STAuFFENBURG Linguistik
Josef Klein I Ulla Fix (Hrsg.)
Linguistische und literaturwissenschaftliche Beiträge zur Int...
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STAuFFENBURG Linguistik
Josef Klein I Ulla Fix (Hrsg.)
Linguistische und literaturwissenschaftliche Beiträge zur Intertextualität
STAUEEENBURG VERLAG
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Textbeziehungen : linguistische und Iiteraturwissenschaftliche Beiträge zur Intertextualität j Josef KleinjUlla Fix (Hrsg.). Tübingen: Stauffenburg-VerJ., 1997 (Stauffenburg-Linguistik) ISBN 3-86057 -705-0
© 1997· Stauffenburg Verlag Brigitte Narr GmbH
Postfach 25 25·0-72015 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Verarbeitung: Gogl, Reutlingen Printed in Germany ISSN 1430-4139 ISBN 3-86057-705-0
Inhalt vorwort ...................................................................................................... 7
Teilt: Bestandsaufnahme und theoretische Positionen Wolfgang Heinemann (Leipzig) Zur Eingrenzung des Intertextualitätsbegriffs aus textlinguistischer Sicht. .........................'........................................................... 21 Günter Weise (Greifswald) Zur Spezifik der Intertextualität in literarischen Texten ............................. .39 Henning Tegtmeyer (Leipzig) Der Begriff der Intertextualität und seine Fassungen - Eine Kritik der Intertextualitätskonzepte Julia Kristevas und Susanne Holthuis' .......... .49 Kathrin Steyer (Mannheim) • Irgendwie hängt alles mit allem zusammen - Grenzen und Möglichkeiten einer linguistischen Kategorie ,Intertextualität' .................... 83
Teil 2: Historische Umbrüche Sven F. Sager (Hamburg) Intertextualität und die Interaktivität von Hypertexten ............................. 109 Emest W B. Hess-Lüttich (Bern) Text, Intertext, Hypertext - Zur Texttheorie der Hypertextualität.. .......... 125 Hajo Diekmannshenke (Koblenz) Spontane versus kanonisierte Intertextualität. Vom neuen Umgang mit der Bibel in der Reformationszeit ........................................ 149 Natalia Troschina (Moskau) Stilistisches Koordinatensystem und Intertextualität im öffentlichen Mediendiskurs Rußlands ....................................................... 167
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Inhalt
Teil 3: Textbeziehungen in sachbezogenen Texten Udo Ohm (Kassel) Abduktionslogik und Textkomposition - Vom Nutzen der Intertextualitätsvorstellung für die Historische Semantik.......................... 179 Eva-Maria Jakobs (Saarbrücken) Quellenverfälschungen im wissenschaftlichen Diskurs .............................. 197 Claudia Fraas (Mannheim) Bedeutungskonstitution im Diskurs - Intertextualität über variierende Wiederaufnahme diskursiv zentraler Konzepte ...................... 219 Elke Rößler (Potsdam) Intertextualität in Zeitungstexten - ein rezeptionsorientierter Zugang ....... 235
Teil 4: Textbeziehungen in ästhetisch-spielerischen und literarischen Texten Rosemarie Gläser (Leipzig) Das Motto im Lichte der Intertextualität.. ................................................ 259 Michael Hoffmann (Potsdam) Diskurstypisierungen im kommunikativen Raum der literarischen Erzählung. Linguistische Notizen zu Heinrich von Kleist. ............ : ............ 303 Inge Häußler (Jena) Intertextualität in trivialen Texten ............................................................ 327 Jannis K. Androutsopoulos (Heidelberg) Intertextualität in jugendkulturellen Textsorten ........................................ 339 Margot Heinemann (ZittauILeipzig) Graffiti und Losungen - eine intertextuelle Korrelation? Ein Beitrag zur Intertextualität von Textsorten .............................................. 373 Sabine Fiedler (Leipzig) Intertextualität in der Plansprache (dargestellt an publizistischen und literarischen Texten im Esperanto) ........................................................... 383
Vorwort Die Klage über zunehmende Beziehungslosigkeit zwischen Literatur- und Sprachwissenschaft ist mittlerweile zum Topos geworden. Dieser Band unternimmt es, dem beklagten Zustand entgegenzuwirken, indem er den schillernden Begriff der ,,Intertextualität" zum gemeinsamen Bezugspunkt der Beiträge von Vertretern I-innen beider Wissenschaftsgebiete macht. Teil 1 enthält Beiträge, in deren Mittelpunkt die theoretische Bestimmung des Intertextualitätsbegriffs vor dem Hintergrund der bisherigen Diskussion in Linguistik und Literaturwissenschaft steht. In beiden Disziplinen werden dabei Spektren der Begriffsverwendung sichtbar, die sich durchaus überschneiden - allerdings mit unterschiedlichen Relevanz-Schwerpunkten. Einig ist man sich in der Skepsis gegenüber dem Konzept Kristevas, der ,Erfmderin' des Terminus Intertextualität, weil es der Beliebigkeit Tür und Tor öffnet. Darüberhinaus kommen - nicht nur in Teil 1 - unterschiedliche Auffassungen zum Ausdruck, welche Phänomene als ,,Intertextualität" bezeichnet werden sollen. Die Fronten verlaufen quer durch die beiden Disziplinen. Die Reihenfolge der Aufsätze in Teil 1 ist geordnet nach dem Prinzip thematischer Ausweitung: von der Bestimmung des Textbegriffs über Bestandsaufnahmen und/oder Empfehlungen für die linguistische und literaturwissenschaftliche Verwendung des Terminus bis zur Ausdehnung der Diskussion auf wissenschaftstheoretische und methodische Fragen. Wolfgang Heinemann (Zur Eingrenzung des Intertextualitätsbegrifjs aus textlinguistischer Sicht) bindet den Intertextualtitätsbegriff zurück an den Textbegriff. Er argumentiert dagegen, pragmatische und kognitivistische Erkenntnisse so zu deuten, als ob sie auf die ,,Auflösung" des Textbegriffs hinausliefen. Er zeigt, daß die in der Tradition von Kristeva manchmal als "Vor-" und ,,Nachtexte" bezeichneten mentalen Prozesse bei Produzenten und Rezipienten kategorial andere Phänomene sind als die ,,materialisierten", ,,konkreten Texte", welche jeweils Spielräume für "adäquates Textverstehen und Sinnkonstitution" eröffnen. Daß die Spielräume Grenzen haben, macht Heinemann an einem einfachen Beispiel klar: "Wer würde schon eine Todesanzeige als Sportreportage auffassen ?" Allerdings: ,,Dieser Spielraum ist bei literarischen Texten weit größer als bei Texten der nichtästhetischen Kommunikation. " Vor diesem Hintergrund plädiert Heinemann dafür, die Verwendung des Terminus ,,Intertextualität" in zwei Schritten einzugrenzen: Er schlägt vor, ihn erstens nicht mehr auf die "universelle Vernetztheit von Texten" zu beziehen, sondern auf die "Wechselbeziehung zwischen konkreten Texten"; und zweitens ihn zu reservieren als Bezeichnung für die "grundsätzliche Textsortengeprägtheit aller Texte", während für die explizite oder implizite
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Referenz eines Textes auf bestimmte andere Texte der Terminus "Textreferenz" genüge. Günter Weise (Zur Spezifik der Intertextualität in literarischen Texten) gibt eine Übersicht über die Spielarten des in der Literaturwissenschaft gebräuchlichen Intertextualitätsbegriffs. Er unterscheidet zwischen der "vertikalen (klassifJkatorischen) Dimension" der Intertextualität, die sich auf die "Zuordnung von Textexemplaren zu bestimmten konventionellen Textklassen bzw. Genres" bezieht und der ,,horizontalen (assoziativen, sinnverknüpfenden) Dimension", d.h. der Referenz "auf Prätexte unter semantischen Aspekt" - ähnlich Heinemanns Unterscheidung zwischen (typologischer) Intertextualität und Text-Referenz. Als literaturwissenschaftlieh wichtige Formen der Intertextualität, bei deren Verwendung er zwischen zweckgerichteten und spielerischen Funktionen sowie zwischen afftrmativen und kritischen "Wirkungsstrategien" unterscheidet, werden - illustriert durch Beispiele aus der angelsächsischen Literatur Zitat, Motto, Anspielung, Parodie und Travestie sowie der (post)modeme Roman als ,,Mosaik von Texten, hinter denen sich der Autor verbirgt", behandelt. Weise läßt das Spektrum des literaturwissenschaftlichen Intertextualitätsbegriffs, einschließlich des poststrukturalistischen Intertextualitätsbegriffs, der die Texteigenschaft, ein ,,Ensemble von Präsuppositionen anderer Texte zu sein" (Riffaterre), meint, - anders als Heinemann - unangetastet. Den poststrukturalistischen Intertextualitätsbegriff bringt Weise schließlich in Zusammenhang mit der Literatur der Postmoderne - mit kritischem Unterton: "Kreativität wird leicht auf Nachahmung und Umformung, auf ein bloßes Spiel mit Formen reduziert." Henning Tegtmeyer (Der Begriff der Intertextualität und seine Fassungen) beläßt es, anders als der Untertitel nahelegt, nicht bei einer Kritik der Intertextualitätskonzepte Julia Kristevas und Susanne Holthuis'. Er reflektiert auf der Basis des Stegmüllersehen Wissenschaftsbegriffs die Operationalisierbarkeit (und damit die Wissenschaftlichkeit) eines literaturwissenschaftlichen Intertextualitätskonzepts. Daß Kristevas "globaler", d.h. auf unbestimmte Beziehungen zwischen beliebigen Zeichenkomplexen bezo gener Intertextualitätsbegriff für wissenschaftliche Beschreibungs- und Analysezwecke unbrauchbar ist - "Kultur, Textualität und Intertextualität" werden bei ihr zu "Synonymen" -, deutet Tegtmeyer als politisch-ideologisch motivierte bewußte "Absage an wissenschaftliche und argumentative Standards". An Holthuis' ,,lokalem", d.h. auf bestimmte Beziehungen zwischen sprachlichen Texten bezogenem Intertextualitätskonzept kritisiert Tegtmeyer die Einteilung in "typologische" und ,,referentielle" Intertextualität. Er hält erstere Kategorie für überflüssig: ,,Denn daß Einzeltexte immer zu verstehen
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sind als Repräsentanten eines Textmusters ... , gehört zum Wesen von Texten überhaupt und sollte mithin unter dem Titel Textualität ... abgehandelt werden." Die Hauptkritik an Holthuis zielt darauf, daß sie trotz der Rezipientenorientierung ihres Intertextu~tätskonzepts die darin liegende "Sprengkraft" für die Literaturwissenschaft (weniger für die Textlinguistik) nicht erkannt habe: Die Leserabhängigkeit des Objekts Text verhindere die Operationalisierbarkeit des Begriffs der Intertextualität 'und damit seine Wissenschaftlichkeit im strengen Sinne. Dennoch haben für Tegtmeyer die "professionellen Leser, die sich Literaturwissenschaftler nennen", eine wichtige Aufgabe: "möglichst viele voneinander abweichende Lesarten zu entwickeln als ebenso viele Zugangswege zu einem Text", wozu auch die ,,Erstellung intertextueller Beziehungen" gehöre. Dazu schlägt er ein System von Unterscheidungen in vier Dimensionen vor: nach der Anzahl der Referenztexte, nach deren Bewertung im zu interpretierenden Text, nach der Deutlichkeit der Referenz und nach der logischen Modalität der intertextuellen Beziehung. Kathrin Steyer (Irgendwo hängt alles mit allem zusammen - Grenzen und Möglichkeiten einer linguistischen Kategorie ,!ntertextualität() zielt darauf, die "schillernde Kategorie" Intertextualität nicht nur per Defmition zu präzisieren, sondern sie durch Differenzierung verschiedener Analyseperspektiven und der damit verbundenen Methoden empirischer Wissenschaft zugänglich zu machen. Ausgehend von der Unterscheidung zwischen "enzyklopädischer Intertextualität" - Kristevas Konzept verwandt - und "sprachproduktbezo gener Intertextualität" sieht sie den "Kernbereich sprachwissenschaftlichen Interesses im zweiten Aspekt von Intertextualität, den Referenzen auf Versprachlichtes." Von den möglichen Ausprägungen intertextueller Referenzen thematisiert sie vorrangig den Fall, daß sich ein ,,Ausdruck" in einem Text X auf einen ,,Ausdruck" in einem Text Y bezieht. Sie schlägt dafür den Terminus "Reformulierung" vor. Steyer entwickelt die Möglichkeiten der IdentifIkation und Rekonstruktion intertextueller Referenz am Beispiel von Reformulierungen im politischmassenmedialen Diskurs. Dabei kommt sie, was Wissenschaftlichkeit des Intertextualitätskonzepts betrifft, zu Ergebnissen, die deutlich kontrastierep. mit Tegtmeyers diesbezüglicher Skepsis. Dies hat nicht nur mit den unterschiedlichen Diskurssystemen zu tun, auf die sie sich primär bezieht (Steyer: öffentlich-politischer Diskurs, Tegtmeyer: literarischer Diskurs), sondern vor allem damit, daß Steyer die Möglichkeiten wissenschaftlicher Erkenntnis nicht ~ur in Abhängigkeit von der Natur des betrachteten Gegenstandes, sondern auch von der Wahl der ,,Analyseperspektive" und der Adäquatheit von Methoden reflektiert.
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Sie untersc~eidet drei Analysenpespektiven: ,,Einzeltextperspektive", "synchronische Perspektive" und "diachronische. Perspektive". Die Einzelperspektive ist der ,,kommunikative Normalfall" für Leser/Hörer - auch für Textanalytiker. Hier ist Intertextualität mit wissenschaftlichem Anspruch nur verifIzierbar, soweit im Text explizite Indikatoren für Reformulierungen vorliegen. Doch sind damit die von den Kommunikationsteilnehmern intendierbaren, verstehbaren oder assozüerbaren intertextuellen Referenzen nicht erschöpft. Auch wenn keine expliziten Indikatoren vorliegen, kann für Analysen intertextueller Referenzen der Anspruch auf Wissenschaftlichkeit gewahrt werden - allerdings nicht unter den Bedingungen der ,,Einzeltextperspektive", sondern denen der "diachronischen Perspektive". Es geht dann nicht darum, im einzelnen zu verifIzieren, welcher AutorILeser bzw. Sprecher/Hörer sich bewußt auf welchen Vortext bezieht, sondern um die Erfassung von ,,HäufIgkeiten und Weiterverarbeitung sprachlicher Entitäten über größere historische Zeiträume hinweg". Steyers methodische Konsequenz: "Operationalisierbar sind diese globalen intertextuellen Zusammenhänge nur auf der Basis großer Korpora". So läßt sich dann verfolgen, wie z.B. aus dem zitierenden Bezug auf einen bestimmten Sprecher in einer bestimmten Situation (etwa Gorbatschows Warnung an Honecker "Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben") mit der Zeit ein geflügeltes Wort werden kann, dessen Benutzer die ursprünglichen Personen-, Sach- und Zeitreferenzen u.U. gänzlich unbekannt sind. Damit weist Steyer. auch einen methodischen Weg, Aussagen zur "enzyklopädischen Intertextualität" auf ein empirisch-wissenschaftliches Fundament zu stellen. In Teil 2 geht es um ,,historische Umbrüche" in einem zweifachen Sinne: einmal um medienhistorische Veränderungen, wie wir sie heute durch die neuen Computer-Medien erleben, und um die damit verbundenen neuen Formen und Funktionen von Intertextualität und Intermedialität (Beiträge von Sager und Hess-Lüttich). Zum anderen wird an Beispielen aus der Reformationszeit (Diekmannshenke) und aus der jüngsten Entwicklung in Rußland (Troschina) gezeigt, wie kulturelle und politische Umbrüche zur Etablierung neuartiger intertextueller Beziehungen mit Folgen im Bereich der Textsorten oder der öffentlich-politischen Kommunikation führen.
Sven F. Sager (Intertextualität und die Interaktivität von Hypertexten) verwendet den Begriff der Intertextualität als Vehikel einer kulturhistorischen Deutung der Mediengeschichte. Seine Prämisse: "Texte sind ... die eigentliche Manifestation oder Realisation von Kultur" - nicht als einzelne, sondern durch intertextuelle Relationen "zu einem ganzheitlichen Netz verwoben", der "Semiosphäre" im Sinne Lotmans. Sager unterteilt die Kulturge-
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schichte in "drei mediale Zeitalter", die sich durch die Dominanz unterschiedlicher Formen der Intertextualität unterscheiden: 1. die schriftlose Kultur mit dem Barden als prototypischem Träger und der Mnemotechnik als herrschendem Prinzip; hier war man auf "explizite verweisende Textverknüpfungen während des aktuellen Vortrags" angewiesen. 2. die traditionelle Schriftkultur ("textuale Kultur") mit der Bibliothek als prototypischem Träger und der Heuristik als herrschendem Prinzip; hier konstituiert sich Intertextualität in hohem Maß ,,im Prozeß der aktuellen Rezeption durch den Leser, also im Prozeß der kognitiven Textverarbeitung und Textinterpretation". 3. die hypermediale Kultur mit dem Internet als prototypischen Träger und dem Prinzip netzartiger , an Linearität nicht mehr gebundener Verknüpfung zwischen unterschiedlichen Medien (Schrift, Bild, Ton). Über die ,,Externalisierung des Gedächtnisses" hinaus leisten Hypertext- und Hypermediasystem "auch die gedankliche Verknüpfung". Denn "die Heuristik des Lesers wird nun in eine externe Speicherstruktur - das programmierte Netz der Verknüpfungen - hinaus verlagert. " Die Aktualisierung erfolgt durch das Prinzip der Interaktivität. Dabei taucht Mnemotechnik wieder auf: als visuelle Orientierungshilfe bei der Navigation durchs Netz.
Ernest W.B. Hess-Lüttich (Text, Intertext, Hypertext - Zur Texttheorie der Hypertextualität) geht von einem Textkonzept aus, das zwischen linguistischem, literarischem und semiotischem Textbegriff differenziert. Er favorisiert einen "semiotisch präzisierten Begriff von Intertextualität", der sich absetzt vom "Globalverständnis" in der Nachfolge Kristevas, andererseits von reduktionistischen Konzepten, die Intertextualität als textinhärente Eigenschaft in Form expliziter, intersubjektiv nachweisbarer Verweisrelationen defmieren. Für Hess-Lüttich ist der Leser die Instanz für die Herstellung intertextueller Bezüge, allerdings nicht ein Leser, der sich der Beliebigkeit eige- ) nen Assoziierens überläßt, sondern einer, ,,für den ... nicht belanglos ist zu wissen, ob ein Autor einen Prätext gekannt hat oder nicht, ob er über das: gleiche Textrepertoire verfügt oder nicht, ob er den Verweis-Instruktionen des Textes zu folgen weiß oder nicht." Vor diesem Hintergrund wird die Herstellung von Intertex1!.l!!l!tät als das ~~~.M~rkmal von.-fupe.rtexLberausgestent~uno-zwar ipder sJ?ez~!er:: ten Form von Im.e.rmedialit~t. Ohne die mediengeschichtliche und wissenschaftsgeschichtliche Kontinuität zu vernachlässigen, arbeitet Hess-Lüttich das historisch Neue sowohl am Medium Hypertext als auch an der Aufgabe, eine Theorie der Intermedialität zu entwickeln, heraus. Dabei erhebt er gegen I
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die Parallelisierung des Hypertext-Konzeptes mit der poststrukturalistischen und dekonstruktivistischen Entgrenzung intertextueller Anschließbarkeit zwei Einwände: die physikalische Begrenzung der Verknüpfungsmöglichkeiten in Hypertextsystemen und - im Anschluß an Eco - die Nicht-Gleichwertigkeit möglicher Verknüpfungen. Hypertext wird die Medienzukunft beherrschen - für Hess-Lüttich eine ambivalente Perspektive: einerseits die positiv gewertete Nötigung zur ,,neuen Bewußtheit im Umgang mit Texten", andererseits· die Gefahr einer "Verengung des Denkens in den Bahnen ... , die die Machine vorgibt". Hajo Diekmannshenke (Spontane versus kanonisierte Intertextualität) stellt dar, wie der neue Umgang mit der Bibel in der Reformationszeit eine neue Textsorte durch Änderung intertextueller Beziehungen hervorbringt. Mit der Reformation beginnt im Christentum der Streit um die rechte Auslegung des "Wortes Gottes". Unterscheiden sich beide Konfessionen hinsichtlich der Deutung der Bibel, auf die sie beide referieren (Einzeltextreferenz), so stehen sie dennoch in einer gemeinsamen Tradition exegetischer Texte (Diskursreferenz). Im Gefolge der Reformation und ermutigt durch Luthers öffentliches Wirken treten Laien, die mit dieser Tradition brechen, als vermeintliche Direktverkünder des "göttlichen Wortes" an die Öffentlichkeit. In der Analyse von Texten zweier exemplarischer Laien, des Webers Utz Rychsner und des Landsknechts Eitelhans Langenmantel, wird der U nterschied dieser Dokumente "spontaner Intertextualität" zur kanonisierten Exegese herausgearbeitet: Es herrscht ausschließlich Einzeltextreferenz auf die Bibel unter bewußtem Verzicht auf die Diskursreferenz der theologischexegetischen Tradition. Dadurch entsteht eine neue Textsorte, ,,Präsentationstexte" genannt, die wiederum eine eigene Textsortentradition begründet. Dabei wird deutlich, daß diese Präsentationstexte nicht auf eine kohärente Deutung der teilweise disparaten Einzeltexte der Bibel ausgerichtet sind, wie es in der theologischen Tradition und auch bei Luther der Fall ist, sondern eine direkte Verkündigung des "Wortes Gottes" postulieren, dabei vor allem aber der Selbstbestätigung der eigenen Überzeugung dienen. Natalia Troschina (Stilistisches Koordinatensystem und Intertextualität im öffentlichen Mediendiskurs Rußlands) zeigt in ihrem Beitrag, daß die Herstellung von Intertextualität im russischen Mediendiskurs ein innovatives Vorgehen ist, das erst in die vorhandenen Diskursräume eindringen konnte, als diese sich im Laufe der grundsätzlichen politischen und sozialen Veränderungen in Rußland zu modifizieren begannen. Der intertextuelle Ansatz steht der in der früheren ,mono stilistischen Kultur' gehandhabten· vorgeschriebenen eindeutigen und kognitiv gefilterten Verwendung sprachlicher Mittel diametral entgegen. Er ent-
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spricht dem dialogischen Mediendiskurs, wie er sich, so Troschina, in Rußland mittlerweile durchgesetzt hat. Der Rezipient hat mehrere Frames gleichzeitig zu aktivieren, dialogisch zu denken und zu rezipieren. So wird Intertextualität zu einem wichtigen strukturellen Merkmal des Mediendiskurses. Funktional betrachtet, bindet sie den Mediendiskurs in nationale und übernationale Kulturzusammenhänge ein. Und historisch gesehen, stellt Intertextualität einen Beleg dafür dar, daß sich der Grad der kommunikativen Freiheit erhöht hat und die Basis fiir kreatives Sprachhandeln breiter geworden ist. Vorgefiihrt werden diese Freiräume am Beispiel der reichen Intertextualitätsbezüge im TV-Programm ,,Kukly". Das Besondere des hier vorgestellten Textes ist zum einen der respektlose Bezug auf kanonisierte Texte der Hochkultur (in dem von Troschina vorgeführten Beispiel ist es Goethes ,,Faust") und zum anderen die polymediale Darstellung (Text, Bild, Musik).
Im Teil 3 geht es um Intertextualitätsbeziehungen in sachbezogenen Texten, die nach unserem Überblick in diesem Band zum erstenmal explizit zum Gegenstand der Intertextualitätsdebatte gemacht werden. Am Beispiel wissenschaftlicher Texte werden die Konstitution intertextueller Relationen zwischen Korpus und wissenschaftlichem Text (Ohm) untersucht sowie die spezifischen Intertextualitätsprobleme dargestellt, die sich in wissenschaftlichen Texten bei der Bezugnahme auf Quellen einstellen (Jakobs). Daß auch die referentielle Vemetzung von Texten über Konzepte als ein Aspekt von Intertextualität betrachtet werden kann, wird am Beispiel des öffentlichen Diskurses zur deutschen Einheit analytisch faßbar gemacht (Fraas). Schließlich werden die unterschiedlichen Formen des Bezugs auf andere Texte, wie sie in den Textsorten der Printmedien zu finden sind, und die Bedeutung solcher Beziehungen für die Textrezeption beschrieben (Rößler). Udo Ohm (Abduktionslogik und Textkomposition - Vom Nutzen der Intertextualitätsvorstellung für die Historische Semantik) betrachtet das Phänomen der Intertextualität vom "Standpunkt des Handelnden im Forschungsprozeß", vom ,,Akt der Textkomposition" aus. Er setzt drei Typen der Konstitution intertextueller Relationen im Akt der Textkomposition an: (1) korpusinterne Relationen, (2) Relationen zwischen Korpus und wissenschaftlichem Text, (3) Relationen zwischen wissenschaftlichem Text und sekundären Texten. Hinsichtlich aller dieser intertextuellen Relationen gilt, daß sie Bedeutung erst durch ihre Einbettung in eine Textkomposition, zu der sie selbst beitragen, erhalten, also in einem nicht so sehr rezeptiven als vielmehr konfigurativen Vorgang. Das Fazit seiner theoretischen, an Peirce und Ricoeur anknüpfenden Überlegungen und einer umfangreichen Beispielanalyse: Intertextualität ist weniger ein "der Deutung von Texten vorgängiges
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Beziehungsgetlecp.t" als vielmehr ein Mittel ,,kreativer Neuschöpfung", da immer interpretierendes Bewußtsein in einem bedeutungskonstituierenden Akt nötig sei, um intertextuelle Bezüge zu erkennen. Eva-Maria Jakobs (Quellenveifälschungen im wissenschaftlichen Diskurs) wendet sich dem Phänomen der Vielfalt der Bezüge zu, die zwischen wissenschaftlichen Texten bestehen können und die (spätestens seit dem 19.Jahrhundert) konstitutiv fiir wissenschaftliche Texte sind, z.B. Verweise, Zitate, referierende Inhaltswiedergaben. Obwohl in der westlich geprägten Wissenschaft gilt, daß solche Bezüge explizit anzugeben sind, stellt Jakobs eine Reihe von Verstößen gegen diese Grundregel fest: auf der einen Seite verdeckte Bezugnahmen auf andere Texte (Plagiate), auf der anderen verfälschende Wiedergabe von Quellen. Ausgehend von einem engeren Intertextualitätsbegriff - Intertexualität wird als die markierte Bezugnahme von Textexemplaren auf andere Textexemplare verstanden - wendet sich die Verfasserin den Quellenverweisen in Texten zu. Sie unterscheidet zwischen Quellenverfälschungen auf der inhaltlichen und auf der fonnal-sprachlichen Ebene, differenziert innerhalb dieser Bereiche nach Arten inhaltlicher Verfälschungen, wie z.B. ,,Anpassen von Quelleninhalten an die eigenen Vorstellungen", "Quellenverfälschung als Ergebnis kollektiver Rezeptionsgeschichte", und nach Arten der Verfälschung auf der fonnal-sprachlichen Ebene, z.B. "Verfälschung des Autornamens" und "Titelverfälschung", wobei sie Übergangserscheinungen nicht vernachlässigt und den jeweiligen Ursachen der spezifischen Arten von Quellenverfälschungen nachgeht. Claudia Fraas (Bedeutungskonstitution im Diskurs - Intertextualität über variierende Wiederaufnahme diskursiv zentraler Konzepte. Eine exemplarische Analyse) richtet, die referentielle Vernetzung von Texten über Konzepte als einen Aspekt von Intertextualität betrachtend, den Blick auf eine in diesem Band bis dahin nicht beachtete Facette des Intertextualitätsphänomens. Sie versteht - in der Tradition der französischen Diskursanalyse - Diskurse als Mengen von Texten, "die auf eine gemeinsame inhaltliche Einordnungsinstanz, ein gemeinsames globales Thema bezogen sind". Als Schlußfolgerung ergibt sich, daß alle Texte eines so verstandenen Diskurses gemeinsam ein Thema jeweils thematisch ausdifferenzieren, es intertextuell konstituieren und behandeln; Den heuristischen Wert der so verstandenen Kategorie ,Diskurs' nutzt die Verfasserin, wenn sie am Beispiel des Diskurses zur deutschen Einheit auf der Basis eines umfangreichen Korpus (der am IdS in Mannheim computergestützt gespeicherten Texte der öffentlichen Kommunikation aus den Jahren 1989-1992) untersucht, wie "Sprecher kommunikativ zentrale Konzepte vertexten", "wie die Sequenzen unterschiedlicher Texte über diese Konzepte aufeinander bezogen
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sind" und "wie durch diese Phänomene intertextuelle Relationen induziert werden". Elke Rößler (Intertextualität in Zeitungstexten - ein rezeptionsonentierter Zugang) wendet sich dem zweiten Aspekt von Intertextualität, dem referentiellen Bezug, sowie der Rolle des Rezipienten im intertextuellen Prozeß zu und exemplifiziert ihre Überlegungen an Pressetexten. Der Rückgriff auf vorangegangene Texte wird als ökonomisch und rezipientenbezogen dargestellt. Intertextuelle Signale versteht sie als textuelles Angebot und Anweisungspotential an den Rezipienten, von dem eine zweidimensionale Rezeptionshandlung erwartet wird: lineares Vorgehen der Abarbeitung des Textes und vertikales der Entdeckung und Speicherung intertextueller Bezüge im zu rezipierenden Text. Im Mittelpunkt des Beitrags steht die Auseinandersetzung damit, daß Intertextualität vom Rezipienten nicht zwingend wahrgenommen werden muß, und die Frage, wieweit das Erkennen eines intertextuellen Bezuges durch den Leser möglich, nötig und realiter zu erwarten ist. Interessant ist das methodische Angebot des Beitrags. Auf der Basis des Mehrebenenmodells von Kintsch und van Dijk werden Analysen nach den Methoden der freien Reproduktion, des Assoziations- und Lückentests und der Fragebogenerhebung vorgenommen. Im Rahmen dieses Ansatzes kommt die Autorin zu zwei Arten von Intertextualität: Textintertextualität, also Verweise, die im Text angelegt sind, und Rezeptionsintertextualität, womit die Beziehungen gemeint sind, die ein Rezipient tatsächlich herstellt. In ihrem Textkorpus stellt die Verfasserin einen hohen Explizitheitsgrad intertextueller Verweise und somit deutlicher Markierungen fest.
In Teil 4 des Bandes werden ästhetisch-spielerische und literarische Texte unter intertextuellem Aspekt betrachtet. Daß in diesem Teil des Buches, der sich ästhetischen und spielerischen Verfahrensweisen der Intertextualität zuwendet, auch nichtliterarische Texte betrachtet werden, ist nach unserem Überblick ebenso ein Novum in der Intertextualitätsdiskussion, wie es die Einbeziehung von Sachtexten generell ist. Ästhetisch-Spielerisches, auch im intertextuellen Bereich, prägt unseren Alltag - man denke nur an Medientexte, Werbetexte, Sprüche und Texte der Jugendkultur - und verdient daher mehr Aufmerksamkeit als bisher. Es ist entweder auf Textsorten bzw. Gattungen als Formen typologischer Intertextualität bezogen oder manifestiert sich als Einzeltextreferenz. Die Beiträge des vierten Teils greifen verschiedene theoretische Aspekte der Intertextualität auf, wie sie in diesem Bereich von Texten relevant sind, und gehen dann jeweils auf Textexemplare analytisch ein. Rosemarie Gläser (Das Motto im Lichte der Intertextualität) wendet sich dem vor allem in der Fachtextsortenforschung diskutierten Phänomen zu, daß
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Texte auf Vor- o~er Nachtexte bezogen sein können (z.B.Abstracts, Resümees, Thesen), und vertritt bei der Beantwortung der ,Frage, ob solche Texte als selbständige Texteinheiten gelten können, die in der Fachsprachenforschung entwickelte Auffassung, daß derartige Texte als ,selbständige Textsegmente ' und zugleich als ,Textsorte-in-Relation' zu betrachten sind, und stellt so eine Balance her zwischen dem durchaus vorhandenen, durch die einschlägigen Textkriterien markierten selbständigen Textexemplar, das ein ,Text-in-Relation' ja immer ist, und den Beziehungen, die zwischen zwei aufeinander bezogenen Texten bestehen. Sie wendet sich dem Motto als ,Textsorte-in-Relation' in unterschiedlichen Textsorten nicht nur der Fachliteratur, sondern auch der Publizistik und Belletristik zu, gestützt auf ein Textkorpus deutscher und englischer Mottos. Ergebnis ihrer Untersuchung ist, daß Mottos im Gesamtwerk sowohl einem Teil bzw. einem Einzelkapitel als auch dem Gesamttext vorangestellt sein können und einen thematischen, funktionalen oder makro strukturellen Zusammenhang mit dem Folgetext konstituieren, der vom Rezipienten eine intertextuell fundierte Dekodierung verlangt. Den Mottos in unterschiedlichen Textsorten werden dann jeweils spezifische Funktionen zugeordnet. Auch die nichtbelletristischen Texten zugeordneten Mottos stammen nach der Beobachtung der Autorin in der Mehrzahl aus künstlerischen Texten. Michael Hoffmann (Diskurstypisierungen im kommunikativen Raum der literarischen Erzählung. Linguistische Notizen zu Heinrich von Kleist) wendet sich dezidiert literarischen Texten zu und bringt, wie auch C. Fraas, die Kategorie des Diskurses in die Intertextualitätsdebatte ein. Das geschieht stark spezifizierend unter dem Stichwort ,interkommunikative Relationen' , indem unterschieden wird zwischen Diskurs 1, dem konkreten kommunikativen Geschehen als Interaktion von Sender und Empfänger, das sich in Texten innerhalb eines kommunikativen Raums (Brinker/Sager) manifestiert, und Diskurs 2 als konkretem kommunikativen Geschehen im Verbund, verteilt auf mehrere Kommunikationsereignisse, die in Beziehung zueinander stehen, also auf mehrere Texte innerhalb eines oder mehrerer kommunikativer Räume, sowie Diskurs 3, dem konkreten kommunikativen Geschehen, das verschiedene ko_mmunikative Räume miteinander verbindet und so Sinn stiftet. Auf diese Weise wird das Zusammenwirken von Texten und kommunikativen Räumen erlaßt und zugleich der Produktion und Rezeption von Intertextualität ein weniger simples Modell als das der bisherigen Vorstellung vom linearen Informationstransfer zugrundegelegt, nämlich ein Modell, in dem Sender und Empfänger im jeweiligen kommunikativen Raum gemeinsam Wirklichkeit konstituieren. Eine Vorstellung, die - weiter ausgeführt - bei der Auseinandersetzung mit Intertextualität, mit der Leistung des Rezipienten nämlich, hilfreich sein könnte.
