarchiestrukturen der Organisation sowie die strategische Planung der Unternehmensvorgnge. Wie bereits erwhnt, ergeben sich insbesondere in Bezug auf die Hierarchie innerhalb der Organisation und die genaueste Planung und Ablaufregelung berschneidungen zur Maschinenmetapher. Die zu diesen Punkten im Rahmen der Maschinenmetapher analysierten Entsprechungen im wrtlichen Sprachgebrauch sowie der handlungsleitenden Wirkung sollen daher an dieser Stelle nicht wiederholt werden. Dies gilt auch fr den kompetitiven Aspekt der Sportmetapher in Bezug auf das Unternehmensumfeld. Vielmehr soll der Blick auf die Beobachtungen gelenkt werden, die whrend des Interviews gemacht wurden. Neben der Sprache knnen auch andere Elemente Hinweise darauf geben, welche Vorstellungen fr Personen oder Unternehmen im Vordergrund stehen, wie beispielsweise symbolische Gesten, die Reaktion auf kritische Ereignisse oder die Gestaltung der physischen Umwelt, wie beispielsweise die Farbgebung der Rume und Gebude, die eingesetzten Materialien oder rumliche Details (vgl. Neuberger/Kompa, 1987). Generell ist in Bezug auf die Gestaltung des Unternehmens festzustellen, dass die Praxisrumlichkeiten nchtern und bersichtlich gehalten sind. Das einzige Foto im Bro von Herrn Schmitt ist eines auf seinem Schreibtisch, das ihn selbst in seiner Militruniform zeigt. Ferner befindet sich dort eine Pinnwand auf der die genannten Unternehmensprinzipien „Vision“, „Strategie“, „Mission“, „Leitbild“und „Innovation“sowie die genannten Controllingdaten angebracht sind.
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3.6 Zusammenfassung der Einzelfallanalyse I In der Analyse des metaphorischen Sprachgebrauchs von Herrn Schmitt konnten die Metaphernkonzepte ‚Maschine‘, ‚Sport‘ und ‚Kampf‘ identifiziert werden. Das als erstes vorgestellte Maschinenkonzept stellt dabei das ausgeprgteste und am besten belegte Konzept dar. Sowohl das Unternehmen als auch das implementierte TQM-System werden als eine Maschine konzeptualisiert. Je nach Fragestellung kommt es zu einer unterschiedlichen Spezifizierung des Unternehmens als Flugzeug, Zug oder Schiff. Es ist davon auszugehen, dass sich Herr Schmitt als Inhaber und Geschftsleiter in der steuernden Funktion dieser Fahrzeuge sieht, wie er auch ansatzweise im Rahmen der Cockpitmetapher ausfhrt. Meichsner (1983, 1) betrachtet die Steuermannmetapher als ein „Musterbeispiel fr eine legitime Befehlsgewalt“. hnliches ist sicherlich auch von der Lokfhrer- und Pilotenmetapher anzunehmen. Nach Baldauf (1997) kommt die Fahrzeugmetapher insbesondere dann zum Einsatz, wenn das beschriebene Vorhaben als risikoreich empfunden wird. Mit Hilfe von Kontrollinstrumenten, die frhzeitig vor Problemen warnen, kann jedoch eine Risikoverminderung erzielt bzw. das Fahrzeug auf dem geplanten Kurs gehalten werden. Die Maschinenmetapher impliziert vor allem die klare Festlegung und Kontrolle von innerbetrieblichen Ablufen. Zur Beschreibung der Kontrolle bzw. bersicht der Ablufe wird die Instrumentenmetapher von Herrn Schmitt wiederholt und in unterschiedlichen Variationen verwendet. Die anhand der Cockpit-Metapher sehr anschaulich beschriebenen bertragung der Maschinenvorstellung auf das Unternehmen weist sowohl Parallelen zum nicht-metaphorischen Sprachgebrauch als auch zu den gemachten Beobachtungen auf. Die Aufzeichnungen des Controllings, die im Unternehmen an zentralen Stellen angebracht waren, knnen in einem bertragenden Sinn als die von Herrn Schmitt beschriebenen Kontrollinstrumente des Cockpits angesehen werden. Weiterhin zeigen sich hnlichkeiten zum Maschinenkonzept in den im Interview und der Unternehmenskommunikation beschriebenen Maßnahmen zur Leistungskontrolle der Mitarbeiter des Unternehmens. Whrend die Kampfmetapher vor allem interne Prozesse beschreibt, liegt der Fokus der Sportmetapher auf der kompetitiv ausgerichteten Sichtweise auf das Unternehmensumfeld. Entsprechungen im nicht-metaphorischen Sprachgebrauch finden sich beispielsweise in Herrn Schmitts Beschreibungen als „bestes“ oder „erstes“ Unternehmen, welches bestimmte Zielsetzungen erreicht hat. Im unternehmerischen Handeln zeigt sich die Wirkung der Sportmetapher deutlich anhand der Teilnahme an zahlreichen Wettbewerben. Als drittes Bild wurde die im alltglichen Sprachgebrauch hufig verwendete Kampfmetapher als ein sprachliches Konzept von Herrn Schmitt vorgestellt. Mit der Kampfmetapher werden sowohl interne Vorgnge, wie die Unternehmenspla-
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nung und der Umgang der Mitarbeiter untereinander, als auch externe Sachverhalte, wie die Selbstbehauptung des Unternehmens in seinem Umfeld, strukturiert. Bei den Beobachtungen, waren vor allem die gestalterischen Maßnahmen der Praxis von Interesse. Auffllig waren in diesem Zusammenhang vor allem ein Portraitfoto auf dem Schreibtisch von Herrn Schmitt in seiner Militruniform sowie die sich im Bro befindliche Pinnwandtafel, auf der die strategischen Ziele und Vorgehensweise fr das Unternehmen festgehalten wurden. Gleich einer Kampfzentrale sind dort die wichtigsten Richtlinien und Ziele fr das Unternehmen ausgehngt. Wie bereits im Rahmen der Maschinenmetapher erlutert, beschreibt Herr Maier seinen Fhrungsstil als „militrisch“. Nach Morgan (1997) kann die Betrachtung des Fhrungsstils in Unternehmen wichtige Hinweise darauf liefern, wie Unternehmen handeln. Seiner Ansicht nach wird die aggressive Art von Organisationen durch eine militrische Mentalitt aufrechterhalten, die zu einer aggressiven Beziehung im Unternehmen und zum Umfeld fhrt. Die von Herrn Schmitt verwendeten Metaphern zeugen von einer aggressiven Vorgehensweise zur Zielerreichung sowohl gegenber den Mitarbeitern als auch gegenber anderen Marktteilnehmern, die kooperative Mglichkeiten ausblenden. Aus dem Kampfkonzept ergibt sich in letzter Konsequenz, dass die Mitarbeiter fr einen unbedingten Sieg als ‚Kanonenfutter‘ herhalten mssen und der kriegerische Held ein rcksichtsloser Kriegsfhrer wird, dem nichts wichtiger ist, als seine Ziele durchzusetzen. Auf den von Herrn Schmitt beschriebenen Mitarbeiterverschleiß zugunsten der Einhaltung festgelegter Ziele und Vorgaben wurde bereits im Zusammenhang mit der Maschinenmetapher eingegangen. Neben der engen Verbindung der angefhrten Metaphernkonzepte zueinander ist die Beziehung zwischen den verwendeten Konzepten und der persnlichen Entwicklung und Vorlieben von Herrn Schmitt von Interesse. Die biographischen Angaben stehen in einem engen Verhltnis zu den metaphorischen Konzepten. Vor allem die Ausarbeitung der Flugzeugmetapher mit der Hervorhebung bestimmter Eigenschaften, wie z. B. der Geschwindigkeit oder der Flugrichtung, ist im Hinblick auf die Vorgeschichte von Herrn Schmitt auffllig. Die Metaphernkonzepte ‚Maschine‘, ‚Kampf‘ und ‚Wettkampf‘ spiegeln sich in der militrischen Ausbildung des Interviewpartners sowie in seinen privaten Interessen wieder, die Herr Schmitt im weiterfhrenden Material mit „Fliegerei“ und „Sport“ (WIM:H) angibt.
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4. Einzelfallanalyse II 4.1 Vorstellung des Interviewpartners und des Unternehmens Das Interview wurde mit Herrn Maier, Grnder und Inhaber eines Baubetriebes, gefhrt. Die beruflichen Wurzeln von Herrn Maier liegen im Handwerksbereich, privat interessiert er sich seit 15 Jahren fr das Thema Baubiologie. Herr Maier beschftigt rund 18 Mitarbeiter, wobei der Personalbestand abhngig von der Saison und der Auftragslage ist. Herrn Maiers Betrieb ist sowohl nach den internationalen Normen ISO 9002 (Qualittsmanagement) als auch nach ISO 14001 (Umweltmanagement) zertifiziert. Die Leitung beider Managementsysteme obliegt Herrn Maier persnlich.
4.2 Sprachanalyse Der Sprachgebrauch von Herrn Maier weist, im Vergleich zu Herrn Schmitt, eine geringere Metaphernverwendung auf. Aus dem Interviewmaterial wurden folgende Metaphernkonzepte herausgearbeitet: 1. Das Unternehmen und das Umweltmanagement sind ein Organismus. 2. Das Unternehmen und das Umweltmanagement sind eine Familie. Wie auch schon im vorherigen Fall, weisen die verwendeten Konzepte berschneidungen auf, da sowohl dem Organismus- als auch dem Familienkonzept die Betrachtung von Lebewesen zugrunde liegt. Whrend jedoch mit Hilfe der Organismusmetapher im vorliegenden Fall die Entwicklung des Unternehmens betont wird, verwendet Herr Maier die Familienmetapher vornehmlich, um den innerbetrieblichen Zusammenhalt und die internen Strukturen im Unternehmen darzustellen. Die enge Verbindung der beiden Metaphernkonzepte zeigt sich auch an einigen Stellen im Datenmaterial. Dennoch werden beide Konzepte getrennt voneinander vorgestellt, um die unterschiedlichen Aspekte besser zur Geltung bringen zu knnen.
4.3 Das Unternehmen und das Umweltmanagement sind ein Organismus 4.3.1 Metaphernauswahl Die Analyse des metaphorischen Sprachgebrauchs von Herrn Maier zeigt, dass er sowohl das Unternehmen als auch das angewandte Umweltmanagement als einen natrlichen Organismus begreift. Eine derartige Konzeptualisierung von Sachver-
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halten und Gegenstnden ist nicht ungewhnlich und resultiert aus einer der ursprnglichsten Erfahrungen des Menschen, aus der Selbsterfahrung als krperliches Lebewesen. Auch fr die Beschreibungen von Organisationen kommt das Organismuskonzept hufig zum Einsatz. Herr Maier fhrt das Konzept mehrfach in unterschiedlichster Form aus. Es findet seine Anwendung vor allem in Bezug auf die Unternehmensstrategie, die beteiligten Personen im Unternehmen sowie die verwendeten Produkte des Unternehmens. Im Rahmen des Organismuskonzeptes betont Herr Maier vor allem die Aspekte Gesundheit und Wachstum. Whrend Probleme bzw. problematisch empfundene Sachverhalte hufig mit Hilfe der Krankheitsmetaphorik beschrieben werden, impliziert die Gesundheitsmetapher positiv besetzte Aspekte wie Wachstum und Strke. Diese Vorstellung findet in der Metaphorik von Herrn Maier seinen Ausdruck beispielsweise in Bezug auf sich selbst, wie das folgende Zitat aus dem Interviewmaterial zeigt: • „Die Grße des Unternehmens entscheidet, wie man die Leute disponieren kann. Ich habe gute Leute, so kann ich wachsen.“ (I:5 – 4) Auch in der Unternehmenskommunikation wird in der Formulierung der Unternehmensentwicklung als „gesundes Wachstum“ (WIM:H) diese Metaphorik wieder aufgegriffen. Neben der von Herrn Maier vertretene Auffassung ‚Unternehmen ist ein Organismus‘ verweisen diese Zitate darauf, dass Herr Maier keine bermßige Unternehmensvergrßerung als Unternehmensziel anstrebt. Dies wird insbesondere deutlich, wenn man sich die Assoziationen des Gegenbegriffs eines ‚krankhaften Wachstums‘ vor Augen fhrt, mit dem Vorstellungen einer unnatrlichen und schdlichen Entwicklung wie bei einer Wucherung oder einem Krebsgeschwr einhergehen. Herr Maier bertrgt das Konzept ‚Unternehmen ist ein Organismus‘ auch auf seine Mitarbeiter, wie anhand des folgenden Zitates deutlich wird: • „Die Mitarbeiter von frher, die sind ausgestorben.“ (I:3 – 1) Diese Aussage macht sowohl wrtlich einen Sinn, denn es wre durchaus mglich, dass bestimmte Mitarbeiter, die skeptisch dem Umweltschutzgedanken gegenber stehen, mittlerweile nicht mehr am Leben sind, ist aber mehr noch in einem bertragenden Sinn zu verstehen. blicherweise bezieht sich der Begriff ‚ausgestorben‘ auf eine bestimmte Gattung von Lebewesen, meist Tier- bzw. Pflanzenarten, die mittlerweile nicht mehr auf der Erde zu finden sind. Als bertragende Redeweise ist das Zitat dahingehend zu verstehen, dass eine nicht umweltorientierte Sichtweise von Herrn Maier als veraltet angesehen wird und in seinem Unternehmen keine Mitarbeiter mehr angestellt sind, die dem Umweltschutz ablehnend gegenber stehen. Stattdessen ist nach Ansicht von Herrn Maier bei den Mitarbeitern ein ausgeprgtes Umweltverstndnis auszumachen.
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Das von Herrn Maier vertretene Organismuskonzept wird ferner in Bezug auf die verwendeten Produkte, insbesondere in Bezug auf ein Produkt, das als umweltgerechte Variante konventioneller Baustoffe von Herrn Maier forciert wird, deutlich. Dies zeigt sich beispielsweise in der Beschreibung des genannten Produktes in der Unternehmenskommunikation als „unser grnes20 Standbein“ (WIM:H). Der Ausdruck des ‚Standbeins‘ kann als metaphorischer Ausdruck der Krpermetaphorik zugeordnet werden, die als eine Untergruppe des Organismuskonzeptes angesehen werden kann. Inhaltlich wird in dem Zitat dem bezeichneten Produkt eine zentrale Rolle fr die zuknftige Entwicklung des Unternehmens zugeschrieben. Auch das folgende Zitat aus dem Interviewmaterial verweist auf das Organismuskonzept in Bezug auf die Produkte: • „Wenn es fr mich um den Preis gehen wrde, wenn z. B. die Zielsetzung wre, 10% mehr Geld zu verdienen, dann msste ich das Produkt kurzfristig ausgliedern. Das ist fr mich aber nicht die Prioritt.“ (I:3 – 2) Wie schon das vorangegangene Beispiel belegt auch dieses Zitat die Konzeptualisierung des Unternehmens als Krper, in dem die Produkte die Gliedmaße dieses Krpers darstellen. Das recht drastische Bild des Ausgliederns, das einer Amputation gleichzusetzen wre, stellt eine recht gebruchliche Redeweise dar, wenn es um die Trennung eines Unternehmens von Produkten oder Unternehmensbereichen geht. Dies ist jedoch nicht Herrn Maiers Zielsetzung. Im Gegenteil, nach seinen Aussagen will er das genannte Produkt verstrkt auf dem Markt vertreiben. Finanzielle Ziele spielen dabei zwar eine notwendige, jedoch nicht ausschlaggebende Rolle, wie das Zitat aus dem Interview deutlich macht: • „Der finanzielle Aspekt ist wichtig, dass man berleben kann. Der andere [Vertrieb des Alternativproduktes] als Lebensziel.“ (I:2 – 2) Das Zitat belegt das metaphorische Konzept des Organismus, wobei Herr Maier wiederum eine Gleichsetzung seiner eigenen Person mit seinem Unternehmen vornimmt. Insgesamt zeichnet Herr Maier in seinen Beschreibungen ein Bild von seinem Unternehmen als das eines Organismus, dessen berleben von bestimmten Umfeldfaktoren abhngt.
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Zustzlich ist das Bild des Produktes mit dem Attribut ‚grn‘ versehen, das im heutigen Sprachgebrauch eine enge Konnotation zu dem Begriffsfeld Umwelt und Natur aufweist.
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4.3.2 Nicht-metaphorische Sprachebene und Hinweise auf den Unternehmensalltag Die von Herrn Maier mit Hilfe der Organismusmetaphorik betonten Aspekte, die insbesondere in Hinblick auf das Unternehmen mit seinen Mitarbeitern sowie der verwendeten Produkte zum Ausdruck kommen, sind Gesundheit, Wachstum sowie Natrlichkeit. Diese Auffassung spiegelt sich auch in der nicht-metaphorischen Sprachweise von Herrn Maier wieder. Dies belegen die folgenden beiden Zitate aus dem Interview, die als Antwort auf die Frage nach dem Vorbild und der Vision fr das Umweltmanagement und dem Unternehmen im Interview gegeben wurden: • „Unser Vorbild ist die Natur, die Umwelt.“ (I:2 – 4) • „Wir bauen gesund, das ist unsere Vision.“ (I:2 – 4) Insbesondere im zweiten Zitat offenbart sich die enge Verbindung zwischen dem metaphorischen und wrtlich zu verstehenden Sprachgebrauch. Der Aspekt der Gesundheit wird, wie eingangs gezeigt wurde, im Zusammenhang mit dem Unternehmen in einem bertragenden Sinne gebraucht. In Bezug auf die Vision ist der gleiche Begriff wrtlich zu begreifen, in dem Sinne, dass durch die verwendeten Materialien keine gesundheitlichen Schdigungen hervorgerufen werden sollen. In hnlicher Weise werden von Herrn Maier die Ziele sowie die Produkte des Unternehmens im Rahmen der Unternehmenskommunikation als „umweltvertrgliches und menschenwrdiges Bauen“ (WIM:H) bzw. an anderer Stelle als „kologisch und gesundheitlich unbedenklich“ (WIM:H) beschrieben. Aus dem Vorbildcharakter der Natur sowie aus der Sicht des Unternehmens als lebendiger Organismus resultieret die Anforderung an das Unternehmen, sich in seiner Arbeitsweise mit den verwendeten Produkten in die Umwelt zu integrieren, ohne dort schdliche Vernderungen hervorzurufen. Ein Hinweis auf die handlungsleitende Wirkung dieser gedanklichen Folgerungen ergibt sich vor allem in der Produktwahl des Unternehmens. Dabei sind vor allem die bereits erwhnte kologische Produktvariante und weitere Produkte aus dem Bausektor zu nennen.
4.4 Das Unternehmen und das Umweltmanagement sind eine Familie 4.4.1 Metaphernauswahl Das zweite von Herrn Maier verwendete Konzept ist die Familienmetapher. Insbesondere in Bezug auf Unternehmen ist auch dies ein recht gebruchliches Konzept zur Beschreibung von Unternehmensstrukturen. Beispiele dieses Konzeptes finden sich in Ausdrcken wie dem ‚Mutterkonzern‘ oder dem ‚Tochterunternehmen‘ bzw.
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der ‚Filiale‘21 oder auch wenn im Zusammenhang mit Unternehmenszusammenschlssen von ‚Hochzeiten‘ die Rede ist. Eine herausragende Rolle innerhalb dieses Konzeptes stellt die Vaterposition dar. In der Familie nimmt der Vater i.d.R. die Rolle des Familienoberhauptes ein. Im bertragenden Sinn wird diese Rolle dem Unternehmensfhrer zugesprochen, der nicht selten, wie auch im Falle von Herrn Maier, gleichzeitig ‚Grndervater‘ des Unternehmens ist. Eine derartige Konzeptualisierung zeigt sich beispielsweise in der Selbstbeschreibung von Herrn Maier. Auf die Frage nach der eigenen Rolle im Unternehmen, insbesondere in Bezug auf das Umweltmanagement, antwortete Herr Maier im Interview: • „Ich bin der Vater der Umwelt fr die Firma.“ (I:5 – 2)22 Herr Maier ist der Umweltbeauftragte im Unternehmen und bernimmt damit neben der Unternehmensfhrung auch die Verantwortung fr das Umweltmanagement. In der traditionell geprgten Auffassung von Familie trgt der Vater die Verantwortung fr das Wohlergehen der Familie. Aus diesem Verstndnis resultiert die bertragung der Vaterrolle auf diejenigen Konstellationen, fr die ein Part hauptschlich verantwortlich ist.
4.4.2 Beschreibungen des Unternehmensalltages Im Folgenden wird das Familienkonzept zu den Beschreibungen des Unternehmensalltages von Herrn Maier in Beziehung gesetzt. Nach dem klassischen Verstndnis setzt sich eine Familie aus den Eltern sowie den Kindern zusammen. Diese Familienmitglieder bilden eine nach außen abgegrenzte Gemeinschaft. Als eine solche Gemeinschaft sieht Herr Maier auch sein Unternehmen. Dies wird zum einen in der von Herrn Maier im Interview vorgenommen Einschtzung seines Unternehmens sowie des Umweltmanagements23 anhand der Bilder von Morgan (1986) deutlich. Herr Maier beurteilt das Bild des Lebewesens als unbeschrnkt zutreffend (absolute Zustimmung). Das folgende Zitat aus dem Interview gibt die Vorstellungen wider, die fr Herrn Maier mit dem Bild des Lebewesens verbunden sind und besttigt nochmals die enge Verbindung bei Herrn Maier zwischen der Organismus- und der Familienmetapher.
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Lat. filia = Tochter. In einem hnlichen Zusammenhang spricht Herr Maier von sich als „Umweltguru“ (I:2 – 1). Da dieses Bild jedoch zudem religise Aspekte beinhaltet, soll sie nicht im eng gefassten Rahmen der Familienmetaphorik vorgestellt werden. Zur Vorgehensweise vgl. Kapitel 3.3.1.
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• „Ein Lebewesen, das ist eine Gemeinschaft. (...) Es besteht ein Zusammenleben in der Firma, ein Zusammenhang, da muss man auch mal einen Gaudi [Spaß] ausleben. Hier sieht man die Entwicklung; man sieht die Gemeinschaft.“ (I:6)
Zum anderen beschreibt Herr Maier das familire Zusammenleben und den Zusammenhalt im Unternehmen im Interview. In Anlehnung an seine Frsorge- und Verantwortungsfunktion fr die Familie untersttzt Herr Maier seine Mitarbeiter, auch wenn sie aufgrund von persnlichen Problemen nicht voll einsatzfhig sein sollten. Herr Maier erwhnt einen Mitarbeiter, der wegen eines Suchtproblems zeitweise nicht arbeitsfhig war. In einem persnlichen Gesprch hatte Herr Maier ihm das Angebot unterbreitet, sich einer Kur zu unterziehen, fr die er vom Unternehmen freigestellt wrde. Der entsprechende Mitarbeiter nahm dieses Angebot an und wurde dabei von den Mitarbeitern untersttzt. Weiterhin werden den Aussagen von Herrn Maier zufolge Mitarbeiter auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten nicht entlassen. Im Gegenzug fhlen sich die Mitarbeiter dem Unternehmen auch in diesen Zeiten verbunden und sind bereit, eine Lohnkrzung in Kauf zu nehmen, wie Herr Maier im Interview aussagt: • „Die Mitarbeiter haben ein Zeichen gesetzt, indem sie eine Stunde gratis gearbeitet haben.“ (I:3 – 2)
4.5 Zusammenfassung der Einzelfallanalyse II Im Fall von Herrn Maier konnten die Metaphernkonzepte Organismus und Familie herausgearbeitet werden. Diese Konzepte kommen vor allem in Herrn Maiers Rollenbeschreibung von sich selbst sowie der Mitarbeiter, der Produkte und des Unternehmens/Umweltmanagements zum Ausdruck. Mit Hilfe der Organismusmetapher zeichnet Herr Maier das Bild von seinem Unternehmen als einer natrlichen und sich entwickelnden Einheit in Abhngigkeit von seinem Umfeld. Im Vergleich zum nicht-metaphorischen Sprachgebrauch zeigt sich eine enge Verbindung zum Metaphernkonzept. Parallelen zwischen der Sprach- und Handlungsebene zeigen sich bei den vertriebenen Produkten des Unternehmens, die als kologische und gesundheitlich unbedenkliche Produktvarianten gelten. Herr Maier betrachtet diese Produkte als Ausdruck einer naturnahen Wirtschaftsweise im Einklang mit der Natur und als seinen persnlichen Beitrag zum Umweltschutz. Die mit dem Lebewesenkonzept einhergehenden Assoziationen von Gesundheit, Wachstum und Natrlichkeit finden in den Produkten des Unternehmens ihren Ausdruck. Durch Herrn Maiers Verwendung der Familienmetaphorik wird seine eigene Rolle im Unternehmen als Familienoberhaupt und verantwortungstragende Person sowie vor allem der Zusammenhalt in der betrieblichen familiren Gemeinschaft
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hervorgehoben. Aus der bertragung der Familienmetapher auf die Unternehmung resultiert fr die Unternehmensfhrung die Vaterrolle. Die Mitarbeiter bernehmen in diesem Bild die Funktion der Kinder. Die Gemeinschaft der Familie stiftet lebenslange Bindungen, die nur schwer zu trennen sind. Als Folgerung des Bildes ‚Das Unternehmen ist eine Familie‘ sorgt die Unternehmensfhrung als Familienoberhaupt fr die Familie. Umgekehrt fhlen sich die Mitarbeiter dem Unternehmen ein Leben lang verbunden. Der Ausschluss aus dem Unternehmen, wie es der Austausch der Zahnrder in dem von Herrn Schmitt vertretenen Maschinenbild ermglicht, ist im Familienbild fast undenkbar. Nur in schwerwiegenden Fllen werden Familienmitglieder aus dem Kreis der Familie verbannt. In der Gegenberstellung ergnzen sich metaphorischer Sprachgebrauch und die Beschreibungen vom Zusammenleben im Unternehmen, das nach der Aussage von Herrn Maier von gegenseitiger Rcksichtnahme geprgt ist. Insgesamt zeigt sich im Vergleich zu Herrn Schmitt eine weniger ausgeprgte Metaphorik. Dennoch kann auch in der Analyse von Herrn Maiers Sprachgebrauch ein enger Zusammenhang der metaphorischen Konzepte zueinander sowie die enge Verbindung der Konzepte zu den persnlichen Vorlieben und Interessen wie der Baubiologie festgestellt werden.
5. Fazit Die Hauptfragestellung des vorliegenden Beitrages lautete, inwieweit sich Entsprechungen zwischen dem metaphorischen Sprachgebrauch und dem unternehmerischen Handeln zeigen. Dazu wurden in einem ersten Schritt das Interviewmaterial zweier Unternehmer, Herr Schmitt und Herr Maier, einer Metaphernanalyse unterzogen. Bei der Identifizierung der Metaphernkonzepte der Interviewpartner wurde deutlich, dass bei beiden die metaphorischen Konzepte in einem engen Zusammenhang stehen und sich teilweise berschneiden. Sich ausschließende bzw. komplementre Konzepte hingegen werden weder von Herrn Schmitt noch von Herrn Maier verwendet. In einem zweiten Schritt wurden die identifizierten Metaphernkonzepte des jeweiligen Unternehmers in Bezug zu weiterfhrenden Materialien gesetzt. Die Gegenberstellung des Materials ermglichte es, ein gesamthaftes Bild von der Unternehmerpersnlichkeit zu zeichnen. Die Ergebnisse weisen einige verblffende Parallelen auf. Es sind zahlreiche bereinstimmungen beispielsweise zwischen den identifizierten Metaphernkonzepten und den Beobachtungen und Beschreibungen des Unternehmensalltags sowie an einigen Stellen auch zum feststellbaren Verhalten der Unternehmen erkennbar. So entspricht die Teilnahme von Herrn Schmitts Unternehmen an zahlreichen Wettkmpfen dem metaphorischen Konzept ‚Das Errei-
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chen von Unternehmenszielen ist Sport‘ sowie die Frderung und der Vertrieb von kologischen Produktvarianten Herrn Maiers Konzeptualisierung des Unternehmens als natrlicher Organismus. Somit kann zumindest teilweise von einer bereinstimmung zwischen dem metaphorischen Sprachgebrauch und dem unternehmerischen Handeln ausgegangen werden und die eingangs aufgestellte Hypothese, dass der metaphorische Sprachgebrauch von Unternehmern Einfluss auf das unternehmerische Handeln besitzt, partiell besttigt, wenn auch nicht zweifelsfrei bewiesen werden. Nach Morgan (1986) werden Organisationen schließlich zu dem, was sie denken und sagen, ihre Vorstellungen und Visionen setzen sich selbst in die Tat um. Auch Krcal (2002) geht davon aus, dass insbesondere von der Vermittlung von Metaphern in Visionen und Programmen eine wirklichkeitsschaffende Macht ausgeht, die sich wesentlich auf die betriebliche Realitt auswirkt.
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Abkrzungsverzeichnis: I = Interview WIM = Weiteres Informationsmaterial UE = Umwelterklrung H = Homepage
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Sinnformeln in Organisationen
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Leitbildwandel und Gewerkschaften – institutionentheoretische berlegungen aus Anlass einer empirischen Fallstudie Vernderungsvorhaben von Organisationen und Institutionen treffen immer auf bereits prsente Strukturen und Routinen des Denken und Handelns, und damit auch auf bestimmte Wirklichkeitsmodelle und Vorstellungen adquaten Handelns. Mit Vernderungsanspruch formulierte „Machbarkeitsprojektionen“ treffen auf solche mit Bewahrungsanspruch. Letztere mgen unter Umstnden im Alltag der Handlungsroutinen diskursiv in ‚Vergessenheit‘ geraten sein, im Falle einer Infragestellung ist jedoch damit zu rechnen, dass sie als Ausdruck von „accountability“ (Giddens, 1992, 82), der prinzipiellen Verantwortungsfhigkeit menschlichen Handelns, ‚erinnert‘ und ins Spiel gebracht werden. blicherweise nicht thematisiert, werden sie unter Bedingungen ihrer Infragestellung wieder diskursiv relevant, und es entsteht eine Situation der Offenheit beziehungsweise Unentschiedenheit zwischen verschiedenen Machbarkeitsprojektionen (man knnte auch sagen: der Orientierungslosigkeit). Das Weiterbestehen des Althergebrachten ist aus dieser Sicht ebenso Resultat einer »Arbeit an der Stabilitt« wie das Erreichen von Vernderungen. Damit soll natrlich nicht behauptet werden, dass die Gestalt von Organisationen und Institutionen allein durch die Handlungen ihrer Mitglieder geprgt ist. Durchaus aber, dass diese Handlungen Einfluss haben und ber das Profil von Organisationen und Institutionen und damit auch ihren spezifischen gesellschaftlichen Stellenwert und konkrete Handlungsfhigkeit mit entscheiden. Diese Sichtweise kennzeichnet die Herangehensweise in meiner Fallstudie „Stabilitt und Dynamik im Anpassungsprozess: Zum gewerkschaftlichen Umgang mit erodierenden Handlungsbedingungen“. Aus dieser Fallstudie resultieren die theoretischen berlegungen dieses Artikels, ebenso wie sie die Grundlage bietet fr deren Konkretion anhand empirischen Materials. Ihre forschungsleitende Frage ist: Wie gehen organisationale Akteure mit krisenhaft vernderten Rahmenbedingungen ihres Handelns um? Genauer, was geschieht mit formierten, also organisational wie individiuell verankerten Denk- und Handlungsmustern, wie wirken sie zusammen, und welchen Einfluss hat das auf knftige Handlungsoptionen? Der Leitbildbegriff ist in dieser Studie eine in viele Bildfacetten aufgefcherte Kategorie im Zuge der induktiven Datenauswertung (Bildfacetten: IG Metall, Beschftigte, FunktionrInnen, Hauptamtliche, Mitglieder, Nicht-Mitglieder.)1 Vor diesem Zusammenhang bot die Auseinandersetzung mit dem Leitbildbegriff bezie-
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hungsweise damit, was er fr die Studie bieten knnte, eine gute Reflexionsfolie. Wie immer Leitbilder nher bestimmbar sind, lassen sie sich allgemein als begriffliche Vernderungsimpulse gegenber einer bestehenden Organisationsordnung bezeichnen. Sieht man sie wie Mambrey/Pateau/Tepper als „quasi ein konzeptionelles Modell des zuknftigen Systems“ (1995, 210), stellt sich damit auch die Frage nach dem Verhltnis von ‚neuen‘ zu ‚alten‘ Modellen. Der Artikel befasst sich damit, wie der Leitbildbegriff im Zusammenhang mit institutionentheoretischen berlegungen bestimmbar ist, und konkretisiert dies auf der Grundlage der angesprochenen Studie.
1. Die Studie „Stabilitt und Dynamik im Anpassungsprozess: Zum gewerkschaftlichen Umgang mit erodierenden Handlungsbedingungen“ Gewerkschaften haben wachsende Probleme, in gewohnter Weise Mitglieder zu erreichen, Interessen zu bndeln und gesellschaftliche Akzeptanz zu erreichen. Das hat mit unterschiedlichen Faktoren zu tun2: • Der bergang von Produktions- zu Kufermrkten seit etwa Mitte der siebziger Jahre geht einher mit Vernderungen im Bereich der Betriebs- und Unternehmensstrukturen, der Arbeitsorganisation und den Beschftigungsstrukturen. Beispielsweise zerbricht die vernderte Aufgliederung von Betrieben nicht selten gewachsene Formen und personelle Netzwerke gewerkschaftlicher Interessenvertretung, gehen Formen der ergebnisorientierten Leistungsbewertung und Entlohnung oder die zunehmende bertragung von Verantwortung fr optimale Prozesse auf Beschftige einher mit deren wachsender Identifikation mit betrieblichen Belangen und Distanz zu gewerkschaftlichen Positionen3, oder schrumpft mit dem gegenber den Dienstleistungsttigkeiten sinkenden Anteil gewerblicher Produktionsarbeit das traditionelle Rekrutierungsfeld der Industriegewerkschaften.
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„Bild“ stand dabei immer fr „Aussagen oder Vorstellungen ber X und deren Verhalten“, sowohl als Aussage ber das, was ist, wie auch das, was sein soll. Vgl. zu den folgenden drei Punkten: Hoffmann (2001); Schmierl (1998); Schmierl (2001); Vester /Oertzen/Geiling,/Hermann/Mller (2001). So lsst sich im Verlauf der 1990er Jahre eine gestiegene Prferenz fr eine grßere unmittelbare Mitsprache von Arbeitnehmer/innen am Arbeitsplatz erkennen, wohingegen die Mitsprache von Gewerkschaften auf deutlich gesunkene Zustimmung trifft: Der Anteil derjenigen, die eine direkte Mitsprache der Arbeitnehmer am Arbeitsplatz befrworten, ist seit von Anfang bis Mitte der 1990er Jahre 70% auf 72% gestiegen, und der Anteil derer, die dem voll und nicht nur eher zustimmen, hat sich auf 44% verdoppelt. Die Zustimmung zur Mitsprache der Gewerkschaften im Betrieb ist um etwa 20% geringer geworden (vgl. Vester 2002, 461).
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• Im Gefolge des Anschlusses der DDR an die Bundesrepublik in den neunziger Jahren stieg die Arbeitslosigkeit – zunchst nur in Ost-, seit Mitte der neunziger Jahre auch wieder in Westdeutschland, begleitet von zunehmender Tarifabstinenz, dem Abschluss von Firmentarifvertrgen oder dem Unterlaufen gltiger Flchentarifvertrge. Parallel dazu wurden Produktions- und Dienstleistungsaktivitten internationalisiert. Insbesondere in transnational agierenden Unternehmen unterminieren die Drohung mit Produktions- oder Standortverlagerung sowie nur begrenzte Regelungskompetenzen des lokalen Managements gegenber der nationalen oder internationalen Fhrungsebene die Mglichkeiten der Einflussnahme sowohl fr Betriebsrte als auch Gewerkschaften. • Schließlich haben sich Haltungen und Lebensformen verndert. Die gesellschaftlichen Milieus (zwei Eliten- und drei Volksmilieus je nach Lage und Habitus) bleiben zwar relational stabil, haben sich aber in sich weiter ausdifferenziert. Gleichzeitig hat sich auch die Integrationskraft der weltanschaulichen Lager quer zu den Milieus in der Weise verringert, dass sich eine zunehmende Entkoppelung gesellschaftspolitischer Haltungen zwischen elitren und nicht-elitren Milieus feststellen lsst, und schließlich: „Was bis zu einem bestimmten Grade zerfllt, sind die Hegemonien bestimmter Parteien (und Fraktionen der Intellektuellen) ber ihre Anhnger in den ideologischen Lagern. Er handelt sich mithin um eine Reprsentationskrise „als Folge einer zunehmenden Distanz zwischen Fhrung, Eliten und Milieus“ (Vester 2001, 104). Fr die traditionell SPD-nahen Gewerkschaften liegt hier eine Bruchstelle gesellschaftlicher Akzeptanz, sowohl im Hinblick auf deren Breite als auch der parteipolitisch ausgerichteten Integrationskraft berhaupt.
Ausgangsposition der Studie ist, dass dieses Konglomerat vernderter Rahmenbedingungen im Alltag des konkreten Denken und Handelns zu Irritationen fhrt. Gewohnte Vorgehens- und Verhaltensweisen, Denkweisen und Arbeitsstrukturen fhren nicht mehr zum Erfolg oder werden in Frage gestellt – nicht bei/von allen, aber doch bei/von einigen, so dass insgesamt die Selbstverstndlichkeit organisational etablierter Denk- und Handlungsweisen, sozusagen der praktizierte Konsens, erschttert ist. In methodologischer Hinsicht heißt dies, die ‚Arbeit am Konsens‘ und der Aufrechterhaltung oder Vernderung von Handlungs- und Denkformen wird besonders sichtbar, ebenso desintegrative beziehungsweise integrative Faktoren und Prozesse. Inwiefern solche Faktoren und Prozesse zu erkennen sind und welcher Weise sich Konsens- oder Divergenzbildungen vollziehen, welche Themen, Personengruppen, Handlungsformen relevant werden/bleiben und wer/was nicht thematisiert wird, ist nur empirisch beantwortbar und zeigt die Optionen mittelfristigen gewerkschaftlichen Handelns auf.
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Untersuchungseinheit ist eine Verwaltungsstelle der IG Metall. Dabei handelt es sich um die unterste Untergliederungsebene, in der sowohl Verwaltungsangestellte als auch ‚Hauptamtliche‘ (‚politische Sekretrinnen‘) beschftigt sind. Kernbereich der Arbeit ist die Betreuung und Beratung von Mitgliedern und Betriebsrten; sie obliegt vor allem den Hauptamtlichen. Auf dieser Ebene arbeiten Gewerkschaft und Betriebsrte als ‚Sulen‘ des bundesdeutschen dualen Interessenvertretungssystems am unmittelbarsten und alltglich eng zusammen. Die vermuteten Irritationen, Brche im ‚praktizierten Konsens‘ und etwaig daran anschließende Prozesse der Rekonsensualisierung mssen hier unter unmittelbarem Handlungsdruck bearbeitet werden. Die untersuchte Verwaltungsstelle liegt in Westdeutschland und ist wie viele andere vom Niedergang ehemals großer Industriebetriebe betroffen. Aufgrund der ‚Fallhhe‘ von tradierten Handlungs- und Denkweisen zu heutigen Problemen und Anforderungen bedeutet dies methodologisch die erhhte Chance, dass Irritationen, Situationen der Desintegration und ‚Arbeit an der Stabilitt‘ besonders kenntlich werden. Das Untersuchungsdesign ist angelehnt an die Grounded Theory, das heißt Erhebungs- und Auswertungsschritte erfolgten ebenso im Wechsel wie Auswertung und Theoriebildung. In einer ersten Phase nicht-teilnehmender Beobachtung wurden Sitzungen und Veranstaltung unterschiedlicher Art besucht und protokolliert. Sie diente dazu, das Feld nher kennen zu lernen und Vertrauen zu Personen auf- beziehungsweise die Fremdkrper-Wahrnehmung gegenber mir als Forscherin abzubauen, und sie bildete die Grundlage fr die Leitfadenentwicklung. Dieser wurde in einem Pretest-Interview getestet und nach dessen Sichtung noch einmal berarbeitet. Die anschließende Erhebung qua leitfadengesttzter Interviews erfolgte in zwei Schritten: Zunchst wurden 6 Hauptamtliche befragt, die Interviews transkribiert und anhand bestimmter Leitfadenfragen eine Querschnittsauswertung vorgenommen. An sie schlossen sich erste theoretische berlegungen an. Auf der Basis desselben Leitfadens, jedoch modifiziert fr die vernderte Personengruppe, wurden anschließend 16 Mitglieder beziehungsweise kooptierte Mitglieder des Ortsvorstandes befragt. Die 23 Interviews bilden den Kern des Datenmaterials. Protokolle aus der Phase der nicht-teilnehmenden Beobachtung sowie Dokumente (vor allem Geschftsberichte) werden ergnzend herangezogen. Die berlegungen dieses Artikels sind Teil der noch laufenden, abschließenden Auswertung.
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2. Institutionen und Leitbilder4 Wie im vorherigen Abschnitt bereits angedeutet, erfolgt gewerkschaftliche Interessenvertretung in Deutschland in einem spezifischen Gefge aus Gewerkschaften als Mitgliederorganisationen und Betriebsrten als davon rechtlich unabhngiger Ebene. Zu gewerkschaftlicher Organisation und Politik und dem Prozess ihrer Reproduktion gehrt damit auch die praktische Integration von Gewerkschaften und Betriebsrten. Diese Reproduktionsanforderungen beziehen sich auf Strukturen, das Gewinnen beziehungsweise Halten von Mitgliedern sowie deren Integration qua Auseinandersetzung um Interessen, Programme und ihre Durchsetzung. Dies wird beeinflusst durch das Krfteverhltnis politischer Strategien beziehungsweise der sie tragenden ‚Gruppierungen‘5, die als Netzwerke quer zur Organisation bestehen und die es ber die gemeinsame politische Ausrichtung ermglichen, sowohl intern „berschaubare Substrukturen“ (Weischer 1988, 146) zu schaffen als auch der gewerkschaftlichen Arbeit einen ber sie hinausreichenden Sinn zu geben. Gleichzeitig sind Gewerkschaften vor allem im mnnlichen Arbeitermilieu verankert. Gewerkschaftliche Reprsentation erfolgt qua Arbeit an der Definition der sozialen Welt, der Formulierung von Programmen und Forderungen sowie der Entwicklung von Politikformen und Durchsetzungsstrategien. Eine ausreichend große Mitgliederzahl gehrt zu den „Bestandsvoraussetzungen“ (Mller-Jentsch 1997, 119) von Gewerkschaften, die Fhigkeit, Beteiligung – nicht zuletzt in Form der Mobilisierung zu Arbeitskmpfen oder in akuten Konfliktsituationen – und Umsetzungsbereitschaft von Vereinbarungen und Beschlssen zu organisieren, zu den „Handlungsvoraussetzungen“ (Mller-Jentsch 1997, 119). Die Reproduktion gewerkschaftlicher Handlungsfhigkeit beinhaltet damit auch die bestndige Arbeit an der Entfaltung von Macht. Die Institutionentheorie bietet sich dafr an, die gewerkschaftstheoretische Perspektive auf den Prozess der Reproduktion einerseits und die sozialkonstruktivistische Sicht, in der die Stabilitt jeglicher gesellschaftlicher Gebilde immer nur eine Stabilitt auf Zeit und in zugespitzt mikrosoziologischer und -politischer Sicht eine Momentaufnahme sein kann, in einem theoretischen Rahmen zu integrieren, in dem Stabilitt wie Wandel durch unterschiedlich machtvolle Akteure beeinflusst 4
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Ich beziehe mich in diesem Abschnitt berwiegend auf Arbeiten zum Institutionenbegriff, die im Rahmen des Schwerpunktprogramms »Theorie politischer Institutionen« der Deutschen Forschungsgemeinschaft in der ersten Hlfte der neunziger Jahre entwickelt wurden mit dem Ziel, im Hinblick auf die empirische Analyse der Entwicklung (vor allem) politischer Institutionen eine Rahmentheorie zu entwickeln. Dies ist nicht parteipolitisch zu verstehen, sondern bezieht sich auf Strategien gewerkschaftlichen Handelns. Christoph Weischer (1988) hat dies fr die deutsche Gewerkschaftspolitik nach 1945 ausfhrlich analysiert.
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werden. Vor diesem Hintergrund gesehen, bietet die Institutionentheorie zunchst eine allgemeine Bestimmung fr gesellschaftliche Entitten an: „Soziale Institutionen sind relativ auf Dauer gestellte, durch Internalisierung verfestigte Verhaltensmuster und Sinngebilde mit regulierender und orientierender Funktion. Institutionen sind relativ stabil und damit auch von einer gewissen zeitlichen Dauer, ihre Stabilitt beruht auf der temporren Verfestigung von Verhaltensmustern. Sie sind soweit verinnerlicht, dass die Adressaten ihre Erwartungshaltung, bewusst oder unbewusst, auf den in ihnen festgehaltenen und von ihnen ausgedrckten Sinn ausrichten.“ (Ghler 1994, 22)
Es ist unverzichtbar, in die Analyse von Institutionenwandel „all die vielfltigen Prozesse mit einzubeziehen, die unterhalb der ersten Wahrnehmungsschwelle schrittweise und eher kontinuierlich eine Flle kleiner Vernderungen bewirken, deren Bedeutung insgesamt eher einem abruptem Wandel nicht nachzustehen braucht“ (Ghler 1997c, 8). Whrend in der konventionellen Sichtweise Institutionen allein „als Systeme von Regeln, Normen oder Rollen verstanden [werden; PW], die aufgrund gemeinsamer Determinationen das Verhalten festschreiben und vereinheitlichen“ (Wagner 1993, 469), kommt es demgegenber darauf an, den Begriff Institution so zu konzeptualisieren, dass sowohl die ordnungsstiftenden, stabilisierenden, von Konsens bestimmten Momente als auch die unruhigen und brchigen, von Zweifel oder auch Streit bestimmten Momente unterschiedlicher Situationen damit gefasst werden knnen. Stabilisierung und Konsensbildung mgen in Phasen hoher Bestndigkeit fr selbstverstndlich gehalten werden, sind es aber keineswegs. Die Bemhungen darum knnen auch fehlschlagen, und Wagner weist zu Recht darauf hin, dass es sozialer Aufwnde bedarf, um sie zu erreichen: „Um aus einer Situation des zweiten Typs [Instabilitt, offene Situation; PW] zu einer des ersten zu gelangen [stabile Ordnung; PW], ist … ‚soziale Arbeit‘ oder ‚Arbeit der Annherung‘ erforderlich, deren Erfolg nie gewiß ist“ (Wagner 1993, 469). Institutionen als langfristig stabile und durch Handeln reproduzierte Entitten erfordern somit „eine stndige Konstruktion von Gemeinsamkeit, ein ‚Gleichsetzen‘ von Personen und Objekten, die nicht natrlich und selbstverstndlich ‚gleich‘ und ‚gleichwertig‘ sind“ (Wagner 1993, 470). Der Blick auf beide Momente in Verbindung mit der Prozessperspektive fhrt aber auch zu Konsequenzen fr das Verstndnis von stabilen Situationen: Auch das selbstverstndliche Denken und Handeln in normalen, gewohnten und als solche fr richtig gehaltenen Bahnen beinhaltet als Kehrseite bestndige Arbeit an der Ausschließung, Tabuisierung oder Minorisierung anderen Denkens und Handelns, das aber gleichwohl existiert. Insofern beinhalten stabile Ordnungen immer auch ein Moment der Fragilitt – gleichsam ‚Sollbruchstellen‘ oder ‚Einfallstore‘ fr Irritationen und kritisches Hinterfragen. Durch diese analytische Fokussierung auf den Prozess der Herstellung von Stabilitt oder Wandel kommen Institutionen nicht mehr nur als stabile, sondern auch als gleichermaßen fragile Gebilde in den Blick.
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a) Institutionen, gewerkschaftliche Handlungsmacht und Richtungen institutionellen Wandels Bei Gewerkschaften, oder zutreffender gewerkschaftlicher Interessenvertretung auf organisationaler und betrieblicher Ebene, handelt es sich in einem engeren institutionentheoretischen Sinn nicht um allgemein soziale, sondern um politische Institutionen. In ihnen werden Interessen in Entscheidungen umgeformt und auch mit einer gewissen Verbindlichkeit umgesetzt, und dies bedarf bestimmter Voraussetzungen: „Politische Institutionen sind Regelsysteme der Herstellung und Durchfhrung verbindlicher, gesamtgesellschaftlich relevanter Entscheidungen und Instanzen der symbolischen Darstellung von Orientierungsleistungen einer Gesellschaft.“ (Ghler 1997a, 29)6 „Die regulierende soziale Funktion von Institutionen meint politisch die Umsetzung von Interessen in Entscheidungen und deren Ausfllung, bezogen auf ein soziales Ganzes und versehen mit Verbindlichkeit; relative Dauer und Internalisierung bedeuten in politischen Institutionen ein Mindestmaß an tatschlicher Macht, rechtlicher Normierung und Akzeptanz durch die Betroffenen. Dies verlangt zugleich ein Mindestmaß an gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen und … Partizipationsmglichkeiten. Politische Institutionen sind in ihrer Funktion zwar berpersnlich, politische Entscheidungen werden aber von prinzipiell angebbaren Personen getroffen und durchgefhrt. Politische Institutionen sind der Rahmen, innerhalb dessen diese Personen agieren.“ (Ghler 1994, 22)
Unverkennbar gehren Macht- und Reprsentationsbeziehungen zu den konstitutiven Bestandteilen politischer Institutionen. Ghler geht dabei von zwei grundlegenden sozialen Beziehungsmustern aus, der Willens- und der Symbolbeziehung, die sich nach der Art der Machtentfaltung und des Charakters der Reprsentation unterscheiden lassen. Auf der Ebene der Willensausbung handelt es sich um transitive Macht und Reprsentation qua Mandatierung und Mandatsausbung, auf der Ebene der Symbolbeziehung um intransitive Macht und die Herstellung von Gemeinsamkeiten des Denkens und Handelns. Im Anschluss an Max Weber liest sich Macht als „jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.“ (Weber 1980, 28) Diesen – weitgehend auch unser Alltagsverstndnis prgenden – Aspekt des Machtbegriffs bezeichnet Ghler als transitive Macht. Zum zweiten Aspekt der intransitiven Macht kommt er unter Bezug auf Hannah Arendt. Sie ent6
Ghlers berlegungen sind stark auf die Analyse staatlicher politischer Institutionen ausgerichtet. Jedoch gibt es auch unterhalb und quer zu dieser Ebene Institutionalisierungsprozesse und institutionalisierte Gebilde, in denen Interessen formiert und realisiert werden – wie eben beispielsweise das System der Interessenvertretung durch Gewerkschaften und Betriebsrte. So schreibt Rehberg: „Auch mssen Institutionen nicht immer Geltung fr Gesamtgesellschaften oder große gesellschaftliche Gruppen beanspruchen.“ (Rehberg 1994, 57)
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steht, wenn Menschen zusammen handeln, und in diesem Sinne entspricht sie „der menschlichen Fhigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln“ (Arendt 1970, 45, zitiert nach Ghler 1997b, 39). Whrend sich transitive Macht insofern als Willensbeziehung ansehen lsst, als es darum geht, Willen durchzusetzen, besteht intransitive Macht darin, dass gemeinsame Wertvorstellungen entwickelt und auf Dauer gestellt werden. Parallel zu diesen beiden Machtebenen ereignet sich Reprsentation in politischen Institutionen ebenfalls auf zwei Ebenen: • Charakteristikum von Reprsentation auf der Ebene der transitiven Machtausbung ist das Erteilen von Mandaten und deren Ausbung. Dabei geht es nicht um die ‚reale‘ Abbildung von Willensverhltnissen, sondern ihre mittelbare Legitimation. Sie hngt ab von der Gestaltung der Kontrolle der Reprsentanten durch die Reprsentierten sowie der „Fiktion der Gemeinwohlorientierung“ (ebd., 48), also der Unterstellung, die Reprsentierenden handelten in einem berindividuellen Interesse. Reprsentation ist aus dieser Perspektive der analytische Begriff fr jegliche Art von Interessenbndelung, in der nicht „der Wille der Beteiligten selbst unmittelbar zur Geltung kommt, sei es durch Einstimmigkeit, sei es als (behauptete) Identitt von Fhrer und Gefolgschaft“ (Ghler 1994, 35). Ihr Gegenstand ist die Steuerung politischer Institutionen durch Regulierung von Handlungen und Handlungsoptionen qua organisatorischer Mechanismen und technischer Verfahren. • Auf der Ebene der intransitiven Macht geht es um symbolische Reprsentation. Dies bezeichnet bei Ghler die sichtbar gemachte Verkrperung fiktiver Gemeinsamkeiten, die jedoch empirisch nicht als ‚reale‘ Gemeinsamkeiten unterstellt werden knnen. Symbole stellen in diesem Sinne eine „Verdichtung“ (Ghler 1997b, 57) gemeinsamer Wertvorstellungen dar und wirken „stets kognitiv und affektiv zugleich und dabei nie eindeutig und erzwingbar“ (ebd.). Noch vor der Frage nach der „Herstellung einer ‚schlagkrftigen‘ Einheit“ (Ghler/Khn 2000, 38) geht es dabei „um die Konstitution eines Systems, das sich durch kommunikative Relationierung berhaupt erst der Selbstmchtigkeit bewusst wird“ (ebd.). Die symbolische Darstellung von Gemeinsamkeiten ber dauerhafte Reprsentationsmedien erffnet „zugleich die Mglichkeit der Selbstvergewisserung“ (ebd.) und situationsbergreifenden Stabilisierung. Damit zielt symbolische Reprsentation auf Orientierung und Integration. Intransitive Macht ist nicht allein ein gleichsam passives Abbild geteilter Meinungen, sondern ist auch Ergebnis von Prozessen der Kooperation und Koordination, der praktizierten Kommunikation. Wertvorstellungen und deren symbolische Verdichtung knnen zwar beeinflusst, aber nicht vorgegeben werden; ihre Akzeptanz ist auch Ausdruck gemeinsamer Lebensformen: Symbole bedrfen „der Interpretation, um
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angenommen und verstanden zu werden. Sie lsen Assoziationen aus, und erst zusammen mit den weiterfhrenden Assoziationen des Interpreten ist der Symbolgehalt von ihm aufgenommen. … Damit Symbole angenommen und verstanden werden, bedarf es gewissermaßen eines Resonanzbodens an Grundvorstellungen und Werthaltungen; … die Orientierung an Symbolen bewirkt keine eindeutige Reaktion: Symbole sind motivbildend fr individuelles und kollektives Handeln, sie steuern aber nicht, jedenfalls nicht in einem mechanistischen Kausalzusammenhang, das menschliche Verhalten.“ (ebd., 31) Akteure in politischen Institutionen sind fr Ghler sowohl Organisationen als auch handelnde Personen. Politische Institutionen und Institutionenwandel lassen sich also entlang der Ebenen ihrer Struktur, ihrer Funktionsweise, ihrer Selbstprsentation und Symbolverwendung unter Bezug auf ihre Akteure und deren Beziehungen analysieren. Dabei geht es um die Institution als Gebilde. Jedoch „[sind] Institutionen […] ohne ihre Beziehungen zu ihren Adressaten nicht zu begreifen“ (Ghler 1997a, 25), und diese Relation der Institution als Gebilde zu ihren Adressaten bezeichnet er als „institutionelle Konfiguration“ (ebd.). Analyse von Institutionen und Institutionenwandel zielt demnach im engeren Sinn auf eine Untersuchung interner, im weiteren Sinn zustzlich externer Strukturen, Funktionsweisen, Formen der Selbstprsentation und Symbolverwendung. Im letzeren Sinn „wird Institutionenwandel nicht als Vernderung von Institutionen, sondern als Vernderung von Bestimmungsfaktoren von Institutionen untersucht“ (ebd.). Vor dem Hintergrund dieser institutionentheoretischen Bestimmungen, fokussiert die Fallstudie auf die Ebene der symbolischen Reprsentation und Aspekte intransitiver Machtentwicklung, mithin auf die Entwicklung von Orientierungen und integrativer beziehungsweise desintegrativer Momente. Definitorisch lsst sich gewerkschaftliche Interessenvertretung im Rahmen des dualen Systems aus Gewerkschaften und Betriebsrten nicht so einfach einordnen wie die Trennung von Institution als Gebilde und institutioneller Konfiguration dies nahe legt. So sind beispielsweise Gewerkschaften personell ber die Mitgliedschaft von Betriebsratsmitgliedern mit Betriebsrten verbunden, funktional ber das Zusammenspiel von gewerkschaftlich ausgehandelten Tarifvertrgen und deren betrieblicher Umsetzung beziehungsweise, wo mglich, Ergnzung. Mitgliedschaft oder nicht – viele Beschftige setzen Betriebsrte und Gewerkschaft gleich. Mit anderen Worten, auf der Akteursebene der Verwaltungsstelle wird die Grenze zwischen handelnden Personen, Beteiligten und Betroffenen, zwischen Institution und Adressaten, schwierig. Diese Detailberlegungen mssen fr diesen Artikel keine Rolle spielen; mit ihnen wird jedoch die Vielzahl der Ebenen deutlich, die im Konkreten zur Reproduktion gewerkschaftlicher Erfolgs- und Durchsetzungsfhigkeit ein Rolle spielen:
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• Die Fhigkeit, auch ber Differenzen hinweg gemeinsam getragene Interessen zu definieren und symbolisch zu reprsentieren, entscheidet ber Qualitt und Ausmaß der Zustimmung innerhalb der Mitgliedschaft von Gewerkschaften. • Zu dieser Mitgliedschaft gehren auch Betriebsratsmitglieder. Deren Legitimationsbasis im Betrieb sind jedoch nicht allein Gewerkschaftsmitglieder, sondern alle Beschftigen, von denen sie auch gewhlt werden (mssen). Sei es nun, ob die Bandbreite divergierender Interessen hier grßer ist als in der mglicherweise schon durch die Mitgliedschaft gefilterte Divergenz innerhalb der Gewerkschaften, sei es, dass Betriebsrte als betriebliche Mandatstrger sich der oben angesprochen Fiktion der (betrieblichen) Gemeinwohlorientierung symbolisch verpflichtet sehen – ber sie kommen betriebliche Spezifika in den Pool der von Gewerkschaften zu bndelnden Interessen. • Die Akzeptanz gewerkschaftlicher Politik hat in dieser Mitgliedergruppe zudem einen besonderen Maßstab, und zwar deshalb, weil vor allem die gewerkschaftlich organisierten Betriebsrte diejenigen sind, die qua eigener berzeugung und/oder Bindung Gewhrsleute fr die Realisierung tariflicher Regelungen sind7 – oder, als Indiz von Desintegration, eben auch nicht. • Zieht man nun die definitorischen Grenzen eng bei Gewerkschaften als Institutionen, handelt es sich bei den eben beschriebenen Verknpfungen um eine institutionelle Konfiguration auf der Basis eines bestimmten Adressatenkreises. Diese Konfiguration I ist jedoch wiederum eingebunden in breitere gesellschaftliche Rahmenbedingungen, die sich gleichsam als Adressaten sowohl der gewerkschaftlichen wie der betrieblichen Interessensvertretungspolitiken verstehen lassen (institutionelle Konfiguration II) – und zwar insofern, als diese ber die Mitgestaltung und -interpretation rechtlicher und tariflicher Regelungen gesamtgesellschaftlich relevante Entscheidungen treffen und symbolisch an Vorstellungen gesellschaftlichen Gemeinwohls bemessen werden.8
Die Reproduktion gewerkschaftlicher Handlungsfhigkeit ist somit konstitutiv gebunden an die Fhigkeit, auf unterschiedlichen Ebenen Gemeinsamkeiten herzustellen und diese symbolisch zu reprsentieren, oder anders ausgedrckt, kognitive wie affektive Identifikationsangebote zu entwickeln, die auf Akzeptanz stoßen.9 7
8
Formal rechtlich obliegt es selbstverstndlich allen Betriebsrten, ob nun gewerkschaftlich organisiert oder nicht, die Umsetzung oder Einhaltung rechtlicher und geltender tarifvertraglicher Regelungen zu kontrollieren. Geht es darum inhaltlich, so ist methodologischer Fokus der Studie Konfiguration I, und zwar in der sehr spezifischen Zusammensetzung von Hauptamtlichen und (berwiegend) betrieblichen FunktionrInnen, die als lokaler Kern von GestalterInnen gewerkschaftlicher Arbeit beziehungsweise gewerkschaftlicher Entscheidungstrger als Maßstab fr Integration beziehungsweise Desintegration von besonderem Interesse sind.
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Oder, wie Speth betont: „Das Darstellen muss durch das Herstellen ergnzt werden“ (Speth 1997, 471). Die Gemeinsamkeitsfiktion als Element symbolischer Reprsentation gewinnt Realittsmacht erst durch das Zusammenwirken von symbolischer Reprsentation und immer wieder interpretierender Bezugnahme. Politische Institutionen emergieren aus diesem Prozess: „Der politische Verband … wird durch Reprsentation zur Existenz gebracht“ (ebd., 472).
b) Leitideen, Leitbilder und Institutionenwandel Die berlegungen unter a) beschreiben im Groben den Werkzeugkasten, um Prozesse der Integration beziehungsweise Desintegration vor allem auf der Ebene der symbolischen Reprsentation zu fassen. Integration auf dieser Ebene geschieht „primr (…) durch Orientierung an einer Leitidee oder einem Set von Leitideen“ (Ghler 1994, 43). Dabei sind Leitideen „nicht einfach auf den Begriff gebrachte »Notwendigkeiten«, sondern sie symbolisieren jeweils durchgesetzte (wenn auch zuweilen auf lange Traditionen zurckgreifen knnende) Ordnungsarrangements“ (Rehberg 1994, 67). In ihrem symbolischen Charakter sind Leitideen selber „das Resultat von Institutionalisierungsprozessen, Bezugspunkt von kontrollierenden ebenso wie oppositionellen Verhaltens, der Normenaffirmation ebenso wie ihrer Negation“ (ebd., 69). „Jede Leitidee leistet eine Heraushebung aus einer Vielzahl oftmals unvereinbarer Orientierungsmglichkeiten; sie ist eine Synthese von Widersprchlichem und verleugnet zugleich die Mehrzahl der in ihr spannungsreich verarbeiteten und der mit ihr konkurrierenden Sinnsetzungen und Ordnungsentwrfe. … Auch deshalb sind Leitideen nie im Singular zu denken. Immer geht es um einen Komplex normierender und handlungsbestimmender Orientierungen. Die Realitt sozialer Kmpfe, das machtgesttzte Einfrieren von Kampfergebnissen und situativen Kompromissen sind der Untergrund jeweiliger institutioneller »Einheiten«, die in »Leitideen« sich ausdrcken knnen.“ (ebd., 68) „Ein jeweils umkmpfter Komplex von Leitideen und deren Auslegbarkeit kann deshalb auch als System von Leitdifferenzen verstanden werden … Allerdings funktionieren Leitideen nicht nur als Differenzsetzungsleistungen, sondern ganz ebenso als Identifikations9
Interessant ist in diesem Zusammenhang Rehbergs Hinweis, dass zur symbolischen Reprsentation alle Verkrperungsformen gehren, beispielsweise auch „die symbolische Verweisstruktur personaler Rollentrger“ (Rehberg 1994, 62). Das heißt, auch wer als ReprsentantIn auserkoren ist, eine institutionalisierte Entitt zu reprsentieren, und welche Merkmale oder welcher Habitus dabei zum Tragen kommen, steht (freilich nicht als Einziges) symbolisch fr das Identifikationsangebot, die ‚Botschaft’, die eine solche Entitt an ihre Mitglieder ebenso wie ihre externen Adressaten bermittelt. Dass die Mitgliederstruktur der IG Metall vorwiegend aus Arbeitern besteht, ist damit nicht nur ein quantitatives oder strukturelles Problem, sondern trgt gleichzeitig noch zur Perpetuierung dieses Zustandes bei.
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und Zielbestimmungsformeln der Ordnung. In jedem Falle sind sie als Spannungsverarbeitungen zwischen verschiedenen Imperativen, Wert- und Lebensordnungen aufzufassen.“ (ebd., 69)
Institutionelle Integration erfolgt damit nicht allein ber eine entstandene Ordnung, sondern auch qua Auseinandersetzungen ber Leitideen und deren ‚wahre‘ Interpretation. Als bloße Begriffe weitgehend abstrakt und vor allem schlagwortartig verwendbar, was auch ihre brckenbildende Symbolkraft ber Differenzen hinweg ausmacht, bekommen sie in bestimmten ‚Anwendungen‘ und Interpretationen ein konkretisiertes wie institutionalisiertes ‚Gesicht‘. Dieser Institutionalisierungsprozess birgt ‚Dominanzen‘, seien es Priorittensetzungen hinsichtlich Personengruppen10, seien es dominante Koordinationsmuster und -strukturen, Verhaltensweisen oder Vorstellungen ber Menschen, die Institution/Organisation oder die Gesellschaft als Kontext. Konflikt ist dabei ein Integrationselement: „Die Meinungsdifferenzen stabilisieren durch den Konflikt unterschiedlicher Interpretationen hindurch die Leitidee und mit ihr die Institution“ (Stlting 1999, 115), und zwar dadurch, dass sie „gemeinsamer normativer Bezugspunkt“ (ebd.) bleibt. Auch die (aus Institutionensicht) ‚letzten Werte‘ sind somit selber Gegenstand historischer Emergenz und werden zu einem empirisch zu klrenden Phnomen. Dass Differenzen konstitutives Element von Institutionen sind, fhrt Stlting zu der Position, Institutionen seien damit auch konstitutiv instabil. Weniger Instabilitt als vielmehr Fragilitt11 scheint mit hier jedoch der angemessene Begriff zu sein, sind doch Institutionen trotz allem gerade durch ihre, auf Verfestigungen zurckgehende, Stabilitt definiert. Fragilitt ist konstitutiver Bestandteil von Institutionen insofern, als auch unverndert bleibende und insofern stabile Institutionen dies nur bleiben, als die bestndige Reaktualisierung eines, wie Rehberg es im obigen Zitat berg nennt, eingefrorenen Kampfergebnisses erfolgt – das im Sinne der symbolischen Reprsentation einen Konsens symbolisiert, jedoch angesichts der immer sozialen Entstehungsgeschichte und der darin ‚eingefrorenen‘ (Zwischen-) Ergebnisse eher als ‚frozen consensus‘ bezeichnet werden kann. Dieser ‚frozen consensus‘ ist Ergebnis und Ausdruck von Aushandlungsprozessen unterschiedlich machtvoller Akteure, geprgt von deren im Laufe der Zeit subjektiv wie intersubjektiv entwickelten Handlungs- und Denkmustern, die auch die Interpretation von Leitideen einschließt. Geprgt von machtvolle(re)n Akteuren und/oder Mehrheiten, bezeichne ich ihn auch als ‚dominanten Konsens‘. Als integrativer Bezugspunkt knnen Leitideen dabei nur so lange fungieren, als sie (noch) mit Hoffnungen und Erwartungen belegt werden und damit Anlass zur Bildung von Differenzen geben. Der Umstand, dass bestimmte Leitideen aus dem Kanon der thematischen Bezugspunkte ausschei10 11
Vgl. Fußnote 9. Fr diese Anregung zur begrifflichen Differenzierung danke ich Brigitte Aulenbacher.
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den und im Hinblick auf sie die „stndige Konstruktion von Gemeinsamkeit“ (Wagner 1993, 470) aufgegeben wird, wre in diesem Zusammenhang ein Hinweis auf Instabilitt beziehungsweise beginnende Deinstitutionalisierungsprozesse im Sinne der oben angesprochenen schrittweisen kleinen Vernderungen „unterhalb der ersten Wahrnehmungsschwelle“ (Ghler 1997c, 8). Historisch stellen Gleichheit (beziehungsweise die Parole ‚gegen Ungleichheit‘) und Fortschritt Leitideen gewerkschaftlicher Institutionalisierung dar. Als in die Zukunft gerichtete Vorstellungen zu und Bedrfnissen nach einer besseren gesellschaftlichen Praxis erffneten sie Spielrume fr Wnsche und Hoffnungen, die als eine Art berschuss ber die schlechtere Gegenwart zum integrativen Faktor wurden. In ihnen klingen sowohl politische Wertvorstellungen an (Gleichheit) als auch das Interesse an ‚greifbaren‘ Verbesserungen, feststellbaren Erfolg (Fortschritte beim menschenwrdigen Leben und in der gesellschaftlichen Anerkennung).12 Nichtsdestoweniger stecken schon im symbolischen Begriff der Arbeiterbewegung, der die Wurzeln ebenso beschreibt wie mythologisiert, Aussagen ber Priorittensetzungen und Schließungen, nmlich in Richtung auf gewerbliche mnnliche Erwerbsarbeit, fr die vor allem Gleichheit und Fortschritt erreicht werden sollte. Insofern handelt es sich dabei um eine spezifische Interpretation der Leitidee in Gestalt eines positiv konnotierten Arbeitertums, welches sich affirmativ zu solchen gesellschaftlichen (Ungleichheits-) Strukturen verhielt (oder sie im Sinne der Priorittensetzung als nachgeordnet ansah), die jenseits von Ungerechtigkeiten gegenber der Arbeiterschaft lagen. Wenn bis in die heutige Zeit die Ergebnisse von Tarifauseinandersetzungen am Beispiel der vierkpfigen Familie mit dem Alleinernhrer Mann ‚an den Mann gebracht‘ werden, ist dies nicht allein Ausdruck dessen, dass diese Familienform gesellschaftlich existiert, sondern auch Ausdruck der Fortexistenz dieses spezifischen Leitbildes, das dieses als gesellschaftliche Normalitt unterstellt. In der Wahrnehmung der Beteiligten wie der AdressatInnen werden Institutionen nicht allein durch ihre Leitideen identifiziert, die als normativer Bezugspunkt dienen, sondern auch durch das konkrete Gesicht oder Profil, das eine Institution im Laufe ihres Institutionalisierungsprozess bekommen hat – das Ordnungsarrangement bildet gleichsam das institutionelle ‚Abbild‘ der Leitideen, das ber einzelne Bildfacetten spiegelt, welche Strukturen und Personengruppen, welche Handlungsund Denkweisen normalerweise als vorrangig, wichtig und richtig gelten. Ulrich Mckenberger hat dies mit Blick auf Erosionsprozesse im Tarifwesen einmal treffend als „Normalittsunterstellungen“ (1995, 27) bezeichnet, die zusammen ein Paradigma ergeben, und die einerseits idealisierte, fiktive Zge haben, andererseits auf einer empirischen Basis aufruhen. Das ‚Abbild‘ als Normalitts-Paradigma bringt den gesamten Hintergrund durchaus komplexer und teilweise in sich widersprchli12
Vgl. dazu Mooser (1984, 185 f.).