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Inge Häußlers Beitrag (Intertextualität in trivialen Texten) richtet den Blick auf den in der Intertextualitätsdebatte nicht selten in Frage gestellten Aspekt der typologischen Intertextualität, in Frage gestellt deshalb, weil nur Selbstverständliches mit dieser Kategorie erfaßt werde. Im vorliegenden Beitrag wird jedoch deutlich, daß diese Art von Intertextualität nicht übergangen werden kann, da sie für triviale Texte sogar von grundlegender Bedeutung ist. Die Autorin findet Intertextualität in den gemeinsamen Tiefenstrukturen dieser Texte und in den ihnen zugrundeliegenden Strategien, die sogar über Textsorten hinweg für alle trivialen Texte gelten. Dagegen treten Erscheinungsweisen der referentiellen Intertextualität, wie sie sich in Text-Text-Beziehungen zeigen, in diesem Textbereich gegenüber gemeinsamen Einordnungsinstanzen und dem kontinuierlichen Bezug auf diese Instanzen stark zurück. Ein wesentliches Ergebnis des Beitrags ist der Nachweis, daß triviale Texte auf allen Ebenen von Mikroelementen (Stilmustem) über Tiefenstrukturen und Strategien bis hin zu Szenarien - intertextuelle Bezüge in reichem Maße enthalten. Das lückenlose Angebot von typologischer Intertextualität auf allen Ebenen dient als Pro duktions- und Rezeptionshilfe und erleichtert die Textaufnahme in überdurchschnittlichem Maße. Nachgewiesen werden die Thesen am Beispiel des Horrorromans. Jannis K. Androutsopoulos (Intertextualität in jugendkulturellen Textsorten) geht in seinem soziokulturell orientierten Aufsatz von zwei aktuellen Tendenzen aus: erstens von der Zunahme intertextueller Verfahrensweisen auch in Sachtexten (Presse, Werbung) und zweitens - noch verallgemeinerter - von der Tatsache, daß referentielle Intertextualität als ein "quasi-universales" Verfahren aufzufassen ist, das je nach Situation und Intention sehr verschieden genutzt werden kann. Letzteres bezieht der Autor auf die ,,horizontale Differenzierung und kulturelle Pluralisierung der heutigen Industriegesellschaften" und folgert, daß "verschiedene soziokulturelle Gruppen ihre eigenen Wissensbestände und kulturellen Ressourcen auf gruppendistinktive Weise intertextuell verarbeiten". Ausgehend von einem engen Intertextualitätsbegriff - Absichtlichkeit des Produzenten und erwartetes Dekodierungspotential des Rezipienten als Voraussetzung - untersucht er, welche Typen von Intertextualität in jugendkulturellen Texten und Textsorten zu finden sind, welchem Verfahren sie folgen und welche kommunikative Funktion sie erfüllen. Methodischer Ausgangspunkt sind die Verfahrens weisen von Holthuis und Wilss. Ausführliche und genaue Analysen führen zu Typen intertextueller Referenz und zu der Erkenntnis, daß Intertextualität in jugendkulturellen Textsorten sich einerseits aus massenmedialen, andererseits aus jugendkulturspezifischen Ressourcen speist und als Mittel mit identiftzierender und distanzierender Funktion verwendet wird.
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Vorwort
Margot Heinemann (Graffiti und Losungen - eine intertextuelle Korrelation? Ein Beitrag zur lntertextualität von Textsorten) weist zunächst auf die Schwierigkeit hin, typologische Intertextualität zu untersuchen, da es :für die Beschreibung von Textmustern noch keine exakten Kriterien gebe. Auf die Notwendigkeit, das Textmusterwissen der Rezipienten einzubeziehen, wird ebenfalls verwiesen. Trotz dieser die Untersuchung erschwerenden Umstände nimmt sich die Verfasserin vor, Textsorten der nichtliterarischen Alltagskommunikation auf ihre typologische Intertextualität hin zu untersuchen. Es handelt sich um die Textsorten Losung, Demo-Losung und Graffito. Nach einer kurzen Beschreibung der drei Textmuster und dem Vorstellen einiger Textbeispiele werden intertextuelle Bezüge und einige Mittel zur Herstellung intertextueller Beziehungen zwischen Textexemplaren dieser drei Textsorten gezeigt. Abschließend faßt die Verfasserin die drei von ihr betrachteten Textsorten als Textsortengruppe ,,Demonstrationstexte" zusammen. Sabine Fiedler (lntertextualität in der Plansprache (dargestellt an publizistischen und literarischen Texten im Esperanto) stellt eine Reihe von Beispielen aus dem Esperanto vor, in denen Anspielungen auf Vortexte verschiedener Art zu finden sind, und verdeutlicht damit ihre These, daß Kreativität durch Intertextualität bei Sprechern und Schreibern des Esperanto besonders beliebt ist und souverän gehandhabt wird. Sie leitet zwei Funktionen dieser Art von Kreativität ab, die eigentlich den Sprechern der Muttersprache zugeschrieben wird: Der sprachbewußte Kenner des Esperanto gibt seiner Freude am Umgang mit der Sprache Ausdruck und übt - von Fall zu Fall- auch Kritik am Basistext. Schließlich ist anzunehmen, daß weitere Funktionen dieser anspielenden Texte der Ausdruck von Komplizenschaft (durch gemeinsamen Sprachgebrauch) und Identitätsbestätigung sein können.
Die meisten Beiträge sind Ausarbeitungen von Vorträgen in der Sektion Textlinguistik/Stilistik bei den Jalrrestagungen 1995 und 1996 der Gesellschaft fur Angewandte Linguistik (GAL). Danken möchten wir der Verlegerin Brigitte Narr für die Anregung zu diesem Band, dem Präsidenten der Universität KoblenzLandau Prof. Dr. Hermann Saterdag für die finanzielle Unterstützung des Projektes, Dr. Hajo Diekmannshenke :für technische und organisatorische Betreuung und Bernd Ströher für die Herstellung der Druckvorlage. Im Mai 1997 . Koblenz JosefKlein
Leipzig UllaFix
Teil 1: Bestandsaufnahme und theoretische Positionen
Wolfgang Heinemann (Leipzig)
Zur Eingrenzung des Intertextualitätsbegriffs aus textlinguistischer Sicht 1. 2. 3. 4.
Intertextualität als Modebegriff Unterschiedliche Positionen zur Intertextualität in der Literaturwissenschaft Intertextualität aus der Sicht der Textlinguistik Conclusionen und Vorschläge
1. Intertextualität als Modebegriff
Es ist allgemein bekannt, daß der Terminus ,Jntertextualität" schon seit den 80er Jahren zu einer Art Modebegriff in verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen geworden ist, und dieses ,,zauberwort" (so Püschel 1996 in Halle) ist geradezu inflationär verbreitet: Nicht nur als Firmenname ,Jntertext", sondern auch in zahlreichen wissenschaftlichen und pseudowissenschaftlichen Arbeiten, und dabei wird dieses Formativ keineswegs immer in derselben Bedeutung verwendet. Eben darin sehe ich die große Gefahr, daß keiner eigentlich mehr so recht weiß, was gemeint ist, wenn dieser Terminus genannt wird. Beim Durchstöbern der Fachliteratur bin ich - und. das ist sicher nicht vollständig - auf 48 Verwendungsweisen von Intertextualität gestoßen, die ich hier nicht im einzelnen auflisten möchte, die aber wenigstens exemplarisch durch wenige Belege vorgestellt sein sollen. Sie reichen - in adjektivischer Prägung - von der "intertextuellen Disposition des Textes" (was immer das sein mag) über "intertextuelle Strategien, Übercodierungen u1Jd Schreibweisen" bis zum "intertextuellen Leser" und sogar ,,8uperleser"; als Substantiv begegnet uns die "wissenschaftliche Intertextualität", die "ästhetische Intertextualität", die "explizite" und "implizite", die "autorspezifische" und sogar eine ,,kryptische Intertextualität" .. Aber auch das ,Jntertextwissen" spielt eine Rolle, ebenso wie ,Jntertextsignale" und "intertextuelle Indikatoren"; so gar verbale Prägungen kommen gelegentlich vor: ,Jntertextualisieren", ,,Metastrategien des Intertextualisierens" sowie das Partizip "intertextualisierend". Das Ganze gipfelt natürlich in einer ,Jntertextualitätstheorie", die ich bei meinen Recherch~n nur benannt fand, aber nirgends ausmachen konnte. Obwohl dieser Begriff zuerst in der Literaturwissenschaft geprägt wurde (1967 von der bulgarischen Semiologin J. Kristeva), so ist doch hier immer wieder vom Text und von Texten (als Konstituenten) die Rede. Und da der
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Textbegriff in einigen Schulen in Frage gestellt, ja so gar "aufgelöst" wird, erscheint es mir legitim, auch als Nichtliteraturwissenschaftier Position zu beziehen, sowohl zum Begriffsfeld des Textes als auch zu der hier vieldeutig schillernden Interpretation der Konstituente ,Jnter- a.
2. Unterschiedliche Positionen zur Intertextualität in der Literaturwissenschaft Bevor ich die literaturwissenschaftlichen Intertextualitätsmodelle kennzeichne, möchte ich den Terminus zunächst einmal vorurteilsfrei beim Wort nehmen: Intertextualität kann doch nur heißen, daß Texte miteinander interagieren, daß sie miteinander in Beziehung stehen, wie es u.a. Vincent Leitch 1983 formulierte: "The text is not an autonomous or unified object, but a set of relations with other texts." Auf dieses Relatio ns gefüge , die universelle Vernetztheit von Texten und ihre gesellschaftliche (insbesondere kulturelle) Relevanz, hat schon Sven Sager vor Jahresfrist in seinem anregenden Vortrag in dieser Sektion hingewiesen und betont, daß die hypermediale Kultur von heute vielfältige Interaktivität erlaubt und damit jedwedes Neben-, Mitund Ineinander von Texten verschiedener Medien. Das Phänomen der generellen Vernetztheit von Texten ist also uralt und notwendig für das Überleben jeder Gesellschaft. Aber auch konkrete Beziehungen zwischen zwei (oder mehreren) Texten wurden - u.a. auch in der Literaturwissenschaft, in Anlehnung an die Rhetorik - beschrieben; erwähnt seien hier das Zitat, die Anspielung, die Übersetzung, die Parodie und das Plagiat. Als literaturwissenschaftlicher Terminus aber ist ,,Intertextualität" - wie schon erwähnt - relativ jung, erstmals 1967 so formuliert von J. Kristeva, aber nicht als Terminus unter vielen, sondern als Signalwort, als Leitbegriff für einen grundlegenden Paradigmenwechsel in der Literaturwissenschaft, als Schlachtruf des literaturwissenschaftlichen Poststrukturalismus gegenüber den erstarrten, oft kanonisierten Formen des nur positivistisch-quantitativen Umgehens mit literarischen Texten (unter Vernachlässigung alles Historischen und vor allem Ästhetischen) in einer Phase der Dominanz von Maximen des literaturwissenschaftlichen Strukturalismus vor allem in Frankreich. Mit diesem Leitbegriff verknüpft aber war - neben einer generellen Kritik an den verkrusteten Herrschaftsverhältnissen in Frankreich - vor allem ein Affront gegen das statische Verständnis des literarischen Textes bei den Strukturalisten, der im Sinne von "Werkimmanenz" seit eh und je als literari-
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sche Autorität, als in sich geschlossene Ganzheit, als autonomer, einmaliger und finiter Text gewertet worden war. Kristeva - ebenso wie Bachtin, R. Barthes und später Grivel - verfochten daher vehement ein neues, eben dynamisches Verständnis von Textualität (oder von ,,Intertextualität"), das sich anlehnt an Prozeßabläufe beim Kommunizieren mit ästhetisch geprägten Texten. Danach kommt dem Autor keineswegs die überragende Stellung in diesem Prozeß zu - wie bisher als selbstverständlich vorausgesetzt; er' sollte daher auch nicht mehr als Genie vergöttert werden, als kreativer und originärer Schöpfer eines literarischen Werks; im Grunde werde doch auch der Autor nur inspiriert von zahlreichen "Vortexten" (von Anregungen, die er aus anderen, bereits verarbeiteten Texten erhalten hat, aber auch von assoziativ aktiviertem Weltwissen). Letztlich bündelt und vertextet er nur diese "Vortexte". - Analoges läßt sich auch beim Leser beobachten: Auch er ist beeinflußt von "Vortexten" in diesem Sinne, die er dann beim Leseprozeß mit dem vorliegenden Textinhalt in Beziehung setzt, indem er neuen Sinn konstituiert. Und der Text ist - so gesehen - nur noch eine Durchgangsstufe, der semantische "Schnittpunkt" einer Vielzahl von Texten, ein "Gewirr von Stimmen anderer Texte" (vgl. Kristeva 1967: 462); sie unterscheidet im Kommunikationsprozeß grundsätzlich zwischen einer axe horizontal (sujetdestinataire) und einer axe vertieal (texte-eontexte). Vor diesem Hintergrund ist der Text "... un eroisement de mots (de textes) ou on Lit au moins un autre mot (texte)". Und weiter heißt es: "tout texte se eonstruit eomme mosai"que de eitations, tout texte est absorption et transformation d'un autre texte. A la plaee de la notion d'intersubjeetivite s'installe eelle d'intertextuaLite ... " (vgl. auch Linke / Nussbaumer 1996). Als offene, fließende, potentiell nicht abschließbare strukturelle und semantische Einheit wird der polyvalente Text so zu einem "transsemiotischen Universum", zu einem Konglomerat von Wissenssystemen und kulturellem Code, einem Element aus dem unendlichen Strom des Diskurses. Und aus dieser Sicht gerät dann die Intertextualität zu einer allgemeinen und genuinen Eigenschaft von Texten; letztlich kann sie sogar als Synonym von Textualität verstanden werden. Das alles mag - zumindest partiell - nachvollziehbar sein. Dennoch aber bleibt als Faktum, daß der Text so aus seiner interaktionalen Einbindung gerissen wird. Der Autor ist nicht mehr Träger einer bestimmten Intention, die er mittels Text beim Rezipienten realisieren will, und der Rezipient wiederum ist bei der inhaltlichen Re-Konstruktion des Textangebots nicht mehr - oder fast nicht mehr - an die Vorgaben des Autors gebunden; vielmehr ist er relativ frei beim Textverstehen, bei der Konstruktion der Textbedeutung, hat er
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(nach R. Barthes, zitiert nach Holthuis 1993: 16) die "unendliche Freiheit der Sinnkonstitution". So bleibt die Intertextualität bei Kristeva - und mit geringen Abwandlungen auch bei den anderen Repräsentanten des französischen Poststrukturalismus - unbegrenzt, universell, sie ist bezogen auf den Gesamtbestand soziokulturellen Wissens, an dem jeder Text Anteil hat, auf ihn verweist und sich letztlich wieder in ihm "auflöst". Bei einer solchen Grundposition - und das sei hier schon vorweggreifend angemerkt - kann leicht aus dem ,,Panta rhei" ein ,,Alles zerfließt" werden, läßt sich nichts mehr festmachen und bestimmen, ist Intertextualität auch nicht zu limitieren und wird - wie schon erwähnt - identisch mit Textualität schlechthin. Nur sehr zögerlich aufgenommen wurden diese revolutionären Ideen der französischen Schule des Poststrukturalismus - nicht zuletzt wohl auch, weil sie mit marxistischem Gedankengut verknüpft waren - in den USA und in der Bundesrepublik Deutschland. Hier sperrte man sich vor allem gegen das Zerfließen der Intertextualität, gegen den "offenen Text" und setzte ihm einen restriktiven Textbegriff entgegen: Intertextualität ist danach nicht die universelle Vernetztheit von Texten, sondern nur eine ausweis bare Relation zwischen zwei oder mehreren Texten. Zugleich wird in der amerikanischen "Schule" - vor allem bei Riffaterre (1979: 496) - eine Verlagerung der Intertextualität auf den Rezeptionsprozeß vorgenommen: "L 'intertextualite est un mode de perception du texte." Und in der BRD (bei Kloepfer 1982, Stierle 1983, Lachmann 1982, 1990) wurde Intertextualität insbesondere als semantisches Phänomen angeseh~n, als Verfahren zur Sinnkonstitution. Einzelheiten zu diesen Ansätzen kann ich hier aussparen, da diese Intertextualitätsmodelle mit textlinguistischen Grundpositionen im wesentlichen kompatibel sind.
3. Intertextualität aus der Sicht der Textlinguistik
Wenn ich nun Interaktionsphänomene aus der Sicht der Textlinguistik kennzeichnen will, dann komme ich mit leichtem Gepäck daher. Gewiß, das Feld der Beziehungen zwischen Texten, die vertikale Achse im Sinne von Kristeva, wurde in textlinguistischen (und literaturwissenschaftlichen) Arbeiten häufig thematisiert (etwa das Verhältnis von Goethes ,,Faust" zu verschiedenen Prätexten); aber auch die Vernetzung institutioneller Texte (im diplomatischen Verkehr, in der Ämter-Ämter-Kommunikation, bei Texten der Rechtspraxis) war immer wieder Gegenstand textlinguistisch orientierter Einzeluntersuchungen. Dabei aber wurde der Terminus ,Jntertextualität" -
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soweit ich sehe - nicht verwendet. Das gilt in gleicher Weise auch für die meisten textlinguistischen Monographien (z.B. van Dijk 1980, Brinker 1988, Nussbaumer 1991). Die wenigen textlinguistischen Monographien, in denen auch von Intertextualität die Rede ist (Sowinski 1983: 54, Scherner 1984: 235, Heinemann / Viehweger 1991: 76f), verwenden den Terminus - vielfach auch nur in der Form der Zitation des Modells - im Sinne von de Beaugrande / Dressler (1981). Die Kennzeichnung dieser -' keineswegs umfassenden - Darstellung des Phänomens darf daher als repräsentativ gelten für das bisherige Intertextualitätsverständnis aus textlinguistischer Sicht. Für Beaugrande ist die Intertextualität (der er ein ganzes Kapitel seines Buches widmet) eines der sieben Kriterien von Textualität, der grundlegende Bezug jedes Textes auf bestimmte andere Texte im Sinne seiner Geprägtheit als Exemplar einer bestimmten Textsorte (vgl. Heinemann / Viehweger 1991: 77). Die Intertextualität bezeichnet damit auch ,,Abhängigkeiten zwischen Produktion bzw. Rezeption eines gegebenen Textes und dem Wissen der Kommunikationsteilnehmer über andere Texte." (de Beaugrande / Dressler 1981: 188). Wichtig in unserem Kontext ist die Feststellung, daß Intertextualität hier verstanden wird als - markierte oder implizite, in jedem Fall aber erwartbare - Verbindung zwischen Texten eines bestimmten Typs, wobei diese "Verbindung" durch alle sieben Textualitätskriterien hergestellt werden kann. Wir können diese Form von Intertextualität als textsortengeprägte oder typologische Intertextualität kennzeichnen. Daß die - nur auf Funktionsklassen beschränkte - Texttypologie bei de Beaugrande / Dressler nur in ersten Ansätzen entwickelt und - nach eigener Einschätzung - "unscharf' (1981: 193) ist, liegt nach Meinung der Autoren an der Mannigfaltigkeit der Kommunikationsbedingungen, durch die Textsorten-Erwartungen verändert oder überlagert werden können. Für unser Anliegen aber ist das von untergeordneter Bedeutung. Beiläufig sei erwähnt, daß W. D. Krause (1985) in einem wenig beachteten Zeitschriften-Artikel eine Differenzierung der Intertextualität vornahm, die an die beiden Achsen von Kristeva erinnert. Er unterscheidet hier zwischen einer syntagmatischen Intertextualität (dem aktuellen Bezug auf "Vorund Nachtexte") und einer paradigmatischen Intertextualität, worunter er ,,Beziehungen zwischen Textexemplaren nach ihren gemeinsamen Eigenschaften wie Bedeutung, Funktion, Gestaltungsmerkmalen und Strukturen" versteht. Die. zuletzt genannte Form ist sicher identisch mit der typologischen Intertextualität im Sinne von de Beaugrande / Dressler; die "Vor- und Nachtexte" aber sind hier fraglos konkret zu verstehen, nicht - wie etwa bei Kristeva - als "Texte im Kopf" der Kommunizierenden.
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Nicht eindeutig zuordenbar im Sinne unseres Vorgehens ist die wohl umfangreichste neuere Monographie zum Thema Intertextualität von Holthuis (1993): Einerseits beschränkt sie sich explizit auf das Phänomen der ästhetischen Intertextualität und bietet eine Vielzahl von Interpretationen literarischer Texte; andererseits lehnt sie sich eng - mitunter wohl zu eng - an die Texttheorie PetöflS an, so daß diese Darstellung mittelbar auch als Beitrag der Textlinguistik zur Intertextualitätsfrage gewertet werden kann. Allerdings basiert dieses Konzept auf der eigenwilligen semiotischen Texttheorie PetöflS, in der Texte als "dominant semiotische Objekte" gekennzeichnet werden: ,,A text is a dominantly verbal relational semiotic object with a hand-written or printed physical manifestation" (1990: 209). Und Textualität will er nicht als inhärente Eigenschaft verbaler Objekte ( also von Texten ) verstanden wissen. - Folglich fmdet sich diese Grundposition auch im Intertextualitätskonzept von Holthuis wieder: Auch die Intertextualiät ist danach keine den Texten inhärente Eigenschaft; sie komme vielmehr erst zustande in der Interaktion zwischen dem Text und dem Leser. Intertextualität konstituiert sich "als Relation zwischen Texten erst im Kontinuum der Rezeption und nicht '" im und durch den Text selbst. (( (1993: 31). Dabei verstrickt sich Holthuis in .Widersprüche: Wenn Intertextualität ausschließlich als Phänomen einer ,,intertextuell angelegten Textverarbeitung" (und als Ausdruck der intertextuellen Kompetenz des Lesers) betrachtet wird, welche Rolle kommt dann der ,,intertextuellen Disposition" des Textes, kommt ,,intertextuellen Signalen" zu, die doch offenbar schon vom Textproduzenten im Text angelegt sind? Ihrer Behauptung, daß produktionsorientierte Intertextualität "nur unter der Voraussetzung legitim ist, daß sie als Interpretationsleistung des Rezipienten verstanden wird" (1993: 34), kann ich jedenfalls nicht folgen. Auch ihre These, daß sie mit einem rezeptionsorientierten Intertextualitäts-Konzept einen "vermittelnden" Ansatz zwischen universellen Textauffassungen und einer textimmanenten Intertextualität verfolge, ist zumindest mißverständlich. Sieht man von diesen - allerdings grundlegenden - Eigenwilligkeiten dieses Modells ab, so bietet das Buch von Holthuis doch wertvolle Anregungen für Fragen der intertextuellen Interpretation literarischer Texte. Auch das, was sie zu einer Taxonomie intertextueller Relationen zusammengetragen und gebündelt hat, darf sicher als Beitrag der Textlinguistik zur Intertextualitätsforschung angesehen werden.
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4. ConcIusionen und Vorschläge
Abschließend will ich nun Position beziehen aus der Sicht eines AuchTextlinguisten (Es gibt ja in dieser Wissenschaftsdisziplin ganz unterschiedliche Gesamtkonzeptionen und Modelle!) zu einigen grundsätzlichen Fragestellungen, die mit der Intertextualitäts-Diskussion - insbesondere mit dem "emphatisch gefeierten Aufstieg des Intertextualitätsbegriffs in der Literaturwissenschaft" (Holthuis 1993: 178) - verbunden sind. Dabei betone ich nochmals meine nur eingeschränkte Kompetenz als Literaturwissenschaftler. Schon der hier in Frage stehende Terminus macht ja explizit, daß es um Texte geht, also fraglos ein Anliegen von Textlinguisten, und wenn gar von der "Auflösung des Textes" die Rede ist, vom "Tod des Textes", wenn in Kreisen von Literaturwissenschaftlern formuliert wird, daß eine neue Texttheorie entwickelt werden soll, dann muß man das wohl als indirekte Aufforderung an Textlinguisten verstehen, sich einzumischen. Es geht ja um denselben Gegenstand - ästhetisch geprägte Texte sind ja doch auch Texte und so sollten Literaturwissenschaftier und Linguisten (zumindest in grundsätzlichen Fragen) eine gemeinsame Sprache fmden oder sich wenigstens um eine Annäherung der Standpunkte bemühen. Unter diesem Aspekt sollen die folgenden Anmerkungen verstanden werden.
4.1 Intertextualität wird zunächst ganz allgemein - und darin besteht ja weitgehend Konsens - als Relation zwischen Texten verstanden. Daher müßte bei allen Diskussionen um Intertextualität vor allem wenigstens eine annähernde Übereinstimmung erzielt werden über das, was da miteinander in Beziehung gesetzt werden soll, über Texte also. Offenkundig ist aber gerade dieser Begriff das nur dem Anschein nach Einfache, was aber schwer zu fassen ist. Nicht nur in der Literaturwissenschaft, auch in der Textlinguistik sind in jüngster Zeit ganz unterschiedliche Auffassungen vom Text vorgebracht worden (Ich erinnere nur an die Diskussionen beim Textlinguistik-Kolloquium im März 1996 in Halle, vgl. dazu den Sammelband Antos / Tietz 1996). Gemeinsam ist wohl den hier apostrophierten Standpunkten ein sukzessives Abrücken von einem eher unreflektierten Textbegriff, jenem mehr oder minder autonomen Text, der einem Autor verpflichtet ist und eine einmalige, abgeschlossene und unveränderliche Sinngröße in Kommunikationsakten darstellt. Angefangen hat diese Entwicklung im Grunde schon mit der so genannten "pragmatischen Wende". Seither wird die. grammatisch-semantische Äuße-
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rungseinheit allg~mein nicht mehr als Souverän der Kommunikation angesehen, gelten vielmehr die pragmatischen Faktoren als grundlegend für alle Kommunikationsprozesse. Ob überhaupt ein Text produziert werden soll, (und wenn ja, in welcher Gestalt dieser Text zu formulieren ist) ebenso das Verstehen und Verarbeiten von Textäußerungen - all das wird weitgehend durch die situativ-pragmatischen Gegebenheiten eines Kommunikationsereignisses bestimmt oder zumindest mitgeprägt. Daher kommt Texten in pragmatisch orientierten Kommunikationsmodellen grundsätzlich nur noch der Status von Variablen zu. Texte haben folglich keine Bedeutung an sich, keine Funktion an sich, sondern immer nur relativ zu bestimmten Interaktionskontexten. Dieser grundsätzlichen Restringiertheit von Texten aber hat die Textlingusitik in handlungs- und tätigkeits orientierten Modellen bekanntlich schon seit Mitte der 70er Jahre Rechnung getragen. Eine andere Form der Relativierung und Restringierung des ursprünglich als autonom verstandenen Textes ergibt sich in Modellen der kognitiven Psychologie und der kognitiven Linguistik. So wie sich Grammatik - genauer: eine bestimmte Richtung der Grammatiktheorie im Anschluß an N. Chomsky ~ heute als "Theorie über mentale Repräsentationen und deren Erwerb" und damit als "Teildisziplin der kognitiven Psychologie" versteht (Fanselow / Felix 1987: 14), als ein im "human mind" verankertes autonomes Wissenssystem unter dem Aspekt der Kennzeichnung der Kompetenz der Kommunizierenden zum Verstehen und Generieren von Sätzen, so liegt es nahe, auch Texte in übergreifende Modelle der kognitiven Psychologie zu integrieren. Auch das Wissen über Texte könnte unter diesem Aspekt als spezifIsches (Teil-)Kenntnissystem betrachtet werden, das die Kompetenz der Kommunizierenden zum Verstehen und Produzieren von (ganzheitlichen) Textäußerungen umfaßt. (Allerdings stellen führende Repräsentanten der kognitiven Linguistik eben eine textlinguistische Ausweitung des Kompetenzbegriffs in Frage.) Ein solcher ko gnitiv orientierter Textbeschreibungsansatz würde aber zwangsläufIg nicht nur die Einbettung, sondern auch eine Art "Aufhebung" des Textes in übergreifende prozedurale kognitive Konstellationen und Prozesse zur Folge haben. Denn Texte würden dann nur noch als aktuelle ,,ko gnitive Repräsentationen des intendierten Äußerungsinhalts" fungieren (so Schwarz 1982: 166). Und da derselbe Text - dieselbe mentale Repräsentation - von verschiedenen Rezipienten in unterschiedlicher Weise verstanden und re-konstruiert werden kann, so kann auch die Textbedeutung - so folgern manche Linguisten - nur aus der Sicht von Partner-Reaktionen (also nicht mehr vom Autor her) bestimmt werden. Von hier aus ist es nur noch ein kleiner Schritt zum "Tod des Textes", zur völligen "Auflösung" des
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Textes, wie sie oben am Beispiel eines literaturwissenschaftlichen Intertextualitäts-Konzepts vorgestellt wurde. Die hier skizzierten Überlegungen könnten nun den Schluß nahelegen, daß Texte nicht nur nicht explizierbar (weil keine konstanten Größen ), sonderninsbesondere unter dem Aspekt von Bedeutung - letztlich auch irrelevant für den Kommunikationsprozeß sind. Aus der Sicht der oben skizzierten Modelle kommt es doch gar nicht mehr so sehr darauf an, was ein Textproduzent will bzw. schriftlich oder mündlich ausformuliert; viel wichtiger sei es doch, zu erfassen, was Rezipienten aus einem Textangebot machen, welchen Sinn sie beim Rezeptionsprozeß konstituieren. So plausibel solche Annnahmen zunächst auch erscheinen mö gen, so modern sich die neue Dynamik gegenüber der alten Statik ausnimmt, einer kritischen Prüfung halten sie nicht stand. Die kommunikative Praxis zeigt vielmehr, - daß Texte (im traditionellen Sinn) als Grundeinheiten der sprachlichen Kommunikation fungieren, daß sie den generellen Bezugspunkt für kommunikatives Handeln darstellen. Sie sind die Basis für alle Kommunikationsprozesse: Was ein Partner will oder meint, ist nur über konkrete Texte (re-)konstruierbar. - daß Texte in Prozessen der Interaktion als komplexe Ganzheiten fungieren, als aktuelle grammatisch-lexikalische Äußerungseinheiten mit entsprechenden Textbedeutungen in pragmatischer Einbettung. Nur wenn diese Ganzheit aufgebrochen wird, wenn eine einseitige Reduktion des Textes auf die Sinnebene bei gleichzeitiger Lösung aus den interaktionalen Zusammenhängen erfolgt, verlieren die kommunikativen und ko gnitiven Fixpunkte des Kommunikations- prozesses ihre relativ festen Konturen und können dann als flüchtige prozedurale Elemente in kognitiven Prozessen uminterpretiert werden. - daß Texte nicht aus ihrer interaktionalen Verankerung gerissen werden können. Als Instrumente kommunikativen Handelns sind sie gebunden an Textproduzenten und gerichtet auf bestimmte Effekte bei Rezipienten. Daher besteht zwischen dem Gemeinten und dem (in Texten) Gesagten kein grundsätzlicher Dissens. Vielmehr korreliert die Äußerungs- und· Sinnstruktur von Texten weitgehend mit der Intention der Textproduzenten, so daß man Texte durchaus - im weitesten Sinne - als vage Reflexe von Intentionalität betrachten kann. (Das schließt bewußte Abweichungen von dieser·.Korrelation / Täuschungen, Verschleierungen / nicht aus, sondern ein.)
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- daß Texte ke_ineswegs als beliebig versteh- bzw. interpretierbare Einheiten betrachtet werden können. Gewiß: Mehrere Rezipienten rekonstruieren ein und denselben Text in der Regel in unterschiedlicher Weise. Aber der aktuelle Text bleibt dabei der feste Orientierungspunkt für das Textverstehen und -verarbeiten. Jede adäquate Auslegung ist immer an die konkrete Textstruktur, die konkrete Textvorgabe gebunden. Wer würde schon eine Todesanzeige als Sportreportage auffassen? Dem Inferieren und Konstruieren des Textrezipienten sind also durch· den Text selbst und andere soziale Verbindlichkeiten - Grenzen gesetzt. Daher kann die Textstruktur als eine Art Rahmen oder Spielraum begriffen werden, innerhalb dessen sich adäquates Textverstehen und Sinnkonstituieren vollziehen kann. Daß dieser Spielraum bei literarischen Texten weit größer ist als bei Texten der nichtästhetischen Kommunikationssphäre, kann nicht als Stütze einer generellen Beliebigkeitshypothese für das Textverstehen ausgelegt werden. Fazit: Texte sind natürlich das Ergebnis kognitiver Prozesse. In-ilmen bündeln sich die selektierten "Vor-Texte" der Textproduzenten - zusammen mit anderen Wissenselementen - im Sinne von Autor-Intentionen; und von Rezipienten werden konkrete Textangebote der Textproduzenten mit Hilfe eben solcher "Vortexte" selektiv verarbeitet als Rekonstruktion von Sinn. Dennoch aber bleiben die Texte die wesentlichen Festpunkte in Interaktionsprozessen; als Signale von latentem Sinngehalt fungieren sie als entscheidende Orientierungshilfe sowohl für Textproduzenten als auch für deren Partner beim Textverstehen. Daß Texte eine solche Sonderstellung im Fluß von Kommunikationsereignissen einnehmen, geht nicht zuletzt auch daraus hervor, daß sie (auch gesprochene Texte!) - im Gegensatz zu anderen flüchtigen Durchgangsstufen von Prozeßabläufen - materielle Korrelate von Kognitionsprozessen konkret faßbar und (teils über Jahrhunderte hinweg) potentiell konservierbar sind.
4.2. Was sind nun - im Vergleich zu den eben charakterisierten Texten - die vielbesprochenen "Vor-Texte", ,,Inter-Texte" oder "Texte im Kopf'? Im Sinne des Konzepts von Kristeva u.a. soll mit diesen Bezeichnungen all das charakterisiert werden, was Autoren schon einmal vor-gedacht haben, als Resultat der Verarbeitung von Texten vorausgehender Kommunikationsprozesse. Es handelt sich also um das Vorwissen der Textproduzenten, das bei
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der Konstitution aktueller Texte wiederum ergänzt werden kann durch Kenntnisse über konkrete Prä-Texte, also Texte, auf die sich der Autor explizit oder implizit bezieht. Auch die Rezipienten verfügen natürlich über "Vor-Texte" in diesem Sinn, über Vorwissen aus Texten verarbeiteter und gespeicherter Kommunikationsereignisse, das sie bei Verstehensprozessen selektiv aktivieren. Diese "Vor-Texte" sind von den Resultaten der kognitiven Verarbeitung konkreter Texte zu unterscheiden, von den subjektiv von den Rezipienten aus Basistexten mit Hilfe von Inferierungsprozessen re-konstruierten Textbedeutungen, die man gegebenenfalls als "Nach-Texte" umschreiben könnte. "Vor-" und ,,Nach-Texte" unterscheiden sich aber grundlegend von manifesten Texten: - Es handelt sich dabei ausschließlich um kognitive (nicht materialisierte) Einheiten und Prozesse; sie sind unscharf und flüchtig und - nach dem gegenwärtigen Stand der Kognitionsforschung - weder exakt faß- noch speicherbar. - Diese kognitiven "Vor-" und ,,Nach-Texte" sind aber auch nicht bedeutungsgleich mit den konkreten Texten. "Vor-Texte" sind noch nicht oder noch nicht vollständig - abgeschlossene Textbildungsprozesse. "Wir planen ... auf der konzeptionellen Ebene nicht erst vollständig unsere Äußerungen, bevor wir sie formulieren und dann artikulieren, sondern beginnen bereits mit der Artikulation, ohne daß die Äußerung vollständig repräsentiert ist. (Schwarz 1992: 168). - Und die ,,Nach-Texte" sind bereits verarbeitete, also in Propositionen umgesetzte Kognitionseinheiten und -prozeduren (da ja die Oberflächenstrukturen der Texte nur für Bruchteile von Sekunden im Kurzzeitgedächtnis verbleiben /dazu van Dijk 1980: 173). - In diesem SiIme können ,,Nach-Texte" als kognitiv-semantische Konstrukte gekennzeichnet werden, die aber - meist versehen mit pragmatischen Zusatzimpulsen - auf den konkreten Text bezogen sind. Cl
Fazit: - Text bleibt Text, wenn von Relationen zwischen Texten die Rede ist. Gemeint sind damit die materiell faß- und speicherbaren Zwischenresultate von kognitiven Sprech- und Schreibprozessen, die als grammatisch-semantische Struktureinheiten geprägt und auf die Erreichnung von Handlungszielen der Textproduzenten gerichtet sind.
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- Kognitive E4ilieiten und Prozeduren in Gestalt von "Vor-" und ,,NachTexten" sind untereinander vielfach vernetzt. Aber diese Relationen liegen auf einer anderen Ebene und kommen für die Kennzeichnung von Intertextualität nicht in Betracht.
4.3. Wenden wir uns nun der Kennzeichnung des Relationsgefüges zwischen Texten zu, der ,,Relation zwischen dominant verbalen semiotischen Objekten", wie Petöfi die Intertextualität umschreibt (Holthuis 1993: 30). Auch dabei gehen die Auffassungen weit auseinander. Der Text, den ich hier vortrage, steht ja in offenkundiger Beziehung zu anderen wissenschaftlichen Arbeiten, die ich hier erwähnt oder aus denen ich Textteile zitiert habe. Ist damit die Relation ,,Intertextualität" schon zureichend erfaßt? Oder sind dazu nicht auch explizite Relationen zu rechnen, etwa das Verhältnis meines Vortrags zu anderen in dieser Sektion gehaltenen Vorträgen, oder - ausgeweitet - zu Vorträgen schlechthin? Oder läßt sich darüber hinaus gar eine Beziehung konstituieren zwischen diesem Vortrag und einem beliebigen zeitgenössischen Roman in deutscher Sprache? Um zunächst auf die zuletzt genannte - nicht sofort nachvollziehbare Relation zu sprechen zu kommen: Ja, auch hier ist ein Relationsgefüge anzusetzen, weil in beiden Texten sprachliche Zeichen zur Vermittlung von Informationen verwendet werden, weil es sich dabei um Zeichen derselben langue handelt, aber auch, weil die "Vor-Texte" beider Autoren in einem sehr weiten Sinne miteinander vernetzt sein müssen, schon, weil sie etwa zur gleichen Zeit und im deutschen Sprachraum abgefaßt wurden. Alle hier exemplarisch angedeuteten Relationen sind in der Fachliteratur mit dem Terminus Intertextualität belegt worden. Es leuchtet sofort ein, daß hier differenziert werden muß, weil es' sich um unterschiedliche Formen von Vemetztheit konkreter Texte handelt. Kristeva u.a. hatten nun - wie wir gesehen haben - mit ihrer Verwendung des Terminus Intertextualität die weiteste und allgemeinste Form von Relationen zwischen Texten im Blick, das Faktum der universellen Vernetztheit von Texten schlechthin. Diese Position kann - auch aus der Sicht der Dialektik - grundsätzlich akzeptiert werden, wenn man das konkrete Anliegen der poststrukturalistischen literaturwissenschaftlichen Schule in jenen Jahren mit berücksichtigt. Allerdings ist diese Verwendung des Begriffs so allgemein, daß nahezu jede Relation zwischen sprachlichen Zeichen unter dieser Bezeichnung subsumiert werden könnte. Dann aber tendiert der spezifische Begriffsinhalt gegen Null; daher plädiere ich dafür, den Terminus Intertextualität einzugrenzen, ihn nicht mehr auf die universelle Vernetztheit von
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Texten zu beziehen, sondern damit grundsätzlich nur noch die Wechselbeziehungen zwischen konkreten Texten zu bezeichnen. (Zur Subklassiftzierung des weiten Feldes der intertextuellen Relationen zwischen konkreten Texten s.4.5.).
4.4. Als grundsätzliche Frage erweist sich auch das Problem, ob Intertextualität als eine den Texten inhärente Eigenschaft oder als ein ausschließlich kognitives Phänomen verstanden werden soll. Petöft und Holthuis (1993: 249) beziehen in dieser Frage die zuletzt genannte Position und gehen davon aus, daß es sich dabei um bloße Erwartungshaltungen des Lesers im Hinblick auf Textualität und Intertextualität handelt. So heißt es bei Petöft / Olivi (1988: 184): ,,Ein Produzent oder Rezipient betrachtet ein verbales Objekt als Text (Ich ergänze: erst dann als Text), wenn er glaubt, daß dieses verbale Objekt ein zusammenhängendes und vollständiges Ganzes ist, das einer tatsächlichen oder angenommenen kommunikativen Intention in einer tatsächlichen oder angenommenen Kommunikationssituation entspricht." Und bezogen auf die Intertextualität ergänzt Holthuis (1993: 31), daß "intertextuelle Qualitäten zwar vom Text motiviert werden können,· aber vollzogen werden sie in der Interaktion zwischen Text und Leser, seinen Kenntnismengen und Rezeptionserwartungen. Mit anderen Worten konstituiert sich Intertextualität als Relation zwischen Texten erst im Kontinuum der Rezeption und nicht ... im und durch den Text selbst. " Hier muß doch gefragt werden, ob ein Text wirklich erst dann zum Text wird, wenn er gelesen oder allgemein verstanden bzw. interpretiert wird. Wäre denn beispielsweise dieses Vortragsmanuskript kein Text, wenn es nicht vorgetragen und von Rezipienten in irgendeiner Weise aufgenommen wird? Oder ist ein Roman kein Text, der von einem Verlag nicht publiziert oder auch nur von potentiellen Lesern nicht rezipiert wird? Oder zugespitzt: Sind in einer Tageszeitung nur jene Teile als Text bzw. Teiltext zu bezeichnen, die von Lesern wahrgenommen werden? Dann könnte es durchaus sein, daß bestimmten Inseraten oder Wirtschaftsmeldungen, die von Lesern nur überflogen oder gar nicht zur Kenntnis genommen wurden, jede Form von Textualität - und darüber hinausgehend - auch von Intertextualität abgesprochen werden müßte. Und weiter: Müßte dann nicht - in letzter Konsequenz - jeder Rezipient selbst entscheiden, was für ihn Text ist und was nicht? Diese Beispiele verdeutlichen die Problematik eines einseitig leserorientierten Text- und Intertextualitätsverständnisses. Bei einer Bindung von Textualität und Intertextualität an den Rezipienten kommt es in der Tat nicht nur zur Relativierung dieser Begriffe, sondern letztlich zu deren
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"Aufuebung", da ja verschiedene Leser ganz unterschiedliche Verstehensmodelle ein und desselben Textes aufbauen. Wir folgern daraus, daß Textualität - ebenso wie latent auch die Intertextualität - doch die grundlegenden Merkmale sind, die (ganz im Sinne der sieben Textualitätskriterien von Beaugrande) jedem Text zukommen. Bezogen auf die Intertextualität heißt das: Der Textproduzent kann bewußt auf konkrete andere Texte Bezug nehmen und entsprechende Indikatoren setzen; er kann die Intertextrelation zu Texten derselben Textsorte aber auch mehr oder minder unbewußt herstellen, indem er den Text nach dem enstsprechenden Textmuster produziert. Ob diese expliziten oder impliziten Intertextualitätssignale von Rezipienten identifIziert und interpretiert werden, ist für die Begrifflichkeit von Intertextualität im Grunde irrelevant. So wird auch das pragmatische Credo der Textlinguistik vom Handeln mit Texten nicht eingeschränkt (vgl. dazu Linke / Nussbaumer 1996), bleiben Text und Intertextualität primär auf den Textproduzenten und seine Intention bezogen.
4.5. Schließlich ist zu fragen, wie das weite Feld von Intertextualitätsrelationen zwischen konkreten Texten differenziert werden kann; dabei lassen wir von vornherein Sekundär-Differenzierungen (wie Auto-Intertextualität / auf Texte desselben Autors bezogen / versus Hetero-Intertextualität / auf Texte verschiedener Autoren gerichtet / sowie Intertextualität in fIktionalen und nichtflktionalen Texten) außer acht. In Anlehnung an die umfangreiche Spezialliteratur (vgl. u.a. Petöfi / Olivi 1988) konzentrieren wir uns auf die grundlegende Unterscheidung von zwei Haupttypen von Intertextualitätsrelationen zwischen konkreten Texten: die typologische und die referentielle, letztere nochmals differenziert (Vorschlag Heinemann) unter grammatischen und semantischen Aspekten. Die typologische Intertextualität (auch Architextualität und System-TextReferenz genannt, s. Broich-Pflster 1985) läßt sich - mit Beaugrande - auch als grundlegende Textsortengeprägtheit eines jeden Textes kennzeichnen. Jeder Text ist ja Repräsentant einer bestimmten Textsorte und weist daher wenigstens tendenziell - relevante Merkmale (oder zumindest bestimmte Teilmengen) des jeweiligen Textmusters auf. Typologische Intertextualität basiert daher auf dem Prinzip der relativen Äquivalenz der aufeinander bezogenen Texte. Beim zweiten grundlegenden Typ, der referentiellen Intertextualität, geht es nicht um Übereinstimmung von Textmuster-Merkmalen, sondern um das explizite Zitieren von Elementen des jeweiligen Bezugstextes in einem Matrix-Text. Das kann in verschiedenen Graden der Vollständigkeit und Expli-
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zitheit erfolgen. Diese "textoberflächenstrukturelle Referenz" (Holthuis 1993: 91), die Referenz in praesentia, läßt sich abheben von einer "texttiefenstrukturellen Referenz", bei der Bedeutungen in der Form von Allusionen / Anspielungen, Paraphrasen, Übersetzungen, didaktischen oder ästhetischen Bearbeitungen von Texten mittelbar "zitiert" werden. Es ist zu fragen, ob es zweckmäßig ist, den Intertextualitätsbegriff auch in Zukunft so weit zu fassen. Es zeigt sich nämlich, daß in der Praxis nicht einmal diese beiden Haupttypen deutlich voneinander geschieden werden, daß die Relationen in ihrer Fülle so kaum noch unterscheidbar und praktisch handhabbar sind. Eine Eingrenzung des Umfangs des Begriffsfeldes erscheint daher dringend geboten. Dafür bieten sich verschiedene Möglichkeiten an: Man könnte den Begriffs umfang ausschließlich auf das Feld der direkten Intertextualität, die explizite "Zitier-Referenz" beschränken. Alle Phänomene der nicht-expliziten Intertextualität sollten dann anders bezeichnet werden (ev. Textsortengeprägtheit - abweichend vom Vorschlag de Beaugrandes). Da aber sowohl der Terminus ,,Intertextualität" als auch der Begriff der "Text-Referenz" allgemein als "Relation zwischen Texten" bestimmt werden, ist die notwendige Eingrenzung im Grunde eine Frage der Übereinkunft, der Etikettierung. Ich plädiere aus praktischen Gründen der Handhabbarkeit für die zweite Option und schlage vor, den Terminus Intertextualität nur noch auf die grundsätzliche Textsortengeprägtheit aller Texte einzugrenzen, da sich ja für den zweiten Grundtyp der Intertextualität seit langem der Terminus "Referenz" in linguistischen Arbeiten eingebürgert hat. Zur Abgrenzung von anderen Formen der Referenz sollte man die hier in Frage stehenden Phänomene "Text-Referenz" nennen (ohne das Attribut "intertextuell"). Eine solche Lösung hätte zudem noch einen zusätzlichen Nebeneffekt: Dem Wuchern des terminologischen ,,Intertextualitäts-Syndroms" würde Einhalt geboten~ und es wäre zu hoffen, daß textlinguistische Fachtermini wieder ad hoc verstanden werden könnten.
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Günter Weise (Greifswald)
Zur Spezifik der Intertextualität in literarischen Texten! 1. Theoretische Überlegungen 2. Formen und Funktionen von Intertextualität in literarischen Texten 3. Implikationen des postmodernen Intertextualitätsbegriffs 4. Verzeichnis der zitierten Literatur
1. Theoretische Überlegungen
Wenngleich Intertextualität auch in Sach- und Medientexten eine Rolle spielt, erlangt sie in literarischen Texten doch eine besondere Qualität. Die Vielfalt und Komplexität intertextueller Bezüge in ftktionalen Texten macht es erforderlich, unseren der englischsprachigen Literatur entnommenen Fallbeispielen einige theoretische Überlegungen voranzustellen. Allgemein formuliert, versteht man unter Intertextualität die Beziehungen, die zwischen Texten, in der Regel einem Textexemplar und seinen Prätexten, bestehen. Textualität ist also ein textübergreifendes Phänomen. Jeder Text hat Vorgänger, auf die er referiert, und zwar in formal-struktureller und / oder in inhaltlich-pragmatischer Hinsicht. Demgemäß lassen sich zwei Dimensionen der Intertextualität unterscheiden: eine vertikale (klassiflkatorische) und eine horizontale (assoziative, sinnverknüpfende) Dimension. Die erstere bezieht sich auf die Zuordnung von Textexemplaren zu bestimmten konventionellen Textklassen bzw. Genres auf der Basis prototypischer Eigenschaften. Die zweite Dimension referiert auf Prätexte unter semantischem Aspekt. Sie nutzt Intertextualität als Möglichkeit des Bedeutungs- bzw. Sinnaufbaus eines Textes unter Rückgriff auf Elemente, Situations- und Sinnzusammenhänge früherer Texte. Intertextualität ist also ein vielschichtiges Phänomen. Sie kann einerseits aus der literarischen Tradition, der Textfunktion und der Genrespeziflk erwachsen, andererseits kann sie auf Situations- und Sinnzusammenhänge referieren. Die Formen der Intertextualität reichen vom Zitat oder Motto über die Anspielung oder Paraphrase bis zur ~ontage von Textteilen, zur Parodie und 1
Der Beitrag ist die gekürzte und überarbeitete Fassung eines längeren Manuskripts, das intertextuelle Bezüge in mehreren Kommunikationsbereichen behandelt. (Weise 1996).
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Travestie. Ausgewählte Beispiele werden in den folgenden Kapiteln vorgestellt, wobei der Formenreichtum nur angedeutet werden kann. Spezielle Formen, z.B. Textbearbeitung und Übersetzung, werden bewußt ausgeschlossen, da sie einer besonderen Untersuchung bedürfen. Was die Funktionen der Intertextualität anbetrifft, lassen sich zweckge- . richtete und spielerische Funktionen voneinander abgrenzen. Die Wirkungsstrategie kann affrrmativ oder kritisch sein, wobei die Kritik sich entweder auf die Form oder auf den Inhalt - oder auf beide - bezieht. Das Ergebnis ist eine Sinnstützung, eine Sinnerweiterung oder eine Sinnkontrastierung bzw. Sinnumkehrung. Intertextualität ist ein komplexer Forschungsgegenstand, um dessen Klärung sich mehrere Disziplinen - neben der Linguistik und der Literaturwissenschaft vor allem die Semiotik - bemühen. Mein Ansatz ist interdisziplinär, was die Berücksichtigung divergierender Begriffsbestimmungen und Forschungsrichtungen unumgänglich macht. Mir geht es dabei vor allem um das Herausstellen von Gemeinsamkeiten. Grundlegende Einsichten in das Wesen der Intertextualität aus der Sicht der Literaturwissenschaft vermittelt der von Broich & PfISter herausgegebene Sammelband (1985). Unter den Linguisten haben sich vorrangig de Beaugrande & Dressler (1988) bemüht, Intertextualität als eines der Hauptkriterien der Textualität zu beschreiben. In zweierlei Hinsicht geht die Textlinguistik über die oben gegebene allgemeine DefInition von Intertextualität hinaus. Sie beschränkt sich nicht auf textinterne Phänomene, sondern bezieht den Wirkungsaspekt ein. Die Wirkung von Intertextualität ist abhängig vom Textwissen, über das Autor und Rezipient gemeinsam verfügen. De Beaugrande & Dressler (1988: 182) defInieren ,Intertextuality' als die Art und Weise, in der the production and reception of a given text depends upon the participants' knowledge of other texts. Diese Feststellung ist besonders wichtig im Hinblick auf die aktive Rolle des Lesers im Akt des Lesens und Interpretierens, die von der modernen Rezeptionsästhetik betont wird (Iser 1990: 175 ff.). Die zweite Erweiterung der Begriffsbestimmung besteht in einer Aufwertung der Intertextualität gegenüber den anderen Textualitätskriterien als Instrument der Verfahrenskontrolle: The whole notion of textuality may depend upon exploring the influence of intertextuality as a procedural control upon communicative activities at large. (de Beaugrande & Dressler 1988: 206)
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Diese Auffassung deckt sich weitgehend mit der Ansicht des Semiotikers M. Riffaterre, daß Textualität sich auf Intertextualität gründe und jeder Text ein ,,Ensemble von Präsuppositionen anderer Texte" sei (1979: 406). Indem Texte auf vielerlei Weise einander bedingen und miteinander verzahnt sind, wird deutlich, daß ein Text niemals ganz autonom sein kann, sondern immer in ein Geflecht von Beziehungen zu anderen Texten eingebunden, immer selbst Intertext ist. Moderne Theoretiker haben daraus weitreichende Schlußfo 1gerungen gezo gen, auf die' ich im letzten Kapitel eingehen werde. Zunächst wollen wir uns jedoch den Formen und Funktionen der Intertextualität zuwenden.
2. Formen und Funktionen von Intertextualität in literarischen Texten Wenn wir von einer engen Fassung des Intertextualitätsbegriffs ausgehen, wenn wir uns also zunächst auf die Untersuchung direkter, konkreter Formen und Funktionen von Bezügen zwischen Einzeltexten beschränken, dann ist Intertextualität keineswegs etwas Neues, vielmehr ein Verfahren, das von der literarischen Praxis und der literaturwissenschaftlichen Forschung seit langem berücksichtigt worden ist. Neu ist jedoch die Zusammenschau des komplexen Gefüges von Dimensionen, Bezugsformen und Funktionen. Die Bezugsformen der Intertextualität in literarischen Texten können vielfältiger Art sein. Die einfachste Form ist zweifellos das Zitat, das im Titel, im Vorwort oder im Text stehen kann. Als Kurzzitat im Titel ist es assoziativ besonders wirkungsvoll, und die Wirkung hat einen intertextuellen und einen interpersonalen Aspekt. J. Steinbecks Roman The Grapes 0/ Wrath (1939) bezieht sich auf eine Bibelstelle, die im 19. Jahrhundert in den Text einer Hymne einging, welche Amerikas revolutionäre Vergangenheit repräsentiert. Es war The Battle Hymn 0/ the Republic, die im amerikanischen Bürgerkrieg zur Melodie von ,John Brown' s Body' gesungen wurde: Mine eyes have seen the Glory of the coming of the Lord, He' s trampling out the vintage where the graDes of wrath are stored .... Eine lange historische Traditionslinie wird affirmativ aufgenommen, um die moralische Berechtigung des Kampfes gegen soziale Ungerechtigkeit zu untermauern.
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E. Hemingways Roman For Whom the Bell ToUs (1940) bezieht sich auf einen Text von John Donne (1572 - 1631). Das vollständige Zitat ist als Motto, d.h. Leitspruch, dem Roman vorangestellt: No man is an Island, intire of it seIfe: every man is a peece of the Continent, a part of the Maine: If a Clod be washed away by the Sea, Europe is the lesse; as well as if a Promontorie were; as well as if a Manor of thy friends or of thine owne were; any man's death diminishes me, because I am involved in Mankinde. And therefore never send to know for whom the bell tolls: It tolls for thee. Titelzitat und Motto begründen die Verpflichtung, für die Freiheit der anderen einzustehen. William Styrons Roman Sophie' s Choice (1979) sind zwei kurze Prätexte vorangestellt: Das erste Motto ist der 4. Duineser Elegie von R.M. Rilke entnommen: ... Mörder sind leicht einzusehen. Aber dies: den Tod, den ganzen Tod noch vor dem Leben so sanft zu enthalten und nicht bös zu sein, ist unbeschreiblich.
Das zweite Motto stammt aus Andre Malraux' Lazare (1974): Je cherche la region cruciale de l'äme, Oll le mal absolu s'oppose fraternite.
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Die Funktion beider Mottos ist die Einstimmung auf die extremen Erfahrungen in Sophies Leben, auf die Spannung zwischen schrecklicher Vergangenheit und zarter Hoffnung, die schließlich doch zerbricht. Neben dem Zitat und dem Motto, die den Prätext direkt einführen, gibt es eine Form der indirekten Bezugnahme, die größere Ansprüche an den Rezipienten stellt: die Anspielung. Als Beispiel verweise ich auf W. Goldings Roman Lord oi the Flies (1954), wo Bezüge auf Robinson Crusoe und die klassischen Robinsonaden wie auch auf Ballantynes The Coral Island angedeutet sind. Eine hochgradig komplexe Form der Anspielung wird von W. Karrer (1985: 99 f.) als Element-Struktur-Umformung in Ulysses (1922) von James Joyce untersucht. Sie belegt die spielerische Variante der Intertextualitätsfunktion. Im Proteuskapitel dieses Romans, in dem es um Wechsel und Veränderung geht, erinnert sich Stephen Dedalus an Buck Mulliken, der ihn am Morgen um Geld und Schlüssel erleichtert hatte: A primrose doublet, fortune's knave, smiled on my fear.
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Das ist eine Anspielung auf Shakespeares Antony and Cleopatra (V, Ü, 2-4), wo es heißt: Tis paltry to be Ceasar: Not being Fortune, he' s but Fortune' knave, A minister of her will. Hier handelt es sich nicht nur um eine Anspielung, sondern zugleich um eine Umdeutung. Durch die Veränderung der Situation und Kontextfunktion von ,,fortune's knave" entsteht semantisch eine Umkodierung, in der die historischen Bedeutungen von ,Fortune' und ,knave' die modernen Bedeutungen konnotativ überlagern. Daß aus ,Knappe' ,Schurke', aus Lady Fortune ,Geld' geworden ist, hat nicht nur mit sprachgeschichtlichen, sondern auch mit gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen zu tun. Neben der Veränderung der Wortbedeutung und des Sinns ergeben sich außerdem strukturelle Veränderungen: Stephen fühlt sich betrogen wie Cleopatra, Buck führt sich auf wie ein Cäsar, die Geldentleihung ist der Beginn einer Katastrophe.
Shakespeare, ,A & C'
Joyce, ,Ulysses'
Sprecher
Cleopatra
Stephen Dedalus
Bezug (Referenz)
Caesar
B uck Mulligan
Fortune = goddess Fortuna knave = servant
fortune = wealth
engerer Kontext
not being Fortune, he's but ...
A primrose doublet
weiterer Kontext
Drama, Akt V Katastrophe
Roman, Kap. 3 Exposition
Wortbedeutung
knave = rogue
Abb. 1: Intertextualität als Anspielung mit Element-Struktur-Umformung (vgl. Karrer 1985)
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Zur ErläuterunR der kritischen Funktion von Intertextualität wollen wir uns im folgenden zwei Formen zuwenden, die seit dem Altertum als eigenständige Gattungen praktiziert worden sind: der Parodie und der Travestie. Beide erzielen Komik, oft auch Satire, durch die Diskrepanz von Inhalt und Form. DefInitorisch lassen sie sich in Anlehnung an Wilpert (1989) wie folgt abgrenzen: Parodie ist die verspottende, übertreibende, satirische Nachahmung eines ernstgemeinten Prätextes oder einzelner Teile davon unter Beibehaltung der äußeren Form, doch mit unpassendem Inhalt. Als Beispiel sei verwiesen auf A. Popes Rape o[ the Lock, ein komisches Heldenepos (mock-heroic epic). Eine Travestie ist ebenfalls eine satirische Verspottung einer ernsten Dichtung, doch im Gegensatz zur Parodie durch Beibehaltung des Inhalts und dessen Wiedergabe in einer anderen, unpassenden, lächerlich wirkenden Textgestalt. Als Beispiele für Travestien seien Mundartfassungen von Goethes oder Schillers Balladen angeführt. In der Praxis kommen Parodie und Travestie auch vermischt vor, z.B. in James Thurbers Rotkäppchen-Version The Little Girl and the Wolf (1952), wo das Mädchen im kritischen Augenblick eine Pistole aus dem Korb zieht und den Wolf erschießt. Entgegen der Konvention der Märchengattung steht am Ende eine "Moral": It' s not so easy to foollittle girls nowadays as it used to be.
Eindeutiger als Parodie zu klassifIzieren und doch das Märc'hengenre, den Märchenton der Prätexte sprengend, sind James F. Garner's Politically Correct Bedside Stories (1984), darun~er Little Red Riding Hood, The Emperor's New Clothes und Rumpelstitskin: Hier wird ,political correctness' ad adsurdum geführt. Es sind ,,Märchen" mit sozialkritischem Kommentar. Rumpelstitskin beginnt so: Long age in a king dom far away, there lived a miller who was very economieally disadvantaged. Tbis miller shared bis humble dwelling with bis only daughter, an independent young woman named Esmeralda. Now, the miller was very ashamed of bis poverty, rather than angry at the economie system that had marginalized him, and was always searebing for a way to get rieh quick. "If only I eould get my daughter to marry a rieh man," he mused, in a sexist and archaie way, "she'll be fulfi11ed and 1'11 never have to work another day in my life".
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Die literarische Moderne, insbesondere die Postmoderne, ist durch ein Ausufern, ein Auswuchern intertextueller Bezüge, ein Zerfasern der Erzählstruktur durch fortwährende Anspielungen, parodistische und travestierende Einschübe gekennzeichnet. Es gibt nicht nur einen Text, sondern ein Mosaik von Texten, hinter denen sich der Autor verbirgt. Oftmals wirkt der Text wie ein Puzzle, das der Leser entwirren muß. Diese Situation kann zur Selbstparodie führen wie bei David Lodge in dem Roman The British Museum is Falling Down (1965), einem ironischen intertextuellen Spiel mit allen literarischen Vorgängern. Das Nachwort zu diesem Roman verrät, daß das Bewußtsein, hinter jeder Seite, hinter jeder Zeile eines Textes könnte sich eine Ahnenreihe von Prätexten verbergen, nicht nur für den Leser, sondern auch für den Autor zu einer Bürde werden kann. (Lindner 1985: 133) Der Prototyp des postmodernen Romans ist der experimentelle Roman. Eines seiner Merkmale ist das raffmierte Ineinander von Fiktionalität und Faktualität im Erzählvorgang, wobei die Faktualität der Fiktionalität untergeordnet ist. John Fowles' Roman The French Lieutenant's Woman (1969), der auch erfolgreich verfIlmt wurde, kann als exemplarisch gelten. Darin wird zwar vom Autor festgestellt, daß seine Charaktere niemals außerhalb seines eigenen Bewußtseins existierten, aber gleichzeitig werden sie so ·realistisch geschildert wie in einem viktorianischen Roman. Der Konflikt zwischen der viktorianischen und der modernen Erzählkonvention spiegelt sich, bewußt unaufgelöst, auch in den drei Romanschlüssen, die der Autor seinen Lesern anbietet. Fowles baut seinen Roman durch Einzel- und Systemreferenz bis ins Detail hinein thematisch und strukturell dem viktorianischen Roman nach. Hier schließe ich mich der scharfsinnigen Analyse B. Schulte-Middelichs an (1985: 228 ff.). Wissenschaft, Geistesgeschichte, Soziologie und Literatur liefern die Prätexte. Sie bilden eine übergeordnete Bezugsfolie, deren Funktion es ist, eine mö glichst vollständige Authentizitätsftktion entstehen zu lassen. Diesem Zweck dienen neben den Zitaten und Anspielungen im ,eigentlichen' Romantext vor allem die zahlreichen viktorianischen Texte auf der untergeordneten Textebene. Jedes der 61 Kapitel des Romans hat ein Motto oder gar mehrere Mottos. Deren Vielfalt reicht vom Folk Song über die Lyrik Th . Hardys, A. Tennysons und Matthew Arnolds und die Romane Jane Austens bis zu faktualen Erklärungstexten: Auszügen aus Werken von Leslie Stephen, K. Marx, dem Children' s Employment Commission Report
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(1867), Drysdales The Elements 0/ Social Science sowie E.R. Pike's Quellensammlung Hu"man Documents 0/ the Victorian Golden Age. Diese Prätexte steuern die Rezeption des eigentlichen Romantextes, spiegeln sich aber auch gegenseitig, und Fußnoten unterstützen die Aufforderung zur ständigen intertextuellen Lektüre. Andererseits aber, zunächst nur punktuell, verstärkt von der Mitte des Romans an, fließt die Perspektive modernen Bewußtseins, moderner Texte ein. Dadurch entsteht eine sich steigernde Spannung zwischen den historischen, ideolo gischen, moralischen und literarischen Koordinatensystemen von 1867 und 1967, zwischen der ,,Adam society" der Viktorianer und der ,,Eve society" der Moderne (Fowles 1969). Fowles Zentralthema ist die Abhängigkeit individuellen menschlichen Handelns vom gesellschaftlichen Umfeld, die Wirkung von Tabus, die Selbstfmdung und Selbstverwirklichung der Frau. Trotz der in den Prätexten dargestellten Repressivität der viktorianischen Gesellschaft ist das Intertextualitätsverfahren nicht einseitig auf die kritische Deutung der Prätexte gerichtet, sondern es öffnet durch Kontrastierung auch den Blick für Defizite der gegenwärtigen Gesellschaft.