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cher konkreter Strukturen, Handlungs- und Denkweisen auf vereinfachte, aber dennoch nicht willkrliche Nenner. Je selbstverstndlicher und fragloser ein solches Normalitts-Paradigma auch als Symbol fr die Leitideen akzeptiert wird, desto strker institutionalisiert es in seinen Facetten ist, fungiert es in diesem Sinne auch als normativer Bezugspunkt richtigen und angemessenen Handelns und Denkens. In dem Maße, indem ein Normalitts-Paradigma – gerade auch unter Hinweis auf Leitideen, das ‚ursprnglich‘ oder ‚eigentlich‘ damit Gemeinte – von den Beteiligten hinterfragt wird oder an gesellschaftlicher Attraktivitt/Akzeptanz bei den AdressatInnen verliert, wandelt es sich intern wie extern von einem Integrations- zu einem Desintegrationssymbol und ist unter Umstnden auch in der Lage, ‚dahinter stehende’ Leitideen zu diskreditieren. Es ist in diesem Fall also gleichermaßen Indikator fr den Verlust intransitiver Macht wie Mittel, diesen Prozess zu befrdern. Normalitts-Paradigmen lassen sich in gewisser Hinsicht als Leitbilder ansehen. Sie symbolisieren „modellhafte Bedingungsgefge“ (1995, 35), wie dies Mambrey/ Pateau/Tepper fr Leitbilder geltend machen, und sie stehen fr „Sichtweisen, geteilte Normen und Grundwerte, die entweder dazu beitragen, bestimmte schon bekannte empirische Erscheinungen besser zu deuten, oder umgekehrt diese Erscheinungen berhaupt erst als relevant wahrzunehmen, sie zu entdecken“ (ebd., 32). Allerdings symbolisieren sie eine ‚alte’, bestehende Ordnung, wohingegen fr Mambrey u. a. „Leitbilder […] »Kampfbegriffe« innerhalb einer paradigmatischen (R)Evolution [sind]“ (ebd., 35), also eine ‚neue‘, zuknftige Ordnung symbolisieren. Als Vernderungsimpuls in eine bestehende institutionelle Ordnung eingebracht, ist ein Leitbild der Versuch, vor dem Hintergrund eines bestehenden Sinnsetzungs- und Ordnungsentwurfes eine Alternative zu entwickeln, und gegebenenfalls der Versuch, einer Entwicklung intransitiven Machtverlusts mit einer vernderten symbolischen Reprsentation zu begegnen. Dabei mssen nicht alle Normalittsunterstellungen des alten Paradigmas beziehungsweise alle Bildfacetten des ‚alten‘ Leitbildes in die Kritik geraten. Denkbar ist durchaus, dass einzelne Elemente herausgegriffen werden, um ihnen mit vernderten Interpretations-, Verhaltens- und Kooperationsentwrfen zu begegnen. Dabei geht es entsprechend nicht allein um eine vernderte Außendarstellung, sondern je nach einzelnen Bild-Facetten auch darum, in bestimmten Hinsichten den dominanten Konsens aufzukndigen und die institutionellen/organisationalen Strukturen nachhaltig zu verndern. Die eingangs genannte, allgemeine Bestimmung von Leitbildern als begriffliche Impulse aufgreifend, liegt der Unterschied zu Leitideen darin, dass letztere bereits in bestimmten Ordnungsarrangements ‚materialisiert‘ und ber Normalitts-Paradigmen symbolisiert sind, whrend Leitbilder mit einem Vernderungsimpuls eingebracht werden und erst zu einem Ordnungsarrangement gebracht werden wollen. Gemeinsam ist ihnen die Funktion als normativer Bezugspunkt. So Leitbilder Relevanz erlangen, ist damit natrlich aber auch eine Verschiebung des dominanten
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Konsens und seinen Priorittensetzungen verbunden. Der Eingngigkeit halber lsst sich anstelle von Normalitts-Paradigmen versus Leitbilder in der Darstellung auch von ‚alten’ versus ‚neuen‘ Leitbilder sprechen. Zu einem konkreteren Handlungsprogramm, das zu verschiedenen Facetten Orientierung anbietet, werden ‚neue‘ Leitbilder aber erst im Zuge in ihrer empirischen Realisierung.
3. Leitbildwandel auf halbem Wege – vorlufige Botschaften aus der Empirie Der ‚Steckbrief‘ der traditionellen IG Metall, zusammengesetzt aus verschiedenen Facetten, kann wie in Tabelle 1 beschrieben werden: Wer sind/wie funktioniert/ worauf beruht … Mitglieder und FunktionrInnen:
„die gewerkschaftlichen Blaumnner und die Facharbeiter“ (P3)
Hauptamtliche13:
mnnlich, gewerbliche Ausbildung und Erfahrung in der betrieblichen Interessensvertretung
Organisationsmacht:
große Werke der Fahrzeughersteller mit Tausenden oder gar Zehntausenden von Beschftigen; Stahlhersteller funktionierende Betriebsrats- und Vertrauensleutestrukturen
gewerkschaftliche Organisationsarbeit:
kontinuierliche Mitarbeit in regelmßig tagenden Gremien
Mitgliedergewinnung:
„Selbstlufer“ (P1) in Großbetrieben; Hauptamtliche haben damit kaum etwas zu tun
Gewerkschaft allgemein:
„Verknderfunktion“ (P1) und im Besitz der Wahrheit, wie die Gesellschaft und wie Leute zu sein haben, damit sie der Gewerkschaft gefallen; zentriert auf Betriebe und Tarife; enge Anbindung an die Sozialdemokratie
13
Hufig wird der Funktionrsbegriff auch fr Hauptamtliche (politische Sekretrinnen) von Gewerkschaften verwendet. Ich verwende der bersichtlichkeit halber diesen Begriff nur fr Gewerkschaftsmitglieder, die sich in irgendeiner Weise an gewerkschaftlichen Strukturen beteiligen sowie fr gewerkschaftlich organisierte Betriebsrte.
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Zusammenarbeit zwischen Hauptamtlichen, FunktionrInnen und Mitgliedern:
Folgebereitschaft gegenber der Gewerkschaft; „ein Pfiff, und die Mannschaft steht“ (P4)
Zusammenarbeit unter Hauptamtlichen:
hierarchische Fhrung von Verwaltungsstellen; Vorgabe von ‚Linien’
Tabelle 1: Steckbrief der IG Metall
Dieses Selbstbild setzt sich aus Aussagen sowohl von Hauptamtlichen als auch FunktionrInnen zum Thema »IG Metall frher« zusammen. Es ist eine summarische Darstellung, das heißt, nicht alle Befragten haben alle Einzelfacetten so benannt; es gab jedoch keine anderslautendenden Beschreibungen. Es deckt sich mit Charakterisierungen in der Literatur, so dass es sich wohl berechtigt als Normalitts-Paradigma oder ‚altes‘ Leitbild der IG Metall bezeichnen lsst. Beschreibungen dieser Art wurden jedoch nicht nur dann angebracht, wenn es um die IG Metall frher ging, sondern – mit Ausnahme der engen Bindung an die Sozialdemokratie, die, wo sie angesprochen wird, durchgngig als heute wesentlich geringer wahrgenommen wird – wurden alle Einzelfacetten durchaus auch fr Teile der heutigen IG Metall als zutreffend angesehen. Bis auf die Facette »Mitglieder und FunktionrInnen« wurden sie jedoch fr die Verwaltungsstelle heute zurckgewiesen. Das ‚alte‘ Leitbild fungiert gleichsam als eine Art Anti-Leitbild fr die Verwaltungsstelle heute, nach dem Motto: So sind wir nicht (mehr); es bildet weder die strukturelle noch die dominante Handlungs- und Denk-Realitt zutreffend ab. Strukturell hat die untersuchte Verwaltungsstelle diesem Bild bis Anfang der achtziger Jahre weitgehend entsprochen – abgesehen davon, dass sich dort nie Automobilhersteller oder Stahlhersteller befanden, jedoch bis zu den siebziger Jahren etliche Betriebe mit mehreren tausend Beschftigten, die als industrielle Großbetriebe die dominierende Rolle spielten. Seit den siebziger Jahren bis heute, vor allem aber in den achtziger Jahren ereigneten sich ein massiver Arbeitsplatzabbau und Betriebsschließungen. Gab es im Zustndigkeitsbereich der Verwaltungsstelle Mitte der siebziger Jahre noch ca. 95.000 Beschftige in der Metallindustrie, so verringerte sich diese Zahl bis Ende der achtziger Jahre auf knapp 71.000 und bis 2001 weiter auf unter 35.000. Entsprechend entwickelten sich die Mitgliederzahlen der Verwaltungsstelle von ca. 41.000 im Jahr 1975 auf gut 33.000 im Jahr 1989, bis hin zu unter 23.000 Ende 2001.14 Vor dem Hintergrund der Entlassungen und Betriebsschließungen der achtziger Jahre entwickelten sich Konflikte in Betrieben und in den Gremien der Verwal14
Zahlen zusammengestellt aus Geschftsberichten, Daten des Statistischen Landesamtes sowie einem Industrie-Branchenportrait der lokalen IHK.
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tungsstelle ber die richtige Politik, die sich gegen eine von „Betriebsratsfrsten“ dominierte, als zu sozialpartnerschaftlich empfundene Politik in den Betrieben und in den gewerkschaftlichen Gremien wandte, die zu großen Teilen von der SPD dominiert und kontrolliert wurde. Exemplarisch hierzu zwei Zitate: „… es gab eine, eine klare Orientierung auf so eine SPD-Linie hier in der Verwaltungsstelle, sagen wir mal konservative SPD-Linie, die also stabilisiert worden ist hier von den Bevollmchtigten, einem Teil der Hauptamtlichen und auch den Betriebsratsfrsten, die es damals wesentlich vermehrt gab, … wo eine sehr große Nhe dieser Betriebsratsvorsitzenden zur Geschftsleitung da war. Also das, diese Struktur gab es hier schon, die war auch festgefgt mit, mit ganz klaren Strukturen, also es gab hier eine SAG, … da waren alle SPD-Leute, Betriebsrats-, alle Delegierten der Delegiertenversammlung, oder Vertreterversammlung damals, die in der SPD waren, … die haben sich vor jeder Vertreterversammlung getroffen, mit dem Ersten Bevollmchtigten, und haben die Vertreterversammlung besprochen.“ (P2)
“ mein Vorgnger als Betriebsratsvorsitzender, der ist das … geworden zu ‘ner Zeit, wo bei [Betrieb 01] noch alles wunderbar war, ja – und dann hat’s geknallt ohne Ende. Der war vllig berfordert. … Und sein Vorgnger, der das 20 Jahre lang war, … der hat immer gesagt, Betriebsverfassungsgesetz, das Buch brauche ich nicht. Das wurde sozusagen, da wurde zum Konzernchef gefahren, … da wurde mit dem geredet, und dann war das Problem aus der Welt. … Aber … es wurde eher nur entschieden, was knnen wir noch mehr holen, ja, oder wie schaffen wir das jetzt und so, aber es gab nicht die großen Auseinandersetzungen um Personalabbau, um Vernderungen in … der Produktion …“ (P17)
Diese Konflikte waren freilich keine quasi-naturgesetzliche Folge aus der vernderten konomischen Lage, sondern hatten unter anderem auch damit zu tun, dass in den siebziger Jahren in etlichen Betrieben der Verwaltungsstelle Leute mit politisch motivierten Interessen zu arbeiten begannen, sich in Betriebsrats- und Vertrauensleutearbeit einmischten, zum Teil ber „oppositionelle“ (nicht IG Metall-) Listen zum Betriebsrat kandidierten und auch gewhlt wurden. In der Folge entwickelte sich dann eine Auseinandersetzung um Mehrheiten in den gewerkschaftlichen Gremien wie der Delegiertenversammlung und dem Ortsvorstand.15 Zur Illustration ein Zitat: 15
Delegiertenversammlungen finden vier Mal jhrlich statt und sind das beschlussfassende Organ in Verwaltungsstellen, das heißt, sie treffen „alle endgltigen Entscheidungen ber die rtlichen Gewerkschaftsangelegenheiten im Rahmen der Verwaltungsstelle“ (Satzung, § 15). Dem Ortsvorstand obliegt die Leitung der Verwaltungsstelle, und das heißt abgesehen von formalen Aufgaben allgemein zusammengefasst, ihm obliegt die Sicherstellung und Koordination der lokalen gewerkschaftlichen Arbeit. Er besteht aus der Geschftsfhrung der Verwaltungsstelle (1. und 2. Bevollmchtigtem/r und Kassierer/in, in der untersuchten Verwaltungsstelle zwei Hauptamtliche) sowie mindestens sechs BeisitzerInnen (in der untersuchten Verwaltungsstelle zur Zeit 14), die alle im vierjhrigen Rhythmus von der Delegiertenversammlung gewhlt beziehungsweise besttigt werden mssen. (Satzung, § 14)
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“Und bei uns hat es sich halt so abgespielt, dass h, dass es damals eine starke oppositionelle Gruppe gab, … vier Listen haben da kandidiert, und … bei der nchsten Wahl '78, da haben wir dann nur noch eine Oppositionsliste gemacht, und da haben wir dann auch eine Mehrheit bekommen im Betrieb. … Parallel haben wir auch versucht, innerhalb der IG Metall dann in den Gremien, zum Beispiel … die heutige Delegiertenversammlung, auch erst einmal berhaupt gewhlt zu werden, und natrlich auch Mehrheiten zu bekommen. Ein Hauptproblem war, dass die Wahlen zu diesen Vertreterversammlungen, dass die wirklich h vollkommen undemokratisch abgelaufen sind. Das heißt, sie wurden noch nicht einmal nach Satzung durchgefhrt. Dass nmlich Mitgliederversammlungen in den Betrieben stattfinden und dass da die Delegierten gewhlt werden. Das war mit ein Punkt wo wir uns zum Programm gemacht haben, wo wir gesagt haben, innergewerkschaftliche Demokratie. … Wenn es Betriebsrte gab, wurden dann immer die Vorsitzenden, die haben dann sich bestimmt wer da reingeht. Deshalb hat man auch immer Betriebsratsvorsitzende dort gefunden, und eigentlich kaum mehr jemand, vielleicht noch ein, zwei, die dann immer aus dem Betrieb noch mit durften. … Und wir haben es dann bei uns im Betrieb erstmalig geschafft, dass wir eine Mitgliederversammlung durchgesetzt haben, und auf der Mitgliederversammlung wurden dann alle bisherigen Delegierten, die wurden alle abgewhlt. Betriebsrats-, Gesamtbetriebsratsvorsitzender und so weiter. Und dann hatten wir auf einmal, sage ich einmal in Anfhrungszeichen, diese linke Mehrheit h von den Delegierten im Betrieb … Und das ist in anderen Betrieben zum Teil auch passiert, und damit hat sich dann auch ein anderes Klima in den Organen hier ergeben. Dann ging es, ging der Kampf darum, in diesen …, wie man es heute nennt, Ortsvorstand, in die Ortsverwaltung reinzukommen. Das war auch wieder ein schwerer Konflikt, ja. Weil die ja auf der Vertreterversammlung gewhlt wurden. … dass also immer mehr Leute dann von uns da reinkamen, wir aber auch dann eine andere Diskussionskultur reingekriegt haben, denn dass – wenn man das nicht erlebt hat, glaubt man es gar nicht – was da abging in Vertreterversammlungen, … dass dann auch Leute nachher im Betrieb drangsaliert wurden, wenn sie … hier irgendwo kritisch, was Kritisches hochkam, kamen in den Betrieb zurck, und dann wurde von dem Betriebsratsvorsitzenden im Verein mit der Geschftsleitung wurde dann auch der Druck ausgebt, also das war schon eine schlimme Atmosphre.“ (P13)
Zu Beginn der neunziger Jahre war die „linke Mehrheit“ (P13), die Dominanz der vormaligen Kritiker, in den Entscheidungsgremien der Verwaltungsstelle erreicht. Wer von den Befragten an der Phase ab Ende der siebziger Jahre teilgenommen hat oder etwas darber weiß (etwa ein Drittel), benennt zu ihrer Kennzeichnung „Grabenkmpfe“ (P8), politische „Fraktionierungen“ (P3), „Konflikte“ (P2) oder dass Leute „abgeschossen“ (P16) wurden. Auch wenn die Mehrheit der Befragten an dieser Phase nicht beteiligt war, muss vor diesem Hintergrund gesehen werden, dass die Verwaltungsstelle von den Befragten heute weitgehend und positiv konnotiert als offen charakterisiert wird. Gleichsam als Kehrseite der Medaille, gilt jedoch auch vielen Befragten mangelnde Verbindlichkeit als negatives Kennzeichen der Verwaltungsstelle:
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• Eine offene Diskussionskultur bescheinigt der Verwaltungsstelle die Mehrheit der politischen SekretrInnen. Dies macht sich wesentlich daran fest, dass in der Zusammenarbeit unter den Hauptamtlichen Hierarchiedenken keine Rolle spielt, formale Vorgesetztenfunktionen in der tglichen Zusammenarbeit nicht ausgespielt werden und jederzeit Kritik gebt wird. Dazu gehrt auch die selbststndige Arbeit, also die freie Entscheidung ber ihre Arbeitseinteilung, Priorittensetzungen und Vorgehensweisen. Eine weitere wichtige Facette ist die grundstzliche Diskussionsoffenheit, das heißt es gibt wird eine große Bereitschaft, Dinge zur Diskussion zu stellen; es gibt keine Linie, von der man nicht abweichen darf; man kann auch verrckte Ideen einbringen, es gibt „so keine Tabus“ (P1). Diese offene Streitkultur sehen zumindest einzelne Hauptamtliche auch in den gewerkschaftlichen Gremien; berwiegend heben sie jedoch vor allem positiv hervor, dass nicht (mehr) Betriebsrte und Vertrauenskrper aus großen Betrieben „politisch das Sagen“ (P7) beanspruchen. • Fr die Mehrheit der FunktionrInnen ist Offenheit ein positiver Maßstab fr das eigene Handeln oder den Umgang und die Strukturen innerhalb der betrieblichen Interessenvertretung, festgemacht an transparenter Information, offener Auseinandersetzung ber strittige Fragen und Zulassen von Kritik sowie an der Bereitschaft, Vernderungen und generell Entwicklungen und Phnomene auch jenseits der engen Tagesroutine wahrzunehmen und nicht auszublenden. Offenheit der Diskussion in gewerkschaftlichen Gremien ist nur fr etwa ein Drittel von ihnen ein Thema, und bei diesen sind die Wahrnehmungen gegenstzlich. Einige teilen, vor dem Hintergrund anderer Erfahrungen in der Verwaltungsstelle oder mit Gewerkschaften allgemein, die Wahrnehmung der Hauptamtlichen einer offenen Diskussionskultur in den Entscheidungsgremien. Andere, teilweise ebenfalls mit Kenntnis der ‚alten Zeiten‘ in der Verwaltungsstelle, bemerken jedoch ausdrcklich, dass im Ortsvorstand etliche Leute ihre Meinung zumeist nicht sagen, obwohl sie nach ihrem Wissen oft eine andere Meinung haben, oder dass in Delegiertenversammlungen das Diskussionsklima von nur wenigen Leuten bestimmt wird und eine sachliche Auseinandersetzung mit anderen Positionen nicht gefhrt wird beziehungsweise Leute mit anderen Positionen demotiviert werden, sich in diesem Diskussionsklima berhaupt auseinander zu setzen. Am strksten relativiert wird das Selbstbild, nach den Zeiten der Grabenkmpfe sei mit der ‚linken Mehrheit‘ auch Offenheit eingekehrt, in folgender ußerung: „Aber das wre auch so eine, eine Frage, die man mal prinzipiell diskutieren msste, weil oft andere Meinungen untergebuttert werden. Das war, frher waren wir es, die untergebuttert wurden, ne, und jetzt hat man in [Ortsname], sagen wir mal doch so mehr so einen linken Touch, und so die rechten Meinungen, also das heißt rechts sind die ja nicht, aber die etwas anders denkende Meinung wird dann da untergebuttert. Also es ist offenbar so,
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dass in solchen Gremien immer die Minderheiten nicht so wahrgenommen werden, wie sie eigentlich wahrgenommen werden mssten.“ (P8)
Zudem folgen der Bereitschaft, keine Tabus aufzubauen und Kritik und offene Diskussion zuzulassen, aus der Sicht etlicher FunktionrInnen und fast aller Hauptamtlichen allzu oft keine Taten. So wird kritisiert, dass keine konkreten Ziele gesetzt werden, an denen sich Hauptamtliche wie FunktionrInnen messen lassen. Oder umgekehrt, werden oft vollmundige Beschlsse gefasst, aber wenn es an die praktische Umsetzung geht, diese sowohl von FunktionrInnen als auch von Hauptamtlichen ‚vergessen‘ werden, jedoch ohne dass diese Praxis zum Thema gemacht wrde. Hauptamtliche bemngeln, dass sie sich zu wenig untereinander absprechen oder Vereinbarungen nicht immer eingehalten werden; dass Tarifrunden zu wenig planvoll vorbereitet werden. Aus der Sicht vieler FunktionrInnen werden insgesamt zu wenig Prioritten gesetzt, gleichzeitig aber unter der Hand gesetzte Prioritten nicht transparent gemacht (zum Beispiel das ‚Einschlafen’ der Frauenarbeit oder das Nicht-Zustande-Kommen von Stadtteilarbeit). Dabei ist auch von Belang, welche Themenfelder und Bereiche – trotz ‚keine Tabus‘ und ‚offene Diskussion‘ – erklrtenmaßen zu wenig beachtet oder gar ausgeblendet werden: • Aus Sicht der Hauptamtlichen werden Fragen wie Weiterbildung, Arbeitszeitregelungen und Entgeltgestaltung zu wenig bearbeitet. Es fehlt ein Forum, in dem kontinuierlich an tarifpolitischen Themen gearbeitet wird; darunter leidet auch die politische Identitt der Verwaltungsstelle in den Betrieben. Zudem fehlt ein Forum, in dem sich insbesondere Betriebsrte oder FunktionrInnen aus kleinen und mittleren Betrieben austauschen knnen. • Aus der Perspektive von FunktionrInnen wird ebenfalls bemngelt, dass ein Forum fr kleine und mittlere Betriebe fehlt, beziehungsweise dass die Bereiche Handwerk, Holz/Kunststoff und Textil bei der Bereitstellung und im Austausch von Informationen im Ortsvorstand und in der Delegiertenversammlung vernachlssigt werden. Alle FunktionrInnen bemngeln, dass die Belange von Frauen kaum eine Rolle spielen, sei es, dass es keine spezifischen Angebote Form von Seminaren oder einem Arbeitskreis fr Frauen gibt, dass Betriebsrtinnen zu wenig gefrdert werden oder dass Themen wie die Nutzung von Erziehungsurlaub, was ja ‚eigentlich‘ nicht nur ein Frauenthema ist, praktisch unter den Tisch fallen. Darber hinaus gibt es keinen gewerkschaftlichen Rahmen, in dem auch Familien oder ‚einfache‘ Mitglieder etwas unternehmen knnen, was „Spaß macht“ (P16). Das Bild der eigenen Offenheit strahlt daher vor allem vor dem Hintergrund der vergangenen politischen Disziplinierung und hierarchisch geprgter Dominanz von Großbetrieben so hell. Es steht fr bereits erfolgte Vernderungsschritte in der Zusammenarbeit insbesondere unter Hauptamtlichen und gibt darber hinaus fr fast
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alle Befragten einen normativen Bezugspunkt fr die Gestaltung oder Bewertung gewerkschaftlicher Arbeit ab. Daher taugt der Begriff vielleicht als Leitbild beziehungsweise integrativer normativer Bezugspunkt, an dem sich das knftige Profil der Verwaltungsstelle schrfen lsst. Auf den Bedarf hierfr weist die mangelnde Verbindlichkeit hin, die ein Indiz fr den Verlust intransitiver Macht ist. Zur weiteren positiven Bestimmung wre gengend Auseinandersetzungspotenzial vorhanden, schaut man auf die direkte Kritik an mangelnder Offenheit oder die vielen Themenfelder, denen derzeit zu wenig Beachtung und Bearbeitungszeit geschenkt wird. Gleichzeitig bergen jedoch Themenfelder wie zum Beispiel »Arbeitszeit« ein großes Konfliktpotenzial, da hierzu „ganz unterschiedliche Interessenlagen“ (P2) und Positionen existieren. Sie nicht zu thematisieren, weicht der Probe auf ’s Exempel einer offenen Streitkultur aus, und gleichzeitig dient dies der Bewahrung des dominanten Konsens, eine ‚linke‘ und offene Verwaltungsstelle zu sein. Knftige Handlungsoptionen hngen auch davon ab, ob die Auseinandersetzung zu den dethematisierten Bereichen fhrt oder aber der Bewahrung von „Friede, Freude, Eierkuchen“ (P8) des dominanten Konsens hherer Stellenwert beigemessen wird.
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Praxis der Leitbildentwicklung – eine ethnolinguistische Perspektive auf die Versprachlichung von Werten einer Organisation 1. Einleitung Der Boom bei den Leitbildern und Unternehmensphilosophien ist nicht zu bersehen. Konzerne, Schulen, Verwaltungen, ganze Stdte geben sich Leitbilder und Zukunftsvisionen. Angesichts gegenwrtiger und zuknftiger Handlungsherausforderungen sehen sie die Notwendigkeit ihr Selbstverstndnis zu formulieren.1 Als Beraterin sprt man diesen Bedarf an der steigenden Nachfrage nach einer professionellen Begleitung fr einen Prozess, der nicht selten schon einmal erfolglos selbst versucht wurde. Grundstzlich gibt es dafr drei Herangehensweisen. 1. Beim Topdown-Vorgehen machen die oberen Fhrungskrfte einen ersten Entwurf, fr den sie Rckmeldungen einholen, oder formulieren ihre eigene Vision. 2. Bei der Delegation an ein Expertengremium werden die Grundhaltungen in der Organisation nach einer grndlichen Recherche von der beauftragten Gruppe formuliert. 3. Geht man beim Beteiligungsansatz bottom-up vor, wird eine Projektgruppe initiiert, die ein breites Gesprch in der Mitarbeiterschaft (in Workshops oder Klausurtagungen) bndelt und daraus das Leitbild formuliert. Alle Vorgehensweisen haben Vor- und Nachteile, wobei das Akzeptanzproblem (sei es von Seiten der Unternehmensleitung oder von Mitarbeitergruppen) zu den grßten gehrt. Da ich vor meinem ethnomethodologischen und konversationsanalytischen Hintergrund Gesprchsmuster und Textformen als praktizierte Lsungen fr interaktive und kommunikative Probleme verstehe, kommt fr mich i.d.R. nur ein Bottom-up-Prozess in Frage.2 Als 1
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Nach Bleichers Konzept des integrierten Managements verstehe ich Leitbilder als Orientierungsgrundlage, welche „die grundstzlichsten und damit allgemeingltigsten, gleichzeitig aber auch abstraktesten Vorstellungen ber angestrebte Ziele und Verhaltensweisen in der Unternehmung [enthlt, K.N.]. Es ist ein ‚realistisches Idealbild ‘, ein Leitsystem, an dem sich alle unternehmerischen Ttigkeiten orientieren (oder auch orientieren sollten). Brauchlin, zit. nach Bleicher 1999, 264. Die Lcke zwischen dem tatschlichen und dem fr die Bewltigung der Zukunft notwendigen Verhalten bei der Formulierung des Selbstverstndnisses ntigt die Beteiligten, einen „Zukunftsfit“ zu entwerfen (ebd., 266). Fr die Ethnomethodologie ist die soziale Ordnung in Abgrenzung zum strukturfunktionalistischen Ansatz Parsons eine „Vollzugswirklichkeit“. Sinnhafte soziale Ordnung ist demnach kein kognitives Programm, sondern eine soziale Praxis und Resultat alltglicher interaktiver Interpretationsprozesse. In ihren Analysen rekonstruiert die ethnomethodologische Konversationsanalyse konventionalisierte Orientierungsmuster der wechselseitigen Sinnkonstitution und extrapoliert die
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dessen grßtes Hindernis gilt der Zeitaufwand. Daher mchte ich an dem komplexen Beispiel einer Leitbildentwicklung in einer rumlich verteilten diakonischen Einrichtung beschreiben, wie es gelingen kann, ein in der gesamten Organisation anerkanntes – weil interaktiv ausgehandeltes – Leitbild in einem begrenzten Zeitrahmen zu entwickeln. Als linguistisch orientierte Beraterin habe ich dabei auf ein Projektdesign geachtet, dass die Erfassung und breite Aushandlung der praktizierten Alltagssprache ermglicht. Im Anschluss an die Vorstellung der Organisation und des Projekts illustriere ich an zwei exemplarischen Analysen, welche typischen Diskussionsstadien die Textproduktion durchluft und illustriere drei Lsungsformeln fr die Integration und Gewichtung verschiedener Grundwerte der Organisation.
2. Die Organisation: eine rumlich verteilte diakonische Einrichtung Die Gustav-Werner-Stiftung zum Bruderhaus (GWS) ist eine rumlich verteilte diakonische Einrichtung mit Sitz in Baden-Wrttemberg. Die 160 Jahre alte Stiftung bietet ber 50 Hilfeangebote in der Jugend-, Behinderten- und Altenhilfe, der Sozialpsychiatrie und engagiert sich in der Arbeits- und Berufsfrderung. Ihren Namen hat die Stiftung von ihrem Grnder, Pfarrer Gustav Werner (1809 – 1887), der zunchst Waisenkindern Unterkunft und Ausbildung gab. Es waren dabei Hausgenossenschaften und Anstalten entstanden und als besonders innovative Idee von Gustav Werner angesichts der Industrialisierung auch Werksttten und Fabriken. 1881 ging alles in eine Stiftung ber, in der inzwischen im Jahr 2003 ca. 2400 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen fr mehrere Tausend Menschen arbeiten. Die Untersttzungsformen, ambulante Hilfe, Unterbringung, Beratung und Ausbildung, verteilen sich auf 22 Standorte um das Zentrum in Reutlingen herum und erstrecken sich auf der Nord-Sdachse bis zum 140 km entfernten Friedrichshafen am Bodensee. Auf der West-Ost-Achse liegen sie ebenfalls z. T. mehr als 100 km auseinander. Fr die Formulierung eines von allen akzeptierten Leitbildes gab es drei große Herausforderungen. Die erste war die Vielfalt der Hilfeformen. Allein in der Jugendhilfe z. B. werden nahezu alle im Jugendhilfegesetz formulierten Hilfeformen angeboten, vom Kindergarten ber Jugendgemeinschaftswerke, Sonderberufsschulen, Schulsozialarbeit, sozialpdagogische Einzelbetreuung bis hin zu Tages- oder Wohngruppen oder Gemeinwesenprojekten. Ebenso breit ist das Angebot in den anderen Hilfearten. Von Beginn an kommt auch der Arbeits- und Berufsfrderung in der Stiftung ein zentraler Stellenwert zu. Ausbildungsberufe wie Metallfeinbearbeiter/in oder Bckerfachwerker/in knnen in den vier sozialen Beschftigungsbeformalen Verfahren und Prinzipien, mit Hilfe derer sich die Mitglieder einer Kommunikationsgemeinschaft verstehen und verstndigen. (Vgl. Bergmann 1994)
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trieben gelernt werden. Die Mitarbeitenden dieser verschiedensten Ttigkeitsfelder und Berufsgruppen ebenso wie Ehrenamtliche und die Menschen, welche die Dienste der GWS in Anspruch nehmen, sollten sich mit dem Text des Leitbildes gleichermaßen identifizieren knnen. Daran schloss sich die zweite Herausforderung an: die Offenheit des Systems und seine lose verbundenen Subsysteme. Im Unterschied zu einer geschlosseneren Gestalt von Organisation ist nicht nur die Vielfalt und rumliche Verteilung dieser Organisation eine Besonderheit, sondern die fließende Zugehrigkeit von Ehrenamtlichen, Mitarbeitenden oder Nutzer und Nutzerinnen. Erschwerend kam drittens hinzu, dass nach zwei ergebnislosen Anlufen auf der oberen Leitungsebene die Skepsis groß war, ein Leitbild berhaupt erstellen zu knnen.
3. Das Projektdesign: Strukturen fr eine hohe Gesprchsbeteiligung Vor dem Hintergrund der genannten Herausforderungen galt es, ein Projektdesign zu entwickeln, das eine Sprache hervorbringen sollte, in der sich alle wiederfinden wrden. Die sptere Projektleiterin und jetzige Personalentwicklerin hatte dazu bereits erste Entwrfe gemacht, die entscheidenden Gremien fr einen breiten Prozess vorbereitet und eine Beraterin gesucht, welche diesen Ansatz untersttzt. Bei der Konzeption folgten wir dann folgenden Leitlinien: 1. Herstellung eines Grundkonsenses ber die zentralen Inhalte des Leitbildes, 2. Prinzip der maximalen Beteiligungschance oder der optimalen Reprsentanz bei der Erstellung und Formulierung, 3. ein Bottom-up Prozess unter Einbeziehung der Systemumwelten. Zugleich musste ein zeitlich berschaubarer Rahmen gefunden werden, der einerseits Zeit fr die Diskussion um kompromisshafte Formulierungen als auch den ntigen „Zug“ bot, den Text auch fertig zu stellen. Das Projekt wurde fr ein Jahr (April 1998-April 1999) und in vier Haupt-Etappen mit jeweiligen Unterzielen konzipiert. Die Projektleiterin wurde dafr ein Jahr zu 50% freigestellt. 1. Projektphase: Vorbereitung und Kickoff (April bis Juli 1998) In dieser Zeit wurden die partizipativen Projektstrukturen angelegt, Transparenz und Akzeptanz durch ein Informationssystem fr die ganze Einrichtung hergestellt und eine Großgruppenveranstaltung als Kickoff-Veranstaltung durchgefhrt. Zu einer der zentralen Einrichtungen der Projektstruktur gehrte die quer zur Linienorganisation stehende Steuerungsgruppe. Die Gruppe wurde sorgfltig nach Kriterien der „optimalen Reprsentanz“ zusammengesetzt, um eine mglichst breite Vielfalt der in der Organisation vertretenen Personen abzubilden. D.h. es wurde darauf ge-
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achtet, dass die verschiedenen Hilfearten und Regionen vertreten waren, dass die Dauer der Betriebszugehrigkeit und das Lebensalter variierten, unterschiedliche Berufsgruppen und Hierarchiestufen reprsentiert waren und natrlich das Geschlechterverhltnis bercksichtigt wurde. Die Mitglieder und ihre Vertretungen wurden vorgeschlagen und bei Zustimmung ernannt. Darber hinaus wurden in den Einrichtungen gesondert Obpersonen vorgeschlagen und ernannt, welche die Weitergabe von Informationen und die Diskussion verschiedener Leitbildentwrfe in den Einrichtungen sicher stellen sollten. Sie wurden intensiv informiert (Bringschuld) mehrfach in die Steuerungsgruppe eingeladen und damit eng an den Gesamtprozess angebunden. Im folgenden Projektorganigramm ist die Struktur abgebildet (vgl. Abb. 1). Projekt- Organigramm Jugendhilfe
Behindertenhilfe Einrichtung mit ObPerson
Einrichtung mit ObPerson
Einrichtung mit ObPerson
Einrichtung mit ObPerson
Einrichtung mit ObPerson
Steuerungsgruppe Altenhilfe Einrichtung mit ObPerson
Leitung, Beratung Vertretung der Bereiche GMAV, Vorstand
Einrichtung mit ObPerson
GMAV
Vorstand
Sozialpsychiatrie
Zentrale Dienste Mit Ob-Personen
AFST Traifelberg
Bruderhaus Werkstatt Mit Ob-Personen in den Fachabteilungen
Mit Ob-Person
Einrichtung mit ObPerson
Externe Beratung
Einrichtung mit ObPerson
Legende: Beauftragte
Abbildung 1: Projekt-Organigramm
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Die Zukunftskonferenz: „Von Worten zu Taten: In Zeiten des Umbruchs – grßer, wirtschaftlicher, diakonischer?! Die GWS entwickelt gemeinsam ein Leitbild“ (Motto) Eine besondere Bedeutung kam der Zukunftskonferenz als Kick-off Veranstaltung zu.3 Sie war nicht nur als Prozessauftakt gedacht, sondern sollte durch ihr besonderes Verfahren die ersten gemeinsam abgestimmten Bausteine fr das Leitbild liefern.4 Am Ende wurden insgesamt 81 Menschen aus 9 Interessensgruppen (Stakeholder) eingeladen. Die Veranstaltung endete mit der fr das Leitbild entscheidenden Konsensphase. Hier wurden ber ein Vetoverfahren gemeinsame Motive herausgearbeitet und mit der gesamten Gruppe der Anwesenden vereinbart.5 Diese Sammlung von Textfragmenten und Topoi bildeten den Fundus, mit dem die Steuerungsgruppe in der folgenden Phase an die Arbeit gehen konnte. Die erste Themensammlung fr das Leitbild, die aus der Zukunftskonferenz entstanden
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4
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Die Zukunftskonferenz ist eine bewhrte Großgruppenmethode aus den USA, mit der kulturbergreifend gearbeitet wird. Sie eignet sich besonders fr Systeme oder Probleme ohne feste Grenzen und ermglicht Menschen unterschiedlicher Interessen (Stakeholder), gemeinsame Ziele zu finden. Feste Grundprinzipien („Das ganze System in einen Raum holen“, „Eine gemeinsame Vision erarbeiten“, „In selbststeuernden Gruppen arbeiten“) und gruppendynamische Erfahrungen bilden die Eckpunkte des ausgeklgelten zweieinhalbtgigen Programms. Dazu werden zunchst die Interessensgruppen fr die Teilnahme definiert. Im vorliegenden Fall haben wir uns fr eine Definition nach Aufgaben und Verantwortungen entschieden, also die Berufsgruppen und Hierarchieebenen der GWS bercksichtigt sowie auf Reprsentanzen aus dem Inneren wie dem Umfeld des Systems geachtet. So wurden die pdagogischen Berufe und Pflege der GWS ebenso bercksichtigt wie die handwerklich-technischen und hauswirtschaftlichen Berufe. Finanzierungstrger und Beschicker wie Pflegekassen, Sozialmter oder Kommunen wurden ebenso zu einer Interessensgruppe zusammengefasst wie die Leitungsebene (Stiftungsversammlung, Vorstand) oder Dienstleistungsempfnger verschiedener Einrichtungen. Insgesamt kamen also 9 Stakeholdergruppen zusammen, von denen aufgrund der Architektur der Zukunftskonferenz auch jeweils 9 Menschen teilnehmen mussten. Die Methode ist im Grunde ein Instrument zur Organisationsentwicklung. Der Ablauf der Zukunftskonferenz sieht eine Reise vor von der Vergangenheit (Wo kommen wir her?) ber die Gegenwart (Innenverhltnis: Worauf sind wir stolz, was bedauern wir? Außenverhltnis: Welche Entwicklungen (Trends) kommen auf uns zu?) bis zur Zukunft (Was wollen wir erreichen?). Die Arbeitsphasen bestehen aus einer Abfolge von Einzel-, Gruppen- und Plenumsarbeit in immer wechselnder Zusammensetzung mit diskutierenden, reflektierenden und kreativen Parts. Sie wurde zwar in ihrer ursprnglichen Form belassen, aber inhaltlich auf den Leitbildprozess zugeschnitten, d. h. statt „Maßnahmenplanung“ sollte am Ende gemeinsam abgestimmte Grundmotive fr das Leitbild stehen. Dies ist ein entscheidender Unterschied zu einem Vorgehen, das mit der Zukunftskonferenz einen bereits vorhandenen Textvorschlag des Topmanagements weiterentwickeln will (vgl. dazu z. B. die Darstellung unter www.goll.de/fp/archiv/leistung/Leitbildentwicklung.shtml (Stand 4.3.2003). Inhaltlich gab es einen Konsens ber Ziele der GWS (Kundenorientierung, wohnortnahe Kleingruppen, bedarfsgerechte abrufbare Dienstleistungen) ber Eigenschaften, die sie auszeichnet (Phantasie und Kreativitt, Durchhaltevermgen, Fachlichkeit), Leitgedanken, Werte und Symbole (christliches Menschenbild, historische Wurzeln, Beteiligung der Betreuten, Selbstbestimmung des Einzelnen im Umfeld), aber auch einen Konsens ber die ungelsten Differenzen (Begriff des Nutzers/der Nutzerin, Begriff ‚diakonisch‘, Regionalisierung).
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war, enthielt also Formulierungen und Begriffe wie: Personen- und Bedarfsorientierung, Gemeindeintegration/Lebensweltorientierung/Normalisierung, Menschenbild/Menschenwrde, wirtschaftlicher Aspekt, Begriff ‚diakonisch‘/Verhltnis zur Kirche, Vernetzung/Kooperation/Konkurrenz und viele mehr. Wie spter noch zu sehen sein wird, blieben bis zum Ende des Prozesses die konsensuell abgestimmten Motive der Zukunftskonferenz erhalten. 2. Projektphase: Diskussion und Entwicklung (Juli 1998 bis Januar 1999) Hauptziel dieser lngsten Phase war die Erarbeitung einer entscheidungsfhigen Vorlage fr das Leitbild. Dazu tagte die Steuerungsgruppe weiterhin regelmßig, wertete die Zukunftskonferenz und das Protokoll grndlich aus, fhrte Grundsatzdiskussionen und erarbeitete Themen und Thesen sowie Textbausteine. In zwei großen Rckmelderunden wurde allen Interessierten die Mglichkeit zur Mitgestaltung ermglicht. Dazu wurden alle Mitarbeitenden der Stiftung angeschrieben. Zusammen mit einem Brief vom Vorstandsvorsitzenden erhielten sie den aktuellen Stand des Leitbildtextes und einen Rckmeldebogen.6 Darin konnte zu allen Textpassagen Stellung genommen werden. Zustzlich wurde die Gelegenheit von der Steuerungsgruppe genutzt, sich Ideen und Antworten fr offene, strittige und andere zentrale Fragen einzuholen, z. B.: Welche ußere Form sollte Ihrer Ansicht nach das Leitbild der GWS haben (sthetische Gestaltung, Lnge, Bilder u.m.)? Dazu fhrten die Obpersonen in allen Bereichen und Einrichtungen Diskussionsrunden durch und bndelten die Rckmeldungen. Darber hinaus hatte jeder die Mglichkeit, stattdessen oder zustzlich schriftlich, auch anonym, eine Stellungnahme abzugeben. Die Zugnglichkeit zum Stand der Dinge und die Beteiligungsmglichkeit sollte so optimiert werden. Dabei wurden die Rckmeldungen ganzer Bereiche auf der Basis der dort stattgefundenen Diskussionen anders gewichtet als die Rckmeldungen von Einzelpersonen Die Rckmeldungen von Menschen, welche die Dienste der GWS in Anspruch nehmen, wurden ebenfalls gesondert markiert. Eine besondere Herausforderung war, im fr diese breite Diskussion angelegten knappen Zeitplan, die Realisierbarkeit der Diskussionen sicher zu stellen. Die zum Teil sehr umfnglichen Rckmeldungen, Ergnzungen und Kritiken wurden den einzelnen Bausteinen und Fragen zugeordnet und in der Steuerungsgruppe weiter bearbeitet. Die Beteiligung der einzelnen Bereiche und Einrichtungen wurde in der Steuerungsgruppe laufend registriert und diskutiert, denn natrlich hatten sich die einzelnen Institutionen unterschiedlich stark engagiert. Mit ber 60% Rcklufen (zum Vergleich: in anderen Fllen werden z. T. nur 20% erreicht) kann man von einer sehr hohen Beteiligung sprechen. 6
Da dies das erste Mal in der 160jhrigen Geschichte der GWS war, dass der Vorstand an alle Mitarbeitenden schrieb, erhielt die Rckmeldeschleife das ntige Gewicht. Die dadurch entstehende Aufwertung jeder einzelnen Meinung wurde sehr positiv beurteilt.
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3. Projektphase: Verabschiedung und Konsequenzen (Februar bis Mrz 1999) Die letzte Phase hatte zum Ziel, die Verabschiedung der Endfassung des Leitbildes und dessen Implementierung vorzubereiten. Zugleich wurde der Prozess rckwirkend reflektiert und die Steuerungsgruppe offiziell aufgelst. So klein diese Phase ist, so heikel die darin enthaltene Aufgabe. Die Erstellung der Endfassung des Textes, mit dem sich alle identifizieren sollten und die schließlich tausendfach gedruckt und verffentlicht wurde, war nicht nur wegen der vorlufigen Unabnderlichkeit eine letzte Belastungsprobe fr alle Mitwirkenden. Auch politisch ist dies die heikelste Phase in einem Prozess, der von unten organisiert ist, mssen doch die Leitungsgremien in der Organisation einem Produkt zustimmen, das in jedem Fall einen Kompromiss darstellt. Ein solcher Text bietet eine treffliche Vorlage, andere mgliche Konflikte daran auszutragen und so manch gelungenes Leitbild kann so im letzten Moment scheitern. Um dem vorzubeugen, blieb im Projekt der GWS die Letztverantwortung fr die Texterstellung konsequent bei der Steuerungsgruppe. Allerdings wurde eine vorlufige Endfassung dem Stiftungsrat und dem Vorstand als Gremium fr letzte Rckmeldungen vorgelegt – ebenso wie allen anderen Obleuten und Mitarbeitenden. Gerade dieser Vorgang wurde ußerst genau beobachtet und es war eine besonders vertrauensbildende Maßnahme fr den Prozess und sein Produkt. 4. Das Ergebnis: Das Leitbild und eine Sprache fr viele Bereiche Genau ein Jahr nach Beginn des Projekts hielten alle Beteiligten und Interessierten mit einem Anschreiben des Vorstandsvorsitzenden das fertige Leitbild als Ergebnis des Gesprchsprozesses in den Hnden.7 ’Was nicht zur Tat wird, hat keinen Wert’ – Gustav Werner – Menschenwrde wahren Unser Erbe ermutigt uns fr die Zukunft Christliche Liebe und soziales Engagement – das ist unser Erbe Achtung des Einzelnen und Solidaritt untereinander – das ist unsere Vision Wir bleiben ber Vision und Erbe miteinander im Gesprch Wir arbeiten in diakonischer Verantwortung Diakonie und Kirche gehren zusammen Uns verpflichtet das christliche Menschenbild 7
In seiner ausfhrlichen Endfassung besteht das Leitbild aus drei Ebenen. Unter einer Hauptberschrift finden sich mehrere Unterberschriften und darunter jeweils der Fließtext, bestehend aus meist ca. 6 Stzen. Aus Platzgrnden ist hier nur die Kurzfassung (berschriften 1. und 2. Ordnung) dargestellt. Der vollstndige Text ist als Broschre im Internet unter http://www.gustav-werner-stiftung.de/ueberuns/pics/leitbild_gws.pdf zu finden.
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Wir stellen die Menschen in den Mittelpunkt Wir untersttzen selbstndiges Leben Wir bieten verlssliche Beziehungen Fhige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind unsere Strke Wir arbeiten professionell und vertrauensvoll miteinander Wir bieten fachlich gute Arbeit Mitwirkung und Mitverantwortung sind Grundlage unserer Arbeit Im Interesse der Menschen handeln wir wirtschaftlich Wir gehen mit unserer Arbeit in die ffentlichkeit Wir bernehmen sozialpolitische Verantwortung Wir sagen, was wir tun Ehrenamtliche Mitarbeit und Spenden sind eine tatkrftige Untersttzung Wir orientieren unser Tun an diesem Leitbild
4. Das Selbstverstndnis: Stadien der Versprachlichung geteilter Werte Im folgenden mchte ich an zwei im Prozess besonders heftig und durchgngig diskutierten Aspekten zeigen, wie die kollektive, aber rumlich und zeitlich verteilte Diskussion einen Text produziert hat, in dem Kontroversen und Spannungsfelder inhaltlicher Auseinandersetzungen in den gemeinsam errungenen Formulierungen (vorlufig) aufgehoben wurden.8 Zum einen handelt es sich um das Verhltnis zwischen den ‚Produzenten der Hilfen‘, also den Mitarbeitenden in den Einrichtungen der GWS, und ihren Nutzern und Nutzerinnen (Bewohner, Patienten etc.): Hier musste eine Sprache gefunden werden jenseits von Asymmetrien und Zuschreibungen. Im zweiten Fall geht es um das Spannungsfeld von umfassenden Hilfeangeboten und Wirtschaftlichkeitsanforderung durch den Markt: Obwohl dem christlichen Menschenbild und der Menschenwrde verpflichtet ist durch Kostendruck (und Kostendeckelung) und knappe Mittel Konkurrenzverhalten und wirtschaftliches Handeln unabdingbar geworden. Durch Darstellung der Vernderung kleiner Passagen im Kontext der gesamten Wertedebatte mchte ich einen Einblick in die sprachliche Lsungsfindung geben. Sie durchluft in beiden Fllen – wie das Ergebnis der Analysen zeigen wird – vier idealtypische Stadien.9 8
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Nachdem die frhere Projektleiterin und jetzige Personalentwicklerin diesen Beitrag gelesen hatte, meldete sie zurck, dass die beiden herausgegriffenen Punkte die Diskussion nicht nur in der Stiftung, sondern in der gesamten Diakonie noch heute, 4 Jahre nach Ende des Projekts, anfhren. Die Analysen habe ich auf der Basis der zahlreichen schriftlichen Dokumente (Protokolle, Textentwrfe, schriftliche Rckmeldungen) durchgefhrt. Dazu habe ich in den schriftlich vorliegenden
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4.1. Von „Anvertrauten“ zu „Menschen“: Eine Kategorie im Wandel der Diskussion Zu den besttigten Gemeinsamkeiten auf der Zukunftskonferenz gehrte selbstverstndlich das gemeinsame Ziel und die zentrale Aufgabe der GWS. Dabei stellte sich bereits damals in Formulierungsvarianten die Frage nach den kategorialen Bezeichnungen: ‚Wer arbeitet mit wem fr wen und wozu?‘ Die auf der Zukunftskonferenz mit allen reprsentativ Anwesenden abgestimmten Stze und Fragmente enthielten viel Diskussionsstoff: „Das Wohl des hilfebedrftigen Menschen soll im Mittelpunkt stehen“ „Verbesserung der Lebenssituation der sich uns anvertrauten Menschen“ „Nutzerorientierung (am Bedarf der Menschen orientiert)“10 Anwaltschaft f.d. betroffenen Menschen /Frsprecherfunktion Bedarf + Selbstbestimmung der/des Einzelnen und des Umfeldes
Die Fragen im Hinblick auf das Hauptziel der Arbeit, die Beziehungen von Mitarbeitenden und Nutzern der Stiftung und das darin eingelassene Bild der Nutzer sind vor allem in die Diskussion um die Bezeichnungen und Kategorisierungen eingegangen, die sich durch den gesamten Leitbildprozess gezogen hat.11 Diskutiert wurde, welche Kategorisierungen zu whlen seien, wie das Verhltnis zu beschreiben
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Texten jeweils die Entwicklung der Motive vom ersten Textfragment bis zur vollstndigen Formulierung einschließlich ihres intertextuellen Bezugssystems betrachtet. Motiv wird hier im literaturwissenschaftlichen Sinne als kleinste bedeutungstragende Sinneinheit verstanden, als „Grundakkord“, der verschiedene Entfaltungsmglichkeiten enthlt und inhaltlich wie formal strukturbildend wirkt (vgl. Frenzel 1988, Vff.; Daemmrich/Daemmrich 1995, 228 ff.) Die Diskussionen der einzelnen Motive haben sich natrlich wechselseitig beeinflusst (bis zum letzten Moment wurden Stze und ganze Passagen umgestellt, waren auch die Details Produkt einer Gesamtdebatte, Bedeutungsfindung sowie eines Selbstklrungsprozesses, der sich in der Sprache widerspiegelt). Diese intertextuelle Interdependenz kann hier aus Platzgrnden nicht dargestellt werden. In der folgenden Darstellung illustriere ich verdichtet die wichtigsten Vernderung bei der Formulierung von zwei ausgewhlten Motiven. Dabei geht es im engeren Sinne um die Vernderungen der unterstrichenen Passagen. Sie werden teilweise in ihrem dazu gehrigen bedeutungsstiftende Kontext (nicht unterstrichen) dargestellt. Bei den Kommentaren, die dazu notiert wurden hieß es „an Bedrfnissen/Bedarf orientiert; die einzelnen Gruppen benennen; was ist fr den Behinderten ntzlich“. Das verwundert wenig. Wie der Grnder der Konversationsanalyse, Harvey Sacks, an seinen Analysen zeigen konnte, haben Kategorien auf der Basis geteilten Kulturwissens sozialen Erluterungscharakter (Sacks 1972 und 1992). Wir hren quasi mit der Kategorie die ihr zugeordneten Handlungen oder erwartbare Aktivitten mit (Babys drfen weinen, Indianer nicht). Leicht verstndlich wird dies auch an einem Beispiel aus der interkulturellen Kommunikation. Trotz gleicher Wortbedeutung unterscheiden sich die Alltagskonzepte in der Kategorie „Freund“, „friend“, „ami“ und „amigo“ im Verstndnis des Freundschaftskonzepts und den damit verbundenen normativen Erwartungen etc. erheblich. Jegliche Kategorie ist also moralisch aufgeladen und kann Ziel von Wertediskussionen werden, wie auch Debatten um die politische Korrektheit von Bezeichnungen zeigen.
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sei, wieviel Frsorge und Anwaltschaft ntig sei, wieviel Eigenstndigkeit anzunehmen sei usw. Der Begriff „Wohl“ war in der Folgezeit ebenso umstritten wie die Kategorisierung „hilfebedrftige Menschen“. Das Spannungsfeld zeigt sich auch unmittelbar sprachlich. Die zweite Formulierung enthlt einen interessanten grammatikalischen ‚Fehler‘, in dem die Kontroverse um Symmetrie und Asymmetrie zum Ausdruck kommt. „Verbesserung der Lebenssituation der sich uns anvertrauten Menschen“ ist eine Verschmelzung der beiden Aussagen „Verbesserung der Lebenssituation der sich uns anvertrauenden Menschen und „Verbesserung der Lebenssituation der uns anvertrauten Menschen“. Im ersten Fall werden eigenverantwortlich entscheidende Menschen vorgestellt, welche die Leistungen der GWS vertrauensvoll, aber eben eigenstndig in Anspruch nehmen. Im zweiten Fall vertraut eine andere Instanz die Menschen der GWS an, z. B. Angehrige, welche um das Wohl ihrer Angehrigen besorgt sind, mter oder Beschicker. Die unmittelbaren Nutzer und Nutzerinnen werden nicht als selbstbestimmt Entscheidende vorgestellt.12 Hinsichtlich der Kategorien gibt es in den oben zitierten Konsensstzen mehrere Vorschlge: „hilfebedrftige Menschen“, „Nutzer“, „Menschen“. Die Nutzerorientierung wird in Klammern noch ‚bersetzt‘ mit „am Bedarf der Menschen orientiert“. Zum einen stellt dies eine Erluterung fr das spezifische Ttigkeitsfeld der GWS dar (die Nutzerorientierung der Deutschen Bahn drfte man sich anders vorstellen), zum anderen wird der Begriff „Nutzer“ umschrieben und bereits dadurch eine Unstimmigkeit mit der Verwendung der Kategorie ausgedrckt.13 In der ersten Auswertung der Zukunftskonferenz, bei der Erstellung von Textbausteinen, hat die Steuerungsgruppe diese Inhalte unter das Stichwort „Personenund Bedarfsorientierung/wir – die anderen“ gruppiert und damit einen Abstraktionsgrad gefunden, der zwar alles umfasst, aber auch durch die fehlende Satzstruktur (Subjekt, Prdikat, Objekt) nichts Spezifisches aussagt. Das erste unter dieser „berschrift“ zur Diskussion in der Stiftung zur Verfgung gestellte Formulierungsangebot lautete:
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Zur Verdeutlichung der Spannung habe ich den Textbaustein der Zukunftskonferenz mit aufgefhrt, in dem die Selbstbestimmung formuliert wurde. Schon auf der Zukunftskonferenz hatte eine Arbeitsgruppe unter der berschrift „ungelste Differenzen“ festgestellt, dass die Begriffe „Kunde/in“ und „Nutzer“ zu kalt und kaufmnnisch nach Vertragspartner klingen wrden und sich die Frage nach einem emanzipatorischen Begriff stelle (Auszug aus dem Protokoll: „Begriff Kunde/in – derjenige der/die Leistung annimmt, Vertragspartner/ in, wir billigen jemanden ein Kundenverhalten zu; emanzipatorischer Begriff?, Abrechnungen; Beteiligung an Entscheidungsprozessen; Eindruck: kalt, kaufmnnisch, Kunde = Partner!? Begriff Kunde/Nutzer nicht im Leitbild“).
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1. Personen- und Bedarfsorientierung:14 „Das Wohl des hilfebedrftigen Menschen und die Verbesserung seiner Lebenssituation stehen im Mittelpunkt unseres Planens und Handelns. Wir achten und frdern die Selbstbestimmung des/der Einzelnen und beteiligen ihn/sie an der Gestaltung unserer Leistungen.“ (...)
Obwohl nah an den Ergebnissen der Zukunftskonferenz enthlt die Passage eine entscheidende nderung: Aus den beiden Fragmenten wurde unter Auslassung des imperativischen „sollen“ ein einziger Satz gebildet. Zielsetzung und Zukunftsvision der leitenden Normen werden in Leitbildern typischerweise als bereits gegeben im Prsens formuliert und entfalten dadurch ihre Kraft. Im selben Paragraph wird interessanterweise als zweiter Satz die Selbstbestimmung als Wert formuliert. Offensichtlich fungiert hier „Selbstbestimmung“ als Gegengewicht zu „Hilfebedrftigkeit“. Dennoch weisen beide Aussage in dieselbe Richtung, denn Akteursstatus haben nur die Mitarbeitenden der GWS. Die Verben „frdern“ und „beteiligen“ fungieren als Prdikat, die Nutzerinnen haben in beiden Stzen Objektstatus. So drckt sich auch syntaktisch aus, was in der Prdikation des „hilfebedrftigen Menschen“ inhaltlich ausgesagt ist. Außer einer Rckmeldung zu den allgemeinen Aussagen wurden auch die „passenden“ Kategorisierungen in der ersten Rckmelderunde abgefragt.15 Doch die Diskussion brachte kein weiterfhrendes Ergebnis, die Vielfltigkeit der Formulierungsvarianten konnte nicht reduziert werden. Nach der Auswertung der Rckmeldungen stellte eine damit betraute Unterarbeitsgruppe der Steuerungsgruppe nach langen Diskussionen schließlich drei Varianten zur Auswahl: 1. eine Sammelbezeichnung, 2. eine Reihung von Bezeichnungen und 3. kontextualisierte Begriffe, also Bezeichnungen, die an der jeweiligen Stelle im Leitbild passten. Offensichtlich war das immer noch kein zufriedenstellender Fortschritt. Erkennbar war die Ungelstheit des Problems daran, dass die Diskussion in der Steuerungsgruppe immer wieder aufflammte. Whrenddessen hatte sich als Platzhalter in der Steuerungsgruppe der Sprachgebrauch „Klienten“ und „Klientinnen“ durchgesetzt. Diese Kategorisierung wurde daher im zweiten diskutierten Entwurf des Leitbildes in die Rckmelderunde gegeben:
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Die Nummerierungen geben jeweils die berschrift an, unter der die jeweilige Passage erschien. „Bitte diskutieren Sie: Wer bestimmt das ‚Wohl‘ eines Menschen“ und „Haben Sie eine Idee, wie wir die ‚Bewohner(innen /Nutzer/Klienten/Patienten/Kunden/hilfebedrftigen Menschen... ‘ in guter Weise benennen knnen?“
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„2. Wir tragen diakonische Verantwortung 2.3. Unsere Aufgabe: Gemeinsam Leben gestalten 2.3.1. Aus ganz unterschiedlichen Grnden kommen junge und alte Menschen sowie Menschen mit geistigen Behinderungen oder psychischen Erkrankungen zu uns. (...) Im Sinne der Stiftungsurkunde16 finden Klientinnen und Klienten* unabhngig von ihrer Konfession und Staatsangehrigkeit bei uns Hilfe. (...) 3. Wir stellen die Menschen in den Mittelpunkt 3.1 Wir untersttzen selbstbestimmtes Leben 3.1.2 (...) Eine besondere Verpflichtung sehen wir darin, die Voraussetzungen fr ein mglichst selbstbestimmtes Leben unserer Klientinnen und Klienten zu schaffen.“ (...) 3.2.1 Im Mittelpunkt unseres Planens und Handelns steht die Verbesserung der Lebenssituation unserer Klientinnen und Klienten.
Aus den ‚anvertrauten Menschen‘ sind nun Personen geworden, welche aktiv auf die Stiftung zukommen („Aus ganz unterschiedlichen Grnden kommen...“). Zu finden ist der Passus unter den inzwischen entstandenen berschriften zur „diakonischen Verantwortung“ und zur formulierten Aufgabe „gemeinsam Leben gestalten“. Dort wird die Bezeichnung Klientinnen und Klienten nun einerseits verwendet, andererseits als Bezeichnungsproblem aufgegriffen. Eine Fußnote zum Stern * bei der Kategorisierung Klienten und Klientinnen fhrte zu folgender Anmerkung: „Die Vielfalt der Hilfearten fhrt dazu, dass Menschen in ganz unterschiedlichen Lebenssituationen die Angebote der Gustav-Werner-Stiftung in Anspruch nehmen. Entsprechend werden sie als BewohnerInnen, Beschftigte, Betreute, Auszubildende, SchlerInnen oder PatientInnen bezeichnet. In dem Bewusstsein, mglicherweise nicht allen gerecht zu werden, benutzen wir in diesem Leitbild die Worte „Klientin“ und „Klient.“
Als Lsung hatte sich also eine Mischform durchgesetzt. Einerseits wurde (auch in anderen Passagen des Leitbildes) eine den Hilfearten bergeordnete Kategorisierung verwendet, andererseits wurde den in den jeweiligen Bereichen verwendeten Bezeichnungen Tribut gezollt. Darber hinaus wurde auf das Bezeichnungsproblem verwiesen („Im Bewusstsein, mglicherweise nicht allen gerecht zu werden...“). Zum Verhltnis der Hilfegebenden und Hilfenehmenden wurde diesmal bereits in der berschrift wieder die Untersttzung selbstbestimmten Lebens formuliert. Die Textpassage dazu betonte die „besondere Verpflichtung“ zum „mglichst selbstbestimmten Leben“. Das Adjektiv „mglichst“ zeugt von der Erfahrung, dass die Selbstbestim-
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Die Stiftungsurkunde kann als das erste Leitbild der GWS angesehen werden. Als das Werk des Grnders Gustav Werner 1881 in eine Stiftung bergefhrt wurde, formulierte er ihren Zweck: ’Das geistige und leibliche Wohl des Nebenmenschen auf jegliche Weise zu frdern und den Armen und Verlassenen, welchen die Kraft zum eigenen Fortkommen fehlt, eine Heimat zu schaffen und solche im Geist christlicher Bruderliebe zu verwalten...’. Die Urkunde genießt bis heute hohes Ansehen in der GWS und manche formulierten im Projekt, sie sei bis heute ein hinreichendes Leitbild. (Quelle: Leitbild der GWS a.a.O.)
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mung als schwer zu realisierendes Ziel wahrgenommen wird. Unter diesem Paragraph taucht auch der Baustein ber die „Verbesserung der Lebenssituation“ auf, eingeleitet durch die bereits in der berschrift als „Mittelpunkt“ zentral gesetzte Aufgabe. In der Gesamtheit ist dadurch die Asymmetrie verringert worden, doch immer noch erscheinen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der GWS als die ‚Strkeren‘. Wie bei der ersten folgte auch in der zweiten Rckmelderunde die Gesamtdiskussion den Schritten, die auch die Steuerungsgruppe durchlaufen hatte. In den Feedbacks wurden Zustze vorgeschlagen, welche die Wahl der Kategorien begrnden sollten, z. B. „Durch die Verwendung dieses Begriffes bernehmen wir die ‚Anwaltschaft‘ fr die Betroffenen“. Man kann sagen, dass die in der Steuerungsgruppe ablaufende Diskussion in der gesamten Stiftung zeitverzgert reproduzierte wurde. Der Durchbruch in dieser Frage wurde in einer der letzten Steuerungsgruppensitzungen im Mrz 1999 erreicht.17 Nach heftiger Debatte tauchte ein Vorschlag auf, der schon in der ersten Rckmelderunde (vergeblich) genannt worden war: „Menschen, die unsere Dienste in Anspruch nehmen“. Eine kurze Prfung ergab, dass (erst) jetzt die Ersetzung an allen Textstellen tatschlich problemlos war. Was zu Beginn in der Konstruktion des Gesamttextes noch nicht mglich war, konnte mit dem nun grndlich durchgearbeiteten, durchdiskutierten und vielfach umformulierten Gesamttext realisiert werden. Die Endfassung der entsprechenden Passage (unterstrichen) lautet innerhalb ihres Kontextes: Endfassung Leitbild GWS (Auszug) „WIR STELLEN DIE MENSCHEN IN DEN MITTELPUNKT Im Sinne der Stiftungsurkunde finden Menschen bei uns in unterschiedlichen Lebenssituationen Hilfe, unabhngig von ihrer Konfession und Staatsangehrigkeit. Wir arbeiten fr Menschen, die jung oder alt, psychisch erkrankt oder geistige und andere Behinderungen haben. (...)
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Fr die Entstehung des Gesamttextes ist es wichtig zu wissen, dass in dieser Sitzung die Formulierungen nicht mehr zwischen Unterarbeitsgruppe und Steuerungsgruppe hin- und herverhandelt wurden, sondern alternative Textvorschlge und strittige Punkte per Handzeichen abgestimmt wurden. Der Zeitdruck des Projektplans bewirkte, dass man sich in einer tendenziell unabgeschlossenen Diskussion auf Kompromissformeln einigen musste. Stimmten nicht mehr als 50% der Anwesenden fr eine neuere Variante, wurde die letzte Formulierung als bester Kompromiss angesehen. Dies war vorher nicht geplant gewesen und zeigt deutlich, wie ein impliziter Diskurskonsens entstanden war. Was wie ein demokratisches Verfahren aussieht, ist eher Ausdruck von Diskursgeschichten. Neue Formulierungsvarianten hatten es trotz vieler strittiger Punkte gegenber lteren, in mhsamen Diskussionen als Kompromissformeln errungenen Formulierungen schwerer, eine spontane Mehrheit zu finden, es sei denn, sie konnten das Spannungsverhltnis aufheben.