3. Implikationen des postmodernen Intertextualitätsbegriffs Meine Schlußbemerkungen beziehen sich auf die unvermindert lebhaft geführte, interdisziplinär ausgerichtete theoretische Diskussion zur Intertextualität (vgl. Pftster 1985: 1-24). Diese Diskussion, die Ende der"sechziger Jahre von Michail Bachtin und Julia Kristeva eröffnet wurde, hat zu weitreichenden Implikationen geführt. Von semiotischer Seite wird hervorgehoben, daß jeder Text eine Transposition von Zeichen, ein Mosaik von Zitaten sei (l Kristeva 1979). G. Genette (1982) hat dafür ein einprägsames Bild gefunden: "palimpsestes", jene mehrfach beschriebenen alten Pergamente, auf denen die ursprünglichen Texte bei geeigneter Behandlung durchschimmern und wieder entzifferbar werden. Nach M. Riffaterre (1979) sind Autor und Leser nur innerhalb des Universums der Texte denkbar; der Autor wird Teil des Textuniversums, der Text eine "Echokammer", und der Leser muß, mit dem Blick auf Vorverfaßtes, ,3. travers la bibliotheque' lesen. Die Situierung im universellen Intertext ist aus dieser Sicht für den modernen Roman unumgänglich. Das moderne Wortkunstwerk ist deshalb niemals auf einen Sinn festzulegen, sondern es wechselt zwischen zwei oder mehr Bezugssystemen. Gerade diese Mehrdeutigkeit macht die Faszination des Textes aus. Im Kreuzungspunkt mehrerer
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Sinnebenen werden die jeweiligen Bezugssysteme relativiert. Eine derartige Sichtweise ist darauf angelegt, traditionelle Konzeptionen zu sprengen: z.B. die Vorstellung, daß einem Text ein bestimmter Sinn innewohne, den es freizulegen oder zu rekonstruieren gelte, der möglicherweise niemals wirklich beschrieben werden kann, aber doch zumindest annähernd eingegrenzt werden könnte. Für J. Kristeva ist Sinn nichts fertig Vorgegebenes, sondern etwas Flüchtiges, das sich erst als Effekt einer Beziehung zwischen Text und Leser herstellt. Deshalb muß nicht nur die vom Autor intendierte spezifische Beschaffenheit des Textes, sondern auch die aktive Rolle des sinngebenden Subjekts, des Lesers bzw. Rezipienten, ins Kalkül gezogen werden. Die überbordende Intertextualität der Postmoderne muß jedoch auch kritisch gesehen werden. Es wird immer pro blematischer, ein gemeinsames Textwissen vorauszusetzen und die Verfahrenssteu({rung im Diskurs aufrechtzuerhalten. Die Rezeption dieser Literatur beschränkt sich auf eine intellektuelle Elite, die den Polylog einander widerstreitender Standpunkte verstehen und genießen kann. Indem der Autor sich hinter seinem Werk und seinen Quellen versteckt, wird er unverbindlich, delegiert er seine Verantwortung an andere. Wenn Postmoderne und Intertextualität in ihrem Selbstverständnis zusammengehören (Schöpp 1985: 333), verbirgt sich dahinter freilich auch die Schwierigkeit, etwas wirklich Neues zu sagen, mitsamt dem Zwang zur Wiederholung und zum Zitat; Kreativität wird leicht auf Nachahmung und Umformung, auf ein bloßes Spiel mit Formen reduziert.
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Henning Tegtmeyer (Leipzig)
Der Begriff der Intertextualität und seine Fassungen - Eine Kritik der Intertextualitätskonzepte Julia Kristevas und Susanne Holthuis' 1. 2. 3. 3.1 3.2 3.3 3.4 4. 5.
Einleitung: Intertextualität - ein schillernder Begriff Kristevas globales Intertextualitätskonzept Holthuis' lokales Intertextualitätskonzept Holthuis' Textbegriff Typologische Intertextualität Referentielle Intertextualität Intertextualität und Interpretation Schluß: Noch einmal Kristeva Verzeichnis der zitierten Literatur
1. Einleitung: Intertextualität - ein schillernder Begriff
Kaum ein Begriff hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten in Literaturwissenschaft und -kritik, aber ebenso in der Textlinguistik sowie in der Semiotik zu solchen Kontroversen geführt wie der der Intertextualität. Von kaum einem anderen Begriff innerhalb des literatur- und sprachwissenschaftlichen Diskurses läßt sich sagen, daß seine Bedeutung derartig umkämpft und umstritten ist. Das mag auf den ersten Blick verwundern, herrscht doch über die Nominaldefinition von Intertextualität Konsens. Intertextuality involves the relation of one text to other texts. 1 Dieser Defmition stimmen die beteiligten Diskutanten zu. Dissens entsteht allerdings darüber, 1) was ein Text und 2) was eine Beziehung zwischen Texten ist. Mit einer N ominaldefmition ist nichts gewonnen, so lange die Extension des defmierten Begriffs derartig umstritten ist wie im Fall des Begriffs der Intertextualität. Eine dritte, entscheidende Frage, die an die anderen anschließt, ist, ob es Wahrheitskriterien für Aussagen über intertextuelle Beziehungen gibt. Läßt sich intersubjektiv entscheiden, ob eine Beziehung zwischen zwei oder mehreren Texten besteht? Davon, ob diese Frage positiv oder negativ beantwortet wird, hängt es ab, ob Intertextualität ein wissenschaftsfähiger Begriff ist oder nicht.
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Mailloux, zitiert nach Mai, S. 31.
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Danach, wie diese drei Fragen beantwortet werden, läßt sich nun das Gewirr der Wortmeldungen in der Intertextualitätsdebatte strukturieren. Man kann zwei Positionen unterscheiden, die mit einander entgegengesetzten Intertextualitätskonzepten arbeiten. Ich möchte das erste Konzept das globale, das zweite das lokale Intertextualitätskonzept nennen. Eine weitere Differenzierung ergibt sich daraus, daß man nicht nur einen globalen oder lokalen Intertextualitäts-·, sondern auch einen globalen oder lokalen Textbegriff haben kann. Daraus ergeben sich folgende Kombinationen: Man kann einen globalen Textbegriff vertreten und zugleich ein globales Konzept der Beziehungen zwischen Texten, also der Intertextualität, haben, man kann aber auch einen lokalen Textbegriff und einen globalen Intertextualitätsbegriff verteidigen. Ein globaler Textbegriff, verbunden mit einem lokalen Intertextualitätskonzept, ist ebenfalls denkbar, spielt aber in der Diskussion keine Rolle. Wichtig dagegen ist der vierte Positionstyp, der ein lokales Text- mit einem lokalen Intertextualitätskonzept verknüpft. Was das im einzelnen bedeutet und wie die dritte Frage vom Standpunkt der jeweiligen Position aus beantwortet wird, soll hier kurz skizziert werden. Ein globales Intertextualitätskonzept vertreten z.B. de Beaugrande und Dressler, die davon ausgehen, daß jeder Text durch intertextuelle Beziehungen gekennzeichnet ist, d.h. ohne Kenntnis anderer Texte unverständlich bleibt. 2 Gleichzeitig aber restringieren sie den Textbegriff auf Einheiten von sprachlichen Zeichen. Damit fallen Referenzen auf außersprachliche Gegebenheiten aus dem Bereich der Intertextualität heraus. Genau das unterscheidet diese Position von der Kristevas, die wie ihre französischen Philosophenkollegen Barthes und Derrida den Begriff Intertextualität aus einem globalisierten Textbegriff entwickelt. Text ist bei ihr der Name für beliebige Zeichen- und Regelkomplexe. In der Konsequenz werden damit die Begriffe Textualität und Kultur koextensiv, d.h. synonym und damit gegeneinander vertauschbar. Das bedeutet, daß von individuierbaren Einzeltexten nicht mehr die Rede sein kann ohne Rekurs auf das Universum der Texte. Intertextualität bezeichnet damit die Gesamtheit der Bezüge zwischen den Texten im Universum der Texte. Die dritte Position wird in einer besonders elaborierten Variante von Holthuis vertreten, die die Bedeutungen der Begriffe Textualität und Intertextualität im Dienste ihrer Operationalisierbarkeit für linguistische und literaturwissenschaftliche Analysen auf eine lokale Bedeutung restringiert. Texte defmiert sie als "dominant verbale relationale semiotische Objekte"3, Intertex-
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V gl. de Beaugrande, Dressler, S. 188 ff. Holthuis, S. 30.
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tualität als die intersubjektiv identiftzierbaren Beziehungen zwischen diesen Objekten. Die Extreme werden also markiert durch die Positionen von Kristeva einerseits und Holthuis andererseits, während der Intertextualitätsbegriff de Beaugrandes und Dresslers Elemente beider Positionen in sich vereinigt. Alle drei Ansätze müssen sich eine kritische Prüfung ihrer Tragweite gefallen lassen. Diese Prüfung orientiert sich an der dritten, kritischen Frage nach den Wahrheits- und Überprüfbarkeitskriterien für Urteile, die ausgehend vom jeweiligen Ansatz gefällt werden. Dabei kann es bei der Analyse der Extrempositionen Kristevas und Holthuis' bleiben, denn was sich aus dieser kritischen Analyse ergibt, wird sich nicht bloß auf die Mittelposition de Beaugrandes und Dresslers übertragen lassen, sondern auf jedes der vorliegenden Intertextualitätsmodelle, die sich im Spannungsfeld zwischen diesen beiden Polen näher am einen oder näher am anderen befinden. So wären etwa neben Barthes auch Bloom, Leitch, Worton und Still sowie Mai als Vertreter eines globalen, kristeva-nahen Intertextualitätskonzepts anzusprechen, während sich die deutschen Autoren Stierle, Pfister, Broich und Hempfer, neben ihnen aber auch Michel Riffaterre zu einem lokalen Intertextualitätskonzept bekennen, das den Akzent auf die Identiftzierbarkeit der Beziehungen zwischen Texten setzt. Das Resultat dieser Arbeit wird nichts anderes als eine Bestimmung der Bedeutung des Begriffs der Intertextualität und eine Einschätzung seiner Leistungsfähigkeit sein. Das aber ist nicht möglich ohne eine Reflexion auf Status und Aufgaben von Literatur- und Textwissenschaften.
2. Kristevas globales Intertextualitätskonzept Die Geschichte des Intertextualitätsbegriffs ist oft erzählt worden. 4 Julia Kristeva, Ende der sechziger Jahre der ideologiekritisch ausgerichteten TelQuel-Gruppe nahestehend, die den Strukturalismus Saussurescher mit der Psychoanalyse Lacanscher Prägung und einer marxistisch-revolutionären Haltung verband, prägte den Begriff im Zuge ihrer Auseinandersetzung mit dem russischen Literaturwissenschaftier Michail Bachtin. Dieser hatte den Begriff der "Dialogizität" gewählt, um eine bestimmte Eigenschaft von ihm geschätzter Romane (u.a. von Rabelais, Gogol und Dostojewskij) zu benennen. Dialogizität meint, daß in einem Romantext nicht Ich stütze mich in diesem Kapitel insbesondere auf die bündige Darstellung des Kristevaschen Intertextualitätskonzepts bei Mai, S. 38 ff.
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eine Stimme, nämlich die des Autors, dominiert und über die Stimmen der Romanfiguren triumphiert, sondern daß viele und teilweise einander widersprechende Stimmen gleichberechtigt nebeneinander erklingen. Das stärkt nach Bachtins Auffassung die kritische Kompetenz des Lesers und hält ihn davon ab, sich affrrmativ einer dominierenden Meinung anzuschließen und damit" in der Konsequenz bestehende Machtverhältnisse unkritisch zu bejahen. Literarische Texte, die eine solche unkritische Leserhaltung fördern, nennt Bachtin monologisch und trennt sie scharf von den dialogischen, die ein starkes subversives Potential gegen herrschende Dogmen bereithalten. Monologische Texte halten den Leser in Unmündigkeit, dialogische erziehen ihn zur Mündigkeit. Monologische Texte bedienen sich ausschließlich des gehobenen Stils und zeichnen sich durch Humorlosigkeit aus. Dialogische Texte dagegen bedienen sich der unterschiedlichsten Stilebenen vom hohen bis zum niederen Stil; ihre Quellen sind heilige Texte ebenso wie die Volkspoesie; sie lösen eher Lachen als Ergriffenheit aus und ironisieren jedes falsche Pathos. 5 Das mache ihren subversiven, ideologiekritischen Gehalt aus. Daß in Romanen nicht bloß eine privilegierte Stimme, die des Autors, sondern eine Vielfalt von Stimmen unterschiedlichster Provenienz zu vernehmen sei, faszinierte die Strukturalistin Kristeva, die mit ihren Philosophenkollegen Derrida, Barthes und Foucault die Überzeugung teilte, daß das Autorsubjekt eine bürgerliche illusion sei, an Bachtin. Was dieser Dialogizität genannt hatte, taufte sie um in Intertextualität. Mit dem neuen Wort hatte sich auch die Bedeutung dieses literaturwissenschaftlichen Konzepts geändert. Hatte Dialogizität bei Bachtin ein literarisches (und ideologiekritisches) Qualitätsmerkmal bestimmter, ausgezeichneter Texte der Weltliteratur benennen sollen, so meinte Kristeva mit Intertextualität eine Eigenschaft aller Texte. Kein Text sei isoliert zu betrachten; denn isoliert betrachtet bleibe er unverständlich. Nous appellerons INTERTEXTUALITE cette inter action qui se produit a l'interieur d'un seul texte. Pour Je sujet connaissant, l'intertextualite est une notion qui sera l'indice de la fac;on dont un texte lit l'histoire et s'insere en elle. 6 In dieser DefInition verbirgt sich der zweite Schritt der Bedeutungsexpansion des Intertextualitätskonzepts Kristevas. Denn hinter dem metaphorischen Ausdruck, daß Intertextualität ein Indiz dafür sei, wie ein Text die Geschichte lese und sich in sie einschreibe, verbirgt sich nichts anderes als die 5
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Vgl. Rabelais und Gogol. Die Wortkunst und die Lachkultur des Volkes. In: Bachtin: Die Ästhetik des Wortes. S. 349 - 357. zitiert nach Holthuis, S. 14.
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Subsumption aller semantischen Strukturen unter den Begriff der Intertextualität. Mit anderen Worten, es gibt für Kristeva keine extratextuellen Bezüge, also keinen Bezug zwischen Text und textexterner Welt. Was wir üblicherweise die Bedeutung eines Textes oder auch seine referentiellen Beziehungen nennen, ist bei Kristeva selbst ein textuelles Phänomen. Der erweiterte Textbegriff Kristevas besagt, daß Texte Symbolstrukturen sind; Symbolstrukturen aber verweisen nicht etwa auf wirkliche Dinge, sondern auf andere Symbole und Symbolstrukturen. In der Konsequenz ist es unmöglich, Texte zu individuieren; kein Text ist verständlich ohne das Universum der Texte, das man Kultur nennt. Das klingt kontraintuitiv, entspricht aber den philosophischen Überzeugungen der dekonstruktivistischen Denker Derrida, Barthes und anderer. Sie verabschieden den Dualismus von Sprache (im weitesten Sinn als eines Systems von Zeichen bzw. Symbolen) und außersprachlicher Wirklichkeit; was wir Wirklichkeit zu nennen gewohnt sind, ist nach diesem Bild sprachlich immer schon strukturiert, ein bloßer Effekt der Sprache. Nicht Sprache verweist auf Wirklichkeit, sondern Wirklichkeit ist eine Provinz der Sprache. Sprache aber manifestiert sich in Texten. Das erlaubt es Kristeva, Kulturen als Zusammenhänge von Texten zu begreifen und als Konsequenz daraus alle semantischen (und pragmatischen) Strukturen eines Textes als intertextuelle Beziehungen zu fassen. Intertextualität im Sinne Kristevas ist also der Titel für den semantischen und pragmatischen Gehalt eines jeden Textes, wobei Text in einem sehr weiten Sinn als Struktur von Zeichen bestimmt ist. 7 Es ist evident, daß dieser globale Intertextualitätsbegriff auf der Basis eines globalisierten Textbegriffs nicht dazu taugt, Grundlage von literaturwissenschaftlichen Forschungen zu werden. (Allein schon deswegen, weil man das Universum der Texte kennen muß, um einen einzelnen Text zu verstehen. Und wer kennt schon das Universum der Texte?) Das ist schon oft gesehen worden. Die Anziehungskraft, die die Konzeption Kristevas eben aufgrund ihrer undifferenzierten Universalität auf die nun vehement einsetzende Intertextualitätsdebatte ausübt, unbestritten, blieb ihr Ansatz samt seiner text- wie ideologiekritischen Implikationen nicht ohne Widerspruch,
Eine Verställdnisschwierigkeit besteht darin, daß Kristeva den Begriff Text nicht definiert und in der Folge in unterschiedlichen Schriften unterschiedlich verwendet. In "Die Revolution der poetischen Sprache" reserviert sie den Titel Text für literarische Texte, die sie marxistisch-psychoanalytisch interpretiert. Vgl. Die Revolution der poetischen Sprache, S. 30.
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konstatiert Holthuis, 8 und Plett moniert an dem Intertextualitätskonzept Kristevas und Barthes': This "school" has never developed a comprehensible and teachable method of textual analysis. Its publications are marked by a strangely abstract quality, at a decided remove from reality.9 Allerdings war es eben auch nicht die Absicht Kristevas, eine Texttheorie aufzustellen, aus der dann eine Methode der Textanalyse hervorgehen könnte. Der Bereich der Wissenschaft insgesamt steht bei ihr unter Ideologieverdacht. "Wissenschaft und Theorie", so heißt es im Vorwort zu ,,Die Revolution der poetischen Sprache", seien lediglich ,,Agenten der Totalität" der ,,kapitalistischen Produktionsweise".10 Ihr Ziel ist kein geringeres, als eben diese Totalität kritisch in den Blick zu nehmen und auf die von ihr bewirkte (De-)Formation der menschlichen Individuen aufmerksam zu machen. Freilich macht sie in dieser Absicht selbst Gebrauch von Theorien, vor allem von der marxistischen Gesellschafts- und der psychoanalytischen Subjekttheorie (daneben jedoch von der generativen Transformationsgrammatik Chomskyscher Prägung, von modallo gisehen Ansätzen und vielem anderem mehr) 11, doch versteht sie diese Theorien als Werkzeuge der Kritik an bestehenden Verhältnissen. Ihr Ziel ist Emanzipation der sich entfremdeten Subjekte; sie ist politisch, nicht wissenschaftlich motiviert, wie Mai zu Recht betont. 12 Es ist interessant zu beobachten, daß Kristeva in der Gesamtschau auf unsere Gesellschaft die textexterne (bzw. außersprachliche) Wirklichkeit wiederfmdet, die sie zuvor ausgeschlossen hatte. Die Wirklichkeit kehrt bei ihr unter dem Titel "Sinngebung" wieder. Damit meint sie den Prozeß des Er-
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Holthuis, S. 15. Plett, S. 4. Allerdings bezieht diese Kritik ihre (rhetorische) Überzeugungskraft daraus, daß Plett die Tel-Quel-Gruppe als "Schule" bezeichnet; von einer wissenschaftlichen Schule erwartet man, daß sie über eine verständliche und lehrbare Methode verfügt. Offenbar entspricht das jedoch nicht dem Selbstverständnis dieser Philosophengruppierung, und der Begriff der Realität ist ihr eben fraglich. Die Revolution der poetischen Sprache, S. 26 f. Kristevas Eklektizismus wird, entgegen Mais Ansicht, der ihm eine subversive Kraft zuspricht (Mai, S. 40 f.), dann zum Problem, wenn nicht mehr klar ist, wann sie Begriffe und damit theoretische Gesamtkonzepte und wann sie lediglich Worte aus anderen Theoriekontexten übernimmt und metaphorisch, d.h. auf ihre eigene Weise, verwendet. So ist ihre Berufung auf Bachtin, wie oben dargestellt, eigentlich bereits illegitim; ebenso verhält es sich mit ihren Anleihen bei Chomsky oder ihrer bloß noch metaphorisch zu verstehenden Verwendung des DNA-Modells von Watson und Crick (vgl. Die Revolution der poetischen Sprache, S. 38). Mai, S. 40 f.
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werbs kultureller, insbesondere sprachlicher Kompetenzen, der ja nach Freuds Lehre stets mit Triebaufschub, -verdrängung_ und -sublimierung verbunden ist. Bei Kristeva stellt sich das so dar: Wir werden jenen heterogenen Prozeß [... ] als Sinngebung (signijiance) bezeichnen, um damit zum Ausdruck zu bringen, daß auf der einen Seite biologische Schübe gesellschaftlich aufgefangen, geleitet und so verteilt werden, daß es gegenüber den gesellschaftlichen Apparaten zu einem Exzeß kommt, und daß auf der anderen Seite diese Funktionsweise der Triebe in eine Praxis mündet, das heißt zur Umwandlung von Widerständen, Endlichkeiten und natürlichen und gesellschaftlichen Stagnationen führt, doch nur dann, wenn diese Funktionsweise auf den Kode sprachlicher und gesellschaftlicher Kommunikation gestoßen ist. 13 Daß Kristeva hier umstandslos "biologische Schübe" für die Bedeutungskonstitution mitverantwortlich macht, wo doch die Biolo gie unter schärfstem Ideologieverdacht stehen müßte, ist nicht bloß mit Kristevas Eklektizismus zu erklären, sondern auch mit ihrem Materialismus. Ausdrücklich betont sie nämlich, daß es gelte, "den Vorstößen der logischen Dialektik eine materialistische Grundlage zu verschaffen (eine Theorie der Bedeutung, die vom Subjekt, seiner Entstehung und seiner Dialektik von Körper, Sprache und Gesellschaft ausgeht)".14 Obwohl sie versichert, damit ,,keinen Treueschwur gegenüber der Orthodoxie dieser oder jener Schule leisten" zu wollen,15 ist hier doch das Programm der Materialisierung, d.h. der Ontologisierung der Hegelschen Dialektik, das Marx vorbereitet und Engels durchgeführt hat,16 wiedererkennbar. Kristeva glaubt, daß wir einen Text erst dann wirklich verstehen (im emphatischen Sinn ihres hier entwickelten Verstehensbegriffs), wenn wir in der Lage sind zu begreifen, daß und wie sein Produzent in repressive soziale und psychische Strukturen eingebunden ist. Das Verstehen soll zugleich ein Befreien durch Bewußtmachen dieser Unterdrükkungsstrukturen sein. Was unterdrückt wird, sind aber eben die "biologischen Schübe", die Triebstruktur des Menschen. Die Kultur unterdrückt die Natur des Menschen. Bei dieser Darstellung werden die psychoanalytische Individual- und die marxistische Sozialtheorie zusammengenommen, um die Mechanismen der Repression darzustellen. Als Teil der Kultur aber gehören die Wissenschaften auch zum Repressions- und Entfremdungsapparat. Deswegen will Kristeva keine Wissenschaft betreiben, auch keine
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Die Revolution der poetischen Sprache, S. 30 f.
14 a.a.O., S. 28. 15 ebd. 16 V gl. Marx sowie Engels: Dialektik der Natur.
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neue Zeichen- oder Kulturwissenschaft. Wissenschaftliches Denken ist selbst schon entfremdet und repressiv. Aus dieser Fundamentalkritik an jeglicher Wissenschaft leitet Kristeva für sich das Recht ab, sich zwar im Fundus wissenschaftlicher Terminologien nach Belieben zu bedienen, sich jedoch den Konsistenz- und Geltungskriterien wissenschaftlichen Argumentierens zu verweigern. Das ist der eigentliche Grund dafür, daß es keine Intertextualitätsforschung im Anschluß an Kristevas Begriff von Intertextualität geben kann: Schuld daran ist Kristevas allzu weiter Begriff von Text und in der Folge von intertextuellen Bezügen; doch die Extension ihres Text- und ihres Intertextualitätskonzepts ist motiviert durch ihre Absage an alle Standards der Wissenschaftlichkeit. Oder: Ihre Absage an wissenschaftliche und argumentative Standards ist dafür verantwortlich, daß sie gezielt unklare Begriffe prägt und eine bewußt inkonsistente Terminologie entwickelt. Damit gerät ihr ideologiekritischer Ansatz selbst unter allergrößten Ideo10 gieverdacht. Wer glaubt, Ko nsistenz- und Intersubjektivitätsforderungen vernachlässigen zu dürfen, ja zu müssen, weil sie wissenschaftlichem und damit entfremdetem Bewußtsein entspringen, der hält sein eigenes Bewußtsein für unentfremdet und erhebt damit für seine Aussagen einen höheren, überwissenschaftlichen Wahrheits- und Geltungsanspruch. Ein solcher, wissenschaftlicher Kritik entzo gener Wahrheits anspruch aber ist do gmatisch, ganz gleich, ober materialistisch oder religiös-fundamentalistisch motiviert ist. Die Ideologiekritik erweist sich als Ideologie.
3. Holthuis' lokales Intertextualitätskonzept
3.1 Holthuis' Textbegriff Die Kristevasche Fassung des Intertextualitätsbegriffs taugt nicht für literatur- oder sprachwissenschaftliche Textanalysen. Der Grund dafür ist in der extremen Extension ihres Konzepts zu suchen. Es hat sich in der Analyse ihres Ansatzes gezeigt, daß sie den Textbegriff auf alle kulturell geregelten Zeichensysteme ausgedehnt hatte. Daß alle solchen Zeichensysteme durch den Kulturzusammenhang miteinander verbunden sind, ist unter dieser Voraussetzung jedoch ein tautologischer, d.h. ganz leerer Satz. Doch schlimmer noch. Wenn ohnehin schon alle Texte eines kulturellen Zusammenhangs sich aufeinander beziehen, kann man nicht mehr nach den konkreten Beziehungen zwischen zwei konkreten Texten fragen. Denn man
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ist gezwungen anzunehmen, daß eine Beziehung zwischen ihnen besteht. Jede Aussage der Form: "Text A steht in einem intertextuellen Bezug zu Text B", ist dann per deftnitionem wahr. Zum Beispiel muß die These: ,,zwischen dem Bericht über das gestrige Fußballänderspiel zwischen Deutschland und Portugal und Goethes ,Wahlverwandtschaften' besteht eine intertextuelle Relation", Kristevas Ansatz zufolge (analytisch) wahr sein. Eine Theorie jedoch, die es nicht erlaubt, zwischen wahren und falschen Aussagen zu unterscheiden, ist wissenschaftlich unbrauchbar. Das war der Grund für deutsche Literaturwissenschaftier und Textlinguisten, auf ein engeres, lokales Konzept von Intertextualität zu drängen, das es erlaubt, Aussagen über das Bestehen oder Nichtbestehen von intertextuellen Bezügen entscheidbar zu machen. Das bisher elaborierteste Modell hat Susanne Holthuis vorgelegt. Ihrem Ansatz wende ich mich nun zu. Holthuis bemerkt zu Recht: So schwierig eine allgemeingültige Definition des Phänomens Intertextualität (... ) ist, so eindeutig ist die Tatsache, daß eine Festlegung abhängig ist von der zugrunde gelegten Texttheorie und ihren theoretisch-methodologischen Implikationen und von der daraus resultierenden Bestimmung des Text-Begriffs selbst. Die Definition von Intertextualität steht und fällt daher mit den ihr unmittelbar zuzuordnenden Kriterien von Text und Textualität, Entscheidungen auf dieser Ebene determinieren alle folgenden Konzeptionen zu intertextuellen Relationen in Texten. i ? In der Tat ist das die Hürde, die jede Intertextualitätstheorie zu nehmen hat und an der, wie wir oben sahen, Kristeva gescheitert ist. Holthuis übernimmt an dieser Stelle den auf verbal dominierte Einheiten von Zeichen restringierten semiotischen Textbegriff ihres Lehrers Petöfi und bestimmt mit ihm Texte als "dominant verbale relationale semiotische Objekte".18 Was aber bedeutet ,,relational ? Es kann zum einen interne Bezüge der Textkonstituenten zueinander meinen, also die Kohäsions- und Kohärenzeigenschaften eines Textes (z.B. Beziehungen zwischen Textüberschrift und Textinhalt, zwischen Textanfang, Textmitte und Textende, die Modus- und Tempusstrukturen, Frage-Antwort-Beziehungen, Pronominalstrukturen, Isotopieketten etc. )19, zum anderen die referentiellen, also textexternen Beziehungen der Textzeichen zum Bezeichneten außerhalb des Textes. Da aber Texte bereits als semiotische Objekte, also als Einheiten von Zeichen bestimmt sind und Zeichen sich per defmitionem auf ein externes Bezeichnetes beziehen, wäre die Beq
17
Holthuis, S. 29.
18 a.a.O., S. 30. 19 V gl. Weinrichs Textgrammatik sowie de Beaugrande/ Dressler, S. 188 ff.
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stimmung von T~xten als "relational" und "semiotisch" ein Pleonasmus und kann daher mit gutem Recht ausgeschlossen werden. Für Holthuis ist der Begriff ,,relational" der Punkt, an dem der Intertextualitätsbegriff aufgehängt werden kann: Intertextualität ist damit grundsätzlich zu verstehen als Relation zwischen "dominant verbalen relationalen semiotischen Objekten", wobei der Akzent vor allem auf das Faktum der ,Relationalität' zu setzen ist. 2o Damit handelt sie sich jedoch zwei Schwierigkeiten ein. Erstens ist die Beziehung eines Textes zu einem anderen nur ein Sonderfall von Referenz, also eine textexterne Beziehung. ,,Relational" und "semiotisch" sind dann jedoch synonyme Begriffe, und Holthuis verwendet sie in der pleonastischen Art, die ich hatte auschließen wollen. Zweitens ist hier noch nicht klar, was Relatio~ nen zwischen Texten von Relationen zwischen einem Text und nichttextuellen Gegebenheiten unterscheidet. Beides voneinander zu unterscheiden ist ja gerade der Sinn ihrer Präzisierung des Kristevaschen Begriffs der Intertextualität. Doch warten wir ab. Wichtig und problematisch zugleich ist Holthuis' Entscheidung zugunsten einer "rezeptions orientierten Konzeption" von Intertextualität. Mit anderen Worten konstituiert sich Intertextualität als Relation zwischen Texten erst im Kontinuum der Rezeption und nicht, wie von ausschließlich textimmanent verfahrenden Konzeptionen angenommen, im und durch den Text selbst. 21 Diese Entscheidung zugunsten einer rezeptions orientierten Konzeption ist durch und durch plausibel, da man sich als Literaturwissenschaftler oder Textlinguist in Bezug auf die Objekte, die man analysiert, fremde Texte nämlich, immer in der Rolle des Rezipienten befmdet und über ihre Produktion lediglich Vermutungen anstellen kann. Doch scheint es mir, daß Holthuis die Probleme, die eine solche Konzeption mit sich bringt, nicht recht überblickt. Dazu aber später. Im Anschluß an diese Festlegung gibt Holthuis eine Übersicht über die "Globaltypen intertextueller Relationen"22, indem sie Intertextualität einteilt in Auto- und Heterointertextualität. Hierin folgt sie Petöfi. Allerdings spielt diese Einteilung im weiteren Verlauf ihrer Arbeit keine Rolle mehr und bleibt daher etwas dunkel, denn es wird nicht geklärt, ob mit Auto-Intertextualität
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Holthuis, S. 31.
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ebd.
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a.a.O., S. 49.
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textinterne Bezüge und Verweisstrukturen oder aber Bezüge und Verweise auf andere Texte desselben .4utors gemeint sind.
3.2 Typologische Intertextualität Wichtiger ist die folgende Einteilung der Auto- und der Heterointertextualität in typologische und referentielle Intertextualität, eine Einteilung, die ebenfalls von Petöfi stammt. Typologische Intertextualität bezeichnet - grob gesprochen - die Beziehungen eines Textes zu einem Texttyp oder Textmuster, referentielle die Beziehungen zu einem bestimmten anderen Text. Unter dem Titel "typologische Intertextualität" diskutiert Holthuis dann ohne Anspruch auf Vollständigkeit - Probleme bei der Erstellung von Texttypologien bzw. -klassifikationen und der auf diesem Feld konkurrierenden Theorieansätze (textgrammatisch, logisch-semantisch, pragmatisch etc.) und Einteilungsstrategien (bottom-up versus top-down). Veranschaulicht wird das am Problembereich Fiktionalitäe3 , einem wichtigen Kennzeichen narrativer Texte24 • Das entspricht dem Vorhaben der Autorin, ihre Konzeption in erster Linie an literarischen Texten zu bewähren. 25 Im Zug der Diskussion um narrative Texte geht es dann auch um Erzählmuster und -strukturen, Textgrammatiken u.ä. Doch ist der Begriff der typologischen Intertextualität insgesamt fragwürdig. Denn daß Einzeltexte immer zu verstehen sind als Repräsentanten eines Textmusters (als token, das einen type realisiert, um die in der analytischen Philosophie übliche Terminologie zu verwenden), gehört zum Wesen von Texten überhaupt und sollte mithin unter dem Titel Textualität und nicht unter dem Titel Intertextualität abgehandelt werden. Denn es handelt sich hier gar nicht um Intertextualität, wenn der Begriff noch sinnvoll verwendet werden soll. Ein anderer Fall liegt dann vor, wenn der Text explizit auf einen Texttyp oder ein Textmuster verweist. Dafür gibt Holthuis vier Beispiele. Zunächst das "sonett" von Gerhard Rühm:
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a.a.O., S. 69 ff. a.a.O., S. 75 ff. a.a.O., S. 35.
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sonett erste strophe erste zeile erste strophe zweite zeile erste strophe dritte zeile erste strophe vierte zeile zweite strophe erste zeile zweite strophe zweite zeile zweite strophe dritte zeile zweite strophe vierte zeile dritte strophe erste zeile dritte strophe zweite zeile dritte strophe dritte zeile vierte strophe erste zeile vierte strophe zweite zeile vierte strophe dritte zeile26 Unzweifelhaft ist dieser Text nicht verständlich ohne Kenntnis des Gedichttyps Sonett und seiner charakteristischen Strophenfolge (zwei Quartette, gefolgt von zwei Terzetten). Was Holthuis jedoch nicht beachtet, ist, daß hier ein völlig anderer Fall vorliegt als bei der von ihr sogenannten impliziten typologischen Intertextualität, bei der ein Text sich als Realisierung eines Textmusters e~weist. Denn der Text von Rühm ist kein Sonett, trotz des Titels, der das suggeriert. Vielmehr handelt es sich um das explizit gemachte Strukturschema von Sonetten, wobei auf jegliche semantische Füllung dieser Hohlform verzichtet wird. Ein visuelles Diagramm (etwa mit Hilfe der in der Metrik üblichen Längen- und Kürzen- bzw. Betonungszeichen) würde den Text Rühms vollständig und ohne Verlust ersetzen, was mit einem Sonett von Andreas Gryphius nicht möglich wäre. Es wäre also zu fragen, ob es sich bei Rühms "sonett" überhaupt um einen Text handelt und nicht vielmehr um ein Wortbild, ein Gebilde im Grenzbereich zwischen Text und Graphik, wie es die so genannte konkrete Poesie entwickelt hat, die ja gerade von der Grenzüberschreitung zwischen Text und Bild lebt (vgl. etwa Eugen Gomringers berühmt gewordenes Gedicht "Schweigen") .
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a.a.O., S. 56.
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Schwieriger als bei Rühm verhält es sich beim "Sonett" August Wilhelm Schlegels, das Holthuis an anderer Stelle als Beispiel expliziter typologischer Intertextualität anführt: Das Sonett Zwei Reime heiß ich viennal kehren wieder, Und stelle sie geteilt, in gleiche Reihen, Daß hier und dort zwei eingefaßt von zweien Im Doppelchore schweben auf und nieder. Dann schlingt des Gleichlauts Kette durch zwei Glieder Sich freier wechselnd, jegliches von dreien. In solcher Ordnung, solcher Zahl gedeihen Die zartesten und stolzesten der Lieder. Den werd ich nie mit meinen Zeilen kränzen, Dem eitle Spielerei mein Wesen dünket, Und Eigensinn die künstlichen Gesetze. Doch, wem in mir geheimer Zauber winket, Dem leih ich Hoheit, Füll in engen Grenzen, Und eines Ebenmaß der Gegensätze. 27 Denn einerseits entspricht dieses Sonett allen formalen Anforderungen an ein Sonett inklusive des jambischen Versmaßes; andererseits aber handelt es sich ganz deutlich um einen ,metastufigen ' Text, der, wie bereits der Titel anzeigt, die Sonettform als strenge Form der Lyrik thematisiert und darüber hinaus Sinn und Aufgaben von Dichtung überhaupt reflektiert, also um ein Sonett über Sonette. Das entspricht freilich ganz dem von Friedrich Schlegel ausformulierten Programm der frühromantischen Dichtung als ,,reflexiver Universalpoesie" oder "Dichtung der Dichtung".28 Hier wie bei vielen Texten der deutschen Frühromantik kann man mit Recht von expliziter typologischer . Intertextualität sprechen (was im Fall von Rühm zumindest zweifelhaft bleibt). Ein weiteres Beispiel für explizite typologische Intertextualität führt Holthuis auf Seite 82 an:
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a.a.O., S. 221 f.
28 V gl. hierzu auch die Dissertation von Walter Benjamin.
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american bar Hanns von -Gumpenberg nach Stefan George ein ruhgelaß schräg ab dem rädertreiben da müden seelen in gedämpfter stille sich mählich wieder ebnet sinn und wille im schimmerglast der zarten kräuselscheiben umschmiegt von feingebräunter holzbeschalung bleichhell getönt verwölben sich die wände und friedlich labt den blick verstreute spende der dämmerkunst in altersdunkler malung der fliese mattes rot wer könnt es singen der schneegedecke die willkommen sagen der schlummerlehnen schmeichelndes behagen der silbernen geräte leises klingen? vielleicht doch lieber wink ich mit den augen dem kellner in der milden weißen bluse zum wohle meiner nervenschwachen muse blaßkühlen saft durch hohles stroh zu saugen Daß zwischen diesem Text und der Lyrik Stefan Georges intertextuelle Beziehungen bestehen, verrät bereits der Titel. Holthuis sieht darin eine Stilparodie und ordnet ihn infolgedessen dem Beziehungstyp "typologiSch evaluierender Intertextualität zwischen Einzeltexten" zu. Doch wie immer man den Text auch liest - ob als Parodie auf den George-Stil insgesamt, auf ein einzelnes, nicht genanntes George-GediCht oder aber als liebevoll-ironische Hommage an den Symbolisten, wenn nicht gar als Pastiche - , es wird nicht recht plausibel, warum es sich hier um typologische und nicht um referentielle Intertextualität handeln soll. Ebenso verhält es sich mit Holthuis' letztem Beispiel für typologische Intertextualität, einem Gedicht von Friedrich Torberg: Großstadtlyrik (1967) Fabriken stehen Schlot an Schlot, vorm Hurenhaus das Licht ist rot.
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Ein blinder Bettler starrt zur Höh' . ein kleines Kind hat Gonorrhoe. Eitrig der Mond vom Himmel trotzt. Ein Dichter schreibt. Ein Leser kotzt. 29 Holthuis interpretiert den Text als Travestie auf expressionistische Großstadtlyrik der zwanziger Jahre. Doch wieder ist nicht klar, warum es sich nicht auch hier um referentielle Inteitextualität handeln soll, bloß weil der Referenztext (vermutlich) nicht ein einzelner Text ist, sondern eine Gruppe von Texten einer Gruppe von Autoren. Es entsteht der Verdacht, daß die Autorin lediglich die ansonsten etwas schmale Basis von Belegtexten für die Subkategorie explizite typologische Intertextualität etwas anreichern will. Eins hat bereits diese Beispielbetrachtung gezeigt: Bereits die Subsumption eines Textes unter eine bestimmte Textklasse ist alles andere als selbst-. verständlich oder trivial, denn schon hier handelt es sich um einen interpretativen Akt des Rezipienten. Bei den meisten Gebrauchstexten bereitet die Subsumption kaum Schwierigkeiten, da sie in der Regel durch den kommunikativen Kontext eindeutig festgelegt ist. Ganz anders jedoch bei literarischen Texten. Die kommunikative Situation, in der sie stehen, läßt sich ausschließlich in negativen Termini bestimmen: Indeterminiertheit der kommunikativen Situation, der Adressaten, der kommunikativen Absicht. Die Interpretation eines literarischen Textes beinhaltet den Versuch, die kommunikativen Leerstellen, die jeder literarische Text läßt, zu füllen. Ein wichtiger Schritt im Prozeß der Interpretation ist dabei die Klassiflkation des Textes, wird doch der Deutungsspielraum, den der Text läßt, durch diesen Schritt entscheidend verengt. So kann es nicht verwundern, daß um die Klassiflkation von Texten immer wieder literaturwissenschaftliche Kontroversen entstehen. Als Beispiel hierfür kann man den Streit zwischen Peter Wapnewski und Gerhard Hahn darüber anführen, ob das Gedicht ,,Nernt, frowe, disen kranz" Walthers von der Vogelweide als Pastorelle anzusprechen sei. 30 Man kann auch an die Kontroverse zwischen den Anglisten Elliott und Dorsch darüber denken, üb Thomas Morus' "Utopia" die römische Verssatire oder die menippeische Prosasatire zum Vorbild habe. 31 Auf diesen wichtigen Punkt wird später zurückzukommen sein. Es wird sich zeigen, daß es in den meisten Fällen wichtiger ist, daß der Streit geführt, als daß er entschieden wird.
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Holthuis, S. 86. Vgl. Stegmüller, S. 75 ff. V gl. Elliott und Dorsch.
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Zumindest läßt sich festhalten, daß mit der Subkategorie typologische Intertextualität welliger gewonnen ist, als zunächst zu- vermuten war. Wie es um die referentielle Intertextualität steht, werde ich jetzt untersuchen.
3.3 Referentielle Intertextualität Der Ausdruck ,,referentielle Intertextualität" ist ein weiterer Pleonasmus, denn die Intertextualität eines Textes meint ja gerade, daß dieser Text auf einen oder mehrere andere Texte referiert. Schuld an diesem Ausdruck ist die unglückliche Dichotomie zwischen typologischer und referentieller Intertextualität. An dieser Stelle wäre Holthuis vorzuschlagen, diese Einteilung fallenzulassen und es beim Einheitstitel Intertextualität zu belassen. Hatte sich doch in der Beispielanalyse gezeigt, daß die Fälle der so genannten expliziten typologischen Intertextualität viel mehr mit referentieller Intertextualität zu tun hatten als mit der sogenannten impliziten typologischen Intertextualität, einer völlig überflüssigen Kategorie (s.o.). Mein Vorschlag wäre daher, den Fall, daß ein Text nicht auf identiflZierbare Einzeltexte, sondern explizit auf einen Texttyp referiert, als Sonderfall intertextueller Referenz zu behandeln. Damit wäre auch die Klage über Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen den beiden Grundtypen typologischer und referentieller Intertextualität überflüs. sig geworden, die Holthuis erhebt. 32 Unter dem Titel "referentielle Intertextualität" jedenfalls diskutiert die Autorin die in der literaturwissenschaftlichen Forschung ausführlich behandelten Phänomene von Beziehungen zwischen Texten, nämlich Zitat, Allusion und Paraphrase, wo bei sie. ein Begriffsinventar entwickelt, mit dessen Hilfe hier unterschiedliche Fälle auseinandergehalten werden sollen. Der Zentralbegriff in diesem Kontext ist der der Linearisierung. Dieser Begriff ist ganz wörtlich zu nehmen und bezeichnet die Wort- und Satzfolge in einem Text. Das Zitat ist nun dadurch charakterisiert, daß es den Referenztext (partiell oder total) linearisiert wiedergibt. Die Allusion dagegen gibt den Referenztext nicht-linearisiert wieder, d.h. die Referenz befmdet sich auf der semantischen und nicht auf der syntaktischen Ebene, obendrein bleibt sie implizit. Die Paraphrase wäre vielleicht als ein Mittelding zwischen Zitat und Allusion anzusehen: Zwar unterscheidet sie sich vom Zitat dadurch, daß der Gehalt des Referenztextes nicht -linearisiert, sondern komprimiert oder sonstwie restrukturiert wiedergegeben wird, doch dadurch daß die Referenz-
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Holthuis, S. 91.
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beziehung explizit gemacht wird, unterscheidet sich die Paraphrase auch von der Allusion. 33 Nun betont Holthuis zu Recht die Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen diesen drei Grundtypen referentieller Intertextualität. 34 Denn zum einen gibt es nicht bloß wörtliche, sondern auch modifizierte Zitate, zum anderen ,,markierte Allusionen"35. Wie schwierig Zuordnungen in diesem Grenzbereich sein können, zeigen folgende Beispiele: (1)
Eine Kapitelüberschrift in Thomas Manns Roman "Der Zauberberg" lautet: "Als Soldat und brav". Dabei handelt es sich um die Wiedergabe eines Verses aus Goethes "Faust 1'\ und zwar um die letzten Worte Valentins: Ich gehe durch den Todesschlaf zu Gott ein als Soldat und brav. Passend dazu schildert das Kapitel den Tod Joachims, des Vetters des Protagonisten Hans Castorp, der wie Valentin Soldat gewesen ist.
(2)
Ein Gedicht von Paul Celan lautet: Tübingen, Jänner Zur Blindheit überredete Augen. Thre - "ein Rätsel ist Reinentsprungenes" -, ihre Erinnerung an schwimmende Hölderlintürme, m9wenumschwirrt.
Die in Anführungszeichen gesetzten zwei Halbverse geben einen Versteil aus Hölderlins Ode "Der Rhein" wieder; obendrein kommen der Name des Dichters sowie Tübingen und der Hölderlin-Turm im Gedicht vor. Holthuis rechnet nun beide Beispiele zu den Fällen von Allusion, wo bei sie nicht recht deutlich machen kann, warum es sich hier nicht um partielle Zitate handeln sollte - etwa weil die Quellenangabe im Text fehlt? Schwierig ist auch die Abgrenzung dieser beiden Typen zum dritten, dem der Paraphrase. Was unterscheidet die Paraphrase von der markierten Allusion? Und was vom modifizierten Zitat?
33 Manche Autoren· behandeln jedoch Paraphrase und Allusion wegen der großen Abgrenzungsschwierigkeiten auch als synonyme Begriffe. V gl. Holthuis, S. 92.
34 a.a.O., S. 138 ff. 35 a.a.O., S. 128 f.
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Festzuhalten ist, daß diese Schwierigkeiten vor allem im Umgang mit literarischen Texten auftreten. Hier ist die Zuordnung von Intertextualitätsbeispielen zu den genannten Typen stets interpretationsabhängig und damit in gewisser Weise von der Willkür des Lesers abhängig. Daran ändert auch die elaboriertes te Nomenklatur nicht das geringste. In Gebrauchs- und Sachtexten dagegen tauchen solche Schwierigkeiten kaum auf. In wissenschaftlichen Texten wird man ohnehin bloß das wörtliche Zitat von der Paraphrase zu unterscheiden haben, während Allusionen nicht vorkommen. Als Ausnahme kann man ,literarisierende', d.h. mit rhetorischen Mitteln arbeitende Texte - etwa von Literaturwissenschaftlern oder Philosophen - ansehen.
3.4 Intertextualität und Interpretation N ach einem Exkurs über Intertextualität in literaturwissenschaftlichen Texten, dem ich für die Problemdiskussion nichts Wichtiges entnehmen kann, schließt Holthuis mit einem Kapitel über den Leser. Damit löst sie ein, was der Untertitel ihrer Arbeit versprochen hatte, nämlich die Konzeption am Rezipienten zu orientieren. Es fragt sich, ob die UntersuchuJ.?g anders ausgefallen wäre, wenn sie dieses Kapitel an den Anfang gestellt hätte. In der vorliegenden Fassung hat dieses Kapitel den Charakter einer Pflichtübung, in deren Verlauf die Autorin über weite Strecken die Formalismen und komplizierten Rezeptionsmodelle Petöfls reproduziert. 36 Die eigentliche Sprengkraft, die in einer wahrhaft rezeptionsorientierten Konzeption von Intertextualität liegt, bleibt somit weitgehend unbemerkt. Passagen wie die folgende haben keine Konsequenz für Holthuis' eigenes Konzept: Zu beachten ist in diesem Zusammenhang eine weitere Komplikation, die - • häufig übersehen - von besonderer Bedeutung ist: im allgemeinen wird nicht . Bezug genommen auf den Referenztext, sondern auf eine bestimmte Interpretation, also ein Deutungsmuster des Referenztextes, sowohl seitens des Lesers' als auch seitens des Autors?7 Was Holthuis hier harmlos "eine weitere Komplikation" nennt, ist in Wahrheit die Komplikation, mit der jede wissenschaftliche Konzeption von Intertextualität zu tun hat, ja von der sie vereitelt wird. Diese radikale These ist sicher erläuterungsbedürftig.
36 37
a.a.O., S. 182 ff. a.a.O., S. 215, Fußnote 50.
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Wir hatten oben gesehen, daß bereits die Klassiftkation eines Textes, d.h. seine Subsumption unter eine Textsorte, interpretationsabhängig ist. Das bereitet wie gesagt bei Sachtexten wenig Schwierigkeiten. Bei literarischen Texten dagegen liegt der Fall anders, weil die Interpretation hier einen anderen Charakter hat. Sie ist individuell und abhängig von Präsuppositionen, Kenntnisstand und Vorverständnis des jeweiligen Lesers. Dieses Phänomen ist bekannt unter dem Titel "hermeneutischer Zirkel" und wird von den wichtigsten Hermeneutikern - Schleiermacher , Dilthey, Heidegger und Gadamer - als Hauptunterscheidungsmerkmal zwischen Natur- und Geisteswissenschaften aufgefaßt. 38 Stegmüller unterzieht den Begriff in seinem Aufsatz einer scharfen Kritik und versucht zu zeigen, "daß in der üblichen Bezeichnung ,der Zirkel des Verstehens' nach meiner Überzeugung alles falsch ist".39 Insbesondere hat das gemeinte Phänomen seinen Au§führungen zufolge nichts mit einem Zirkel zu tun, Verstehen sei nicht bloß die Aufgabe des Geistes-, sondern ebenso des Naturwissenschaftlers, und eine Fundamentalunterscheidung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften sei daher nicht sinnvoll. Vielmehr müsse jede Geisteswissenschaft ebenso den Anforderungen strenger Wissenschaftlichkeit genügen wie die Naturwissenschaften. 40 Allerdings erkennt Stegmüller einen Unterschied zwischen Geistes- und Naturwissenschaften an: In den Naturwissenschaften ist es stets möglich, zwischen Fakten und Hintergrundwissen zu unterscheiden, in den Geisteswissenschaften nicht. 41 Als Beispiel nennt er hier die Klassiflkationsprobleme beim Gedicht Walthers, die ich oben bereits angeführt hatte: Handelt es sich bei diesem Text um eine Pastorelle oder nicht? Charakteristisch für solche Debatten ist ihre Unentscheidbarkeit. Es gibt kein allgemeines Kriterium, das es gestattete anzugeben, ob Wapnewski recht hat oder Hahn. Vielmehr liegt die Entscheidung beim individuellen Textverständnis, beim historischen Wissen und bei Wahrscheinlichkeitsannahmen des jeweiligen Lesers. Andererseits ist die KlassifIkation eines Textes und insbesondere eines literarischen Textes ein entscheidender Schritt im Prozeß seiner Interpretation. Merkwürdig ist, daß dieses fundamentale Dilemma jeder Geisteswissenschaft und allen voran der Literaturwissenschaft Stegmüller nicht weiter beunruhigt, so daß er am Ende seines Aufsatzes versichern kann: "Und daher
38 Vgl. neben 5tegmüller auch Gadamer:' Wahrheit und Methode, sowie ders.: Vom Zirkel des Verstehens.
39 Stegmüller, S. 64. 40 41
a.a.O., S. 66 ff. a.a.O., S. 85.
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haben auch die historischen Wissenschaften dieselben Überlebenschancen wie die Gesetzeswissenschaften. "42 Doch sollte man meinen, daß eine Wissenschaft, in der es prinzipiell nicht möglich ist, zwischen Fakten und .Hintergrundwissen zu unterscheiden, in ihrer Wissenschaftlichkeit eminent in Frage gestellt ist. Und dies ist für die Literaturwissenschaft in besonders hohem Maße der Fall, so daß hier die für jede Wissenschaft konstitutive Unterscheidung hinfallig wird. Es gibt keine speziftschen literaturwissenschaftlichen Fakten, sondern bloß literarische Texte und ihre einander zum Teil ausschließenden Interpretationen und Interpretationsparadigmen; deswegen kann auch von literaturwissenschaftlichem Hintergrundwissen nicht die Rede sein, zumal die Festlegung auf ein Interpretationsparadigma voneinander abweichende Interpretationen des gleichen Textes nicht ausschließt (vgL z.B. die verschiedenen psychoanalytischen Interpretationen von Goethes "Werther"). Diese Grundschwierigkeit des Unternehmens Literaturwissenschaft überhaupt schlägt zurück auf den literaturwissenschaftlichen Begriff der Intertextualität. Zwar hat der Begriff eine gewisse Plausibilität für jeden erfahrenen Leser, der in Texten Bezüge zu anderen Texten fmdet. Doch ist dieses ,,Finden" eine Kombination des Lesers, und es gibt kein intersubjektiv gültiges Kriterium dafür, ob diese Bezüge tatsächlich vorliegen. "Tatsächlich vorliegen" soll heißen, daß der Autor des Textes seinerseits diese Bezüge intendiert hat und will, daß der Leser den oder die Referenztexte bei der Deutung«" seines Textes mitberücksichtigt. Es läßt sich nicht verbindlich entscheiden, 1) ob überhaupt Intertextualität vorliegt, 2) welcher Typ von Intertextualität vorliegt (Zitat, Allusion, Paraphrase etc.), 3) welcher Art die Referenz ist, ob auf einen Einzeltext oder auf einen Texttyp. Der Grund für diese Schwierigkeit liegt darin, daß die Geisteswissenschaften es nicht mit Naturobjekten, sondern mit menschlichen Handlungen und deren Resultaten zu tun haben. Zumindest soweit es sich bei diesen Resultaten um Zeichen und Einheiten von Zeichen handelt, also z.B. Texte, und soweit Zeichen und Einheiten von Zeichen Kommunikationsmedien sind, ist es für den Umgang damit wesentlich zu ermitteln, mit welcher kommunikativen Absicht von Seiten ihres jeweiligen Urhebers sie angefertigt wurden. Absichten aber lassen sich nicht einfach feststellen oder beobachten, sondern sie werden dem Urheber zugeschrieben. Dies macht die Fundamentaldifferenz zwischen Geistes- und Naturwissenschaften aus, die Stegmüller nicht sieht. Damit steht der Geisteswissenschaftier dem Richter viel näher als dem N aturwissenschaftler, denn auch der Richter muß dem Angeklagten im Prozeß
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a.a.O., S. 86.
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der Fallentscheidung eine Absicht zuschreiben. Richter aber sind keine Wissenschaftler und können es nicht sein. Das Problem der Autorintention stellt sich dem Literaturwissenschaftier in besonders drastischer Weise, denn er hat im Gegensatz zu anderen Geisteswissenschaftlern kaum Vorgaben bei der Rekonstruktion der Autorintention. Ein Gesetzestext, ein Predigttext, ein Werbetext oder ein Drohbrief legen schon durch ihre Form die Ermittlung der Autorintention auf einen vorgegebenen Intentionstyp bzw. eine generische Intention fest (ein Gesetz geben, die Leerstelle für den Liturgieteil ,,Predigt" innerhalb des Gottesdienstes füllen, für den Kauf eines Produktes werben, jemandem drohen). Nicht so bei literarischen Texten,. die eben durch ihre kommunikative Offenheit gekennzeichnet sind und für die es in der Konsequenz weder ein richtiges noch ein falsches Verständnis gibt. Jede auf den ersten Blick noch so absurde Interpretation eines literarischen Textes läßt sich irgend wie rechtfertigen, und es liegt beim individuellen Urteil des Lesers, sie zu akzeptieren oder zurückzuweisen. Warum übersieht Holthuis diese Fundamentalschwierigkeit, obwohl sie ihre Konzeption von Intertextualität am Rezipienten orientiert? Ihre Bemühungen richten sich darauf, die nahezu unabsehbare Vielfalt mö glicher Rezeptionsweisen eines Textes auf eine überschaubare Anzahl zu reduzieren. So ist wohl ihre Redeweise von ,,Lesermodellen" zu verstehen, die in ihrer Arbeit Desiderat bleiben. 43 Sie unterscheidet dabei zwischen textzentrierten, autorzentrierten und leserzentrierten Lesermodellen. Mit "textzentriertem LeserprofIl" meint sie Typen textimmanenter Interpretationen (etwa der Staiger-Schule), mit "autorzentriertem LeserprofIl" am realen Autor orientierte Interpretationen (der positivistischen, aber neuerdings auch der psychoanalytischen Schule), während mit "leserzentrierten LeserprofIlen" semiotisch und kommunikationstheoretisch motivierte Interpretationen gemeint sind, in denen differenziert wird zwischen implizitem oder idealem und empirischem Leser, zwischen historischem und zeitgenössischem Leser, ferner zwischen naivem und Expertenleser etc. (Positionen Ecos, aber auch der Konstanzer Schule um Iser u.a.). Was auffällt an dieser Liste, ist ihr Verbleiben in der dritten Person. Es kommen alle möglichen Typen anderer Leser vor, aber nicht ich, das jeweilige Lesersubjekt. Das Lesersubjekt ist für Holthuis kein Problem, denn es soll in die hier aufgespannte Typologie passen. Daß Holthuis sich das Verstehen eines Textes im Grunde als schematisierbaren Vorgang denkt, verrät auch der Ausdruck "Textverarbeitung", den sie als Synonym für Textinter-
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Holthuis, S. 227 ff.
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pretation verwendet. Dieser Ausdruck entstammt, wie bekannt ist, der Compu tersprache. Er ist hier jedoch nicht metaphorisch gemeint, denn das Ziel des Konzepts von Intertextualität ist seine "Operationalisierbarkeit", d.h. sein Einsatz in einer schematisierten, formalisierten und damit automatisierbaren Interpretationspraxis. Allerdings steht das nicht bei Holthuis; es ist nachzulesen bei ihrem Lehrer Petöfi, dessen Text- und Interpretationsbegriff sie im Ganzen wie in den Details verpflichtet bleibt: Aufgrund der bisherigen Erfahrungen ist es wahrscheinlich, daß die Regelsysteme der NLiTeG so formuliert werden können, daß die Grammatik wie ein Automaton funktionieren wird. Dadurch kann die Intersubjektivität in der TeG-Komponente sichergestellt werden. 44 Und noch 1989 notiert Petöfi: Reader models are theoretically (and if possible also by means of a computer) simulated readers. 45 Davon distanziert sich Holthuis in einer für ihre Position charakteristischen Weise: Es bleibt daher noch ein frommer Wunsch, Simulationen von (intertextuellen) Lesern mit expliziten (intertextuellen) Wissensbeständen ausgestattet (gegebenenfalls computergesteuert) vorzunehmen [... ]. Daß dieses Objektivierungsdefizit damit auch dem Konzept rezeptionsorientierter Intertextualität zum Teil einen spekulativen Charakter zuweisen muß, sollte aner~ngs nicht dazu führen, den Anspruch auf Plausibilität aufzugeben und auf weitere Präzisionen zu verzichten, die Aufschluß geben können über das Verhältnis von Intertextualität und Bedeutungskonstitution. Insofern aber gerade der diesem Phänomen zugrundeliegende Charakter einer kreativ-assoziativen Interpretation gewahrt bleiben muß, will man das Konzept Intertextualität nicht, gewissermaßen durch die Hintertür, wieder ad absurdum führen, muß der Freiraum des Lesers, wie immer er auch simuliert werden soll, möglichst groß gehalten werden, soll er nicht zum "Lese-Computer" oder "reader robot" (petöfi) degenerieren, der diese Chance - trotz seines intertextuellen Speichers - wohl kaum zu schätzen wüßte. 46 Das ist nicht so weit von Petöfi entfernt, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Denn auch Petöfi ist nicht der Ansicht, daß sich Textinterpretationen
44 45
46
Petöfi; RieseT, S .57. Petöfi: Readers and reader models, S. 50. Holthuis, S. 233 f.
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vollständig automatisieren lassen; vielmehr schwebt ihm das Bild einer ,,man - machine interaction" vor, wobei der Computer das für die Interpretation erforderliche Textwissen und der Mensch das nötige Weltwissen beisteuern sollen. 47 Und Holthuis ihrerseits glaubt ja, daß es im Prinzip möglich sein müsse, eine Lesertypologie zu erstellen, die die maschinelle Simulation von Rezeptionsvarianten ermöglicht, auch wenn dies beim Stand der Forschung t' und Technik noch "ein frommer Wunsch" bleibe; ansonsten wäre nicht zu verstehen, wie sie das Fehlen einer solchen Typologie als "Objektivierungsdefizit" beklagen kann. Dem liegt die Vorstellung zugrunde, daß sowohl Texte als auch Leser beschreibbare und klassifIzierbare Objekte sind, die man wie in einer chemischen Versuchs anordnung miteinander reagieren lassen kann, worauf sich dann prognostizierbare Reaktionen ergeben. Prognostizierbar sind sie, weil die Zahl möglicher Rezeptionsweisen endlich ist. Nichts anderes meint die Rede der Autorin von der ,,intertextuellen Disposition eines Textes", die im Prozeß der Rezeption "die Bedeutungskonstitution steuert, wenn auch nicht vollständig bestimmt". Denn der intertextuellen Disposition des rezipierten Textes korrespondiert eine "spezifIsche Disposition des potentiellen Lesers".48 Sind die intertextuellen Textdispositionstypen und die Rezeptionstypen erst einmal in befriedigender Weise systematisiert und formalisiert, dann wird es keine Schwierigkeit mehr sein, intertextuelle Dispositionen bei Text und Leser einander zuzuordnen und damit intertextuelle Standardinterpretationen sowohl zu prognostizieren als auch maschinell zu simulieren. Daß es der Zweck von Text- und Interpretationsmodellen sei, Interpretationen nicht bloß zu erklären, sondern auch zu prognostizieren, hatte bereits 1974 PetöfIs Ko-Autor Rieser betont. 49 Das liegt ganz in der Linie des Programms der Verwissenschaftlichung der Literaturwissenschaft, das besonders prägnant von Siegfried J. Schmidt formuliert wurde. Schmidt betont, daß jede Wissenschaft, die diesen Namen zu Recht beansprucht, in der Lage sein muß, nicht nur Phänomene aus ihrem Gegenstandsbereich zu erklären, sondern darüber hinaus auch zu prognostizieren. So fordert er u.a. von der Literaturwissenschaft, sie müsse ,,Prognosen über die Möglichkeiten zukünftiger Entwicklungen der Literatur" erarbeiten können. 50
47 Petöfi; Rieser, S. 58. 48 Holthuis, S·. 180 f. 49 ,,[ ... ] es wurde versucht, Textgrammatiken als empirische Theorien aufzufassen, die sowohl zu Erklarungs- als auch zu Prognosezwecken verwendet werden können." 50
Rieser in Petöfi; Rieser, S. 24. Schmidt, S. 244.
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In dieser Tradition steht Holthuis. Und so hält sie zwar den individuellen Leser mit seiner ,,kreativ-assoziativen" Interpretationskompetenz für derzeit einem Computer überlegen, glaubt aber prinzipiell an die Formalisierbarkeit und damit Berechenbarkeit von intertextuellen Interpretationen. Woran liegt das? Es liegt am überzogenen Zutrauen in die Leistungsfähigkeit formaler Sprachen und Modelle, das sie mit Petöfi, Rieser und Schmidt teilt. Holthuis reklamiert für ihr Intertextualitätsmodell sowohl deduktiven als auch induktiven Charakter: Methodologische Konsequenzen, die sich aus der Modellbildung selbst ergeben, sind in der Forschung geläufig unter den Termini "deduktiver" und/oder "induktiver" Modellbildung. Im Interesse der Adäquatheit der festzulegenden Parameter und einer Orientierung an: texttheoretischen Konzepten, die u. a. mit abstrahierten, formalisierten Variablen operieren, ist die Vorgehensweise in dieser Hinsicht deduktiv. Sie ist aber gleichzeitig induktiv, insofern die zu entwickelnden Typologisierungskonstituenten bezogen und überprüft werden an Textbeispielen und den dort zu ermittelnden Bezügen und damit Rückkoppelungsmöglichkeiten gegeben sind, die an der einen oder anderen Stelle zur Modifizierung oder gar Revidierung der angenommenen Beschreibungsparameter führen können. 51 Nun ist die Rede von zugleich deduktiver und induktiver Modellbildung befremdlich, werden die Termini deduktiv und induktiv doch üblicherweise als N amen für einander ausschließende Verfahren wissenschaftlicher Systematisierung verstanden. Deduktiv ist ein Systematisierungsverfahren, das. aus angenommenen Grundbegriffen bzw. ersten Urteilen, die man Axiome nennt, nach gültigen Schlußregeln weitere Begriffe und Urteile ableitet. Solche Verfahren sind uns aus der Mathematik und der formalen Logik bekannt, aber ebenso aus der theoretischen Physik und Chemie. Dagegen gehen induktiv verfahrende Systematisierungen von Einzelphänomenen aus, über die man wahre Aussagen sammelt. Auf diesen ersten Konstatierungsschritt folgt der zweite, entscheidende Schritt der induktiven Verallgemeinerung, in dem die Aussagen über den Einzelfall auf alle gleichartigen Fälle übertragen werden. Induktiv gewonnene Systematiken kennen wir aus der experimentellen Physik, der Chemie, Biologie, Medizin, aber auch aus der Psychologie und Soziologie sowie aus den Wirtschaftswissenschaften. Der Nachteil induktiver Verfahren gegenüber deduktiven liegt in ihrer Unsicherheit. Es gibt keine vollständige Gewißheit darüber, ob das, was für den 51
Holthuis, S. 41.