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Wir untersttzen selbstndiges Leben Wir untersttzen diejenigen, die unsere Dienste in Anspruch nehmen, bei der selbstverstndlichen Teilhabe am gesellschaftlichen Leben (...) Wir bieten verlssliche Beziehungen Im Mittelpunkt unseres Planens und Handelns steht die Verbesserung der Lebensqualitt der Menschen, die unsere Dienste in Anspruch nehmen. (...) Wir verstehen unser Tun als Hilfe zur Selbsthilfe.“ Deutlich ist in der Endfassung die strker angebotsorientierte Haltung zu erkennen. Die Menschen werden weder anvertraut, noch kommen sie aktiv auf die Stiftung zu, sie „finden Hilfe“ dort, wo man fr sie arbeitet. Im Vergleich zu den ursprnglichen Formulierungen aus der Zukunftskonferenz bzw. dem ersten Textentwurf enthlt der unterstrichene Satz nur geringe, aber entscheidende Vernderungen. Der Begriff des Wohls ist nicht mehr vorhanden und aus der Verbesserung der „Lebenssituation“ wurde die Verbesserung der „Lebensqualitt“. Dieser Vorschlag aus der 2. Rckmelderunde hatte vermutlich deswegen Durchsetzungschancen, weil Verbesserung der Qualitt mehr normative Aussagekraft hat als Verbesserung der Situation. Danach steht zum ersten Mal die Formulierung, die nach der langen Debatte um die Kategorisierungen fr die Bezeichneten zur Lsung geworden war: „Menschen, die unsere Dienste in Anspruch nehmen“. Auch zwei Variationen enthlt die Passage: In den Stzen unter der obersten berschriftsebene werden die Hilfearten der GWS (Jugend-, Altenhilfe, Sozialpsychiatrie und Behindertenhilfe) so gereiht, dass sie Zielgruppen beschreiben. In Form von Eigenschaftswrtern zur Spezifizierung der Menschen, fr die gearbeitet wird, kann einerseits die Vielfalt der Hilfearten genannt, zugleich jedoch eine Kategorisierung (z. B. in Behinderte) vermieden werden und der Begriff des Menschen voranstehen. In der Unterberschrift „Wir untersttzen selbstndiges Leben“ ist eine Beschreibungsvariante ohne den Begriff des Menschen zu sehen: „Wir untersttzen diejenigen, die unsere Dienste in Anspruch nehmen...“. Diese berschrift ist aber noch aus einem anderen Grund interessant. Sie enthlt eine weitere zentrale Lsung fr die Debatte. Aus der Anwaltschaft, der Frsprache die „Anvertrauten“, was stets im Spannungsfeld zum Wert der Selbstbestimmung stand (dieser Begriff taucht im Leitbild nun nicht mehr auf ), wurde der Wert Untersttzung selbstndigen Lebens, ein Wert, der fr alle Menschen gelten kann und die besondere Bedrftigkeit oder „Hilflosigkeit“ nicht mehr hervorhebt. Damit ist die Asymmetrie abgearbeitet worden. Die Verbesserung der Lebensqualitt ist nun unter die berschrift „verlssliche Beziehungen“ gerckt und damit das Tun nicht als Bevormundung missverstanden werden kann, macht der Satz „Wir verstehen unser Tun als Hilfe zur Selbsthilfe“ die Betonung des Wertes Selbstndigkeit noch einmal explizit und deutlich.
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4.1.1 Vom Fragment zur geteilten normativen Grundauffassung Schaut man sich den Prozess der Herauskristallisation zielweisender Aussagen und Positionierungen des vorherigen Beispiels einmal in grßeren Schritten an, so sind verschiedene Stadien erkennbar: 2. (vorlufige) Positionierungen bzw. erste Aussagestze zu normativen Orientierungen im Prsens 1. Motive als Stichworte, Fragmente Bsp.: “Wohl hilfsbedrftiger Menschen, Anwaltschaft f.d. betroffenen Menschen“
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3. Formulierung des Problems, des Problembewusstseins, der Spannungsfelder o. berichtende Willensakte (durch Nennung von Komparativen mit Aufforderungscharakter Zielen fr die Zukunft o. im Futur)
4. durchgearbeitete Formulierungen geteilter Grundauffassungen im Prsens Abbildung 2: Stadien der Leitbildentwicklung
Diese Stadien seien zunchst am vergangenen Beispiel erlutert: Ad 2. Nach den konsensuell abgestimmten Stichworten (1.) formulierten erste Aussagen Positionierungen („Das Wohl des hilfebedrftigen Menschen...“), welche offensichtlich wenig konsensfhig waren. Ad 3. Eine vorlufige Zwischenlsung wurde darin gefunden, hinsichtlich der Kategorisierung das eigene Problembewusstsein („...in dem Bewusstsein, mglicherweise nicht allen gerecht zu werden...“) oder das Spannungsfeld zu nennen. Dieses Stadium macht die Aneignungsanstrengung der Aussagen besonders deutlich.18
18
Dieses Stadium gilt auch fr andere Passagen, dort heißt es zum Beispiel, „wir wissen, dass...“ oder „wir sind uns bewusst, dass...“ oder „im Bewusstsein dessen...“. Eine weitere Zwischenlsung war die explizite Formulierung von Selbstverpflichtungen oder Zielen, meist in Verbindung mit Modalverben. Zum Abbau des Geflles zwischen Anbietern und Nachfragern der Hilfen hieß es im Beispiel: „Eine besondere Verpflichtung sehen wir darin, die Voraussetzungen fr ein mglichst selbstbestimmtes Leben zu schaffen“. hnliche Formulierungen an anderen Stellen lauten z. B. „Unser Ziel ist...“. Der Zwischenlsungscharakter wird daran deutlich, dass die explizite Nennung als Ziel oder Verpflich-
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Ad 4. Als die formulierten Werte schließlich von allen geteilt werden konnten, bedurfte es nicht mehr der Benennung problematischer Spannungsfelder oder Ziele, die ‚einfache‘ Aussage gengte. Bedeutsam scheint zu sein, dass die Formulierung in dem Sinne konsensfhig ist, als sie den ‚grßten‘ gemeinsamen Nenner in den normativen Grundauffassungen als errungenen Kompromiss enthlt und dabei Spannungsfelder implizit aufgreift. Auch in anderen Diskussionspunkten wurden diese Schritte im Uhrzeigersinn durchlaufen.
4.2 Zwischen Markt und Menschenwrde: Das Austarieren von Grundwerten ber Konjunktionen An einem zweiten Beispiel mchte ich diesen Prozess und die Lsung von Streitpunkten und Formulierungsproblemen in diesen idealtypischen Stadien in Verbindung mit kleineren Strukturmerkmalen bei der Austarierung von Werten darstellen: der kopulativen, konditionalen und finalen Konjunktion. Unter den scheinbar harmlosen Stichworten der Zukunftskonferenz, „Kostenbewusstsein, wirtschaftliche Sicherung (Ziel: Einmischung in gesellschaftliche Prozesse)“, verbarg sich eine weitere sehr kontroverse Debatte im Leitbildprozess und der Abschied von den Zeiten der Kostendeckung. Die Arbeitsgruppe, welche den Punkt bearbeitete, nannte sich „Rahmenbedingungen“ und stellte sich die Frage „Womit arbeiten wir?“ Sie bearbeitete neben den genannten Punkten auch Themen wie politische Einflussnahme, das Verhltnis zum Staat, externe Kooperation und Kirche (rechtlicher Bezug). Begriffe wie ‚Markt‘ oder ‚wirtschaftlich‘ wurden – so zeigte die Diskussion deutlich – teilweise vllig unterschiedlich konnotiert. Die einen assoziierten damit wirtschaftliche Zwnge und Kostendruck bis hin zur kalten Logik der Profitmaximierung und sahen dies im Widerspruch zu ihrem christlich-ethischen Auftrag. Die anderen verbanden damit den sorgfltigen Umgang mit Ressourcen, rationelleres und effizienteres Arbeiten und sahen keinen Widerspruch zur Menschenwrde. In der folgenden Tabelle 1 sind Auszge von drei Textversionen parallel zu sehen. Die linke Spalte enthlt die erste von der Steuerungsgruppe nach der Zukunftskonferenz erstellte Textfassung, wie sie fr die stiftungsbergreifende Diskussion in die erste Rckmelderunde gegeben wurde. Die mittlere Spalte enthlt die zweite Fastung noch ‚ntig‘ ist, ist doch ein Leitbild in seiner Gesamtheit nichts anderes, ohne dass dies dazu genannt werden msste.
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sung, welche in der gesamten Organisation diskutiert wurde und die rechte Spalte zeigt die verffentlichte Endfassung. 1. Entwurf
2. Entwurf
Endfassung
WIRTSCHAFTLICHER ASPEKT
WIR ARBEITEN PROFESSIONELL MITEINANDER
WIR ARBEITEN PROFESSIONELL UND VERTRAUENSVOLL MITEINANDER
‚sein Geld erwirtschaften‘
Wir handeln im Spannungsfeld von Markt und Menschenwrde
Im Interesse der Menschen handeln wir wirtschaftlich
Die Kosten unserer Arbeit wachsen seit einigen Jahren strker als unsere Einnahmen. Wir wollen einerseits Kosten senken durch rationellere Arbeit. Andererseits mssen wir versuchen, neue Finanzierungsquellen fr unsere Arbeit zu erschließen, ohne dadurch den Sozialstaat aus seinen Pflichten zu entlassen. Gemeinsam wollen wir uns z. B. darum bemhen, dass unsere Arbeit wieder strker durch Spenden getragen wird. Oder wir wollen auch versuchen in Aufgabenfeldern ttig zu werden, die einen Kostendeckungsbeitrag fr die Gesamtarbeit der Stiftung erbringen knnen. Es ist eine Aufgabe fr alle, das Geld zu erwirtschaften, das wir fr die Arbeit bentigen.
Um unsere Arbeit langfristig gut und zuverlssig ausfhren zu knnen, brauchen wir eine wirtschaftlich solide Basis und leistungsgerechte Entgelte. Alle Mittel, die wir erhalten, werden aufgaben- und sachgerecht verwendet. Wir arbeiten kostenbewusst und kologisch verantwortlich.
Um unsere Arbeit langfristig gut und zuverlssig ausfhren zu knnen, brauchen wir eine wirtschaftlich solide Basis und leistungsgerechte Entgelte. Alle Mittel, die wir erhalten, werden kostenbewusst, aufgabenund sachgerecht verwendet. Wir bernehmen Verantwortung fr die Bewahrung der Schpfung.
(...) (...) Um wettbewerbsfhig zu sein, ist wirtschaftliches Handeln zwar unabdingbar, jedoch nicht das Maß aller Dinge. Markt und Menschenwrde stehen in einem Spannungsverhltnis und mssen in der alltglichen Arbeit immer wieder neu gewichtet werden.
Um wettbewerbsfhig zu sein, ist wirtschaftliches Handeln unabdingbar. Die Erfllung unserer Aufgaben braucht aber mehr, als mit Geld zu bezahlen ist. In unserer tglichen Arbeit achten wir darauf, Menschenwrde auch unter Marktbedingungen zu wahren.
Tabelle 1: Leitbildentwicklung am Beispiel verschiedener Textentwrfe
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Kopulative Konjunktion als Lsung: Allein die Vernderung der berschriften zeigt die Stadien des Aushandlungsprozesses wie sie im oben gezeigten Modell vom Fragment bis zu den geteilten Grundauffassungen rekonstruiert worden waren. In der berschrift 1. Ordnung wurde fr die zweite Fassung der „wirtschaftliche Aspekt“ mit professioneller Zusammenarbeit ‚bersetzt‘.19 Diese Variante hatte offensichtlich den menschlichen Aspekt zu wenig betont. Die Kompromissformel in der Endfassung lautet schließlich „Wir arbeiten professionell und vertrauensvoll miteinander“ und macht mit der Addition der beiden Adjektive deutlich, dass es den Beteiligten wichtig war, dass es mehr als eine Vertragsbasis fr die Interaktion gibt bzw. geben sollte.20 Die Verbindung von – wie hier – zwei Adjektiven oder zwei Umsetzungsvariationen des Motivs ber die Konjunktion „und“ ist eine hufige Lsung bei der Einhegung von spannungsreich diskutierten Polen. In der Endfassung des Leitbilds weisen z. B. mehrere berschriften 2. Ordnung diese Struktur auf: „Christliche Liebe und soziales Engagement – das ist unser Erbe“, „Achtung des Einzelnen und Solidaritt untereinander – das ist unsere Vision“ (vgl. Kap. 3 Punkt 4). Hinter jeder Konjunktion stehen jeweils heftige Debatten um die Prioritt unterschiedlicher Werte. Einigungsformel war hufig die gleichberechtigte Verbindung zweier Werte ber die kopulative Konjunktion. Konditionale Konjunktion als Lsung: Bei den berschriften 2. Ordnung entstand aus den Stichworten der Zukunftskonferenz zunchst ein durchaus aussagekrftiges Fragment. „Sein Geld erwirtschaften“ legt durch den Infinitiv die Assoziation der Notwendigkeit ‚man muss...‘ nahe, auch wenn kein vollstndiger Satz vorliegt. Hieran wird auch deutlich, dass die Stadien nicht streng voneinander zu trennen, sondern idealtypisch zu verstehen sind.21 Die erste ‚Positionierung‘ enthlt hier sowohl Elemente des Anfangs (Stichwortcharakter) als auch der 3. Stufe, das implizite mssen und die explizite Formulierung von Notwendigkeiten. Als erste Aussage werden
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Die berschrift bezieht sich ber den genannten Punkt hinaus zuvor auch auf die Fachlichkeit der Arbeit und auf Personal und Fhrungskultur. Dazu ein Zitat aus der 2. Rckmelderunde, das belegt, wie damit ein kollektiver „Geist“ eingefangen wurde: „Wir arbeiten nicht nur professionell, sondern auch ‚und vertrauensvoll‘ miteinander (in manchen Zusammenhngen durchaus als Ziel zu verstehen). Durch die vernderte berschrift soll ein wenig von der Atmosphre rberkommen, die wir in Worten nicht recht fassen konnten, von der wir aber meinen, dass sie als ‚guter Geist’ in vielen unserer Arbeitszusammenhnge da ist und letztlich auch ein Stck davon ausmacht, warum man/frau gerne bei der Stiftung arbeitet (...).“ Sie mssen auch nicht immer alle an allen Stellen durchlaufen werden. Am Beispiel des Fragments „Verbesserung ...Lebenssituation“ hat man gesehen, dass es sich von Anfang an wenig verndert hat. Der Bezug zur Kategorisierung hat das Pronomen verndert (Verbesserung der statt seiner Lebenssituation) und die qualifizierende Aussage Lebensqualitt wurde fr Lebenssituation ersetzt. Es ist jedoch anzunehmen, dass das Stadium 3, Formulierung von Willensakten und Problemfeldern, ber die Debatte um die Kategorisierung und Selbstbestimmung indirekt eingeflossen ist.
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die kontroversesten Pole der Debatte als Spannungsfeld formuliert: „Wir handeln im Spannungsfeld von Markt und Menschenwrde“. Nach dem Prinzip, ‚hast du keine Lsung, formuliere das Problem‘, ist damit die Zwischenlsung des 3. Stadiums erreicht worden. Doch diese war nicht zuletzt wegen ihrer plakativen Gegenberstellung (Markt versus Menschenwrde) nicht konsensfhig. Eine Verbindung des Spannungsfeldes ber das Bindewort „und“ ist hier offenbar nicht ausreichend gewesen. In der Endfassung wurden die beiden Grundwerte (Menschlichkeit-Menschenwrde-Vertrauen und Wirtschaftlichkeit-Effizienz-Professionalitt) priorisiert: „Im Interesse der Menschen handeln wir wirtschaftlich“. Die Bedingung fr wirtschaftliches Handeln ist, dass es den Interessen der Menschen dienen muss. Wirtschaftliches Handeln kann also kein Selbstzweck sein (was ber die konjuktivische Verbindung mit „und“ mglich gewesen wre), sondern ist auf die Interessen der Menschen abzustimmen. Abbildung 3 zeigt hier noch einmal die Stadien zusammen mit einer konditionalen Konjunktion als eine der Lsungsformen. 2. (vorlufige) Positionierungen bzw. erste Aussagestze zu normativen Orientierungen im Prsens: Bsp.: „sein Geld erwirtschaften“ 1. Motive als Stichworte, Fragmente Bsp.: „Kostenbewusstsein, wirtschaftliche Sicherung“
LeitbildSprache entwickeln
3. Formulierung des Problems, des Problembewusstseins, der Spannungsfelder o. berichtende Willensakte (durch Nennung von Modalverben oder Komparativen mit Aufforderungscharakter, Nennung von Zielen fr die Zukunft o. im Futur) Bsp.: „Wir handeln im Spannungsfeld von Markt und Menschenwrde“
4. durchgearbeitete Formulierungen geteilter Grundauffassungen im Prsens Bsp.: „Im Interesse der Menschen handeln wir wirtschaftlich“ Abbildung 3: Stadien der Leitbildentwicklung: Vernderung sprachlicher Formulierungen
Infinitiv-Konjunktionen mit Finalstzen als Lsung: Im dazugehrigen Text unter den berschriften (vgl. Tabelle) lassen sich die Stadien ebenfalls erkennen. Der Erstentwurf enthlt Problembeschreibungen (Kosten wachsen strker als Einnahmen) sowie viele Modalverben („mssen wir versuchen“, wollen wir uns z. B. bemhen“, „ wir wollen auch versuchen“, „es ist eine Aufgabe fr alle“) und die Elemente des 3. Stadiums. Begriffe wie „andererseits“, „oder“ zeigen die Anstrengung, verschiedene Perspektiven und Positionen zu integrieren.22 Die disjunktiven Konjunktionen waren Zwischenlsun-
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gen und stets wenig konsensfhig. In der zweiten Fassung sind davon schon einige abgearbeitet worden, was auch daran erkennbar ist, dass sich zur Endfassung bis auf einzelne Worte nicht mehr viel verndert hat. Einzig eine Forderung nach einer Bedingung, die alleine nicht zu leisten ist („brauchen wir ...leistungsgerechte Entgelte“), ist geblieben.23 Die mhsame Austarierung von „Markt und Menschenwrde“ ist im Text noch einmal zu sehen, anders gelst als in der berschrift. Auffllig sind die wiederkehrende „Um-zu-Formulierungen“ in diesem Absatz, die bis in die Endfassung erhalten bleiben. Sie dienen zur Kennzeichnung von Absichten, Motivationen oder Zwecken. Nach Schtz (1991, 115 ff.) formulieren Um-zu-Stze Motivationszusammenhnge, Orientierungen und Erwartungen an eigene Handlungsziele in der Zukunft.24 D.h. Handlungsentwrfe werden als oberstes Handlungsziel und letzter Sinnzusammenhang gesetzt, wodurch die Mittel der Verwirklichung spontan und verschieden sein knnen. Um-zu-Motive verweisen zwar auf in der Zukunft liegende, noch nicht erfllte Handlungsziele, legen jedoch zugleich auf der Basis der Erfahrung gleichartiger, selbst durchlebter Handlungen und als Erfahrungszusammenhnge der Vergangenheit passives Handlungswissen fr den sinnhaften Grund des Handelns frei. In der Endfassung finden sich zwei Um-zu-Motive, die auf letzte Zwecke verweisen, zum einen die Betonung der Qualitt und Verbindlichkeit der Arbeit („um unsere Arbeit langfristig gut und zuverlssig ausfhren zu knnen“), zum anderen die Wettbewerbsfhigkeit („um wettbewerbsfhig zu sein“). Wirtschaftlichkeit hat dabei eine zentrale Bedeutung im jeweils angeschlossenen Halbsatz, einmal ist sie faktische Voraussetzung („solide Basis und leistungsgerechte Entgelte“), einmal Anforderung an eigenes Handeln („ist wirtschaftliches Handeln unabdingbar“). Da Wettbewerbsfhigkeit – dem Umzu-Motiv gemß – Erfahrungszusammenhang und Ziel ist, bekommt Wirtschaftlichkeit wieder ein wesentlich strkeres Gewicht als in der berschrift. Als Gegengewicht dienen daher explizite Formulierungen der anderen Wertebasis: „Die Erfllung unse-
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Da es mir mehr um die Form geht, kann ich auf die einzelnen Inhalte hier nicht nher eingehen. Allein die Passage ber die Spenden war Anlass eine sehr lange Debatte. Teilweise sind die Inhalte, z. B. die Forderungen an den Sozialstaat, bei der Endfassung in andere Paragraphen eingegangen. Fr die kologische Schonung der Ressourcen konnte sich an dieser Stelle im Unterschied zu anderen Passagen eine im christlichen Sprachgebrauch bliche Formulierung („Bewahrung der Schpfung“) durchsetzten. Die Mischung zeigt ein weiteres, bereits erwhntes Ringen in der Entstehung des Textes, auch theologische Inhalte ohne theologische Sprache zu transportieren. „Wenn ich also als Motiv meines konkreten Handelns angebe, dass dieses einem Um-zu diene, so meine ich damit, dass das Handeln selbst nur Mittel im Sinnzusammenhang eines Entwurfes sei, in welchem die Handlung als das durch mein Handeln zu Bewirkende modo futuri exacti als abgelaufen sein werdend phantasiert wurde. Ich werde daher auf die Frage nach dem ‚Motiv‘ meines Handelns, regelmßig dann mit ‚um-zu’ antworten, wenn das Handlungsziel noch den Zeitcharakter des Zuknftigen trgt, d. h. wenn die Handlung zwar entworfen, aber noch nicht durch ein konkretes Handeln realisiert ist (ebd., 119).
Praxis der Leitbildentwicklung
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rer Aufgaben braucht aber mehr, als mit Geld zu bezahlen ist. In unserer tglichen Arbeit achten wir darauf, Menschenwrde auch unter Marktbedingungen zu wahren“). Was auf den ersten Blick redundant wirkt, ist Folge der genauen Austarierung von Werten.
6. Schluss Schaut man allein die Endfassungen von Leitbildern an, wirken sie auf Außenstehende bisweilen banal und klischeehaft wie Allgemeinpltze. Im Vergleich verschiedener Leitbilder fllt außerdem auf, dass die sloganhnlichen Stze sich hufig gleichen und in ihrer Allgemeinheit zwischen den Organisationen fast austauschbar erscheinen.25 Eine Aussage wie „Wir stellen den Menschen in den Mittelpunkt“ kann man bei einer Sofwarefirma genauso finden wie hier bei einer diakonischen Einrichtung. „Wir stellen den Menschen in den Mittelpunkt.“ winwalk AG (Internetsoftware–Programmierung), Heidelberg Zentrum fr Psychiatrie Reichenau Schleswiger Asphalt Splitwerke (SAWGruppe, Schleswig) Williges Gymnasium, Private Jungenschule, Mainz WebCollege AG, E-learning specialist System Connect AG, Informatic Engineering Caritas-Ausbildungszentrum, Fachschule fr Sozialberufe, Wien Volksbank, Erfurt Abbildung 4: hnliche Leitbilder anderer Organisationen26
Aber dieselben Stze in verschiedenen Organisationen sind je nach Entstehungsgeschichte des Leitbildes mit vllig anderen Bedeutungen aufgeladen. Wie die Analyse gezeigt hat, hat die assoziierte Bedeutung vor allem mit der Entstehungsgeschichte des Leitbildes und der Diskussion zu tun, die in den Stzen aufgegangen ist. Daher ist es im besten Wortsinn sinnlos, ein Leitbild zu „delegieren“, z. B. an eine Gruppe ausgesuchter Menschen (Organisationsmitglieder, Berater oder Experten fr Texte wie Journalisten) oder ein Fhrungsgremium. Solchermaßen entstandene Sprach25 26
Wenn Leitbilder Antworten auf hnliche Bedingungen im Wettbewerb und gesellschaftliche Entwicklungen sind, verwundert dies indes wenig. Quellen: http://www.zfp-reichenau.de/extern/dynex/stellenaus/stellenausinhalt.html; http:// www.saw-kg.de/ueberuns/unternehmensgrundsaetze.html; http://home.arcor.de/willigis/philosophie.htmlhttp://www.firstwebcollege.com/ueberuns.htm; http://www.systemconnect.ch/ About.htm; (www.mydataprovider.de/winwalk/pages/profil.htm; http://www.caritas-wien.at/ 285_3059.htm; http://www.volksbank-erfurt.de/gwm/webdbs/xc/xc7422.nsf/(WWWFrame)/ 2FF551CA7EFC2AB041256B040049F934?OpenDocument (alle Stand 23.2.2003)
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formeln knnen auf diejenigen, denen die Texte als Leit-Bilder dienen sollen, nur wie Phrasen wirken, fremd bleiben oder von ihnen als Ideologie aufgefasst werden, waren sie doch im Prozess des Ringens und der Abgrenzung, der Kontroverse, Abarbeitung von Alternativen und Kompromissfindungen nicht beteiligt, in denen das Handlungswissen sprachlich verdichtet wird. Die Hauptbedeutung der Sprache in Leitbildern verbleibt offensichtlich im Ungesagten, dem Konnotationshof, entstanden durch kollektive bersetzung des Handlungswissens in einen Ausdruck und dem Ringen um die Gewichtung gemeinsamer Werte. Und vielleicht ist es vor diesem Hintergrund kein Zufall, dass sich bei einer Recherche im Internet zwar sehr viele Leitbilder finden lassen, die „den Menschen in den Mittelpunkt“ stellen (vgl. Abb. 4), aber die GWS die einzige Einrichtung ist, welche eine weniger floskelhafte Formulierung gefunden hat, die kein zweites Mal auftaucht. In ihrem Leitbild heißt es „Wir stellen die Menschen in den Mittelpunkt“.
Literatur Bergmann, Jrg R. (1994): Ethnomethodologische Konversationsanalyse. In: Fritz, Gerd/Hundsnurscher, Franz (Hg.): Handbuch der Dialoganalyse. Tbingen: Niemeyer. 3 – 16. Bleicher, Knut (1999): Das Konzept des integrierten Managements. Visionen – Missionen – Programme. Frankfurt a.M./New York: Campus. Daemmrich, Horst S./Daemmrich, Ingrid G. (1995): Themen und Motive in der Literatur: Ein Handbuch. Tbingen/Basel: Francke. Frenzel, Elisabeth (1988): Motive der Weltliteratur: Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Lngsschnitte. Stuttgart: Krner. Sacks, Harvey (1972): On the analyzibility of stories by children. In: Gumperz, John J./Hymes, Dell (Hg.): Directions in sociolinguistics. The ethnography of communication. New York: Holt, Rinehart and Winston. 325 – 353. Sacks, Harvey (1992): Lectures on conversation. Band 1 u. 2. Hg. von Jefferson, Gail. Oxford/Cambridge: Blackwell. Schtz, Alfred (1991): Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt: eine Einleitung in die verstehende Soziologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
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„Unsere Aufgabe ist es halt, ganz klare Grenzen zu ziehen“ – Gestaltungszwnge und professionelle Handlungsorientierungen in der Humangenetik1 1. „Boundary work“ – zu einem sensibilisierenden Konzept fr die Analyse professionellen Handelns Fr die Soziologie stellen Humangenetik und Reproduktionsmedizin ein dynamisches technologisches Feld dar, das vermittels der Zirkulation von neuartigem Expertenwissen und einer weitergehenden Enttraditionalisierung nicht unbedingt nur ein hheres Maß an Kontrolle bedeutet, sondern vor allem auch neue Unsicherheiten und Gestaltungszwnge aufwirft. Unter dem Begriff der „Life Politics“ ist etwa von Giddens (1991) die Reproduktionsmedizin als ein Motor fr eine Transformation der Identittspraktiken und eine neue, aktive Politik des Krperlichen analysiert worden. Im Folgenden werden diese neu entstehenden Gestaltungszwnge freilich nicht auf der Ebene des Alltags und eines lebensweltlich normalisierten Umgangs mit neuen Technologien verhandelt; in unserem Zusammenhang ist vielmehr die Ebene des professionellen Handelns und Entscheidens von Interesse. Die nicht zuletzt aufgrund des technischen Fortschritts neu entstandenen Notwendigkeiten eines expertiellen Entscheidens unter Unsicherheit in einem rechtlich und politisch offenbar kaum befriedigend zu regulierenden Bereich sind notwendig an die (informelle, konflikthafte) Restrukturierung kollektiver Orientierungen gekoppelt. Die methodisch informierte Darstellung der Rekonstruktion von professionellen Handlungsorientierungen an einem gesellschaftlichen relevanten und konkreten empirischen Beispiel ist denn auch das Ziel des vorliegenden Beitrags. Die Prnataldiagnostik, in den frhen 70er Jahren noch eine Nebenbeschftigung fr die Humangenetiker2, hat sich in den letzten Jahrzehnten aus dem Fachgebiet der Humangenetik herausdifferenziert, erfolgreich institutionalisiert und ist als Teil der Gynkologie heute lngst ein selbstverstndlicher und integraler Bestandteil der Schwangerenvorsorge (Waldschmidt 1996). Auch wenn im Rahmen der Prna1
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Wenigstens in der Fußnote sei der heimliche Co-Autor dieses Aufsatzes genannt, der (aus Bescheidenheit? aus Stolz?) nicht offiziell genannt sein will: Wolfgang Menz. Der Beitrag basiert teilweise auf Forschungen, die am Institut fr Technikfolgen-Abschtzung der sterreichischen Akademie der Wissenschaften im Rahmen des EU-Projekts „Life Sciences in European Societies“ (QLG 7CT-1999 – 00286) unternommen wurden. Und natrlich auch fr die – wenigen – Humangenetikerinnen. Aufgrund der besseren Lesbarkeit wird aber im Folgenden auf das Hinzufgen der weiblichen Form verzichtet.
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taldiagnostik nicht nur DNA-Analysen durchgefhrt werden, vielmehr das Gros der Untersuchungen auf den Ultraschall entfllt, ist doch die prnatale Diagnostik lngst zum Hauptbettigungsfeld humangenetischer Aufklrung geworden.3 Aktuelle Zahlen belegen dies: 1970, zu einem Zeitpunkt als die ersten Prnataldiagnostik-Untersuchungen in Deutschland durchgefhrt wurden, wurden ganze sechs Amniozentesen4 registriert. Wenig spter wurde die Prnataldiagnostik in den Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung aufgenommen und bereits Mitte 80er Jahre – zwischenzeitlich war die Chorionbiopsie5 eingefhrt worden – wurden ber 30.000 Amniozentesen und 3000 Chorionbiopsien registriert. Bis Ende der 90er Jahre hatte sich diese Zahl verdoppelt, und 1999 wurden dann bereits rund 70.000 invasive Untersuchungen gezhlt, d. h., die invasive Diagnostik betraf praktisch jede zehnte Schwangerschaft (Nippert 1999). Die Inanspruchnahme der Prnataldiagnostik bei Frauen ber 35 Jahren liegt aktuell bei ca. 80 %. Ein wichtiger Faktor in diesem Normalisierungsprozess war sicher die durch diverse gerichtliche Grundsatzurteile angestoßene Verpflichtung der rzte, Frauen ab 35 Jahren eindringlich auf die Mglichkeiten der Prnataldiagnostik hinzuweisen. Im Zuge dieser „Verrechtlichung“ der genetischen Beratung hat diese Technologie den Status des Außergewhnlichen und Besonderen verloren. Hennen/Petermann/Schmitt (1996, 78) sprechen davon, dass sich die Prnataldiagnostik „beinahe schon zur Standarduntersuchung bei der Schwangerschaftsvorsorge bei Frauen ber 35 entwickelt.“ Gleichwohl ist die Prnataldiagnostik nach wie vor ethisch umstritten, ist doch im Fall einer diagnostizierten Aufflligkeit oder Anomalie die Abtreibung in der Regel die einzige „Therapiemglichkeit“. Die schleichende Normalisierung einer medizinischen Dienstleistung ist von feministischer Seite schon frh unter der Perspek3
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Die Prnataldiagnostik umfasst Untersuchungen und Tests ber die Entwicklung des Ftus im Laufe einer Schwangerschaft. Der Ultraschall ist die bekannteste Form der sog. nicht-invasiven Prnataldiagnostik. Daneben gibt es risikolose Blutuntersuchungen, bei denen man nach Hinweiszeichen fr eine Normabweichung sucht (z. B. Triple-Test) sowie invasive, also operative Eingriffe, bei denen Zellen des Ungeborenen gewonnen werden, die untersucht werden knnen (Amniozentese, Chorionbiopsie). Im Rahmen der prnatalen Diagnostik knnen sowohl Chromosomen auf Anzahl und Struktur untersucht als auch DNA-Analysen durchgefhrt werden. Bei der Amniozentese wird der Schwangeren durch die Bauchdecke und die Gebrmutterwand hindurch mit einer Hohlnadel Fruchtwasser entnommen. In dem Fruchtwasser sind ftale Zellen enthalten, die im Labor prpariert, angezchtet und anschließend analysiert werden. In der Regel wird nach Chromosomenanomalien gesucht, wie sie z. B. dem Down-Syndrom, dem Klinefelteroder Turner-Syndrom zugrunde liegen. Bei der Chorionbiopsie wird durch die Bauchwand oder durch die Scheide der Frau mit einer Kanle Gewebe des Chorions (Vorstufe der Plazenta) entnommen. Weil das Chorion genetisch ftalen Ursprungs ist, enthalten die Zellen die gleichen Chromosomen wie die Zellen des Ungeborenen. Wie bei der Amniozentese wird das Gewebe einer Chromosomenanalyse (oder auch einer DNA-Analyse) unterzogen.
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tive einer qualitativ neuen Instrumentalisierung und Enteignung des weiblichen Krpers durch die Humangenetik kritisiert worden (Bradish/Feyerabend/Winkler 1989; Degener/Kbsell 1992). Nicht zuletzt angestoßen durch die feministische Kritik sind prnatale Diagnostik und genetische Beratung dann auch zum Gegenstand sozialwissenschaftlicher Beobachtung geworden. Das Spektrum reicht hier von rein empirischen Studien, die meist im Kontext der klinischen Praxis entstehen und das „Konsumentenverhalten“ zum Thema haben,6 ber die einschlgigen Sachstandsberichte aus der Technikfolgen-Abschtzung7 bis hin zu theoretisch informierten Analysen. Um den Ausgangspunkt der eigenen Analyse professionellen Handelns zu konkretisieren, sei im Folgenden nur auf jenen wissenschaftssoziologischen Zugang verwiesen, wie er – im Anschluss an die Arbeiten von Gieryn (1983) – insbesondere von Cunningham-Burley und Kerr (1999) elaboriert worden ist. Sie haben die Frage aufgeworfen, auf welche Weise die kognitive Autoritt8 einer historisch belasteten und umstrittenen Wissenschaft wie der Humangenetik heute gesichert werden kann. Anhand der Analyse von rund 100 Artikeln aus medizinischen Fachzeitschriften der Jahre 1987 bis 1997, in denen sich einschlgige Fachexperten der Frage annehmen, was denn nun relevante soziale Aspekte an der Humangenetik seien, entwickeln sie die These, dass dies durch rhetorische Grenzziehungen der Experten passiert. Indem die Experten streng zwischen wissenschaftlicher Forschung und deren Anwendung in der Praxis unterscheiden (Gefahr des Missbrauchs), zwi6
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Diese Studien, die meist mithilfe standardisierter Methoden der Frage nachgehen, warum Frauen die Angebote der Prnataldiagnostik annehmen oder verweigern bzw. ob die beratenen Frauen auch ausreichend informiert sind, sind oft im Bereich von Public Health angesiedelt; manchmal handelt es sich auch um statistische Auswertungen zu den genannten Aspekten der prnataldiagnostischen Praxis durch die praktizierenden Mediziner selbst. Ihren Erscheinungsort haben derartige Studien denn auch nicht selten in den einschlgigen medizinischen Fachzeitschriften. Beispielhaft seien genannt Press/Browner (1997), Santalahti et al. (1998), Gekas et al. (1999), Markens et al. (1999). Die wichtigsten deutschen Beitrge aus der Technikfolgen-Abschtzung sind die Berichte des Bros fr Technikfolgen-Abschtzung beim Deutschen Bundestag (TAB) bzw. Arbeiten, die in dessen Auftrag entstanden sind, vgl. Nippert/Horst (1994), Hennen et al. (1996; 2000). Vgl. fr sterreich Mikl/Wild/Torgersen (1996). Der womglich psychologisch konnotierte Begriff der kognitiven Autoritt wird dann bedeutungsvoll, wenn man zwei Ebenen der Herstellung und Legitimation professioneller Autoritt unterscheidet: Einmal das organisational-institutionelle Feld, auf dem um Kontrollansprche gestritten wird (Kontrolle ber Ressourcen und Zugnge sowie die Kontrolle der Profession, sprich: kollegiale Selbstkontrolle). Kognitive Autoritt bezieht sich dagegen auf die „Wissenspolitik“ der Profession, also auf das Feld der Selbstdeutungen, der diskursiven Abgrenzungsleistungen und Zustndigkeitsbehauptungen usw. Auf dieser zweiten Ebene geht es um den Nachweis, dass die Profession das „Richtige“ erforscht, die Objekte ihrer Forschung legitime Objekte der Forschung sind usw. Allerdings legt der Begriff der kognitiven Autoritt nahe, dass es sich dabei um intentionale und von den Experten reflektierte Strategien handelt. Daher ist im Folgenden durchgngig von professioneller Autoritt die Rede.
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schen moderner Genetik und berkommener Eugenik, sowie zwischen dem (uneigenntzigen) Forscher und dem Anwender, zeichnen sie die Humangenetik als ein neutrales und von sozialen Aspekten freies Terrain. Auf diese Weise analysieren die beiden Autorinnen die professionelle Konstruktion der sozialen Effekte und Implikationen der Humangenetik als eine Strategie der Legitimation der kognitiven Autoritt der Humangenetiker. Eine solche Perspektive ist instruktiv aufgrund der Annahme, dass professionelle Autoritt hergestellt und reproduziert werden muss. D. h., es wird die Vorstellung aufgegeben, dass Autoritt und Expertenstatus den Experten schlicht aufgrund ihres Spezialwissens zufllt. Die Tatsache jedoch, dass das „boundary work“ der Experten nur auf der Ebene rhetorischer Strategien fokussiert wird, fhrt zu einer ideologiekritischen Verengung des Problems. Fr einen professionssoziologischen Zugang, der die impliziten Leitbilder und Orientierungsmuster ins Zentrum der Analyse rckt, ist es m. E. zielfhrender, die Grenzziehungsarbeiten als Ausdruck praktischer Gestaltungszwnge zu begreifen, auf die die Experten in der Praxis mehr oder weniger reflexiv reagieren. Es ist der Kontext einer technologisch und kulturell induzierten „Entgrenzung“, auf dem die Frage nach den professionellen Handlungsorientierungen interessant wird. Um zu erlutern, welchem empirischen Hintergrund sich diese Fragestellung verdankt, schließt sich im zweiten Abschnitt zunchst ein kurzer methodischer Exkurs an. Im dritten Abschnitt wird die Frage nach der Bedeutung gesellschaftlicher Diskurse und kultureller Leitbilder in der professionellen Handlungspraxis an den kontroversen Fllen der prnatalen Geschlechtsbestimmung (3.1) bzw. der Sptabtreibung nach Prnataldiagnostik aus unterschiedlichen Perspektiven aufgenommen (3.2, 3.3).
2. „Was wir machen, ist nicht außerhalb der Gesellschaft“ – Zur Bedeutung einer Reflexion der Interaktionskonstellation fr die Auswertung von Experteninterviews Es soll in diesem Abschnitt in aller Krze transparent gemacht werden, auf welcher Datenbasis die im nchsten Abschnitt entwickelten Schlussfolgerungen entwickelt wurden und mit welchen methodologischen Vorberlegungen die konkrete Auswertungsstrategie verzahnt ist. Die Begegnung von Soziologie und Humangenetik in den Personen von Interviewer und Befragtem liefert ein Musterbeispiel fr die Bedeutung einer methodologisch und methodisch reflektierten Sozialforschung. Im konkreten Fall hat die Beschftigung mit den Daten unter der Prmisse einer Reflexion der Interaktionssituation zur Entwicklung einer Fragestellung beigetragen, deren Relevanz ohne die Durchfhrung der Gesprche nicht wirklich evident gewesen wre.
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Vorweg zur Datenbasis: Im Verlauf der Studie wurden insgesamt 31 teilstrukturierte Interviews mit Gynkologen und Humangenetikern in den verschiedenen sterreichischen Landeshauptstdten (Wien, Salzburg, Innsbruck, Linz) durchgefhrt. Es handelte sich also um Mediziner (darunter sechs Frauen), die entweder in Universittskliniken einer eigenen Abteilung fr Prnataldiagnostik vorstehen (bzw. dort leitend ttig sind) oder in einer gynkologischen Abteilung die prnataldiagnostischen Untersuchungen und Eingriffe durchfhren; oder aber um Genetiker, die in den an die Universittskliniken angeschlossenen Beratungsstellen eben auch die Beratung schwangerer Frauen bernommen haben.9 Das lngste Interviewdauerte 2,5 Stunden, das krzeste 18 Minuten. Im Durchschnitt aber lag die Zeitdauer der Interviews zwischen 50 und 60 Minuten. Die Auswertung von Experteninterviews muss dem Konzept des „theoriegenerierenden Experteninterviews“ (Bogner/Menz 2002) zufolge bei der Reflexion der Interaktionssituation ansetzen. Die konkrete Gesprchssituation ist der interpretatorische „Fluchtpunkt“, die Perspektive, unter welcher ein bestimmter Text gelesen werden muss. Erst aufgrund dieser interpretatorischen Vorleistung kann eine Lesart der Texte entwickelt werden, die auch plausibel und nachvollziehbar ist. Schließlich ist gerade das zur „intersubjektiven Nachvollziehbarkeit“ modifizierte Gtekriterium der Reliabilitt eines der unverzichtbaren Kriterien qualitativer Sozialforschung (Steinke 2000). Daher ist die Reflexion der Interaktionssituation die geeignete Strategie, um einen Begriff davon zu bekommen, worum es in den Interviews berhaupt „geht“, wovon die Gesprche handeln, worauf das Bemhen der Experten gerichtet ist, was sie vermitteln wollen. Man findet darber letztlich auch eine praktische Antwort auf die Frage, warum die Experten eigentlich mit uns sprechen.10 Eine Klassifizierung der konkret realisierten Interaktionskonstellationen kann rekonstruktiv ber die Analyse der Sondierungs- und Vorgesprche, der Begrßungs-
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Vgl. zur Diskussion der Frage, anhand welcher Kriterien sich die interessierenden Experten definieren lassen, Bogner/Menz (2001).
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Man kann diese Frage auch theoretisch diskutieren, und dann wird man neben den blichen Grnden fr die Interviewteilnahme (gemeinsam geteiltes, gleichsam begrndungsfreies Einverstndnis ber die soziale Bedeutung von Forschung, professionelle Neugier an Thema und Fragestellung usw.) zumindest zwei weitere Faktoren finden, die in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle spielen. Dies ist zum einen die interne Konkurrenz der Experten, die einen gewissen „Zugzwang“ bedeutet: Wenn bereits einige andere Experten an der Befragung teilgenommen haben, wird der Druck grßer, auch den eigenen Standpunkt zu prsentieren und im Rahmen der Studie zu verankern. Und ein zweiter Punkt, der zwar sehr wichtig ist, aber – aus Forscherstolz? – gern bersehen wird, ist der Faktor „Mitleid“. Nicht selten wird sich der Experte aus Grnden der Akademikersolidaritt fr ein Interview zur Verfgung zu stellen, etwa um zum Gelingen einer wissenschaftlichen Qualifikationsarbeit bzw. zum erfolgreichen nchsten Schritt auf der Karriereleiter usw. beizutragen.
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und Einleitungssequenzen im Interview bzw. ber die Analyse der Gesprchssituation im Interview selbst geleistet werden. Ganz wesentlich ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass die Praxis der Prnataldiagnostik, die zum berwiegenden Teil nach Ungeborenen mit lebensfhigen Behinderungen fahndet, die Diskussion um eugenische Kontinuitten in der Humangenetik wach hlt. Gerade auf Seiten der Behindertenbewegung ist der Verdacht latent geblieben, dass die Prnataldiagnostik als institutionalisierte Form der Qualittskontrolle vorgeburtlichen Lebens im Wesentlichen nur eine modernisierte Form der Eugenik darstellt oder zumindest indirekt eine Stigmatisierung und symbolische Diskriminierung behinderter Menschen bedeutet.11 Kurz: Die Prnataldiagnostik ist ein heikles Feld, und die historischen Bezugspunkte von Rassenhygiene, Zwangssterilisation und Euthanasie strukturieren auch heute noch den Erwartungshorizont im Gesprch zwischen Humangenetikern und Soziologen. So fand sich denn auch der (fachfremde) Interviewer in den meisten Fllen in eine Interaktionssituation verwickelt, in der er in erster Linie als potentieller Kritiker der Prnataldiagnostik (und zwar unter dem Aspekt ihrer Generierung einer „neuen Eugenik“) wahrgenommen wurde.12 Dass der fachfremde Forscher oft als Reprsentant einer kritischen ffentlichkeit eingeschtzt wird, lsst sich manchmal – wie das folgende Protokoll eines Spießrutenlaufs in fnf Etappen illustriert – bereits aus der Phase der Interviewanbahnung rekonstruieren. Erste Etappe: Wenige Tage nach meiner schriftlichen Anfrage zum Interview erfolgt eine telefonische Nachfrage beim Experten A. Zu meiner großen berraschung spreche ich mit einem Experten, der weder ein Gesprch kategorisch ablehnt noch zusagt. Vielmehr werde ich – A. ist einer der ersten Experte, die ich kontaktiere – vllig unvorbereitet einem Verhr unterzogen: Wer fhrt diese Untersuchung durch? Welche Organisation steht dahinter? Gibt es eine Presseprsentation dieser Untersuchung? Wie ist die Stellung des Interviewers im Institut? Welche weiteren Experten werden interviewt? Fr wen bzw. in wessen Interesse wird das Projekt durchgefhrt? Es fllt mir schwer, eine strategische Linie zu finden. Will A. hren, dass es sich um eine große, wichtige Studie mit einigem ffentlichkeitswert handelt, fr die er seine wertvolle Expertenzeit nicht umsonst investiert? Oder sollte es sich besser um eine kleine, grundlagentheoretische Studie ausschließlich zu Qualifizierungszwecken handeln? Nach einem 15mintigen, ergebnislos verlaufenden Telefonat ist mir nur eines klar: Dass A. ziemlich misstrauisch ist und dass „Soziologie“ kein gutes Passwort fr den Zugang in humangenetische Forschungslabore ist. Zum Abschluss sagt A.: „Sprechen Sie mit meinem Kollegen B.“ Zweite Etappe: Ich rufe B. an. Dieser geht bereits nach einem relativ kurzen Telefonat auf meinen Wunsch nach einem Interviewtermin ein. (Hernach, im persnlichen Gesprch, wird B. sagen: „Ich treff ’ mich lieber und schau’ mir den an, der das macht; ich telefonier’ nicht so lang wie A.“). Dritte Etappe: Zwei Wo11 12
Vgl. etwa die Beitrge in Stein (1992), Neuer-Miebach/Tarneden (1994). Zu einer Typologie von Interaktionskonstellationen, die aus der Interviewpraxis rekonstruierbar sind, vgl. Bogner/Menz (2002). Eine solche methodische Reflexion bedeutet nicht zuletzt eine Kritik an der landlufigen „qualitativen“ Vorstellung eines „one best way“ der Interviewfhrung.
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chen spter besuche ich B. in dessen Klinikbro. Eine halbe Stunde nach meiner Anmeldung im Sekretariat werde ich hereingerufen. Nach kurzen Begrßungsworten beginne ich, meine Materialien (Leitfaden, Notizheft) auszupacken und das Diktiergert zu positionieren. B. sagt: „Das knnen Sie gleich mal weggeben.“ Bald wird mir klar, dass wir heute gar kein Gesprch zu der von mir gewnschten Thematik fhren werden. Wir sprechen dagegen ber meinen Arbeitgeber, das Institut fr Hhere Studien, die dortige Forschung in der Abteilung Soziologie, mein Projekt, meine Frageschwerpunkte und mein Vorwissen zur Prnataldiagnostik. B. meint im Laufe des Gesprchs, er sei schon so oft „gelinkt“ worden, zuletzt habe er Scherereien mit einem Interview fr ein großes sterreichisches Nachrichtenmagazin gehabt. Zum Abschluss diktiert B. die Auflagen, von deren Erfllung er ein Interview abhngig macht: Die Interview-Fragen sind vorab per E-Mail vorzulegen und zweitens mchte er das Manuskript in der Rohfassung gegenlesen. Nicht um zu zensieren, sondern wegen mglicher „Fehler“, die auf den Autor – mich – zurckfallen wrden. Nach 50 Minuten ist das Gesprch beendet. Vierte Etappe: Wenige Tage spter sende ich ein zwei Seiten langes E-Mail an B. mit Fragen zur Qualittssicherung und Organisation der Prnataldiagnostik. Ethische und sozialpolitische Fragen bleiben ausgespart. Außerdem wird Bezug genommen auf Statistiken zu Untersuchungen und Befunden, die auf einer Homepage aufgelistet sind. Kurz darauf ergeht ein Rckruf von B. Er will angeblich sicher gehen, dass er mir beim letzten Besuch nicht eine bestimmte Visitenkarte berreicht hat, die auf der Rckseite einen handschriftlichen Vermerk trgt, der nur fr ihn von Wert ist. In Wirklichkeit ein Identittstest des Interviewers? Fnfte Etappe: Eine Woche nach meinem E-Mail erfolgt ein Rckruf von B. zur Terminvereinbarung. B. gibt mir zu verstehen, dass er und sein Kollege A. dieses Interview quasi arbeitsteilig fhren werden, da beide eine in Grundstzen gleiche Meinung zu den zentralen Punkten der Prnataldiagnostik htten. Man werde nacheinander den „Fragenkatalog abarbeiten“. Zeitlimit: 35 Minuten, „aber maximal“.
Es ist an dieser Stelle allerdings zu betonen, dass die zugeschriebene Rolle des Kritikers fr die Durchfhrung von Interviews berhaupt nicht kontraproduktiv sein muss. Im Gegenteil: Die Kritiker-Rolle ist vielmehr oft Auslser einer ausfhrlichen Prsentation der normativen Prmissen des professionellen Handelns. Am konkreten Beispiel: Die Selbstreflexion des Interviewers als eines potentiellen Kritikers fhrte von der Frage, warum die Experten berhaupt mit Sozialwissenschaftlern sprechen, zur Suche nach einem „Leitmotiv“ des Expertendiskurses. Im Laufe der Auswertung ist daraus die Idee entstanden, dass dieses Leitmotiv im Konzept einer von den Experten offenbar als notwendig erachteten „Medikalisierung“ der Prnataldiagnostik zu suchen ist. Eine Vielzahl von Texten oder Textpassagen ließen sich als Versuche der Experten lesen, dem Interviewer (und sich selbst) die Prnataldiagnostik als eine wissenschaftlich fundierte und moralisch verantwortungsvolle, als eine ganz normale Medizin verstndlich zu machen. Nicht immer wird dabei der Zusammenhang zwischen Interaktionskonstellation und Leitmotiv so unmittelbar evident wie in der folgenden Passage, die unschwer zu erkennen gibt, dass der Experte den
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Interviewer gleichermaßen als fachfremden Laien und ideologisch gefrbten Kritiker einstuft.13 Im Rahmen eines sondierenden Vorgesprchs ußert sich der Experte C. zur gesellschaftlichen Situation der Humangenetik, ohne dass dieses Thema vom Interviewer angeschnitten worden wre: Was die Prnataldiagnostik mache, sei „nicht außerhalb der Gesellschaft“, erklrt C, es gebe da nichts zu verbergen. Er kriege jedoch einen „Hals“, wenn er Nicht-Experten bei den einschlgigen Round-Table-Diskussionen dabei habe. „Denn die, die nichts wissen, sagen am meisten.“ Die Humangenetiker wrden immer als die Bsen abgestempelt, whrend fr die Frauen, die schließlich diese Leistung nachfragten, die Prnataldiagnostik immer nur eine vorbergehende Phase sei, mit der sie dann im Nachhinein, „wenn alles gut gegangen ist, nichts mehr zu tun haben wollen“. Die Humangenetiker seien immer fr die Patientinnen da, aber sie wrden abgestempelt allein aufgrund ihrer medizinischen Praxis. Doch ganz anders, als dies immer dargestellt wrde, verfolge die Humangenetik nicht den Anspruch auf irgendeine Gestaltung der sozialen Verhltnisse.
Der Aufklrungsimpetus der Experten ber die medizinisch-technischen und wertbzw. ideologiefreien Grundlagen der Prnataldiagnostik bedingt in der Praxis die Realisierung von Legitimationsdiskursen. Natrlich kann es dabei zu fruchtlosen Stereotypisierungen und Selbstinszenierungen kommen, zu Versuchen, den Interviewer als Vertreter einer scheinbar einflussreichen Institution als Multiplikator zu instrumentalisieren und zu ausufernden Darstellungen bestimmter technischer Details. Doch abgesehen von derartigen Gefahren (die nicht nur im Fall von Experteninterviews immer gegeben sind), wre die Verurteilung der Legitimationsdiskurse als wenig substanziell, „unwahre Werte“ o. . voreilig. Schließlich muss diese Beobachtung zu der Frage fhren, warum sich die Experten zu einem derartigen Diskurs gezwungen sehen, welche Abgrenzungen zu Legitimationszwecken vorgenommen werden und zu welchen neuen Praktiken, Konstellationen und Problemen dies fhrt. D.h., auch wenn Legitimationsdiskurse je nach Fragestellungen und Gesprchsverlauf unterschiedlich ergiebig sind, so wre es falsch, sie von vornherein als vordergrndige Rhetorik zu verstehen. Denn auf einer tieferen Ebene knnen sie eben dahingehend lesbar werden, dass sie etwas ber die prinzipielle Problemkonstellation verraten, in der sich die Experten gerade auf Grund des medizinischen Fortschritts und der Normalisierung der Prnataldiagnostik befinden. Der Legitimationsdiskurs, in dessen Mittelpunkt die „Verteidigung“ oder Auslegung der Prnataldiagnostik als einer genuin medizinischen Aufgabe steht, wird auf diese Weise als Indiz fr eine „Suchbewegung“ der Medizin lesbar. Die Interviews mit den Experten knnen als eine indirekte Selbstauskunft darber gelesen werden, wie die Experten argumentieren bzw. was sie tun, um eine professionelle Praxis als Wissen-
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Bei dieser Passage handelt es sich um einen Auszug aus einem Gedchtnisprotokoll, das auf der Basis stenographischer Notizen angefertigt wurde.
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schaft „zum Funktionieren“ zu bringen. Die Experten stnden damit – dieser Interpretation zufolge – vor der paradoxen Aufgabe, eine „medizinische Indikation“ fr ein Fachgebiet der Medizin zu finden. Diese Herausforderung markiert gleichzeitig jenes Leitmotiv, das den eingangs erwhnten „großen Bogen“ fr die Textanalyse herstellt. Die Auswertung der Experteninterviews wurde mit dem bewhrten Instrumentarium der Grounded Theory in Angriff genommen, ohne aber die Forschungslogik der Grounded Theory (Glaser/Strauss 1998) im Detail nachzuvollziehen. Dies bedeutet in forschungspraktischer Hinsicht eine Abfolge unterschiedlicher, aber aufeinander bezogener Kodierphasen.14 Eine wesentliche Modifikation ergab sich jedoch aufgrund der – aus der Reflexion der Interaktionssituation resultierenden – vorgngigen Konstruktion eines „roten Fadens“, an dem die verschiedenen thematischen Schwerpunktsetzungen aufgehngt wurden. Diese „Geschichte“ oder dieses Kernproblem (das man auch als eine gewissermaßen vortheoretische „Kernkategorie“ im Sinne von Glaser und Strauss verstehen kann) wurde im Weiteren als der „Magnet“ begriffen, an dem sich die Aussagen zu den einzelnen Frageschwerpunkten auszurichten hatten. In der weiteren Auswertung stand darum der Versuch im Vordergrund, verschiedene Aussagenkomplexe zu diesem Kernproblem in Beziehung zu setzen. Anhand der Kategorie „Behinderung“ lsst sich der Nutzen der Kodierarbeit leicht nachvollziehen. In Anlehnung an den Expertendiskurs ließen sich die Behinderungen z. B. nach Art, Ursache, Ausprgungsgrad (leicht/schwer) und dem Belastungsausmaß fr den Betroffenen bzw. die Umwelt aufschlsseln. Ihre Bedeutung erhielten diese Dimensionierungen im Hinblick auf die anschließende Frage nach der Funktion und dem „Verweischarakter“ der expertiellen Thematisierung von Behinderung. So wurde die angefhrte Differenzierung der Kategorie Behinderung auf dem Hintergrund der Annahme eines Legitimationsdiskurses zunchst als Bedingung einer „Abgrenzung“ gelesen. Der Versuch der Experten, z. B. vernachlssigbare von gravierenden Behinderungen zu unterscheiden, konnte in dieser Hinsicht als eine praxislegitimierende Konstruktion verstanden werden. Da sogleich evident ist, dass das medizinische Fachwissen nicht ber Kriterien verfgt, um eine handlungsleitende Differenzierung zwischen unterschiedlichen Formen von Behinderung vornehmen zu knnen, wurde im Folgenden etwa die Frage virulent, auf welche Diskurse, Leitvorstellungen, Wissensbestnde die Experten in der Praxis zu diesem Zweck zurckgreifen.
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Mit dem Lehrbuch von Strauss/Corbin (1996) liegt jedoch zwischenzeitlich der Versuch vor, aus dem Geist der Grounded Theory ein detailliertes Regelwerk fr die qualitative Forschung zu entwerfen. Vgl. zu Kurzdarstellungen der methodischen Vorgehensweise Wiedemann (1995), Bhm (2000).
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3. Professionelles Handeln, gesellschaftliche Diskurse und kulturelle Leitbilder „Unsere Aufgabe ist es halt, klare Grenze zu ziehen, ganz klare Grenzen zu ziehen“, sagte ein Experte im Interview, und in dieser Formulierung klingt das zentrale Problem an, vor das sich die Humangenetik gestellt sieht: Angesichts der Herausforderungen durch den medizinischen Fortschritt und das medizinisch Machbare muss das professionell Vertretbare neu bestimmt werden. Die Rekonstruktion der konkreten Art und Weise dieser Grenzziehungen ist der „Knigsweg“ zu den professionellen Handlungsorientierungen und kulturellen Leitbildern.15 Denn sie markieren das Feld der realen oder imaginierten Gestaltungszwnge und werden daher analytisch fruchtbar fr die Rekonstruktion jener Orientierungsmuster, die den Akteuren nicht unbedingt reflexiv verfgbar sein mssen, in der Praxis aber sowohl erkenntnis- und entscheidungsleitend als auch handlungsmotivierend wirken. Mit einer solchen Aufgabenstellung ist gleichzeitig die Annahme verbunden, dass die Prnataldiagnostik eine (Konstruktion von) Medizin ist, deren Funktionieren letztlich auch von bestimmten Grenzsetzungen abhngig ist. Im Folgenden werden exemplarisch zwei Praxisfelder professionellen Handelns und Entscheidens angeschnitten, die beide dadurch charakterisiert sind, dass es infolge des medizintechnischen Fortschritts und neuer diagnostischer Verfahren zur ffnung von Entscheidungsspielrumen kommt, die weder traditionell gesichert noch formal geregelt sind. Der erste Fall bezieht sich auf die Frage nach dem expertiellen Umgang mit der technischen Mglichkeit prnataler Geschlechtsbestimmung (3.1). Im zweiten Teil wird zunchst unter dem Aspekt der Komplexitt und daraus resultierender Entscheidungsunsicherheiten dem Zusammenhang von gesellschaftlichen Diskursen und professioneller Autoritt nachgegangen (3.2). Im Anschluss daran wird dargestellt, auf welche Weise das kulturelle Leitbild von Autonomie fr das professionelle Umgehen mit Gestaltungszwngen handlungsleitend bzw. -motivierend wird und welche 15
Unter dem Begriff kulturelles Leitbild wird im Folgenden ein normativ wirksames, kulturell bedingtes und diskursiv verregeltes Prinzip der Handlungsstrukturierung und Handlungslegitimation verstanden. Ein solches Prinzip kann als eine Verdichtung bzw. als ein Teil aus dem Gesamt jener gesellschaftlichen Normalittsvorstellungen verstanden werden, die in Zusammenhang mit zivilisatorischen Grundfragen stehen (was ist der Mensch? was ist eine gute Gesellschaft? was ist gesund, gerecht usw.?). Kulturelle Leitbilder mssen den handelnden Akteuren nicht unbedingt reflexiv verfgbar sein bzw. ihre Praxiswirksamkeit erklrt sich meist gerade darber, dass sie nicht reflektiert werden. Ihre konkrete Form ist nur aus den Praktiken, Legitimationen und Selbstdeutungen der Experten rekonstruierbar. Whrend sich also kulturelle Leitbilder auf das Feld der Normalittsvorstellungen beziehen, stellen professionelle Handlungsorientierungen situationsspezifisch konkrete und problemlsungsrelevante Normen fr eine bestimmte berufliche Personengruppe dar. Die vorstehende Definition grenzt sich erkennbar von einem Verstndnis von Leitbildern ab, wie es z. B. in der Technik- oder Organisationssoziologie gelufig ist.
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Konsequenzen sich daraus fr die medizinische Praxis selbst, aber auch hinsichtlich gesellschaftlicher Machtverhltnisse ergeben (3.3).
3.1 „Fr mich ist das das Frauenfeindlichste, was es berhaupt gibt“ – zur engen Kopplung von gesellschaftlichen Diskursen und professioneller Autoritt Die Thematisierung von Seiten der Experten, welche Praktiken und Wertorientierungen die Prnataldiagnostik legitimierten bzw. delegitimierten, ist gleichermaßen ein Indiz fr das Brchigwerden traditioneller Selbstverstndlichkeiten wie auch ein Hinweis fr die Notwendigkeit der „Abstimmung“ professionellen Handelns mit gesellschaftlichen Normalittsvorstellungen. Die professionelle Autoritt der Experten ergibt sich nicht zuletzt daraus, dass sie prinzipiell in bereinstimmung mit den gesellschaftlichen Erwartungshaltungen danach handeln, was als Aufgabe der Experten anerkannt ist, was als wissenswert und sagbar gilt und welche Tabus es gibt. Professionelle Handlungsorientierungen bringen also immer auch die spezifischen sozialen Voraussetzungen wissenschaftlicher Praxis zum Ausdruck. Eine solche Perspektive unterstreicht die Bedeutung einer soziologischen Analyse der expertiellen Handlungsorientierungen fr ein vertieftes Verstndnis der Durchsetzung und Legitimation von Professionalitt. Gleichzeitig ist eine solche Perspektive gegen jene rollentheoretischen Anstze gerichtet, die die professionelle Autoritt der Experten zwar kritisch als einen Herstellungsprozess begreifen, dessen Analyse jedoch auf das strategische Handeln der Akteure beschrnken (vgl. Pfadenhauer 2003). In diesem Sinne bedeutet eine Analyse kollektiver Orientierungen immer auch Aufschluss zu geben ber die Voraussetzungsflle einer nur zu selbstverstndlich erscheinenden professionellen Praxis, die eben nicht nur dramaturgisch herzustellen ist. Dieser Zusammenhang wird sogleich deutlich, wenn wir uns die Bedeutung von bestimmten Grenzziehungen fr die professionelle Praxis vergegenwrtigen. Solche Grenzziehungen – wie etwa die von der Elite der Prnataldiagnostik informell durchgesetzte chtung der Diagnose von spt-manifestierenden Krankheiten16 oder des Geschlechts – werden von den Experten als Barrieren gegen ein „Ausufern“ der Prnataldiagnostik verstanden, ja als eine „Imprgnierung“ der Prnataldiagnostik gegen den „Befall“ durch gesellschaftliche Wertvorstellungen. D. h., solange sich die 16
Das bekannteste Beispiel einer sich spt manifestierenden Krankheit ist die Chorea Huntington („Veitstanz“). Dies ist eine sich erkennbar zwischen dem 25. und 55. Lebensjahr ausbildende erbliche Krankheit, die ber eine fortschreitende, nicht therapierbare Gehirnschdigung tdlich verluft. Das gesellschaftlich Problematische und individuell Tragische an dieser Krankheit besteht darin, dass mithilfe der Gendiagnostik diese Krankheit mit sehr großer Sicherheit schon beim Ftus bzw. beim Kleinkind diagnostiziert werden kann.
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Prnataldiagnostik auf ihre „eigentlichen“ Aufgaben besinnt und nicht auf jene Phnomene zugreift, die (zumindest im deutschsprachigen Raum) noch nicht einer biomedizinischen Normalisierung unterworfen sind, kann das professionelle Handeln gewissermaßen entkontextualisiert werden – es wird den Experten mglich, ihre Praxis als eine esoterische, a-soziale zu begreifen. So erklrte beispielsweise ein Humangenetiker in unmittelbarem Anschluss an seine Behauptung, dass in der ffentlichkeit sehr oft bertriebene ngste vor potentiellen Gefahren der Humangenetik artikuliert und auf diesem Weg unsachliche, ja berflssige Diskussionen prolongiert wrden, es gebe im Wesentlichen nur ein einziges wirklich gravierendes Problem, und zwar das Problem der so genannten Sex-Selection, also die Abtreibung nach prnataler Geschlechtsbestimmung.17 Ich glaube, die wirklichen und massiven Probleme sind die Tendenzen, prnatal das Geschlecht zu bestimmen und Schwangerschaften von Mdchen zu unterbrechen. Diese Tendenzen sind aber aus dem Kulturkreis bestimmter Lnder erwachsen, da sind Mdchen unerwnscht. (...) Die Mdchen sind dort nun mal unwertes Leben, und die soziale Einstellung und der kulturelle Background sind so tief verwurzelt, das Streben danach, einen Buben zu haben, ist dermaßen intensiv, dass sie diese Mittel in Anspruch nehmen werden, wenn sie ihnen zur Verfgung stehen, um das Geschlecht prnatal in Erfahrung zu bringen. Mdchen kommen dann erst gar nicht mehr zur Welt. Das, glaube ich, sind heute die wirklichen Probleme.
Sex-Selection im Rahmen der Prnataldiagnostik wird hier als eine definitive Grenze begriffen, als ein Zeitpunkt, wo die Prnataldiagnostik wirklich problematisch wird – weil hier gewissermaßen die gesellschaftlichen Wertvorstellungen die Wissenschaft zu dominieren beginnen. Die Handlungen und Entscheidungen der Experten beziehen sich positiv auf die gesellschaftlichen Vorstellungen darber, was legitimerweise im Bereich der Reproduktionsplanung als Aufgabe der Wissenschaft gelten kann. Diese Wissenschaftlichkeit bezieht sich im Fall der Prnataldiagnostik auf die methodisch-systematische Bestimmung von Behinderungen (wie z. B. Trisomie 21, Down-Syndrom). Auf diesem Hintergrund liegt die These nahe, dass von Seiten der Experten die prnataldiagnostische „Fahndung“ nach dem Geschlecht als ein Ausdruck der gesellschaftlichen „berformung“ von wissenschaftlicher Praxis bewertet wird, jene nach Behinderungen hingegen nicht. Anders gesagt: Whrend die Hierarchisierung der Geschlechter in den Expertenkreisen ganz offenbar als ein kulturelles Produkt, als ein Resultat von Zuschreibungen gedeutet wird, wird Behinderung eher als ein substanzielles Attribut interpretiert bzw. als eine objektivierbare Bedrohung (fr den Betroffenen selbst oder dessen Umwelt).18 Die spezifi-
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Vgl. zu einer empirischen Untersuchung der stark differierenden internationalen Praxis die Studie von Wertz/Fletcher (1993). Mit den geringsten Vorbehalten ist die prnatale Geschlechtsselektion in Indien belastet.
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schen Grenzziehungen sind gewissermaßen ein Indiz fr die Art und Weise der gesellschaftlich hegemonialen Normalittsvorstellungen. Denn erst diese Vorstellungen darber, was behandlungsbedrftig bzw. diagnosebedrftig ist und was nicht, welche Phnomene wissenswert sind und welche nicht, machen die Wissenschaft handlungsfhig. Auch die Humangenetik ist also von Diskursen abhngig, um berhaupt etwas suchen bzw. „sehen“ zu knnen; und dann auch „bearbeiten“, behandeln, untersuchen zu knnen. Was als Faktenwissen der Medizin erscheint, konstituiert sich immer auch ber das Wissen (oder das Gefhl) um diese Normalittsvorstellungen. Zu kollektiven Orientierungsmustern verdichtet erweisen sich derartige Normalittsvorstellungen in der Praxis gleichermaßen als wissensorientierend sowie als handlungsmotivierend. Welche handlungsmotivierende Kraft der positive Bezug auf diese Leitvorstellungen freisetzt, mag die folgende Passage verdeutlichen, in der ein Experte davon berichtet, dass er das informelle Tabu der prnatalen Sex-Selection auch gegen große Widerstnde und selbst auf die Gefahr einer nachhaltigen Schdigung des eigenen Rufs als Professioneller hin durchgesetzt hat. Es ist also bei uns so, dass wir in sterreich ein ganz einheitliches Vorgehen haben. Bei der Chorionbiopsie, die in der Frhschwangerschaft gemacht wird, wird das Geschlecht nicht mitgeteilt. Definitiv nicht. Nicht vor der 16. Woche. Und da kann sein, was will. Ich selbst war schon beim Schiejok19 wegen der Sache. Da hat mich eine Patientin hingezerrt, weil ich ein bser Arzt bin, der die Diagnose nicht mitteilt, nicht? Bis zum Schiejok waren wir. Ich hab’ das zum Glck rberbringen knnen, worum es gegangen ist. Damit war dann fr mich die Sache positiv erledigt. Aber das htte auch anders ausgehen knnen (...) Also die Frage... das ist eine kulturelle Geschichte. Fr mich ist das das Frauenfeindlichste, was es berhaupt gibt, eine Sex-Selection zu machen prnatal. Also es kommt fr uns nicht in Frage. Ganz einfach.
Die enge Kopplung von Wissenschaft und Gesellschaft verdeckt, was offen zu legen die prominente Aufgabe der Soziologie ist: dass die Zustndigkeit der Humangenetik fr bestimmte Phnomene berhaupt nicht selbstverstndlich ist, sondern Resultat eines Herstellungsprozesses, der eben auch ganz zentral ber den Rekurs auf arbeitsweltlich, massenmedial inszenierte oder alltglich normalisierte Krperbilder und Lebensstilideale vermittelt ist. Die Entkontextualisierung der Wissenschaft ber den positiven Rekurs auf hegemoniale gesellschaftliche Normalittsvorstellungen erffnet denn auch die Mglichkeit, die eigene, historisch kontingente Praxis als eine „reine“ Wissenschaft miss zu verstehen. Dies vorausgesetzt darf man vermuten, dass die professio18
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Weil zweiteres an dieser Stelle nur resmierend festgehalten werden kann, fhrt die Beschreibung der expertiellen Behinderungsbilder einen dogmatischen Unterton mit sich. Es sei daher fr ein nachvollziehendes Verstndnis auf jene Passagen in Bogner (2003a) verwiesen, in denen diese Behauptung interpretativ-rekonstruktiv entwickelt wird. Der Journalist Walter Schiejok moderierte in sterreich seit den 80er Jahren verschiedene und sehr populre Brgerrechts- und Konsumentenschutzsendungen im ffentlich-rechtlichen Rundfunk (ORF).