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Einzelfall gilt, sich verallgemeinern läßt, da sich die Kriterien dafür, was gleichartige Fälle sind, nur schwer ermitteln lassen. Methoden der Statistik, wie sie in den genannten empirischen Wissenschaften üblich geworden sind, sollen dieser Unsicherheit dadurch abhelfen, daß eine hinreichende Menge vergleichbarer Falldaten gesammelt werden. Allerdings beheben Statistiken das genannte Problem nicht, sondern erweitern lediglich das Datenmaterial. Das Unsicherheitsproblem besteht in deduktiv gewonnenen Systematiken nicht, denn die getroffenen Aussagen gelten von vornherein für alle Gegenstände des Gegenstandsbereichs, und die Gültigkeit der logischen Schlußregeln, nach denen die Übergänge zwischen den Aussagen vollzogen werden, kann nicht sinnvoll bezweifelt werden. Der Nachteil von Deduktionen liegt in ihrer Leere. Die Schlußregeln erlauben lediglich die Umformung des Ausdrucks bei Bewahrung des Inhalts. Damit bleiben deduktiv begründete Aussagen tautologisch. Sie sind nicht informativ und damit ungeeignet für empirische Forschung. Es bleibt zu fragen, welche Voraussetzung Holthuis und Petöfi machen müssen, um behaupten zu können, ihre Text-und Intertextualitätstheorien seien sowohl deduktiv als auch induktiv. Immerhin reklamieren sie damit für sich, mit Hilfe ihrer Theorien Aussagen zu ermöglichen, die sowohl (für den Phänomenbereich Text) allgemeingültig als auch phänomengerecht, d.h. empirisch anwendbar sind. Sie unterstellen dem Gegenstandsbereich Text damit bestimmte Eigenschaften, die ihn für eine Kombination induktiver und deduktiver Systematisierung tauglich machen. Ich hatte bereits gesagt, daß deduktive Begründungs- und Beweisverfahren in der formalen Logik, der Mathematik und der theoretischen Physik Anwendung fmden, induktive in empirischen Wissenschaften wie Chemie, Biologie, Medizin und Psychologie etc. Nun gibt es jedoch auch in der Mathematik ein Begründungsverfahren, das man das Verfahren der vollständigen Induktion nennt. Auch hier wird von einem Einzelfall, einer einzelnen natürlichen Zahl, auf alle natürlichen Zahlen geschlossen. Warum ist ein induktives Verfahren in der Mathematik, dem Inbegriff der sicheren Wissenschaft, zulässig? Die vollständige Induktion bringt keinerlei Unsicherheit in die Struktur des Wissens über Zahlen. Denn der Schritt der induktiven Verallgemeinerung vollzieht sich in einem bereits zuvor bekannten Gegenstandsbereich. Wenn ich für eine natürliche Zahl bewiesen habe, daß sie genau eine natürliche Zahl zum Nachfolger hat, dann kann ich diese Eigenschaft getrost allen natürlichen Zahlen zuschreiben auf Grund der Eigenschaften, die ich von natürlichen Zahlen überhaupt kenne. Ich kenne die Eigenschaften natürlicher Zahlen, weil ich sie axiomatisch vorgegeben habe (etwa durch die Peano-
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Axiome). Eine Zahl, die diese Eigenschaften nicht aufweist, ist eben keine natürliche Zahl. "Die vollständige Induktion ist insofern keine ,echte' Induktion, als es sich dabei eigentlich um eine Deduktion handelt. Damit über einen Gegenstandsbereich sowohl auf induktivem als auch auf deduktivem Wege begründete Aussagen getroffen werden können, muß dieser Gegenstandsbereich so beschaffen sein wie der der natürlichen Zahlen. D.h. es muß sich um einen idealen Redebereich abstrakter Gegenstände, der bereits formalisiert und quantifIZiert ist, handeln. Nur in einem solchen, bereits normierten Redebereich können wahre Aussagen über Gegenstände des Redebereichs deduktiv hergeleitet werden. Nur in solchen idealisierten Redebereichen kann eine vollständige Induktion durchgeführt werden. Es ist leicht zu sehen, daß all diese Voraussetzungen für den Bereich der Texte nicht zu machen sind. Der Ausweg, den Petöfi und in seiner Nachfolge Holthuis wählen, ist der der Modellbildung. Man konstruiert, wenn der Bereich der realen Untersuchungsgegenstände zu groß oder nicht wohlgeformt ist, ein Modell dieses Gegenstandsbereiches, indem man von den wirklich vorliegenden Texten abstrahiert. Modellbildungen sind immer Idealisierungen. Solche Verfahren sind in den empirischen Wissenschaften gängig und bewährt; nur haben Modelle einen Nachteil: Sie bilden nicht die konkreten Gegenstände vollständig ab und sind deswegen nicht ohne Projektionsmechanismen auf sie anwendbar. Auch die Modelltheorie liefert also keinen Ausweg aus dem Nachteil deduktiver Verfahren. Im Gegenteil: Indem man einen Gegenstandsbereich modelltheoretisch idealisiert und dadurch deduktive Beweisverfahren ermö glicht, handelt man sich die Anwendungsschwierigkeiten für deduktiv gesicherte Wahrheiten ein. Solche Anwendungsschwierigkeiten kennen wir auch aus der angewandten Mathematik und Physik (es gibt ja kein Experiment, das die theoretisch berechneten Werte tatsächlich zu liefern imstande wäre). 52 Was Holthuis und Petöfi gemeinsam übersehen, ist eben diese Fundamentaldifferenz zwischen ,wohlgeformten', d.h. idealen oder abstrakten Gegenstandsbereichen einerseits und realen Gegenstandsbereichen andererseits. Sie haben offenbar die Vorstellung, daß der Gegenstandsbereich der Texte schon an sich strukturiert ist und diese Struktur vom Textlinguisten lediglich aufgefunden werden muß. Das meint wohl Holthuis' Rede, daß die deduktiv gewonnene Intertextualitätstaxonomie induktiv überprüft und gegebenenfalls korrigiert werden müsse. Daß keine Taxonomie jemals den Gegenstandsbereich der Texte vollständig geordnet abbilden und ,,Abgrenzungsschwierig52
Zu den Unterschieden zwischen idealen und realen Gegenständen und Gegenstandsbereichen vgl. Stekeler-Weithofer: Grundprobleme der Logik; sowie ders.: Sinnkriterien.
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keiten" vermeiden kann, das sieht Holthuis nicht. Der Grund dafür liegt darin, daß ihr der Unterschied zwischen idealen und realen Gegenständen und Gegenstandsbereichen nicht bekannt ist. Wenn eine Textsystematik und mit ihr eine Intertextualitätssystematik nicht zugleich deduktiv sauber und phänomengerecht sein kann, ist dann der Ausweg ein rein induktives Verfahren? Leider nein, denn auch der Begriff der Induktion ist nicht anwendbar auf die Beschäftigung mit Texten. Denn induktive Erkenntnis in den empirischen Wissenschaften ist gebunden an ein entsprechendes Experiment (bzw. eine Folge von Experimenten), das eine zuvor aufgestellte Hypothese das untersuchte Objekt betreffend bestätigen oder widerlegen soll. Im Experiment werden für die Fragestellung irrelevante Faktoren ausgeschaltet und der für die Fragestellung wichtige Umstandszusammenhang isoliert. Man nennt daher in Rückgriff auf eine Formulierung Bacons, des Vaters der induktiven Logik, Experimente auch "gezielte Fragen an die Natur". Gültigkeitskriterium des Ergebnisses ist die Wiederholbarkeit und damit Prüfbarkeit des Experiments. Von entscheidender Bedeutung dafür, daß ein Experiment überhaupt möglich ist, ist es, daß man zwischen Fakten und Hintergrundwissen unterscheiden kann (s.o.). Das Hintergrundwissen bestimmt die Hypothesenbildung, den Aufbau der Versuchsanordnung und die Auswertung des Experiments, die Fakten dagegen sind die im Experiment selbst gewonnenen Daten. Daß es nun in den Geisteswissenschaften und speziell in der Literaturwissenschaft nicht möglich ist, zwischen Fakten und Hintergrundwissen zu unterscheiden, hatte sich oben gezeigt. Entsprechend kann auch nicht davon gesprochen werden, daß ein Textwissenschaftler ein Experiment durchführen kann. Also hat er auch keine Fakten zur Verfügung, die er induktiv verallgemeinern könnte. Wer dann noch behauptet, es sei möglich, in der Literaturwissenschaft oder Textlinguistik induktiv zu verfahren, der drückt sich metaphorisch aus. Der Status der Wissenschaftlichkeit läßt sich für Literatur- und Textwissenschaften nicht dadurch sichern, daß sie dieselben Wörter verwenden wie Forscher in den empirischen Naturwissenschaften. Wenn aber Textwissenschaftler weder deduktiv noch induktiv schließen können, dann handelt es sich bei ihrer Tätigkeit womöglich gar nicht um Wissenschaft?
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4. Schluß: Noch einmal Kristeva Sind wir nun doch auf einem Umweg bei der Position Kristevas angelangt, die ja den Begriff der Intertextualität gegen jegliche wissenschaftliche Operationalisierung immunisiert? Muß man also, auch wenn man den Ideologieverdacht Kristevas gegen die Wissenschaften nicht teilt, nolens volens zugeben, daß die wissenschaftliche Erforschung intertextueller Bezüge unmöglich ist? Wenn man unter wissenschaftlicher Forschung die Ermittlung objektiver Wahrheiten, d.h. situations- und betrachterinvariant gültiger Aussagen über Gegenstände versteht, dann muß man die Frage bejahend beantworten. Texte sind keine Objekte, über die sich situations- und betrachterinvariant etwas sagen ließe, weil eben je ein Betrachter in einer spezifISchen Situation den Text erst zum Text macht. Übernimmt man also die Wissenschaftlichkeitskriterien der Mathematik, Logik oder der Naturwissenschaften, dann erübrigt sich das Projekt von Geisteswissenschaften im allgemeinen und von Literatur- und Textwissenschaften im besonderen und damit auch jeglicher Ansatz für Intertextualitätsforschung als unwissenschaftlich. Nun ist aber nicht jede in diesem Sinn unwissenschaftliche Rede zugleich unsinnig. Es könnte ja sein, daß es einen guten Sinn macht, sich professionell mit Literatur, mit Texten zu beschäftigen und daß die Bezeichnung Literaturwissenschaft als Name für diese Tätigkeit schlecht gewählt ist, weil sie den eigentlichen Sinn dieses Unternehmens verdeckt und falsche Erwartungen weckt. Es wäre also an der Zeit, sich auf den guten Sinn des Geschäfts der Interpretation von Texten zu besinnen, statt sich von außen Kriterien für Wissenschaftlichkeit vorgeben zu lassen und nach Wegen zu suc'hen, wie man ihnen genügen kann. Die Literaturwissenschaft wird nicht zur Wissenschaft, indem sie statistische Methoden zur Untersuchung von Leserverhalten entwickelt und sich dadurch in eine empirische Sozialwissenschaft verwandelt. Ebensowenig bedeutet aber die Erstellung eines Textsortenrasters einen Fortschritt in Richtung Wissenschaftlichkeit. Aufgabe von Literaturwissenschaft ist das Verstehen von literarischen Texten. Diese Aufgabe ist einerseits so wichtig, andererseits so schwierig, daß unsere abendländische Kultur einen Berufsstand ausgebildet hat, der sich professionell mit der Lektüre solcher Texte befaßt. Wichtig ist diese Aufgabe, weil wir unterstellen, daß diese Texte Einfluß auf unsere Kultur haben oder haben sollten. Schwierig ist sie aufgrund der Unbestimmtheit der kommunikativen Faktoren, die gerade das SpezifIkum literarischer Texte im Unterschied zu Gebrauchstexten ausmacht. 53 (Daß diese Offenheit des kommu53
Wenn Jakobson neben anderen kommunikativen Funktionen des sprachlichen Zeichens auch eine ästhetische Funktion veranschlagt, dann bleibt eben das eine
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nikativen Rahmens erst Bedingung der Möglichkeit dafür ist, daß literarische Texte für eine Kultur allgemein bedeutsam werden, muß vielleicht nicht eigens betont werden.) Das Verstehen eines Textes bedeutet, seine kommunikative Funktion zu bestimmen. Bei Gebrauchstexten fällt uns das in der Regel nicht schwer, denn hier sind kommunikative Standardsituationen und damit kommunikative Handlungsmuster vorgegeben und bekannt; und die Kenntnis solcher kulturell geprägter Muster ist notwendige Verstehensbedingung. Ein funktions gerechter Gebrauchstext wird hier durch konventionelle sprachliche Elemente die eindeutige Subsumption erleichtern (ein Brief durch die Anrede, ein wissenschaftlicher Text durch die Nennung des Themas im Titel etc.), denn schließlich ist ein Gebrauchstext, dessen Funktion sich nicht bestimmen läßt, zu nichts zu gebrauchen. Bei literarischen Texten verhält es sich grundlegend anders. Hier hat der Rezipient völlig freie Hand bei der Entscheidung, was er mit dem Text anfangt, d.h. welche kommunikative Funktion er ihm zuschreibt. Er ordnet dem Text eine Textsorte zu, und zwar je nach Kenntnissen und Lektüregewohnheiten. Doch damit ist die Bedeutung des Textes keineswegs bestimmt, wenn man darunter seine kommunikative Funktion versteht. Die literarischen Textsorten sind funktional offen. Ferner schreibt er also dem Autor des Textes eine individuelle Intention zu, eben weil die Textsortenzugehörigkeit noch keine kommunikative Standardintention festlegt. Dazu gehört, daß der Rezipient mögliche Adressaten konstruiert, ausgehend von seinen Vorkenntnissen, seinem Vorverständnis des Textes und Wahrscheinlichkeitsannahmen den Autor betreffend. Die Interpretation eines literarischen Textes bleibt damit immer subjektiv, und Interpretationen unterschiedlicher Rezipienten fallen unterschiedlich aus. Das aber ist gerade der Sinn literarischer Texte, sie sollen ja mir (dem jeweiligen Leser) etwas sagen, Bedeutung für mich haben und nicht für irgendwelche Standardleser. Es gibt weder die eine richtige Interpretation eines literarischen Textes, die dessen wahre Bedeutung ermittelt, noch eine vorab bestimmbare Anzahl möglicher richtiger Interpretationen. Vielmehr sollte man die Aufgabe der professionellen Leser, die sich LiteraturwissenschaftIer nennen, darin sehen, möglichst viele mögliche Interpretationen zu erstellen. Möglich ist eine Interpretation eines Textes, die kohärent (d.h. hier: nicht selbstwidersprüchlich) ist und dem interpretierten Text eine funktionale Leerstelle, die weiterer inhaltlicher Bestimmungen vollständig entbehrt, ganz im Gegensatz zu den übrigen von Jakobson benannten Funktionen. Das Gleiche läßt sich zur "ästhetischen Funktionalität" ,,kalogener Texte" in der Textsystematik Isenbergs und der "poetischen Funktion" "poetischer Texte" in der Terminologie Großes sagen.
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einheitliche, hierarchisierbare Bedeutungsstruktur zuweist. Daß eine Interpretation möglic"h ist, ist also eine interpretationsinteme Eigenschaft. 54 Der Bezug zum interpretierten Text mag dem Rezipienten der Interpretation zunächst ganz vage vorkommen. Gelingt es dem Rezipienten, den interpretierten Text mit Hilfe der Interpretation als sinnvolles Ganzes wahrzunehmen, dann ist diese Interpretation für ihn möglich. Über die Möglichkeit einer Interpretation entscheidet also der jeweilige Leser, genauso wie er aus den möglichen Interpretationen individuell die für ihn wirkliche wählt. Die Richtigkeit einer Interpretation ist bei diesem Vorgang bloß eine regulative Idee. Man kann das Amt des professionellen Lesers also darin sehen, möglichst viele voneinander abweichende Lesarten zu entwickeln als ebenso viele mögliche Zugangswege zu einem Text. Schließlich gibt es ja viele Texte der Literaturgeschichte, die uns ohne interpretatorische Hilfestellungen nichts mehr sagen (man denke etwa an die Artusepik oder an Gedichte der barocken Mystik). Solche Hilfestellungen können nun ganz unterschiedlich sein, und die Konstruktion eines geistesgeschichtlichen Zusammenhangs, d.h. die Einbettung eines Einzeltextes in eine kommunikative Situation (die Lyrik Klopstocks in den Literaturstreit zwischen Gottsched einerseits und Bodmer und Breitinger andererseits etwa) ist nur ein Weg von vielen. Eine Variante solcher kommunikativer Einbettungen ist nun die Erstellung intertextueller Beziehungen. Daß Intertextualität kein wissenschaftsfähiger Begriff im oben diskutierten Sinn ist, d.h. daß sich intertextuelle Bezüge in Texten so wenig wie irgendwelche anderen ,Texteigenschaften ' einfach konstatieren lassen (übrigens auch in Gebrauchstexten nicht, da Intertextualität außer im Fall des Zitats mit Quellenangabe oder der Paraphrase - nicht auf kommunikative Eindeutigkeit abzielt), macht es noch lange nicht gleichgültig, welchen Begriff von Intertextualität wir verwenden. Einen so weiten Begriff davon zu haben wie Kristeva ist gleichbedeutend damit, überhaupt keinen Begriff von Intertextualität zu haben, da Kultur, Textualität und Intertextualität dann Synonyme sind (s.o.). Demgegenüber ist ein klarer Intertextualitätsbegriff anzumahnen. Hier ist Holthuis zwar weiter vorgestoßen, doch ihr Konzept krankt an einer überflüssigen Dichotomie, wie wir gesehen hatten. Der pleonastische Terminus ,,referentielle Intertextualität" wird dann überflüssig, wenn man den Zwitter
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Selbst einander ausschließende Interpretationen können damit als mögliche nebeneinanderstehen (z.B.: "Der ,Zauberberg' ist ein Entwicklungsroman", neben: ,,Der ,Zauberberg' ist kein Entwicklungsroman"). Welche Interpretation ausgewählt wird oder ob beide zugleich verworfen werden, liegt in der Entscheidung des jeweiligen Rezipienten.
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"typologische Intertextualität" aus der Systematik entfernt. Stattdessen wäre folgende Systematik denkbar: 1. nach Quantität der zu berücksichtigenden Referenztexte (1 Text, mehrere Texte, 1 Texttyp, mehrere Texttypen); 2. nach Bewertung des Referenztextes im zu interpretierenden Text (affirmativ, kritisch, neutral); 3. nach Deutlichkeit der Referenz (Zitat, Paraphrase, Allusion); 4. nach Modalität der intertextuellen Beziehung (möglich, wirklich, notwendig).55 Intertextuelle Beziehungen lassen sich unter Verwendung aller vier Kategorien voneinander unterscheiden. Daß auch diese Systematik keine intersubjektiv verbindlichen Konstatierungen intertextueller Relationen zuläßt, sollte nicht länger beunruhigen, da es für die Tätigkeit des Interpretierens konstitutiv ist, daß Entscheidungen getroffen werden, die durch das Vorverständnis des Interpretierenden gesteuert werden. Eine schematische Bestimmung intertextueller Beziehungen ist weder möglich noch wünschenswert. Intertextuelle Kategorien wie die oben vorgeschlagenen können daher auch keine Schubladen sein, in die man intertextuell gelesene Texte oder Textpassagen einsortiert, sondern zunächst nichts weiter als Lesehilfen, Anregungen für den Leser, den stets subjektiven Eindruck von Intertextualität, der bei der Lektüre eines Textes entstanden ist, genauer zu benennen.
s. Verzeichnis der zitierten Literatur Bachtin, Michail M.: Die Ästhetik des Wortes. Hrsg. und eingel. von Rainer GrÜbel. Aus dem Russ. von Rainer Grübel und Sabine Reese. Frankfurt/M. 1979. Benjamin, Walter: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik In: Gesammelte Schriften. Bd. 1.1. S. 7-122. de Beaugrande, Robert Alain und Wolfgang Ulrich Dressler: Einführung in die Textlinguistik. Tübingen 1981.
55 Bloß möglich ist die intertextuelle Beziehung, wenn der potentielle Referenztext nicht genannt wird; dem Autor des zu interpretierenden Textes aber bekannt sein kann. Eine wirkliche intertextuelle Beziehung besteht, wenn der Referenztext tatsächlich genannt wird. Von notwendiger Intertextualität kann dann gesprochen werden, wenn der zu interpretierende Text ohne Hinzunahme eines oder mehrerer Referenztexte keinen Sinn ergibt.
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Kathrin Steyer (Mannheim)
Irgendwie hängt alles mit allem zusammen Grenzen und Möglichkeiten einer linguistischen Kategorie ,Intertextualität' 1. 2. 3. 4. 4.1 4.2 4.3 5. 6.
Vorbemerkung Brauchen Linguisten das Konzept ,Intertextualität'? Referentielle Muster Analyseperspektiven Einzeltextperspektiv~
Synchrone Perspektive Diachrone Perspektive Fazit Verzeichnis der zitierten Literatur
1. Vorbemerkung
Ein Terminus ist im. Begriff, sich selbst aufzulösen. Kodewörter wie ,intertextuell' oder ,diskursiv' helfen immer dann aus linguistischen Erklärungsnöten, wenn sprachliche Phänomene schwer aus dem Nebel globaler Zusammenhänge herauszuftitern sind. Holthuis vertritt in bezug auf den Terminus ,Intertextualität' die Auffassung, "daß es mittlerweile schwerfällt, sich seines begrifflichen Gehalts noch zu vergewissern." (1993, S.I) Sie sieht diese Gefahr sogar schon für die eigentliche ,Intertextualitätsdisziplin' Literaturwissenschaft; wie ungleich größer scheint das Dilemma zu sein, vor dem Linguisten stehen. Mit dem Konzept der ,Intertextualität' haben sie eine Kategorie adaptiert, die nicht aus ihrem genuinen Gegenstandsbereich erwachsen ist, sondern in anderen wissenschaftlichen Kontexten mit anderen analytischen Instrumentarien und anderen Erklärungshintergründen entwickelt wurde (vgl. dazu BroichlPftster ·1985, Plett 1991, Posner 1992, Holthuis 1993). Deshalb mehren sich die Stimmen, die eine Rückbesinnung auf den spezifISch sprachwissenschaftlichen Kern dieser Kategorie anmahnen (vgl. auch W. Heinemann in diesem Band). \ Der folgende Beitrag soll in diesem Sinn verstanden werden. Er diskutiert zunächst, inwieweit die schillernde Kategorie für eine eng an sprachlichen Strukturen und Funktionen orientierte Analyse überhaupt brauchbar ist. Auf der Grundlage einer Unterscheidung zwischen ,enzyklopädischer Intertextualität' und ,sprachproduktbezogener Intertextualität' wird die Auffassung vertreten, daß der Kernbereich sprachwissenschaftlichen Interesses im zwei-
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ten Aspekt von Intertextualität, den Referenzen auf Versprachlichtes, liegen sollte. Nach der Darstellung relevanter referentieller Muster wird ein Modell vorgeschlagen, wie explizite sprachliche Bezugnahmestrukturen zu erfassen sind. Schließlich wird zu zeigen sein, welche sprachlichen Mechanismen mit Hilfe eines solchen Beschreibungsmodells transparent gemacht werden können. Die Ausführungen sind gleichzeitig zu verstehen als ein möglicher Ansatz für eine - bereits von einigen Autoren geforderte - Theorie des Zitierens (vgl. u.a. Posner 1992) bzw. eine Theorie der Übernahmehandlungen (vgl. Jakobs 1993) als Kernstück sprachlicher Intertextualitätsforschung. 1 Zur besseren Veranschaulichung werden die Prämissen anband eines ausgewählten Kommunikationsbereichs, des öffentlichen Sprachgebrauchs, diskutiert. Die beschriebenen Methoden und Erkenntnisse können jedoch als prototypisch für andere Kommunikationsformen gelten. Der öffentliche Sprachgebrauch konstituiert sich nur auf besonders augenfällige Weise über ein vielgestaltiges Gefüge von Relationen zwischen Äußerungen, die verschiedene Sprecher in verschiedenen Kontexten zu verschiedenen Zeiten produzieren und rezipieren. Die Relevanz intertextueller Vemetzungen in diesem Bereich ist auf strukturelle, außersprachliche Ursachen zurückzuführen. Sarcinelli stellt bezugnehmend auf die Luhmannsche Theorie von der Selbstreferenz der Systeme dazu folgendes fest: Danach bewegen sich Medien, wie etwa auch das Teilsystem Politik, jeweils in ihrer eigenen Welt. Sie beziehen sich immer mehr auf sich selbst, gewinnen ihre Themen aus der Beobachtung wiederum der Medien. Und so wird auch das massenmedial vermittelte politische Geschehen mehr und mehr ein Gemisch aus realem Geschehen, politischer Inszenierung, medialer Beobachtung und wiederum medialer Beobachtung des medial Beobachteten. (Sarcinelli 1996, S. 45) Unter diesem Aspekt erlangt das Problem ,Intertextualität' in der Tat eine neue Dimension. Die einzelnen Beispiele dieses Beitrages stammen aus einem Korpus, das einen relevanten Referenztext (Regierungserklärung des neuen DDR-Ministerpräsidenten Lothar de Maiziere nach der Volkskammerwahl am 19. April 1990) und ca. 80 diese Erklärung verarbeitende Medientexte enthält, sowie aus dem IDS-Korpus mit Texten zu ,Wende' und ,Vereinigung' 1989-1992. 2
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Jakobs erhebt die Forderung nach "einer systematischen Beschreibung der Übernahmehandlung Zitieren, ihrer Typen und Muster [ ... ], die u.a. eine Inventarisierung und Beschreibung entsprechender Marker zu leisten hätte." (1993, S. 385). Zu einer detaillierten Beschreibung der Korpora vgl. HerbergIStickel 1992; Steyer 1997.
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2. Brauchen Linguisten das Konzept ,Intertextualität'? Seit de Beaugrande/Dressler (vgl. 1981) Intertextualität als ein Kriterium für Textualität postuliert haben, fmdet sich diese Komponente auch verstärkt in der linguistischen Literatur, vor allem auf dem Gebiet der Text- und Gesprächsanalyse, wieder. De Beaugrande/Dressler haben einen Rahmen für sprachliche Intertextualität vorgegeben, der bis heute fast alle Untersuchungen und Analysen bestimmt: Intertextualität bilde die Abhängigkeiten zwischen Produktion bzw. Rezeption eines gegebenen Textes und dem Wissen der Kommunikationsteilnehmer über andere Texte ab (S. 188). Sie thematisieren im Grunde jenes Problem, vor dem jeder Linguist steht, wenn er sich mit komplexeren Strukturen als mit isolierten Sätzen beschäftigt: Äußerungsakte werden nicht beziehungslos produziert und rezipiert. Die Textproduktion und -rezeption korreliert vielmehr stets mit Vorwissen und mit der Welt der mit ihnen in Beziehung stehenden Texte. Ein Ausdruck/ein Text entsteht auf der Basis außersprachlicher Vorgeschichten und Hintergründe bzw. innersprachlicher Prästrukturen. Er konstituiert sich in vielen Fällen über modiftzierende und interpretierende Wiederaufnahmen und Weiterverarbeitungen von bereits. produzierten lexikalischen Einheiten und Ausdrükken, von Themen und Argumenten, Formulierungs- und Textmustern usw. Genau in diesem Sinne wird er auch rezipiert. Schließlich kann Kommunikation nur funktionieren, wenn über den einzelnen Kommunikationsakt hinausgehende Wiederaufnahmestrukturen entstehen, die irgend wann in den ko gnitiven Bestand einer Sprachgemeinschaft übergehen und dann das Potential gemeinsam verfügbarer Kodes und Kenntnisse bilden. Entwickelt man diesen Gedankengang fort, gelangt man schließlich zum kritischen Punkt, nämlich zu der Erkenntnis, daß sich in der Tat jede Äußerung und jeder Text auf andere beziehen, daß alles miteinander zusammenhängt. Spätestens jetzt stellt sich wissenschaftliche Hilflosigkeit ein ... Dennoch kann man versuchen, einen linguistischen Ausweg zu fmden. Einige prinzipielle Prämissen müssen jedoch dafür ins Gedächtnis gerufen werden bzw. sind für unsere Zwecke zu präzisieren: Grundsätzlich ist zwischen Referenzen auf die Welt des Wissens auf der einen Seite und Referenzen auf die Welt anderer - real produzierter - Äußerungen und Texte auf der anderen Seite zu unterscheiden, d.h. zwischen einer ,enzyklopädischen Intertextualität'3 und einer ,sprachproduktbezogenen Intertextualität'. Broichl PfISter bieten die Dichotomie ,Systemreferenz' und ,Einzeltextreferenz' an (1985, S. 48ft.). Auch Holthuis nimmt eine ähnliche Einteilung vor: Texte 3
Den Terminus ,enzyklopädisch' verwende ich in Anlehnung an Viehweger, der von enzyklopädischem Wissen als einem der drei Wissenssysteme spricht (1987, S. 332).
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könnten sich 1. auf außersprachliche Objekte, Sachverhalte oder Sachverhaltskonfigurationen, 2. auf verbale Objekte und/oder 3. auf Objekte anderer semiotischer Systeme beziehen (1993, S. 43f.). Der zweite Aspekt, die Referenz auf verbale Objekte, die sprachproduktbezo gene IntertextuaIität also, muß als Kernbereich für einen linguistischen Zugang angesehen werden. Diese Eingrenzung stellt keineswegs eine pragmatische Konzentration auf ,nur eine Seite der Medaille' dar, sondern sie ist von grundsätzlicher Natur. Stellen wir uns die Frage nach Sinn und Zweck einer sprachwissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Intertext, ist ein enger Intertextualitätsbegriff unabdingbar\ der impliziert, daß eine analytische Beschreibung auch ohne Instrumentarien der Psychologie, kognitivistischer Theorien oder gar der Literaturwissenschaft geleistet werden kann. 5 Sprachproduktbezogene Referenzen, die über den einzelnen Text hinausgehen, müssen somit primär im Analysefokus sprachwissenschaftlicher Intertextualitätsforschung stehen.
3. Referentielle Muster Zunächst geht es um eine genauere Bestimmung möglicher Relationen zwischen Referenzsubjekten X, denjenigen sprachlichen Entitäten, mit denen Sprecher auf etwas Bezug nehmen und Referenzobjekten Y, denjenigen sprachlichen Entitäten, auf die Sprecher Bezug nehmen. X und Y können sprachliche Einheiten ganz unterschiedlicher Komplexität sein, von einer lexikalischen Schlüsseleinheit über Syntagmen, satzwertige Einheiten und komplexe Ausdrucksfolgen bis zu Texten in ihrer Ganzheit. Einheiten unterhalb der Textebene lassen sich als ,Ausdruck' zusammenfassen. 6 Das grundlegende Referenzmuster sieht folgendermaßen aus: Referenzsubjekt X X 4
5
6
------------ > bezieht sich auf
Referenzobjekt Y Y
Broich/Pfister definieren auch für die Literaturwissenschaft Kern- und Randbereiche von Intertextualität. Zum Kernbereich gehört für sie die bewußte, intendierte und markierte Intertextualität (1985, S. 25ff.). Das bedeutet nicht, daß diese Richtungen nicht wesentliche Erkenntnisse liefern können. Instruktive Einblicke über Schnittstellen verschiedener Disziplinen geben u.a. Broich/Pfister 1985, Po sn er 1992, Holthuis 1993. Unter Ausdruck wird mit Bußmann "eine unklassifizierte sprachliche Einheit von beliebiger Länge" verstanden. Er kann also Wörter, Wortfolgen, Sätze und Satzfolgen beinhalten. Der Terminus besitzt eine andere Qualität als der Terminus ,Äußerung', der im Sinne einer kommunikativen Handlung angewendet wird (1990, S. 111).