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nelle Autoritt der Humangenetiker so weit stabil bleibt, wie Politisierungen dieser Wissenschaft vermieden werden, z. B. indem man bestimmten „Entgrenzungen“ entgegen zu wirken versucht (und dies muss gar kein strategischer Akt sein; in unserem Fall ergibt sich die professionspolitische Funktionalitt von Grenzziehungen vielmehr erst ex-post und aufgrund einer bestimmten Analyseperspektive zu erkennen.). Professionelle Handlungsorientierungen und gesellschaftliche Diskurse sind aber nicht ein System prstabilisierter Harmonie. Gerade im Fall einer „Dienstleistungsmedizin“ wie der Prnataldiagnostik, wo – in Form der offiziell akklamierten NonDirektivitt genetischer Beratung – der Patientenautonomie ein verstrktes Gewicht zukommt und die Funktion des Arztes sich idealtypisch auf jene eines Informanden beschrnkt, ist jede Entscheidung immer auch Gegenstand von Aushandlungsprozessen. Der Wandel von professionellen Handlungsorientierungen muss daher als ein ko-evolutiver Prozess gedacht werden: Die konkreten Aushandlungsprozesse werden die Handlungsorientierungen der Humangenetiker nicht unberhrt lassen und ein Wandel kultureller Leitvorstellungen darum auf die professionelle Praxis von Grenzziehungen zurckwirken. Umgekehrt werden ebenso neue gendiagnostische Verfahren die Erwartungshaltungen der Klienten verndern und u.U. zu einer Normalisierung von Praktiken beitragen, die im Kontext der Prnataldiagnostik heute noch tabuisiert sind. Ein Blick ber die nationalen Grenzen hinaus zeigt das sehr eindringlich. So ist die Sex-Selection nicht etwa nur in Indien oder China ein probates Mittel zur Reproduktionskontrolle, auch in westlichen Demokratien gilt die Geschlechtswahl – wenn auch unter ganz anderen normativen Vorzeichen – als ein legitimes Mittel der Familienplanung. Unter dem Schlagwort des „family balancing“ sorgt die prnatale Sex-Selection etwa in den USA lngst nicht mehr fr Aufregung. Gerade im Rahmen von knstlicher Befruchtung (IVF) und einem davor geschalteten Test zur genetischen Qualittskontrolle des Embryos (Primplantationsdiagnostik) scheint die Sex-Selection vielmehr zur Routine zu werden.
3.2 „Es ist manchmal schwer, keine Orientierungshilfe zu haben“ – Klinikkulturen und die Materialitt von professionellen Handlungsorientierungen Die kollektiven Orientierungen der Humangenetiker erhalten in der Praxis dadurch ein starkes regulatives Gewicht, dass den Unsicherheiten, zu denen etwa die fehlende Entscheidungsentlastung mittels gesetzlicher Vorgaben und Vereindeutigungen (z. B. durch Indikationenkataloge) beitrgt, auf der Basis professionsintern verhandelter und extern anschlussfhiger Handlungsnormen begegnet wird. Die Grenzen einer juristisch verfgten Unsicherheitsreduktion werden anschaulich im folgenden Exzerpt illustriert, wo ein Humangenetiker auf die Komplexitt der Phnomene hinweist.
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Es gibt schon Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten, die so extrem ausgeprgt sind, dass ich das als eine außerordentlich schwere Fehlbildung einschtzten wrde, und dann gibt es halt Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten, die geradezu lppisch sind. Also es ist die Spannungsbreite dessen, was prnataldiagnostisch diagnostiziert wird, ungeheuer groß und die Treffsicherheit der Untersuchungsmethode zur Prdiktion des Ausmaßes der Schdigung nicht sehr hoch. Das macht das Ganze so kompliziert. Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte ist eben nicht Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte. Sondern das wird irrsinnig unterschiedlich.
Die prnatalmedizinischen Forschungsobjekte stellen ganz offensichtlich eine „graue Materie“ dar, der die an einer juristisch-formalen Logik orientierten Przisierungsversuche nicht wirklich gerecht werden. In der Praxis gibt es andere Wege der Unsicherheitsreduktion. Professionsinterne Versuche der Unsicherheitsreduktion finden ihre formale Konstitutionsbedingung sowie ihren konkreten Ausdruck in dem, was man „Klinikkultur“ nennen kann. Die Klinikkultur bezeichnet nicht nur eine bestimmte Form der Organisation der Prnataldiagnostik in medizinisch-wissenschaftlicher Hinsicht, wie z. B. differierende forschungspraktische Schwerpunktsetzungen oder unterschiedliche Prferenzen fr bestimmte Methoden in den einzelnen Prnataldiagnostik-Zentren. Sie umfasst auch jene Verfahrensformen sowie die in bestimmten Routinen sedimentierten Orientierungen und Leitvorstellungen, die fr die (Ab)Sicherung einer moralisch verantwortungsbewussten Medizin von großer Bedeutung sind. Die Klinikkultur prgt sich also einerseits in der Formalisierung von Entscheidungsprozessen aus. Es etablieren sich im Lauf der Zeit bestimmte, klinikspezifische Vorgehensweisen, die es fr die rzte mglich machen, mit ethisch problematischen oder auch juristisch heiklen Fllen („Grenzfllen“) in einer Weise zurecht zu kommen, die dem professionellen Selbstverstndnis einer expertenwissensbasierten Entscheidungsfindung entspricht. D.h., in jenen Fllen, wo aufgrund der Komplexitt der Phnomene keine Entscheidungssicherheit hergestellt werden kann, aber entschieden werden muss, sucht man Hilfe aus den eigenen Reihen. Da gibt es Kooperationen innerhalb der Abteilung, die sich beispielsweise in regelmßigen, ein- bis zweiwchigen „Ethik-Runden“ manifestieren; oder es gibt – gerade im Rahmen der Geburtsvorbereitung bei „Risikofllen“ – Kooperationen mit anderen Abteilungen. Um die Frau auf mgliche (intensiv)medizinische Interventionen unmittelbar nach der Geburt vorzubereiten oder aber auch, um ihr die Entscheidung ber einen Abbruch zu erleichtern, ziehen Prnataldiagnostiker z. B. einen Kinderchirurgen hinzu; oder es treffen sich Gynkologen und Genetiker, um Neuigkeiten auszutauschen (etwa ber neuartige Methoden) und um gemeinsame Vorgehensweisen zu besprechen. Sicher, es gibt bei uns immer Konfliktflle (...) Manche Prnatalmediziner sind z. B. der Meinung, dass man beim Zwillingstransfusions-Syndrom den Schwangerschaftsabbruch anbieten sollte, weil aus grßeren Studien bis zu 10 % cerebrale Handicaps berichtet werden. Also, das sehe ich hier nicht so. Aber prinzipiell ist das bei jedem einzelnen Krank-
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heitsbild in dieser Dimension einsehbar. Wenn ich einem schwer wachstumsretardierten Kind mit unter 1000 Gramm geschtztem Geburtsgewicht einen Fall gegenber stelle, wo ich weiß, dass das Handicap vielleicht auch in diesem Bereich liegen knnte, v.a. bei sehr niedrigen Wochen und Gewicht unter 500 Gramm, dann msste ich dort auch schon den Schwangerschaftsabbruch anbieten. Das trifft z. B. zu mit Preklampsie und Help-Syndrom und sehr niedrigem Geburtsgewicht.20 D.h., da ist man immer in der Schere drin, und das beschrnkt sich nicht auf die chromosomale und genetische Diagnostik und Problematik. Also, die gesetzlichen Vorgaben sind im Bereich der Diagnostik sehr vage. Man hat da einen Spielraum und kann das im Einzelfall ausverhandeln, und man hat ja das perinatologische Team. Diese Flle werden ja mit dem Neonatologen, dem Kinderchirurg – je nachdem wer betroffen ist – immer auch gemeinsam diskutiert. Man hat nicht die Brde allein auf den Schultern.
Wenn der Oberarzt zum Chef der Abteilung geht, um mit ihm einen Problemfall zu besprechen; wenn der Gynkologe den Kinderarzt oder den Humangenetiker zur Beurteilung einer Diagnose hinzuzieht; wenn Mediziner auf Fachkongressen bestimmte Praktiken und Entscheidungslogiken zur Diskussion stellen – in all diesen Fllen geht es um eine professionsinterne Aushandlung von Grenzen. Es geht darum, innerhalb des medizinischen Relevanzsystems Regeln und Vorgehensweisen diskutierend auszuprobieren. Und es geht natrlich fr den Ratsuchenden darum, zu testen, inwieweit die eigenen Entscheidungskriterien und Handlungsorientierungen in diesem konkreten Fall mit dem professionell Vertretbaren kompatibel sind. Der befragte Abteilungschef bzw. die mitdiskutierenden Fachkollegen werden gewissermaßen zum „generalisierten Anderen“, zu Vertretern gltiger professioneller Handlungsorientierungen. Das Erfahrungswissen der Kollegen, ihr Gefhl fr die Situation und ihr Augenmaß sind wichtige Orientierungshilfen fr die Beurteilung spezifischer Entscheidungen. Diese Beispiele von Kooperationen bedeuten eine Art und Weise, ber eine Vielzahl von Einzelfllen einen Kodex des moralisch Vertretbaren und professionell Gebotenen herauszuarbeiten. Jede Klinik, jedes Zentrum funktioniert auf der Basis einer solchen Klinikkultur, einem Set an spezifischen Handlungs- und Entscheidungsmustern. Die Uneindeutigkeit der Phnomene, die juristischen Grauzonen und der daraus resultierende Gestaltungszwang, der ethische Charakter des Entscheidens, kurz: die Flle an Ungewissheiten und Unsicherheiten machen eine experteninterne Koordination notwendig. ber weite Strecken erscheint die Konfigurierung des professionellen Handlungsrahmens wie ein großer, dezentralisierter 20
Preklampsie ist eine Schwangerschaftserkrankung, bei der die Frau einen zu hohen Blutdruck hat und ber ihren Harn zu viel Eiweiß ausscheidet. Zur schwersten und lebensgefhrlichen Verlaufsform der Preklampsie mit Krampfanfllen der Mutter (Eklampsie) kommt es bei einer von 2000 bis 3500 Geburten. Das Help-Syndrom ist eine Sonderform der Preklampsie (engl. fr: hemolysis elevated liver enzymes, low platelets), bei dem eine Auflsung der roten Blutkrperchen und eine Abnahme der Zahl normal funktionierenden Blutplttchen auftritt.
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„Ethik-Workshop“ zur Konstituierung dessen, was im Fachjargon dann good clinical practice heißt. Es ist schon so, dass einen gewissen good clinical practice-Kodex gibt. Dass man gewisse Dinge in diesem Bereich macht und nicht macht. Und ich denke – ich spreche jetzt mal fr unsere Klinik –, dass es da sehr genaue Vorgaben gibt und in Bereichen, wo es wirklich Entscheidungsschwierigkeiten gibt, weil es fast eine Dilemmasituation darstellt, heftig diskutiert wird. (...) Wenn z. B. ein Paar eine Sptabtreibung wnscht, obwohl das Kind lebensfhig ist und wir die Abtreibung – also die Einleitung, muss man dann schon sagen – nicht durchfhren wollen. Weil das fr uns in dem Bereich von good clinical practice nicht mglich ist. Diese Konfliktflle haben wir, zwar selten, aber doch immer wieder. (...) Sie wissen ja, im Fall der Sptabtreibungen hat man quasi keine Vorgaben, es gibt keine Indikationsliste beispielsweise. Und es ist natrlich einerseits ein großer Vorteil, einen Entscheidungsspielraum zu haben. Andererseits natrlich ist es manchmal schwer, keine Orientierungshilfe in dem Bereich zu haben. Und deswegen finde ich die Teamabsprache was ganz, ganz Wichtiges. (...) Wir treffen uns wchentlich, um schwere Flle zu besprechen. Wir haben da eine abteilungsinterne Ethik-Kommission, die formlos zusammentritt, bestehend aus MTA’s, Schwestern, Hebammen und rzten, wo eben in einem Zweifelsfall konsensuell versucht wird, eine einheitliche Meinung zu finden zu einem bestimmten Grenzfall.
Doch die Klinikkultur ist nicht nur eine Form von kommunikativer Infrastruktur, die aus der Not heraus geboren ist. Sie ist mehr als ein Netz von formalen Strukturen. Sie hat gleichzeitig materialen Charakter, denn sie prgt sich auch in bestimmten professionellen Handlungs- und Entscheidungsmustern aus. Die experteninterne Diskussion von „Fallgeschichten“ bedeutet in der Summe so etwas wie die Erarbeitung eines ethischen Kodex innerhalb einer Klinik oder einer Abteilung. D.h., die jungen rzte, die ihre Facharztausbildung absolvieren, durchlaufen immer auch eine Form von „ethischer Sozialisation“, ihre Ausbildung verluft auf dem Hintergrund bestimmter professioneller Handlungsorientierungen, die im Laufe der Zeit herausgebildet, besttigt und modifiziert werden. Mit anderen Worten: Die Mediziner wachsen in einer Klinik innerhalb einer bestimmten Tradition auf. Die Materialitt eines solchen Ethik-Kodex wird insbesondere in jenen Fllen deutlich, wo klinikbergreifend bzw. innerhalb der gesamten Expertenschaft auf nationaler Ebene bestimmte Grenzziehungen vorgenommen werden. Um nher auf die Vermitteltheit dieser Handlungsorientierungen einzugehen und vertiefend deren konstitutiven Bezug zu kulturellen Leitbildern zu analysieren, soll im anschließenden Abschnitt auf die Ebene der konkreten Entscheidungsfindungsprozesse fokussiert werden.
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3.3 „Was heißt dann schwerer kognitiver Defekt?“ Bioethische Diskurse und kulturelle Leitbilder Es wurden bisher nicht nher spezifizierte gesellschaftliche Normalittsvorstellungen bemht, um die normativen und wissensorientierenden Ressourcen einer klinikinternen bzw. disziplinren Expertenpolitik der Moral zu benennen, die das professionelle Handeln und Entscheiden in „Grauzonen“, also unter gravierender Unsicherheit, in den meisten Fllen gegen eine ffentliche Thematisierung und Politisierung abschirmt. Was genau versteckt sich nun eigentlich hinter diesen Normalittsvorstellungen? Lassen sich diese auf dem oben abgesteckten Problemfeld der Prnataldiagnostik ein wenig exakter bestimmen? Und zweitens: Welche Konsequenzen resultieren aus einer impliziten oder expliziten Orientierung professionellen Handelns an diesen dominanten Normalittsvorstellungen? Diese beiden Punkte sollen am Beispiel des Problems der Sptabtreibungen abgearbeitet werden.21 Der Rekurs auf die Lebensfhigkeit ist zwar von zentraler Bedeutung fr die Bestimmung einer Grenze, doch es sind bestimmte Flle denkbar, wo eine solche formale Grenze (wie sie derzeit eben die 24. Schwangerschaftswoche darstellt) nicht mehr weiter hilft. So haben die Diskussionen der deutschen rzteschaft im Vorlauf zur offiziellen „Erklrung zum Schwangerschaftsabbruch nach Prnataldiagnostik“ gezeigt, dass eine starre Orientierung an formalen Grenzen den Medizinern unbefriedigend erscheinen muss. Zwar hat sich die deutsche Bundesrztekammer (1998) fr die Lebensfhigkeit als Kriterium einer prinzipiellen Befristung ausgesprochen, doch heißt es dort auch, es gebe „besondere Ausnahmeflle“. Das fhrt natrlich zu der Frage: Welche sind diese Flle? Und welche Kriterien fundieren eine solche Grenzziehung, so dass man innerhalb der Prnataldiagnostik und Geburtshilfe zu einer weitgehend vereinheitlichten Praxis gelangt? Experte: Das Problem der Sptabtreibungen, das haben wir gemeinsam, Prof. N. und ich, glaube ich, ganz vernnftig gelst da in der Abteilung, dass wir eine Formulierung vom T. aus L. bernommen haben. (Pause durch eine kurze Unterredung mit der eintretenden Sekretrin) Wir haben eine Formulierung, dass wir einen Schnitt mit der 23. plus nullten 21
Mit der Reform des deutschen Abtreibungsrechts im Jahre 1995 ist eine zeitliche Befristung fr die Abtreibung entfallen, die zuvor mit der 22. Woche vorgegeben war. Rund 1500 Abtreibungen wrden jhrlich in Deutschland nach der 22. Schwangerschaftswoche vorgenommen, berichtete „Der Spiegel“ 1999 (Friedrichsen/Ludwig 1999). Der Chef des Klinikrzteverbandes Marburger Bund, Frank Ulrich Montgomery, geht von etwa 800 Sptabtreibungen jhrlich aus (Sperber 2001). Durch Sptabtreibungen geraten rzte dann in ein gravierendes Dilemma, wenn eine (nicht strafbewehrte) Abtreibung aufgrund von Zufllen und Unvorsehbarkeiten zur aktiven Euthanasie werden muss, um nicht die mit ihr verbundenen ursprnglichen Handlungsintention aufgeben zu mssen – weil andernfalls das (postnatal gerettete) Kind noch wesentlich strker behindert wre, als zu dem Zeitpunkt, wo die (juristisch unanfechtbare) Entscheidung zur Abtreibung getroffen wurde.
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Woche haben. Also Beginn der 24. Woche, danach – und das ist jetzt diese Formulierung vom T. – muss die Sicherheit der Prnataldiagnostik einerseits und ein schweres Fehlen einer kognitiven Entwicklung andererseits sehr, sehr wahrscheinlich sein. Ja? Also, wenn Sie vom Ende der Skala angehen: Anenzephalus. Fr den Anenzephalus gibt es keine Gestations-Altersgrenze. Interviewer: Spina bifida? Experte: Nein. Na ja, Spina bifida muss man dann sehr gut diagnostizieren. Wenn sie assoziiert ist mit einem großen Hydrozephalus, ja, dann ist genau das der Fall, wo man sich diese Formulierung berlegen muss. Interviewer: Also was heißt dann schwerer kognitiver Defekt? Experte: Nun ja. Ja, ich hab’ die Formulierung der Personalitt, die wird im philosophischen Schrifttum verwendet. Also, jemand hat kein Bewusstsein von sich selbst, kein Gefhl der Vergangenheit und Zukunft und keine Interaktion mit anderen. Das wren so die Kriterien der Personalitt, und solche Kinder gibt's. Das lsst sich operationalisieren bis zu einem gewissen Grad. Interviewer: Also das lsst sich wirklich operationalisieren? Experte: Ja. Ja, das lsst sich schon operationalisieren. Also wenn klar ist, dieses Kind wird nie Interaktion mit einem Gegenber haben, wenn man das philosophisch jetzt oder theologisch nimmt, es wird kein Bewusstsein von sich selbst entwickeln, es wird kein Bewusstsein von Vergangenheit und Zukunft und irgendeiner Perspektive entwickeln, na ja.
Der Experten fhrt in dieser Passage aus, wie in seiner Abteilung mit dem Problem der Sptabtreibungen umgegangen wird. Mit der vorliegenden Beschreibung des Konzepts der Personalitt lsst sich seine Rede einem bestimmten Diskurs medizinethischer Tradition zurechnen. In theoretisch elaborierter Form versteht sich diese Tradition als radikale Kritik an einer weltanschaulich oder religis geprgten Ethik kontinentaleuropischer Prgung. Zentraler Bezugspunkt ist dabei die Kritik an der „Heiligkeit des Lebens“ (Kuhse 1990) und somit der metaphysisch geprgten berzeugung, dass bestimmte (Vor-)Rechte des Menschen aufgrund von Gattungszugehrigkeit oder seiner „Gottesebenbildlichkeit“ legitimiert seien. Ausgehend von einer Kritik metaphysischer Begrndungsversuche von Grundrechten bemht sich diese „liberale Bioethik“22 darum, die Legitimation von humanen Vorrechten (wie z. B. das Lebensrecht) ber theoretisch-empirisch nachvollziehbare Kriterien neu zu fundieren. Zu eben diesem Zweck rekurriert die liberale Bioethik auf den Begriff der Person. Der amerikanische Philosoph Michael Tooley hat eine einflussreiche Definition geliefert: „Something is a person if and only if it is a continuing subject of experiences and other mental states that can envisage a future for itself and that can have desires about its own future states.” (1979, 91) Die Zuerkennung des Lebensrechts wird von der Artikulation eines berlebensinteresses abhngig gemacht, das auch von außen nachvollziehbar sein muss. Die 22
Vgl. zu Begriff und Kritik einer liberalen Bioethik Braun (2000), Bogner (2003b).
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Plausibilittsannahme des Vorliegens eines Lebensinteresses verlangt deshalb einen bestimmten kognitiven Entwicklungsstand. Dieser Anspruch bedeutet die Differenzierung zwischen „Menschen“ (als nunmehr einer lediglich biologischen Kategorie) und Personen (als einer moralisch bedeutsamen Kategorie). Eine solche Position befindet sich in bereinstimmung mit den Werten der Mehrheit, ja mehr noch: In der liberalen Bioethik, die fundamentale Rechte von akzidentiellen Eigenschaften abhngig macht, wird im Endeffekt der Wertekanon einer Mehrheit zum Ersatz fr die traditionelle, weltanschaulich-religis geprgte Moral. Denn diese Position ist ja auf metatheoretischer Ebene durch eine Perspektive radikaler Immanenz charakterisiert: Das moralisch Gebotene wird aus dem gesellschaftlich hegemonialen Wertsystem erschlossen, das Normative strikt an das empirisch Beobachtbare rckgebunden. D.h., die medizinische Behandlung bzw. der Behandlungsabbruch orientiert sich via „Person“ an den gesellschaftlichen Vorstellungen darber, was ein lebenswrdiges Leben ausmacht. (Dass aber eine Operationalisierung dieser weichen Kriterien in der Praxis alles andere als leicht ist, illustriert der angestrengte und letztlich erfolglose Versuch des Experten, vermittels bestimmter Syndrome eine definitive Grenzziehung vorzunehmen.) Das heißt nun freilich nicht, dass die liberale Bioethik lediglich das Megaphon der Normalitt wre. Schließlich bedeutet die philosophische Elaborierung der Mehrheitsvorstellung von einem guten Leben im Konzept der Person eine (potentielle) Restrukturierung der Praxis, die mit den hegemonialen Normalittsvorstellungen nicht so ohne weiteres deckungsgleich ist. So wird etwa das logisch nur zwingende Pldoyer der Utilitaristen fr die Freigabe der Ttung Neugeborener (da diese bis zu einem bestimmten Zeitpunkt ihrer Entwicklung niemals „Personen“ sein knnen) zweifellos auf intuitive Vorbehalte in der Bevlkerung stoßen. Doch es ist genau die Stringenz der analytischen Operationen, die im Zusammenspiel mit dem Rekurs auf die Normalitt die Suggestivitt eines bestimmten Handlungszwangs erzeugt: dass nmlich die biopolitischen Normen und Regulierungen in einer Weise zu adaptieren seien, die eben auch die rechtliche Freigabe bestimmter kontra-intuitiver Praktiken bedeuten wrden. Und darin liegt das Problem: Vermittels der bioethischen Operationalisierung des guten Lebens als eines Kriteriums fr die Zuerkennung des Lebensrechts wird die Mehrheitsmeinung fr die Bewertung von Minderheiten zum relevanten Bewertungsmaßstab. Dies, also die stringente und logisch konsistente Umformung oder Zuspitzung von gesellschaftlichen Normalittsvorstellungen in ein universelles Konzept der Lebensbewertung (mit allen Folgen fr die Minderheit), stellt die genuine Eigenleistung der liberalen Bioethik dar – und macht darber hinaus auch die Bruchstellen zwischen bioethischem Diskurs und gesellschaftlichen Normalittsvorstellungen kenntlich. Eines lsst sich jedoch an dieser Stelle festhalten, und das bringt uns zurck zu den einleitend gestellten Fragen: Die gesellschaftlichen Normalittsvorstellungen
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operationalisieren sich in dem hier analysierten Beispiel in Form eines bestimmten Rationalittsideals. Es sind die Kategorien von Autonomie, Interaktivitt und Zielbewusstheit, die als kulturelle Leitbilder einer reflektierten professionellen Praxis fungieren. Zweitens: Die Reduktion von normativer Unsicherheit in Form eines wie auch immer vermittelten Rekurses auf diese kulturellen Leitbilder ist problematisch. Die folgende Abbildung versucht das komplexe Vermittlungsverhltnis, in dem bioethischer Diskurs, professionelle Handlungsorientierungen und kulturelle Leitbilder zu einander stehen, zu veranschaulichen. Gestaltungszwänge
Bioethischer Diskurs („Person“) „inspirieren“, begründen
vermitteln Relevanz vermittelt Normalität
elaboriert
Kulturelle Leitbilder („Autonomie“)
legitimieren stabilisieren, modifizieren
Professionelle Handlungsorientierungen („Überlebenschance“, „kognitive Entwicklungsfähigkeit“)
Abbildung 1: Die Bedeutung kultureller Leitbilder fr eine expertielle Grenzziehungspraxis
Die enge Kopplung von professioneller Praxis und bestimmten kulturellen Leitbildern erklrt sich aus der Komplexitt der Phnomene und einer damit verbundenen „Bedeutungslosigkeit“ der medizinischen Diagnose. Die medizinische Diagnose erhlt ihre Bedeutung erst auf dem Hintergrund einer diskursiv vermittelten Relevanzsetzung. Eine humangenetisch informierte Diagnose setzt heute keine normative Kraft frei, z. B. in Form von Routinen und Behandlungsautomatismen. Ohne den Rekurs auf subjektive, gesellschaftlich vermittelte, in jedem Fall: nicht-medizinische Bedeutungszuschreibungen ist professionelles Handeln heute nicht denkbar (im Fall expertokratischer Entscheidungen oder einer strikten politischen Regulierung wre Ideologieverdacht die Folge). Die Folgeprobleme liegen auf der Hand: Eine derart – und nicht zuletzt ber die professionellen Handlungsorientierungen – „vergesellschaftete“ Medizin kennt fr ihre Praxis kein Korrektiv, weil sie sich letzt-
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lich an der bereinstimmung mit den dominanten gesellschaftlichen Normalittsvorstellungen bemisst. Abschließend gilt es zwei Bemerkungen nachzureichen, die fr eine Przisierung des konzeptionellen Verstndnisses von kulturellen Leitbildern zentral sind. Erstens: Der hier dargestellte Fall eines Experten, der reflexiv mit Gestaltungszwngen umgeht, ist sicher eine Ausnahme. Es wird in der Praxis andere Experten geben, die in vergleichbaren Situationen nicht auf eine hnliche Weise reflexiv verfahren werden. Dieser Einwand betrifft die Frage, ob in der professionellen Praxis tatschlich ein expliziter Rekurs auf bioethische Kategorien zu erwarten ist. Er trifft jedoch nicht die in unserem Zusammenhang viel interessantere Frage nach der Bedeutung kultureller Leitbilder fr professionelles Handeln und Entscheiden. Denn auch der nicht einschlgig bioethisch gebildete Experte wird in den beschriebenen Situationen in irgendeiner Weise entscheiden mssen; und dabei wird er – das ist das Entscheidende – auf einen gltigen Handlungsrahmen rekurrieren, der eben auf eine logisch konsistente Weise von einer Bioethik, in deren Zentrum der Leitwert der Autonomie steht, abgesteckt worden ist und dann auf wie auch immer vermittelte Weise als „akzeptable Position“ innerhalb der Klinik wirksam wird. Der bioethische Diskurs muss gleichermaßen als Vermittlung sowie als Elaborierung und Generalisierung von gesellschaftlichen Normalittsvorstellungen verstanden werden, die sich an den Grundfragen: was ist ein lebenswertes Leben? was ist der Mensch? kristallisieren. Zweitens: Die Experten greifen nicht nur auf hegemoniale Diskurse zu, sondern sie machen diese Diskurse auch bedeutungsvoll, besttigen deren Relevanz fr die Gestaltung der professionellen Praxis. Auf diese Weise wird die liberale Bioethik zu dem, was sie in programmatischer Abgrenzung zu jenen als anwendungsfern begriffenen Spielarten der Ethik immer schon propagiert hat: zu einer praktischen Ethik. Eine solche praktische Ethik (wie z. B. der Utilitarismus) bietet fr eine naturwissenschaftlich orientierte Medizin ganz offensichtlich bessere Anschlussstellen als solche Anstze, die auf kritischer Begriffsarbeit und komplexen theoretischen Vorannahmen basieren. Es ist von daher weder kontingent noch zufllig, dass die Mediziner auf eine Ethik aus der angelschsischer Tradition zurckgreifen, wenn man die Linie Locke-Mill-Hare-Singer als eine solche bezeichnen will – und nicht auf Ethiken kontinentaleuropischer Tradition, z. B. die Diskursethik oder Tugendethik.
4. Fazit: Die „Harmonisierung“ von professionellem Handeln und Gesellschaft im Zeitalter der Biomedizin Im Zentrum des Beitrags stand der Versuch, jene kulturellen Leitbilder und gesellschaftlichen Diskurse darzustellen, die fr das auf jeweils ganz konkrete Probleme und Entscheidungen bezogene professionelle Handeln normativ wirkungsvoll und
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kognitiv orientierend sind. Aufgrund des gendiagnostischen Fortschritts, spezifischer Erwartungshaltungen ihres Klientels und mangels eindeutiger Regulierungen sind die Humangenetiker in vielen Fllen gezwungen, vermittels bestimmter Grenzziehungen ihre Profession als wissenschaftlich fundiert und moralisch verantwortungsvoll zu verteidigen. Anhand zweier Beispielflle wurde der Frage nachgegangen, auf welche Weise die Humangenetiker Grenzziehungen mobilisieren, um eine fr ihre Begriffe verantwortungsbewusste Praxis zu gestalten. Im ersten Fall handelte es sich um die hierzulande noch sehr kontrovers gehandelte „Sex-Selection“, die Abtreibung nach prnataler Geschlechtsbestimmung; im zweiten Fall um das drngende Problem der Sptabtreibungen und ihrer Regulierung. In beiden Fllen wurden die spezifischen Grenzziehungen nicht vermittels medizinischen Fachwissens begrndet, sondern im Rekurs auf gesellschaftliche Diskurse und Normalittsvorstellungen. Ein konkreter Ort der Aushandlung sind die Spezialabteilungen der Kliniken, wo sich aus der internen Kooperation in Form von regelmßigen Treffen und Diskussionen ber „Grenzflle“ das konstituiert, was hier als Klinikkultur bezeichnet wurde. In Bezug auf konkrete Entscheidungsnotwendigkeiten, die sich etwa bei Sptabtreibungen stellen, aber auch im Fall einer Abtreibung unter „eugenischer“ bzw. „medizinischer“ Indikation, wurde die Bedeutung kultureller Leitbilder fr eine expertielle Grenzziehungspraxis offenbar. Erst die Strukturierung des professionellen Handelns durch kulturelle Leitbilder bewirkt eine „Harmonisierung“ von professioneller Praxis und Gesellschaft. Es sind derartige, nicht strategisch motivierte Harmonisierungen, die mgliche Politisierungen der Humangenetik – z. B. in Form der Skandalisierung professioneller Zustndigkeit – verhindern. Autonomie bzw. die Potentialitt von Personalitt sind jene zentralen Leitbilder, denen die Experten im- oder explizit folgen, wenn sie in der Praxis mit den Grundfragen konfrontiert werden: Wann ist menschliches Leben lebenswert? Was ist es, das den Mensch zum Menschen macht? Es ist genau das Auftreten dieser Grundfragen, die eine Ablsung des traditionellen medizinischen Paradigmas indiziert, die aktuell unter dem Begriff der „Biomedikalisierung“ (Clarke/Shim/Mamo/Fosket/Fishman 2002) verhandelt wird. Whrend sich die Medizin in der Vergangenheit zentral ber das Handlungsziel definierte, Abweichungen vom gesundheitlichen Normzustand zu korrigieren, so stehen heute zunehmend die Normen der menschlichen Gesundheit selbst zur Disposition. Im Zeitalter von Stammzellforschung und High Tech-Reproduktionsmedizin werden Krper und Lebensprozesse fundamental transformiert bzw. zum Gegenstand neuer Deutungsangebote. Die alternativlose Markierung von Behinderung als eines genetischen und daher prnataldiagnostisch zu lsenden Problems ist ein Hinweis in dieser Richtung (Lippman 1994). In jedem Fall entstehen mit der Auflsung oder Verwischung der Grenzen zwischen dem „Normalen“ und „Nichtnormalen“, zwischen Behandlung („treatment“), Verbesserung („enhancement“) und Selektion
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(„selection“) neue Gestaltungszwnge, die sich nicht selten in der Notwendigkeit der Bestimmung dessen ausbuchstabieren, was normal und nicht-normal ist bzw. was das Leben lebenswrdig macht. Es ist paradox: Gerade um eine Politisierung der Humangenetik zu vermeiden, um die Profession nicht in den Geruch der Eugenik zu bringen mssen die Humangenetiker Grenzen ziehen. Und sie tun dies nicht im blinden Vertrauen auf die Gltigkeit ihrer Definitionsmacht. Zur Beantwortung der Frage, welche Diagnosen mitteilungsrelevant sind und welche Phnomene eine Abtreibung bzw. Sptabtreibung rechtfertigen, wird der Rekurs auf vermeintlich normativ verbindliches medizinisches Fachwissen gar nicht mehr versucht. Der Blick der Profession wendet sich vielmehr nach außen. Doch – wie am Beispiel des bioethischen Diskurses gezeigt wurde – mit dem kulturellen Leitbild der Autonomie verbindet sich ein positiver Bezug professionellen Handelns auf ganz konkrete Machtverhltnisse.
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Leitbilder und organisationaler Wandel Diskutiert am Beispiel der Reform der bundesdeutschen Kommunalverwaltungen In den Kommunen tut sich was... Der vorliegende Aufsatz geht der Frage nach, welcher Stellenwert Leitbildern bei den Prozessen organisationalen Wandels zukommt: Leiten sie den Wandel an? Und wenn ja, wie ? Anlass der Frage und empirisches Beispiel dafr ist die Reform der Kommunalverwaltungen, wie sie in der Bundesrepublik in den vergangenen 10 Jahren zu beobachten ist. Seit Jahren findet eine lebhafte Debatte ber die Kommunen, deren Defizite und die Suche nach einem neuen adquateren Leitbild statt1. Einigkeit herrscht vor allem ber die Defizite. Beklagt wird, dass Kommunen wie eine Behrde arbeiteten. Obwohl sie den Lwenanteil des staatlichen Aufgaben- und Leistungsvollzugs gegenber den Brgern zu bearbeiten haben und sich diese Aufgaben aus so unterschiedlichen Teilen wie Ordnungs- und Sicherheitsaufgaben, Aufgaben der kommunalen Sozialpolitik, der kommunalen Daseinsvorsorge2 und kulturelle Aktivitten zusammensetzen, wrden alle Aufgaben und Leistungsvollzge brokratisch abgewickelt. Der gesamte Apparat sei auf interne Ablufe hin ausgerichtet. Die Rechnungslegung – Haushaltsplan und Haushaltsvollzug – in Kommunen sei nicht auf Wirtschaftlichkeit hin ausgerichtet, sondern auf die Richtigkeit der Mittelverwendung und die dazu vorgeschriebene parlamentarische Kontrolle durch die Rte. Wichtigstes Ziel des Verwaltungshandelns sei dadurch der gesetzlich und sachlich richtige Aufgabenvollzug. Auf der Strecke blieben die Fragen nach Effizienz und Effektivitt der Leistungserbringung, was gerade in finanziell angespannten Zeiten wie seit Beginn der 90er Jahre hchst problematisch sei. Durch die Eigendynamiken des parlamentarischen Systems der Rte htten sich Demokratiedefizite entwickelt, indem nicht mehr die langfristige Orientierung am Gemeinwohl die Aktivitten be1
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Die Literatur ist so umfangreich, dass es nicht mglich ist, hier auch nur annhernd einen berblick zu geben. Verwiesen seien hier insbesondere auf die „Klassiker“ Banner (1991) und Reichard (1994) wie auch die Sammelbnde zur Fragen der Effizienz und zum Brgerschaftlichen Engagement in der Literaturliste. Fr einen Einstieg ins Thema hilfreich ist Wollmann 2001. Damit werden die wirtschaftlichen Bettigungen der Kommunen in den Bereichen Strom, Wasser, etc. bezeichnet.
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stimmten, sondern kurzfristige, an Klientilismus und auf Wiederwahl hin ausgerichtete Aktivitten. Weitgehende Einigkeit herrscht auch fr das Fazit: Die tradierte Verfasstheit und Arbeitsweise der Kommunen bedrfen einer grundlegenden Reform. Diese solle aber nicht innerhalb der tradierten Denkweisen und Begriffe stattfinden. Das htten auch die Erfahrungen mit vorangegangenen Reformversuchen gelehrt. Man brauche ein neues Leitbild als Rahmen fr eine paradigmatische Neuorientierung fr die Kommunen. Dabei sollen Aufgabenkritik (Was sind die Aufgaben einer Kommune?) ebenso wie Fragen nach dem Verwaltungshandeln und der Wirtschaftsweise (Wie sollen diese Aufgaben erledigt werden?) in den Fokus genommen werden. Hier teilt sich die Debatte in zwei Lager: Im einen Teil (und Gros der) Publikationen werden die Fragen nach der Wirtschaftlichkeit und den verwaltungsinternen Ablufen bei der Leistungserstellung als vordringlich markiert. Als neue Orientierung fr die Kommunalverwaltungen wird an den Themen Effizienz und der Effektivitt angesetzt. ‚Dienstleistungskommune‘, ‚Konzern Stadt‘, ‚Dienstleistungsunternehmen‘, ‚Neues Steuerungsmodell‘, ‚New Public Management‘, ‚Unternehmen Stadt‘ sind die zentralen Begriffe. Auf der anderen Seite werden die Demokratiedefizite als Hauptansatzpunkt fr die Reform markiert. Als Konzepte werden ‚Brgerschaftliches Engagement‘ und ‚Brgerkommune‘ diskutiert. In beiden Debatten ußern sich die Suchbewegungen nach einem neuen konzeptionellen Rahmen fr die Kommunen in der Suche nach einem neuem Leitbild. ‚Dienstleistungskommune‘, ‚Konzern Stadt‘, ‚Dienstleistungsunternehmen‘, ‚Neues Steuerungsmodell‘, ‚New Public Management‘, ‚Unternehmen Stadt‘, ‚Brgerschaftliches Engagement‘ und ‚Brgerkommune‘ – welche Bezeichnung auch immer man whlt – erweisen sich bei genauerem Hinsehen als Rationalisierungsleitbilder. Mit Rationalisierung ist die Optimierung des Verhltnisses von Aufwand und Ertrag gemeint. In der Sicht derer, die sie propagieren, liegt das Versprechen der Rationalisierungsleitbilder darin, dass alte Probleme gelst, neue erst gar nicht mehr entstehen sollen. Wie im Fall privatwirtschaftlicher Rationalisierungsleitbilder – genannt seien ‚lean production‘, ‚Netzwerk‘, ‚papierloses Bro‘ – zeichnen sich die oben genannten dadurch aus, dass sie in und zwischen Diskursen außerhalb der Kommunen, also der Organisationen, fr die sie entwickelt wurden, entstanden sind. Ihre Prominenz und damit Dominanz erhalten sie durch die berorganisationalen Debatten und die darin eingelassene Aufforderung zum Handeln an die betroffenen Organisationen. Umfrageergebnisse unter den bundesdeutschen Kommunen3 zeigen, dass mittlerweile nahezu alle Stdte und weit ber die Hlfe der Gemeinden und Kreise ori3
Bretschneider 2003, Grmig 2001.
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entiert an den neuen Leitbildern Umstrukturierungen vornehmen. Die Umfragen wie die Begleitstudien4 zeigen aber auch hchst unterschiedliche konkrete Vorgehensweisen und Ergebnisse in den Kommunen. Zum einen gibt es eine große inhaltliche Bandbreite, die von Brgermtern ber Wirtschaftsfrderung, der Einfhrung neuer Rechnungslegung, Personalentwicklungsmaßnahmen reicht. Die einzelnen Maßnahmen sind hinsichtlich ihrer Laufzeit, Tiefenwirkung in der Organisation und Grad der Vernetzung mit anderen Maßnahmen sehr unterschiedlich. Zum anderen gibt es eine große Bandbreite, was den Erfolg der Maßnahmen angeht: Es finden sich Beispiele dafr, dass die Plne nicht aufgehen, die Prozesse des Wandels andere Konsequenzen als die angestrebten haben oder unter dem ‚Deckmantel’ des neuen Leitbildes ganz andere Maßnahmen ergriffen werden. Und es gibt Beispiele fr die tatschliche und erfolgreiche Umsetzung des Leitbildes in und durch organisationalen Wandel. Sowohl die Diskrepanz zwischen den formulierten Leitbildern und den Prozessen des Wandels vor Ort als auch die Unterschiedlichkeit innerhalb dieser Prozesse weisen daraufhin, dass es sich bei Leitbildern und organisationalem Wandel offenkundig nicht um eine automatische Passung oder gar Deckungsgleichheit handelt. Es scheint eher ein spezifisches und zu spezifizierendes Verhltnis zwischen beiden zu bestehen, das aber in je konkreten lokalen Organisationen sehr unterschiedlich ausfallen kann. Dass es sich hierbei nicht um ein Spezifikum des ffentlichen Dienstes oder der aktuellen Reformversuche handelt, dokumentiert sich in einer großen Zahl von organisationssoziologischen Studien und Begleitforschungen5. Tenor all dieser Studien ist, dass – immer vor dem Hintergrund des und gemessen am jeweils zu erreichenden neuen Zustandes bzw. neuen Leitbildes – Prozesse des organisationalen Wandels inkremental sind, Innovationsprozesse sich durch eine nur geringe planerisch-technische Steuerbarkeit auszeichnen und sich damit aber der politische (Aushandlungs)Charakter dieser Prozesse deutlich ausdrckt. Die Frage, welcher Stellenwert Leitbildern in Prozessen organisationalem Wandels zukommt, beziehungsweise wie ein Leitbild Wandel anleitet, wird im folgenden Beitrag exemplarisch an einem empirischen Beispiel aus einer Kommunalverwaltung behandelt. Dabei richte ich den Fokus meiner Analyse nicht auf die Frage nach
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Begleitstudien und Evaluationen sind immer noch eher selten. Dies ist eine Besonderheit dieses Forschungsfeldes, in dem normative Aussagen ber zukunftsfhige und – immer aus der Perspektive der jeweiligen AutorInnen – wnschenswerte Konzepte dominieren. Begleitstudien und Einschtzungen der Umsetzung finden sich z. B. in Grunow/Wollmann 1998, Schrter 2001, Knig 2002 und Mding 1999. Weitere Publikationen sind v.a. im Rainer Hampp-Verlag (z. B. Gbel 1999) oder auch in der Reihe ‚Modernisierung des ffentlichen Sektors‘ der edition sigma (z. B. Kißler/Graf/Wiechmann 2000) zu finden. Vgl. Niskanen 1991, Brunsson 1989, Faust 1994, Fischer/Rieker/Risch 1994, Rammert 1988, Ortmann/Windeler/Becker/Schulz 1991, Minssen 1992, Ortmann 2000.
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dem ‚best fit‘ von Konzept und Umsetzung oder auf die Frage nach den ‚Schuldigen‘ fr die ‚Umsetzungsprobleme‘. Diese Art des normativen Umgangs mit Leitbildern scheint mir fr eine Analyse organisationalen Wandelns wenig brauchbar. Im vorliegenden Aufsatz liegt das Augenmerk auf dem Prozess, in dem die Akteure in einer Organisation einen leitbildinduzierten Wandel kollektiv, interaktiv und kontextabhngig herstellen. Zur Analyse nutze ich eine Kombination aus linguistischen und organisationssoziologischen Anstzen. Zunchst aber zur Frage, was Leitbilder sind und ob es sich derzeit nun um nur ein Leitbild handelt.
Was sind Leitbilder? Die Genese und die Funktionen von Leitbildern wurde zunchst von der techniksoziologischen Leitbildforschung der 90er Jahre thematisiert6. In Abgrenzung zu tradierten, an Sachlogiken orientierten Erklrungen der Entstehung von technischen Artefakten wie Auto oder Schreibmaschine wurde eine Erklrungsweise entwickelt, die den konstruktivistischen Charakter dieser Entwicklungen als Aushandlungsprozess in und zwischen unterschiedlichen Wissenskulturen fokussiert. Der Ansatz wurde vor allem an zwei Institutionen auf der Basis von empirischen Studien entwickelt: Meinolf Dierkes, Ute Hoffmann und Lutz Marz vom Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) (1992) haben herausgearbeitet, wie in den Prozessen der Technikgenese ein Leitbild ber die (zuknftige) Technik entsteht. Im Prozess der Genese und vor allem ber diese hinaus hat das Leitbild verschiedenen Funktionen. Es ist kognitionsleitend, indem es individuelle und kollektive Vorstellungen, Werte, Deutungsweisen und Modelle orientiert, synchronisiert und reprsentiert. Es hat zudem die Funktion zu koordinieren, indem es fr alle Beteiligten ein Grundverstndnis schafft und damit die Mglichkeit zu unproblematischen alltglichen Kooperations- und Kommunikationsprozessen herstellt. Neben dieser leitenden Komponente haben Leitbilder eine Bildkomponente: Die Komplexitt von Sachverhalten wird durch eine bildhafte Darstellung reduzierbar. Die zentrale Bedeutung von Leitbildern verorten Dierkes, Hoffmann und Marz in ihrer Qualitt als Machbarkeitsprojektion. Ein Leitbild bndelt die Intuitionen, das Wissen, die Wnsche und die Erfahrungen von Menschen ber das, was sie als machbar erfahren haben und das, was ihnen wnschenswert scheint. Damit ist das Leitbild hoch anschlussfhig an bisherige Modelle und Praxen und enthlt gleichzeitig paradigmatische Entwrfe in die Zukunft. Leitbilder enthalten ‚Zielformulierungen‘ und Handlungsappelle fr Akteure und Organisationen. In weiteren Publikationen des WZB wird diese 6
Siehe ausfhrlich dazu Aulenbacher in diesem Buch.
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Sichtweise auf Leitbilder fr berlegungen zu prospektiven Leitbildentwicklungsprozessen (Kahlenborn/Dierkes/Krebsbach-Gnath/Mtzel/Zimmermann 1995) und fr die Entwicklung eines Modells organisationalen Lernens (Berthoin Antal, Dierkes 2002) genutzt. Dabei wird am WZB weiterhin davon ausgegangen, dass es sich immer um ein Leitbild handelt, das sich durchsetzt; dass es als kognitives Modell und Machbarkeitsprojektion bndelnde und synchronisierende Funktion hat; sowie dass es damit bestimmte Vorstellungen in Organisationen transportieren und dort tradierte Vorstellungen neu orientieren kann. Ziel von Leitbildentwicklungsprozessen wre nun, eben diese Funktion aktiv herzustellen. Auch am Forschungszentrum Innovationstechnik in St. Augustin gingen Peter Mambrey, Michael Pateau und August Tepper (1995) davon aus, dass sich die Fragen der Technikgenese nicht aus Sachlogiken beantworten lassen. Ihrem Begriff der Leitbilder und deren Genese unterliegt ebenfalls ein kognitives Modell. ber ihre Kritik am WZB (insb. S. 142 – 147) lsst sich am einfachsten der Unterschied zwischen beiden Antzen zeigen: Das WZB betreibe eine leitbildzentrierte Diskursanalyse und beschrnke mit der Definition von Leitbildern als Machbarkeitsprojektionen vorschnell den Blick auf die durch das Leitbild selbst gesetzten Begriffe und Problemfelder. Hingegen nehmen die Forscher aus St. Augustin fr sich in Anspruch, eine diskursorientierte Leitbildanalyse zu machen, was zur Folge hat, dass sie den Diskurs selber und in seiner Gnze zum Gegenstand ihrer Analyse machen. Damit bereinigen sie diesen aber auch um die Information, wer in dem Diskurs sich zu Wort meldet. Nicht mehr die Sprecher, sonder die Leitbilder sprechen. Leitbilder haben in ihrer Sichtweise die Qualitt von ‚Kampfbegriffen’. Orientierung und Synchronisation kommt ihrer Forschung nach zwar auch zustande, aber in Form eines sich sukzessive vereinheitlichenden und damit inhaltlich verstetigenden Diskurses. Die Leitbilder wirken dabei als Kommunikationsmedien. Soweit eine knappe Darstellung der beiden Anstze. Sie werden im folgenden Abschnitt in zwei Punkten genutzt und kritisiert und im Verlauf der weiteren Analyse punktuell kritisch wrdigend aufgegriffen.
Ein neues Leitbild fr die Kommunalverwaltungen? Bei der Reform der Kommunalverwaltungen von einer Leitbildgenese im beschriebenen Sinn zu sprechen ist insofern sinnvoll, weil diese in und zwischen verschiedenen Wissenskulturen geformt wird. Beteiligt sind so unterschiedliche Akteure wie die Kommunale Gemeinschaftsstelle fr Verwaltungsvereinfachung (KGSt)7, die 7
Die KGSt ist eine Organisation ffentlichen Rechtes, die 1947 gegrndet wurde und der die Kommunalverwaltungen freiwillig angehren knnen. Die KGSt erarbeitet zusammen mit Vertretern
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Bertelsmann-Stiftung, Fakultten an Universitten mit unterschiedlichen Schwerpunkten wie Jura, Betriebswirtschaftslehre oder Politologie, Forschungsinstitutionen wie das IAT in Gelsenkirchen oder die Forschungsgruppe Verwaltungsautomation an der GH Kassel, die Gewerkschaft TV (heute ver.di), Verwaltungshochschulen wie in Speyer, Lehrsthle fr ffentliche Betriebswirtschaftslehre wie in Potsdam oder Mannheim, Unternehmensberatungen wie Pricewaterhouse Coopers, Firmen wie SAP. Einigkeit herrscht – wie in der Einleitung bereits angedeutet – in der Problemsicht, dass es fr das kommunale Verwaltungshandeln und die organisatorische Verfasstheit eines neuen Leitbildes als Bezugsrahmen bedarf. Bereits bei der Frage aber, welcher Bezugsrahmen es denn sein soll, gehen die Positionen auseinander, so dass die Rede von einem Leitbild fr die Kommunalverwaltungen nur um den Preis des Eindampfens der Differenzen mglich wre. Die beiden Maßstbe Brgernhe und Effizienz kommen beide als das Leitbild in Frage und werden auch als solche verhandelt8. Beide sind aber in ihren Inhalten, Zielen und Dynamiken nicht umstandslos passfrmig (vgl. Kissler 1997, Reis/Schulze-Bing 1998, Wohlfahrt 1995). Darber knnen auch sprachliche Integrationsversuche wie ‚Dienstleistungs- und Brgerkommune’ (Banner 1998) nicht hinwegtuschen. Dass es sich darber hinaus nicht nur um zwei Teilleitbilder handelt, zeigt der genauere Blick auf die Debatte ber Effizienz9. Sie dominiert10 im Vergleich mit der Debatte ber Brgerschaftliches Engagement11 die Gesamtdebatten ber Konzepte12 wie auch die Reformaktivitten vor Ort13. von Kommunalverwaltungen Organisations- und Rationalisierungskonzepte und hat somit den Status DER ffentlichen ‚Unternehmensberatung‘.
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Siehe Fußnote 1. Neben den genannten Literaturverweisen fr einen berblick: Die Verwaltung 3/1999 und Bruning/Greiling 1999.
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Die Grnde fr die Konzentration auf Effizienz sind, dass der Ansatz zum einen versprach, die Lsung des drngenden Finanzproblems aufgrund der gefhrdeten Haushaltskonsolidierung zu Beginn der 90er Jahre zu sein. Die Konzentration wird derzeit erneut gesttzt durch die aktuelle Debatte ber ein neues bundesweites Haushaltsrecht, in der wiederum die ‚Experten fr Effizienz‘ angerufen werden. Zum anderen kann man sehen, dass es eine Konzentration der Publikationen und Konzeptvorschlge fr das Teilleitbild ‚Effizienz’ gab und gibt. Allein in der KGSt wurde das Grundmodell in den Nachfolgejahren mit weiteren Konzepten und Instrumenten erweitert und ausgebaut und Vorluferkonzepte wurden in die Logik der ‚Dienstleistungskommune‘ eingereiht: Dezentrale Ressourcenverantwortung (KGSt-Bericht 12/1991), zentrale Steuerungs- und Controllingbereiche (KGSt-Bericht 15/1994), Definition von Produkten (KGSt-Bericht 8/1994), Zielvereinbarung und Budgetierung (KGSt-Bericht 6/1993), kommunales Haushalts- und Rechnungswesen (KGSt-Bericht 1/1995) und kommunale Bilanz (KGSt-Bericht 7/1997). Weitere sind in der Produktion und werden sicher folgen. Zum Brgerschaftlichen Engagement und der Brgerkommune vgl. die konzertierten Aktivitten von KGST Bertelsmann Stiftung und Hans-Bckler-Stiftung in www.kommunen-der-zukunft.de (Netzwerkknoten 1 – 3) sowie Enquete-Kommission ‚Zukunft des Brgerschaftlichen Engagements’ des Deutschen Bundestages (2001).
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Auf den ersten groben Blick scheint alles klar und eindeutig: Die Kommunen sollen nicht mehr wie eine ‚Behrde’, sondern wie ein ‚Betrieb’ gefhrt werden – eine Terminologie, die Gerhard Banner mit seinem ersten Artikel eingefhrt hat. Hier nahm auch die Rede vom neuen Leitbild fr die Kommunen seinen Lauf: zuerst in zwei programmatischen Texten des damaligen Vorstandes der KGSt Gerhard Banner (1991) und kurze Zeit spter im internationalen Wettbewerb der BertelsmannStiftung (1993). Mit dem Szenenwechsel von der ‚Behrde’ zum ‚Betrieb‘ ist ein Konglomerat von Vorstellungen verbunden, die sich zum teil logisch aufeinander beziehen und zum Teil gegenlufig sind. Effizienz, gedacht als das Verhltnis von Verwaltungsleistung und Aufwand (Kosten und Ressourcen), soll durch eine Binnenmodernisierung erreicht werden. Die Verwaltungsstrukturen und der Aufbau der Kommunen, mithin auch die innerkommunale Zusammenarbeit und das Verhltnis von Politik und Verwaltung sollen nachhaltig so verndert werden, dass es neue und zurechenbare Zustndigkeiten gibt – klare Verantwortungsabgrenzung zwischen Politik (Ziele) und Verwaltung (Ausfhrung), Fhrung durch Leistungsabsprachen statt Einzeleingriffe (Kontraktmanagement), dezentrale Gesamtverantwortung im Fachamtsbereich durch Verfgung ber Personal- und Sachmittel, um die Ziele und Aufgaben selbstndig und eigenverantwortlich zu realisieren (Dezentrale Ressourcenverantwortung), zentrale Steuerung neuer Art (Controlling) und Instrumente zur Steuerung der Verwaltung von der Leistungsseite her (Outputsteuerung). Mit Reformen des Finanz- und Rechnungsmanagements soll die Basis fr eine Effizienzsteigerung geschaffen werden, indem diese mit numerisch organisiertem Wissen ber Ressourcen, Kosten und Produkte ausgestattet und ihnen neue Budgetierungs- und Bilanzierungspflichten auferlegt werden. Gleichzeitig werden Evaluationsapparaturen eingerichtet. Ziel ist dabei, Organisationen in sich fortlaufend selbst durchrechnende und evaluierende Institutionen zu verwandeln. Welche Ttigkeiten in welcher Weise und Wertigkeit in diese Kalkulationen eingehen, soll in einem Prozess der Selbstbeschreibung und Hierarchisierung und Selektion der Ziele und Leistungen bestimmt werden. Dazu knnen die privatwirtschaftlichen Wirtschaftlichkeits-, Rechnungs- und Steuerungskonzepte auf einzelkommunale Ebene bertragen und modifiziert werden. Durch echte oder simulierte Wettbewerbe soll entscheidbar sein, welche Leistungen die Kommunen selbst, welche sie in public-privat-partnership-Netzen produzieren und welche privatisiert werden. Damit soll das Außenverhltnis von Kommune und Wirtschaft und Kommune und Brger neu strukturiert werden. Die leitende Idee dabei ist, die Kommunen auf ihre
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Fr den Diskurs unter Betriebswirtschaftlern zeigt dies ausfhrlich Hendrik Vollmer (2002). Platz 1 belegt seit Jahren die Haushaltreform – als Herzstck des Verwaltungsablaufes und Ansatzpunkt fr Haushaltskonsolidierung (Bretschneider 2003; Grmig 2001).
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‚Gewhrleistungsfunktion‘ in der Erbringung durch Leistungsvergleiche zurckzustutzen. Propagiertes Ziel ist auch, die (Selbst)Wahrnehmung der Kommunalverwaltungen zu verndern und das Verwaltungshandeln nach neuem Modell zu formatieren und zu standardisieren. Nicht mehr nur die Frage nach der rechtmßigen Erbringungen und Bearbeitung der Aufgaben und die Mglichkeit der demokratischen Kontrolle darber soll oberstes Organisationsziel und -prinzip der Kommunen sein, sondern Effizienz und Wirtschaftlichkeit sollen in den Blick kommen. Die konkreten Instrumente hierzu stammen aus der Betriebswirtschaftslehre und heißen Produktdefinition, Kosten-Leistungsrechnung im Rahmen der doppischen Buchfhrung14, Bilanz, Zielvereinbarungen, managment accounting15 (Kennzahlen, benchmarks, scorecards)16. Bei aller Vielfalt der Begriffe, Maßnahmen und Konzepte herrscht Einigkeit darber, dass man zur Realisierung von Effizienz auf die Konzepte und Instrumente der Betriebswirtschaftlehre zugreift und diese fr die Kommunalverwaltungen nutzbar macht. Aber auch hier reicht die Einheit in dieser Debatte nicht sehr weit und wre wieder mittels einer summierenden und oberflchlichen Darstellung herstellbar. Es ist kein Zufall, dass viele Schlagworte das neue Leitbild fr Effizienz anzeigen – die aufgezhlte Liste ließe sich sogar noch erweitern. Anhand einer Begriffanalyse in Anlehnung an die Methode der frame-Analyse sei nun gezeigt, dass sich hinter den einzelnen Schlagworten konzeptionelle Unterschiede verbergen, die als Ausdruck unterschiedlicher gruppenspezifischer Interessen und Situationswahrnehmung gelesen werden mssen und – so die These – in den Prozessen organisationalen Wandels deutlich Wirkung zeigen. Linguistische Sprachanalyse (allgemein) geht davon aus, dass verschiedene Formen auch verschiedene Bedeutungen konstituieren, d. h. die Nuancen werden nicht wie in der sozialwissenschaftlichen Inhaltsanalyse ausgeblendet, sondern im Gegenteil in ihrer bedeutungskonstituierenden Funktion ernst genommen. Deshalb ist linguistische Textanalyse ein Arbeiten in den Nuancen und Subtilitten der Sprache und der Sprachverwendung. Wenn der eine also „Dienstleistungskommune“ sagt und der andere „Firma“ und der dritte „Betrieb“ und der vierte „ein Betrieb, nur besser“, so kann damit durchaus ein hnliches Konzept gemeint sein, die sprachlichen Nuancen spielen aber dennoch eine große Rolle, denn hier dokumentiert sich insbesondere die spezifische Sichtweise bzw. Perspektive, die die Person hat und auch die Rolle die ihr zukommt. Frame/
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Ziel ist es, den Ressourcenverbrauch zu dokumentieren und nicht mehr nur den Geldverbrauch wie in der kameralen Buchfhrung. Alle Instrumente dienen der Simulation eines Marktes in und zwischen einzelnen Kommunen. Da derzeit ein neues Haushaltsrechtes auf Lnderebene ausgehandelt wird, wird es zuknftig nicht mehr den Vorlieben einzelner Kommunen berlassen sein, aktiv zu werden, sondern es ist zu erwarten, dass die Konzepte und Instrumente zum neuen Standard erhoben werden.
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Rahmen/Wissensrahmen/kognitives Modell/Modell/mentales Modell sind theoretische Begriffe, die an die Schematheorie (Bartlett) anschließen und die auf der Annahme beruhen, dass unser Denken modellhaft aufgebaut ist. Wenn also jemand „Betrieb“ sagt, so wird mit dem Ausdruck „Betrieb“ zugleich ein Rahmen aufgespannt, der typische Rollen (Chef, etc.) und typische Ablufe und Relationen (z. B. Chef-Angestellter, etc.) aktiviert. Dies ist abhngig von der Wissensbasis. Man geht davon aus, dass Experten elaboriertere Frames/Modelle haben, aber dass wir alle mehr oder weniger hnlich gestrickte Frames haben (vgl. Fillmore 1977). Es geht mir hier um die Begriffe, mit denen angezeigt wird, um welche Art von Organisation es sich knftig handeln soll: ‚Konzern Stadt‘, ‚Dienstleistungsunternehmen‘, ‚Dienstleistungskommune‘. Wie gesagt: alle entstammen der Debatte um Effizienz. Mit ‚Konzern Stadt‘17 wird die Idee der Kommune als ein public-privatepartnership-Netz vermittelt. Impliziert ist, dass nur noch die hoheitsstaatlichen Leistungen weiterhin von den Kommunen erbracht werden. Fr die sozialen Leistungen wie auch fr die Leistungen der Daseinsfrsorge (wie Strom, Wasser etc.) soll grundstzlich anstelle der Idee der Erbringung die Idee der Gewhrleistung treten. Die Basis der Entscheidungen sollen Wirtschaftlichkeitsberechnungen und Aufgabenkritik sein. Dementsprechend soll dann die bisherige Rechnungslegung im Haushalt durch eine Rechnungslegung hnlich der Konzernbilanz ersetzt werden, die die Kontrolle und Steuerung aller Teile im Netz mglich machen soll. In der Konsequenz geht es um die Auslagerung und Privatisierung von Teilen der Kommune. Das Konzept der Kommune als ‚Dienstleistungsunternehmen‘18 geht hier noch einen Schritt weiter. Begrifflich ist nicht mehr angezeigt, dass es sich hier um eine Einrichtung des ffentlichen Dienstes handelt. Es wird mit der Annahme operiert, dass das Gros der Aufgaben einer Kommune Dienstleistungen seien, die nur aus einer historisch berholten Entwicklungsdynamik heraus noch behrdenartig erbracht werden. Von der Sache und von den Wnschen der Kunden und der MitarbeiterInnen her betrachtet sei nunmehr angezeigt, diese zuknftig wie in einem Dienstleistungsunternehmen zu erbringen. Fragen und Probleme der Rechtsnormen oder der demokratischen Kontrolle werden hier nicht bercksichtigt. Dass es
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Eine Stadt als Konzern ist fr die bundesdeutsche Debatte aus Tilburg, einer grenznahe Stadt in den Niederlanden, entlehnt, deren Verwaltungsreform sich durch Dezentralisierung und ein ausgeprgtes Controlling- und Berichtswesen auszeichnet (Bertelsmann Stiftung 1993). Der KGSt diente das ‚Tilburger Modell‘ als Blaupause fr das ‚Neue Steuerungsmodell’ (KGSt Bericht 5/1993), auch wenn hier im weiteren Verlauf dann aber strker mit dem Begriff der ‚Dienstleistungskommune‘ operiert wurde. Die Konsequenzen eines ‚Konzerns Stadt‘ findet sich beispielsweise bei Wohlfahrt/Zhlke 1999 oder auch Klmper 1994 weitergedacht. Beispielsweise Banner 1991.
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diese gibt, findet seinen Ausdruck lediglich in der Formulierung ‚demokratisch kontrolliertes Dienstleistungsunternehmen‘19. Den Widersprchen zwischen beiden wird aber auch in dieser begrifflichen Fassung nicht nachgegangen. Ob als ‚Konzern‘ oder als ‚Dienstleistungsunternehmen‘ , in beiden Fllen ist das Konzept der Kommune an Wirtschaftlichkeitsberechnungen orientiert. Hingegen steht bei der ‚Dienstleistungskommune‘20 begrifflich außer Frage, dass die geplante Organisation weiterhin einen Kommune sein soll und kein Unternehmen. Die Kommune soll lediglich die konstatierten Vorteile von privatwirtschaftlichen Unternehmen in ihre bestehende Organisationsform integrieren – als da wren Kundenfreundlichkeit und kostengnstige Erbringung der Leistungen. Gerade im verwaltungswissenschaftlichen Diskurs findet sich die Rede von der ‚Dienstleistungskommune‘ gehuft21, denn es handelt sich hier um eine geniale Wortneuschpfung: ffentlicher Dienst, Leistungsverwaltung und Kommune knpfen begrifflich an tradierte Begriffe an, sollen aber in der Rekombination einen neuen Touch in Richtung ‚Unternehmen‘ anzeigen. Welche Einzelkonzepte und -instrumente nun fr die Dienstleistungskommune passfrmig wren, geht nicht aus dem Begriff hervor. Zusammenfassend lsst sich sagen, dass in den Debatten ber die Reform der Kommunalverwaltungen nicht nur ein neues Leitbild entstanden ist. Dieser Fall besttigt die Kritik am WZB durch die Forscher in St. Augustin, die davon ausgehen, dass in Diskursen immer mehrere Leitbilder existieren. Wenn man aber nicht mehr von einem Leitbild ausgehen kann, so muss man auch die Funktion Synchronisation und Koordination, die Leitbildern zugeschrieben wird, berdenken und anders fassen. Synchronisiert und koordiniert wird im Fall der Reform der Kommunalverwaltungen lediglich die Problemwahrnehmung. Fr die Problemlsung gilt dies nicht im selben Maß, denn hier herrscht Leitbildvielfalt. Man kann erwarten, dass sich diese Vielfalt auch in den Aushandlungsprozessen vor Ort in den Kommunen wiederfindet und Ausdruck unterschiedlicher konzeptioneller Vorstellungen und Interessen ist, die wiederum nicht notwendig mit den Vorstellungen und Interessen derjenigen Akteure, die sie als Konzept entwickelt und geprgt haben, bereinstimmen mssen. Synchronisation und Orientierung – die beiden zentralen Funktionen von
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Beispielsweise Bertelsmann Stiftung 1993. Siehe v.a. die bereits zitierten Publikationen der KGSt. Bei allen konzeptionellen Nhen und vielfltigen Kooperationen zwischen KGSt und Bertelsmann Stiftung findet sich die Rede von der ‚Dienstleistungskommune’ nur in Texten der KGSt, aber nicht in denen der Bertelsmann Stiftung wieder. Und die ‚Dienstleistungskommune’ findet sich zum Beispiel typischerweise in den Schriftenreihen des Deutschen Stdtetages (der stdtetag) wie des Deutschen Instituts fr Urbanistik (Archiv fr Kommunalwissenschaften, seit 2001 Deutsche Zeitschrift fr Kommunalwissenschaften). Gerhard Banner (1991 und 1998) – Vorstand der KGSt – wechselte den Begriff.
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Leitbildern und der Grund fr eine wissenschaftliche Beschftigung mit ihnen – lassen sich im vorliegenden Beispiel eben gerade nicht an einem Leitbild festmachen, sondern an den beiden grundstzlichen Handlungsorientierungen beziehungsweise Entscheidungskorridoren entlang der Maßstbe Effizienz und Demokratie, die aber zwischen wie in sich Spielraum aufweisen. Dass es sich um eben diese beiden Maßstbe handelt, ist ebenfalls nicht beliebig. Sie haben als Maßstbe sowohl in der aktuellen Verfasstheit der Kommunen wie auch in den vorangegangenen Reformdebatten lange Tradition. Dort wurden sie bereits adressiert, wenn auch mit anderen Lsungsvorschlgen versehen (vgl. v.a. Beyer/Brinkmann 1990). Am vorliegenden empirischen Beispiel lsst sich gut die These des WZB nachvollziehen, dass die Qualitt eines Leitbildes22 in seiner Anlage als Machbarkeitsprojektion liegt: An Bestehendes und Bekanntes wird angeknpft. Dieses wird verbunden mit einem paradigmatisch Neuen. Leitbilder haben so die fr Prozesse des Wandels ntige Januskpfigkeit aus Anschluss- und Reformfhigkeit. Dies sei anhand der Teilleitbilder um Effizienz gezeigt. Das Herzstck der neuen Wirtschaftsweise sollen die Wirtschaftlichkeitsberechnungen sein. Was wie ein Kontrapunkt zum Tradierten daherkommt, ist den Kommunen und v.a. den Kmmereien aber lngst bekannt durch die Kostenrechnung und die Kostenleistungsrechnung der gebhrenrechnenden Einheiten der Kommunen wie bei Stromund Wasserversorgung sowie Freizeit- und Kultureinrichtungen. Man kann hier also auf Fhigkeiten und Denkweisen rekurrieren, die lngst vorhanden sind23. Gleichzeitig bedeutet die flchendeckende Einrichtung von Kosten-Leistungskalklen einen neuen Orientierungspunkt, der als zukunftsweisender und problemlsender Entwurf in die Zukunft die Aufmerksamkeit der Akteure erregt. Denn es geht ja nicht nur um die Einfhrung eines neuen Instruments, sondern auch um eine Umwertung und neue Hierarchisierung der kommunalen Ziele. Bis dato hat im Zielbndel Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Flexibilitt, Effizienz24 die Rechtstaatlichkeit als sachlich richtige Aufgabenerledigung und parlamentarische Kontrolle der Verwaltung dominiert. Nunmehr soll mit den neuen Instrumenten wie KostenLeistungsrechnung eine Umsortierung der Ziele zugunsten der Effizienz entstehen, die zur Lsung der problematischen Situation der Kommunen verhelfen soll. In ge-
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Wenn es keine inhaltlichen Grnde gibt, werde ich ab jetzt wieder zusammenfassend von Leitbildern sprechen, um die Lesbarkeit gegenber einer dauerhaften differenzierten Nennung von Teilund Unterleitbildern zu erhhen. Konzeptionell ist dies ein interessanter Punkt: Etwas hochtrabend knnte man formulieren, dass in der ‚Ordungskommune‘ die Kameralistik als Sinnbild der Wirtschaftsweise nur unter ‚Verdrngung’ der kostenrechnenden Einheiten zum Typus werden konnte. Die Kostenrechnung als Typus fr die ‚Dienstleistungskommune’ zu stilisieren, vernachlssigt aber die Anteile am Wirtschaften, die das ‚alte’ Bild der Kommunalverwaltungen prgte und die weiterhin existieren. Vgl. Geser 1998.
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nau diesem Doppelpack aus vorgngiger Erfahrung und neuer Orientierung besteht die Attraktion von Leitbildern. Ebenso wie gegenber den Funktionen Synchronisation und Orientierung kann auch hier die vorschnelle analytische und empirisch-konzeptionelle Kaprizierung auf das Machbare in die Falle locken, dass nmlich die Logiken von Leitbildern mit den realen Entwicklungsdynamiken in Prozessen organisationalen Wandels verwechselt werden. Um es alltagssprachlich auszudrcken: Kann sein, dass es genauso kommt, kann aber auch ganz anders ablaufen. Aus dieser Sicht kommt man zu einer anderen Konzeption von Leitbildern als die beiden eingangs vorgestellten. Leitbilder sind dann ‚Kampfbegriffe‘ in einem Diskurs, die – weil verschiedene Wissenskulturen daran beteiligt sind – Ausdruck unterschiedlicher Konzeptionen und Interessen sind. Weil es differierende gibt, kann man nicht von Synchronisation, sondern eher von einem Korridor fr die Auseinandersetzungen sprechen. Er ist dominant, da er andere ausblendet und breit akzeptiert wird. Auch steuern Leitbilder das Handeln nicht unmittelbar, sondern ich gehe davon aus, dass Leitbilder in Organisationen als Deutungsangebote und Handlungsressourcen fungieren, die nicht aus sich selbst heraus wirken, sondern erst dadurch, dass sie von Akteuren als fr ihre Kontexte brauchbare erkannt und als solche genutzt werden. Dass dies kein beliebiger und nur von den Akteuren abhngiger Prozess ist liegt daran, dass Leitbilder gleichzeitig Rationalittskriterien25 mit sich bringen. Anhand derer wird angebbar, was in einer Handlungssituation als ‚rational‘ fr die Verwirklichung des Leitbildes gilt. Die Rationalittskriterien werden mit dem Leitbild ‚mitgeliefert‘ und sind damit keine wahlfreien oder individuellen Interpretationen des Leitbildes, sondern reprsentieren die – innerhalb des Leitbildes – gltigen Kriterien, durch die festgelegt wird, was ‚richtiges‘ und was ‚falsches‘ Verhalten, Argumentieren, Handeln ist. Sie wirken strukturbildend, indem vor dieser – dann neuen Folie – die tradierten Strukturen neu bewertet und verndert werden, wodurch wiederum die Legitimation des neuen Leitbildes und die Delegitimation eines bisherigen Leitbildes 25
Ich greife hier auf Rainer Lepsius berlegungen zu Rationalittskriterien zurck (1997). Er formuliert diese im Anschluss an Max Webers Ausfhrungen zu Idee und Interesse und bezieht sich auf Beispiele, bei denen es gerade nicht um die Durchsetzung eines neuen Leitbildes geht, sondern um durchgesetzte, gltige, nicht hinterfragte Leitideen. Hier kommt er dann zurecht zu den Schlssen, dass die Rationalittskriterien die Gltigkeit der Leitidee gegenber ganz verschiedenen Menschen mit je eigenen Motiven herstellen, oder auch, dass die Rationalittskriterien gesellschaftlich gltige Interpretationen sind. Dies sind aber gerade Fakten, die sich ber Leitbilder (noch) nicht sagen lassen. Trotzdem: Was die Operationalisierung durch Rationalittskriterien angeht, sind sich Lepsius Leitideen und Leitbilder hnlich und seine berlegungen lassen sich hier adaptieren. Der große Unterschied liegt meines Erachtens darin, dass die Rationalittskriterien von Leitbildern zwar auch nicht beliebige oder wahlfreie sind, aber ob sie sich als gltig fr verschiedene Menschen und verschiedene Motivationen und damit als unhintergehbare erweisen, ist daher nur mittels einer empirischen Analyse von organisationalen Prozessen zu klren.
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befrdert wird. Da sich Handeln nicht unmittelbar und konkret an Leitbildern orientieren kann, sind die Rationalittskriterien zentral, denn sie interpretieren und spezifizieren das Leitbild. Leitbilder werden damit konkretisiert und verhaltensprgend, indem den Akteuren Richtigkeitsvorstellungen und Handlungskonstellationen erffnet werden, ohne die (Ver)Handlungen vor Ort selbst schlussendlich zu prformieren. Um wieder im Beispiel zu bleiben: Die Kommunen sind auf die sachgerechte, sparsame und wirtschaftliche Verwendung der Mittel fr die durch Gesetzgeber und Politik vorgegebenen Aufgaben zur Herstellung von Gemeinwohl verpflichtet. In der tradierten Logik wurde dieser Doppelauftrag so bearbeitet, dass die Frage nach den Aufgaben und Leistungen einer Kommunalverwaltung streng getrennt war von der Frage nach der Mittelbeschaffung. Waren die Ziele im Rahmen der Haushaltsverhandlungen gesetzt, waren die Mittel ‚bereitzustellen‘ – so die Sprachregelung in den Verwaltungen. Der Maßstab fr ‚richtiges‘ Verwaltungshandeln war die juristisch und inhaltlich richtige Abwicklung der Aufgaben. Erst im zweiten Schritt wurde Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit beachtet. Wechselt man nun den Rahmen fr die Kommunen aus und setzt ‚Effizienz‘ als zentrales Ziel, – wie es derzeit mit den entsprechenden Leitbildern geschieht – heißt dies noch lange nicht, dass damit alle Konzepte, Instrumente und tradiertes Verwaltungshandeln wechseln und alle kommunalen Akteure ihr Handeln entsprechend neu justieren. Aber das neue Leitbild bringt neue Rationalittskriterien mit sich. Die alten Instrumente und Konzepte erscheinen nun als irrational und als Hemmnisse fr Steuerung. Da nun die Leistungen aufs engste mit der Kostenfrage verknpft sind, tauchen Fragen wie ‚Was kostet eine Leistung?‘, ‚Knnen wir uns das leisten?‘, ‚Knnen andere Anbieter billiger produzieren?‘ auf. Diese knnen aber mit den alten Instrumenten nicht mehr beantwortet werden und nur noch die neuen Konzepte und Instrumente erscheinen als adquat. Um Einzelleistungen kostengnstiger zu erwirtschaften und/oder eine rationale Grundlage fr sogenannte Make-or-buy-Entscheidungen zu haben, braucht man eine Kosten-Leistungsrechnung. Also mssen Produkte definiert werden, denen man Sach- und Personalkosten eindeutig zuordnen kann. Die Kostenstellen mssen getrennt werden, Querschnittsaufgaben entweder umverteilt oder als Serviceaufgaben zu ‚kaufen‘ sein. Um mehr Verantwortlichkeit zu schaffen, sollen die mter wie dezentral wirtschaftende Einheiten – profit centers – eingerichtet werden. Klassische accounting-Instrumente sollen Effizienz und Effektivitt gewhrleisten wie Kennzahlen oder Benchmarks oder auch Zielvereinbarungen. Was ich anlsslich der Machbarkeitsprojektion diskutiert habe, gilt ebenso fr Rationalittskriterien: Beide sind Mglichkeiten, Konstellationen, der Logik innewohnende Dynamiken, die sich so realisieren knnen, aber nicht mssen. Sie sind keine Automatismen, keine Selbstlufer, aber sie verweisen auf Dominanzen. Ob und welche Wirkungen Leitbilder in Organisationen entfalten, zeigt sich nicht
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durch die eingehende Analyse des Leitbilds als kognitives Modell oder als Diskurs, wie in beiden Konzeptionen von WZB und St. Augustin. Denn diese enthalten keine Informationen ber sozialen Praktiken und die machthaltigen Prozesse in Organisationen und sie ersetzen eine eigenstndige Analyse dieser auch nicht. Um hier Licht in die ‚black box‘ zu bringen, nutze ich die Studienergebnisse von Barbara Czarniawska und Berward Joerges (1996) und Karl Weick (1995). Sie zeigen, dass nur diejenigen Leitbilder in einer Organisation zu Vernderungen fhren knnen, die von den Akteuren berhaupt wahrgenommen werden. Dies vollzieht sich grundstzlich durch eine ‚translation‘. Dabei wird in einem aktiven Prozess ein Leitbild aus der Umwelt aufgegriffen, vor dem Hintergrund der tradierten Schemata und Ideen fr den eigenen organisationalen Kontext bersetzt, was zur Entwicklung von neuen Handlungsoptionen (‚ideas into action‘) oder die Reinterpretation von ‚alten‘ Handlungen (‚ideas onto action‘) fhrt. In beiden Fllen ist die bersetzung nicht eine bloße Anwendung, sondern durch die Selektions- und Konstruktionsleistung der Akteure eine Aneignung. Mit dieser Sichtweise lassen sich gerade auch Prozesse erklren, die man in normativer Hinsicht als ‚Scheitern der Umsetzung eines Leitbildes‘ markieren msste, indem sich jetzt fragen lsst, welchen bersetzungen, welchen Transformationen und welchen selektiven Anpassungen das Leitbild unterzogen wurde und welchen ‚guten Grund’ die Akteure einer Organisation fr das ‚Scheitern’ haben. Um zu zeigen, wie aus diesen zwar interaktiven, aber grundstzlich individuellen kognitiven Prozessen kollektive handlungsleitende werden, knpfe ich an die berlegungen von Michel Crozier und Erhard Friedberg an (1993), die einen theoretischen Ansatz entwickelt haben, um die Beziehung und die Dynamik zwischen Akteuren und Systemen in den Blick zu nehmen. Um nun weder der Verfhrung einer bloßen Analyse der Akteure und ihrer Strategien zu erliegen, und sich aber auf der anderen Seite auch nicht in den Fallstricken einer ausschließlich an den Zielen und den Gestaltzusammenhngen orientierten Analyse der Organisation zu verfangen, entwickeln Crozier und Friedberg eine systemische Organisationssicht: Eine Organisation fassen sie als konkretes Handlungssystem, das aus Spielen und Spielregeln besteht. Organisationales Handeln ist immer ein kollektives machtvolles Handeln. Macht ist in dieser Definition keine Eigenschaft eines Akteurs, sondern eine ‚Austauschbeziehung‘ zwischen den Akteuren. Die Macht eines Akteurs richtet sich nach seiner Fhigkeit, Prozesse so zu seinen Gunsten zu strukturieren, dass er die Zwnge wie die Gelegenheiten einer Situation nutzt. Die Machtressourcen, die dabei zum Tragen kommen, sind die wechselseitige Kontrolle der Unsicherheitszonen der Akteure wie die nur begrenzte Vorhersehbarkeit des Handelns der Akteure. Akteure mssen, um – gemessen an eigenen – Interessen erfolgreich sein zu knnen, aus den Spielen und Spielregeln sich die jeweils passenden Gewinnstrategien whlen. Dies ist ein aktiver Akt, der aber aus gegrenzten Mglichkeiten besteht und gleicherma-
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ßen Zwang wie Ermglichung darstellt. Um gewinnen zu knnen, mssen sie die (vorgegebenen) Spiele spielen. Wandel ist zuallererst systemisch, d. h. „dem Handlungssystem, das ihn ausgearbeitet hat und in dem er stattfindet, kontingent“ (S. 242). Diese Annahme deckt sich mit der oben getroffenen: So wie die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass bei Prozessen des Wandels neue Leitbilder durch die tradierten kognitiven Modelle gefiltert werden und in diese eingebaut werden, was zur Strkung des Tradierten beitragen wrde, so geschieht dies ebenfalls durch die kollektiven Spiele und Spielregeln. Paradigmatischer Wandel wrde dagegen – kombiniert man die beiden Sichtweisen – bedeuten, dass bersetzungen eines Leitbildes zur Aneignung dieses fhrt und damit neue Spiele und Spielregeln kollektiv erfunden werden, die zur Neustrukturierung des Handlungssystems fhren.
Ein-Blick in eine Kommune Solch eine Prozessanalyse werde ich nun zum Abschluss vorstellen. Der Ort des Geschehens ist der „Optimierte Regiebetrieb Gartenbau“ (ORG), der 1996 in einer sddeutschen Kommune26 im dortigen Landschafts- und Gartenamt eingerichtet wurde. Der ORG diente nach ersten Erfahrungen in der Stadtbcherei fr die Kommune als Pilotprojekt fr die Dezentrale Ressourcenverantwortung (DRV), die ab 1999 dann in allen mtern eingefhrt wurde. Die Kommune selbst gehrt zu den reformfreudigen der Bundesrepublik. An ihrer Spitze steht die 1990 neu gewhlte Oberbrgermeisterin, die Kommunalreform zum Wahlkampfthema gemacht hatte. Mit der Umsetzung und Durchfhrung sind die Kmmerei und das Personal- und Organisationsamt betraut. Vom Personalund Organisationsamt wurde als stadteigenes Leitbild eine „Stadtverwaltung als effizientes, brger- und kundenorientiertes Dienstleistungsunternehmen“27 definiert. Ziel sei, die „Verwaltung nach innen und außen transparent und effizient zu machen“. Die Ansatzpunkte dazu sind die „konsequente Brger- und Kundenorientierung“ und eine „neustrukturierte effiziente Verwaltung“, die nach Ansicht der Oberbrgermeisterin zusammengehren28. Interessant ist hier, dass die Fallkommune erst seit dem Jahr 2001 auf die Leitbilder und Aktivitten von KGSt und Bertelsmann-Stiftung29 direkt Bezug nimmt, und in meinen Interviews immer wieder darauf verwiesen wird, dass man eben gerade nicht ein vorgestanztes Konzept 26
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Um den Wandel als Prozess erfassen zu knnen, habe ich diese Kommune von 1996 bis 2002 insgesamt vier Mal besucht. Sie ist Gegenstand meiner Doktorarbeit. Ich habe 58 Einzel- und Gruppeninterviews, teilnehmende Beobachtungen und Dokumentenanalysen durchgefhrt. Zitiert nach internem Papier, das denselben Titel trgt, o. Alle Zitate stammen aus einem Interview mit der Oberbrgermeisterin in: Verwaltung und Management 1995.
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der Verwaltung berstlpen, geschweige denn eine Unternehmensberatung einschalten wollte, sondern dass es sich bei den Reformaktivitten um ein stadtspezifisches Konzept handelt. Trotzdem finden sich hier das Unterleitbild ‚Dienstleistungsunternehmen‘ und dieselben Begrifflichkeiten wie auch in den Reformdebatten wieder. Man kann davon ausgehen, dass es sich dabei um Schlsselwrter (Liebert 2003; Bke 1996) handelt, denn sie fungieren als eine aktuelle Antwort auf immer wieder gestellte Grundfragen nach Identitt und Zukunft des ffentlichen Dienstes, sind diskursbestimmend, wenn auch umstritten. Die genannten Begriffe sind zum einen Schlsselwrtet der Reformdebatten. Gleichzeitig sind sie die stadtspezifische bersetzungen dieser, denn die Stadt knnte auch andere Begriffe fr sich reklamieren30. Mit vielfltigen Reformprojekten wird das Leitbild umgesetzt: Brgerbeteilung bei strittigen politischen Fragen31, Brgermter, eine ‚one-stopagency‘ fr die Wirtschaftsfrderung, Brgerbefragungen, vernderte ffnungszeiten sollen das Verhltnis Brger/Kunden und Verwaltung neu definieren. Nach innen wurde die Dezentralen Ressourcenverantwortung zum Dreh- und Angelpunkt. Nach den beiden Pilotprojekten in der Stadtbcherei und im Landschaftsamt wirtschaften seit 1999 alle mter formal unabhngig und haben – bis auf Teilbereiche – die Hoheit ber Personal- und Sachmittel. Die Steuerung der dezentralen mter erfolgt seit 2002 durch einen Zielhaushalt auf der Basis der Produktkataloge. Aus den Querschnittsmtern wie Kmmerei und Organisations- und Personalabteilung wurden beratende und untersttzende „Serviceeinheiten“32, die ihre Leistungen verrechnen. Die 1991 eingerichtete Zentrale Controllingstelle hatte bei diesem Umbildungsprozess die Federfhrung und ist weiterhin mit der zentralen Funktion betraut, als Klammer zwischen zentraler und dezentraler Steuerung zu dienen33. Den MitarbeiterInnen wurden von Anfang an durch Informations- und Schulungsveranstaltungen die neuen Konzepte und Instrumente nhergebracht und erlutert. Sie wurden aktiv in die Prozesse einbezogen – so z. B. bei der Produktdefinition. Im „Leitbild fr Fhrungskrfte“ wie im „Leitfaden fr Personalgesprche“34 wird klar29
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Im Rahmen einer gemeinsamen Konferenz „Der neuen Haushalt. Produkte, Ziele, Kennzahlen, Budget – Planungs- und Steuerungssystem fr den Ressourcenverbrauch“ 25./26.6.2001 gemeinsam mit der KGSt und im Rahmen des Initiative ‚Kommunen der Zukunft’. Da die stdtische Konzeptsuche und die Aktivitten schon sehr frh begannen, ist die Stadt selbst auch Teil der Debatten, was sich beispielsweise in deren Prmierung im Qualittswettbewerb der Verwaltungshochschule Speyer zeigt (Hill/Klages 1995). Z. B. im Rahmen eines Verkehrsforums, der Entwicklung eines Tourismusleitbildes oder durch die Erarbeitung von Stadtteilrahmenplne zusammen mit BrgerInnen. Zitiert nach internem Papier des Personal- und Organisationsamtes, o.J. Diese Doppelkonstruktion ist aus Sicht der Kmmerei wegen des Grundsatz der Verwaltungseinheitlichkeit wie der Rechtmßigkeit und Richtigkeit, fr die die Oberbrgermeister brgen, notwendig. Beides interne Papiere aus dem Jahr 1998.
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gestellt, welche Qualifikationen und welches Sozialverhalten knftig erwnscht und erfolgsrelevant sind. Aktuell wird der Haushalt auf doppische Buchfhrung umgestellt und die Kommune fungiert wieder als Modell und Motor der Debatten ber die anstehende Haushaltsrechtsreform im Land. Als Hintergrund fr die aktuelle Reform ist die Geschichte dieser Kommunalverwaltung von Bedeutung. Der ehemalige Oberbrgermeister35 hat seine Amtszeit 1962 ebenfalls mit einer „Organisations- und Rationalisierungsarbeitsgruppe (ORAG)“ begonnen und zahlreiche arbeitsorganisatorische und wirtschaftliche Elemente auf den Weg gebracht wie JobRotation, Kennzahlen oder eine Sichtweise auf den kommunalen Haushalt, der an eine Konzernbilanz angelehnt ist, die heute alle zum Instrumentarium einer ‚modernen’ Kommune gerechnet werden36.
Der „Optimierte Regiebetrieb Gartenbau“ Der „Optimierte Regiebetrieb Gartenbau“ (ORG) wurde 1996 eingerichtet37. Innerhalb des Landschafts- und Gartenamts wurden damit die drei ehemals getrennten Bereiche Grnflchen, Kinderspielpltze und Stadtgrtnerei zu einer Organisationseinheit zusammengefasst. Als Teil der Kommune ist er keine Ausgrndung oder Privatisierung. Er ist wirtschaftlich selbststndig, aber weisungsgebunden. Die schriftlichen Unterlagen38 ber den ORG zeigen (was dann auch in den Interviews besttigt wurde), dass hier Dezentrale Ressourcenverantwortung mit allen in den Reformdebatten aktuell verhandelten Instrumenten umgesetzt wurde. Nach sehr kurzer Vorlaufzeit von einem Jahr unter Federfhrung des Personal- und Organisationsamtes war man soweit: Dem ORG wurden alle Aufgaben der drei Sachgebiete des Jahres 1995 bertragen. Der ORG ist voll budgetiert. Sach- und Personalmittel sind deckungsfhig39; Einsparungen ber das gesteckte Sparziel hinaus bleiben fr Reinvestitionen und Leistungszulagen im Betrieb. Der ORG kann selbstndig ber Fremdvergaben entscheiden. Der Regiebetrieb hat einen Betriebsleiter. Die Fach-
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Interview 7.9.1999. Der Blick auf die OberbrgermeisterInnen rechtfertigt sich aus ihrer starken Stellung durch die sddeutsche Ratsverfassung als Vorsitzende des Gemeinderates und als Verwaltungsleitung. Die empirische Grundlage meiner Ausfhrungen bilden drei Gruppeninterviews, die ich zwischen 1999 und 2002 dort mit Vertretern aller Hierarchieebenen gefhrt habe. Ergnzend und kontrastierend dazu werden verschiedene schriftliche Materialien und Interviewpassagen aus den Querschnittsmtern Personal- und Organisationsamt und Kmmerei hinzugezogen. Die Quelleangaben sind hier aus Grnden der Anonymisierung weggelassen. Alle wrtlichen Zitate sind kenntlich gemacht. Beschlussvorlage fr den Gemeinderat vom 6.11.1995 und Ihrig 1998. Damit wird die Mglichkeit bezeichnet, beide Posten gegenseitig zu verrechnen.
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aufsicht fhrt weiterhin der Leiter des Landschaftsamtes. Eine stdtische Lenkungsgruppe soll untersttzen und eventuelle Konflikte bereinigen. Der ORG wurde als Pilotprojekt mit einer Laufzeit von vier Jahren eingerichtet. Im Verlauf sollten insgesamt 20% der Sach- und Personalkosten des Jahres 1995 bei gleicher Leistung eingespart werden. Um die Effizienzsteigerung zu realisieren wurden zum einen die Hierarchieebenen verringert und die Abstimmungsprobleme zwischen den drei Sachgebieten durch eine neue Organisationsform angegangen: Die MitarbeiterInnen wurden in feste Kolonnen, zustndig fr einen Bezirk, eingeteilt. Die grtnerischen und technischen Entscheidungen liegen in der Hand der Gruppen. Gleichzeitig werden sie je nach Arbeitsanfall und Witterung flexibel eingesetzt, so dass z. B. in der Grtnerei von ehemals 11 Arbeitern heute noch 3 festangestellt sind. Herrscht Hochbetrieb, so helfen Arbeiter aus den Kolonnen hier aus. Die Vorarbeiter entscheiden ber die Arbeitszeiten, Einsatzorte und Leistungsbeurteilung. Die Koordination der gesamten Arbeit, Personal- und Sachentscheidungen wie Einkauf oder Einsatz technischer Gerte wird zwei Mal je Woche im Team aus Betriebsleiter, Meistern, Vorarbeitern und Personalrat entschieden. So sollen Entscheidungen und Anpassungen schnell herbeigefhrt und nicht wie vorher per schriftlichem Antrag ber insgesamt 5 Hierarchieebenen hingezogen werden. Eine Kosten- und Leistungsrechung in Echtzeit ist jedem Mitarbeiter stndig zugnglich, da die Computer des ORG in einem ffentlich zugnglichen Raum neben dem Pausenraum untergebracht sind. Sie dient als Grundlage fr alle Entscheidungen wie auch fr die Fremdvergabe. Die Arbeitszeit wurde als Jahresarbeitszeit im Rahmen einer Dienstvereinbarung flexibilisiert40. Die MitarbeiterInnen werden am Betriebserfolg in Form von Leistungszulagen (auch als Dienstvereinbarung abgeschlossen) beteiligt41, die abhngig vom erreichten Sparziel innerhalb der Gruppen vom Vorarbeiter anhand eines Kriterienkataloges individuell vergeben werden. Mit Beteiligung, Arbeitszeitflexibilisierung und Leistungszulagen sollten neue motivationale Anreize geschaffen werden, um dem Ziel der ‚Effizienz’ nher zu kommen. Der ORG bildet im Gegensatz zu andern privatwirtschaftlichen Betrieben aus. Soweit zu den Zielen und berlegungen. In den ersten Interviews mit den Querschnittmtern sowie mit dem ORG in 1999 wurde besttigt, dass alle Maßnahmen umgesetzt und alle Ziele erreicht wurden. Man bertraf sogar die Erwartungen. Alle Interwiepartner kamen auf zwei Punkte zu sprechen, wenn ich sie darum bat, den ORG zu skizzieren: Zum einen 40
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Im ORG wird open end gearbeitet. So knnen Arbeiten an einem Tag zuende gebracht werden. Damit entfallen Zeiten fr Absperrungen, Maschinenrstzeiten, An- und Abfahrten. Die Pausen wurden flexibilisiert, so dass die Arbeiter nicht mehr wie frher 2 Mal am Tag in den zentralen Pausenraum zurckfahren. Dafr knnen Stunden angespart und je nach Arbeitsaufkommen als freie Woche genutzt werde. 80% des ArbeiterInnen erhalten Leistungszulagen.
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war bereits nach 3 Jahren klar, dass man das Sparziel berschreiten kann und der ORG einigte sich mit der Kmmerei auf insgesamt 25%. Fr den ORG war dies insofern sinnvoll, da das Geld ja im Gegensatz zum Rest der Verwaltung ihm direkt zur Verfgung stand. Das Sparziel jedoch – und dies taucht nicht in den schriftlichen Texten auf – wurde nicht nur durch Steigerungen der Effizienz, sondern auch durch sinkende Sachmittel und freibleibende Personalstellen erreicht, die zwar im Stellenplan ausgewiesen, aber nicht mit Geldern hinterlegt sind und daher unbesetzt bleiben42. Im ersten Interview wird dies jedoch nicht einmal vom Dienstellenpersonalrat als problematisch markiert, sondern als „notwendiger Vorgang“. Vor allem der ORG inszenierte sich so als kompetent, modern, vorwrtsstrebend: „ich htte nie gedacht, dass man in ... wirtschaftlich denken darf“ und „wir sind zu modern fr die Stadt“. Zum zweiten wird von den Querschnittsmtern und dem ORG immer wieder die immense Einsatzbereitschaft und Motivation der MitarbeiterInnen hervorgehoben, ohne die „das ganze die Bach runtergegangen wre“. Als wichtig und den Erfolg garantierend gelten nach Sicht des ORG drei Sachen: Zum einen wurden die MitarbeiterInnen in den 1,5 Jahren Vorlaufzeit permanent durch den Dienststellenpersonalrat informiert. Sie konnten in diesen vielen informellen Gesprchen ihre Vorstellungen ußern und einbringen und Nachfragen stellen. Die Umstrukturierung traf die MitarbeiterInnen nicht unvorbereitet, und es gab zumindest auf dieser Ebene keinerlei Probleme, als man mit dem 1.1.1996 die neuen Zeiten auf allen Ebenen einlutete43. Der Wert dieses Vorgehens ist der Leitung des ORG wie auch den Querschnittsmtern so bewusst, dass sie das Modell „Mitarbeitermodell“44 nennen. Zum zweiten wird die Flexibilisierung der Arbeitszeit als starker Motivator hervorgehoben. Und zum dritten wird zumindest bis 1999 beschrieben, dass und wie stark die MitarbeiterInnen im neuen ORG ihre Kompetenzen und ihr Erfahrungswissen einbringen. Ohne jedes Vorschlagswesen betreiben die MitarbeiterInnen FeinTuning: Es werden immer wieder und immer mehr neue Arbeitsweisen ausprobiert – alle mit dem Ziel, den ORG aus eigenem Antrieb in seinen Ablufen weiter zu verbessern, rationaler zu machen. Dazu – und das ist der Leitung des ORG sehr bewusst – kapitalisieren die MitarbeiterInnen all das, was sie seit Jahren im Betrieb beobachtet haben: „Die haben uns das Gedankengut, das sie die ganze Zeit im Kopf hatten, rbergegeben. Was uns schnell wachgerttelt hat, ist, dass wir zwei-dreimal mit Entscheidungen, die wir gemacht haben, wo die Leute gekommen sind und sag-
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Interview ORG M 9.4.1999. Probleme gab es sehr wohl mit der Meisterebene, deren Position sich im Verlauf der Umstrukturierung stark verndert hat. In den Interviews, der Beschlussvorlage fr den GR wie auch in Ihrig 1998.
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ten ‚Das htten wir Euch gleich sagen knnen, das das so nicht geht. Daraus haben wir sehr schnell gelernt.“ Der Erfolg des ORG liegt zweifellos darin, dass eine breite Palette von Konzepten und Instrumenten auf allen Hierarchieebenen im ORG und fr das Verhltnis des ORG zum Landschaftsamt und zu den Querschnittsmtern um- und eingesetzt wurde, um Dezentrale Ressourcenverantwortung zu erreichen. Alles, was im eingangs beschriebenen Reformdiskurs zum Thema ‚Effizienz’ diskutiert wird, findet sich wieder. Damit ist die ‚Lsung ORG’ fr die Probleme und Ziele der drei Bereiche und der beteiligten Akteure weder berraschend noch originell, sondern bewegt sich innerhalb des Teilleitbildes, was einerseits auf die Reichweite und Funktion der Rationalittskriterien hinweist. Man kann aber andererseits trotzdem nicht umstandslos davon sprechen, dass ein Leitbild umgesetzt worden sei. Denn befragt auf die Ziele und konkreten Prozesse geben beiden ‚Parteien’ – der ORG mit dem Landschaftsamt in Form seines Leiters und die Querschnittsmter – an, eben gerade kein abstraktes Leitbild realisiert, sondern sehr konkrete und spezifische Lsungen fr ebensolche Probleme gefunden zu haben. Deutlich wird dies, wenn im ORG der eigene Erfolg – und der Misserfolg anderer Projekte in der Kommune – daran festgemacht wird, dass mit dem ORG ein sehr spezieller Rahmen geschaffen worden sei, innerhalb dessen all das umgesetzt werden konnte, ber das man auf allen Ebenen schon lange im Gesprch war. Dass die Lsungen dann das neue diskutierte Leitbild abbilden, ist historischer Zufall. Ein lngeres Zitat verdeutlicht die Sichtweise des ORG: „Das war ein guter Vorteil, dass dann diese ganze Bewegung, dann mit der Dezentralen Ressourcenverantwortung entstanden ist, die sich ja als Reformbewegung des ffentlichen Dienstes etwas durchgesetzt hat. Bedingt durch die Finanznot, dass man da jetzt was machen wollte. Vorher wre das ja sowieso nie geschehen. Weil die Ideen liegen ja schon lange in den Schubladen rum. Wenn man da mal in bisschen in den Kmmerchen kramt, was da schon so alles da war. Das ist schon seltsam, dass das nie genutzt wurde. Und als die Stadt sich dazu entscheiden hat, dieses Werkzeug einzusetzen, dann haben wir gesagt, wir haben sowieso schon eine gute Idee dazu, was wir mit unseren Daten, die wir uns geschaffen haben, anfangen und haben dann in Zusammenarbeit mit der Kmmerei und dem Personal- und Organisationsamt die Grundidee des Optimierten Regiebetriebs gelegt. Das war, eigentlich haben wir nur die Stunde genutzt, die sich darber ergeben haben. Wir haben gesagt, also ihr wollt eine Verwaltungsreform, wir wollen noch ein bisschen mehr als eine Verwaltungsreform. Wir wollen eine Reform als gewerblicher Bereich. Speziell und insgesamt. Und da man da schon sehr offen war, ist man auf unsere Vorschlge eingegangen. Nicht von oben her was bergestlpt, sondern da kommt was von der Basis her unten hoch. Und das hat dann auch die Motivation bei den Mitarbeitern hervorgerufen.“
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Und ber den ORG als Modell fr andere Bereiche: „Aber da hat man eines versumt im Vorfeld und das sehen wir immer mehr, man hat versumt, die Mitarbeiter mit einzubeziehen. Man hat versucht irgendwas berzustlpen. Und das zeigt sich auch bei uns, man kann den ORG auch nicht bei anderen berstlpen. Das geht nicht. Jeder muss da eigentlich sein eigenes Konzept, seine eigene Form finden.“
Eigentmliche bersetzungen. Oder: Ist ein „Fachbetrieb“ ein „wirtschaftlicher Teil einer Kommune“? Ich will nun im Folgenden der Frage nachgehen, welche „translations“ im schriftlichen wie Interviewmaterial zu finden sind. Auch wenn die Materialien ein beredtes Zeugnis darber abgeben, dass der ORG in der gesamten Kommune hochakzeptiert ist und auch wenn Metaphern produziert werden wie „man sitzt in einem Boot“, „wir sprechen dieselbe Sprache oder „man kann auch sagen: wir haben die Chance erkannt und am selben Strang gezogen“, werden bezglich der Grndungsgeschichte, der Ziele und der Frage, was mit dem ORG entstanden ist, hchst unterschiedliche Begriffe und Geschichten produziert, die auf die verschiedenen „bersetzungen“ verweisen. Spontan auffllig ist, dass im Material keiner der Begriffe auftaucht, mit denen in der Reformdebatte die Unterleitbilder benannt werden. Auch das kommunale Leitbild taucht als solches nicht auf. Lediglich im Interviewmaterial mit den Querschnittsmtern kommt „effizient“ und „Effizienz“ als Einzelbegriffe vor. Der ORG selbst nutzt diesen Begriff nicht. Satt dessen wird die Qualitt der neuen Einheit mit „variabel zu sein. Keine sture, festgefahrene Festlegung mehr“ bezeichnet. Diese Differenz wird deutlicher und interpretierbarer, wenn man sich die beiden Grndungsgeschichten45 anschaut. In der Darstellung der Querschittsmter hat die Oberbrgermeisterin das Personal- und Organisationsamt beauftragt, fr eine effizientere, leistungsfhigere und kostengnstigere Unterhaltung und Bewirtschaftung der ffentlichen Grnflchen, der Kinderspielpltze und der Stadtgrtnerei zu sorgen. Alle drei Bereiche galten als hochproblematisch, zu teuer und durch die Debatten im Gemeinderat von Privatisierung bedroht. Die oben beschriebenen Ansatzpunkte zur Lsung der Probleme werden als Ideen der Querschnittsmter dargestellt, die aber mit dem betroffenen Amt erarbeitet und den MitarbeiterInnen rechtzeitig kommuniziert wurden. Das oberste Ziel, sei die Einsparungen zu reali-
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Ich nutze hier die drei Interviews mit dem ORG, die insgesamt 14 Interviews in den Querschnittsmtern und die schriftlichen Materialien wie interne Papiere, Gemeinderatsbeschlsse und Artikel. Zur besseren Lesbarkeit wird nicht jede einzelne Quelle ausgewiesen, sondern nur die wrtlichen Zitate. Es handelt sich um eine zusammenfassende Darstellung.
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sieren. Die ebenfalls beteiligte Kmmerei wollte sich ein Experimentier- und Erfahrungsfeld fr die anstehende breite Einfhrung der DRV schaffen. Erklrtes Ziel war, dass aus den drei Bereichen „ein kostengnstig produzierender Teil der Kommune“ geschaffen werden sollte. Neben dem Schlsselwort „effizient“ tauchen gehuft die Adjektive „wirtschaftlich“ und „kostengnstig“ auf, um das Ziel der Umstrukturierung zu beschreiben. Ganz anders die Grndungsgeschichte erzhlt vom Landschaftsamt: Da das Landschaftsamt und vor allem die Teile, die heute den ORG bilden, immer wieder im Gemeinderat unter Beschuss kamen, hat das Landschaftsamt 1993 von sich aus einen Leistungsvergleich mit privaten Anbietern angestrengt. Die Kosten wollte die Kmmerei nicht bernehmen, also hat man die 300.000 DM selbst erwirtschaftet. Zwei vergleichbare Reviere wurden einmal vom Landschaftsamt selbst, einmal von einem Privaten bearbeitet. Am Ende waren die Unterschiede deutlich: „Alles, was Massenwaren sind, was sie in Massen kriegen, wofr sie kein qualifiziertes Personal kriegen, kann ein Unternehmer und wird ein Privatanbieter immer billiger machen. Aber immer nur im Detail. Und da wo sie qualifiziertes Fachpersonal haben, was wir im Gegensatz zur Struktur, die sie im privaten Betrieb heute draußen angucken, da haben sie ganz wenig gelernte Leute und sehr viele Hilfskrfte, ungelerntes, angelerntes Personal. Wir haben in der Struktur hier ber 60% gelerntes Personal. Wir haben unsere Strken da, wo ich fachlich fundierte Arbeit brauche und sie springerhaft im ganzen Stadtgebiet einsetze, und da wo wir jetzt hoheitliche Aufgaben haben wie Baumkontrolle, wo eine gesetzliche Vorgabe ist oder Kontrolle der Spielgerte, wo ich dann auch das Fachpersonal brauche.“
Die Initiative – so die Wahrnehmung der Umstrukturierung im Landschaftsamt – ging vom Amt selbst aus, denn die Kmmerei habe diesen allgemeinen Trend am Anfang gar nicht in seiner Gnze erfasst. Als dann 1994 die erste Arbeitsgruppe stadtweit zur Vorbereitung erster Schritte in Richtung Restrukturierung eingesetzt wurde, da waren die Landschaftsgrtner sofort mit dabei, denn „wenn man nicht selbst macht, dann machen die ja fr uns“. Fr den dann entstandenen ORG reklamiert das Landschaftsamt in Abgrenzung zu den Privatbetrieben, dass dieser „fachlich“ und von „Fachleuten“ geprgt sei. Alles wrde offen besprochen, gut vorbereitet, optimal geplant und bei Problemen sofort neu angepasst. Zentral sei, dass der ORG „rational“ geplant und „variabel“ sei. Ziel und Instrument sei es, „wirtschaftlich“ zu sein. Dabei spielt die Kosten-Leistungsrechnung als eine Eigenentwicklung eines Mitarbeiters des Landschaftsamtes eine gewichtige Rolle: Die eigenen Strken werden in Zahlen gegenber Kmmerei und Gemeinderat dokumentiert. Die Entscheidungen ber Eigenleistung oder Fremdvergabe werden numerisch begrndet. Wichtig ist auch eine weitere Differenz zur Privatwirtschaft: Da der ORG ein Fachbetrieb ist, der Fachkrfte fr ganzheitliche und hochqualifizierte Aufgaben bereit hlt, sind alle festangestellt und es wird ausgebildet, so dass das notwendige Fach-
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personal nachwachsen kann; jede Kolonne muss ca. 110 Einzelleistungen bereithalten; die Einsatzplanung ist so rational, dass keine Ressourcen verschwendet werden und so wirtschaftlich, dass vormals fremdvergebene Aufgaben wieder selbst bernommen werden; die Einsparungen werden reinvestiert in die Leistungszulagen, denn das Personal ist die zentrale Grundlage des ORG, und in bessere Sachmittel, was wiederum die Voraussetzung fr weitere Rationalisierungen bildet. Man ist als Fachbetrieb wirtschaftlich und das gelingt nur als ffentlicher ‚Betrieb’– so knnte man die Aussagen des Landschaftsamtes zusammenfassen. Herausgekommen ist bei dieser Zielvielfalt, unterschiedlichen Sichtweisen und differierenden Grndungsgeschichten der „Optimierte Regiebetrieb Gartenbau“. Fr Außenstehende mag ein Begriff wie „Optimierter Regiebetrieb“ sperrig anmuten, in Kommunen gehrt er zu den traditionsreichen Einrichtungen. Seit den 1920er Jahren gibt es Regiebetriebe als in sich abgeschlossene Organisationsform fr die kommunale wirtschaftliche Bettigung, ohne dass eine eigenstndige Organisationsform geschaffen wrde. Regiebetriebe sind nicht selbststndig, leitungsbefugt ist der Brgermeister, der diese Aufgabe in der Regel delegiert, sie sind Teil des Haushaltes und die Kommune haftet voll. Betrachtete man die ‚Grndungsgeschichten‘ wird schnell klar, warum diese tradierte Form fr die aktuellen Anforderungen und Ziele die geeignete schien. Eine Ausgrndung oder Privatisierung htte nicht alle Interessen bedient, wohingegen ein Regiebetrieb versprach, einerseits gengend Spielrume fr ein Pilotprojekt zu geben, andererseits gengend Anbindung an die Kommune zu sichern und gleichzeitig ganz im Sinne der DRV – und damit ebenso funktional – fr seine Kosten selbst verantwortlich zu sein. Ein ORG schien fr alle Beteiligten von Nutzen. Ganz im Sinne der eingangs gemachten Bemerkungen zum kognitiven Filter und zu Weicks berlegungen zum ‚sensemaking‘ lsst sich hier zeigen, wie die Entstehung und Wahl des fr die Stadt neuen ORG identittsstiftend wirkt und zwar retrospektiv: Es kommt damit nicht zu einem Bruch und damit einer Abwertung des bisherigen Verwaltungshandelns, sondern die Reorganisation erscheint als Strkung der Strken und lsst rckwirkend eine Sichtweise aller Beteiligter in der Stadt auf sich selbst als Suchende und aktiv Gestaltende zu, als die sie sich schon immer beschrieben haben. Als Zwischenergebnis ist Folgendes wichtig: Die unterschiedlichen Begriffe stehen fr unterschiedliche Konzepte, Ziele, Motive. Gleiche Begriffe wie z. B. „wirtschaftlich“ werden unterschiedlich interpretiert. Im Material fand sich kaum Vokabular aus der Reformdebatte, sondern eher alltagssprachliche bersetzungen dessen. Das wichtigste Zwischenergebnis aber ist, dass die Unterschiede offenkundig der gemeinsamen Entscheidung, Planung und Umsetzung des ORG nicht im Weg standen. Man kann hier sogar noch einen Schritt weitergehen: Der Fall ist ein Beispiel dafr, dass es keine identischen bersetzungen braucht, um handlungsfhig zu sein, sondern im Gegenteil die unterschiedlichen bersetzungen dazu fhrten, dass
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alle Beteiligten ihre Interessen einbringen konnten und glaubten, man befinde sich mit dem ORG in einer win-win-Situation, was den Prozess der Lsungsfindung und Einrichtung des ORG auf den Weg gebracht hat46. Der Prozess zeigt sich hier von seiner definitionsoffenen Seite, ist aber wegen der Rationalittskriterien des neuen Leitbildes und der Systemgeschichte der Stadt nicht beliebig. Das Leitbild zu Effizienz aus der Reformdebatte hat – wie schon im ersten Teil erlutert – eine Korridorfunktion. Man kann diese jetzt noch erweitern: Es kann nicht nur als Korridor synchronisierend und orientierend wirken, sondern auch wie ein Vexierbild, in dem viele unterschiedliche Vorstellungen aufgehoben sind. Mit dem ORG ist auch ein gemeinsames neues Handlungssystem mit neuen Verfahren und Prozeduren entstanden. Das Funktionieren des Handlungssystems und der Spiele darin ist ganz im Crozier/Friedbergschen Sinne ebenfalls nicht auf identische Ziele und Strategien angewiesen ist, sondern ‚lebt’ im Gegenteil von den Differenzen. Die Tatsache, dass der Prozess der Reorganisation des ORG nicht an den Unterschieden scheitert, sondern diese geradezu braucht, heißt aber mitnichten, dass damit das Ende der Geschichte gekommen wre und man sich mit dem ORG bereits auf ein neues stabiles System eingependelt htte.
Der ORG als neues Handlungssystem – in zwei Akten Die Realisierung der DRV durch den ORG fhrte innerhalb des ORG wie auch fr dessen Außenverhltnisse zu neuen Spielen und Spielregeln mit vernderten Spielrumen und Handlungsmglichkeiten. Das so entstandene neue Handlungssystem ermglicht nun wiederum seinerseits den Beteiligten, bestimmte Spiele zu spielen und Strategien zur Durchsetzung der je eigenen Interessen und Motive zu verfolgen. Innerhalb des ORG wurden beispielsweise die Entscheidungskompetenzen auf allen organisationalen Ebenen neu verteilt und alle Akteure erhielten neue Rollen. Der Amtsleiter des Landschaftsamtes ist als Fachaufsicht nicht mehr unmittelbar weisungsberechtigt. Der Betriebsleiter bildet mit den Meistern und Vorarbeitern ein Koordinierungsteam. Die drei ehemals getrennten Bereiche mssen nun untereinander knapper werdendes Personal, Maschinen, Material und den Einkauf verhandeln, was vor allem fr die Meister ein neuer Aufgabenbereich ist. Die Kolonnen haben grtnerische und arbeitsorganisatorische Gestaltungsfreiheiten. In den Kolonnen mssen die Vorarbeiter – und nicht mehr die Meister – die Einsatzplanung, 46
Mit dem vorliegenden Beispiel lsst sich dann auch grundstzliche Kritik an berlegungen zu organisationalem Wandel formulieren, bei dem davon ausgegangen wird, dass nur ein kohrentes Leitbild Wandel anzuleiten vermag. Siehe fr andere Bleicher 1999.
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die Arbeitszeit und die Leistungszulage regeln. Die Mitarbeiter sind gefordert, mitzudenken und sich zu engagieren. Das Motto des neuen Handlungssystems knnte man so zusammenfassen: „Ab heute bist du wieder verantwortlich dafr, was du tust“. Und das bedeutet: „Das ist Umdenken fr die Leitung. Dass sie pltzlich von unten Druck kriegen“, denn „der letzte Mann, der an der Schubkarre schiebt, der muss wissen, warum er sie schiebt und muss auch hinterfragen drfen“, und dazu „bracht man Geduld, mit sich selber, man braucht Verstndnis, man muss sehr viel Zeit, zum Rberbringen, um Mitarbeiter zu informieren. Denn das Wichtigste ist eines: frhzeitig erkennen, wo es ein Problemfall gibt, den analysieren, und dann auch offen damit umgehen“. Dazu gibt es „regelmßig jeden Montag dieses Arbeitsteamgesprch, und da wird entschieden. An dem Montag. Da sind die Meister dabei und die Personalvertreter. Und dann haben wir regelmßig freitags Vorarbeitergesprch. Da wird geklrt, was ist gelaufen, was war falsch. Und dann haben wir gleich Montag das nchste Gesprch. Da halten wir nicht lang hinterm Berg, es geht sehr schnell, und wenn wir Personalprobleme haben, die werden gleich geregelt. Dann kommt er her und dann wird geredet, warum wurde dieses blockiert“. Insgesamt – so die eigene Darstellung des ORG – ist ein optimales neues Handlungssystem entstanden, dessen Hauptregel Offenheit und Rationalitt heißt. Auch das Verhltnis zu den Querschnittsmtern und zum Gemeinderat hat sich verndert: „Das wird nicht von oben mehr diktiert. (...) Der politische Einfluss ist ja auch bedeutend weniger geworden bei uns. Denn die Gemeinderte und alle ja, die haben ja das Modell mitunterschrieben. Und das sprt man deutlich“. Einzelwnsche von Gemeinderatsmitgliedern werden nicht mehr an den ORG gerichtet, sondern der ORG bearbeitet seine vereinbarten Ziele auf die Art und Weise, die im ORG als die rationalste gilt. Ein Lenkungsausschuss wurde als Arena fr die Begleitung der Reorganisation und Ort fr regelmßige und „unbrokratische“ Aushandlungen zwischen ORG und den Querschnittsmtern konzipiert. Eine große Vernderung bedeutet auch, dass der ORG budgetiert ist und die Einsparungen zum Teil im ORG zur Verfgung stehen. Damit war der ORG erstmalig aus seiner fr die Kommunen strukturellen Bittstellerposition gegenber den Querschnittsmtern entkommen und kann eigenstndige Entscheidungen treffen. Soweit die Darstellung des ORG selbst, die sich weitgehend mit denen der Querschnittsmter treffen. Hier wurde in den Interviews v.a. die Eigenstndigkeit des ORG in allen wirtschaftlichen Belangen betont: „Der ORG ist fr uns also eine Einheit, die so ziemlich selbststndig ist. Wenn der Haushalt einmal verabschiedet ist, dann wissen die, was sie tun sollen und da haben wir dann auch nichts mehr“. Keine zwei Jahre spter sieht die Welt allerdings anders aus. Ein letztes Interview mit dem ORG (13.6.2002) zeigt deutlich wieder Vernderungen des Handlungssystems, was auch den bersetzungen und Wahrnehmungen im Nachhinein noch ein-
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mal einen anderen eher pessimistischen Zungenschlag verpasst. Diese Negativerfahrungen sind ein gutes Material fr weitere Aussagen ber das Verhltnis von Leitbild und organisationalem Wandel. Die Grtner stehen 2002 wie die Zauberlehrlinge vor den Folgen und Zwngen der eigens eingerichteten Strukturen. Sie sind konfrontiert mit permanenter Leistungsverdichtung, stndig schrumpfenden Budgets und nach der Anfangsbegeisterung erschpften Kollegen. Die Dynamiken der Rationalisierung – einmal justiert – stoppen nicht automatisch. Der Hinweis von Seiten des ORG, dass es „jetzt genug“ sei und die Betonung, dass nach diesen Anstrengungen doch mal eine Phase der Konsolidierung eingetreten muss, msste aber frmlich gegen die Rationalisierungsdynamik und gegen die Rationalittskriterien des Leitbildes beschlossen werden. Den Beschluss kann aber der ORG trotz Dezentraler Ressourcenverantwortung nicht alleine fllen, sondern er ist als Teil der Kommune den kollektiven Willensbildungsprozessen und Machtverhltnissen ausgesetzt. Seine Interessen und Strategien kann er immer nur im Verhltnis zu anderen durchsetzen – in diesem Fall in Aushandlungen mit Kmmerei und Organisations- und Personalamt. Diese beiden haben aber berhaupt kein Interesse an einem sich verlangsamenden Prozess in ihrem Vorzeigebereich und werten die Reklamationen von Seiten des ORG als „Jammern“. Der ORG ist fr sie „ein kostengnstig produzierender Teil der Kommunalverwaltung“ und so soll es auch bleiben. hnliches widerfhrt dem ORG auch an anderer Stelle: Das Budget des ORG ist durch verschiedenen Hauhaltsfußnoten inhaltlich belegt und somit bleiben dem ORG nur ca. 10% seiner Sachmittel zur freien Verfgung. Die Belegungen beschließt die Kmmerei. Und das aus ‚gutem Grund’: Neues Spielgert fr die Kinderspielpltze oder die Grnflchenreinigung drfen nicht frei gekauft werden, sondern mssen von stadteigenen Werksttten fr sozial Benachteiligte bezogen werden. Beides ist nach Ansicht des ORG teuer und qualitativ schlechter. Und ein Skandal, da das Vorgehen der Kmmerei die DRV mit Fßen tritt. Die Folgekosten dieser Entscheidungen mssen dann aber wieder der ORG, nicht die Stadt als solche verantworten. Ein weiteres Beispiel hnlicher Art ist die Tatsache, dass der Vermgenshaushalt bislang nicht in die DRV einbezogen wurde und die Kmmerei auch Anstrengungen in diese Richtung weit von sich weist, was dazu fhrt, dass der ORG fr große Anschaffungen wie Fahrzeuge wieder die Kmmerei bitten muss und nicht selbstndig entscheiden kann. Da die Kmmerei sparen muss, ist deren Entscheidung gegen Neuanschaffungen nur rational: Neuanschaffungen belasten den stdtischen Haushalt; die Reparaturkosten an den Fahrzeugen dagegen das Budget des ORG. Und auch die Praxis, die bertrge der wirtschaftlichen Teile der Kommune bei 10% zu deckeln und damit die darber anfallenden Gelder aus diesen Bereichen in den allgemeinen Haushalt zu berfhren, wenn große Investitionen wie ein neuer Gemeinderatssaal anstehen, widerspricht ‚eigentlich‘ der DRV.
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In solchen Konfliktflle treten die unterschiedlichen bersetzungen und die unterschiedlichen Interpretation von gleichen Schlsselworten deutlich zu Tage: Der ORG reklamiert „Wirtschaftlichkeit“, wenn er das beste und auf Dauer kostengnstigste Spielgert kaufen will; die Kmmerei meint „Wirtschaftlichkeit“ im Blick zu haben, wenn sie darauf besteht, dass sich die stdtische Investition in eine Werkstatt fr benachteiligte Jugendliche im Gesamt amortisieren soll. Was wirtschaftlich ist, kommt auf die Perspektive an. Und obwohl der ORG bezglich der DRV die schlssigere Interpretationen anzubieten hat, setzen sich diese nicht von alleine durch. Das Gegenteil passiert: Mal mssen sie handeln ‚wie ein Betrieb‘, mal drfen sie nicht. Was man hier beobachten kann, ist, dass im neu entstandenen Handlungssystem die tradierten asymmetrischen Machtverhltnisse transportiert wurden und keineswegs außer Kraft sind: Die Querschnittsmter sind und bleiben schlicht definitionsmchtiger als der ORG. Beide ‚Parteien’ knnen ihre Interessen nicht gleichermaßen durchsetzen und die mglichen Strategien erweisen sich im vorliegenden Fall gerade nicht daran, ob sie nun leitbildkonform, zielangemessen oder legitim sind, sondern an den Machtverhltnissen. Wobei diese nicht statisch sind, sondern – wie der zweite Akt der Geschichte zeigt – durch die Spielerqualitt der Querschnittsmter und des ORG im neuen Handlungssystem reproduziert und verndert werden: Der ORG kann seine Handlungsmglichkeiten nicht auf Dauer stellen, denn er argumentiert aus der Sache heraus in der Hoffnung darauf, dass alle Akteure die guten Grnde einsehen mssen. In den Spielen geht er von der seit jeher strkeren Position der Kmmerei aus: „Theoretisch soll das so klappen mit der DRV. Praktisch klappt das aber so nicht. Aber die Kmmerei und das Personal- und Organisationsamt steuern doch letztlich alles. So wie frher. Der Haushaltsansatz ist die Basis, und das Rechnungsergebnis, minus die allgemeine Einsparung. Und dann kann ich sehen wie ich es umsetze. Und daran habe ich nix zu sagen.“ Damit agiert der ORG , als ob es keinen ORG gbe: Weder schaltet er die fr solche Flle eigens eingerichtete Lenkungsgruppe ein. Noch besteht er auf die neuen Regeln der DRV oder kmpft fr deren Verbesserung. Er reklamiert, doch die richtigen, weil rationalen Argumente auf seiner Seite zu haben und adressiert nur die Querschnittsmter, doch inhaltlich endlich das einzuhalten und umzusetzen, was mit der DRV versprochen war: „Das Konzept wre zukunftsfhig, wenn man endlich mal beginnen wrde, den ORG auszuwerten. Vieles ist positiv gelaufen, einiges ist negativ gelaufen, diese Erfahrungen knnen wir nicht umsetzen. Wir mssten uns hinsetzen und sagen, so, was ist gut, was mssen wir verndern, das passiert nicht. Und warum soll man das ganze dann weitermachen. Und die Frage stellt halt dann jeder. Aber das schafft die Stadt nicht. ndern, das schafft die Stadt nicht, das ist utopisch darber nachzudenken“. Mit seiner passiven Haltung setzt er den Strategien der Querschnittsmter nichts entgegen, die in diesem neuen Mix aus den Elementen der
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DRV und Elementen des alten kommunalen Handlungssystems und Haushaltswesens frei agieren. Hierin besttigen sich ein weiteres Mal die Machverhltnisse: Der ORG muss nicht nur erfolgreich sein, er muss dies auch noch mit Verweis auf ein stringentes und kommunizierbares Konzept. Die Querschnittsmter definieren situationsadquat um. Fr den ORG stellt das neueste Handlungssystem eine Situation dar, in der viele Errungenschaften wieder sukzessive zurckgedreht werden. Um ein Beispiel zu geben: War es zu Beginn des Pilotprojektes hochattraktiv fr den ORG Einsparungen vorzunehmen, so wre dies mit der jngsten Praxis vllig irrational. Rational wre jetzt, das gesamte Budget wie frher auszugeben. Es kann sogar dazu fhren, dass man nach all den Anstrengungen wieder am Anfang zu steht: „Gut, dem gesamtstdtischen Interesse stehe ich damit (mit den nur auf den ORG beschrnkten Wirtschaftlichkeitsberechnungen, S.G.) dagegen. Aber ich werde mit einem Privaten verglichen. Aber ich darf nicht wie ein Privater handeln. Kein Unternehmer hlt sich ein unwirtschaftliches Gebude. Aber das Problem liegt bei mir, ich muss Wirtschaftlichkeit nachweisen, meine Teile mssen mit all diesen Belastungen und mssen dem Druck, der von außen reinkommt durch den Preisdruck, den die Firmen draußen fhren, mit dem muss ich leben. Wenn ich ab jetzt nur noch auf Null stehe beim Vergleich und keinen Gewinn mehr mache, dann heißt es von der Kmmerei, dann mssen wir privatisieren. Und dasselbe passiert mir halt immer wieder. Und wenn ich das sowieso muss, fr was soll ich mich dann anstrengen?“ Trotzdem bleibt es spannend, wie die weiteren Akte gespielt werden. Denn auch die Querschnittsmter haben ein großes Interesse, dass ihr Vorzeigeprojekt nicht scheitert. Und das erffnet dann wieder ganz neue Optionen fr weitere Vernderungen.
Leitbild und organisationaler Wandel Vieles wurde bereits gesagt; ich will hier auf Weniges deutlich verweisen: Das Verhltnis von Leitbildern, die berorganisational und in vielfltigen Reformdebatten entstanden sind, und organisationalem Wandel, ist ein ußerst komplexer und widerspruchsvoller Prozess. Das Beispiel zeigte, wie stark vermittelt ein Leitbild berhaupt mit der Entstehung eines neuen organisationalen Systems zusammenhngt, selbst, wenn es sich auf den ersten Blick um gleiche Begriffe, Schlsselworte, Probleme, Konzepte handelt. Die hier aus linguistischen und organisationssoziologischen Anstzen kombinierte Analyse ergnzt beide wechselseitig und richtet den Blick auf die spezifischen und konkreten Begriffe und Schlsselworte, die je gruppenspezifischen „bersetzungen“ einerseits und das konkrete „Handlungssystem“ andererseits. So wird eine Sichtweise auf Leitbilder und organisationalen Wandel jenseits
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deterministischer oder voluntaristischer Verkrzungen mglich. Und es wird deutlich, welche Funktion und Wirkung Leitbilder im Prozess des Wandels als kollektiven, interaktiven und kontextabhngigen und damit systemischen Vorgang haben: Sie wirken durch die Rationalittskriterien als Korridor fr die Wahrnehmungen und als Ressource fr die Spiele um eine neues Handlungssystem. Und umgekehrt kann man sehen, dass und wie im Handlungssystem die Leitbilder von den dortigen Akteure verndert und damit konkret hervorgebracht werden. Dieser doppelte Prozess geschieht im Rahmen der organisationalen Machtverhltnisse. Auch diese knnen damit verndert werden; sie knnen aber auch bloß reproduziert werden. Das Beispiel zeigt, dass dies auch geschehen kann, wenn es ‚eigentlich‘ nicht zum Leitbild bzw. zum in der Kommune spezifizierten Konzept passt. Ob man mit einem kollektiven Einschwingen auf eine bersetzung diese Differenzen ‚wegzukommunizieren‘ knnte, ist hchst fraglich. Denn was bezglich des Leitbildes normativ als ‚Problem‘ zu markieren wre, muss von der Warte der Akteure und des Systems aus betrachtet, kein Problem, sondern nur das neue Handlungssystem mit konkreten Strategien sein. Bis zur nchsten Runde.
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Susan Geideck
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Sinnformeln crosskulturell
Andreas Musolff
Metaphor scenarios in political discourse in Britain and Germany1 1. Introduction Cognitive metaphor theory – as it has been developed since Lakoff ’s and Johnson’s classic Metaphors we live by – has highlighted the conceptual function of metaphor by providing evidence of cognitive domain-mapping systems that make up our universe of experiences. Is this conceptual function also of relevance with regard to public political debates? Lakoff and Johnson’s answer is an emphatic “Yes”: Metaphors may create realities for us, especially social realities. A metaphor may thus be a guide for future action. Such actions will, of course, fit the metaphor. This will, in turn, reinforce the power of the metaphor to make experience coherent. In this sense metaphors can be self-fulfilling prophecies. (Lakoff/Johnson 1980, 156)
Lakoff himself and others have produced a number of empirical case-studies of the role metaphors play in politics.2 In many of these studies, however, we find a tension between strong general claims such as the one quoted above, suggesting that metaphor sources ‘guide’ social and political practice up to the point of acting as self-fulfilling prophecies, and empirical findings that reveal a “wide variety of possible entailments” of individual source domains, offering “scope for debate and controversy” (Schffner 1996, 56). If one source domain can be used to argue for or against specific political positions, its ‘guiding’ force is at least questionable. How, then, can we determine the specific role that metaphors play in political conceptbuilding and public discourse? One solution to this question would seem to lie in comparative analyses of metaphors in different political and/or cultural contexts, i.e. in specific discourse communities. Such a comparison could show, ideally, which metaphor concepts are predominantly used in a discourse community, and this could be interpreted as evidence that they are typical for that community. However, unless we compare strongly contrasting cultures, we often find similar metaphorical mappings in di-
1
2
Research for this article was supported by the Arts and Humanities Research Board of Great Britain. I wish to thank Susan Geideck and Andreas Liebert for constructive comments that enabled me to revise the paper. Any remaining errors are, of course, my own responsibility. Cf. e.g. Lakoff 1992, 1996, 2001; Chilton and Lakoff 1995; Chilton and Ilyin 1993; Schffner 1996; Dirven, Frank and Ilie 2001, Zinken (forthcoming). For an analysis of the relationship between the cognitive metaphor-model and argument/“topos”-theory cf. Pielenz 1993.
260
Andreas Musolff
verse languages and national discourse communities, as a number of comparative typological studies have shown (Kvecses 2002, 163 – 197). Within the Western cultural tradition, allegories of a nation-society/state as a FAMILY, a HUMAN BODY or a COMMUNAL MEANS OF TRANSPORT (such as a SHIP) can be found, for instance, in the writings of ancient Greek philosophers as well as in modern European and US political discourses.3 We thus have to go beyond the level of ‘global’ domain-mappings in order to find out if there are significant differences in the ways metaphor sources are used in the debates of specific discourse communities. This also means taking into account the argumentative function of the source-target mapping, which is characteristic for public political discourse.
2. Metaphor domains in British and German Public Discourse 2.1 Identification of metaphor domains and scenarios in a discourse corpus In order to base the analysis on a representative data collection rather than on isolated examples, a corpus of texts has been built up that comprises some 2200 metaphorical passages, drawn from the British and German press coverage of political decisions and developments concerning the European Union over the period 1989 – 2000.4 The passages are drawn from 28 (fourteen on each national side) British and German broad-sheet newspapers and general political magazines, broadly spanning the Euro-political spectrum.5 The two national publics share many discourse traditions including metaphor domains, due to intensive cultural, economic and political contact. However, as regards public attitudes to the prospect of an economically and politically integrated European Union, they differ strongly. The West German state always saw (West) European integration as a way out of the aftermath of the national catastrophe of 1945 and thus was not only among the founder members of the “European Economic Community” but has been an advo3
4
5
For the FAMILY metaphor tradition cf. Lakoff 1996 and Musolff 2001, for the BODY POLITIC tradition cf. Hale 1971 and Sontag 1991, for the analogy of SHIP-CREW-CAPTAIN and STATE-CITIZENS-RULER cf. Musolff 2000b. The construction of this corpus was part of a project on Attitudes towards Europe, which has been conducted by research teams at the University of Durham and the Institut fr Deutsche Sprache in Mannheim, from 1998 to 2002 (cf. Musolff, Good, Points and Wittlinger 2001). A pilot version of the corpus, called EUROMETA, is freely accessible at http://www.dur.ac.uk/SMEL/depts/german/Arcindex/htm. Tabloid newspapers such as Sun or BILD-ZEITUNG have been consulted but seem to present no metaphor data different from those in broad-sheets, except for more strongly emotive exploitation of metaphors used in national stereotyping, e.g. in interpretations of German policy in terms of W.W.II military terminology or sports jargon (cf. Musolff 2000a, 163 – 200; Mautner 2001).
Metaphor scenarios in political discourse in Britain and Germany
261
cate of most integration and enlargement moves since the 1950s.6 The United Kingdom, on the other hand, joined the EEC only in 1973, and has acquired since then, under changing governments, a reputation of being an “awkward partner”, on account of its continued resistance against further integration moves, culminating in the “opt-out” policies of the early 1990s, which exempted it from common social legislature and the project of a common currency.7 Even though the post-1997 Labour government under Tony Blair reversed some of the Euro-antagonistic policies as well as the official rhetoric, issues such as further political integration and adoption of the common currency “euro” have remained unpopular and are seen as a betrayal of national interests in parts of the Conservative party as well as in the Eurosceptical press (e.g. THE SUN, THE TIMES, THE DAILY TELEGRAPH, THE DAILY MAIL).8 If metaphors in political discourse can at all be expected to reflect – and perhaps: ‘guide’ – the views and attitudes that different national publics hold towards a mutually relevant issue, the imagery of EU-related debates in Britain and Germany certainly qualifies as a good test-case for discourse comparison. For the present study, metaphors from the source domain of WAY-MOVEMENT-SPEED have been selected. This source domain is among the most fundamental metaphor systems for the conceptualisation of temporal and abstract relations including political processes,9 and it can be found in most texts discussing the political development of the European Union. It permeates, for instance, the speech on “The Finality of the European Union”, which the German Foreign Minister, Joschka Fischer, gave at the Humboldt University of Berlin in May 2000. According to Fischer, the historical challenge for the European Union at the start of the new millennium could be formulated as the question: “Quo vadis Europa” – which way will you go, Europe? 10 His own answer to that question was: “onwards to the completion of European integration” – for any “step backwards, even just a standstill or contentment with what has been achieved would demand a fatal price of all EU member states and of all those who want to become members”. If not all present member states were prepared “to take the leap into full integration”, Fischer argued, an “avant-garde comprising a few members states” should “push ahead with political integration”. Fischer’s argument in favour of a European avant-garde caught the commentators’ attention in both Britain and Germany. Thus, THE DAILY TELE6 7 8 9 10
Cf. Grosser 1998, Jung and Wengeler 1995, Kmper 2001, Schoch 1992. For Britain’s special position vis-a-vis the EC cf. e.g. George 1994, Young 1998, Baker and Seawright 1998, Mautner 2001, Wittlinger 2001. Cf. e.g. Atkinson 1996, Redwood 1999; for analyses cf. Buruma 1995, Teubert 2001. Cf. Lakoff/Johnson 1999, 137 – 234; Kvecses 2001, 134 – 138, Klein 2002. These and the following quotations are taken from the official English version of the speech, which can be accessed at the Internet web site http://www.auswaertiges-amt.de (= Fischer 2000); italicisation of WAY-MOVEMENT-SPEED imagery by AM.
262
Andreas Musolff
GRAPH (1/6/2000) saw an imminent danger of a “splitting of Europe into slow and fast lanes”, and THE INDEPENDENT (27/6/2000) spoke of “British fears” that “a sleek new Union would leave [the] UK behind”. The German weekly DIE ZEIT (18/5/2000) also linked Fischer’s speech to the concept of a two-speed Europe; however, in stark contrast to the British papers, DIE ZEIT used the two-speed concept as a back-up argument for an endorsement of Fischer’s plans. In their opinion, the minister had ‘thought through the full implications of the tried and tested concept of a Europe of different speeds’.11 These contrasting interpretations of Fischer’s speech are indicative of the strength of a metaphorical mapping which, judging from the corpus-evidence, can be said to have dominated the national and international debates about the EU in the British and German public over the 1990s, i.e. the analogy between the member states’ commitment to further political and economic integration and DIFFERENT SPEEDS OF MOVEMENT TOWARDS A COMMON GOAL. The corpus contains 426 passages, 213 each for the German and British samples, in which this mapping is present in the form of SPEED COMPARISONS or characterisations of states as TRAVELLERS or VEHICLES MOVING ALONG A PATH.12 The main conceptual elements of this domain are listed in Table 1 and their corpus frequencies in Table 2. Conceptual elements
English lexical items
German lexical items
WAY, PATH
path, way, road, lane, track, course
Weg, Kurs, Route, Marschrichtung Einbahnstraße
ONE-WAY-STREET CUL-DE-SAC
cul-de-sac
Sackgasse
CROSSROADS
crossroads
Kreuzung, Scheideweg
DISTANCE SIGN
milestone, staging post, point where you cannot go back
Meilenstein
OBSTACLE
obstacle, stumbling block
Hindernis(se)
Table 1: Conceptual elements of the WAY-MOVEMENT-SPEED domain:
11 12
Cf. DIE ZEIT, 18/5/2000: “[...] Fischer hat [...] den alten Gedanken und die bewhrte Praxis eines ‘Europas der verschiedenen Geschwindigkeiten’ zu Ende gedacht [...]”. This corpus section does not include references to currency movements, e.g. of the “euro” currency; for a comparative analysis of metaphors applied to financial policy concerning the “euro” in Britain and Germany cf. Charteris-Black and Musolff 2003.