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Diese Grundrelation kann spezifIziert werden in folgende Relationen zwischen den Ausdrücken Ax (Ausdruck, der auf andere Objekte Bezug nimmt), Ay (Ausdruck, auf den Bezug genommen wird) und den Texten T x (Text, der auf andere Objekte Bezug nimmt) bzw. T y (Text, auf den Bezug genommen wird):7 a) Ausdruck X Axin Tx b) Text X Tx c) Ausdruck X Axin T x d) Text X Tx
------------> bezieht sich auf
------------> bezieht sich auf
------------> bezieht sich auf
Ausdruck Y A y in T y Ausdruck Y Ayin T y TextY Ty
----------->
TextY bezieht sich auf Ty
Die Bezugnahme auf einzelne Ausdrücke in a) und b), zumeist in Form wiedergegebener Rede, ist alltägliche Praxis und konstitutiv für jede Form von Kommunikation. Wie alltäglich diese Ausdrucksreferenzen sind, wird schon daran deutlich, daß Sprechern solche Wiederaufnahmen oft nicht mehr bewußt sind und von ihnen zumeist nur dann thematisiert werden, wenn kommunikative Mißverständnisse entstehen bzw. sie sich inadäquat zitiert fühlen. Für alle Ausdrucksreferenzen, bei denen ein explizites Bezugsobjekt - welcher Komplexitätsstufe auch immer - rekonstruierbar ist, wird der Terminus ,Reformulierung , vorgeschlagen. Er scheint deswegen geeignet, weil er die Erfassung eines größeren Bereichs von Übernahmen ermöglicht als beispielsweise ,Redewiedergabe'; ,Zitierung' u.ä. Unter ,Reformulierung' lassen sich ebenso komprimierende und berichtende Wiedergaben subsumieren, die zwar als Referenz gekennzeichnet sind und Originalelemente verwenden, jedoch keine explizite Redewiedergabestruktur aufweisen (vgl. 3.l.). Der Terminus wird in Anlehnung an Gülich/Kotschi (1987) verwendet. Es handelt sich um Referenzbeziehungen zwischen einem Bezugsobjekt, dem Plett nimmt folgende Unterscheidung für' eine syntagmatische Intertextualität in bezug auf literarische Texte vor, bei der er allerdings den Text als relationale Grundeinheit betrachtet: Er unterscheidet die Relationen 1. ,,(1) one text -> one text [, .. ] (2) one text -> many texts [... ] (3) many texts -> one text [... ] (4) many texts -> many texts [... ]." (1991, S. 23/24)
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Bezugsausdruck, und einem Referenzsubjekt, dem Reformulierungsausdruck. Über den Face-to-Face-Ansatz bei Gülich/Kotschi hinausgehend, die mit Reformulierungen vorrangig textinterne Bezugnahmen auf andere Ausdrücke meinen, werden Reformulierungen in einem Intertextualitätskontext auch als Referenzphänomene zwischen zeitlich und räumlich getrennten Kommunikationssituationen behandelt. Für öffentliche Kommunikation und ihre mediale Vermittlung sind Wiederaufnahmen einzelner Ausdrücke geradezu konstitutiv. Ein Großteil ,öffentlicher Rede' wird darüber geführt, was andere gesagt haben. Inzwischen ist das ,Reden über einen Sachverhalt' oder gar das ,Reden über Reden' der politische Sachverhalt selbst, über den seinerseits berichtet und der entsprechend verhandelt wird, was dazu führen kann, daß diese Meta-Welt oft genug für die reale gehalten wird. Zu a) Die Relation zwischen zwei Ausdrücken X und Y kann als elementare Beziehung angesehen werden. Ein Sprecher reformuliert einen Ausdruck eines anderen Sprechers, verknüpft ihn mit eigenen Ausdrücken und stellt damit einen intertextuellen Zusammenhang her. Wichtig ist dabei, daß hier nicht nur zwei sprachliche Zeichenfolgen miteinander in Beziehung gesetzt werden, sondern die jeweiligen strukturellen und illokutiven Eigenschaften sowie die kontextuellen Einbettungen der Äußerungen. Dabei kann unter bestimmten Bedingungen bereits die Wiederaufnahme einer lexikalischen Einheit eine solche intertextuelle Referenz darstellen, nämlich dann, wenn es sich nicht um eine x-beliebige handelt, sondern um eine zentrale, häufig thematisierte Einheit, mit der prägnante Konnotationen verbunden sind. So haben sich beispielsweise durch die hohe Verwendungsfrequenz der lexikalischen -Einheit ,Identität' im Diskurs zur deutschen Vereinigung ganze Interpretations- und Bewertungsnetze konstituiert (vgl. Fraas 1996). Es gibt auch einzelne Fügungen, die eine wahre Zitierkarriere erleben. Erinnert sei hier nur an Schlüsseleinheiten wie die blühenden Landschaften im Osten, der Freizeitpark Deutschland oder Standort Deutschland. Sehr häufig treten auch Referenzen auf satzwertige Ausdrücke auf. Solche Sätze wie Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben oder Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört sind auf Grund ihrer Wiederaufnahmefrequenz geradezu klassische Redewendungen geworden (vgl. dazu Steyer 1994). In geringerem Maße werden Satzfolgen bzw. Textabschnitte als Referenzobjekte übernommen, modifiziert und weiterverarbeitet. Charakteristisch für alle referentiellen Relationen diesen Typs ist, daß die Originalumgebung des Ausdrucks, auf den referiert wird, in den seltensten Fällen übernommen wird. Das bedeutet, daß die Texte, in denen der Ausdruck bzw. seine Wiedergabe vorkommen, schon miteinander in Beziehung stehen, die Textwelt des Referenzobjekts aber nicht unbedingt in
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die Wiedergabe einfließt. Auf die Genese einer Schlüsselfügung und die damit verbundene intertextuelle Kontinuität bzw. Diskontinuität wird in 4.3. noch einmal zurückzukommen sein. Zu b) Eine weitere Relation ist die Bezugnahme eines Textes auf einen Ausdruck. Sie ist besonders bei interpretierenden Texten zu fmden, beispielsweise in Schüleraufsätzen oder literarischen Abhandlungen zu einem Zitat oder auch in Kommentaren zu markanten Aussprüchen von Politikern oder anderen Vertretern der Öffentlichkeit. . Neben Wiedergaben, die einzelne Ausdrücke aus verschiedenen Kommunikationssituationen in einen intertextuellen Zusammenhang stellen, konstituiert sich ein solcher auch, wenn ganze Texte zu Bezugsobjekten werden. Zu c) Die Relation, bei der Ausdruck X auf Text Y referiert, ist vor allem in Form von Hinweisen darauf zu verstehen, daß sich der Sprecher auf einen anderen Text bezieht, z.B. bei Verweisen auf andere Arbeiten in wissenschaftlichen Fachtexten. Zu d) Von einer Text-Text-Relation (Tx bezieht sich auf T y ) ist dann zu sprechen, wenn ein Text T y in einen Text T x transformiert wird. In den wiedergebenden Texten sind Struktur und Funktionen des Bezugstextes 8 in sei.,. nen relevanten Teilen noch rekonstruierbar, d.h. der referierende Sprecher läßt sich in seiner Textproduktion noch eng vom Referenzobjekt leiten. T x und T y stehen in einem primären intertextuellen Zusamnienhang. Diese Texttransformationen spielen in vielen Kommunikationsbereichen eine Rolle, so bei Übersetzungen, literarischen Textinterpretationen,. bei Textüberarbeitungen usw. Hier kann man von ,Intertextualität' im eigentlichen Sinne sprechen. 9 Bestimmte Texte sind auf Grund ihrer Struktur, ihrer dominierenden Textillokution und ihres Status im Gefüge vieler Texte geradezu dafür bestimmt, bevorzugte Referenzobjekte zu werden. Sie sind quasi ,gesetzte Bezugstexte' (z.B. Gerichtsurteile, Gesetzestexte, Protokolle, offIzielle Papiere in der Behördenhierarchie und Reden von Politikern wie Regierungserklärungen, Erklärungen im Parlament) und lösen - als gesamte Einheit verarbeitet und wiedergegeben - eine Kette interpretierender Texte aus. Im öffentlichen Diskurs kann man bei diesen Wiederaufnahmestrukturen schon von Mustern sprechen, die sich in immer wiederkehrender Weise konstituieren und durch
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Durch die Bezeichnung ,Bezugstext' für jenen Text Y, auf den sich andere beziehen, soll der Terminus 'Originaltext' vermieden werden, da dieser einer intertextuellen Sicht an sich eigentlich widerspricht. Auch dieser Text wird in bezug auf andere produziert. Damit ist auch T y keine statische Größe, sondern eher eine analytische Momentaufnahme. Vgl. dazu auch ,Textwiedergabetexte' bei Antos (1982, S. 58) und die ,Paraphrasierung von Texten' bei Michel (1991, S. 203ff.)
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die sich inzwisc~en auch ganz spezifISche ,Subtextsorten' (z.B. ,Redeberichte', ,Redekommentare' bzw. ,Redenachrichten') etabliert haben: Berichte über den Bezugstext (Redeberichte) Kommentare zum Bezugstext (Redekommentare) Originalauszüge - Nachrichten über Politikerstatements zum Bezugstext (Redenachrichten) - Hintergrundartikel Am Beispiel ,Sprachliche Verarbeitung einer Regierungserklärung' sollen intertextuelle Vernetzungen von Äußerungen und die damit verbundenen Interpretations- und Bewertungsangebote kurz skizziert werden: Bereits im Vorfeld dieses Ereignisses verhandeln Sprecher in der Öffentlichkeit aktuelle Themen und Argumente, auf die in solchen Grundsatzerklärungen ausführlich Bezug genommen wird. Der Bezugstext ,Regierungserklärung' hat also seinerseits eine textuelle Vorgeschichte. Die Reaktionen auf den Bezugstext ,Regierungserklärung' sind ihrerseits auf zwei Ebenen angesiedelt, der Ebene des Politikerdiskurses und der Ebene der kommentierenden Medien, wobei die Reaktionen der Politiker wiederum auch medial verbreitet werden. Die Vertreter der Politik beziehen sich in der Regel in zweifacher Hinsicht auf den Bezugstext, zum einen durch unmittelbare - oft explizit bewertende Statements zur Regierungserklärung in den Medien und zum anderen während der Parlaments debatte zur Regierungserklärung. In dieser Debatte reformulieren sie Bezugsausdrücke, tim· ihre eigenen Einstellungen zum Bezugstext .deutlich zu machen. Die medialen Nachtexte referieren s0'Y0hl auf den Bezugstext als auch auf die Politikerstatements, das heißt, sie präsentieren nicht nur das, was im Bezugstext formuliert wird, sondern auch das, was andere Sprecher (Politiker) ihrerseits aus dem Bezugstext reformuliert haben. Die Redeberichte der Zeitungen über den Bezugstext sind Wiedergabetexte, die genau das abbilden, was Texttransformation von T y in Tx genannt wurde. Sie bestehen fast ausschließlich aus Wiedergabeausdrücken. Die mit den Redeberichten gekoppelten Kommentare - zumeist enthält der Redebericht bereits einen entsprechenden Verweis - stellen eine nächste Bezugsebene dar. Die in diesen kommentierenden Texten verwendeten Reformulierungsausdrücke konstituieren jedoch nicht mehr den Textsinn an sich, sondern fungieren als Stützargumente für die eigene, jetzt explizit gemachte Bewertung sowohl des Inhalts des Bezugstextes als auch der kommunikativen Rolle des Bezugsredners. Eine weitere Referenzebene bilden die MeldungenIN achrichten, die über die Statements der Politiker zum Bezugstext informieren. Ein Beleg aus dem bereits erwähnten De-Maiziere-Korpus soll die mehrdimensionale Vemetzung dieser Wiedergaben andeuten:
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Der stellvertretende SPD-Vorsitzende Lafontaine hob hervor, daß die DDRRegierung die Interessen ihrer Bürger entschieden und mit dem. Bemühen um soziale Gerechtigkeit vertreten wolle. Der Hinweis von de Maiziere, sich auch in Zukunft die Zeit zum verantwortlichen Nachdenken nicht nehmen zu lassen, spreche für das Interesse an einem soliden und tragfähigen Prozeß. ("Frankfurter Allgemeine", 20.4.1990, S. 2)
- De Maiziere äußert p. - Lafontaine äußert, daß de Maiziere p geäußert hat. - F AZ äußert, daß Lafontaine geäußert hat, daß de Maiziere p geäußert hat. Noch komplexere Vernetzungen weisen die Parlaments berichte und ihre entsprechenden Kommentare auf. Die schon erwähnten Debattenreden zur Regierungserklärung werden selbst wieder zu Bezugstexten für weitere Reformulierungen in Zeitungsberichten über die Parlaments debatte zur Regierungserklärung und in Kommentaren zur Debatte zur Regierungserklärung. Hier zeigt sich die Relativität einer Einteilung in Referenzobjekt und Referenzsubjekt: Auch Referenzsubjekte können wiederum zu Bezugnahmeobjekten werden und umgekehrt. Der Berichterstatter reformuliert Politikeräußerungen aus der Debatte; einige dieser Äußerungen sind ihrerseits aber Reformulierungen des Bezugstextes; der Berichterstatter reformuliert somit gleichzeitig eingebettet in die Politikeräußerung auch Elemente des ursprünglichen Bezugstextes der Regierungserklärung.
4. Analyseperspektiven Bisher sind die prinzipiellen Möglichkeiten von sprachproduktbezogener Intertextualität als Referenz zwischen Ausdrücken und/oder Texten erörtert worden. Nun müssen wir uns jedoch ganz zwangsläufig fragen, inwieweit diese referentiellen Muster sprachliche Erscheinungen und inwieweit solche komplexen Strukturen überhaupt sprachanalytisch faßbar sind. Posner formuliert das Problem folgendermaßen: Um seine Brauchbarkeit (des Intertextbegriffs, K.S.) zu sich~rn, ist die Frage nach seiner Operationalisierung zu stellen: Wie läßt sich die Intertextualität eines gegebenen Textes nachweisen? (1992, S. 3) Dazu ist es notwendig, zwischen interpretierter Intertextualität und präsentierter Intertextualität zu unterscheiden. Was bedeutet dies? Produzenten und Rezipienten formulieren und erfassen Einzeläußerungen und Einzeltexte in je aktuellen Kommunikationssituationen, die - Face-to-Face-Situationen
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ausgenommen - .räumlich und zeitlich getrennt sind. Der Produzent stellt dabei seinen Text, wie gesagt, auf der Grundlage von Vorwissen und in Kenntnis anderer Texte her. Er muß dies aber zum einen nicht intentional geleitet tun (also bewußt andere Texte verarbeiten) und zum anderen diese Referenzen nicht immer kennzeichnen. Der Rezipient setzt seinerseits das Rezipierte mit eigenem Vorwissen und mit einer bestimmten Vortextwelt in Beziehung. Er muß jedoch nicht unbedingt dieselben Kontextuierungen und Inferenzen vornehmen wie der Produzent. Anhand bestimmter impliziter und/oder expliziter Signale kann es sich dem Rezipienten quasi andeuten, daß der Produzent noch andere kognitive bzw. textuelle Referenzen außerhalb dieser aktuellen Kommunikationssituation hergestellt hat. Dabei handelt es sich aber um fakultative Prozesse, die nicht unwesentlich von der Expliziertheit der Markierung einer Bezugnahme abhängen. Aus der Einsicht, daß eine im einzelnen Text angelegte Referenz nicht zwingend auch adäquat rekonstruierbar ist, ergibt sich folgendes: Intertextualität hat keinen statischen Wert, sondern bildet dynamische Prozesse ab. Oder anders gesagt: Eine bestimmte Menge von Sprachausdrücken und Texten steht nicht per se in einem Zusammenhang, intertextuelle Relationen bestehen nicht an sich. 10 Intertextualität verkörpert in erster Instanz also eine Zuschreibungsqualität, das heißt, ein Hörer/Leser kann sprachlichen Entitäten die Qualität zuschreiben, mit anderen in Beziehung zu stehen, er muß es aber nicht. Ein Rezipient kann eigenes ,Vergangenheitswissen' aktualisieren; dies muß aber nicht identisch mit dem des Sprechers/Schreibers sein. Nimmt ein Rezipient diese intertextuelle Zuordnung vor, muß er dann wiederum noch nicht erkennen, inwieweit die ursprüngliche kognitive und textuelle Welt in der aktuellen ,fortlebt'. Veriftzierbar sind solche Referenzen eigentlich nur partiell, nälnIich nur insoweit, als bestimmte Spuren im Text eine Bezugnahme indizieren können und in gewissen Maß thematisieren. Der einfachste Fall ist derart, daß ein Sprecher sagt: [',Hiermit beziehe ich mich auf etwas bzw. auf jemanden"]. Das ist eine explizit gemachte intertextuelle Relation. Die meisten sind nicht so einfach bestimmbar. Wenn ein Rezipient, sei es als Laie oder als Fachmann, in einem Text eine Referenz zu einem anderen einfach nur vermeint zu erkennen oder sie auch nur erahnt, kann diese Referenz natürlich auch realiter existieren, aber sie muß es nicht. In der Alltagskommunikation bleibt die Mehrzahl dieser intertextuellen Zuordnungen vage, da sich Kommunikationstellnehmer in einer Welt möglicher intertextueller Lesarten bewegen und zum Funktionieren von Verständigung eine eindeutige 10
Zur Dynamik von Intertextualität meint auch Holthuis, daß Intertextualität eine Eigenschaft ist, die Texten nicht inhärent ist, sondern ihnen durch die Instanz des Lesers zugesprochen werde (1993, S. 31).
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Festlegung auf eine Lesart nicht unbedingt nötig ist. Ob und wie sich diese Referenzen in ihrer Ganzheit tatsächlich darstellen, kann nur rekonstruiert werden, wenn die Kommunikationsteilnehmer aus ihrem ,naiven Status' heraustreten, indem sie eigentlich getrennte Vorgänge zusammenführen, wenn also Texte direkt miteinander in Beziehung gesetzt und dadurch Referenzobjekte und -subjekte gleichzeitig betrachtet werden. Dies geschieht in der alltagsweltlichen Kommunikation wohl eher selten. Es ist vielmehr ein Privileg wissenschaftlicher Analyse. Aber 'auch der analysierende Linguist kann nicht nach Gutdünken Texte miteinander in Beziehung setzen, von denen er einfach nur meint, sie stünden in einer Relation zueinander. Vielmehr muß er verifIZierbare Möglichkeiten besitzen, diese Zuordnungen vornehmen zu können. Aus dem bisher Entwickelten lassen sich drei Perspektiven ableiten, unter denen Intertextualität auf sprachlicher Ebene identifizierbar ist: Einzeltextperspektive: Der Linguist kann nach expliziten Indikatoren, nach sprachlichen Spuren, für Bezugnahmen auf andere Texte im jeweiligen Einzeltext suchen, sie isolieren und systematisieren. Synchrone Perspektive: Er kann analytisch Ausdrücke Ax und Ay bzw. Texte T x und Ty nebeneinander legen, in denen explizit gekennzeichnet ist, daß sie in einer Relation zueinander stehen, sie miteinander vergleichen und referentielle Muster erfassen. Diachrone Perspektive: Er kann schließlich (Inter)Textgeschichte erfassen, indem er empirisch auf der Basis großer Textkorpora die Genese zentraler lexikalischer Einheiten bzw. zentraler Formulierungs-, Argumentations- und Textsortenmuster rekonstruiert. Zwischen der Einzeltextperspektive einerseits und den synchronen bzw. diachronen Sichtweisen andererseits besteht ein qualitativer Unterschied. Im Grunde ist die Einzeltextperspektive der kommunikative Normalfall, der Hörer/Leser kann Intertextualitätsmarker unterschiedlichen Explizierungsgrades entdecken, die er in Abhängigkeit von seinen kognitiven, erfahrungs geleiteten und intentionalen Prädispositionen für sich verarbeitet, auf welche Weise auch immer. Der synchrone Vergleich von Referenzobjekten und -subjekten bleibt im Regelfall schon einem intendiert analytischen Herangehen vorbehalten, eine diachrone Sicht ist ohne wissenschaftliches Instrumentarium kaum noch vorstellbar.
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Das bedeutet, genau zu unterscheiden, wie sich Intertextualität in der AlltagskommunikaÜon präsentiert und wie sie wissenschaftlich darstellbar ist. Im folgenden wird exemplarisch vorgeführt, welche sprachlichen Phänomene unter den einzelnen Perspektiven analytisch beschreibbar sind und welche . nicht. Daraus leiten sich dann methodische Konsequenzen ab. Für alle Analyseperspektiven gilt jedoch die Notwendigkeit, deutlich zu machen, mit welcher Sprachebene man sich gerade beschäftigt. Referentielle Muster können und müssen immer bezo gen auf die unterschiedlichen Sprachebenen rekonstruiert werden (Ebene der sprachlichen Ausdrucksform, propositionale und funktionale Ebene), was jeweils auch zu unterschiedlichen Resultaten führen kann. Gerade hier liegt die Problematik vieler Untersuchungen zu diesem sehr komplexen Gegenstandsbereich: Die Sprachebenen werden miteinander vermischt oder nicht deutlich gemacht; Systematik und Klarheit kommen dadurch zu kurz.
4.1. EinzeItextperspektive Von Interesse ist unter diesem Aspekt nur, welche Intertextualitätsmarker bereits bei der Rezeption eines einzelnen Textes rekonstruierbar sind. In einem Text kann es zahlreiche explizite sprachliche Spuren geben, die relationale Beziehungen zu anoeren Äußerungen und Texten signalisieren. Eindeutige Indikatoren für Bezugnahmen auf einzelne Elemente anderer Texte oder auf ganze Texte stellen Ausdrücke bzw. Sequenzen dar, die explizite Referenzkennzeichnungen und Elemente der Bezugsobjekte enthalten. Diese Textbestandteile sind - wie bereits erwähnt - als Reformulierungsausdrücke zu erfassen. Die in einem Text enthaltenen Reformulierungsausdrücke können sowohl in Form indirekter und· direkter Redewiedergaben als auch in Form von freien Reformulierungen vorkommen. Freie Reformulierungen sind dabei jene, die große Teile des Bezugsausdrucks bzw. der Bezugssequenz wiederaufnehmen, ohne diese Bezugnahme in eine Redewiedergabestruktur einzubetten. Dabei kann es sich um berichtende Sequenzen oder um stark komprimierende Sequenzen (z.B. in Form von Zusammenfassungen oder Resümees) handeln. Der Sprecher formuliert dies jedoch nicht ,mit eigenen Worten' - ansonsten gäbe es keine Berechtigung, von Reformulierungen zu sprechen -, sondern unter Verwendung der Bezugsentitäten und expliziter Markierungen. Das folgende Beispiel zeigt verschiedene Möglichkeiten von Referenzmarkern und -elementen innerhalb einer einzigen Textsequenz. Es handelt
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sich um einen Beleg aus einem Redebericht zur Regierungserklärung des DDR-Ministerpräsidenten Lothar de Maiziere. (2)
1 In seiner Regierungserklärung forderte der DDR-Ministerpräsident das Mitspracherecht seines Landes bei der Verwirklichung der deutschen Einheit. 2 Er betonte: "Über den Weg dahin werden wir ein entscheidendes Wort mitzureden haben." 3 Die beste Lösung sei dabei nach wie vor der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik nach Artikel 23 des Grundgesetzes. ("Die Welt", 20.4.1990, S. 1)
Was läßt sich verifIzierbar aussagen, ohne das Original zu kennen? Ausdruck 1 referiert explizit auf einen anderen Text: Er benennt den Bezugssprecher (DDR-Ministerpräsident), die Kommunikationssituation bzw. die Textsorte (Regierungserklärung) und verbalisiert eine kommunikative Handlung des Bezugssprechers (forderte). Es ist jedoch nicht zu rekonstruieren, ob er auch explizit Elemente des Bezugstextes wiederaufnimmt (lexikalische Einheiten, Wortverbindungen etc.) Ausdruck 2 ist eine direkte Redewiedergabe. Der Sprecher präsentiert ihn mit dem sprachlichen Mittel des direkten Zitats. Er drückt damit aus: [',Hiermit übernehme ich wörtlich einen Ausdruck, ohne irgendeine Veränderung in der sprachlichen Oberflächenstruktur vorzunehmen"]. Ausdruck 3 ist durch den Konjunktiv als indirekte Redewiedergabe zu identifIzieren. Der Sprecher drückt aus, [',Hiermit übernehme ich im Prinzip die sprachliche Struktur eines Ausdrucks"]. Eingriffe an der Sprachoberfläche sind jedoch möglich und durch diese Form der Redewiedergabe sanktioniert. Inwieweit diese tatsächlich vorgenommen wurden, läßt sich aus dieser Perspektive indes nicht verifIzieren. Durchaus erklärbar ist dagegen der Status dieser Wiedergabeausdrücke im Textgefüge selbst, ihre Rolle, die sie für die Konstitution propositionaler und funktionaler Strukturen des jeweiligen Textes spielen: (3)
Und wie weit sein Bekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft und zum Rechtsstaat mit dem Versprechen vereinbar ist, "die Ergebnisse der Bodenreform auf dem Territorium der DDR stehen nicht zur Disposition", das wird er wohl noch zu erklären haben. ("Die Welt", 20.4.1990, S. 1)
Hier wird ein Zitat in einen neuen, vom kommentierenden Sprecher hergestellten Kontext eingebettet. Die Proposition des Bezugsausdrucks wird als wörtliche Wiedergabe präsentiert. Die Exaktheit der Wiedergabe ist ohne analytischen Vergleich nicht bestimmbar. Es läßt sich jedoch anband der Äu-
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ßerungsstruktur nachweisen, daß der Sprecher diesen Referenzausdruck in seine 'eigene Argumentation eingebettet hat und ihn damit für eine entsprechende Bewertung nutzt. Fälle dieser Art sind relativ eindeutig. Oft wird dem Rezipienten jedoch nur signalisiert, daß sich der Sprecher im vorliegenden Text auf andere versprachlichte Objekte bezieht. Man ist bei der Rezeption im Prinzip darauf eingestellt, daß eine andere Textwe1t eingeblendet ist, kann aber nicht im Detail bestimmen, welche Elemente in welcher Form übernommen wurden. So bleibt der Status von Anführungszeichen oft vage, wenn sie nicht mit einer Redekennzeichnung verbunden sind. (4)
Das System der Wirtschaftsplanung soll mit dem Stichtag der Währungsunion, voraussichtlich am 1. Juli 1990, "weitgehend" beseitigt sein. ("Süddeutsche Zeitung", 20.4.1990, S. 1)
Ohne Kenntnis des Bezugsausdrucks ist nicht eindeutig festzulegen, ob es sich hier um eine freie Wiedergabe handelt, bei der der Sprecher mit eigenen Worten angekündigte Ziele formuliert. Es kann auch nicht gesichert geklärt werden, ob das Adverb weitgehend eine wörtliche Wiedergabe oder ein vom referierenden Sprecher eingefügter interpretativer Kommentar ist. Erst beim Vergleich mit dem Bezugsausdruck Der Abbau des Planungssystems in seiner bisherigen Form sollte mit dem Stichtag Währungsunion weitgehend erreicht sein würde deutlich werden, daß weitgehend die Wiedergabe einer Bezugseinheit darstellt. Eine weitere Gruppe stellen jene sprachlichen Ausdrücke dar, die zwar auch explizit ihre Referenz zu anderen Ausdrücken bzw. Texten signalisieren, sich jedoch mehr oder weniger auf fIktive verbale Objekte beziehen, die als eine Art Kondensationsprodukt zahlreicher Äußerungen zu verstehen sind. Es gibt keine 1: I-Entsprechung, aber es ist wahrscheinlich, daß Äußerungen in der Art schon einmal produziert wurden. Sie werden damit auch keinem konkreten Sprecher zugeschrieben; es bleibt offen, ob dies wirklich jemand gesagt, verbreitet, gefragt, geglaubt hat. Die Qualität besteht also in einer globalen Referenz auf eine Welt möglicher Äußerungen. Solche sprachlichen Referenzmittel sind u.a. folgende: - Negationen Es sind nicht immer die Mutigsten von einst, die heute am lautesten die Bestrafung anderer fordern.
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fiktive Fragen Wir werden gefragt: Haben wir nichts einzubringen in die deutsche Einheit? Und wir antworten: Doch wir haben! relativische Konstruktionen Wer aber glaubt, damit müßten wir uns auch von dem Ideal der sozialen Gerechtigkeit, der internationalen Solidarität, der Hilfe für die Menschen in der eigenen Gesellschaft und in der ganzen Welt verabschieden, der irrt genauso. rückwärtsweisende Verben Wir bestätigen die bereits mehrfach getroffene Aussage, daß die Einführung der D-Mark auf dem Gebiet der DDR bei Löhnen und Gehältern im Ergebnis im Verhältnis 1:1 erfolgen sollte [... ] Referenzen auf nicht explizit gemachte Adressaten Aber unverantwortlich ist es, jetzt Angst vor den Maßnahmen zu verbreiten, die zur Behebung der Schäden notwendig sind. (Belege aus De-Maiziere-Regierungserldärung, 19.4.1990) Besonders argumentativ geprägte Texte weisen derartige Fiktivausdrücke auf; diese Texte sind in ihrer Struktur geradezu vom Umgang mit anderen Äußerungen und Texten bestimmt. Dabei bieten die nur vagen Referenzen genügend Spielraum, sich auf andere Äußerungen zu beziehen, ohne jemandem konkret eine Verantwortung für das Gesagte zuschreiben zu müssen. Der Sprecher wird somit der intendierten Mehrfachadressierung gerecht. Gleichzeitig kann der Textproduzent diese sprachlichen Mittel einsetzen, um seiner Argumentation einen ,quasi-dialogischen' Charakter zu verleihen. Schließlich siIld bei einer Einzeltextanalyse rein anaphorische bzw. kataphorische Intertextualitätsverweise isolierbar. Hierbei handelt es sich um eine Markierung von Referenz auf andere versprachlichte Objekte, ohne daß Elemente der entsprechenden Referenzobjekte explizit verarbeitet werden. Diese Verweise drücken nur aus, daß sich diese Äußerung/der ganze Text auf andere sprachliche Entitäten bezieht, z.B. wie gesagt, ferner, erneut, wiederholt. Analytisch könnten bei einer reinen Einzeltextperspektive folgende Erkenntnisse von Interesse sein: Systematisierung von Intertextualitätsmarkem - Beschreibung von polyphonen Strukturen und Verwendungs weisen von Präsuppositionen in Referenzausdrücken
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- -sequenz- und text analytische Bestimmung des Status von Referenzausdrücken in dem Text, in dem sie auftreten, hinsichtlich der Konstitution der propositional-argumentativen und der funktionalen Textstruktur.
4.2. Synchrone Perspektive Werden die jeweiligen Referenzobjekte in die Betrachtung integriert, entsteht ein völlig neuer Blickwinkel. In diesem Fall läßt sich durchaus feststellen, welche Qualität die jeweilige Bezugnahme hat; es kann herausgearbeitet werden, welche Elemente der Bezugsobjekte im bezug nehmenden Text wirklich ,weiterleben' und wie diese mit der neuen Textwelt verwoben sind. Bezogen auf die Beispielsequenz (2) in 4.1. ist bei einem solchen Vorgehen nach entsprechenden Bezugsausdrücken im Bezugstext zu suchen. Für Ausdruck 1 kommen mehrere Einheiten und Fügungen in Betracht, er weist jedoch keine Redewiedergabestruktur auf und präsentiert sich somit als Bericht des referierenden Sprechers. Ausdruck 2 hat ein 1:1-Äquivalent: Das Ja zur Einheit ist gesprochen. Über den Weg dahin werden wir ein entscheidendes Wort mitzureden haben. Vergleicht man den durch Konjunktiv als indirekte Rede markierten Ausdruck 3 mit dem entsprechenden Bezugsausdruck Beide Anliegen, Tempo und Qualität, lassen sich am besten gewährleisten, wenn wir die Einheit über einen vertraglich zu vereinbarenden Weg gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes verwirklichen, wird deutlich, daß dies eine sehr komprimierte Referenz ist, die die innere Struktur des Bezugsausdrucks nicht nur stark verändert, sondern auch aus dem ursprünglichen argumentativen Kontext herauslöst. Der Sprecher hält sich im Grunde nicht an die Wiedergabekonvention, weil er mit dem Konjunktiv indirekte Rede signalisiert, bis auf die Fügung Artikel 23 des Grundgesetzes jedoch keine weitere Einheit ein direktes Bezugsobjekt hat. Darüber hinaus sind Ausdruck 2 und 3 in der Reformulierung explizit miteinander verknüpft: Durch dabei in Ausdruck 3 konstruiert der Sprecher einen direkten Zusammenhang, den dann auch der Rezipient so erkennt, der aber nicht im Bezugsausdruck anlegt ist. Erst beim Vergleich der Texte ist zu erkennen, daß beide Ausdrücke in verschiedenen Argumentationszusammenhängen stehen . .Beim synchronen Vergleich können auch Referenzbezüge zutage treten, die in keiner Weise markiert und somit für einen Rezipienten ohne Vergleich nicht verifizierbar sind.
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Nach den Gemeinde- und Kreistagswahlen am 6. Mai sind die Räte der fünfzehn Verwaltungsbezirke die einzigen politischen Gremien in der DDR, die nicht durch demokratische Wahlen nach der Wende legitimiert worden sind. ("Süddeutsche Zeitung", 20.4.1990, S. 1)
Der Ausdruck weist keine expliziten sprachlichen Reformulierungsmerkmale auf und wird als eigener Feststellungssatz des refererienden Sprechers präsentiert. Erst der Vergleich mit dem Bezugstext zeigt, daß es einen entsprechenden Bezugsausdruck gibt. ' Ausgehend davon, daß nach der Wahl demokratisch legitimierter Volksvertretungen auf der Ebene der Kreise, Städte und Gemeinden am 6. Mai 1990 die Bezirkstage die einzigen Vertretungskörperschaften sein werden, die nicht aus freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgegangen sind und deren Zusammensetzung damit nicht der tatsächlichen politischen Kräftekonstellation im jeweiligen Territorium entspricht, sollte das Präsidium der Volkskammer den Bezirkstagen empfehlen, ihre Legislaturperiode nach den Kommunalwahlen zu beenden. (Regierungserklärung, 19.4.1990) Grundsätzlich kann der synchrone Textvergleich Aufschluß darüber bringen, inwieweit die ,alte Textwelt ' in der aktuellen modiftziert, interpretiert und bewertet wird. Dies kann nur durch eine wirkliche Detailanalyse beantwortet werden, die sich wiederum u.a. folgenden Fragen zu stellen hat l l a) Führen Eingriffe an der sprachlichen Oberfläche - in der grammatischen Struktur - des refererienden Ausdrucks zu lexikalisch-semantischen Veränderungen, z.B. durch Hinzufügungen, Tilgungen und/oder Ersetzungen lexikalischer Einheiten und Fügungen, syntaktischen Veränderungen (z.B. durch Umwandlung koordinierender in subordinierende Strukturen, von N ominal- in Verbalphrasen etc.)? b) Führen diese Eingriffe zu propositionalen Verschiebungen in der Wiedergabe, wenn ja, sind diese sinnvarüerend, sinnverändernd oder entsteht ein völlig neuer Sinn, (z.B. durch Expansion, Reduktion oder Tilgung)? c) Ist die einbettende Sequenzstruktur verändert worden, beispielsweise durch Veränderungen der interpropositionalen Relationen (z.B. Ersetzungen konzessiver durch kausale Relationen)?
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Ausführliche Beispielanalysen zu den einzelnen Fragen in Steyer 1997.