263
Metaphor scenarios in political discourse in Britain and Germany
(FAST, SLOW) SPEED, TWO-/MULTI-SPEED EUROPE
fast(er/est), slow(er/est), sluggard, laggard, two-/three-/multi-/many speed Europe
langsam(st/er), schnell(st/er), Tempo, Takt, Nachzgler Europa der zwei/drei/ mehreren/ verschiedenen Geschwindigkeiten
TIMETABLE
timetable
Fahrplan
TICKET
ticket
Fahrschein
TRAIN JOURNEY
(euro-)train, gravy train, locomotive, derail(ment), (train) station, platform, fat controller
(Euro(pa)-)Zug, Lokomotive, Weichen stellen, Bahnhof, Warte-/Hauptgleis, entgleisen, Notbremsung, abkoppeln, Waggon
MARITIME JOURNEY
ship, boat, on board, ocean liner, drag anchor, ship wreck, Titanic fleet, flotilla, washing in the lee, convoy
Schiff, Boot, Dampfer, Seelenverkufer, Reling, Brcke, Supertanker, Rettungsanker, Schiffbruch, Titanic, Geleitzug
MOTOR
motor, engine
Motor
CAR JOURNEY
car, bus, Jaguar, Mercedes, formula One engine, bulldozer, juggernaut, change of gear, driving seat, autobahn, pit stop,
Mercedes, Blechschaden, gegen die Wand fahren, Pannenhelfer
STEP
step (forward/backward) Schritt, Riesenschritt [not including the phrasal [not including lexicalised verb step up] noun Fortschritt (= ‘progress’)]
BICYCLE TRAVEL
bicycle, tandem
Fahrrad, Tandem
AIR/SPACE TRAVEL
plane, take-off, mission control
Punktlandung
Table2:Tokensforconceptualelementsofthe WAY-MOVEMENT-SPEEDdomainin orderof frequency:13
13
Tokens are all occurrences of conceptual source elements (types) in the corpus texts. As tokens for different concept elements co-occur in some passages, overall figures for tokens are higher than those for passages.
264 Conceptual elements
Andreas Musolff
no. of English tokens
150 (FAST, SLOW) SPEED, T WO-/ MULTI- SPEED EU -
no. of German overall no. of tokens tokens 72
222
ROPE
TRAIN JOURNEY
39
53
92
WAY, PATH
48
41
89
MARITIME JOURNEY
28
28
56
9
31
40
CAR JOURNEY
29
6
34
STEP
10
13
23
BICYCLE TRAVEL
5
12
17
AIR/SPACE TRAVEL
4
10
14
TIMETABLE
5
6
11
DISTANCE SIGN
6
3
9
OBSTACLE
6
2
8
CROSSROADS
5
2
7
CUL-DE-SAC
2
3
5
TICKET
1
1
2
1
1
283
629
MOTOR
ONE-WAY-STREET TOTAL
346
Tables 1 and 2 show that similar metaphor sources are used in both the British and German public discourse not just at the general level of the WAY-MOVEMENTSPEED domain but also as regards individual conceptual elements (with the odd exception of the ONE-WAY-STREET). There are differences in the relative frequency of some elements but they are not significant enough to be interpreted as being characteristic of one or the other discourse community. It is thus clearly not at the level of conceptual domains and their elements as such that political differences become manifest. Rather, we have to look at the evaluative and argumentative conclusions that speakers draw from the respective metaphor sources. As the example of Fischer’s speech already shows, such argumentative conclusions tend to be associated less with individual concept elements than with whole ‘scenes’
Metaphor scenarios in political discourse in Britain and Germany
265
and ‘story-lines’ evoked by combinations of them, e.g. the vision of fast political progress towards EU integration pursued by an avant-garde that may leave some EU member states temporarily (but not permanently) behind. This ‘Tale of TWO S PEED S ’ also formed the basis for the evaluations by the newspaper commentators. Following the terminology in Lakoff (1987), we call this intermediate level of concept clusters within a domain, to which political arguments can be attached, the “scenario” level. According to Lakoff, scenarios are “idealized cognitive models” (ICMs) with a relatively rich ontology, as compared to bare image-schemes or logical propositions. Scenarios are “structured by a SOURCE-PATH-GOAL schema in the time domain” and they consist “typically of people, things, properties, relations and propositions”; among the relations are “causal relations, identity relations” and a “purpose structure” (1987, 285 – 286).14 They thus provide, as it were, the main story-lines along which political conclusions are explicated and argued. The scenario category is particularly useful for the analysis of corpus data, because it allows us to determine which aspects of a metaphorical mapping dominate public discourse in a given topic area from the distribution patterns for domain elements and associated argument structures. Within the EUROMETA-corpus, the following scenarios can be identified as regards mappings based on the WAY-MOVEMENT-SPEED source domain: (1) A GROUP OF STATES CO-OPERATING IN A POLITICAL PROCESS ARE WALKING TOGETHER ALONG A PATH (cf. e.g. the domain elements STEPPING FORWARD or BACKWARD, PASSING MILESTONES, CHOOSING ROUTES AT CROSSROADS), (2) A GROUP OF STATES CO-OPERATING IN A POLITICAL PROCESS ARE PARTICIPANTS IN A TRAIN OR COACH JOURNEY (cf. e.g. LOCOMOTIVE, WAGONS, TRAIN DRIVER, TRAIN PASSENGER), (3) A GROUP OF STATES CO-OPERATING IN A POLITICAL PROCESS ARE PARTICIPANTS IN A MARITIME JOURNEY, either ON ONE SHIP or in a CONVOY (cf. e.g. PARTS OF A SHIP, CAPTAIN, HELMSMAN, SHIP PASSENGERS, INDIVIDUAL SHIPS), (4) A GROUP OF STATES CO-OPERATING IN A POLITICAL PROCESS ARE PARTICIPANTS IN A CAR JOURNEY (cf. e.g. MOTOR, CAR (-TYPE), BUS, COACH, DRIVER, PASSENGERS, MOTORWAY),
14
In the context of political argumentation and evaluation, emotive functions obviously also play a central role, which, however, is disregarded here, as the main focus of this study is on the argumentative conclusions. For a detailed analysis of the emotive aspects of metaphor scenarios in ecological debates cf. Liebert 2000, 80 – 84.
266
Andreas Musolff
(5) A GROUP OF STATES CO-OPERATING IN A POLITICAL PROCESS ARE PARTICIPANTS IN A BICYCLE JOURNEY (cf. e.g. RIDERS ON A TANDEM), (6) A GROUP OF STATES CO-OPERATING IN A POLITICAL PROCESS ARE PARTICIPANTS IN A JOURNEY BY AIR (cf. e.g. AREOPLANE, PILOT, LANDING). In the following analyses, we shall examine these scenarios for their political bias in highlighting certain presuppositions that can serve as argumentative “warrants” (Toulmin 1958) leading to specific evaluative conclusions. For instance, in the case of Fischer’s 2000 speech on EU integration quoted above, we can easily discern the scenario (1): A GROUP OF STATES CO-OPERATING IN A POLITICAL PROCESS ARE WALKING TOGETHER ALONG A PATH. In addition, we can discern a bias in favour of FAST PROGRESS. Thus, Fischer pleads for an avant-garde marching as quickly as possible towards the goal (= fully unified EU), while provisions are made to accommodate slower states that cannot or will not join the avant-garde now but may catch up later. British and German press comments on Fischer’s speech give, as we have seen, opposing evaluations but structurally they are based on the same scenario with the same bias – their main additions are the two phraseological labels that Fischer apparently sought to avoid, i.e. the slogans of a two speed Europe and of a Europe of fast and slow lanes.15
2.2 Roles and story-lines in WAY-MOVEMENT-SPEED scenarios The specific political evaluations that individual newspapers or journalists attach to the scenarios are not at the centre of this analysis. Instead, we shall focus on their source presuppositions. Source presuppositions are ‘assumed’ propositions within the source domain that are cognitively necessary to make sense of a particular metaphorical statement. Thus, any talk of (EU-political) speed differences evidently implies – as a presupposition – the notion of MOVEMENT.16 It is important to bear
15
16
The reasons for Fischer’s avoidance strategy regarding the formulae of a two-speed Europe and of slow/fast lanes relate to specific historical developments of international Euro-debates in the 1990s. Both formulations had already become prominent and highly contentious at the beginning of the 1990s in public discussions about the Maastricht Treaty and have been the object of frequent official denials since then (cf. Musolff 2000a, 25 – 38). Such implications have sometimes been treated as logically necessary “entailments” (Lakoff and Johnson 1980 and Lakoff 1987, 1993); however, this is theoretically problematic (as it assumes the operation of traditional truth-value logic on metaphors and corpus-based empirical findings rather highlight the logical unpredictability of metaphorical implications (for detailed theoretical analysis
267
Metaphor scenarios in political discourse in Britain and Germany
in mind that the source presuppositions have not been inferred from the source domains by way of a logical or ontological ‘derivation’ but are based on the corpus material. The first scenario (A GROUP OF STATES CO-OPERATING IN A POLITICAL PROCESS ARE WALKING TOGETHER ALONG A PATH), which covers the greatest numbers of tokens (cf. table 3 below), includes all references to EU states MOVING TOGETHER that do not specify a VEHICLE as a means of transport, e.g. WALKING, STAGGERING, LEAPING, as well as all general references to PATHS, MILESTONES, SPEED etc. The scenario does not, however, constitute a homogeneous set of roles and story-lines but comprises three sets of presupposed roles and story-lines: A) One set concerns the EU’s PROGRESS ALONG A SHARED PATH (this PROGRESS may be EASY/FAST or DIFFICULT/SLOW, depending on the (non-)occurrence of OBSTACLES). B) The second set concerns DIFFERENCES OF SPEED among the EU member states TRAVELLING ALONG THE COMMON PATH. C) A third, residual aspect is the concept of a nation NOT FOLLOWING THE PATH or even NOT BEING ON THE PATH. These aspects are summarised in Table 3 below (percentages are only calculated when token figures are significant): Presupposed scenario aspects (roles, relations, story-lines)
EU member states or EU institutions that fill role slots in scenarios
no. of tokens in English sample
no. of tokens in German sample
no. of tokens in both samples + percentages out of overall no. of tokens (= 204)
A) X IS THE PATH/ MILESTONE/ TIMETABLE FOR THE EU’S JOURNEY, cf. example (1)
X = EMU, political union, Maastricht Treaty, Amsterdam Treaty
17
12
29
14.2%
Table 3: General (WALKING) JOURNEY scenario aspects
of the logico-semantic problems cf. Stern 2000 and Leezenberg 2001; for the empirical side: Schffner 1996, Musolff 2000a).
268
Andreas Musolff
A.1) THE PATH FOR THE EU’S PROGRESS LIES OPEN/IS EASY TO FOLLOW/THE EU MAKES GOOD PROGRESS, cf. example (2)
7
15
22
10.8%
A.2) THE PATH FOR THE EU’S PROGRESS IS DIFFICULT TO FOLLOW/IS BLOCKED BY AN OBSTACLE/THE EU MAKES SLOW PROGRESS, cf. example (3)
11
16
27
13.3%
A.3) EU MEMBER STATES HAVE REACHED A CROSSROADS, cf. example (4)
6
2
8
3.9%
B) THE GROUP OF STATES PROCEEDS AT DIFFERENT SPEEDS
33
17
50
24.6%
B.1) STATE or INSTITUTION X = MAKING (TOO) FAST PROGRESS, cf. example (5)
X = GERMANY
15
2
17
8.3%
X = FRANCE
13
2
15
7.3%
X = EU
10
1
11
5.4%
2
6
8
3.9%
X = GB
5
1
6
2.9%
X = AUSTRIA
1
X = Core EU
17
1
B.2) STATE or INSTITUTION X = NOT MAKING FAST ENOUGH PROGRESS, cf. example (6)
X = GB
13
11
24
11.8%
X = EU
2
8
10
4.9%
3
3
1.5%
C) STATE or INSTITUTION X IS OFF THE EU PATH, cf. example (7)
X = GB
1
13
6.4%
17
X = GERMANY
12
Definitions of the EU core vary – usually they include France, Germany, Benelux (plus, in a few cases, Italy, Austria, Denmark). For the core-periphery imagery in Euro-debates cf. Schffner 1996, 52 – 56; Reeves 1996, 163 – 169.
Metaphor scenarios in political discourse in Britain and Germany
269
1. Die Staats- und Regierungschefs der zwlf Mitgliedstaaten haben am Wochenende in Rom die Marschroute fr die Intensivierung des europischen Einigungsprozesses festgelegt. (FRANKFURTER RUNDSCHAU, 17/12/1990)18 2. Blair [...] described the launch of the single currency as [...] the first step on the road towards building the long period of growth [...] (THE TIMES, 16/6/1998). 3. Britain still viewed as a stumbling block in Europe. (headline; THE GUARDIAN, 6/7/ 1995) 4. Deutsche und Briten an der Kreuzung Europa [...] Nicht wenige meinen, sie stnden bereits dort, und es wrde nicht wundern, wenn sich ihre Wege trennten. (DIE WELT, 19/ 10/1996) 5. A single currency area needs big transfers of cash from the richer to the poorer areas. [...] Britain is right to stay out. We could help our partners if we could persuade some of them that they are in too great a hurry. (THE GUARDIAN, 5/5/1998) ¨ DDEUTSCHE ZEI6. Bonn hat sich selbst in die Rolle eines Bremsers manvriert. (SU TUNG, 12/6/1997) 7. Small wonder that EMU is becoming increasingly unpopular among aspirant countries where they have met the Maastricht criteria. Britain is still well advised to stay on the sidelines. (THE GUARDIAN, 28/2/1998)
The general (WALKING) JOURNEY scenario shows patterns of political perception that are remarkably consistent. The most significant difference between the two national samples concerns the distribution of tokens regarding the EU’s or the member nations’ SPEED OF TRAVEL, specifically between Britain on the one hand and Germany, France and the EU as a whole on the other. Among the British public, Germany-France-EU are seen as travelling fast towards integration, whereas in the German press there is no discernible preference for seeing them as fast rather than slow. On the other hand, there is a significant parallel: both British and German newspapers predominantly see Britain as the member state that makes slow progress, if it is at all on the European path. This finding is striking insofar as one might assume that the mappings STATE OR INSTITUTION X IS MAKING SLOW PROGRESS or STATE OR INSTITUTION X IS OFF THE PATH imply at least weakly a negative bias. Indeed, the majority of both British and German examples show this bias, i.e. they use the proposition as a point of criticism against X (= Britain in 18.2% of all tokens, cf. categories B.2 and C). There is, of course, the possibility of turning around the bias – for example, in a proposition ‘by going slowly Britain is safe from rushing headlong into a disaster’ (if the EU is perceived as making too fast progress). One conservative British cabinet minister, Michael Howard, relied on this source presupposition to present the slow track of European integration as preferable to the fast lane: 18
This and all following examples illustrate typical scenario-formulations but do not cover the whole range of variants. For more comprehensive samples cf. http://www.dur.ac.uk/SMEL/depts/german/Arcindex/htm. Italics in the examples have been supplied by the author to highlight relevant metaphorical passages).
270
Andreas Musolff
[...] Britain might be better off in what was falsely called ‘the slow track’. (The Guardian, 28/ 9/1992)
However, even special argumentative moves such as this one, which call into question the desirability of being fast, only accentuate – ex negativo - the bias of the scenario. Being slow/on the slow track is not the favoured option under normal circumstances; thus Howard had to make an extra argumentative effort to explain that his position was only ‘falsely’ labelled as implying slow progress. This finding confirms the hypothesis that the JOURNEY scenario, and in particular the sub-set B) THE GROUP OF STATES THAT ARE WALKING TOGETHER PROCEED AT DIFFERENT SPEEDS, presupposes a distinct bias in favour of a specific political conclusion: in a two- or multi-speed Europe, movement at the first or fastest speed is normally preferred over any slower speed. This pattern of a common British-German perception of Britain as the slow(est) traveller on the EU JOURNEY and of Germany and France as fast travellers, plus the specifically British perception of the EU as a whole travelling (too) fast repeats itself to a large extent across the VEHICLE-specific scenarios. In addition, however, these scenarios also allow users to highlight more specific conceptual aspects that provide the basis for further political conclusions, such as the contrast between a ONE-VEHICLE JOURNEY (with all EU states travelling at the same speed and in the same direction) and a MULTI-VEHICLE JOURNEY, which leaves space for greater national initiative. The following tables highlight the main conceptual aspects specified in the VEHICLE-specific scenarios: scenario elements (roles, relations, storylines)
EU member states or EU institutions that fills role slots in scenarios (only explicit references)
no. of tokens in English sample
A) STATE X = OFF TRAIN/ OFF TRACK, or = OBSTACLE IN PATH OF TRAIN, or = RELUCTANT PASSENGER, cf. e.g. (9)
X = GB
11
X = TURKEY X = GERMANY
1
X = ITALY X = DENMARK
1
no. of tokens in German sample
no. of tokens in both samples + percentages out of overall no. of tokens (= 92)
8
19
20.6%
3
3
3.2%
1
2
2.1%
1
1 1
271
Metaphor scenarios in political discourse in Britain and Germany
B) STATE/ INSTITUTION X = ON TRAIN/ ON TRACK, or = LOCOMOTIVE, or = DRIVING THE TRAIN, or = SETTING THE POINTS, cf. e.g. (10), (11)
X = GERMANY
2
3
5
5.4%
X = EU
1
4
5
5.4%
X = FRANCE
2
1
3
3.2%
X = ITALY
1
2
3
3.2%
X = FINLAND
2
2
2.1%
X = EMU
2
2
2.1%
X = SPAIN
1
1
X = TURKEY
1
1
X = PORTUGAL
1
1
X = CORE EU (Germany, France, Benelux, Italy .....)
1
1
C) THE EUROPEAN TRAIN MAKES GOOD PROGRESS, cf. e.g. (12)
3
12
18
19.5%
D) THE EUROPEAN TRAIN’S PROGRESS IS IN QUESTION, cf. e.g. (13)
3
8
11
11.9%
E) THE EUROPEAN TRAIN’S PROGRESS IS NOT SECURE/WILL END IN DISASTER, cf. e.g. (14)
12
3
15
16.3%
Table 4: TRAIN JOURNEY scenario aspects
9. Mr Major and his colleagues are putting it about that they do not just mean to miss the European train, they are placing themselves squarely in its path. (THE TIMES, 10/6/1991) 10. Despite Britain’s ad hoc alliances, it is the Franco-German engine that drives the Eurotrain. (THE SUNDAY TIMES, 24/3/1996) 11. Die Europische Whrungsunion ist in erster Linie ein politisches Projekt, kein wirtschaftliches. Sie ist die Lokomotive, die den europischen Zug seinem Ziel nher bringt: der immer engeren Union unseres Kontinents. (DIE ZEIT, 19/2/1998) 12. Der europische Zug ist ein gutes Stck vorangekommen (DIE ZEIT, 7/1/1999). 13. Will future historians look back on Maastricht as the moment when the locomotive of European monetary unity opened the throttle, not to halt again until it reached the terminus, or will they note with mild amusement how it ground to a halt at the next red light? (THE GUARDIAN, 16/12/1995). 14. To many Britons, Europe seems like a high-speed train, hurtling its reluctant passengers into a new millennium of continental government where Britain becomes a dependent province (THE TIMES, 5/12/1998).
272 scenario elements (roles, relations, storylines)
Andreas Musolff
EU member states or EU institutions that fills role slots in scenarios (only explicit references)
A) STATE or X = GB INSTITUTION X = GERMANY X = OFF SHIP, or = OBSTACLE X = DENMARK IN PATH OF SHIP, or = RELUCTANT PASSENGER, or = OFF CONVOY, or = SLOW(EST) SHIP IN CONVOY, cf. e.g. (15) B) STATE or INSTITUTION X = ON SHIP or = TOP/FAST(EST) SHIP IN CONVOY, cf. e.g. (16)
no. of tokens in English sample
no. of tokens in German sample
no. of tokens in both samples + percentages out of overall no. of tokens (= 56)
16
8
24
42,8%
2
2
4
7.1%
2
3.5%
2
X = GERMANY
2
2
4
7.1%
X = FRANCE
2
2
4
7.1%
X = CORE EU (Germany, France, Benelux, Italy .....)
1
1
C) THE EUROPEAN SHIP/CONVOY MAKES/WILL MAKE GOOD PROGRESS, cf. e.g. (17)
3
8
11
19.6%
D) THE EUROPEAN SHIP/ CONVOY’S PROGRESS IS SLOW/IN QUESTION, cf. e.g. (18)
3
3
6
E) THE EUROPEAN SHIP/ CONVOY’S PROGRESS WILL END IN DISASTER, cf. e.g. (19), (20)
3
1
4
Table 5: MARITIME JOURNEY scenario aspects
10.7
7.1%
273
Metaphor scenarios in political discourse in Britain and Germany
15. Die Frage, ob die Briten ins gemeinsame Boot gebracht werden knnen, muß zunchst offen bleiben (DIE WELT, 7/10/1996). 16. Der Geleitzug der Europischen Union [...] ist auseinandergerissen. Die schnellsten Schiffe, Deutschland und Frankreich, haben sich das Privileg gesichert, das Ziel einheitlicher Whrung von 1998 an allein anzukreuzen [...] (DIE WELT, 11/12/1991). 17. Europe’s single currency will be launched on a rising tide of industrial production [...] EU officials yesterday hailed the figures as providing “a fair wind” for the euro’s launch (THE GUARDIAN, 9/4/1998). 18. Launched as smoothly as a sleek ocean liner on January 1, the euro has quickly encountered some choppy water (THE GUARDIAN, 18/2/1999). 19. Like the Titanic, the euro – one tries to avoid saying the SS Euro – was regarded as unsinkable. Hence the shortage of lifeboats (THE TIMES, 2/6/1997). 20. Obwohl das europische Ausland bereits frohlockt [...] hlt Kanzler Kohl unbeirrt an der Abschaffung der D-Mark und zugleich der Bundesbank als Garanten fr Geldwert- und Whrungsstabilitt fest [...] Er handelt dabei wie weiland der durch den Fortschrittsglauben der Unsinkbarkeit verblendete Kapitn Smith auf der “Titanic” (DIE WELT, 5/3/1998, letter to the editor).
scenario elements (roles, relations, storylines)
EU member states or institutions that fill role slots in scenarios (explicit references)
no. of tokens in English sample
no. of tokens in German sample
no. of tokens in both samples + percentages out of overall no. of tokens (= 74)
X = GERMANY A) STATE or i NSTITU TION X X = FRANCE
4
7
11
14.8%
3
4
7
9.4%
X = EU or = RELUCTANT X = GB PASSENGER, or X = EMU = SLOW CAR/ MOTOR, cf. e.g. (21), (22)
1
4
5
6.7%
3
3
4.0%
1
1
= OFF CAR /B US ,
274 B) STATE or INSTITUTION X = ON CAR/ BUS, or = (TOO) FAST CAR/ MOTOR, or = (TOO)GOOD OVERHAUL OF CAR/ENGINE, cf. e.g. (23)
Andreas Musolff
X = GERMANY
6
12
18
24.3%
X = FRANCE
3
11
14
18.9%
X = EU
9
1
10
13.5%
X = EMU
3
2
5
6.7%
3
3
4.0% 4.0%
X = EU COMMISSION X = GB
3
3
X = SWEDEN
1
1
X = CDU C) THE EUROPEAN PROGRESS WILL END IN A CAR ACCIDENT/ DISASTER, cf. e.g. (24)
1
1
1
2
3
4.0%
Table 6: car/motor journey scenario aspects
21. [...] the Franco-German motor will, for the moment, go on driving the Union. [...] But that is no longer enough. The motor needs an overhaul (THE ECONOMIST, 9/5/ 1998). 22. Der einstige Motor Europas, Deutschland, wird [...] zunehmend zur Bremse (DER SPIEGEL, 16/6/1997). 23. [...] just over a year ago, the Government was assuring everyone that the IGC was a nonevent. Officials dismissed it as a “5,000-mile service” for the EU, the equivalent of a change of oil and a new air filter. Now it transpires that the vehicle has been booked in for an overhaul of the bodywork and a full respray (THE DAILY TELEGRAPH, 18/4/1997). 24. Fischer sagte, [...]: Wenn es nicht gelinge, auch zu einer gemeinschaftlichen Wirtschafts-, Sozial- und Finanzpolitik zu kommen, fahre die Whrungsunion “krachend ¨ DDEUTSCHE ZEITUNG, 3/4/1998). gegen die Wand” (SU
275
Metaphor scenarios in political discourse in Britain and Germany
scenario elements (roles, relations, story-lines)
EU member states or institutions that fill role slots in scenarios (explicit references)
A ) STATE or INSTITUTION X = OFF AEROPLANE, AIR TRAVELLER OFF COURSE, cf. e.g. (25), (26)
X = GERMANY
B) STATE or INSTITUTION X = AEROPLANE ON COURSE, cf. e.g. (27)
X = EXCHANGE RATE MECHANISM
1
1
X = GERMANY
4
4
1
1
X = GB
no. of tokens in English sample
no. of tokens in German sample
no. of tokens in both samples (= 14)
4
4
2
2
X = FRANCE
1
1
X = EU
1
1
C) THE EUROPEAN PROGRESS MAY END IN AIR CRASH/DISASTER , cf. e.g. (28) Table 7: AIR/SPACE JOURNEY scenario aspects
25. It is as if, out there on the Tarmac, is a jet destined for an unknown location. The danger of not getting on board is that all the best seats in the club class will be taken and that , when Britain does decide to take the plunge, there will be only seats in steerage left. On the other hand [...] the suspicion is that one of the engines is a bit dodgy. (THE GUARDIAN, 10/2/1997) 26. Zweifel an deutscher Punktlandung fr den Euro (DIE WELT, 20/6/1997). 27. A return to mission control [headline]. The exchange rate mechanism’s original objective was to offer [...] predictability in a world of violently gyrating exchange rates. [...] Yesterday’s events offer the first hint that it may return to the original mission. (THE GUARDIAN, 15/9/1992). 28. [...] by 2002 it will have become clearer whether the single currency is the panacea for Europe’s economic travails [...] or whether, as many suspect, it aborts on takeoff. (THE GUARDIAN, 15/10/1997)
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Andreas Musolff
scenario elements EU member states or EU (roles, relations, institutions that fills role story-lines) slots in scenarios (explicit references)
no. of tokens in English sample
no. of tokens in German sample
no. of tokens in both samples (= 17)
A) STATES or INSTITUTIONS X, Y = TANDEM, cf. e.g. (29)
X = GERMANY, Y = FRANCE
8
9
X = EU COMMISSION, Y = EU COUNCIL
1
1
B) STATE or INSTITUTION X = (SUCCESSFUL) CYCLIST , cf. e.g. (30)
X = FRANCE
1
1
C) STATE or X = GB INSTITUTION X = (SLOW) BICYCLE, cf. e.g. (31)
2
D) EUROPEAN PROGRESS = BICYCLE: MOVE (FORWARD) OR FALL, cf. e.g. (32)
3
2
1
4
Table 8: BICYCLE scenario aspects
29. Bonn wird sich neuen Pariser Europa-Forderungen gegenbersehen, die das bewhrte Tandem erheblich ins Schlingern bringen knnen (RHEINISCHE POST, 3/6/1997). 30. [...] mhelos scheint dem sozialistischen Regierungschef [= L. Jospin] mit seinen Maßnahmen zur Annherung an die Euro-Kriterien das Kunststck gelungen zu sein, ein wichtiges Etappenziel auf der “Tour d’Europe” erreicht (...) zu haben (DIE ZEIT, 23/ 7/1997). 31. Margaret Beckett, Labour’s acting leader, accused Mr Major of keeping Britain in the ‘bicycle lane’ not the fast lane (THE GUARDIAN, 2/6/1994). 32. Europe, in Jacques Delor's famous analogy, is like a bicycle: allow it to stop moving and it falls (THE GUARDIAN, 11/9/1995).
The five VEHICLE-related JOURNEY scenarios differ in their overall frequency but, with regard to their structural bias they exhibit clear parallels. As tables 4 – 8 show, tokens from these scenarios are used mainly to express either SPEED COMPARISONS for individual EU member states, between one state and the EU as a whole, or comparisons of EU member states’ participation in and commitment to
Metaphor scenarios in political discourse in Britain and Germany
277
the EU’s JOURNEY, or assessments of its SPEED/SUCCESS. In these comparison arguments, Britain again has the stereotypical role of the EU member state that has missed or is missing the euro-train/ship/bus, or is an obstacle in its path, or tries to slow down the journey. Indeed, the distribution figures for the TRAIN- and SHIPJOURNEY scenarios show that the British press almost exclusively see their own country in this role. In the German press we also find some self-criticism of this type, but it is again Britain that is predominantly seen as the EU-laggard. To appreciate the strength of this stereotype, we have to take into account that similar SLOW-SPEED stigmatizations of other EU states are few and far between: statistically, they count only in single percentage figures. On the other hand, Germany and France (plus other EU “core” states that are assumed to be interested in economic and political integration) are usually seen as fast movers/drivers that may leave the laggards behind. Among the few references to EU member states other than Germany and France in the FAST-MOVER role, Britain is rarely mentioned. It fits the stereotype that British media and politicians are keen to criticise the EU as a whole for travelling (too) fast and racing towards a disaster, such as a derailment, shipwreck or aeroplane crash. The apparent exception of Germany’s being presented most often as moving slowly in the CAR and AIR/SPACE JOUNRNEY scenarios (cf. tables 6, 7) does not really contradict this stereotype. On closer inspection, the relevant examples express self-critical assessments of the German media during the years 1996 – 99, when Germany’s ability to meet the criteria for currency union was questioned. The equally high figures for German high speed performance and Franco-German driving initiative/power in these scenarios are indicative of the persistence of the stereotypical expectation, i.e. that Germany/France at least ‘ought to be’ fast. Warnings of a disastrous outcome of the EU JOURNEY, even though they occur sometimes in the German press, seem to be much more a typical feature of British debates. Overall, sceptical or hesitant attitudes towards the EU integration MOVEMENT play a much more important role among the British public than for German media and politicians.
3. Conclusions The argumentative uses that JOURNEY imagery is put to in public debates over Europe can be seen as evidence of conceptual scenarios involving presuppositions about participants’ roles, story-lines, ‘common-sense’ folk-theories and evaluation patterns. The latter concern, inter alia, SPEED COMPARISONS, as well as expectations about PUNCTUALITY IN JOINING A JOURNEY, CO-ORDINATED MOVEMENT, DELAYING effects of OBSTACLES or the DANGERS of GETTING OFF THE PATH. These everyday assumptions evoked by the metaphor sce-
278
Andreas Musolff
narios are utilised to underpin complex assessments of the economic and political positions and prospects of nation states and even whole groups of states. The scenarios suggest specific conclusions as self-evident (e.g. ‘it is better to join the train/ boat/bus etc. in time than to miss it’), and such seemingly unproblematic conclusions are then (pre-)supposed to be valid for the target domain concept by way of analogy. Of course, few texts rely solely on such an analogical argument; usually, some supposedly more ‘objective’ facts (statistical figures, quotes from commentators who are deemed to be ‘authorities’ on the subject etc.) are also cited to provide corroborating evidence for the conclusion. However, such data – even if collected and presented bona fide – are not in themselves conclusive. In order for them to count as relevant to the target conclusion, an argumentative warrant – ideally a flawless and uncontroversial assumption – must refer the step from the data to the conclusion “to the larger class of steps whose legitimacy is being presupposed” (Toulmin 1958, 100). However, in the case of arguments based on metaphorical scenarios, the apparent legitimacy of the conclusion is mainly based on an analogy, and the reference to independently testable data plays only a secondary role. This pseudo-argumentative function enables metaphor source scenarios to play a key-role in political concept-formation and discourse. It is intriguing, for instance, that even Euro-sceptic British politicians and media, whose opinions and leanings can be assumed to be strongly opposed to the bias associated with SPEED comparisons that allocate the role of SLOW MOVER to Britain, seem almost compelled to make use of these very scenarios. Judging by the corpus data, British Euro-sceptical media and politicians are at least as likely to employ the two-/multi-speed Europe formula and scenarios of missing the EU train/boat/ship/convoy/aeroplane as the German public is, despite strong attitudinal differences. Of course, when utilising such scenarios, individual speakers still have the option of trying to turn around the bias of the metaphor, i.e. of reinterpreting it in their own favour, as in the above-quoted case (example 8) of Michael Howard’s attempt to advocate SLOW (EURO-POLITICAL) MOVEMENT. Nevertheless, even such a reinterpretation of the stereotypical presuppositions of a scenario still ‘inherits’ its implied bias, as can be seen from the special rhetorical effort made by the speaker to offset the standard conclusion (SLOW MOVEMENT = UNFAVOURABLE). Furthermore, individual speakers cannot control the discursive ‘fate’ of their scenarios in the public debate. As the example of Fischer’s 2000 speech shows, even an avoidance of sensitive phrases such as the two -speed formula may not be sufficient to prevent highly contentious SPEED COMPARISON scenarios from being applied to it in commentaries. This does not mean that politicians or the public are at the mercy of their metaphors. Metaphorical presuppositions – just as any kind of presupposition used in an argumentation – can be made explicit and criticised, and they can be turned around as regards their political bias. Nevertheless, judging by the corpus data, the stereo-
Metaphor scenarios in political discourse in Britain and Germany
279
typing power of scenarios seems to make them highly attractive for repetitive usage, which over time can establish standardised discursive and conceptual patterns. In the first phase, specific formulations, such as the slogans of the two-speed Europe, of missing the train/boat or of the convoy in which the slowest ship must not be allowed to dictate the speed, are drawn from the ubiquitous background imagery of political processes as instances of SPATIAL MOVEMENT. If used and commented on in salient situational circumstances (e.g. in high-profile political speeches, election campaigns, party-political and international disputes), such phrases may become fixed in their reference as well as in their connotative meanings and associations of political bias for the public. It is this very bias that makes them sufficiently contentious to be discussed and contested by ever more political rivals and commentators. They finally gain such notoriety that participants in the public debate can hardly avoid using them. In gaining such salience and notoriety, a scenario effectively becomes a cognitive model for the interpretation of socio-political reality. Not only does it provide a frame for the ‘ontological’ categorisation of political experience, but it also supplies the speakers – and the audience – with default evaluations by way of presupposing specific conclusions about likely/typical outcomes of the ‘scenes’ or ‘story-lines’ that are invoked. Alternative conclusions then constitute marked, ‘irregular’ solutions that require special argumentative and rhetorical efforts to survive in the debate. It would thus seem that the prudent choice not only of keyterms and argumentative topoi but also of metaphorical scenarios puts participants in the public debate at an advantage. It enables them to establish argumentation patterns that are prima facie self-evident and apparently conclusive, due to their grounding in everyday experience, folk-theories and discourse traditions. As regards public political discourse, the “ubiquity of metaphor” (Paprott/Dirven 1985) can thus be seen in its usefulness not only for categorisation but also for argumentation, with scenarios providing source analogies for conclusions that inform political decisions as well as public attitudes.
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Andreas Musolff
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Reiner Keller
Kultur als Diskursfeld Deutungsmuster der Abfallpolitik im deutsch-franzsischen Vergleich Der nachfolgende Beitrag stellt theoretische Grundlagen, Vorgehensweisen und Ergebnisse einer vergleichenden Untersuchung ffentlicher Debatten zur Abfallpolitik in Deutschland und Frankreich in den Jahren 1970 – 1995 vor (Keller 1998). Beide Lnder galten – und gelten zum Teil weiterhin – als exemplarische Antipoden der Umweltdiskussion: auf der einen Seite die Bundesrepublik Deutschland als umweltpolitisch aufgeregte Vorreiter-Nation, auf der anderen Seite Frankreich als Land mit unerschtterlichem Fortschrittsglauben. Als weithin unverfgbare Grundlage dieser Unterschiede werden oft neben spezifischen demo- und geographischen Gegebenheiten tief verwurzelte kollektive Traditionen – das romantische Naturempfinden hier, die rationalistischen Weltbezge da – benannt. Demgegenber wurde in der nachfolgend erluterten Studie eine ‚streng empirische‘ Haltung eingenommen: Zunchst ging es um die unvoreingenommene Rekonstruktion der Inhalte, Strukturen und Verlufe umweltpolitischer Auseinandersetzungen am Beispiel des Problemfeldes ‚Umgang mit Hausmll‘. Dabei traten sowohl hnlichkeiten wie auch Unterschiede der entsprechenden Diskussionen zu Tage. Auch konnte gezeigt werden, wie unterschiedliche nationale Kulturen des Umweltverhltnisses bzw. der Umweltpolitik sich nicht einfach aus der Tradition heraus ergeben, sondern als Ergebnisse eines permanenten diskursiven (Re-)Produktionsprozesses in den beteiligten institutionellen Feldern begriffen werden knnen. Nachfolgend mchte ich zunchst die der Untersuchung zugrunde liegenden theoretisch-begrifflichen berlegungen – insbesondere das Verstndnis von Kultur, Diskurs und Deutungsmustern – erlutern. Daran anschließend werden einige Ergebnisse vorgestellt. Abschließend fasse ich die Ertrge der Studie kurz zusammen.
1. Kulturen als Diskursfelder ‚Kultur‘ ist ein Begriff, der in vielen Bedeutungsvarianten abgrenzbare soziale Zusammenhnge von symbolischen Ordnungen, Artefakten und Praktiken bezeichnet. Traditionellerweise ist dieser Begriff mit Konnotationen des Statisch-Homogenen versehen, bspw. als Habitus des Bildungsbrgertums, der deutschen Kulturnation oder als ‚Lebensweise und Weltsicht‘ der Trobriand-Insulaner. Marshall Sahlins (1981) bspw. begreift im Anschluss an strukturalistisch-semiotische Perspektiven
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Kultur als eine spezifische sozial-rumliche Verknpfung von Deutungs- und Handlungssystemen, als je besonderer, stabilisierter Ausschnitt aus dem unendlichen Mglichkeitsraum gesellschaftlicher Weltbezge. Die konkrete Entfaltung menschlicher Bedrfnisse und Interessen ist kulturell und damit natrlich sozial strukturiert. Aus einer anderen, hermeneutisch-interpretativen Tradition heraus konzipierte auch Clifford Geertz (1973) in seinen „Dichten Beschreibungen“ abgrenzbare soziale Kollektive als kulturelle Einheiten, als Trger und Nutzer eines homogenen Bedeutungsgewebes, in das sie verstrickt sind. Kultur wird sowohl bei Sahlins wie bei Geertz – respektive in den Traditionen, fr die sie stehen – trotz der sehr unterschiedlichen theoretischen Zugnge als stabiles, tradiertes, den Akteuren vorgegebenes Signifikationssystem analysiert. Doch wie kommt ‚Kultur‘ selbst als unterscheidbare, abgrenzbare Einheit zustande? Wie ist es tatschlich mit ihrer Statik und Homogenitt bestellt? Tatschlich und unweigerlich sind statisch-uniform konnotierte Kulturbegriffe, ob sie nun in der strukturalistisch-semiotischen oder in der hermeneutisch-interpretativen Perspektive formuliert wurden, in den letzten Jahrzehnten zunehmend in die Kritik geraten. Dies gilt sowohl fr den westeuropisch geprgten Blick auf die vorgeblich eingeforene Starrheit ‚kalter‘, nicht-moderner Stammesgesellschaften, wie auch – und vielleicht noch mehr – fr die Analyse moderner, globalisierender Großgesellschaften (Clifford 1992; Reckwitz 2000). Die angesprochene Dynamisierung des Kulturbegriffs kann an wissenssoziologische und diskurstheoretische Traditionen anschließen, die seit langem die gesellschaftliche Produktion von Wissen, d. h. Deutungsvorrten und Handlungsmustern theoretisch zu denken und empirisch zu untersuchen bemht sind.1 Kultur ist dann als dynamisches, konflikthaftes „Diskursfeld“ (Schiffauer 1995) zu begreifen, d. h. als permanenter Aushandlungsprozess von symbolischen Ordnungen, Artefakten und angemessenen Praktiken, der in unterschiedlichen sozialen Arenen, auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen, unter Beteiligung heterogener gesellschaftlicher Akteure gefhrt wird und nur vorbergehend sozial-rumlich feste Muster oder Strukturen kristallisiert. Dazu muss Kultur analytisch przisiert werden: als Begriff, der Deutungs- und Handlungsmuster nicht als frei flottierende Grßen fasst, sondern als gebunden an soziale Strukturierungsprozesse, eingeschrieben in die Institutionen, in Handlungen wirkend und dadurch in der gesellschaftlichen Wirklichkeit verankert.2 „Culture in action“ (Swidler 1986) ist ein dynamisches Konfliktfeld, in dem Stabilisierungen kontingenten Charakter haben und nur auf Zeit erfolgen.
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Etwa im Symbolischen Interaktionismus, der phnomenologischen Wissenssoziologie, der Foucaultschen Diskurstheorie sowie neueren diskurstheoretischen Entwicklungen (vgl. Keller 1997b, 2001; Keller u. a. 2001). Vgl. mit Bezug auf den Ideologiebegriff Boltanski/Chiapello (1999, 35).
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Gesellschaften unterscheiden sich kulturell dann und insoweit, wie sie unterschiedliche Deutungs- und Handlungsmuster und in gewisser Hinsicht auch Artefakte fr vergleichbare Phnomenbereiche diskursiv-institutionell stabilisieren. Beispielsweise ist ‚Natur‘ keine objektiv gegebene Grße, sondern durch gesellschaftliche Institutionen, Praktiken und Diskurse symbolisch-materiell mitkonstituiert. Das betrifft das erzeugte Wissen ber Prozesse, Zusammenhnge und Wechselwirkungen, gesellschaftliche Klassifikationssysteme, auf deren Grundlage institutionelle Regulierungsprozesse ablaufen, die Aushandlung von sthetischen und moralischen Wertmaßstben ebenso wie die Schaffung von Artefakten zur produktiven oder konsumtiven Naturnutzung und -abwehr. In modernen Gesellschaften sind kollektive Akteure in vielfacher Weise in Interpretationskonflikte ber die angemessene Definition des symbolischen Weltbezugs eingebunden.3 Dabei geht es um Bestimmungen dessen, was faktisch der Fall ist, um Fragen der Verantwortungszuschreibung sowie um die Formulierung von Lsungsmglichkeiten und Folgen. Kultur als Diskursfeld zu begreifen, impliziert, auf Auseinandersetzungen um Reproduktion und Vernderung von Deutungsweisen und Handlungspraktiken hinzuweisen, die vielgestaltige Strukturiertheit, (Re-)Produktion, Heterogenitt und Wandelbarkeit soziokultureller Ein- oder besser: ‚Vielheiten‘, die Bedeutung der diskursiven Artikulationskmpfe fr die Erzeugung, Identittsstabilisierung und Transformation solcher Diskurs-Kollektive zu betonen.
2. Diskurs 2.1 Diskurstheoretische Grundlagen In der konzeptionellen Anlage der weiter unten vorgestellten Untersuchung wurde ein Ansatz verfolgt, der sich als Wissenssoziologische Diskursanalyse bezeichnen lsst und unterschiedliche wissenssoziologische Perspektiven aufeinander bezieht (Keller 2001): berlegungen zur „gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit“, die Peter Berger und Thomas Luckmann in den 60er Jahren entwickelt haben (Berger/ Luckmann 1969); Vorschlge zur „frame“ (Rahmen)-Analyse ffentlicher Diskurse, wie sie in der US-amerikanischen Bewegungsforschung vor allem von William Gamson u. a. gemacht wurden (z. B. Gamson/Modigliani 1989); und schließlich allgemeinere diskurstheoretische berlegungen von Michel Foucault (Foucault 1974a,b; 1981). Whrend sich Berger/Luckmann aus handlungstheoretischer Perspektive fr den interaktiven Aufbau, die gesellschaftliche Objektivierung und sub3
Vgl. zur ‚Culture of public problems‘ am Beispiel der ‚Trunkenheit am Steuer‘ klassisch Gusfield (1981).
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jektive Aneignung von gesellschaftlichen Sinnordnungen interessierten, betonte Foucault in seinen Arbeiten die Emergenz solcher Wissensordnungen, die ihnen zugrundeliegenden Aussageformen und formativen Regeln sowie die mehr oder weniger eigendynamische Rolle sozialer Praktiken. Die Foucaultsche Diskurstheorie sensibilisiert auch fr die Bedeutung von Macht, fr institutionelle Strukturierungen von Sprecherpositionen und legitimen Inhalten, d. h. fr Diskurse als strukturierte und strukturierende Strukturen (Bourdieu 1993, 98). Im Symbolischen Interaktionismus und der wissenssoziologischen Tradition von Berger/Luckmann rckt die interaktive Grundlage, dialektische Gestalt und Prozesshaftigkeit der „gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit“ sowie deren Verankerung auch auf der Ebene gesellschaftlich-ffentlicher Definitionskonflikte in den Mittelpunkt. Auch wurden in diesem interpretativen Paradigma in den letzten Jahrzehnten ntzliche hermeneutisch reflektierte Verfahren qualitativer Sprach-, Bedeutungs- und Textanalyse auf einem vergleichsweise elaborierten Niveau entwickelt (Keller 2003a). Diskurse sind abgrenzbare Bedeutungsarrangements, die in spezifischen Sets von Praktiken (re)produziert und transformiert werden. Sie erscheinen in Gestalt einzelner diskursiv-praktischer Ereignisse. Sie ‚existieren‘ als relativ dauerhafte und regelhafte, d. h. zeitliche und soziale Strukturierung von (kollektiven) Prozessen der Bedeutungszuschreibung. Sie werden durch das Handeln von sozialen Akteuren ‚real‘, stellen spezifisches Wissen auf Dauer und tragen umgekehrt zur Verflssigung und Auflsung institutionalisierter Deutungen und scheinbarer Unverfgbarkeiten bei. Ohne Sprecher, Akteure, Artikulierende oder praktisch Handelnde ‚existieren‘ Diskurse also nicht. Wenn davon gesprochen werden kann, dass Diskurse Themen als gesellschaftliche Deutungs- und Handlungsprobleme kristallisieren oder konstituieren, so ist dies nur eine sprachliche Kurzformel dafr, dass soziale Akteure, die mehr oder weniger unabhngig voneinander weitgehend identischen Regeln des Sprachgebrauchs folgen, in ihren (Sprach-)Praktiken die entsprechenden Weltinterpretationen prozessieren. Sie tun dies immer im Kontext historischer vorgngiger gesellschaftlich-kollektiver Wissensvorrte, also Typisierungen bzw. Institutionen (im Sinne von Berger/Luckmann 1969).4 Inwieweit die in Diskursen prozessierten Deutungsangebote gesellschaftliche Geltungskraft erlangen, vielleicht sogar zur fraglosen Wirklichkeit avancieren, und aufgrund welcher Mechanismen und Ressourcen dies geschieht, ist eine empirische Frage. Der Wissenssoziologischen Kultur- als Diskursanalyse geht es darum, Prozesse der sozialen Konstruktion, Objektivation, Kommunikation und Legitimation von Sinn-, d. h. Deutungs- und Handlungsstrukturen auf der Ebene von Institutionen, Organisationen bzw. sozialen Akteuren nicht als singulre Aussage-Ereignisse, sondern als strukturierte Zusam4
Wenn nachfolgend mitunter davon gesprochen wird, eine Diskurs ‚tue‘' dies oder das, so ist dies immer ein Krzel fr die erwhnten Zusammenhnge.
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menhnge, d. h. eben: als Diskurse zu rekonstruieren und die gesellschaftlichen Wirkungen dieser Prozesse zu analysieren. Das schließt unterschiedliche Dimensionen der Rekonstruktion ein: Modi der Bedeutungsproduktion ebenso wie Handlungspraktiken, Artefakte, institutionelle, strukturelle und materielle Kontexte sowie gesellschaftliche Folgen. ffentliche Diskussionsprozesse ber gesellschaftliche Probleme knnen als Diskurse begriffen und im Hinblick auf ihre formalen und inhaltlichen Strukturen untersucht werden. Im Wesentlichen geht es dabei um die Annahme institutionell gesttzter Selektionskriterien fr die Beteiligung an Diskursen – Wer darf legitimerweise wo sprechen? –, fr die formulierbaren Inhalte – Was darf/kann gesagt werden? –, um die Regeln der Artikulation – Wie kann etwas gesagt werden? – sowie um die dabei eingesetzten Ressourcen. Darberhinaus betont eine diskursorientierte Perspektive die weltkonstituierenden Effekte von Aussagezusammenhngen im Sprachgebrauch. Die Welt gewinnt ihren je spezifischen Wirklichkeitscharakter fr uns durch die Aussagen, die Menschen – in Auseinandersetzung mit ihr – ber sie treffen, wiederholen und auf Dauer stellen. Solche Aussagen stiften nicht nur die symbolischen Ordnungen und Bedeutungsstrukturen unserer Wirklichkeit, sondern sie haben auch reale Konsequenzen: Gesetze, Statistiken, Klassifikationen, Techniken, Artefakte oder Praktiken.
2.2 Die Erschließung von Diskursinhalten Wissenssoziologische Diskursanalyse bezeichnet ein Forschungsprogramm, aber keine spezifische Methode. Ihre empirische Umsetzung kann deswegen nicht in einem Standardmodell vorgeschrieben werden. Sie ist vielmehr fr die jeweiligen Gegenstandsbereiche und Forschungsinteressen je angemessen zu leisten und zu begrnden. Das schließt nicht aus, bei vergleichbaren Untersuchungsfeldern und Fragestellungen auch vergleichbare Vorgehensweisen zu whlen. Zur Analyse ffentlicher Auseinandersetzungen als Diskurse schlage ich die Unterscheidung von sozio-kulturellen Deutungsmustern, rotem Faden (story-line, plot) und diskursspezifischem Interpretationsrepertoire vor. Damit sind verschiedene ‚Bausteine‘ bezeichnet, die fr die Erschließung der inhaltlichen Strukturierung von Diskursen eingesetzt werden knnen. Neben dieser auf Inhalte bezogenen Konzepte interessiert sich die soziologische Diskursanalyse natrlich fr den Sprachgebrauch bzw. das Aussageereignis als soziales und sozial strukturiertes Phnomen und bentigt dazu einige zustzliche Kategorien: Zum Kontext eines Diskurses gehren etwa das institutionellorganisatorische Feld, in dem er erscheint, die spezifische (auch: historische) Situation seines Auftretens, andere Diskurse, mit denen er konkurriert oder gegen die er sich richtet. Gesellschaftliche Akteure verwenden unterschiedliche Ressourcen –
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nicht nur Sprache bzw. Zeichen, sondern Geld, Macht, Einfluss, Ansehen, Beziehungen u. a.m. – und tragen dadurch zur (De)Stabilisierung von symbolischen und materiellen Ordnungen bei. Mit dem Begriff des Dispositivs knnen die institutionalisierten, sprachlichen und materiellen Vergegenstndlichungen von Diskursen in ihrer Gesamtheit benannt werden. Diskurseffekte sind nicht nur solche Vergegenstndlichungen, sondern auch Subjektpositionen, d. h. Subjektkonzeptionen und daran geknpfte Handlungsschemata, die im Diskurs formuliert werden. Einzelne Sprachereignisse lassen sich als Diskursfragmente begreifen. Bedeutsam fr ffentliche Diskurse sind schließlich die Massenmedien als Arena der Konfliktaustragung mit eigenen Verlaufsmechanismen. Nachfolgend werde ich mich nur mit dem Begriff des Deutungsmusters nher befassen.5 Die Konstitution und Aufbereitung des Themas oder Referenzphnomens eines Diskurses erfolgt unter anderem durch die diskursspezifische Verknpfung allgemeiner Deutungsmuster, die im Kontext einer Wissensgemeinschaft verfgbar sind. Es handelt sich dabei um Schemata, die fr individuelle und kollektive Deutungsarbeit im gesellschaftlichen Wissensvorrat zur Verfgung stehen und in ereignisbezogenen Deutungsprozessen aktualisiert werden. Der Begriff des Deutungsmusters visiert den sozial typischen Sinn einer ußerung an, also eine gesellschaftlich vorbergehend konventionalisierte Deutungsfigur. Deutungsmuster bilden die Schnittstelle zwischen ‚Sendern‘ und ‚Empfngern‘ von Texten. Unabhngig davon, welche Intentionen mit Aussagekomplexen verfolgt werden, lsst sich festhalten, dass ihre Produzenten im Spachgebrauch auf kollektiv verfgbare Deutungsmuster zurckgreifen und dadurch spezifische Interpretationen der Phnomenbereiche nahelegen, auf die Aussagen referieren. Ein Deutungsmuster verknpft unterschiedliche Bedeutungselemente zu einer kohrenten (nicht notwendig: konsistenten) Deutungsfigur, die in unterschiedlicher manifester Gestalt auftreten kann. Deutungsmuster werden in der wissenssoziologischen Tradition immer schon als kollektive Produkte begriffen, die im gesellschaftlichen Wissensvorrat vorhanden sind und sich in konkreten sprachlichen ußerungen manifestieren. Es handelt sich um historisch, in Interaktionen ausgebildete Interpretationsmuster der Weltdeutung und Problemlsung, (...) (die) den einzelnen Subjekten gegenber zwar gesellschaftlich insofern vorgngig sind, als das einzelne Subjekt in ein bereits vorhandenes, historisch ausgebildetes, sprachlich reprsentiertes System von Regelstrukturen, Wissensbestnden und gesellschaftlicher Praxis hineingeboren und sozialisiert wird; doch diese sozialen Strukturen existieren weder unabhngig von den Handlungen der Subjekte noch fhren sie ein Eigenleben (.)“ (Lders/Meuser 1997, 62 f.; vgl. auch Plaß/Schetsche 2001). Sie basieren vielmehr im Sinne der von Anthony Giddens formulierten Kon5
Der vorgegebene Rahmen zwingt zu dieser Einschrnkung. Vgl. deswegen ausfhrlicher Keller (1998, 2001, 2003a,b).
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zeption der „Dualitt von Struktur“ auf den „bewusst vollzogenen Handlungen situierter Akteure, die sich in den verschiedenen Handlungskontexten jeweils auf Regeln und Ressourcen beziehen (...)“ (Giddens 1988, 77 ff.). Diskursanalyse bezieht sich nicht nur auf die Rekonstruktion solcher mehr oder weniger diskursspezifischer Arrangements von Deutungsmustern, sondern auch auf die Prozesse ihrer Formung, Verhandlung und Transformation durch gesellschaftliche Akteure, die in ihrer Diskurspraxis in institutionell-organisatorische Felder, Regeln und Ressourcen, in konflikthafte symbolische Kmpfe eingebunden sind.6 Als deutungsgenerierende Schemata schwimmen Deutungsmuster selten auf der expliziten Oberflche der Aussagen und Texte. Sie werden auf der Ebene von textfrmig zugnglichen Aussageereignissen in einem hermeneutisch reflektierten Interpretationsprozess rekonstruiert,7 der verschiedene Analysestufen umfasst: Zunchst wird nach (theoriegeleiteten) Kriterien das Textkorpus zusammengestellt, das als Manifestation des gesamten Diskurses der Untersuchung zugrunde liegt. Dazu ist ein gewisses Vorwissen ber das Untersuchungsfeld notwendig, das gleichwohl nicht zu spezifischen Blickverengungen, also Vorurteilen bei der Dokumenten- bzw. Datenauswahl fhren sollte. Dann werden im Durchgang durch das Datenkorpus spezifische Daten (Dokumente) fr die Feinanalyse ausgewhlt, wobei der Auswahlprozess nach Maßgabe der ersten Feinrekonstruktionen modifiziert werden kann. Als Auswahlstrategien stehen unterschiedliche Relevanzkriterien zur Verfgung: im Feld benannte Schlsseltexte, Merkmale minimaler und maximaler Kontrastierung u. a.m. Nach Maßgabe der allgemeinen Fragestellungen einer Untersuchung werden einzelne Textpassagen oder ganze Texte fr eine interpretierende Satz-fr-Satz-Analyse ausgewhlt, bei der im Fortgang der Textauslegung Deutungshypothesen entworfen, am Text geprft, mitunter verworfen, verfeinert oder ersetzt werden, bis schließlich die ‚adquateste‘ Deutung gefunden ist. Diese Prozedur wird im Durchgang durch die verschiedenen ausgewhlten Dokumente wiederholt, bis schließlich ein Eindruck der Sttigung entsteht, also weitere Analysen keine neuen Deutungen mehr ergeben. Die Ergebnisse der einzelnen Feinanalysen mssen dann kombinatorisch aufeinander bezogen werden. Die erwhnten Untersuchungsschritte sind eingebunden in einen weiteren Forschungszusammenhang, der auch die Erhebung von Kontextdaten, die Modifikation von Forschungsfragen und Hypothesen im Untersuchungsprozess, die Auseinandersetzung mit anderen Forschungsergebnissen ber den Untersuchungsgegenstand und Prozesse der abschließenden Gesamtinterpretation bzw. Theoriebildung einschließt.8 Diskurse bauen auf mehreren Deutungsmustern auf. Die Analyse solcher Deutungsmuster, ihrer argumentativen oder narrativen Verknpfungen und symbo6 7
Vgl. dazu auch die methodischen Hinweise bei Lders/Meuser (1997, 67 ff.). Vgl. Hitzler/Honer (1994); Soeffner/Hitzler (1994); Hitzler/Honer (1997).
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lisch-rhetorischen Manifestationen fhrt zum diskursspezifischen Interpretationsrepertoire. Es enthlt die Bausteine, die innerhalb eines Diskurses „fr die Interpretation von Handlungen, der eigenen Person und gesellschaftlicher Strukturen im Sprechen verwendet werden“ (Potter/Wetherell 1995, 188 f.). Dazu zhlen neben den Deutungsmustern auch Oberflchenstrukturen der ußerungen, bspw. hufig verwendete Bilder (Metaphern) oder kognitive Strukturierungen (z. B. Klassifikationen). Diese Bausteine werden im jeweiligen Diskurs durch einen roten Faden, eine story-line (plot) zu einer besonderen ‚Erzhlung‘ zusammengefhrt und auf einen Anlass bezogen. Story-lines verbinden die unterschiedlichen Deutungsmuster und bilden dadurch die narrative Struktur eines Diskurses. Sie liefern die ‚Handlungsschemata‘ fr die Erzhlung, mit der sich der Diskurs erst an ein Publikum wenden kann (Keller 1998, 36 ff.; Viehver 2001, 2003). Solche narrativen Strukturen liegen selbst ‚trockenen‘, abstrakten wissenschaftlichen Texten zugrunde, auch wenn wir sie mitunter dort kaum vermuten.
2.3 Die Massenmedien als ffentliche Diskursarena Die Massenmedien stellen einen ffentlichen Raum fr Diskurse zur Verfgung. Erst die Reprsentation in den Massenmedien stiftet in den Gegenwartsgesellschaften letztlich die Qualitt eines ffentlichen Diskurses. Themenbezogen manifestieren sich dabei Diskurse, die ihren Entstehungsort nicht (nur) in den Medien haben, die aber auf der Grundlage der Medienberichterstattung als ffentliche Diskurse empirisch rekonstruiert werden knnen. Die in den Massenmedien erzeugten Texte sind Beitrge zur gesellschaftlichen Wirklichkeitskonstruktion. Medien‚arbeiter‘ produzieren nicht unbedingt besondere Folien zur Interpretation von Wirklichkeit, vielmehr schpfen sie aus dem gesellschaftlichen Wissensvorrat in hnlicher Weise wie andere Akteure. Allenfalls knnen ihnen spezifische Fokussierungsleistungen zugerechnet werden. Texte, die darin erscheinen, werden nicht nur spezifischen Textformaten/ Textgattungen angepasst – z. B. als Nachricht, Kommentar, Hintergrundbericht –, sondern ihnen liegen auch verschiedene Selektionsstufen und -prozesse wie Routinen der Berichterstattung, Nachrichtenwerte, professionelles agenda-buildung und vermutete Resonanzfhigkeit zugrunde.9 Die Bedeutung ‚kultureller Resonanzen‘ fr die Diskursrezeption wurde von David Snow, William Gamson u. a. im Kontext der US-amerikanischen Forschung ber Mobilisierungsprozesse sozialer Bewegun-
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In der qualitativen Sozialforschung, aus der diese Analysestrategien stammen, lauten die entsprechenden Konzepte: Sequenzanalyse, rekonstruktive Hermeneutik, grounded theory, Kodieren, Triangulation u. a.m. (vgl. als ausfhrliche Erluterung Keller 2003a). Vgl. ausfhrlicher zur Bedeutung und Analyse massenmedialer Diskurse Keller (1997a und 1998).
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gen betont (vgl. etwa Gamson/Modigliani 1989). Gemeint ist damit, dass die Akteure/Diskurse gnstigerweise diskurspezifisch solche Interpretations- bzw. Deutungsmuster einsetzen, die in einem weiteren gesellschaftlich-kulturellen Wissensvorrat (Kontext) mit besonders starker Beachtung, Wertbindungen, Affekten usw. besetzt bzw. von breiten gesellschaftlichen Gruppen akzeptiert sind. In der bundesdeutschen Nachkriegsdebatte zhlen dazu bspw. die Idealisierungen der ‚freien Marktwirtschaft‘ oder die Warnung vor ‚kommunistischer Gefahr‘, aber auch die starke Vorstellung, es drfe hierzulande ‚nie wieder Faschismus‘ geben. Poferl (1997) liefert ein schnes Beispiel solcher Resonanzstrategien am Beispiel der Tschernobyl-Berichterstattung in der FAZ. Genau genommen handelt es sich bei massenmedialen Diskursen – bspw. ber Abfallprobleme – um solche Teildiskurse innerhalb umfassenderer Diskursformationen, die gerade die ffentliche Sinnhaftigkeit eines Themas konstituieren. Die im Medienbetrieb produzierten Texte strukturieren die Relevanzmuster menschlichen Deutens und Handelns auf den unterschiedlichsten Ebenen. Medienberichterstattung ist Teil des permanenten Prozesses der Festschreibung oder Vernderung des Bedeutungsgewebes ‚Kultur‘ (Burgess 1990, 143). Die Massenmedien bestimmen durch ihre Selektionsprozesse etwa den kulturellen Code des Politischen mit, d. h. „was politisch denkbar ist“, und wer „zu den legitimen Akteuren des politischen Spiels zhlt“ (Bourdieu 1992, 88). Sie sind zugleich Bhne und Protagonist der ffentlichen Diskurse, beobachten und kommentieren die aufeinanderbezogene Rede der Akteure und verffentlichen sie spezifisch gefiltert. Die Massenmedien eignen sich damit in besonderer Weise als Grundlage fr eine empirische Analyse ffentlicher Diskurse. Sie sind Arenen, in denen ber die (ffentliche) Bedeutung von ‚Botschaften‘ entschieden wird.
3. Der Hausmll zwischen Katastrophismus und Beherrschungsritualen Der im vorangehenden Kapitel skizzierte Ansatz der Wissenssoziologischen Diskursanalyse lag einer vergleichenden Untersuchung ffentlicher Diskussionen ber das ‚Hausmllproblem‘ in Deutschland und Frankreich zugrunde. Beide Lnder sahen sich erstmals Anfang der 1970er Jahre und dann bis Mitte der 1990er Jahre mit Anforderungen zum Auf- und Ausbau landesweiter Abfallgesetzgebungen konfrontiert, die von einer mehr oder weniger breiten ffentlichen Diskussion begleitet wurden. Im Rahmen der Studie wurde ein umfangreiches Datensample aus Texten der Printmedien – je etwa 700 Artikel unter Bercksichtigung des Meinungsspektrums – sowie aus abfallpolitischen Dokumenten und Expertenmaterialien fr den Zeitraum der abfallpolitischen Debatten und Gesetzgebungen von 1970 – 1995 zusammengetragen. Zustzlich wurden in Deutschland und Frankreich einige Exper-
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teninterviews mit Protagonisten und Beobachtern der Diskussionen gefhrt. Die nachfolgend auszugsweise vorgestellten Ergebnisse einer qualitativen, hermeneutisch-interpretativ ansetzenden Rekonstruktion der inhaltlichen Strukturierung der jeweiligen Abfalldebatten basieren auf einer theoriegeleiteten Auswahl von Dokumenten aus dem Printmediensample.10
3.1 berblick: Abfall in Deutschland und Frankreich Alle wesentlichen technischen, administrativen und infrastrukturellen Elemente unseres heutigen Umgangs mit Abfall stammen aus dem 19. Jahrhundert: Mlltonnen, kontrollierte Deponien, Mllverbrennung, technisierte Mllverwertung. Das ist die Zeit der Erfindung des modernen Umgangs mit Mll – und der Zerstrung der vormodernen Praktiken (Keller 1998). In den 1960er Jahren beschleunigen die Unternehmen aus absatzstrategischen Grnden den Gterumsatz; steigende Geldvermgen der Haushalte erweitern gleichzeitig die Konsumspielrume. Wegwerfkonsum und eine beschleunigte Vermodung von Gebrauchs- wie Luxusgtern sind Bestandteile des stattfindenden kulturellen Trainings. Die entstehenden Supermrkte wurden zu reprsentativen Orte der neuen Konsumkultur. Mit der Wohlstandssteigerung und den sich verndernden Konsummustern kommt es in Deutschland und Frankreich zu wachsenden Problemen der Abfallbeseitigung. Die vorhandenen Entsorgungsinfrastrukturen – in erster Linie Deponien – knnen mit dem anfallenden und prognostizierten Mllwachstum nicht mithalten. Der Umstellung auf billige Massenproduktion und Einwegprodukte folgt die gesellschaftliche Praxis des ‚wilden Mllens‘, der allgegenwrtigen anarchischen Abfallentsorgung. Die Sorge der Kommunen verbindet sich mit der Emprung der Bevlkerung und der skandalisierenden Berichterstattung der Lokalpresse. Schließlich steht Ende der 1960er Jahre sowohl in der Bundesrepublik Deutschland als auch in Frankreich die landesweite Neuregelung der Abfallentsorgung auf der politischen Tagesordnung. Die jeweiligen Regierungen nehmen sich der Sache an. Auch wenn bis dahin von einer gemeinsamen Ausgangslage der deutschen und der franzsischen Abfallsituation gesprochen werden kann, entwickeln sich die jeweiligen Politikfelder nun sehr unterschiedlich – zumindest, was ihre ffentliche und diskursive Reprsentation angeht. In Deutschland entfaltet sich die Mlldiskussion zur Chronik einer angekndigten Katastrophe; in Frankreich dagegen handelt es sich um die ritualistische Chronik eines angekndigten zivilisatorischen Sieges. In der Bundesrepublik konkurrieren in der massenmedial vermittelten ffentlichkeit 10
Vgl. zur Vorgehensweise und Ergebnissen die Hinweise weiter oben in Kapitel 2.2 und ausfhrlich Keller (1998, 2003b).
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zwei Diskurse mit sehr unterschiedlichen Deutungsmustern um die Definition der Abfallverhltnisse. In den franzsischen Medien ist dagegen nur ein Abfalldiskurs reprsentiert. Damit sind zwei differierende ffentliche Ordnungen legitimer ußerungen und Akteure konstituiert. Nur in Deutschland kommt es zur breiten, ffentlichen Thematisierung einer Abfallpolitik, die nicht ‚end of pipe‘, sondern auf die Produktkultur selbst hin orientiert ist. Anfang der 90er Jahre werden abfallpolitische Regulierungen eingesetzt, deren Grundzge bereits 1970/71 von Experten vorgeschlagen worden waren (vor allem: Verpackungsverordnung). Hier kommen zudem hhere (rohstoffliche) Verwertungsquoten, Abfallgebhren (im Verhltnis 3:1) und schrfere Grenzwerte zum Einsatz. Die Umsetzung der Abfallpolitik erfolgt zgiger als in Frankreich. In der Tendenz setzen beide Lnder zunehmend auf getrennte Sammlung und Verwertung von Abfllen, auf einen Ausbau der Mllverbrennung und auf hohe Sicherheitsstandards fr wenige verbleibende Restmlldeponien. Unter dem neuen, die Vershnung von konomie und kologie suggerierenden Leitbild der ‚Nachhaltigkeit‘ soll eine Kombination aus optimierten Entsorgungs- und Verwertungstechnologien, Produktoptimierungen und Selbstverpflichtungen der Industrie die Abfallprobleme dauerhaft lsen.11 Whrend in der Bundesrepublik Deutschland zunchst die Abfallbeseitigung, dann jedoch – im Hinblick auf Umweltverschmutzung und globale Rohstoffknappheit – die Abfallverwertung und Kreislauffhrung der Abflle im Vordergrund steht, hatte in Frankreich im Hinblick auf nationale Rohstoffknappheit von Beginn an der ‚Kampf gegen die Verschwendung‘ durch Abfallverwertung programmatisch Prioritt. In Deutschland verluft die Abfalldiskussion im Schatten der angekndigten Mllkatastrophe: das Land, vielleicht die Welt werden im Mll ersticken, wenn nicht sofort gehandelt wird. In Frankreich hingegen handelt es sich von Beginn an um ein staatlich angekndigtes, gleichwohl im Verlauf der Diskussion nicht eingelstes Beherrschungsversprechen bezglich des Mllaufkommens. Zu Beginn der 1970er Jahre, in der ersten Phase der neueren Abfallpolitik, setzt man in beiden Lndern auf technisch optimierte Abfallbeseitigung – etwa hhere Schornsteine, Deponienormierung – bzw. in Deutschland weniger, in Frankreich strker, auf die Frderung von Recycling. Technischer Fortschritt gilt als probates Mittel der Beseitigung der Nahfolgen. Danach geht die Entwicklung unterschiedliche Wege: In Frankreich bleibt es zunchst bei der Thematisierung von Nahfolgen, des sichtbaren Mlls. In Deutschland werden in den 1980er Jahren mit der Dioxinproblematik zunehmend definierte Fernfolgen der Mllbeseitigung diskutiert. Um das Hausmllthema konstituiert sich eine breite Brgerbewegung, die Mllbeseitigungstechnologien unter einen generellen Risikoverdacht stellt. Zunehmend entstehen Abfallwirtschaftskonzepte und Recyclinginitativen ‚von unten‘. Darauf wird 11
Vgl. zu den einzelnen Stationen des jeweiligen Regulierungsprozesses Keller (1998).
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politisch auch, aber nicht nur, mit neuer technischer Normierung der Entsorgungsstandards reagiert. Zustzlich werden im Kontext der Nachhaltigkeitsdiskussion Produktentwicklung und Konsumformen in globalisierten Verbrauchsparametern verortet. Die vergleichsweise weit ausholenden franzsischen Bemhungen der Abfallgesetzgebung Anfang der 1990er Jahre lassen sich als Antizipation und Import entsprechender (angekndigter) transnationaler Rechtsnormen verstehen.
3.2 Die bundesdeutsche Abfall-ffentlichkeit als Streitarena Im Vergleich der ffentlichen Diskussionen ber die richtige Mllpolitik in Deutschland und Frankreich wird die Rolle der Definitionsverhltnisse deutlich. In der Bundesrepublik streiten in der massenmedial vermittelten Abfalldiskussion von Beginn an zwei Diskurse um die legitime Interpretation des Abfallproblems: Experten und Medien verstehen sich hier auch als Anwlte kritischer Interessen schon Ende der 1960er Jahre – noch vor dem Entstehen der entsprechenden sozialen Bewegungen. Typisierend lassen sich die beiden erwhnten Diskurse benennen als strukturkonservativer Diskurs technisch-kologischer Modernisierung und als (herausfordernder) kulturkritischer Diskurs politisch-kologischer Restrukturierung. Sie unterscheiden sich durch ihre Deutungen des Hausmllproblems (vgl. Abbildung 1) und werden von unterschiedlichen Diskurskoalitionen getragen, deren Zusammensetzung sich im Verlauf der Diskussion verndert (Keller 1998, 270 ff.). Die ffentliche Resonanz des herausfordernden Abfalldiskurses bringt den strukturkonservativen Diskurs, der die materiale Bundesabfallpolitik dominiert, soweit in praktische Bedrngnis und Legitimationsnot, dass Ende der 80er Jahre grundstzlich neue Ansatzpunkte der Abfallpolitik ausgelotet werden mssen. Welche Interpretationen des Hausmllproblems werden nun in den erwhnten Diskursen vorgetragen? Welche Deutungsmuster spielen dabei eine Rolle?12 Fr den strukturkonservativen Diskurs entsteht das Abfallproblem aus der Diskrepanz zwischen verfgbaren Anlagen der Abfallbehandlung und dem Abfallaufkommen. Abfallentstehung ist demnach eine unabnderliche Begleiterscheinung von Wohlstand, Massenkonsum und Fortschritt. Die vernnftige Problemlsung besteht im Ausbau der fehlenden technischen Infrastruktur. Die modernen Anlagen der Abfallbehandlung gelten als sicher und umweltvertrglich. Staatliches Handeln soll sich auf ein Minimum an Rahmenbedingungen konzentrieren. Weitere Eingriffe in die Produktionsentscheidungen der Unternehmen sind nicht notwendig und gefhrden den Wirtschaftsstandort Deutschland. Im Kern werden hier Deutungsmuster verknpft, die die Autonomie des Marktes (der Wirtschaft) an die erste Stelle setzen, 12
Vgl. zur Vorgehensweise weiter oben Kapitel 2.2.
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das Abfallaufkommen als ein sich naturwchsig ergebendes und dann technisch handhabbares Problem begreifen. Natur gilt als unerschpfliche Ressource; die Position sieht sich selbst als verantwortungsethisch angemessen – gegen den blinden, irrationalen Eifer der Gesinnungsethiker. Der Diskurs favorisiert einen sachlichnchternen, technikorientierten Stil. Darin gleicht er seinem franzsischen Pendant (s.u.). Er hat seinen massenmedialen Ort in Zeitungen wie der FAZ oder Der Welt, dem Handelsblatt usw. Trger sind die CDU, die FDP, Teile der SPD, große Teile der Wirtschaft u. a.m. Spiegelbildlich dazu entwirft der alarmistische kulturkritische Abfalldiskurs die folgende Deutung der Abfallsituation: Die ‚Wegwerfgesellschaft‘ betreibt einen unmßigen Stoffverbrauch, der im Nord-Sd-Vergleich ethisch-moralisch ungerechtfertigt, im Hinblick auf die Begrenztheit der Ressourcen des Planeten und seiner Funktion als Schadstoffsenke auch kologisch unvernnftig, unverantwortlich und unmoralisch ist. Verantwortlich dafr sind die Produktions- und Absatzstrategien der Wirtschaft, die mit den Mitteln bestndiger Bedrfniserzeugung, Produktersetzung, der Umstellung auf Einweg-Produkte u. a.m. die gesellschaftliche WegwerfKultur erzeugt. Verantwortlich ist auch die Politik, da sie der Wirtschaft nicht die entsprechenden Rahmenbedingungen fr eine vernderte Stoffnutzung setzt. Von den existierenden Abfallbehandlungsanlagen gehen Gefhrdungen fr menschliche Gesundheit und die Umweltmedien (Luft, Wasser, Bden) aus, die in ihren Folgen kaum kalkulierbar und unakzeptabel sind. Technische Problemlsungen (auch Recyclingtechnologien) sind nur Hilfsmittel einer grundstzlich ntigen politischen Umsteuerung der Produktions- und Konsumverhltnisse. Erst die Neugestaltung der Rahmenbedingungen der Produktion fhrt von der Wegwerf-Gesellschaft hin zu einer ‚abfallarmen‘ Gesellschaft. Ausgangsprmisse der Argumentation ist hier die Annahme der Knappheit von Natur als Ressource und Schadstoffsenke. Abfallerzeugung gilt als gesellschaftlicher Prozess, der auf Entscheidungen beruht und der damit politisch reguliert werden kann und muss. Technische Abfallbehandlung steht unter einem generalisierten Risikoverdacht. Auch dieser Diskurs reklamiert fr sich eine allgemeine verantwortungsethische Position, hier allerdings gegenber partikularen Profitinteressen. Massenmedial vermittelt wird er etwa im Spiegel, Der Zeit, der taz, der Sddeutschen Zeitung, der Frankfurter Rundschau usw. Trger sind die Umweltverbnde, Teile der SPD, Die Grnen, einige Firmen, verschiedene Wissenschaftlergruppen u. a.m.
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kulturkritischer Abfalldiskurs: ‚politisch-kologische Restrukturierung‘ • • • • • •
Politisierung des Wirtschaftens Vergesellschaftung des Problems Wechsel des Entwicklungsmodells Risiko knappe Natur Verantwortungsethik vs.Profitinteresse
strukturkonservativer Abfalldiskurs: ‚technisch-kologische Modernisierung‘ • Autonomie der Wirtschaft • (Quasi-)Naturalisierung des Problems • Kontinuitt des Fortschritts • Technisch-administrative Kontrolle • unerschpfliche Natur • Verantwortungsethik vs. Gesinnungsethik
Abbildung 1: Diskurse und ihre Deutungsmuster in der deutschen Hausmlldiskussion13
Exemplarische Erluterungen ausgewhlter Deutungsmuster: (1) Strukturkonservativer Abfalldiskurs Autonomie der Wirtschaft Dieses Deutungsmuster setzt eine gesellschaftsinterne Trennung zwischen Bereichen der kollektiven (politischen) Gestaltbarkeit und Bereichen der individuellen (unternehmerischen) Gestaltbarkeit (d. h. kollektiven Nichtgestaltbarkeit). Diese konstituiert sich ber die Unterscheidung gesellschaftlicher Subsysteme mit autonomen Funktionslogiken und Zustndigkeiten – Wirtschaft (Autonomie ‚freier Marktwirtschaft‘, Befriedigung materieller Bedrfnisse) und Politik (Gestaltung des Zusammenlebens). Die Funktionslogik der ‚Wirtschaft‘ bestimmt die Grenzen des Gestaltungsspielraums von Politik. Ob die ‚Freiheit der Mrkte‘, die ‚Freiheit der Bedrfnisse‘, die ‚Folterinstrumente der Regierung‘ oder die ‚Gefhrdung des Wirtschaftsstandorts Deutschland‘ – um nur einige gngige Formeln aufzugreifen – beschworen wird, immer geht es darum, ein spezifisches Gesellschaftsmodell der Organisation des Verhltnisses von Wirtschaft und Politik (Administration) aufrecht zu erhalten.
13
Die immer mehr oder weniger glckliche Benennung von Deutungsmustern kann mitunter auf Begriff der analysierten Texte selbst zurckgreifen; meist muss sie eigene Etikette entwickeln. Die Erluterungen dienen der Nachvollziehbarkeit dessen, was gemeint ist. Ausfhrlichere Textbeispiele und Erluterungen der Deutungsmuster finden sich in Keller (1998), exemplarische Beispiele auch in Keller (2003b).
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(Quasi-)Naturalisierung Mit dem Begriff der (Quasi-)Naturalisierung ist ein soziokulturelles Deutungsmuster angesprochen, das (soziale) Phnomene auf als außergesellschaftlich gedachte Naturprozesse zurckfhrt. Bezieht man dieses Interpretationsschema auf gesellschaftliche Prozesse – hier am Beispiel des Abfallaufkommens –, dann entspricht ihm der Verweis auf unverfgbare systemische Grßen (wie Modernisierung, Fortschritt, Marktlogik, Bedrfnisentwicklung). Gesellschaft tritt sich darin selbst als ‚zweite Natur‘ gegenber und reagiert darauf mit den ‚klassischen‘ Mustern industriegesellschaftlicher Naturbegegnung (Gefahrenabwehr und Ausbeutung). (2) kulturkritischer Abfalldiskurs Knappe Natur Das zentrale Deutungsmuster der knappen Natur steht fr die Idee der absoluten, prinzipiellen Begrenztheit von Natur als Rohstoffressource und Schadstoffsenke. Beide Merkmale lassen sich nicht durch technischen Fortschritt in ihrer Geltungskraft aufheben. Notwendig wird deswegen eine gesellschaftliche Kontrolle der gesellschaftlichen Naturnutzung. Diese muss sich an Prinzipien der Vermeidung und Schonung von Natur, d. h. an der gesellschaftlichen Anpassung an ‚natrliche Grenzen‘ ausrichten. Es bedarf einer gesellschaftlichen Kontrollinstanz, die Langfristinteressen dergestalt wahrnimmt, dass sie in alle Formen der Naturnutzung regulierend eingreift. Vergesellschaftung Der Begriff der Vergesellschaftung bezeichnet ein soziokulturelles Deutungsmuster, das beobachtete (‚natrliche‘ oder soziale) Phnomene auf gesellschaftsinterne und damit als entscheidungsabhngig begriffene, d. h. gestaltbare Prozesse zurckfhrt. In einer solchen Interpretation werden zwar systemische Prozesse durchaus gesehen, aber gerade die Frage nach ihrer gesellschaftlicher Kontrolle aufgeworfen. Nicht die Abfallbeseitigung, sondern die Abfallentstehung, mehr noch, die rohstoffintensive Dingkultur ist das Handlungsproblem. Der kulturkritische Abfalldiskurs geht von der Idee gelingender gesellschaftlicher Selbstkontrolle aus. Aus der ffentlichen Konkurrenz und den Mobilisierungsanstrengungen der beiden Diskurse lsst sich die beidseitig unterschiedlich akzentuierte, aber immer hohe Bedeutung des Katastrophischen verstehen – der Mllfluten und Mllberge, in denen wir ersticken werden, der Vergiftungen, die von Behandlungstechnologien ausgehen knnen, des globalen Endes der Ressource Natur, aber auch der Verstopfung der Entsorgungswege und des Verlustes internationaler Wettbewerbsfhigkeit.14 Der 14
Was als Katastrophe gilt, kann mithin sehr unterschiedlich sein.
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kulturkritische Diskurs bernimmt in diesem Wettkampf die Rolle des Herausforderers und Zugpferdes; der strukturkonservative Diskurs folgt ihm nach und integriert zunehmend Teile der gegnerischen Problembeschreibung in sein Interpretationsrepertoire; dieses Zusammespiel beider Diskurse treibt – vermittelt ber die strukturkonservative Position – rechtliche und materiell-technische Standards voran. Anfang der 90er Jahre unterscheiden sich die benutzten Problembeschreibungen nur noch in Nuancen. Der Streit ist damit nicht aufgehoben, sondern entzndet sich jetzt an Begriffsinterpretationen und ihren handlungspraktischen Konsequenzen, etwa an der Frage, wann zulssigerweise von Abfallvermeidung gesprochen werden kann oder wie Leitbilder der ‚Kreislaufwirtschaft‘ oder der ‚Nachhaltigkeit‘ tatschlich regulierungs- und handlungspraktisch zu gestalten wren.
3.3 Die franzsische Abfall-ffentlichkeit als Ort hegemonialer Prsentation In Frankreich dominiert durchgehend ein etatistischer, administrativ-technischer Kontrolldiskurs die ffentliche Abfalldiskussion. Regelmßig beklagt er aus seiner hegemonialen Position heraus Defizite der Abfallbeseitigung und kndigt deren baldige Beseitigung an: die franzsische Zivilisation wird letztlich ber die Abflle triumphieren. Wissenschaftlich-technische Expertise steht – ffentlich unangefochten – im Dienste des Staates und damit des franzsischen Gesellschaftsprojektes. ‚Kritische‘ Stimmen zur Abfallsituation erscheinen in der massenmedial vermittelten ffentlichkeit einerseits als journalistische Appelle an den Staat, etwas zu tun (gegen miserable Deponiebedingungen, gegen auslndische Abfallimporte), andererseits und berwiegend als staatliche Vorwrfe an Wirtschaft, Kommunen und Brger wegen Fehlverhaltens, als Appelle an staatsbrgerliche ‚abfallcorrectness‘, sei es im Hinblick auf Einsparungen bei der nationalen Rohstoffbilanz oder das geforderte ‚intelligente‘ Wegwerfen und Beseitigen. Die Ankndigung einer baldigen technisch-zivilisatorischen Kontrolle der Abflle trgt Zge eines ffentlichen Rituals der nationalen Selbstvergewisserung und Selbstbeschwrung, der Selbstverpflichtung auf wissenschaftlich-technische Rationalitt und zivilisatorische Modernitt. Defizite der Abfallpolitik werden auf Einflsse von außen oder auf mangelnde staatsbrgerliche Disziplin zurckgefhrt. Die Interpretation des Abfallproblems, die der in erster Linie von den Agenturen des Staates getragene technisch-administrative Abfalldiskurs in Frankreich anbietet, lsst sich folgendermaßen zusammenfassen (Keller 1998, 276 ff.): Die in Modernisierungs- und Rationalisierungsprozessen sich verndernden Produktions- und Konsumtionsweisen und der dadurch induzierte materielle Wohlstand fhren zu hherem Abfallaufkommen. Dies wird aus zwei Grnden problematisch: Einerseits
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gefhrden wilde, unkontrollierte Abfallablagerungen die Umwelt und dadurch auch die menschliche Gesundheit. Sie stellen darberhinaus eine sthetische Belstigung (Beeintrchtigung des Landschaftsbildes) dar. Ursache dieser Zustnde ist moralisch schuldhaftes, z. T. auch illegales Verhalten (zivil)gesellschaftlicher Akteure (der zustndigen Gebietskrperschaften, der Wirtschaft oder der Brger), die aus Grnden der Geldeinsparung und Bequemlichkeit gewissenlos mglichst billig ‚entsorgen‘. Andererseits enthalten die Abflle enorme Rohstoffpotentiale, die es zur Verbesserung der nationalen wirtschaftlichen Souvernitt und angesichts nationaler Begrenztheit der Rohstoffvorkommen besser zu verwerten gilt. Zustzlich gefhrden die zahlreichen Abfallimporte die nationale Ehre. Die Abfallsituation kann durch bessere Beseitigungs- und Verwertungstechnologien vollstndig gemeistert werden. Die bisherigen zivilgesellschaftlichen Widerstnde gegen Abfallbehandlungsanlagen haben ihre Ursachen in irrationalen Verdrngungsmechanismen und Mentalittsrckstnden. Demgegenber ist die Leistungsfhigkeit modernen, wissenschaftlichtechnischen know hows bei der Abfallbeseitigung und -verwertung hervorzuheben. Eine in diesem Sinne moderne Abfallpolitik kann alle Probleme lsen, sofern die gesellschaftlichen Akteure sich ihrer (staatsbrgerlichen) Verantwortung bewusst sind, d. h. Bereitschaft zeigen, die technische Modernisierung zu finanzieren und sich an den entsprechenden Entsorgungs- und Verwertungsinfrastrukturen zu beteiligen. Diese pragmatisch-rationalistische Position gilt es gegen mangelnde staatsbrgerliche Verantwortung der Zivilgesellschaft durchzusetzen. In den Massenmedien hat dieser Diskurs seinen Ort im gesamten konservativen, liberalen oder kritischen Zeitungsspektrum, von ‚Le Figaro‘ ber ‚Le Monde‘ bis hin zu ‚Liberation‘. Trger sind die Regierung, die franzsische Umweltbehrde ADEME, die Wirtschaft, verschiedene Umweltverbnde u. a.m. administrativer Abfalldiskurs: ‚soziotechnische Modernisierung‘ • • • • • •
Nationales Interesse (Quasi-)Naturalisierung des Problems Zivilisatorisch-technischer Fortschritt und Modernitt Soziotechnisch-administrative Kontrolle des Abfalls Gestaltbare Natur Pragmatische Vernunft vs. mangelnder Staatsbrgersinn
Abbildung 2: Deutungsmuster des hegemonialen Diskurses in der franzsischen Hausmlldiskussion
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Exemplarische Erluterung ausgewhlter Deutungsmuster Nationales Interesse Der Staat und sein technisch-administrativer Apparat bilden die gemeinwohlorientierte Verkrperung des gesellschaftlichen Gesamtinteresses, dem die einzelnen gesellschaftlichen Akteure sich einsichtig unterordnen (mssen bzw. sollen). Er bernimmt die abfall- und sozio-technische Modernisierung der Zivilgesellschaft durch gezielte wissenschaftlich-(sozio)technische Innovation. Er sichert gleichzeitig die Verwertungsbedingungen der franzsischen Wirtschaft als Voraussetzung des nationalen Wohlstandes und der nationalen Souvernitt, die sich unter anderem am Gradmesser der Autarkie – etwa im Bereich der Energieversorgung und der Verteidigung – bemisst. Der Staat ist Animateur der Zivilgesellschaft, umfassender und unumstrittener Erzieher von Wirtschaft, Kommunen und Staatsbrgern. Zivilisatorisch-technischer Fortschritt und Modernitt Damit ist ein Deutungskomplex angesprochen, der das Selbstverstndnis der franzsischen Nation zum Ausdruck bringt. Im linearen Fortschrittsprozess zu mehr Wohlstand und mehr Lebensqualitt entfaltet sich zugleich die Rationalitt einer aufgeklrten Nation. Die Abflle bilden hier eine vorbergehende, aber bewltigbare Gefhrdung – als ‚wilde Deponie‘ einen Einbruch der Natur in die zivilisatorische Errungenschaft ffentlicher Ordnung und Hygiene, als ‚Verschwendungsphnomen‘ einen Angriff auf moralische und konomische Gebote aufgeklrter, effizienter, d. h. vernnftiger Naturnutzung. Die Rede vom hegemonialen Diskurs deutet schon darauf hin, dass es sich im franzsischen Fall um eine relative, gleichwohl im Beobachtungszeitraum stabile Machtposition handelt. Dieser Diskurs bzw. seine Protagonisten sprechen unangefochten im Namen des Staates und des nationalen Interesses. Auch wenn dabei einige Gemeinsamkeiten mit dem deutschen strukturkonservativen Abfalldiskurs deutlich werden – etwa hinsichtlich des Vertrauens in die prinzipielle technische Beherrschbarkeit des Abfallaufkommens – kommt es hier jedoch aufgrund der fehlenden ffentlichen Herausforderung nicht zur Legitimationskrise. Wesentliche Impulse seiner Abfallpolitik erhlt er denn auch – neben massenmedial vermittelten Appellen an die Wahrnehmung der staatlichen Verantwortung fr die nationalen Interessen – durch die Antizipation EU-weiter Regulierungsbemhungen in der Abfallpolitik. Damit ist er indirekt von der bundesdeutschen Diskursdynamik betroffen. Allerdings existiert – bei genauerer Betrachtung – auch in Frankreich ein kulturkritischer Abfalldiskurs. Dieser wird von Netzwerken kritischer Wissenschaftler, auch von Greenpeace (nicht aber von anderen Umweltverbnden), von kleinen Teilen der franzsischen Grnen und in der Alternativpresse formuliert. Seine Deutungs-
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muster und Positionen sind identisch mit dem deutschen Pendant; er bezieht daher mitunter auch seine Argumentationsgrundlagen. Er ist jedoch in den Massenmedien nicht reprsentiert; er liefert im beobachteten Zeitraum keine legitime Definition der Abfallwirklichkeit. Er erscheint im ffentlichen Resonanzraum Frankreichs weder als um Anerkennung ringende noch als berhaupt existierende Reprsentation der Abfallfrage – ein Paradebeispiel ‚kultureller Exklusion‘: Obwohl es ihn gibt, hat er – bis auf weiteres – keinen Einfluss auf das entsprechende Diskursfeld.15 Die legitime, ffentlich anerkannte und sichtbare franzsische ‚Kultur‘ reproduziert sich im und durch den hegemonialen Diskurs als reiner und gereinigter Fortschrittsrationalismus.
4. Die permanente Produktion kultureller Unterschiede Die vorgestellten Ergebnisse zeigen, wie Kulturen als Diskursfelder, d. h. im Medium der diskursiven Produktion und Reproduktion von symbolischen und institutionellen Strukturen stabilisiert werden und wie sie sich durch spezifische Kombinationen und Auswahlen von Deutungsmustern voneinander unterscheiden, wie sie sich aber auch nach Maßgabe bestimmter ‚Sachzwnge‘ – wie bspw. verfgbare technologische Optionen, transnationale Regulierungsregime – hneln. Im Falle der Bundesrepublik handelt es sich um eine politische Kultur der Kommunikation ber Umweltthemen; fr Frankreich kann entsprechend von einer technischen Kommunikationskultur gesprochen werden. Die Attribute ‚politisch‘ und ‚technisch‘ beziehen sich auf die Art und Weise, den Modus oder Stil, wie etwas Thema wird. Eine technische Kultur der Umweltdiskussion orientiert sich an wissenschaftlichtechnischer Expertenrationalitt. Diese wird als eindeutig begriffen: klare Aussagenhierarchisierungen sind mglich. Das prgt die Journalisten und ihre Problemwahrnehmung ebenso wie die administrativen Machteliten und Experten, und im Zusammenspiel aller die verffentlichte Interpretation der Mllsituation. Es gibt genau eine richtige Beschreibung des Abfallproblems. Darber kann nationaler Expertenkonsens als Entscheidungsgrundlage hergestellt werden. Die politische Kultur der Umweltdiskussion erzeugt dagegen eine publikumswirksame Situation der Expertisen- und Interpretationskonkurrenz. Sie erffnet und ‚verffentlicht‘ Kontingenzspielrume der Situationsdefinition. Dies gilt auch dann, wenn jeder der konkurrierenden Diskurse fr sich selbst genommen davon berzeugt ist, ber die ber15
Ich kann hier nicht nher auf die Potenziale einer entsprechenden Vernderung eingehen. Ein sozialwissenschaftliches Interpretationsangebot zur Transformation diskursiver Regime macht die ‚Theorie reflexiver Modernisierung‘, die katastrophischen Ereignissen und Vernderungen der Risikoakzeptanz einen wichtigen Stellenwert einrumt. Eine diesbezgliche Interpretation des vorliegenden Beispiels findet sich in Keller (1998) und Keller (2000).
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legenen, eindeutigen Argumentationsgrundlagen zu verfgen. Es gibt nicht nur eine staatlich autorisierte Quelle der wissenschaftlich-technischen Wahrheit des Mlls. Die Erklrung der beobachteten und in diesem Fall nationalstaatlich fixierbaren Unterschiede kann allerdings nicht bei der semantischen Seite von Diskursstrukturen verharren, sondern muss auf die institutionellen Felder und Akteure verweisen, in denen und von denen sie produziert werden: das Zusammenspiel von Ministerien, Experten, Journalisten, Medienbetrieb, Wirtschafts- und Umweltverbnden, die die entsprechenden, ‚passenden‘ Intepretationspartikel formulieren und kommunizieren. Diese institutionellen Gefge sind selbst geronnene ‚Kultur‘, auf Dauer gestellte, machtvolle Entscheidungstrukturen ber legitime Diskussionsbeitrge. Als kontingente, historisch gewachsene und situierte soziokulturelle Gelegenheitsstrukturen formen sie die gesellschaftlichen Definitionsverhltnisse. Was Beobachtern als tiefsitzende nationale Traditionen, Dispositionen und Sensibilitten fr Umweltprobleme erscheint, ist in genau diesem Sinne Ergebnis der bestndigen aktiven Herstellungsleistung kollektiver Akteure im Rahmen eines bestehenden institutionell-kulturellen Gefges. Die verschiedenen, in Diskurse verstrickten Akteure erzeugen im Rckgriff auf tradierte und resonanzfhige Interpretationsmuster unterschiedliche ffentliche (massenmediale) Reprsentationen von Umwelt. Sie verankern spezifisch gefilterte Deutungsmuster von Umweltproblemen im ‚kollektiven Gedchtnis‘. Die Strukturierungen der Diskurse sind die kulturelle Tradition, die in Institutionen geronnen ist und im Abfalldiskurs symbolisch legitimiert und fortgeschrieben wird, d. h. sich im Medium der Abfalldebatte reproduziert. Die materialen Abfallpolitiken beider Lnder unterscheiden sich, wie weiter oben erwhnt, trotz der unterschiedlichen Diskussionsverlufe nicht prinzipiell, sondern graduell. Dafr gibt es drei Grnde: Zum einen bestehen viele Gemeinsamkeiten der Probleminterpretation zwischen dem deutschen strukturkonservativen und dem franzsischen technisch-administrativen Diskurs, die jeweils ber die materiale Abfallpolitik im Untersuchungszeitraum entscheiden. Dazu zhlt etwa der jeweilige argumentative Bezug auf ‚Nachhaltigkeit‘ im Rahmen der abfallpolitischen Regulierungen Anfang der 1990er Jahre, in der Zeit der ersten Rio-Konferenz. Zum zweiten resultiert der ‚Vorsprung‘ der bundesdeutschen Abfallpolitik aus der hohen ffentlichen Legitimitt des herausfordernden kulturkritischen Abfalldiskurs, die den regierungstragenden strukturkonservativen Abfalldiskurs zu immer weiterreichenden Maßnahmen zwingt. Daraus entsteht die Innovationsdynamik der bundesdeutschen Abfalldiskussion. Frankreichs Abfallpolitik der frhen 1990er Jahre ist dann drittens als Import der bundesdeutschen Diskursdynamik durch internationale Regulierungsvernetzung – vermittelt ber die EU – zu verstehen. Bei dem erwhnten letzten Punkt handelt es sich – bezogen auf die deutschen Diskurse – um eine Art ‚externen Diskurseffekt‘. Um einen solchen Zusammenhang zu erkennen, muss sich die Diskursforschung allerdings von einer allzu starken Textkonzentration
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lsen und Wissen ber Kontextprozesse – in diesem Fall rechtliche Regulierungsziele auf EU-Ebene – einbeziehen. ‚Diskursextern‘ sind diese freilich nur in Bezug auf die hier untersuchten ffentlichen, massenmedialen Diskurse. Je tiefer die Diskursanalyse bspw. in die internen institutionellen Diskurse der franzsischen Politik und Administration eintaucht, desto strker kann sie – wie die im Rahmen der durchgefhrten Untersuchung zu Informationszwecken ausgewerteten Interviews und administrationsinternen abfallpolitischen Dokumente zeigen – die hier genannten Zusammenhnge als diskursiv manifestierte rekonstruieren. Allerdings muss jede sozialwissenschaftliche Diskursforschung, die sich von der reinen Textebene lst – will sie sich nicht in der Unendlichkeit der Rekonstruktion verlieren – bestimmte Kontext-Parameter ihres Untersuchungsgegenstandes als gegeben voraussetzen, wohl wissend, dass auch solche (bspw. institutionellen) Kontexte als kristallisierte Diskurse begriffen werden knnen.
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Die Gegenwart der Vergangenheit
Franc Wagner
Metaphernszenarien in der Zwangsarbeiter-Kontroverse 1. Einleitung Die Bedeutung von Metaphern im politischen Diskurs wurde in Zusammenhang mit den Terroranschlgen vom 11. September 2001 besonders deutlich. Die westlichen Regierungen berboten sich gegenseitig in Kriegsrhetorik. Metaphern wie „Kampf“, „Krieg“ und „Kreuzzug“ waren an der Tagesordnung. Es wurde z. B. deutlich, wie brisant sich die Bedeutung von „beenden“ verschiebt, wenn es, in metaphorischer Weise, auf den Gegenstandsbereich eines politischen Staates angewandt wird. Der stellvertretende US-Außenminister Wolfowitz hatte mit seiner Drohung, Staaten auszuschalten (ending states), die Terrorismus untersttzten (vgl. z. B. Basler Zeitung, 13.11.2001), international fr erhebliche Irritationen gesorgt. Die genannten Beispiele bestehen aus jeweils einer isoliert auftretenden Metapher. Mein Projekt, ber das ich hier berichten mchte, befasste sich nicht mit der Wirkung einzelner Metaphern, sondern mit dem Zusammenwirken mehrerer Metaphern in sogenannten Metaphern-Szenarien. Szenarien knnen als eine Art Momentaufnahme einer bewegten Szene betrachtet werden: Sie stellen die Handlung immer unter einer bestimmten Perspektive dar. Die Metaphern-Szenarien erffnen fr die beteiligten Personen spezifische Rollen. Entsprechend ihrer Funktion innerhalb des Szenarios sind die Rollen mit einer Wertung vorbelegt. Die Besetzung dieser Rollen mit Protagonisten bettet diese in die Struktur des Szenarios ein und belegt die Protagonisten mit einer expliziten oder impliziten Bewertung. Als Beispiel kann die im selben historischen Zusammenhang von Prsident George W. Bush gehaltene Rede vom „Kampf des Guten gegen das Bse“ gelten. Das darin enthaltene Metaphern-Szenario reduziert die Welt auf zwei Rollen, die explizit mit einer positiven und einer negativen Bewertung versehen sind: das Gute und das Bse. Bush griff in Zusammenhang mit den Bemhungen um eine internationale Allianz das Szenario wieder auf, und gab der Welt zu verstehen: „Entweder ihr seid fr uns, oder ihr seid fr den Terrorismus“ (vgl. z. B. Frankfurter Rundschau, 22.11.2001, S. 3). Eine andere Mglichkeit, als entweder zu den Guten oder aber zu den Bsen zu gehren, wurde in diesem Szenario ausgeschlossen.
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2. Projektbeschreibung Der vorliegende Beitrag basiert auf den Ergebnissen meines Projekts „Bewertungen mit Metaphern in Medientexten“1. Das Projekt entstand aus der Auseinandersetzung mit Printmedien im Internet (Wagner 1996, 1998) und mit Bewertungen in sprachlichen Diskriminierungen (Wagner 2001). Die linguistische Fragestellung des Projekts lautete: „Wie werden in Medientexten mit Metaphern Bewertungen realisiert?“ Die theoretische Basis bildeten die linguistische Bewertungstheorie (Sandig 1979), die kognitive Metapherntheorie (Lakoff & Johnson 1980, Liebert 1992) sowie berlegungen zum Verhltnis von Phraseologie und Metaphorik (Burger 1996). Die Bewertungstheorie besagt stark vereinfacht, dass etwas immer in Relation zu anderen Dingen bewertet wird. Das bedingt das Vorhandensein eines Bewertungsmaßstabs, an welchem der Bewertungsgegenstand ebenso gemessen werden kann wie die Vergleichsgegenstnde. Die eigentliche Bewertung besteht dabei in der Einstufung des Bewertungsgegenstands bezglich des gewhlten Bewertungsmaßstabs. Der Bewertungsmaßstab garantiert dabei eine einheitliche und konsistente Bewertung aller Entitten eines thematisierten Universums. Die kognitive Metapherntheorie geht davon aus, dass Metaphern unser Wissen organisieren und unsere Alltagswelt strukturieren. In einem konsistent aufgebauten Text bilden die verwendeten Metaphern ein Modell des berichteten Ereignisses. Fr die Konkretisierung der Modellidee ergnzen wir die kognitive Metapherntheorie um einen schematheoretischen Ansatz. Besteht das Ereignis aus Handlungen mit einem oder mehreren Protagonisten, kann das von den Metaphern entworfene Modell als Szenario interpretiert werden. Ein Szenario ist ein Handlungsschema, das ein Ereignis als Ganzes modelliert und das spezifische Rollen fr die Protagonisten der Handlung erffnet. Jedes Szenario enthlt implizit eine Interpretation der modellierten Handlung und damit eine Dimension der Wertigkeit seiner Bestandteile. Die Stellung der einzelnen Rollen innerhalb des Szenarios kommt einer Einstufung der Rollen bezglich eines Bewertungsmaßstabs gleich. Die Einstufung bezglich eines Bewertungsmaßstabs entspricht, stark vereinfacht, dem Vorgang des Bewertens in der Theorie von Sandig und verbindet die kognitive Metaphern- mit der Bewertungs-Theorie. Mit den Metaphern eng verbunden sind die Phraseologismen, relativ stabile Wortverbindungen, deren Gesamtbedeutung von der wrtlichen Bedeutung abweicht, wie z. B. in „jmd. auf den Wecker gehen“, oder dessen wrtliche Bedeutung nicht mehr verfgbar ist, wie z. B. in „Maulaffen feilhalten“. Die Gesamtbedeutung eines Phraseologismus ist oft metaphorischer Natur, wodurch der bergang zwi1
Fr die Frderung des Projekts von 1998 bis 2002 danke ich dem Schweizerischen Nationalfonds
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schen Metapher und Phraseologie fließend wird. Burger (1996) fhrt als Unterscheidung die „Lebendigkeit“ an, weist aber zugleich darauf hin, dass Lebendigkeit kein einheitliches Phnomen darstellt. Die Lebendigkeit eines Ausdrucks schließt die Mglichkeit mit ein, verschiedene Lesarten zu aktivieren, oder aber auch die wrtliche Bedeutung einzelner Bestandteile. Die Abgrenzung zwischen Metapher und Phraseologismus ist entsprechend schwierig zu ziehen. In der Diskussion der Ergebnisse wurde diese Unterscheidung daher ausgeklammert. Untersuchungsgegenstand des Projekts waren Medientexte zum Thema „NSRaubgold“ in der Schweiz, resp. „NS-Zwangsarbeit“ in Deutschland und sterreich in den Jahren 1996 – 2000. Die Themen „Raubgold“ und „Zwangsarbeit“ wurden gewhlt, da sie in den Medien hufig aufgegriffen wurden und offensichtlich das Selbstverstndnis der betroffenen Lnder berhrten. Die teilweise sehr emotionale Berichterstattung ließ Bewertungen deutlicher hervortreten, als es sonst in Medientexten blich ist. Der Vorwurf, Ereignisse whrend der Nazi-Herrschaft zu vertuschen oder zu beschnigen, traf alle drei Nationen hart und bedrohte ihr Selbstbild. Die jeweiligen Regierungen waren von Anfang an um Aufklrung bemht, um das Bild des Kollaborateurs und Profiteurs mglichst rasch wieder los zu werden. Sie bemhten sich, diese ußerst negativen Elemente aus der Fremdwahrnehmung zu tilgen, damit diese nicht zum Leitbild in der Beurteilung ihrer Nation im Ausland wurden. Dies zeigte sich z. B. in der hochkartigen Besetzung der Position der Verhandlungsfhrer. Die Schweiz setzte eine „Task Force Schweiz – Zweiter Weltkrieg“ und eine Historiker-Kommission, die Bergier-Kommission, ein. Die Schweizer Banken bildeten eine Banken-Kommission, das Volcker-Komitee. Der deutsche Kanzler setzte den ehemaligen Finanzminister Otto Graf Lambsdorff als Sonderbeauftragten ein. Die deutsche Wirtschaft grndete eine Stiftungsinitiative. sterreich verpflichtete die frhere Nationalbankprsidentin Maria Schaumayer als Regierungsbeauftragte fr die Entschdigungs-Verhandlungen. In drei Projektphasen wurden Texte aus Printmedien der Lnder Schweiz, Deutschland und sterreich zu den genannten Themen akquiriert, analysiert und die Ergebnisse miteinander verglichen. In einer vierten Phase wurden zustzlich Texte aus Nonprint-Medien zu den selben Themen akquiriert und bearbeitet. Die linguistische Fragestellung lautete, wie bereits erwhnt, „Wie werden allgemein in Medientexten mit Metaphern Bewertungen realisiert?“ Die mit dem Untersuchungsgegenstand verbundene empirische Fragestellung lautete: „Welches Bild der Schweiz, resp. welches Selbstbild entwarfen die Bewertungen in den deutschsprachigen Medien?“ Aus dem Ergebnis der Metaphernanalyse wurde versucht, das im medialen Diskurs entworfene Selbstbild des Landes zu rekonstruieren. Aussagen ber das reale Selbstbild der jeweiligen Staaten resp. ihrer Bewohner waren nicht Ziel der Untersuchung.
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3. Methodik Die Verfgbarkeit von Medientexten auf CD-ROM und im Internet ermglicht es, grssere Textkorpora fr linguistische Analysen aufzubauen (vgl. Wagner 1998). Mit der Textmenge wachsen aber auch die Probleme, das umfangreiche Material bewltigen zu knnen. Computeruntersttzte Verfahren werden nicht nur fr die Akquisition, sondern auch fr die Analyse der Texte notwendig. Ein von mir erstelltes mehrstufiges Analysemodell reflektiert diese neue Analysesituation (vgl. Wagner 1996). Eine der Untersuchung angepasste Abfolge von „automatisierten“ und „manuellen“ Analyseschritten garantiert sowohl die Reduktion des Untersuchungsmaterials auf ein handhabbares Maß als auch empirisch valide Ergebnisse durch die Verwendung qualitativer linguistischer Analyseverfahren. Zur Bewltigung der Datenmengen wurde auf korpuslinguistische Verfahren wie die Stichwortsuche und das Erstellen von Konkordanzen zurckgegriffen. Um auch linguistische Analysen auf Wort-, Satz- oder Text-Ebene zu ermglichen, wurde das mehrstufige Analyse-Verfahren fr die Bedrfnisse des Projekts angepasst. Die Stichwortsuche ermglichte die automatische Reduktion nach formalen Kriterien, ein manuelles Sichten und Vergleichen erlaubte die Anwendung ausgearbeiteter linguistischer Analyseverfahren. Die Kombination von automatischen und manuellen Schritten ermglichte es somit, sowohl dem Kriterium der Reprsentativitt als auch dem der Relevanz gerecht zu werden. Die im Projekt analysierten Texte stammen aus Jahrgangsarchiven im Internet resp. auf CD-ROM. Das Ziel war es, eine mglichst breite Datenbasis zu analysieren. Es wurden mehrere Medientitel ausgewhlt und davon, soweit erhltlich, die Jahrgnge 1996 – 2000 untersucht. Beim resultierenden Korpusumfang war es nicht mehr mglich, jeden Text einzeln zu sichten. Die zu analysierende Textmenge musste reduziert werden, um sinnvoll arbeiten zu knnen. Insgesamt wurden in den vier Projektphasen folgende Textmengen akquiriert und analysiert: Korpora
Texte insgesamt
Themenspezifische Texte
Korpus Schweiz
WWW-Recherche
622
Korpus Deutschland
1.116
1.073
Korpus sterreich
2.891
1.738
Korpus Nonprint
585
464
Alle Korpora
> 4.592
3.897
Tabelle 1: Akquirierte und analysierte Textmengen in den vier Projektphasen
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Im Projekt wurden insgesamt folgende Analyseschritte vorgenommen: 1. Untersuchungskorpus zusammenstellen Aus verfgbaren digitalen Zeitungsarchiven (Internet, CD-ROM-Ausgaben) wurde ein Untersuchungskorpus der verbreitetsten Medien-Titel jedes Landes zusammengestellt. 2. Stichwort-Recherche Mittels einer Stichwort-Recherche wurden aus dem Untersuchungskorpus jene Texte selektiert, die die Stichworte ‚Raubgold‘ oder ‚Zwangsarbeit‘ enthielten. 3. Themen-Recherche Die mittels Stichwort-Recherche selektierten Texte wurden manuell durchgesehen und nach Themen gruppiert. Thematisch nicht relevante Texte wurden eliminiert. 4. Schlsselmetaphern-Recherche Die thematisch relevanten Texte wurden manuell nach Schlsselmetaphern durchsucht. Dabei war das Ziel zu ermitteln, welche Lexemmetaphern besonders hufig verwendet wurden. Diese wurden als fr die Berichterstattung zum jeweiligen Thema als zentral betrachtet und bildeten den Ausgangspunkt fr die Analyse der Metaphernbereiche. 5. Schlsselmetaphern zu Metaphernbereichen zusammenfassen Die isolierten Schlsselmetaphern wurden bezglich ihres Urbildbereichs analysiert. Die Urbilder wurden manuell Metaphernbereichen zugeordnet. 6. Metaphorische Szenarien rekonstruieren Aus den aufgefundenen Metaphernbereichen und den zugehrigen Schlsselmetaphern wurden manuell Metaphern-Szenarien rekonstruiert. Dabei wurde darauf geachtet, ob sich in einem Metaphernbereich mehrere Lexemmetaphern thematisch um eine Schlsselmetapher gruppierten und zusammen mit dieser eine Metaphern-Insel bildeten. Wiesen diese Gruppierungen eine zusammenhngende Struktur mit sich ergnzenden Rollen auf, wurden sie zu MetaphernSzenarien ergnzt. 7. Rollen-Inventar und -Besetzung auswerten In den jeweiligen Szenarien werden spezifische Rollen mit entsprechender Wertigkeit erffnet. Die Verteilung der Protagonisten auf die vorhandenen Rollen verleiht diesen die Wertigkeit der eingenommenen Rolle. Die Analyse der Bewertung eines Protagonisten bestand somit in der Rekonstruktion von dessen Rolle innerhalb des Metaphernszenarios. 8. Vergleich auf Lnder-Ebene Die Zusammenfassung der in den Szenarien enthaltenen Bewertungen ermglichte eine Aussage ber das medial vermittelte Selbstbild des jeweiligen Landes. Die Bewertungen in den Szenarien zu den Nachbarlndern erlaubten eine Einschtzung der medialen Fremdbilder.
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Der Nutzen dieses mehrstufigen Vorgehens lag in der Reduktion der Gesamttextmenge auf die thematisch relevanten Texte. Erst die reduzierte Textmenge konnte mit vertretbarem Aufwand linguistisch analysiert werden. Im Falle der sterreichischen Printmedien z. B. reduzierte die mehrstufige Analyse die Textmenge von anfnglich ber 2,5 Mio. auf ca. 1700 Texte.
4. Einige Metaphern-Szenarien Zur Veranschaulichung des Analysematerials und der Ergebnisqualitt seien exemplarisch drei Metaphernbereiche und einige dazu in den deutschen Printmedien realisierte Metaphern-Szenarien angefhrt. Mit Metaphern-Szenarien knnen Ereignisse, wie hier die Verhandlungen um die Zwangsarbeits-Entschdigung, aus verschiedenen Perspektiven modelliert werden. Die Wahl des Szenarios bestimmt sowohl die modellierten Aspekte, als auch die mglichen Perspektiven. Jedes Szenario erffnet unterschiedliche Rollen: aktive, passive oder auch neutrale. Durch die Belegung der Rollen mit realen Protagonisten werden diese einer Bewertung unterzogen. In den Berichten ber die Verhandlungen zu den Raubgold-Vorwrfen resp. zu den Zwangsarbeits-Entschdigungen fanden sich sowohl eher allgemeine Szenarien, wie z. B. Verkehrs- und Spiel-Szenarien, aber auch spezifischer auf die konkreten Verhandlungen zugeschnittene Szenarien wie z. B. Humanitts-Szenarien und Szenarien des „sich verstecken/sich durchschummeln“. Beide Arten von Szenarien trugen ihren Teil zur Modellierung und Bewertung der Verhandlungen bei. Verkehrs-Szenarien Der Verlauf der Verhandlungen wurde oft mit Verkehrs-Szenarien modelliert. Diese entwarfen aktive Handlungen wie „bremsen“ und „signalisieren“, oder eher neutrale wie „auf Gelb stehen“. • „Lambsdorff bremst finanzielle Erwartungen der NS-Opfer“ (FR 4.10.1999). • „Die beklagten Firmen signalisieren Entgegenkommen, lehnen jedoch einen Vergleich ab – dabei drngt die Zeit“ (SZ 4.6.1999). • „Die Ampel stehe ‚nicht mehr auf Rot, sondern auf Gelb‘“ (SZ 17.4.1999). Spiel-Szenarien Die Verhandlungen wurden auch als Spiel modelliert werden, das bestimmten Regeln folgt. Als Szenario wurden unterschiedliche Spiele gewhlt: eher auf Tuschung basierende wie „Poker“, aber auch neutralere wie „Schwarzer Peter“ oder „Mikado“. • „Es wird gefeilscht, gedroht und gepokert.“ (SZ 18.11.1999)
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• „Sie wollen sich keinesfalls den ‚Schwarzen Peter‘ zuschieben lassen, wenn die Konzerne sie beschuldigen, mit berhhten Forderungen einen Kompromiss zu blockieren.“ (FR 25.11.1999) • „Es ist jedoch zu befrchten, dass er irrt und statt dessen jetzt ein ‚Zwangsarbeiter-Entschdigungs-Mikado‘ beginnt: Wer etwas zugibt, hat schon verloren und muss zahlen.“ (SZ 27.2.1999)
Humanitt Metaphern der Humanitt werden gerne in Sonntagsreden verwendet, um die Lauterkeit der eigenen Absichten herauszustellen. In den Verhandlungen um die Zwangsarbeiterentschdigung wurden sie dazu verwendet, den wahren Charakter der Verhandlungen zu kaschieren. • Die deutsche Stiftung wird als „humanitre Geste“ bezeichnet: „Gleichzeitig wird man nicht mde, zu betonen, dass es sich bei dieser Stiftung um eine rein humanitre Geste handelt“ (FR 28.8.1999). • Das deutsche Angebot wird als „humanitrer Akt“ statt als Eingehen auf berechtigte Ansprche deklariert: „Das liegt auch daran, dass sonst der gesamte Komplex der Reparationen wieder geffnet [...] Das Angebot von Industrie und Bund wird daher nicht ‚Entschdigung‘, sondern ‚humanitrer Akt‘ genannt“ (HA 15.11.1999). • Diese Metapher wird von einigen Berichterstattern bernommen: „Noch nie stand der Versuch der humanitren Aufarbeitung dieses Kapitels dieses inhumanen Jahrhunderts so dicht vor dem Scheitern“ (Welt 9.12.1999). • Andere Artikel zitierten auslndische Medien, die das metaphorische Szenario der humanitren Geste ebenfalls aufgriffen, daraus aber folgerten, dass den Adressaten dieser Geste nur die Rolle zukommen knne, Almosen entgegen zu nehmen: „In polnischen Medienberichten war gar von einem ‚deutschen Almosen‘ die Rede“ (HA 9.10.1999). • Auch deutsche Zeitungen beleuchten diese Metapher kritisch, z. B. indem sie die Gegenseite zu Wort kommen lassen: „Das, entgegnete einer von der anderen Seite, sei zwar richtig. Aber, setzte er dem Vernehmen nach hinzu: ‚Man kann nicht moralische Absolution zu Ausverkaufspreisen bekommen‘“ (FR 28.8.1999). Sich verstecken/sich durchschummeln Der am hufigsten formulierte und zugleich am schwierigsten zu fassende implizite Vorwurf an die Adresse der deutschen Industrie war der des „sich Verstecken“ resp. des „Schummelns“. Dieser implizite Vorwurf fand sich in sehr unterschiedliche Metaphorisierungen verpackt, denen allen gemeinsam war, dass die dargestellten Handlungen sehr negativ bewertet werden:
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• „Aber vielleicht hilft ja nach den langen Verhandlungen doch noch der Druck auf die mehreren hundert Firmen nach, die bislang abtauchten, wenn von Entschdigung die Rede war“ (FR 7.10.1999). • „‚Firmen wollen sich billig davonstehlen‘“ (FR 3.12.1999). • „Es sei eine ‚Dummheit der mittelstndischen Unternehmen zu glauben, sie kmen ungeschoren davon und wrden nicht zur Verantwortung gezogen‘ fr die Zwangsarbeiter-Rekrutierung im Zweiten Weltkrieg“ (FR 10.12.1999). • „In der Konsequenz heißt dies zugleich, nun knnen sich endgltig jene aus dem Staub machen, denen es damit gelungen ist, ihre Verantwortung vom Einzelnen auf die Allgemeinheit zu verlagern“ (FR 16.12.1999). • „Jahre der Nazi-Diktatur in Deutschland, muss man offensiv angehen. Man kann sich an ihnen nicht vorbeidrcken“ (FR 18.12.1999). • „In Schrders Erklrung hieß es ferner, jeder Versuch, sich aus der historischen Verantwortung zu stehlen, sei zum Scheitern verurteilt“ (SZ 28.1.1999). • „Nur ein Prozent hat bislang in den Entschdigungsfonds einbezahlt. Die anderen ducken sich weg und murmeln Ausreden“ (SZ 17.11.1999). • „Wie auch immer: Die Zeit der Ausflchte, Ausreden und Fisimatenten ist vorbei“ (SZ 17.2.1999).
5. Ergebnisse 5.1 Schweizer Printmedien Die untersuchten Schweizer Tageszeitungen modellierten den Konflikt zwischen der Schweiz und den amerikanischen OpfervertreterInnen mehrheitlich als Bedrohungsszenario, in welchem Amerika die Agensrolle und der Schweiz die Opferrolle zukam. Dieses Kampf-Szenario lag den meisten Berichten zugrunde, wurde aber jeweils unterschiedlich metaphorisch ausgestaltet und erweitert. Die Ausgestaltung reichte vom mittelalterlichen Szenario mit „Fehdehandschuh“ und „Pranger“ bis zum abenteuerlichen berlebenskampf. Der Gegner war bermchtig, griff die Schweiz an und schreckte selbst vor „Erpressung“ nicht zurck. Dem metaphorisch berhhten Bild des Gegners stand in einigen Artikeln das Selbstbild einer hilflosen Schweiz gegenber: Die bermacht der Gegner lsst den Kampf der Schweiz als aussichtslos erscheinen. Weiter finden sich „Bßer-Szenarien“: Die Schweiz wird darin fr ihre „geschichtlichen Snden“ zum „Sndenbock“ gemacht, muss fr ihre „berheblichkeit“ bßen und hat einen „Canossagang“ anzutreten. Die meisten Berichte erffneten eine moralische Bewertungsdimension, auf der die Protagonisten der Schweiz und diejenigen der USA eingeordnet, und damit implizit bewertet wurden. Einige AutorInnen erweiterten ein Szenario fr ihre Zwecke und nutzten des-
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sen Konsistenz dazu, eine schlssige und einleuchtende Rechtfertigungsargumentation aufzubauen. Die Schweizer Wochenpublikationen unterschieden sich von den dem Zwang zur Aktualitt unterworfenen Tageszeitungen. Sie beschrnkten sich meistens auf recherchierte Berichte ber die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg. Sie berichteten auch kritisch ber die Rolle der Schweiz, verzichteten aber weitgehend auf Polemik. Die Kritik beinhaltete im Wesentlichen den Vorwurf der Komplizenschaft mit dem Nationalsozialismus und denjenigen der Hehlerei. Beide Vorwrfe wurden explizit formuliert und auf weitere implizite Wertungen wurde meist verzichtet. Entsprechend sparsam wurden in den Texten Metaphern-Szenarien verwendet. Ausgeprgte Metaphern-Szenarien fanden sich hauptschlich in polemischen Texten in entsprechend gekennzeichneten Kolumnen und Kommentaren. Die Wochenpublikationen ließen fter moralische Autoritten wie Ignaz Bubis, Adolf Muschg, Hugo Loetscher usw. zu Wort kommen. Dies entsprach der auch bei den Tageszeitungen festgestellten Tendenz zu einer moralischen Aufarbeitung des Themas. Ein Text des Wochenmagazins „Facts“ spekulierte ber das Image der Schweiz im Ausland. Ungewhnlich deutlich modellierte er das vermutete Negativ-Image der Schweiz als „Gnomen-Szenario“ und modellierte auch das Selbstbildnis der Schweiz in ungewhnlich drastischer Weise. Er entwarf ein Szenario der Schweiz als „Musterschler“, der zum „Prgelknaben“ mutierte und nun im „Schandwinkel“ stand.
5.2 Deutsche Printmedien a) Thema Deutschland In den deutschen Printmedien finden sich viele Metaphorisierungen der einzelnen Vorgnge, die als Summe die Verhandlungen Deutschlands ber die Zwangsarbeiter-Entschdigung konstituierten. Sowohl das Verhalten der NS-Opfer-Vertreter als auch das der Verhandlungsfhrer der deutschen Seite wurde genau beobachtet und kommentiert. In den Texten wurde eine grosse Zahl von Metaphern aus z. T. sehr unterschiedlichen Metaphernbereichen verwendet. Unter Bercksichtigung der Rollenbesetzung konnten Metaphern-Szenarien in folgenden Metapherbereichen rekonstruiert werden: Weg, Bewegung, Verkehr, Druck, Finanzhandel, Spiel, Kampf, Mittelalterlicher Kampf, Krieg, Katastrophe, Krper/Verletzung/Biologie, Emotionalitt, Humanitt, Beseitigen/Wegschaffen und sich Verstecken/sich Durchschummeln.
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b) Thema Schweiz Die Verhandlungen in der Schweiz wurden teilweise mit denselben Metaphern modelliert wie diejenigen in Deutschland. Unterschiede zeigten sich bei der Hufigkeit und bei der Ausgestaltung der Bereiche ‚Finanzhandel‘, ‚Verkehr‘, ‚Spiel‘ und ‚Krper/Verletzung‘. Neu kamen die Metaphernbereiche Verbrechen, Verbindungen und Dienste, Aneignen, Profitieren, Schuld und Shne sowie Vergleiche hinzu. Insgesamt unterschied sich die Berichterstattung ber die Verhandlungen in der Schweiz nur im Detail von derjenigen ber die Verhandlungen in Deutschland. Unterschiede in der Metaphorisierung und der Bewertung basierten hauptschlich auf den unterschiedlichen Bereichen, aus denen die Vorwrfe und Klagen gegen die beiden Lnder stammten. Die kritischen Kommentare hatten mehr mit der Sache zu tun als mit dem Stereotyp ber das jeweilige Land. In Deutschland musste die Schweiz keinen irreparablen Imageschaden befrchten. Die deutsche Presse hatte nicht nur ber die Verfehlungen der Schweiz berichtet, sondern auch ber ihre Bemhungen zur Wiedergutmachung und besonders ber ihre Lernfhigkeit. Im direkten Vergleich mit der deutschen Industrie avancierte die Schweiz wegen ihrer Lernfhigkeit sogar zum Vorbild.
5.3 sterreichische Printmedien a) Thema sterreich Die im zweiten Projektjahr in Deutschen Printmedien nachgewiesenen Metaphernbereiche fanden sich im Wesentlichen auch in den sterreichischen Medien und wurden dort zu hnlichen Metaphernszenarien ausgeformt. Fr das Selbstbild des Landes waren die acht zustzlich gefundenen Metaphernbereiche von besonderer Bedeutung. Die Bereiche ‚Ehre und Moral‘ sowie ‚Licht und Schatten‘ metaphorisierten die vergangene NS-Zeit als ein unbewusstes Dunkel, das mit dem Licht der Aufarbeitung zum Verschwinden gebracht werden sollte. Mittels des Bereichs ‚Erinnern – Lernen‘ wurde vorwiegend das Verhalten sterreichs und der einsetzende Vernderungsprozess in den beklagten Lndern dargestellt. In neutralen „Sport“-Szenarien wurden die Verhandlungen als ein nach fairen Regeln ablaufender Wettkampf geschildert. In den Szenarien der Bereiche ‚Strategisch handeln‘ und ‚Verbale Gewalt anwenden‘ hatten ausschließlich die Opferanwlte die aktive Rolle inne. Interessant waren die Szenarien des ‚moralisch gerechten Kampfes‘, in welchen ebenfalls nur die Opferanwlte als Agens auftraten. Sie wurden dadurch implizit abgewertet, dass ihr eigenes Rollenverstndnis mittels Ironisierung als nicht angemessen markiert wurde. Die Beispiele der besonders produktiven Szenarien zeigten, dass einige JournalistInnen gezielt Me-
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taphern zu Szenarien ausbauen sowie gngige Metaphern-Szenarien durch nichtkonforme Metaphern erweitern, um damit Ironie zu erzeugen.
b) Thema Deutschland Die zum Thema Deutschland realisierten Szenarien deckten nicht alle Metapherbereiche der Berichte zu den Verhandlungen in sterreich ab. In den Metapherbereichen, die in den Berichten zu beiden Lndern vorkamen, wurden jeweils hnlich Szenarien konstruiert. Fr Deutschland nicht genutzt wurden z. B. die MetaphernBereiche ‚Finanzhandel‘ und ‚Spiel‘. Ausgehend von der pointiert bewertenden Funktion dieser Bereiche bei der Berichterstattung zu sterreich, kann darauf geschlossen werden, dass die Verhandlungen in Deutschland eher neutral, d. h. ohne starke Bewertung mittels Konnotationen, beschrieben wurden. Zu den Bereichen ‚Emotionalitt‘ und ‚Verstecken – Verdrngen‘ wurden fr Deutschland ebenfalls keine Szenarien realisiert. Diese Bereiche wurden in den Berichten ber sterreich dazu verwendet, um Kommentare und Vorwrfe zu formulieren. Die Rolle der deutschen Firmen whrend der NS-Herrschaft wurden mittels Szenarien der Bereiche ‚Kollaborieren‘, ‚Profit‘ und ‚Verbrechen‘ metaphorisiert und so die Berechtigung der Klagen gegen die deutsche Wirtschaft unterstrichen. Die Verhandlungen selbst wurden aber nicht direkt kommentiert, wohl aber indirekt ber Lob-Zitate seitens der US-Regierung. Das mag darin liegen, dass sich sterreich stark am Vorbild Deutschland orientiert hatte, dass beide Lnder in etwa zeitgleich von denselben Parteien verklagt worden waren und dass sie sich in einer hnlichen Lage befanden. Aus den Bereichen ‚Verbale Gewalt anwenden‘ und ‚Moralisch gerechter Kampf‘ wurden in den Berichten zu Deutschland ebenfalls keine Szenarien gefunden. Dies besttigt die Tendenz, die Verhandlungen in Deutschland nicht zu kommentieren. Das Verhltnis zu Deutschland wurde in den sterreichischen Medientexten in der Regel zwischen ‚Leidensgenosse‘ und ‚Vorbild‘ angesiedelt.
c) Thema Schweiz Die Verhandlungen in der Schweiz waren bereits Mitte 1998 abgeschlossen, so dass lediglich in den drei Jahrgngen 1996 – 1998 Berichte ber die Schweizer Verhandlungen zu erwarten waren. Tatschlich wurden in den analysierten Zeitungen, mit Ausnahme der „Presse“, selbst in diesen Jahrgngen die Verhandlungen in der Schweiz nur in wenigen Berichten erwhnt. Auffallend ist auch, dass in den Jahrgngen 1999 & 2000 die Schweiz kaum noch erwhnt wurde. Es kann daher festge-
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stellt werden, dass die Schweizer Verhandlungen nach ihrem erfolgreichen Abschluss offenbar fr die sterreichischen Medien kein Thema mehr waren, und dass sterreich sich bezglich der eigenen Verhandlungen viel strker an Deutschland orientierte als an der Schweiz. Die Gesamtzahl der zum Thema Schweiz gefundenen Berichte war nur etwas mehr als halb so groß, wie diejenige zum Thema Deutschland. Dennoch konnten zum Thema Schweiz Szenarien aus allen Metaphern-Bereichen gefunden werden, die auch zum Thema sterreich realisiert worden waren. Dies besttigt den Eindruck, dass die Schweiz in den sterreichischen Printmedien im Wesentlichen mittels einer sehr hnlichen Metaphorik bewertet wurde wie sterreich selbst. Das bedeutet, dass sich das in den Medien vermittelte Selbstbild sterreichs und dessen Fremdbild der Schweiz nicht sehr unterschieden. Auffllige Unterschiede fanden sich lediglich in den Bereichen ‚Handel‘ und ‚Schuld und Shne‘. Diese wurden deutlich fter in Zusammenhang mit sterreich als mit der Schweiz verwendet. Diese beiden Bereiche scheinen fr das mediale Selbstbild sterreichs konstitutiv gewesen zu sein. Die fr das mediale Schweizer Selbstbild konstitutive Metaphorik des „Klein- und Schwach-Seins“ spielte in den Berichten der sterreichischen Medien ber die Schweiz nur eine untergeordnete Rolle. Sie kam lediglich in zitierten ußerungen von Schweizer Politikern vor. Die Ergebnisse belegten lediglich kleine Differenzen zwischen dem medialen Selbstbild sterreichs und dem medialen Fremdbild der Schweiz, hingegen große Differenzen in der medial vermittelten Selbst- und Fremdwahrnehmung der Schweiz.
6. Fazit und Ausblick Die Ergebnisse des Projektes konnten zeigen, dass a) Metaphern in Medientexten hufig zu Bewertungszwecken verwendet werden, b) Metaphern-Szenarien geeignete Analyseeinheiten zur Identifizierung von Bewertungen sind und c) das angewandte mehrstufige Analyseverfahren mit vertretbarem Aufwand zu empirisch validen Ergebnissen fhrt. Inhaltlich konnte gezeigt werden, dass in den Medienberichten zu den Themen „NS-Raubgold“ und „NS-Zwangsarbeit“ die Identitt des jeweils betroffenen Landes eine wichtige Rolle spielte. Es ging dabei um verschiedene Arten von tatschlichen und vermeintlichen Leitbildern bei der Selbst- und der Fremdwahrnehmung eines Landes. Die Medien jedes Landes zeichneten ein spezifisches Selbstbild und spekulierten ber potentielle Fremdbilder ihres Landes. Allerdings stimmte das von den Schweizer Medien konstruierte Fremdbild der Schweiz nicht mit dem medialen Leitbild der Schweiz im Ausland berein. Das mediale Fremdbild der Schweiz im Ausland war nicht negativer als das mediale Selbstbild des jeweiligen
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Landes. So unterschied sich sowohl in Deutschland als auch in sterreich das mediale Selbstbild nicht wesentlich vom medialen Fremdbild der Schweiz. Je nach Verhandlungsphase wurde die Schweiz als Vorlufer oder als Vorbild gesehen. Im Gegensatz dazu stand allerdings das mediale Selbstbild der Schweiz. Dieses sah die SchweizerInnen als unschuldige Opfer einer auslndischen Verschwrung, die Medien konstruierten drastische Bedrohungsszenarien und entwarfen verzerrte Fremdbilder der Schweiz. Nichts davon fand sich jedoch in den Berichten der auslndischen deutschsprachigen Medien. Das vermeintliche Leitbild in der Fremdwahrnehmung der Schweiz entpuppte sich in der Hauptsache als Projektion eigener ngste und Befrchtungen. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, inwieweit die Medienberichterstattung bestehende Bilder aufgreift und wiedergibt oder aber selbst Leitbilder konstruiert. Auch kann gefragt werden, ob die Medienberichterstattung berhaupt eine ausreichende Konsistenz und Stabilitt aufweist, um Leitbilder konstruieren zu knnen. Das hier vorgestellte Projekt konnte zeigen, dass zumindest ber einen gewissen Zeitraum hinweg wiederkehrende Metaphorisierungen nachgewiesen werden knnen. Lassen sich solche zu einem Thema relativ stabilen Metaphern zu einem Szenario verdichten, knnten wir dieses als „Leitmetapher“ bezeichnen. Damit wre ein empirisch berprfbarer Terminus gefunden, der die Bestandteile eines Leitbilds aufzeigen und dessen Konstruktion und Mutation beschreiben kann.
Literatur Basler Zeitung (13.11.2001, Onlineausgabe): Die USA kndigen militrische Vergeltung an. Basel. Burger, Harald (1996): Phraseologie und Metaphorik. In: Weigand, Edda/Hundsnurscher, Franz (Hg.): Lexical Structures and Language Use. Bd. 2. Tbingen: Niemeyer. 167 – 178. Frankfurter Rundschau (22.11.2001, S. 3): Die Uhr tickt. In seiner Botschaft an die Brger stellt US-Prsident George W. Bush ein bedingungsloses Ultimatum. Frankfurt a.M. Lakoff, George/Johnson, Mark (1980): Metaphors We Live By. Chicago, London: University of Chicago Press. Liebert, Wolf Andreas (1992): Metaphernbereiche der deutschen Alltagssprache. Kognitive Linguistik und die Perspektive einer Kognitiven Lexikographie. Frankfurt a.M.: Lang. Sandig, Barbara (1979): Ausdrucksmglichkeiten des Bewertens. Ein Beschreibungsrahmen im Zusammenhang eines fiktionalen Textes. Deutsche Sprache 7, 137 – 159.
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Wagner, Franc (1996): CD-ROM und computerlesbare Zeitungskorpora als Datenquelle fr Linguisten. In: Rschoff, Bernd/Schmitz, Ulrich (Hg.): Kommunikation und Lernen mit alten und neuen Medien (Forum angewandte Linguistik, 30), 78 – 87. Frankfurt a.M.: Lang. Wagner, Franc (1998): Sind Printmedien im Internet Online-Medien? In: Pfammatter, R. (Hg.): Multi Media Mania. Reflexionen zu Aspekten Neuer Medien. Konstanz: UVK Medien. 191 – 211. Wagner, Franc (2001): Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt. Lexikalische Indikatoren impliziter Diskriminierung in Medientexten. Tbingen: G. Narr.
Olaf Jkel Die Geschichte der Konzeptualisierung von Wissenschaft als Entwicklungsgeschichte eines metaphorischen Szenarios1 1. Die Untersuchung der Wissenschaft: allgemeiner Rahmen Der kognitiven Metapherntheorie2 zufolge werden abstrakte Begriffsdomnen durch Rckgriff auf konkretere Erfahrungsbereiche metaphorisch konzeptualisiert. Wissenschaft bildet eine Domne, wie sie abstrakter kaum vorstellbar ist. Gibt es also Metaphern im Diskurs ber Wissenschaft? Welches sind die Ursprungsbereiche, aus denen sie stammen? Und lsst sich in den Metaphorisierungen eine Systematik ausmachen, oder mssen wir uns mit der Feststellung einer vllig willkrlichen Metaphernverwendung begngen?
1.1 Das generalisierte Wissenschafts-Szenario Solche und damit zusammenhngende Fragen habe ich im Rahmen einer umfangreichen Fallstudie (Jkel 1997 und 2003) mit Hilfe der onomasiologisch-kognitiven Metaphernanalyse untersucht. Bei dieser Art der Analyse gilt das Interesse weniger dem Lexem (d. h. Wort) als vielmehr der ganzen Begriffsdomne der Wissenschaft; die prinzipiell onomasiologische Fragestellung ist: Mit welchen sprachlichen Mitteln wird ber diesen Bereich gesprochen bzw. geschrieben? Und insbesondere: Welche Metaphern sind im Spiel?3 Im folgenden berichte ich ber die Ergebnisse meiner Untersuchung, muss aber aus Platzgrnden hier fr die detaillierte Analyse des eigentlichen Sprachmaterials auf Jkel (1997) verweisen. Die Untersuchung hat gezeigt, dass es angebracht ist, Aufbau und Organisation der konzeptuellen Domne Wissenschaft als ein Szenario4 zu betrachten; schließlich ist Wissenschaft nichts anderes als eine spezielle Art menschlicher Ttigkeit.
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Dieser Aufsatz basiert auf einer umfangreicheren metaphernanalytischen Untersuchung, welche in Kapitel 8 meiner Dissertation (Jkel 1997) dargestellt ist. Eine englischsprachige Version dieser Studie liegt mit Jkel (1996) vor. Als wichtigste Beitrge zur kognitiven Metapherntheorie seien die folgenden genannt: Lakoff & Johnson (1980 und 1999), Lakoff (1987, 1990 und 1993), Lakoff & Turner (1989), Sweetser (1990) sowie Johnson (1987, 1992 und 1993). Eine ausfhrliche Darstellung des Ansatzes liefern Jkel (1997 und 2003) und Kvecses (2002). Zu seinen historischen Vorlufern vgl. Jkel (1999b). Eine ausfhrliche Darstellung der onomasiologisch-kognitiven Metaphernanalyse findet sich in Jkel (1997, 141 – 156).
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Das „Wissenschafts-Szenario“ umfasst u. a. die folgenden Bestandteile: • Wissenschaftler: aktiv Handelnder, beschftigt mit wissenschaftlicher Forschung • Naturphnomene: Gegenstand der wissenschaftlichen Untersuchung • Methode: Vorgehensweise des Wissenschaftlers bei der Annherung an seinen Untersuchungsgegenstand • Theorien: Ergebnis wissenschaftlicher Aktivitt • Wissenschaftlicher Fortschritt: Entscheidung/Wahl zwischen konkurrierenden Theorien Dieses generalisierte Wissenschafts-Szenario enthlt alles, was fr eine umfassende Konzeptualisierung von Wissenschaft ntig ist. Es liefert uns ntzliche Hinweise auf Zielbereichsstrukturen, die im folgenden als Heuristik dienen: Indem wir dieses Inventar von Aspekten zugrundelegen, knnen wir die wichtigsten konzeptuellen Wissenschafts-Metaphern untersuchen.
1.2 Eine diachronische und sprachbergreifende Korpusuntersuchung Wissenschaft unterscheidet sich von anderen hochabstrakten Domnen wie Geistesttigkeit, Religion oder Wirtschaft5 dadurch, dass sie kaum in alltglichen Laiengesprchen thematisiert wird; ist dies doch der Fall, bleibt der Diskurs undifferenziert und detailarm. Hierin liegt schon ein Grund, zwecks Untersuchung von WissenschaftsMetaphern auf die Schriften von Fachleuten zu rekurrieren. Ein solcher textbasierter Zugang bietet darber hinaus weitere Vorteile.6 Hier erscheint besonders die Mglichkeit begrßenswert, auch „harte“ quantitative Ergebnisse liefern zu knnen: Auf der Grundlage eines Korpus vollstndiger Texte lassen sich nicht bloß die verwendeten konzeptuellen Metaphern auffhren, sondern auch begrndete Urteile darber abgeben, welche Metaphern im Mittelpunkt eines Textes stehen; zudem darber, welche Metaphern mit Bestimmtheit aus den Schriften eines Autors auszuschließen sind. Mein Hauptinteresse liegt allerdings in einer substanziellen Antwort auf die Frage: Verwenden unterschiedliche Wissenschaftstheorien auch unterschiedliche konzeptuelle Metaphern? Meine Untersuchung sttzt sich auf die einschlgigen Werke von sechs wichtigen Wissenschaftstheoretikern. Wollte man einen kurzen berblick ber die Geschichte 4
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Der Szenario-Begriff wird fr diejenigen idealisierten kognitiven Modelle verwendet, welche geordnete Ereignis- oder Handlungssequenzen darstellen; so z. B. menschliche Ttigkeiten wie einen Restaurantbesuch. Vgl. Lakoff (1987, 285 f.). Zu diesen Bereichen liegen beispielhafte kognitiv-linguistische Metaphernanalysen des Autors vor: zu Geistesttigkeit Jkel (1995), zu Religion Jkel (2002) und zu Wirtschaft Jkel (ersch.). Vgl. hierzu Jkel (1997, 144 – 146).
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der Wissenschaftstheorie geben, wren diese sechs Philosophen vor allen anderen zu bercksichtigen.7 Beginnend mit Aristoteles, der im 4. Jahrhundert v. Chr. als erster Philosoph das Thema empirischer Wissenschaft aufgreift, behandelt meine Untersuchung in der Folge die Gegenpole Ren Descartes und Francis Bacon, die fr den Beginn der neuzeitlichen Philosophie im frhen 17. Jahrhundert stehen, der eine als Vertreter des rationalistisch/„kontinentalen“ Zweigs, der andere als Reprsentant der empiristisch/„britischen“ Richtung. Mit seiner Kritik der reinen Vernunft (1781/ 87) unternimmt Immanuel Kant eine Synthese dieser beiden widerstreitenden Lager. Meine Untersuchung schließt mit der Behandlung zweier zeitgenssischer Wissenschaftstheoretiker: Karl R. Popper und Thomas S. Kuhn. Insgesamt umfasst das analysierte Korpus philosophischer Schriften (genaue Quellenangaben im Anhang) mehr als 4000 Druckseiten. Diese Auswahl von Autoren macht mein Vorhaben schließlich zu einer diachronischen (d. h. historischen) und sprachbergreifenden Studie der metaphorischen Konzeptualisierung von Wissenschaft. Die einbezogenen Sprachen sind Griechisch (Aristoteles), Latein (Bacon), Franzsisch (Descartes), Deutsch (Kant, Popper) und Englisch (Popper, Kuhn). Zur Untersuchung einer so genuin abendlndischen Domne wie Wissenschaft scheint ein sprachbergreifender Ansatz nicht nur gerechtfertigt, sondern vorteilhaft. Und was die diachronische Ausrichtung der Untersuchung betrifft, wird sich im Folgenden zeigen, dass gerade dieser Aspekt die interessantesten Ergebnisse zeitigt. Im folgenden Hauptabschnitt (2.) werde ich die metaphorischen Szenarien der sechs Philosophen nacheinander vorstellen. Wie bereits erwhnt, muss ich mich dabei unter Aussparung des eigentlichen Sprachmaterials (siehe Jkel 1997) auf eine Zusammenfassung der metaphorischen bertragungsdetails sowie eine kurze Errterung der Fokussierungspunkte des jeweiligen Szenarios beschrnken. Der abschließende Teil (3.) erweitert die Perspektive um eine Reihe von generellen Untersuchungsergebnissen und Schlussfolgerungen. Hierbei wird (in 3.2) noch einmal besonders die diachronische Betrachtungsweise hervorgehoben, indem systematische Verbindungen wie auch entscheidende Differenzen zwischen den metaphorischen Szenarien der untersuchten Wissenschaftstheorien zur Sprache kommen.
2. Metaphorische Wissenschafts-Szenarien Eine letzte Vorbemerkung betrifft den Begriff von Wissenschaft (bzw. Episteme – Scientia – Science) als Gegenstand dieser Studie.8 Alle untersuchten Autoren thematisieren wissenschaftliche Aktivitt im Allgemeinen. Wie vielleicht die meisten Wis7
Siehe zum Beispiel McMullin (1980), Detel (1991), oder Seiffert/Radnitzky (1992).
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senschaftstheoretiker haben sie dabei aber die Naturwissenschaften und insbesondere die Physik als Vorbild vor Augen. Meine knapp gehaltenen Ausfhrungen bezglich der geschichtlichen Einordnung des einzelnen Theoretikers und seiner Bedeutung fr die Wissenschaftstheorie geben lediglich philosophisches Allgemeingut wieder, wie es sich in jeder aktuellen Einfhrung in das Gebiet finden lsst.9
2.1 Aristoteles: Wissenschaft als Betrachtung Aristoteles (384 – 322 v.Chr.) ist nicht nur der erste ernsthafte Wissenschaftsphilosoph, sondern auch einer der ersten Sprachtheoretiker. Aus seinen Schriften zur Rhetorik wissen wir um seine ablehnende Haltung gegenber der sprachlichen Metapher im wissenschaftlichen oder philosophischen Diskurs.10 So ist es nicht verwunderlich, dass er in seiner eigenen Darstellung des Themas Wissenschaft in der Metaphysik versucht, jede metaphorische Redeweise zu vermeiden. Dennoch finden wir dieser bewussten Bemhung zum Trotz, verteilt ber die Abschnitte zur Wissenschaft, eine Reihe von sprachlichen Ausdrcken, die in ihrer Gesamtheit eindeutig eine vorherrschende konzeptuelle Metapher belegen: WISSENSCHAFT IST BETRACHTUNG. Es handelt sich um sprachliche Variationen des aristotelischen Schlsselbegriffs theri , ‚das An- oder Zuschauen, Wesensschau‘, abgeleitet vom griechischen Verb there n, ‚Zuschauer sein, beschauen, betrachten‘11 Was Wissenschaftler nach dem aristotelischen Modell tun, ist betrachten, schauen und beobachten. Die griechischen Verben, die zur Beschreibung wissenschaftlicher Ttigkeit verwendet werden, stammen alle aus dem Ursprungsbereich der Vision. Neben theorein umfassen sie episkopein ‚sehen‘, skopein ‚beobachten‘ und synidein ‚berblicken‘. Dies sind die einzigen erwhnenswerten Flle von Metaphorik in den untersuchten Texten. Das daraus resultierende metaphorische Wissenschafts-Szenario ist ein relativ einfaches. Der Wissenschaftler erscheint als reiner Zuschauer, der die Natur bzw. „alles Seiende“12 ansieht und betrachtet. Diese Konzeptualisierung von Wis-
Zur fachphilosophischen und wissenschaftstheoretischen Errterung des Wissenschafts-Begriffs siehe z. B. Diemer (1968 und 1970), Baumgartner (1974), Suppe (1977) oder den ntzlichen berblick in Detel (1991).
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Vgl. z. B. Detel (1991), Schfer (1991), oder Urmson & Re (1992). Zur aristotelischen Metapherntheorie vgl. Jkel (1997, 89 – 98). In meinen bersetzungen der griechischen, lateinischen und franzsischen Beispiele habe ich versucht, die Metaphern der Originaltexte so getreu wie mglich wiederzugeben. Oder den Ksmos, ‚Ordnung, Schmuck‘, abgeleitet vom griechischen Verb kosmein, ‚anordnen, schmcken, putzen‘; die Natur wird in der Auffassung der Antike tatschlich als kosmisches Schauspiel betrachtet, dessen erhabene Ordnung und Schnheit eben angeschaut werden will.
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senschaft beinhaltet keinerlei aktiven Beitrag von Seiten des Wissenschaftlers. Andere wichtige Aspekte bleiben ebenfalls verborgen: Der Status wissenschaftlicher Ergebnisse, die Rolle von alternativen Theorien, oder auch Vorstellungsmglichkeiten einer Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftlern liegen gnzlich außerhalb der metaphorischen Fokussierung. Tatschlich waren diese Fragen fr Aristoteles noch nicht relevant, sondern tauchten erst sehr viel spter in der Geschichte auf. In ihren Anfngen begann die Wissenschaftstheorie mit einem recht „naiven“ Verstndnis von Wissenschaft als bloßer Erweiterung der alltglichen Wahrnehmung. Das metaphorische Szenario von WISSENSCHAFT ALS BETRACHTUNG entspricht genau diesem Verstndnis.
2.2 Descartes: Wissenschaft als Reise Neben seiner Rolle als Grndungsvater des philosophischen Rationalismus ist Ren Descartes (1596 – 1650) selbst als Mathematiker und Naturwissenschaftler anerkannt, der auf solchen Gebieten wie der Physik und Physiologie arbeitete. Als seinen Hauptbeitrag zur Wissenschaftstheorie stellt er in seinem berhmten Discours de la Mthode eine einheitliche wissenschaftliche Methode vor. Descartes’ grundstzliche Darstellung der wissenschaftlichen Vorgehensweise in diesem Werk basiert im Wesentlichen auf einer konzeptuellen Metapher, nmlich: WISSENSCHAFT IST EINE REISE. Das metaphorische Szenario lsst sich wie folgt zusammenfassen: Der Wissenschaftler ist ein Reisender auf dem Weg wissenschaftlicher Untersuchung. Wenn auch unterschiedliche Methoden gleichsam als verschiedene Reiserouten whlbar scheinen, tritt doch der Wissenschaftstheoretiker als Pfadfinder mit dem Anspruch auf, ein fr allemal die beste Methode gefunden zu haben. Diese empfohlene Methode besteht in einem geraden Weg, der aufwrts fhrt, hin zur Erkenntnis als dem Reiseziel. Die besten Fortschritte in Richtung auf dieses Ziel machen die Wissenschaftler, wenn sie langsam aber stetig vorangehen. Dabei nehmen Neulinge in einer Art „Zeitlupen-Stafette“ die Wissenschafts-Reise dort auf, wo ihre Vorgnger ihre Wegstrecke beendet haben. Offenkundig fokussiert dieses metaphorische REISE-Szenario methodische Aspekte wissenschaftlicher Ttigkeit. Die frhe neuzeitliche Wissenschaft wird hier als linearer, zielgerichteter Prozess vorgestellt. Vom Wissenschaftler wird eine gewisse Aktivitt der Fortbewegung verlangt, wobei er mit anderen zusammenarbeitet, wenn auch nur in dem beschrnkten Rahmen einer Sukzessionsbildung. Ein Aspekt, den dieses Wissenschafts-Modell nicht beinhaltet, liegt in der Rolle von alternativen Theorien. Diese wren ohne Schwierigkeiten in das Szenario integrierbar, entweder in Form unterschiedlicher Wege zum selben Ziel, oder als verschiedene Verkehrsmittel und Fortbewegungsmglichkeiten. Diese Fragestellung
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war jedoch in der Wissenschaftstheorie des 17. Jahrhunderts schlichtweg noch nicht aufgekommen. Ein zweiter „blinder Fleck“ des Cartesianischen Szenarios ist allerdings wesentlich bezeichnender, spiegelt sich darin doch die einseitig rationalistische Ausrichtung des Autors: Fr die Natur als Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung ist in dem metaphorischen Modell kein Platz. Dieser Aspekt von Wissenschaft bleibt systematisch unbercksichtigt aufgrund der internen Logik des REISE-Szenarios mit seiner Hervorhebung einer eindeutigen Methode und eines geradlinigen Fortschritts. Das anzustrebende Ziel liegt in wahrer Erkenntnis, metaphorisch verortet in geheimnisvoll-mystischen Hhen – ein rationalistisches Echo des platonischen Ideenhimmels. Wenn wir nach einem Wissenschafts-Szenario suchen, welches die Natur nicht ausklammert, mssen wir uns wohl ein empiristisches Modell vornehmen.
2.3 Bacon: Wissenschaft als Ntigung der Natur Francis Bacon (1561 – 1626) ist einer der Begrnder und fhrenden Vertreter der britischen Schule des philosophischen Empirismus. Der Philosoph und Politiker, dem das Diktum „Wissen ist Macht“ zugeschrieben wird, propagierte das visionre Projekt einer Nutzbarmachung der Wissenschaft im Dienste der Menschheit. Bacons bahnbrechender theoretischer Beitrag zu den Anfngen neuzeitlicher Wissenschaft, dargelegt in seinem Hauptwerk, dem Novum Organum, liegt im Entwurf einer neuen Methode der wissenschaftlichen Untersuchung: der experimentellen Forschung. Dieser revolutionre Wandel der Wissenschaftstheorie spiegelt sich auch in einer konzeptuellen Metapher, die fr Bacon von zentraler Bedeutung ist: WISSENSCHAFT IST DIE NTIGUNG DER NATUR.13 Das auf diese Kurzform gebrachte komplexe metaphorische Wissenschafts-Szenario, kann folgendermaßen zusammengefasst werden: Der Wissenschaftler ist ein brutaler Gewalttter, Inquisitor, Folterer, Eindringling, vielleicht sogar Vergewaltiger. Er vergeht sich an der Natur, die als weiblich personifiziert wird. In ihrem Innern verbirgt sie geheimes Wissen, metaphorisch konzeptualisiert als Wertgegenstnde, welche der Wissenschaftler ihr entreißen will. So wird sie zum Opfer seiner aggressiven Ntigung. Die Ttigkeit des Wissenschaftlers ist mhsam, eine fr das gewaltsame Eindringen in die Innereien der Natur hochgerstete Aktion. Der Fokus dieses metaphorischen NTIGUNGS-Szenarios liegt auf methodologischen Aspekten der wissenschaftlichen Ttigkeit und insbesondere der experi13
Vgl. Blumenberg (1960, 27 – 31). Dass es bei Bacon auch vereinzelt andere metaphorische Redeweisen – z. B. von der WISSENSCHAFT ALS REISE – gibt, soll hier nicht bestritten werden. Allein die NTIGUNGS-Metaphorik ist im untersuchten Korpus zentral und typisch.
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mentellen Forschung. In diesem Metaphern-Modell ist der wissenschaftliche Erkenntnisgewinn nicht leicht und ohne Anstrengung zu haben. Er stellt im Gegenteil ein echtes und schwieriges Problem dar, dessen Bewltigung durch den Wissenschaftler Macht und Raffinesse erfordert. Ein durch dieses Modell systematisch verborgener Aspekt liegt in der Rolle von Theorien im wissenschaftlichen Prozess. Dies entspricht jedoch genau dem materialistischen und induktiven Ansatz, den der Empirist Bacon in seinem metaphorischen Szenario von WISSENSCHAFT ALS NTIGUNG DER NATUR vorfhrt.
2.4 Kant: Wissenschaft als Gebudebau Immanuel Kant (1724 – 1804) gilt allgemein als bedeutendster Philosoph der Aufklrung. Seine einflussreiche Kritische Philosophie ist der Versuch, die einander widerstreitenden Schulen von Rationalismus und Empirismus nicht nur miteinander zu verbinden, sondern aus ihnen eine wahrhafte Synthese zu bilden. Eine der zentralen Fragen, die Kant sich in seinem erkenntnistheoretischen Hauptwerk, der Kritik der reinen Vernunft (1781/87) stellt, betrifft das Thema Wissenschaft: „Wie ist reine Naturwissenschaft mglich?“ Kants metaphorisches Wissenschafts-Szenario, wie es sich auf der Grundlage der Kritik rekonstruieren lßt, umfasst zwei verschiedene konzeptuelle Metaphern. Diese kann man formulieren als WISSENSCHAFT IST EINE ENTDECKUNGSREISE und WISSENSCHAFT IST GEBUDEBAU. Zusammengefasst ergibt sich folgendes Bild: In Kants metaphorischem Wissenschafts-Szenario lassen sich zwei Phasen unterscheiden. In der ersten Phase der WISSENSCHAFT ALS ENTDECKUNGSREISE werden die Wissenschaften als Truppen auf dem Vormarsch konzeptualisiert. Whrend die vorkritische Wissenschaft ziellos umherirrte, hat der kritische Wissenschaftstheoretiker den richtigen Weg gefunden, dem es zu folgen gilt. Das Endziel dieser Expedition ist der feste Boden mglicher, empirischer Erkenntnis. Dieses Gelnde ist vom erkenntnistheoretischen Pionier erkundet und kartographiert worden, wobei es sich als Insel von begrenztem Ausmaß erwiesen hat. Die zweite Phase von WISSENSCHAFT ALS GEBUDEBAU benennt erst den eigentlichen Endzweck der vorhergehenden Expedition. Sicheres Gelnde auf festem Boden wird zum Zweck der Ansiedlung bentigt, um die es der Wissenschaft zu tun ist. Wissenschaftliche Theoriesysteme sind Gebude, konstruiert aus den Baumaterialien des Wissens. Whrend unwissenschaftliche Spekulation als planloses Bauen ohne sorgfltige Untersuchung des Baugrundes kritisiert wird, besteht empirische Wissenschaft im Bauen auf gesichertem Boden. Der Theoretiker steckt geeignetes Siedlungsgelnde ab, das er von natrlicher Flora und Fauna subert, um es schließlich als ordentlichen Baugrund zu planieren. In seiner Rolle als Architekt
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organisiert er außerdem die Bauarbeiten der gewhnlichen Wissenschaftler durch Entwurf und systematische Planung des gesamten Wissenschafts-Gebudes. Mehrere Aspekte werden durch dieses komplexe Wissenschafts-Szenario hervorgehoben. Kant versteht Wissenschaft ganz hnlich wie auch den Erkenntnisgewinn berhaupt als eine grundstzlich konstruktive Ttigkeit. Dies spiegelt sich in seiner differenzierten Verwendung und Ausarbeitung der GEBUDE-Metaphorik wider, welche die konstruktiven Aspekte wissenschaftlichen Arbeitens betont. Whrend die architektonische Komponente die Bedeutung des Theoriesystems als Ergebnis wissenschaftlicher Ttigkeit fokussiert, lenkt die vorbereitende Erschließung des Baugrundes die Aufmerksamkeit auf die Wichtigkeit geklrter erkenntnistheoretischer Vorbedingungen des Unternehmens. Des weiteren erlaubt die GEBUDEMetaphorik eine scharfe Unterscheidung zwischen gut fundierter empirischer Wissenschaft und unwissenschaftlicher Spekulation, worin eines von Kants Hauptanliegen besteht. Ein Zielbereichsaspekt, der durch Kants metaphorisches Szenario eindeutig unbercksichtigt bleibt, betrifft die Natur in ihrem noch unerkannten Zustand. Die Rolle von Naturphnomenen fr den Wissenschaftsprozess wird systematisch ausgeblendet – ein „blinder Fleck“, der wohl Kants rationalistischem Erbe zuzuschreiben ist. Ein anderer Bestandteil, der in Kants Szenario fehlt, betrifft die Konkurrenz zwischen verschiedenen wissenschaftlichen Theorien. Der optimistische Glaube des Aufklrungsphilosophen an ein einheitliches Wissenschaftssystem spiegelt sich in seinem Metaphern-Modell von WISSENSCHAFT ALS GEBUDEBAU. Um diesen moderneren Aspekt des Theorien-Wettstreits in metaphorischen Wissenschafts-Szenarien reflektiert zu finden, mssen wir ins zwanzigste Jahrhundert vorrcken und die Szenarien von Popper und Kuhn inspizieren.
2.5 Popper: Wissenschaft als bewaffneter Kampf ums berleben der ‚fittesten‘ Theorie Karl R. Popper (1902 – 1994) ist sicherlich einer der einflussreichsten Philosophen des 20. Jahrhunderts. Mit seiner eigenen Wissenschaftstheorie, dem Kritischen Rationalismus, sieht er sich in einer Kantischen Tradition. Die enorme Bedeutung, die dabei der wissenschaftlichen Kritik zugesprochen wird, begrndet sich in der axiomatischen Aussage, dass wissenschaftliche Theorien nichts weiter sind als hypothetische Vermutungen, die es anhand von empirischer Evidenz kritisch zu prfen und gegebenenfalls durch Gegenbeispiele zu widerlegen gilt. Wegen dieser anti-induktivistischen „Falsifizierung“ wird Poppers Ansatz auch „Falsifikationismus“ genannt. Zuerst dargestellt in der Logik der Forschung (1935), wird Poppers Wissenschafts-
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theorie weiterentwickelt in Conjectures and Refutations (1963) und Objective Knowledge (1972). Mit diesen spteren Arbeiten initiierte der Physiker und Philosoph eine starke interdisziplinre Bewegung, in welcher Philosophen und Wissenschaftler unter dem Titel einer „Evolutionren Erkenntnistheorie“ zusammenarbeiten. Die sprachlichen Metaphern in Poppers Schriften legen in ihrer Gesamtheit ein Szenario nahe, das folgendermaßen benannt werden kann: WISSENSCHAFT IST EIN BEWAFFNETER KAMPF UMS BERLEBEN DER ‚FITTESTEN‘ THEORIE. Es lsst sich wie folgt zusammenfassen: Theorien werden personifiziert als Rivalen, die in einem scharfen Kampf ums berleben konkurrieren. Wissenschaftler treten als Krieger auf, durch deren Beteiligung der Darwin’sche Kampf mit seiner „natrlichen Selektion“ zum Krieg eskaliert. Sie verteidigen manche Theorien gegen Angreifer und greifen selbst gegnerische Theorien kritisch an im Versuch, sie zu tten. Methodische Kritik kommt in diesem Kampf als Bewaffnung vor. Der wissenschaftliche Fortschritt, den die Krieger zu frdern hoffen, besteht in der Eliminierung schwcherer Theorien und der Selektion derjenigen mit grßerer Erklrungskraft. Dieses Modell fokussiert natrlich den wissenschaftlichen Fortschritt und die Konkurrenz zwischen Theorien. Im zwanzigsten Jahrhundert ist dies zu einem Hauptthema der Wissenschaftstheorie avanciert. Jeder weitere Fortschritt der Wissenschaft erfordert die Auswahl einer von mehreren rivalisierenden Theorien. Das Poppersche Szenario ist dabei recht optimistisch, was die Mglichkeit wirklich rationalen Fortschritts angeht. Ganz „naturgegeben“ sind Theorien unterschiedlich „fit“, und ebenso „natrlich“ wird die fitteste auch die kritischsten Attacken berleben. Ein weiterer Aspekt, der hier hervorgehoben wird, liegt in der Bedeutung von methodischer Kritik im Prozess der Theorienauswahl. Diese Kritik kann gar nicht zu heftig sein, da sie ja lediglich „natrliche“ Schwachstellen schlechter Theorien deutlich macht, whrend „naturgemß“ strkere Theorien alle Angriffe berleben. Einmal mehr ist es die Rolle der Natur als des Gegenstandes wissenschaftlicher Untersuchung, die in Poppers metaphorischem Szenario verborgen bleibt – ganz wie in der vorhergehenden rationalistischen Tradition von Descartes und Kant. Wie an anderer Stelle (Jkel 1997, 267) errtert, liegen die Aspekte von Einheitsmethode und empirischer Basis der Wissenschaft nicht einfach außerhalb der metaphorischen Fokussierung, sondern ihnen wird von Popper jegliche Existenz ausdrcklich abgesprochen. Hierin lsst sich eine Art metatheoretische Anwendung seines eigenen Szenarios erblicken: Indem er Schwachstellen sowohl im Cartesianischen wie auch im Kantischen Modell kritisch attackiert, hofft der Philosoph zur Verteidigung und damit zum berleben seiner eigenen Theorie beizutragen, wie sie sich ausdrckt im metaphorischen Szenario von WISSENSCHAFT ALS BEWAFFNETEM KAMPF UMS BERLEBEN DER ‚FITTESTEN‘ THEORIE.
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2.6 Kuhn: Wissenschaft als Glaubenskrieg um die Annahme eines bestimmten Spiels Gesetzt den Fall, ein Wissenschaftstheoretiker, konfrontiert mit derselben Problemlage konkurrierender Theorien, wollte nun Poppers optimistische Sichtweise bestreiten und den wissenschaftlichen Fortschritt als eine doch recht irrationale Angelegenheit beschreiben: Was fr ein metaphorisches Szenario knnte er verwenden? Denkbar wre das im Folgenden analysierte Modell. Der Amerikaner Thomas S. Kuhn (*1922), Physiker, Philosoph und Wissenschaftshistoriker, prsentiert seine Sicht der Wissenschaft in seinem wichtigsten Werk, The Structure of Scientific Revolutions (1962). Darin unterscheidet er zwei Entwicklungsphasen in jeder Wissenschaft: Abschnitte „normaler Wissenschaft“, whrend derer alle Forschung durch ein gemeinsames „Paradigma“, das heißt eine beispielgebende und vorbildhafte Theorie, geleitet wird, wechseln sich ab mit „revolutionren“ Paradigmenwechseln. Diese dialektisch-zweigeteilte Charakterisierung der Wissenschaftsentwicklung ußert sich bei Kuhn in einem reichhaltigen metaphorischen Szenario von WISSENSCHAFT ALS GLAUBENSKRIEG UM DIE ANNAHME EINES BESTIMMTEN SPIELS. Theorien (bzw. „Paradigmen“) werden als Fhrer personifiziert, welche die Arbeit einer ganzen Wissenschaftler-Gemeinde beherrschen. In Friedenszeiten besteht wissenschaftliche Ttigkeit im Fertigstellen eines Puzzlespiels, wobei die Wissenschaftler versuchen, die Natur in vorgefertigte Ksten zu zwngen, ganz nach den von der theoretischen Fhrung festgelegten Regeln. Diese Fhrung ist dabei eine religise, und Wissenschaftler sind glubige Anhnger des charismatischen Fhrers ihrer jeweiligen Gemeinschaft. Die Mitglieder verschiedener Wissenschaftler-Gemeinden knnen versuchen, Andersglubige zum eigenen Glauben zu bekehren. Doch von Zeit zu Zeit kommt es zur wissenschaftlichen Revolution, einer Periode des gewaltsamen Glaubenskriegs um die Annahme eines bestimmten Spiels anstelle eines anderen. Eine solche Umbruchphase endet im totalen Sieg der einen Gemeinde, die darauf die Fhrung der anderen bernimmt. Dieses Szenario fokussiert die allesbeherrschende Rolle paradigmatischer Theorien, welche die wissenschaftliche Ttigkeit in Zeiten der „normalen Wissenschaft“ bestimmen. Im Verhltnis zur dominierenden Theorie reduziert sich die Rolle des Wissenschaftlers auf die des dogmatisch Glubigen, des fanatischen Anhngers und gehorsamen Untertans. Wissenschaftler kommen einfach nicht ohne irgendeine Theorie aus, die ihre Erforschung der Natur leitet und bestimmt, welches Spiel gespielt wird. Abgelst wird jede Theorie durch eine Nachfolgertheorie, wobei dieser Wechsel von Aufruhr, Krieg und Gewalt geprgt ist, der typischen Symptomatik politischer REVOLUTION. In diesem Szenario erscheinen Wissenschaftler aus-
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schließlich als Mitglieder verschiedener Wissenschafts-Gemeinden, ein Aspekt, den auch die allgegenwrtige RELIGIONS-Metaphorik betont. Das gesamte metaphorische Modell zieht die Rationalitt wissenschaftlichen Fortschritts schwer in Zweifel. Wenn die Entscheidung zwischen konkurrierenden Theorien sich als reiner Machtkampf zwischen Religionsfhrern nebst ihren fanatischen Anhngern darstellt, liegt sie außerhalb jeder rationalen Kontrolle. Ein objektiver Fortschritt als tatschliche Verbesserung des wissenschaftlichen Unternehmens erscheint damit extrem gefhrdet. Doch es kommt noch schlimmer: Selbst die „Normalwissenschaft“, als kindliche SPIEL-Ttigkeit entworfen, stellt ja nichts besonders Ernstzunehmendes dar. All diese Gesichtspunkte von vlligem Irrationalismus, Dogmatismus, von Willkr und Beliebigkeit kommen zum Ausdruck in Kuhns reichhaltigem metaphorischem Szenario, zusammengefasst in der Kurzformel: WISSENSCHAFT IST EIN GLAUBENSKRIEG UM DIE ANNAHME EINES BESTIMMTEN SPIELS.
3. Resultate und Schlussfolgerungen In diesem Schlussteil fasse ich meine Untersuchungsergebnisse zusammen, angefangen vom vermeintlich Trivialen bis zu den interessanteren Mustern metaphorischer Systematik (in 3.1). Abschließend wird (in 3.2) noch einmal die diachronische Perspektive der Untersuchung ins Rampenlicht gerckt und ausgewertet.
3.1 Verwendete Metaphern und ihre Systematik Das erste Ergebnis meiner Studie erscheint noch nicht besonders spannend: Der Diskurs ber Wissenschaft ist nicht metaphernfrei. Die in Jkel (1997) vorgestellten Sprachbeispiele aus dem Korpusmaterial machen dies deutlich sichtbar. Obwohl Wissenschaftsphilosophen doch sehr auf ihre Sprache achten und nicht wenige, wie beispielsweise Kant, fr einen gar nicht blumigen, sondern extrem nchternen bis trockenen Stil bekannt sind, wimmelt es in weiten Passagen der untersuchten Texte geradezu von Metaphern. Wenngleich dieses Ergebnis fast zu trivial erscheint, liefert es doch eine weitere Besttigung fr die metapherntheoretische Unidirektionalittsthese.14 Als hochabstraktes Begriffsfeld wird Wissenschaft eindeutig metaphorisch konzeptualisiert, und zwar durch Rckgriff auf konkretere Erfahrungsbereiche. 14
Zur Unidirektionalittsthese siehe Lakoff & Johnson (1980, 105, 109), Lakoff & Turner (1989, 132), Sweetser (1990, 30) und Lakoff (1993, 245) sowie die begriffskritische Diskussion in Jkel (1997, 57 – 64) und die empirischen Untersuchungen in Jkel (1997, 65 – 88) sowie Jkel (1999a).
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Als zweites Ergebnis lsst sich festhalten, dass es nicht bloß eine, von allen Theoretikern gleichermaßen verwendete Metaphorik, sondern verschiedene metaphorische Konzeptualisierungen von Wissenschaft gibt. Interessanterweise werden diese Ergebnisse unserer diachronischen Untersuchung durch synchronische Forschungsarbeiten besttigt. So stellt Wolf-Andreas Liebert (1995 und 1996) fest, dass der Diskurs heutiger Wissenschaftler ber ihre eigene Forschungsttigkeit hochgradig metaphorisch ist. Und mehr noch, die verwendeten metaphorischen Modelle zeigen eine auffllige hnlichkeit mit den oben beschriebenen.15 Zusammengenommen sprechen synchronische und diachronische Untersuchungsergebnisse dafr, dass die metaphorische Konzeptualisierung von Wissenschaft auf der Grundlage einer relativ begrenzten Anzahl von Ursprungsbereichen erfolgt. Im Verlauf der abendlndischen Geschichte akkumuliert, finden dieselben Domnen nach wie vor Verwendung. ber diese allgemeineren Erkenntnisse hinaus frdert unsere kognitiv-linguistische Untersuchung von sechs bedeutenden Wissenschaftstheoretikern einiges an Systematik in deren Metaphernverwendung zutage. Wenn wir fr einen Augenblick ganz von den geschichtlichen Aspekten absehen und die untersuchten Theorien einfach als sechs alternative Sichtweisen von Wissenschaft betrachten, knnen wir folgendes feststellen: Unterschiedliche Wissenschaftstheorien verwenden typischerweise auch unterschiedliche Metaphorisierungen. Wenngleich sich in den meisten Texten auch vereinzelt abweichende Sprachmetaphern finden lassen, verwendet doch jeder der untersuchten Autoren ein eindeutig vorherrschendes System konzeptueller Metaphern, die sich zur Erklrung der weitaus meisten Sprachbeispiele anbieten. Eine bersicht der zentralen strukturellen Metaphern einschließlich weiterer bertragungsdetails sind als Zusammenfassung der sechs metaphorischen Szenarien in Tabelle 1 aufgefhrt. Dort gehe ich nacheinander fr jeden Autor die allgemeinen Zielbereichsaspekte durch und liste die jeweils korrespondierenden „Spender“-Begriffe aus dem Ursprungsbereich auf. Zusammengenommen ergeben diese bertragungen das metaphorische Wissenschafts-Szenario des jeweiligen Autors.16 Auf diese Weise werden auch einzelne „Lcken“ in den Szenarien deutlich (angezeigt durch Ø), welche diejenigen Zielbe15
16
Die wesentlichen Ursprungsbereiche, die Liebert (1996) auffhrt, sind VISION/LICHT, WEG/ REISE, GEBUDEBAU, MOSAIK/PUZZLE und KOMMUNIKATION/BEFRAGUNG. Wenn im letzteren vielleicht eine gemßigte Version der Bacon'schen NTIGUNG sichtbar wird, fehlen einzig die KRIEGS-Metaphern in Lieberts Korpus von Diskussionen innerhalb einer Gruppe von Virologen. Der Grund hierfr liegt vermutlich einfach darin, dass Konkurrenz und Entscheidung zwischen verschiedenen Theorien nicht zu den von der Gruppe diskutierten Themen gehrten. Die Kopfzeile der Tabelle enthlt die wichtigsten Zielbereichsaspekte. Verbindet man diese mit den jeweiligen „Spender“-Begriffen des Ursprungsbereichs, hat man die domnenverbindenden metaphorischen Korrespondenzen. Ich unterscheide hier nicht zwischen „ontologischen“ und
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reichsaspekte reprsentieren, die durch die Fokussierung des jeweiligen metaphorischen Modells systematisch ausgeblendet werden. WISSENSCHAFT
Wissenschaftler
Natur
Methode
Theorien
wissensch. Fortschritt
Ø
Ø
Aristoteles BETRACHTUNG
Gegenstand Ø passiver Betrachter, der BeBeobachter trachtung
Descartes
REISE
Wanderer, Reisender
Ø
Ø gerader Weg; langsame aber stetige Bewegung
Bacon
NTIGUNG DER NATUR
Ntiger, Folterer, Inquisitor, Eindringling, Vergewaltiger
Frau, die Wertgegenstnde verbirgt; Opfer der Ntigung
Ntigung und Zerfleischung der Natur
Kant
GEBUDEBAU
Ø Pionier, Architekt, Bauarbeiter
Gebude Untersuchung des Baugrundes, Architektur des Gebudes
Popper
KAMPF UMS BERLEBEN
Kmpfer
Waffen im Kampf
Ø
Ø
Vorwrtsund Aufwrtsbewegung Entreißen weiterer Wertgegenstnde aus den Eingeweiden der Natur Fertigstellung des Gebudes
Rivalen im Ttung Kampf ums schwcheber-leben rer Theorien, evolutionre Selektion der 'fittesten'
„epistemischen“ Korrespondenzen (vgl. Lakoff 1987, 387), da ich diese Unterscheidung unklar und wenig erhellend finde (vgl. Jkel 1997, 148 f.).
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Kuhn
GLAUBENSKRIEG & SPIEL
fanatischer Glaubensanhnger, Puzzlespieler
Spielobjek- Regeln des charismati- revolutioPuzzlespiels sche Reli- nrer te, die in gionsfhrer FhrungsKsten wechsel, gezwngt Sieg im werden Glaubenskrieg
Tabelle 1: bersicht ber die untersuchten metaphorischen Wissenschafts-Szenarien (Ø bezeichnet einen durch das jeweilige metaphorische Szenario systematisch verborgenen Zielbereichsaspekt)
Nach dieser Darstellung der fr die sechs untersuchten Autoren charakteristischen metaphorischen Wissenschafts-Szenarien muss noch eine Einschrnkung gemacht werden: Es gibt auch weitgehend unspezifische Metaphern. So finden sich zum Beispiel einzelne Flle der generellen GEBUDE-Metaphorik in fast allen Texten mit Ausnahme der aristotelischen. Allerdings konnte gezeigt werden, welch differenzierte Verwendung und Elaborierung dieser Metapher fr Kants Wissenschaftstheorie typisch ist. Noch mehr an Systematik wird deutlich, wenn wir im Folgenden die diachronische Perspektive hinzunehmen.
3.2 Schlussfolgerungen aus diachronischer Perspektive Eine denkbare Hypothese wird durch die Ergebnisse unserer Untersuchung eindeutig widerlegt: In der Geschichte der Wissenschaftstheorie gibt es nicht etwa eine Entwicklung vom zunchst blumigen, metaphernreichen Reden ber Wissenschaft hin zu einem eher wrtlichen und metaphernrmeren Diskurs. Von den untersuchten Autoren ist Aristoteles der mit Abstand sparsamste Metaphernverwender.17 Zwischen den brigen fnf Wissenschaftstheoretikern lsst sich kein signifikanter Unterschied bezglich der Auftretenshufigkeit sprachlicher Metaphern feststellen. Doch die aus diachronischer Perspektive18 wohl interessanteste Frage ist die folgende: Gibt es eine Korrelation zwischen der historischen Entwicklung der Wissenschaftstheorie und den auftretenden metaphorischen Szenarien? Da die untersuchten Wissenschaftstheorien nicht einfach sechs alternative Sichtweisen von Wissen17
18
Wren ausschließlich aristotelische Texte zur Wissenschaft Gegenstand unserer Untersuchung gewesen, htte man vielleicht ganz auf die Postulierung eines metaphorischen Szenarios verzichten knnen. Aus der Perspektive des diachronischen Vergleichs mit den spteren Wissenschaftstheoretikern ist aber auch das sprlich belegte VISIONS-Modell des Aristoteles interessant. Zur Wichtigkeit der diachronischen Perspektive fr eine kognitive Metapherntheorie und deren Vernachlssigung durch die „Theorievter“ siehe Jkel (1998).
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schaft darstellen, sondern eine geschichtliche Abfolge der wohl einflussreichsten und wirklich bahnbrechenden Entwrfe zum Thema bilden, ermglicht der Umfang unserer Studie eine vorsichtige Antwort. Bevor wir jedoch mit einer solch bergreifenden und generellen Betrachtung schließen, wollen wir zunchst noch einige diachronische Vergleiche zwischen historischen Vorgngern und modernen Nachfolgern anstellen, die erhellend auf einzelne Detailaspekte eingehen.19 Aristoteles hat noch eine vergleichsweise naive Sichtweise von wissenschaftlicher Erkenntnis: Die Welt mit all ihren Phnomenen ist einfach da und wartet nur darauf, dass ein Wissenschaftler sie beobachtet und beschreibt. Dementsprechend verwendet Aristoteles von allen untersuchten Theoretikern die passivsten Wissenschafts-Metaphern, indem er sich des Ursprungsbereichs der VISUELLEN WAHRNEHMUNG bedient. Alle spteren Szenarien begreifen das wissenschaftliche Arbeiten als einen wesentlich aktiveren Prozess, wobei Bacons empiristisches NTIGUNGS-Modell in Sachen aggressiver Aktion die brigen in den Schatten stellt. Descartes als Bacons rationalistischer Widerpart benutzt die viel harmlosere und zivilisiertere Ttigkeit des REISENS als Ursprungsbereich. Sein REISE-Szenario spiegelt dabei die rationalistische Fokussierung auf den linearen und zielgerichteten Charakter wissenschaftlicher Aktivitt. Fr Kant ist Wissenschaft wie berhaupt jeder menschliche Erkenntnisvorgang eine prinzipiell konstruktive Ttigkeit. Dies ußert sich in seiner differenzierten Verwendung und Elaborierung der GEBUDE-Metaphorik, wodurch die konstruktiven Aspekte wissenschaftlichen Arbeitens hervorgehoben werden. Eine solche metaphorische Konzeptualisierung von Wissenschaft wre Aristoteles mit seinem passiven Wissenschaftsbegriff nicht in den Sinn gekommen. Wie bereits oben erwhnt, zeigen sich Kants philosophische Wurzeln in der von Descartes begrndeten rationalistischen Denkrichtung in seinem Gebrauch der cartesianischen WEG-Metapher, die er aber nicht einfach bernimmt, sondern ausarbeitet und in sein differenziertes ENTDECKUNGS-Szenario integriert. Der rationalistische Hintergrund erklrt wahrscheinlich auch die Tatsache, dass die Natur als solche weder in Descartes’, noch in Kants oder Poppers metaphorischen Wissenschafts-Szenarien irgendeine besondere Rolle spielt. Gnzlich anders ist dies beim Empiristen Bacon, dem philosophischen Anwalt der experimentellen Forschung. Seine Personifizierung der Natur selbst mit dem darauf aufbauenden NTIGUNGS-Szenario wre Descartes und Kant wie auch Popper vllig fremd. Verglichen mit seinen modernen Nachfolgern Popper und Kuhn zeichnet sich Kant durch seinen unerschtterlichen Glauben an ein einheitliches Wissenschaftssystem aus. Zwei Jahrhunderte spter ist die Existenz konkurrierender Theorien wissenschaftstheoretisches Allgemeingut. So werden in Poppers wie in Kuhns metaphori19
Vgl. hierzu den berblick in Abschnitt 3.1, besonders Tabelle 1.
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schen Szenarien gleichermaßen wissenschaftliche Theorien selbst personifiziert, und die Konkurrenzsituation zwischen verschiedenen Theorien wird als KAMPF konzeptualisiert. Der Unterschied zwischen beiden Anstzen liegt in ihrer Einschtzung der Rationalitt wissenschaftlichen Fortschritts, wobei der eher pessimistische Kuhn ein Szenario vom GLAUBENSKRIEG ZWISCHEN FANATIKERN entwirft, whrend der optimistischere Popper den gesamten evolutionren KAMPF UMS DASEIN als Ursprungsbereich fr seine Konzeptualisierung von Wissenschaft heranzieht. Ausgestattet mit dem Geist der Aufklrung seiner Zeit, htte Kant wohl nicht einmal im Traum an die Personifizierung von Theorien oder an wissenschaftlichen Fortschritt als eine Art Krieg gedacht. Bis hierher haben wir die sechs metaphorischen Wissenschafts-Szenarien lediglich miteinander verglichen. Es konnte gezeigt werden, auf welche Weise sich sowohl einige der systematischen Verbindungen wie auch entscheidende Differenzen zwischen den theoretischen Entwrfen von Wissenschaft in den hauptschlich verwendeten konzeptuellen Metaphern widerspiegeln. Zum Abschluss dieser Darstellung von Ergebnissen wagen wir nun eine vorsichtige Folgerung: Im Zuge der historischen Entwicklung der Wissenschaftstheorie findet eine schrittweise Entfaltung des Wissenschafts-Szenarios statt. Jeder der untersuchten Theoretiker steht dabei fr eine typische Umfokussierung. Das in Abschnitt 1.1 eingefhrte generalisierte Wissenschafts-Szenario lsst sich demnach als das zeitgenssische Resultat einer geschichtlichen Entwicklung verstehen, die in Abbildung 1 dargestellt ist. Aristoteles Objekt fokussiert
Descartes
Bacon Methode fokussiert (Prozess) rationale Vorgehensweise empirisches Experiment
Kant Theorie (und ihre Voraussetzungen) fokussiert (Produkt)
Popper
Kuhn Wissenschaftlicher Fortschritt fokussiert (Meta-Prozess) ideal/rational historisch/soziologisch
Abbildung 1: Entfaltung des Wissenschafts-Szenarios mit Umfokussierungen
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Wenn wir die metaphorischen Szenarien ein letztesmal Revue passieren lassen (vgl. den berblick in Abschnitt 3.1), stellen wir fest, dass das simple VISIONS-Szenario des Aristoteles das Objekt, den Gegenstand der Beobachtung, fokussiert. Da das bloße Anschauen von Naturphnomenen kein besonderes Problem bereitet, verbirgt dieses metaphorische Modell alle methodologischen Aspekte wissenschaftlicher Ttigkeit. Probleme der Methode werden zur zentralen Frage fr die Theoretiker des 17. Jahrhunderts. Die Szenarien von Descartes und Bacon stellen gleichermaßen prozedurale Gesichtspunkte der Wissenschaftsttigkeit in den Vordergrund. Whrend die cartesianische REISE-Metaphorik dabei die zielgerichtete Linearitt rationaler Vorgehensweise im Blick hat, konzentriert sich Bacons NTIGUNGS-Modell auf die machtvolle Unterwerfung der Natur mittels des empirischen Experiments. Im 18. Jahrhundert bringt Kants Szenario eine weitere Umfokussierung hin zur Theorie bzw. zum Theoriesystem als einem Produkt wissenschaftlicher Aktivitt. So betont sein ARCHITEKTUR-Modell sowohl die konstruktiven Aspekte als auch die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen als notwendige Fundamente eines wohlbegrndeten Systems wissenschaftlicher Erkenntnis. In unserem Jahrhundert schließlich wendet sich das wissenschaftstheoretische Interesse der Frage des wissenschaftlichen Fortschritts zu. So prsentieren Popper und Kuhn zwei alternative KAMPF-Modelle zur Konzeptualisierung der Entscheidung zwischen konkurrierenden Theorien, worin ja eine Art Meta-Prozess ber die eigentliche Forschungsttigkeit der Wissenschaftler hinaus zu sehen ist. Poppers Szenario vom EVOLUTIONREN KAMPF ußert dabei die Hoffnung auf idealen oder wenigstens rationalen Fortschritt, whrend das GLAUBENSKRIEGS-Szenario von Kuhns historisch-soziologischer Wissenschaftsbetrachtung die irrationalen und dogmatischen Aspekte des wissenschaftlichen Fortschritts hervorhebt. In diesen Untersuchungsergebnissen, gewonnen aus der diachronischen Betrachtungsweise, liegt wohl der weitreichendste Erkenntnisgewinn unserer metaphernanalytischen Studie. Die diachronische Perspektive ermglichte die Feststellung einer komplexen Korrelation zwischen historischer Entwicklung der Wissenschaftstheorie einerseits und jenen von den einflussreichsten Theoretikern auf diesem Gebiet verwendeten metaphorischen Szenarien andererseits. Einmal mehr erweist die Kognitive Linguistik damit ihre Ntzlichkeit nicht allein zum Verstndnis von Sprache, sondern auch fr die interdisziplinre Erhellung anderer kognitiver Errungenschaften des Menschen, in diesem Fall fr ein verbessertes Verstndnis verschiedener philosophischer Leitbilder von Wissenschaft.
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Aulenbacher, Brigitte: Jg. 1959, Dr. rer.soc., Dipl.-Soz., Vertretungsprofessorin an der Johann Wolfgang Gothe-Universitt Frankfurt a.M. Arbeitsschwerpunkte: Geschlechter- und Rationalisierungsforschung in industrie-, technik- und organisationssoziologischer Perspektive, Gesellschaftstheorie, Methodologie und Methode. Bogner, Alexander: Jg. 1969, Dr., Dipl.-Soz., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut fr Technikfolgen-Abschtzung der sterreichischen Akademie der Wissenschaften. Arbeitsschwerpunkte: Technik- und Risikosoziologie, Biopolitik, Methoden empirischer Sozialforschung.
[email protected] Hroch, Nicole: Jg. 1969, Dipl.-Umweltwiss., Projektmitarbeiterin am Institut fr Angewandte Forschung der Hochschule Pforzheim im Bereich kologische Unternehmensfhrung. Arbeitsschwerpunkte: Untersuchung von Sprachbildern im Umweltmanagement, Analyse der Umweltberichterstattung von Unternehmen im Hinblick auf die Entwicklung des Umweltmanagements.
[email protected] Geideck, Susan: Jg. 1964, Dipl.-Soz., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Johann Wolfgang Goethe Universitt Frankfurt. Arbeitsschwerpunkte: Industrie-, Organisations- und Techniksoziologie, Leitbilder der Rationalisierung, Brokratieforschung, Geschlechterforschung.
[email protected] Jkel, Olaf: Jg. 1961, Dr. phil in Anglistik/Linguistik, Juniorprofessor fr Anglistik/Linguistik am Englischen Seminar der Universitt Flensburg. Arbeitsschwerpunkte: Kognitive Semantik, Metaphernforschung, Feldtheorie, kontrastive Linguistik (Englisch-Deutsch), (literarische) bersetzung sowie Literaturdidaktik und Unterrichtsforschung.
[email protected] Kassner, Karsten: Jg. 1971, Dipl.-Soz., Promovend am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universitt Frankfurt am Main, Promotionsstipendiat der HansBckler-Stiftung. Arbeitsschwerpunkte: Mnner- und Geschlechterforschung, Soziologie der Arbeit und alltglicher Lebensfhrung, Organisationssoziologie, Wissenssoziologie.
[email protected] Keller, Reiner: Jg. 1962, Dr. phil, Dipl.-Soz., Universitt Augsburg, Mitarbeiter an der PhilSo-Fakultt, Lehrstuhl fr Soziologie und im Sonderforschungsbereich 536 ‚Reflexive Modernisierung‘. Arbeitsschwerpunkte: Wissenssoziologie, Diskursfor-
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
schung, Soziologische Theorie und Gegenwartsdiagnosen, Qualitative Methoden.
[email protected] Klein, Josef: Jg. 1940, Dr. habil., bis 2000 Professor am Institut fr Germanistik der Universitt Koblenz-Landau, Campus Koblenz, seit 2000 Prsident der Universitt Koblenz-Landau. Arbeitsschwerpunkte: ffentlicher, insbesondere politischer Sprachgebrauch sowie theoretischen Fragen der Pragmatik (insbesondere zur Argumentationstheorie sowie zur Theorie der Unterhaltung), kognitive Semantik und Textlinguistik.
[email protected] Liebert, Wolf-Andreas: Jg. 1959, M. A., Dr. habil., Professor fr Germanistische Linguistik an der Universitt Koblenz-Landau, Campus Koblenz. Arbeitsschwerpunkte: Metapherntheorie, sprachliche Wissenskonstruktion und -vermittlung, Sprachhandlungstheorie, Textlinguistik.
[email protected] Musolff, Andreas: Jg. 1957, M.A., Dr. habil., Reader am German Department der Universitt Durham (GB). Arbeitsschwerpunkte: Metapherntheorie, deutsch-britischer Medienvergleich, Textlinguistik.
[email protected] Nazarkiewicz, Kirsten: Jg. 1961, Dipl.-Soz., freiberufliche Erwachsenenpdagogin und systemische Organisationsentwicklerin & Coach und Lehrbeauftragte der Universitt Gießen und der Fachhochschule Frankfurt. Arbeitsschwerpunkte: Kultur-, Sprach- und Geschlechtersoziologie sowie qualitative Methoden der Sozialforschung, insbesondere Gesprchsforschung, Konversationsanalyse. www.consilia-sc.com Siegel, Tilla: Jg. 1944, Dr. habil., Professorin fr Soziologie mit dem Schwerpunkt Soziologie industrieller Gesellschaften am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Johann Wolfgang Goethe Universitt Frankfurt. Arbeitsschwerpunkte: Industrie- und Organisationssoziologie, historisch vergleichende Forschung zur Rationalisierung als gesellschaftlicher Prozess, Gesellschaftstheorie, (und frher:) nationalsozialistische Arbeitspolitik, Weltmarkttheorie.
[email protected] Wagner, Franc: Jg. 1958, Dr., M.A., derzeit Gastprofessur in Modena. Arbeitsgebiete: Computergesttzte Korpuslinguistik, empirische Linguistik, Intermedialitt, linguistische Pragmatik, Metaphernanalyse, Medienanalyse, sprachliche Bewertung, sprachliche Implizitheit, Textlinguistik.
[email protected] Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
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Wassermann, Petra: Jg. 1961, Dipl.-Soz., Promovendin am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universitt Frankfurt am Main, Promotionsstipendiatin der Hans-Bckler-Stiftung. Arbeitsschwerpunkte: Industrie- und Organisationssoziologie, Industrielle Beziehungen, Soziologie der Geschlechterverhltnisse, Methoden der empirischen Sozialforschung.
[email protected] Wengeler, Martin: Jg. 1960, Dr. habil., z.Zt. Vertretung einer Professur fr Sprachwissenschaft des Deutschen mit dem Schwerpunkt jngere Sprachgeschichte und Soziolinguistik an der Universitt zu Kln. Arbeitsschwerpunkte: ffentlicher Sprachgebrauch, Deutsche Sprachgeschichte nach 1945, Sprachgeschichte als Mentalitts- und Diskursgeschichte, Argumentationsanalyse, Politische Semantik, Sprachkritik.
[email protected];
[email protected] Sachregister Abfall 283, 291 – 302 Akteur(e) 3, 5, 6, 8, 11, 12, 46, 77, 80, 83, 84, 92, 95, 97, 98, 107, 109 – 114, 155, 159, 163, 166, 187, 208, 209, 228, 229, 234 – 238, 244, 249, 251, 253, 284 – 291, 293, 299, 300, 302 Alltagshandeln 26, 37, 39, 46, 47, 50, 51, 54 Alltagswissen 37, 39, 44 Argument 33, 53, 59 – 82, 113, 236, 252, 289, 295, 301, 302, 317 Argumentationsmuster 59, 63 – 66 sthetik 5 Begriffsdomne 323, 33 Beobachtungen 125 – 129, 133, 139 141, 148, 158, 200, 206, 300, 339 Bioethik 217, 218, 220, 222 Biographische Daten 126 – 128, 141, 150 cognitive metaphor theory 259, 340, 341 cognitive model 263, 279 Debatten(ordnung) 64, 67, 69, 74, 78, 80, 225, 226, 230, 232 – 235, 240242, 245, 248, 253, 283, 291 Denkmuster 6, 7, 8, 10, 11, 14, 59, 64, 74, 77, 80, 84, 115, 116, 124, 166 Deutungsmuster 10, 17, 18, 19, 24, 26, 30, 31, 32, 34, 35, 36, 77, 80, 283 – 305 Deutungsmuster (soziale) 10, 37 – 57 diachronisch 119, 324, 325, 333, 334, 336, 337, 339, 340
Diakonie 183, 184 Diskurs 10, 12, 35, 38, 44, 45, 47, 52, 57, 59, 60, 64 – 67, 69, 82, 85, 92, 106, 107, 112 – 115, 120, 122 – 124, 155, 202, 205 – 209, 211, 212, 217 – 224, 226, 229, 234, 236, 238, 240, 244, 256, 283 – 305, 309, 311, 323, 324, 326, 333, 334, 336, 340, 341 Diskursanalyse 12, 51 Dynamik 6, 7, 34, 75, 155, 156, 225, 230, 233, 236, 237, 238, 250, 284, 286, 300, 302 Einwanderungsdiskurs 63, 67, 68, 69, 72, 73, 82 Empirische Linguistik 59, 67, 79, 155, 167 Enthymem 60 – 63, 81 Ethnomethodologie 24, 178, 198 Eugenik 202, 204, 222 Experteninterview 202, 203, 206, 207, 222, 292 Expertenwissen 19, 29, 30, 112, 199, 213 Fokussierung 160, 290 Fordismus 26, 29, 31 Fragilitt 160, 166 Frederick W. Taylor 8, 26, 29, 28, 35, 36 Gesellschaftliche Entwicklung 26, 54, 105, 108, 112, 113, 197 Grounded Theory 158, 176, 207, 222 – 224, 290
348 Handeln – organisationales 125, 137, 140 – 141, 148 – 149, 238 – regelgeleitetes 45 – soziales 4, 6, 19, 20, 22, 46, 66, 286, 291 Handlungsleitung 128, 139, 145, 207, 208, 251 Handlungsprobleme 39, 40, 41, 54, 55, 286, 297 Handlungssystem 46, 239, 248 – 253, 282, 284, 288, 290, 310 Humangenetik 199 – 204, 206, 208, 210 – 212, 214, 221, 222, 224 Institution; institutionelle Konfiguration; Institutionalisierung 29, 49, 70, 71, 122 – 123, 155, 156, 159 – 168, 175, 176, 182, 199, 204, 206, 223, 228, 230, 231, 255, 283 – 289, 301 – 303 Integration 71, 157 – 159, 163 – 166, 168, 176, 178, 182, 230 Interpretation 7, 11, 22, 37 – 40, 42, 43, 45 – 47, 56, 68, 69, 75, 77, 80, 88, 89, 90, 99, 163, 164, 166 – 168, 203, 236, 238, 251, 310 Interview 38, 42, 51, 52, 57, 125 – 150, 158, 199, 203 – 206, 208, 217, 222, 240, 241, 243, 245, 250, 291, 303 Kategorisierung 23, 185, 187, 188, 190, 191 Kognition 149 – 150, 201, 202, 216 – 218, 221 kognitive Metapherntheorie 100, 119 – 120, 123 – 124, 127, 290, 310, 321, 323, 334, 340, 341, Konjunktion 192 – 196
Sachregister
Konsens 7, 12, 33, 157, 158, 160, 166, 168, 175, 197, 181, 182, 186, 191, 192, 194, 196, 301, Konsistenz(regeln) 47, 49, 53, 54, 317, 321 Kontext 7, 8, 10, 12, 47, 62 – 69, 74 – 79, 96, 111, 166, 175, 184, 187, 189, 201, 202, 210, 211, 228, 236, 238, 253, 287 – 289, 291, 294, 303 Kontrovers 5, 6, 11, 59, 80, 184, 186, 192, 195, 198, 202, 221 Korpus 68, 69, 74, 77, 289, 312, 313, 324, 325, 333, 340 Kultur 6, 12, 17, 30, 31, 43, 44, 55, 56, 59, 75, 77, 81, 91 – 93, 105 – 112, 114 – 116, 127, 150, 172, 173, 175, 176, 202, 208 – 216, 219 – 222, 225, 228, 229, 235, 236, 290 – 305 Kulturelles Leitbild 6 Legitimitt 4, 7, 17, 22, 24, 302 Leitbild 6, 10, 11, 12, 13, 25, 33, 34, 47, 59, 80, 84, 96 – 98, 105 – 117, 119 – 121, 128, 138 – 139, 150, 155, 156, 159, 165, 167 – 170, 175, 176, 177 – 198, 202, 208, 215, 216, 219 – 222, 225 – 256, 293, 298, 311, 320, 321, 339 Leitidee 165 – 168, 239 Linguistische Bewertungstheorie 310, 311, 313, 316, 318, 319, 320 Machbarkeit 6, 11, 108, 111, 113, 114, 155, 228, 229, 235, 237 Macht 11, 18, 35, 84, 91 – 93, 100, 159, 161 – 163, 165, 166, 168, 169, 174 – 176, 286, 288, 300 – 303, 328, 329, 333, 339
Sachregister
Machtverhltnis 11, 106, 111 – 115, 149, 209, 222, 238, 250, 251, 253 – 255 Massenmedien 229, 288, 290, 291, 299, 301 Medienanalyse 51 Medientexte 290 – 292, 311, 312, 314, 317 – 322 Metapher 5, 11, 12, 13, 59, 80, 83, 85, 87, 88, 90 – 93, 98, 99, 100, 119, 122, 124, 125 – 150, 245, 259 – 266, 277 – 282, 290, 309 – 322, 323 – 342 – konzeptuelle 33, 87, 126 – der Organisation 92 Metaphernanalyse 24, 93, 122, 127, 149, 151, 311, 324 Metapherszenarien 13, 309, 313, 318 Metapherntheorie, kognitive 100, 118, 119, 122, 123, 128, 290, 310, 321, 323, 334, 340, 341 Missbrauchs-, Belastungs- 64, 67, 68, 70, 183, 201 Motiv 22, 65, 77, 163, 181, 182, 191, 193, 195, 196, 198, 205, 207, 208, 248, 249 Multiperspektivik 93, 98 Normalitts-Paradigma 36, 47, 167 – 170, 209, 211, 216, 218, 220, 221 Organisation 12, 85 – 87, 90 – 101, 139, 141, 143, 149, 155 – 157, 159, 161, 163, 166, 177 – 179, 183, 193, 197, 213, 225 – 256, 323
Organisationaler Wandel 12, 225, 253 Person/Personalitt 43, 70, 63, 84 – 86, 112, 125, 139, 143, 156 – 158, 160, 161, 163, 166, 167, 180, 181, 186 –
349 188, 202, 217, 218, 221, 227, 233, 290, 309 Poetik des Wissens 98 Prnataldiagnostik 12 Praxis 37, 41 – 43, 45, 46, 49, 50, 52 – 57, 99, 106, 107, 115, 167, 174, 177, 201, 202, 204, 206, 207, 209 – 213, 216, 218 – 221, 288, 289, 292 - soziale 41, 45, 46, 49 public discourse 259, 260, 264, 265, 281 Professionalitt/Professionelles Handeln 150, 195, 199 – 224, 290, 298 Rationalisierung 9, 14, 17, 18, 19, 25 – 36, 79, 105 – 117, 123, 124, 226, 241, 247, 250, 256 Rationalisierungsgedanke 25, 26, 28 – 34 Rationalisierungsleitbilder 33, 34, 105 – 117, 226 Rationalitt(skriterien) 12, 33, 333, 338 Rekonstruktion 50, 51, 53, 56, 199, 208, 222, 283, 287, 289, 292, 303, 313 Reprsentation 23, 41, 42, 48, 51, 56, 88, 109, 110, 121, 124, 150, 157, 159, 161 – 163, 165, 166, 168, 175, 176, 290, 292, 301, 302, 305 Rhetorik 60, 62, 63, 66, 82, 206, 309, 326 Schlanke Produktion (lean production) 105, 106, 107, 112 Schlsselwort 5, 11, 13, 80, 81, 85, 100, 240, 246, 251, 253, 255, 313, 326 Schlussregel 60 – 64, 68
350 scenario 259, 260, 265 – 270, 273, 275 – 282 sensemaking 6, 13, 14, 247, 256 Sinn 3, 4, 6, 9, 20, 21, 24, 37, 38, 40 – 42, 44 – 46, 48, 49, 50, 52, 54, 56, 57, 59, 80, 84, 85, 95, 99, 160, 165, 168, 177, 197, 286, 288, 291, 303, 304 Sinnformeln 3 – 13, 85 – 89, 91, 93, 96, 99 Sinnhaftes Handeln 20, 48, 196, 291 Sinnzusammenhnge, kollektive 37, 41, 41, 54, 196, 286 Sloterdijk-Debatte 74, 75, 81 Spiel(e) 8, 12, 85, 109, 130, 135, 238, 239, 248, 251, 253, 314, 318, 332, 333, 336 Sprachgebrauch 122, 144, 187, 196 Sprachliche Bewertungen 75, 76 Stabilitt 8, 9, 12, 43, 321 Stakeholderprinzip 181 Stereotype 77, 79, 206, 318 Struktur 8, 38 – 43, 46 – 57, 60, 62, 67, 74, 80, 83, 84, 87, 95 – 97, 100, 109, 111, 114, 121, 123, 155 – 157, 159, 163, 166 – 171, 173, 175, 176, 179, 180, 192, 193, 199, 215, 221, 222, 290, 294, 296, 298, 301, 302, 309, 324 Szenario, metaphorisches 5, 309 – 322, 323 – 342 Technikgeneseforschung 107 – 110, 113, 116, 176, 201, 223, 228, 229 Topos 11, 59 – 82 Translation 98, 238, 245, 341 two-speed Europe 262, 279 bersetzung 62, 198, 238, 239, 240, 245, 248, 251, 253
Sachregister
Umweltmanagement 126, 128 – 129 Um-zu-Motiv 30, 196 Unternehmer/n 119 – 124, 125 – 128, 137, 140, 148, 149, 156, 157, 176, 177, 226, 233, 234, 239, 240, 253, 254, 292, 294, 310 Vergleich, deutsch-franzsischer 283, 294 Walser-Bubis-Debatte 77 – 79, 81 Wissen 6, 7, 9, 11, 13, 19, 29, 30, 37, 39, 41 – 47, 50, 54, 56, 59, 62, 63, 65, 80, 83, 86, 87 – 91, 97 – 99, 108 – 110, 112, 114, 124, 150, 185, 196, 198, 199, 202, 207, 211, 213, 214, 216, 221 – 223, 228, 229, 231, 233, 236, 244, 284 – 292, 303, 310 - implizites 45, 53, 96 Wissenschaft 10, 13, 19, 24, 28, 29, 30, 36, 44, 47, 49, 56, 60, 63, 80, 91, 100, 107, 111, 112, 120 – 123, 150, 201, 203 – 205, 209 – 213, 220 – 223, 228, 233, 234, 254, 295, 298, 300 – 303, 323 – 342 Wissenschaftstheorie 13, 323, 325, 327, 328, 330, 331, 334, 336, 338, 339, 340, 342 Wissensmanagement 83, 85, 91, 254 Zukunft 3, 5, 6, 11, 36, 84, 98, 105, 107, 108, 111, 112, 114 – 116, 167, 177, 183, 191, 195, 196, 228, 230, 235, 239, 252, 255 Zukunftskonferenz 180 – 182, 185, 186, 190, 192, 194 Zwangsarbeiter-Kontroverse 13, 309, 311, 313 – 317, 320
■ Theatralität der Werbung Theorie und Analyse massenmedialer Wirklichkeit: Zur kulturellen Konstruktion von Identitäten
2003. XIII, 573 Seiten. 366 Abbildungen. Gebunden. ISBN 3-11-017668-8
Die Untersuchung versteht sich als ein Beitrag zur Wissenssoziologie der Massenmedien und der Wirklichkeitskonstruktion des modernen Menschen. Im Rahmen eines Entwurfs einer Theorie der Medienkultur wird die massenmediale Werbung als eine Art Bühne verstanden, auf der Sinnverständnisse des Publikums (Deutungsmuster, Alltagstheorien, Weltbilder) auf verschiedene Weise vermittelt, dargestellt und inszeniert werden. Die Analyse konzentriert sich auf Images sozialer Identitäten und Identitätskontexte (Altersklassen, Geschlecht, Erotik, Status) sowie auf jedermanns Identitätstheorien, die die Werbung aufgreift und symbolisch verarbeitet. Herbert Willems vertritt eine Professur für Kultursoziologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen und leitet das Forschungsprojekt „Theatralität der Werbung“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft. York Kautt ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter des DFG-Forschungsprojektes „Theatralität der Werbung“.
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Medien- und Kommunikationswissenschaft
Herbert Willems / York Kautt
■ Sprache in der Organisation Sprachreflexive Verfahren im systemischen Beratungsgespräch 2003. IX, 334 Seiten. Gebunden. ISBN 3-11-017715-3 (Linguistik - Impulse & Tendenzen 1)
Diese innovative Arbeit versucht, empirische Analysen institutioneller Gespräche mit sprachtheoretischen Fragen zu verknüpfen. Im Zentrum der Analyse stehen Verfahren, die Interagierende verwenden, um selbst wiederum über Sprache und sprachliche Interaktion zu kommunizieren. Im theoretischen Teil werden wichtige Entwicklungen im Übergangsbereich zwischen Sprachtheorie und Gesellschaftstheorie übersichtlich und umfassend dargestellt. Die Erkenntnisse aus dem Bereich kommunikativer, soziopragmatischer Wirklichkeitserzeugung werden für die praktische Gestaltungsarbeit in Organisationen ‚vor Ort‘ fruchtbar gemacht. Im Mittelpunkt der empirischen Untersuchung stehen folgende Fragen: • Wie setzen Klienten und Berater Sprache ein, um organisatorische Probleme zu lösen? • Welche organisationalen Sachverhalte werden typischerweise zum Thema? Wie werden diese Sachverhalte formuliert und durch Neuformulierungen semantisch umstrukturiert? • Welche Chancen bringen diese Verfahren mit sich, worin bestehen Risiken und Grenzen des Vorgehens? Stephan Habscheid ist Oberassistent für Germanistische Sprachwissenschaft an der Technischen Universität Chemnitz.
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de Gruyter Sprachwissenschaft
Stephan Habscheid