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d) Führen diese Eingriffe zu funktionalen Verschiebungen (z.B. durch Veränderungen der illokutiven Funktionen, der Adressatenbezüge, der evaluativen Elemente)?12 Wendet man dieses Raster konsequent an, wird deutlich, daß sich der wirkliche Charakter einer Bezugnahme im Detail zeigt und erst die Summe dieser Details Aussagekraft hinsichtlich der intertextuellen Qualität besitzt. Im Übergangs bereich zur diachronen Perspektive liegt die Analyse solcher sprachlichen Einheiten, die zu präferierten Bezugsobjekten werden und durch häufiges Übernehmen und Wiedergeben die einzelne Kommunikationssituation quasi ,überleben' und dann in den gemeinsamen Sprachbestand der Sprecher eingehen. Zunächst sind die entsprechenden Wiederaufnahmen noch durch eine synchrone Analyse zu erfassen. Die Reformulierungsausdrücke bzw. -texte weisen alle mehr oder weniger explizit auf ihren ,kommunikativen Ursprung' hin. In diesen Fällen ist es linguistisch besonders interessant, welche Kontextuierungen diese Wiedergaben erfahren und wie Sprecher, geleitet durch ihren eigenen ko gnitiven Hintergrund, diese Äußerungen verarbeiten. Irgendwann ist jedoch diese Quelle nicht mehr rekonstruierbar , die sprachlichen Entitäten werden nicht mehr als Bezugnahmen auf früher produzierte Äußerungen wahrgenommen und eingesetzt. Ein Beispiel dafür ist der von Lothar de Maiziere in seiner Regierungserklärung geäußerte Satz Die Teilung kann tatsächlich nur durch Teilen aufgehoben werden. Er gehört zu den am häufigsten zitierten und wiedergegebenen Äußerungen des Wende- und Einheitsdiskurses überhaupt und wird auch Jahre später von Sprechern wiederaufgegriffen. In seinem Ursprung ist er als ein Appell für eine differenzierte historische Sicht und ein gleichberechtigtes Aufeinanderzugehen der Deutschen formuliert: Daher eine herzliche Bitte an die Bürger der Bundesrepublik: Bedenken Sie, wir haben 40 Jahre die schwerere Last der deutschen Geschichte tragen müssen. Die DDR erhielt bekanntlich keine Marshall-Plan-Unterstützung, sondern sie mußte Reparationsleistungen erbringen. Wir erwarten von Ihnen keine Opfer. Wir erwarten Gemeinsamkeit und Solidarität. Die Teilung kann tatsächlich nur durch Teilen aufgehoben werden. (Regierungserklärung, 19.4.1990)
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Es geht hier nicht um eine Wertung des Bezugsvorganges, also etwa darum, dem Sprecher Fälschungen o.ä. zu unterstellen. Daß jeder Sprecher stets seine eigene Perspektivierung vornimmt und es nicht möglich ist, die Originaltextwelt vollständig abzubilden, ist völlig unbestritten. Aber nur durch eine bis ins kleinste Detail gehende Analyse läßt sich wirklich feststellen, auf welche Art und Weise sich die Ausdrucksund Textwelten überlagern.
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Im Verlauf des Wende- und Einheitsdiskurses wird er immer mehr zur Metapher für die Schwierigkeiten der Deutschen im Umgang miteinander. Bereits die ersten Reformulierungen dieser Äußerung spiegeln die Ambivalenz wider und bilden jene gegensätzlichen Wahrnehmungen und Bewertungen ab, die bis in die unmittelbare Gegenwart hineinwirken. Es gibt im Grunde zwei Positionen, die bei Reformulierungen dieser Äußerung zum Ausdruck kommen: Entweder wird ,Teilen' als einseitiger Prozeß des materiellen Abgebens von West nach Ost dargestellt und in den meisten Fällen zurückgewiesen oder als Ausdruck eines gleichberechtigten Prozesses des Aufeinanderzugehens präsentiert, dessen praktische Umsetzung zumeist jedoch als Problem angesehen wird. (6)
Dieser fast in allen Berichten und Kommentaren zitierte Satz des Ministerpräsidenten, daß die Teilung nur durch Teilen aufgehoben werden könne, verlangt Widerspruch. Es geht doch hier gar nicht um Teilung oder Umverteilung dessen, was in der Bundesrepublik an Wohlstand erarbeitet worden ist. ("Die Welt", 21.4.1990, S. 4)
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In Währungsfragen bleibt der Rechtsanwalt beim hier populären und dort unpopulären 1: 1. Seine Begründung ist mehr als ein pointiertes Wortspiel : Wer die Teilung überwinden wolle, müsse teilen. Ein freimütig vorgetragener Standpunkt, dem von den Machern in der letztlich alles entscheidenden CPartei am Rhein ganz gewiß nicht stehend applaudiert wird. ("Berliner Allgemeine", 20.4.1990, S. 2)
Die Sprecher in (6) und (7) reformulieren jeweils Elemente der Bezugssequenz, um sie in ihre eigene Bewertung zu integrieren.
4.3. Diachrone Perspektive Die folgenden Belege (8), (9) und (10) können gewissermaßen nur noch mit einer diachronen Analyse als intertextuelle Referenzen identifIZiert werden, da ihre Bezugnal?men nicht mehr explizit gekennzeichnet sind. Es sind Beispiele dafür, wie in einer Sprachgemeinschaft auf solche - über häufige Wiederaufnahmen entstandenen - Themen und Argumente auch später wieder Bezug genommen wird. (8)
Ich befürchte, es besteht oder entsteht ein Tabu, das schleunigst zu brechen ist: An Stammtischen in der sogenannten alten Bundesrepublik mag es noch gehen, aber welcher Politiker traut sich, öffentlich zu sagen, daß für viele diese Einheit kein sehnlicher Wunsch war, daß Lasten, die auf sie zukommen, ungern übernommen werden, daß es höchst ungern gehört wird, wenn von
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Opfern oder vom Teilen die Rede ist. Zugleich: Mancher Ossi denkt, für die "Brüder und Schwestern" oder "Landsleute" im Osten des "einig Vaterlands" sollten die dicken Wessis einmal in ihre Brieftasche greifen und ihm den Übergang ins neue Leben erleichtern. ("Berliner Zeitung", 15.116.6.1991, S. 3)
Drei relevante lexikalische Schlüsseleinheiten Lasten, Opfer und Teilen werden quasi als Metaphern eingesetzt, um zu thematisieren, daß die Westdeutschen nicht gern teilen bzw. daß die Ostdeutschen zu oft eine gewisse passive Erwartungshaltung haben. Dabei bezieht sich der Sprecher nicht auf ursprüngliche Aussagen zum Teilen, sondern auf die Reaktionen auf diesen Appell. (9)
Vor Berlin steht jetzt nicht zuletztdie Aufgabe, nach überwundener Teilung zu beweisen, daß es im Sinne eines föderalen Staates teilen kann. ("Berliner Zeitung", 21.6.91, S. 1)
Allein das Paar Teilung und teilen wird eingesetzt, so daß man hier wohl nicht mehr von einer Reformulierung im eigentlichen Sinne sprechen kann. Es wird vielmehr der ,Effekt' des Wortpaares genutzt. (10) Darum scheint es notwendig, die Idee der inneren Einheit als Nahziel aufzugeben. [ ... ]
Die Einwände gegen diesen Ziel verzicht liegen auf der Hand: Wenn die Idee der inneren Einheit aufgegeben wird, welche Legitimationen gibt es dann noch für die ostdeutschen Politiker, auf Dauer hohe Transferleistungen zu fordern? Wie kann der westdeutsche Steuerzahler weiterhin zum Teilen bewogen werden? ("Die Zeit", 2.10.1992, S~ 4) Auch hier wird nicht mehr explizit auf die konkrete Ursprungsäußerung referiert, dennoch aber durchaus eine ihrer Interpretationsmöglichkeiten fokussiert. Dies läßt vermuten, daß der Bezugsausdruck in kondensierter Form bereits zur kognitiven Basis der am Diskurs beteiligten Sprachteilnehmer gehört. Man könnte nun anzweifeln, ob diese drei Belege überhaupt noch in einem intertextuellen Zusammenhang mit dem kommunikativen Ursprung stehen. Allein mit dem bisher entwickelten Herangehen ist dies in der Tat auch nicht zu verifIzieren, ging es doch vor allem um elementare Ausdrucks/Textvergleiche, bei denen die Referenzen eindeutig rückführbar sind und sich die jeweiligen propositionalen Gehalte, illokutiven Funktionen und Bewertungen der Referenzobjekte und der -subjekte noch explizit überlagern. Bestimmte lexikalische Einheiten, Fügungen, Sätze oder gar Texte werden
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jedoch auch über größere Zeiträume hinweg übernommen, modiftziert und stehen damit in einem globaler zu fassenden Intertextualitätszusammenhang. De BeaugrandelDressler beschreiben diesen folgendermaßen: Je größer die verflossene Zeit und vor allem die Verarbeitungstätigkeiten zwischen dem Gebrauch des aktuellen Textes und dem von früher bekannten Texten, desto größer ist die Vermittlung. (1981, S. 188) Mit zunehmendem Abstand markieren Sprecher diese Übernahmen immer seltener explizit und setzen sie immer unbewußter ein, bis schließlich die ursprüngliche Kommunikationssituation überhaupt nicht mehr präsent ist. Diese Einheiten und Formulierungen, aber auch Themenfokussierungen, Argumente und Bewertungen werden quasi als Standard abgerufen. Nun könnte das linguistische Interesse an diesem Punkt enden. Es ist jedoch nicht zu leugnen, daß die Rekonstruktion solcher ,Langzeitmuster' für die Analyse von gegenwärtigen Sprachstrukturen und -funktionen sinnvoll ist. Strukturell gesehen entstehen auf diesem Wege häufig feste Wendungen, die in manchen Fällen geradezu Sprichwortcharakter annehmen können (z.B. das bereits erwähnte Wer zu spät kommt [... ]), zumeist aber auch thematische und argumentative Kondensate abbilden. Diese festen Wendungen und Formulierungskondensate nehmen in neuen Kommunikationssituationen bestimmte Funktionen wahr. 13 Die diachrone Analyse muß also - unter Verwendung des Methodeninventars des elementaren synchronen Textvergleichs - vor allem Frequenzen, Häufigkeiten und Weiterverarbeitungen sprachlicher Entitäten über größere historische Zeiträume hinweg erfassen. Intertextualität kann also nicht nur als Begriffs- , Äußerungs- und Textgeschichte, sondern auch 13
Auch dafür ist der deutsch-deutsche Wendediskurs geradezu typisch: Viele der aktuellen Verstehens- und Bewertungsrituale zwischen Ost und West lassen sich bereits im Diskurs zur De-Maiziere-Regierungserklärung nachweisen und werden seitdem immer wieder aktualisiert. Es handelt sich um Bewertungsmuster und Zuschreibungen, um Topoi, die immer seltener hinterfragt und problematisiert werden. Die Sprecher realisieren diese Muster, ohne sie durch weitere Argumente zu stützen, gleichsam als gemeinsame kognitive Basis, die nicht mehr selbst zur Debatte steht, sondern deren Wissenselemente bereits als vereinbarte Prämissen gelten. Thematisiert werden diese Muster erst dann wieder, wenn die Verständigungsprobleme zu offensichtlich sind. Ein solches Bewußtwerden eines vorhandenen Defizitpotentials in der wechselseitigen Wahrnehmung und Verständigung zeigt sich dann in Äußerungen wie ["Wieso denkt ihr eigentlich immer, wir wollen Euch über den Tisch ziehen"] oder ["Wir wollen doch keine neuen Gräben zwischen Ost und West aufreißen"], Äußerungen, die immer dann eingesetzt werden, wenn es zu einem offensichtlich unlösbar scheinenden kommunikativen Konflikt gekommen ist. Solche ,kommunikativen Havarien' lassen sich zumeist nur aufhellen, wenn man die Genese dieser Standardzuschreibungen, -fokussierungen und -bewertungen rekonstruiert.
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als die Geschichte von Topoi bzw. als Themen - und Argumentationsgeschichte analysiert werden. Operationalisierbar sind diese globalen intertextuellen Zusammenhänge nur auf der Basis großer Korpora. Es reicht demzufolge nicht aus, Ausdrücke und Texte miteinander in Beziehung Zu setzen, nur weil in ihnen irgendwelche Parallelen zu fmden sind. Intertextuelle Kontinuität kann bei nicht explizit markierten Referenzen nur dann bewiesen werden, wenn derartige Beziehungen durch - empirisch fundierte - Längsschnitt- und Frequenzuntersuchungen plausibel gemacht werden können. 14 Im Mittelpunkt von diachronen Untersuchungen müßten z.B. solche Fragen stehen: a) Welche identischen oder ähnlichen sprachlichen Strukturen wiederholen sich in Texten, die in größeren Zeitabständen produziert wurden? b) Welche sprachlichen Wurzeln haben Formulierungs-, Text-, Bewertungsmuster, und wie veränderbar sind sie? c) Welche Themen und Argumente sind in bestimmten Zeiträumen präferiert worden, welche wurden dagegen vernachlässigt? d) Welche relevanten Deutungsmuster lassen sich für bestimmte Zeiträume herausarbeiten?
5. Fazit Der Beitrag sollte Möglichkeiten zeigen, wie sprachliche Besonderheiten von Intertextualität verifIZierbar zu machen sind. Dazu wurde die Referenz auf verbale Objekte als Kern sprachlicher Intertextualität angesehen. Das Spektrum beschreibbarer sprachproduktbezogener Referenzen reicht von Relationen zwischen einzelnen sprachlichen Ausdrücken bis zu komplexen Bezugnahmestrukturen in Form von Textvernetzungen. Im Sinne der angestrebten Klarheit ist zu unterscheiden zwischen der normalen Rezeptionssituation einer Einzeltextverarbeitung - ein Sprecher fmdet Intertextualitätsspuren im einzelnen Text - und eher analytischen Perspektiven, bei denen Bezugso bjekte und -subjekte gleichzeitig betrachtet bzw. miteinander verglichen werden. Wenn intertextuelle Referenzen für eine sprachwissenschaftliche Analyse von Interesse sein sollen, reicht es nicht aus, bestimmte Vernetzungsphänomene nur zu konstatieren, also eine referentielle Relation mit anderen Sprachprodukten nur zu erkennen. Von größerem Wert ist die Erfassung der damit verbundenen ,Intertextualitätseffekte'. Das bedeutet, im Fokus inter14
Bei besagtem De-Maiziere-Zitat kann man auf Grund der Häufigkeiten seiner Verwendungen von einer solchen intertexuellen Kontinuität sprechen.
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textueller Erklärungsversuche muß die Art und Weise stehen, wie sich verschiedene Textwelten überlagern. Es muß herausgefunden werden, welche Elemente der Bezugsobjekte in welcher Form übernommen und bearbeitet werden und welche Konsequenzen für das aktuelle Sprachprodukt daraus entstehen. Erst die Erfassung der jeweiligen Kontextuierungen und Einbettungen kann Aufschluß hinsichtlich der ,intertextuellen Qualität' bringen. Wenn sich ein Sprecher explizit auf eine bereits produzierte sprachliche Entität bezieht, ist dies stets verbunden mit einer kreativen Bearbeitung des Bezugsobjekts. Der referierende Sprecher wird sich dabei nur für ganz bestimmte Lesarten aus der Welt mö glicher Lesarten entscheiden und diese für sich verarbeiten. Allein eine wirkliche Detailanalyse kann jedoch klären, welche der im Bezugsobjekt angelegten propositionalen und kommunikativen Lesarten in der Wiedergabe fokussiert und expliziert werden, welche Modifikationen und Uminterpretationen sie erfahren und wie der referierende Sprecher mit Hilfe dieser Übernahmen seinerseits Interpretations- und Bewertungsangebote unterbreitet. Selbst die ausführlichste Bezugnahme kann nicht die gesamte Welt möglicher Lesarten des Referenzobjekts wiedergeben. Intertextuelle Bezugnahmen kann man demzufolge auch als Prozesse der Disambiguierung und Vagheitsauflösung ansehen, bei denen die im Original angelegten komplexen und zumeist auch eher impliziten Strukturen in der Wiedergabe expliziter zu Tage treten und in ihrer Komplexität aufgelöst werden. Mit dem beschriebenen Instrumentarium lassen sich also Mechanismen transparent machen, die Sprachteilnehmer gar nicht mehr bewußt wahrnehmen. Dabei ist zu fragen, ob die bei diesen Prozessen ganz zwangsläufig entstehenden Verschiebungen nur temporärer Natur sind oder in gewissen Fällen längerfristige Veränderungen ursprünglicher Textwelten zur Folge haben. Schließlich läßt sich aus einer intertextuellen Analysesicht die Genese von Schlüsseleinheiten, Phraseologismen und Sprichwörtern, aber auch von Standardthematisierungen und -bewertungen, von Topoi und sprachlichen Mustern generell rekonstruieren. Gegenwärtige kommunikative Strukturen werden durch die Rekonstruktion kommunikativer Vorgeschichten deutlich. Darin kann der wirkliche Sinn einer an sprachlichen Vorgängen orientierten Intertextualitätsforschung liegen. An sprachanalytischer Detailarbeit ist dabei noch viel zu leisten.
6. Verzeichnis der zitierten Literatur Antos, Gerd (1982): Grundlagen einer Theorie des Formulierens. Textherstellung in geschriebener und gesprochener Sprache. (=Reihe Germanistische Linguistik 39). Tübingen.
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Teil 2: Historische Umbrüche
Sven F. Sager (Hamburg)
Intertextualität und die Interaktivität von Hypertexten 1. Einleitung und drei Thesen 2. Kultur und Intertextualität 3. Die medialen Zeitalter 3.1 Die schriftlose Kultur 3 .1.1 Verweisende Textverknüpfung 3.1.2 Parallelisierung 3.2 Die textuale Kultur 3.3 Die hypermediale Kultur 3.3.1 Hypertextl Hypermedia 3.3.2 Interaktivität und Netzstruktur 4. Die Verknüpfung der Prinzipien im Hypermedium 4.1 Navigation und Mnemotechnik 4.2 Das Prinzip der Externalisierung von Intertextualität 5. Schluß und Zusammenfassung 6. Verzeichnis der zitierten Literatur
1. Einleitung und drei Thesen Betrachten wir die europäische Kulturgeschichte bis heute, so läßt sich feststellen, daß wir an der Schwelle zu einer neuen medialen Kulturstufe stehen, in der die Prinzipien und Verfahren einer medialen Erschließung von Wirklichkeit durch Konzepte von Hypertext und Intertextualität neu organisiert werden. Wir wollen, um dies deutlich zu machen, folgende Thesen aufstellen und genauer diskutieren: (1) Kultur ist grundsätzlich auf das Prinzip der Intertextualität zurückzuführen; (2) Es gibt drei mediale Zeitalter / Kulturstufen: - die schriftlose Kultur - die verschriftete Kultur - die hypertextuale / -mediale Kultur; (3) Jede dieser Kulturstufen ist durch eine speziftsche Ausprägung des Intertextualitätsprinzips gekennzeichnet.
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2. Kultur und I~tertextualität Betrachten wir die Thesen im einze1nen. Zunächst These (1): Kultur ist grundsätzlich auf das Prinzip der Intertextualität zurückzuführen. Hier ist zunächst der Kulturbegriff etwas näher zu bestimmen. Kultur, so können wir in Anlehnung an die Kulturanthropologie feststellen, ist stets ein Ganzes. Es ist die Gesamtheit der menschlichen Verfahren zur Konstitutierung von Umwelt und Wirklichkeit, und zwar in der Weise, daß die Menschen in dieser zu leben und zu überleben in der Lage sind. Der Kulturanthropologe Vivelo schreibt in diesem Sinne dazu: Ich verwende den Begriff Kultur, um die organisierte Gesamtheit von Ideen zu bezeichnen, welche sich auf die Weise beziehen, in der die Individuen einer Population miteinander kommunizieren, sich selbst und ihre Umwelt gedanklich fassen und sich zueinander sowie zu den Dingen in ihrer Umwelt verhalten. 1 Diese Organisation von Ideen geschieht maßgeblich in Texten. Texte sind so gesehen die eigentliche Manifestation oder Realisation von Kultur, wie es Bystrina in seinen Reflexionen zu einer Semiotik der Kultur formuliert hat: Die Kultur ist damit die in Texten dargestellte und gespeicherte, nach außen verlegte zeichenhafte Manifestation der durch menschliche Kreativität, Imagination und Phantasie erschaffenen zweiten Wirklichkeit. 2 Und zum Begriff der zweiten Wirklichkeit heißt es genauer: Das Konzept der zweiten Wirklichkeit zeichnet sich durch zwei Charakteristika aus: (1) Sie hat zeichenhaften Charakter, wird aus Zeichen aufgebaut und in Texten realisiert; (2) diese Texte sind primär narrativ; sie bezeichnen das Geschehene oder sich Ereignende, sie erzählen Geschichten. 3 Nun stehen diese Texte aber nicht isoliert da, sondern sie sind miteinander verbunden, verknüpft, zu einem ganzheitlichen Netz verwoben. Sie bilden somit das, was der kürzlich verstorbene Kultursemiotiker J. M. Lotman die Semiosphäre genannt hat. Über ihren systemhaft-vernetzten Charakter schreibt Lotman: Wie man jetzt voraussetzen kann, kommen in der Wirklichkeit keine Zeichensysteme vor, die völlig exakt und funktional eindeutig für sich alleine funktionieren. (... ) Sie funktionieren nur, weil sie in ein bestimmtes semiotisches Kontinuum eingebunden sind, das mit semiotischen Gebilden unterschiedlichen Typs, die sich auf unterschiedlichem Organisationsniveau befinden, an1 2
3
Vivelo 1981, 52f. Bystrina 1989, 244 Bystrina 1989, 242
Intertextualität und die Interaktivität von Hypertexten
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gefüllt ist. Ein derartiges Kontinuum wollen wir (... ) als Semiosphäre bezeichnen. 4 Dieses Textkontinuum der Semiosphäre - also der Kultur - beruht nun ganz maßgeblich auf dem Prinzip der Intertextualität. Denn ein Kontinuum, eine Ganzheit kann eben nur entstehen, wenn die einzelnen Texte in Beziehung zueinander gesetzt werden bzw. Verbindungen zueinander haben, die dann eben den Zusammenhang, die Gesamtheit der Kultur ausmachen. Also: Intertextualität ermöglicht erst Kultur. Nun ist verschiedentlich - jüngst wieder von Holthuis 5 - darauf hingewiesen worden, daß Intertextualität grundsätzlich auf zweierlei Weise zu fassen ist: Erstens als eine dem Text inhärente Eigenschaft; in diesem Falle weist der Text bestimmte explizite Intertextualitätsmarkierungen auf, besitzt er bestimmte Intertextualitätssignale. Zweitens als eine dem Text nicht inhärente Eigenschaft; dies betrifft die Relation zwischen Text und Rezipienten, die im Rezeptionsprozeß, also der Textinterpretation, entsteht. Schließlich möchte ich hier auf eine für unseren Zusammenhang bedeutsame dritte Form von Intertextualität hinweisen: Es ist dies eine Form von Intertextualität, die zwar besteht, aber weder durch Intertextualitätssignale, noch als im Rezeptionsvorgang hergestellte Beziehung existiert. Es ist die durchaus konkret-semantisch vorhandene, aber gleichsam nur abstrakt textuell-substantiell bestehende Verbindung zweier oder mehrerer Texte6 aufgrund ihres Inhalts, unabhängig von Markierungen oder der direkten aktuellen Rezeption. Sie ist gleichsam die unerschöpfliche Quelle, die den Philolo gen und Kulturanthropologen immer wieder aufs neue Arbeit verschafft. Denn das Ziel philologischer Arbeit ist es ja, immer wieder neue Verbindungen zwischen Texten herzustellen und damit neue Sinndimensionen in eben diesen Texten aufzuzeigen. Wir können diese drei Formen der Intertextualität also jetzt zusammenfassend bezeichnen als: die abstrakt potentielle Intertextualität die aktuell kognitive Intertextualität die textuell manifeste Intertextualität
4
6
Lotman 1990, 288 Holthuis 1993, 31 Eine treffende literarische Reflexion über diese Form von Intertextualität fmdet sicb in der Beschreibung der Bibliothek in Umberto Ecos Roman ,,Der Name der Rose".
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3. Die medialen Zeitalter Diese drei Formen spielen auch für die nun genauer zu betrachtenden drei Kulturstufen eine Rolle. Wir kommen damit zur zweiten und dritten TheseEs gibt drei mediale Zeitalter oder Kulturstufen; und: Jede dieser Kulturstufen ist durch eine spezifIsche Ausprägung des Intertextualitätsprinzips gekennzeichnet. In jeder der genannten Kulturstufen gab es eine bestimmte Form von Gedächtnis technik , die die Beziehung zwischen den einzelnen kulturbildenden Texten ermöglichte und damit die Grundlage dieser die Kultur konstituierenden Intertextualität darstellt. Das Interessante dabei ist, daß die hypermediale Kultur, an deren Schwelle wir wie oben festgestellt aktuell stehen, die Intertextualitätsprinzipien der beiden vorangegangenen Kulturstufen auf eine ganz einzigartige Weise miteinander verbindet. Genau dies soll im folgenden erläutert werden: Betrachten wir dazu die einzelnen Kulturstufen genauer.
3.1 Die schriftlose Kultur Die schriftlose Kultur (auch heute existieren noch solche Kulturen) ist jene Form der Kultur, die gleichsam durch das tätige Handeln (genauer: das Sprechen) manifestiert wird. Es ist der mündlich vorgetragene Text - konkret realisiert durch Gesang, Sprechgesang oder Rezitation -, der als Erzählung, als Epos, als Mythos und Märchen einer aktuell lauschenden Zuhörerschaft im Rahmen einer spezifIschen sozialen Veranstaltung präsentiert wird. Es handelt sich hier genau um jene Geschichten, von denen Bystrina im Rahmen seiner zweiten Wirklichkeit spricht. In· diesen Geschichten fmden die Weltund Alltagsinterpretationen der jeweiligen Kultur statt. Diese Interpretationen sind die Orientierungen, auf deren Basis der einzelne sich in die jeweilige Ethnie einordnet, durch die er sich in dieser seiner Welt und Kultur zurecht findet. Der prototypische Träger dieser Kultur ist der Barde. Für die schriftlose (wie auch jede andere) Kulturstufe ist nun ein bestimmtes Prinzip charakteristisch, durch das die notwendige kulturstiftende Intertextualität hergestellt und garantiert wird. Wenn wir uns dabei vergegenwärtigen, daß diese Kultur gleichsam nur im aktuellen Sprechen, also im konkreten jeweils immer wieder und immer wieder neu realisierten Vortrag besteht und konsolidiert wird, so wird auch deutlich, daß hier Intertextualität stets aktuell und kognitiv immer wieder hergestellt werden muß. In der schriftlosen Kultur des Barden mußte also die intertextuale Absicherung und
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Konsolidierung der Kultur immer wieder neu durch explizite verweisende Textverknüpfungen während des aktuellen Vortrags konsolidiert werden. Der Barde griff dabei, so können wir jetzt feststellen, auf das Prinzip der Mnemonik zurück, also einer spezifIschen Technik der Gedächtnisoptimierung. Dabei sind für uns jetzt zwei dieser mnemotechnischen Prinzipien interessant: 1) das Prinzip der wiederaufnehmenden, verweisenden Textverknüpfung durch Hinweis auf andere Texte 2) das Prinzip der mnemotechnischen Parallelisierung von Ziel und Matrixtext
3.1.1 Verweisende Textverknüpfung Was heißt das im einzelnen? Der Barde - darin besteht seine Kulturleistung muß auf die verschiedenen Texte der aktuell existierenden Kultur immer wieder hinweisen und den jeweils gegenwärtigen - also den aktuell memorierten und rezitierten - Text mit diesen bestehenden und nur über das Gedächtnis abrufbaren anderen Texten verbinden. Dieses Verfahren [mdet seinen Nachklang etwa noch in bestimmten Stellen mittelalterlicher Epen, an denen der jeweils aktuelle Text mit bereits bestehenden Texten in Verbindung gesetzt wird, so bspw. am Beginn des Nibelungenliedes: Uns ist in alten maeren wunders vil geseit ... [Viel Wundersames melden uns die Mären aus alter Zeit ... ] oder am Anfang des Hildebrandliedes: dat sagetun mi unsere liuti ... [Wie mir unsere Leute erzählten ... ] Das mündlich reproduzierte Textnetz der schriftlosen Kultur ist also - um eine Computermetapher zu verwenden - so beschaffen, daß es ständig im Arbeitsspeicher - das heißt hier: dem Gedächtnis des Barden - gehalten werden muß. Die aktuell lebenden Vertreter der Kultur müssen die Texte permanent memorieren und vor anderen rezitieren, damit diese Texte und ihre Relationen zu anderen Texten ständig aktuell verfügbar im kulturellen Gedächtnis gehalten werden können. Die Kult,ureinheit kann auf dieser Stufe nur dadurch erreicht und erhalten werden, daß eben permanent auf die anderen Texte verwiesen und damit den Zuhörern ständig der aktuelle Stand der Kultur verdeutlicht wird.
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3.1.2 Parallelisierung Die zweite Form der Mnemonik besteht in der Kunst, die z. T. erheblich umfangreichen Texte überhaupt zu memorieren und immer wieder zu· reproduzieren. Dies geschah durch eine ganz spezifISche Form von Intertextualität nämlich durch die Kunst der Parallelisierung von einem Zie1- mit einem Matrix tex t. Mnemotechnik ist so gesehen - wie Bartels feststelle - die Erstellung von 8 Bildarchiven im Kopf des Redners. Wichtig ist dabei, wie Cicero betont, daß diese Gedächtnisbilder auffallend schön oder auch häßlich sind. Sie müssen eben die Seele erschüttern. Die Bilder werden an diesen imaginären Orten abgelegt und vom Redner eingeprägt. Die Topoi der Rede sind dann eben die imaginären Orte in etwa einem imaginären Haus, und die Rede ist das memorierende Durchwandern der Räume dieses Hauses, in denen zuvor die unterschiedlichen Bilder abgelegt wurden. Diese Technik der imaginären Durchwanderung eines Gebäudes kann nun als eine Form der Intertextualität verstanden werden, die das Prinzip der Parallelisierung von Ziel- und Matrixtext realisiert. Wenn ich mir nämlich das Rezitieren eines langen Epos dadurch mnemotechnisch erleichtere, daß ich mir die einzelnen Strophen des Epos bspw. als Zimmer eines Hauses vorstelle, die ich durchwandere, dann ist gleichsam der Zieltext das zu rezitierende Epos. Der Matrixtext, an den ich diesen Zieltext angleiche bzw. mit dem ich ihn parallel setze, ist dann die Beschreibung oder visuelle Vergegenwärtigung des Hauses. Ich lege damit Parallelitäten oder Analogien fest, die mir helfen, den einen Text9 durch den anderen zu reproduzieren.
3.2 Die textuale Kultur Kommen wir nun zur zweiten hier zu betrachtenden Stufe der Kultur, zur textualen Kultur. In dieser Schriftkultur gab es eine entscheidende neue Entwicklung, die wir als eine Externalisierung des Gedächtnisses in den schriftlichen Text oder das Buch bezeichnen können. Prototypischer Träger dieser Kultur ist die Bibliothek. Von dieser Kulturstufe an konnten die diversen Texte, die die Semiosphäre (also die Kultur) bildeten, als materielle schriftliche Texte abgelegt 7
8 9
BarteIs 1994 Zitiert nach BarteIs 1994, 28 Text wird hier wie bei Bystrina im weitesten Sinne eines semiotischen Komplexes verstanden.
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und aufbewahrt werden. Die intertextuale Absicherung und Konsolidierung der Kultur geschah damals und geschieht auch heute noch durch das Prinzip der Heuristik, d.h. der kognitiv aktuellen Intertextualität, bei der die Verknüpfung der Texte durch ein gedankliches In-Verbindung-Setzen im Prozeß der Rezeption und Interpretation mit verschiedenen bereits vom Leser vorher rezipierten bzw. irgendwo auffindbaren Texte geschieht. Die Heuristik, so können wir jetzt sagen, konstituiert die Intertextualität dieser Kulturstufe im Prozeß der aktuellen Rezeption durch den Leser, also im Prozeß der kognitiven Textverarbeitung und Textinterpretation. Aus diesem Grunde benötigt die Schriftkultur die alten mnemotischen Formen der Intertextualität nicht mehr. Der Text kann jetzt im einzelnen durch schriftliche Fixierung erhalten, ja sogar durch Kopieren immer wieder reproduziert werden. Die Herstellung der Kultur im Sinne einer Manifestation der Intertextualität, die in der schriftlosen Kultur durch den mündlich vorgetragenen Textverweis in der jeweils aktuellen Rezitation geschah, kann jetzt durch das wörtliche Zitieren oder bloß indirekte Referieren realisiert werden. Wir haben es jetzt also vor allem mit der textuell manifesten und der aktuell ko gnitiven, aber auch mit der abstrakt potentiellen Intertextualität zu tun. Gerade die letztere kann gegenüber den mnemotechnischen Verfahren der schriftlosen Kultur, bei denen die Herstellung von Intertextualität ja nur im aktuellen kognitiven Vollzug des Barden geschehen konnte, jetzt in der Schriftkultur, in der die Texte erstmals materiell vorliegen, überhaupt wirksam werden. Die Erfmdung der Schrift stellt in diesem Zusammenhang also einen großen Fortschritt dar, insofern als jetzt nicht mehr ~ um die Computermetapher nochmals zu verwenden - die gesamten Texte aktuell im Arbeitsspeicher also im Gedächtnis des einzelnen Barden - gehalten werden müssen. Sie können jetzt vielmehr gewissermaßen auf einer großen kulturellen Festplatte erhalten werden - nämlich in den Bibliotheken, in denen Bücher abgelegt und für lange Zeit unabhängig von irgendeiner Rezeption aufbewahrt werden können. Diese Bücher müssen dann allerdings jeweils im aktuellen Leseprozeß rezipiert werden, damit das darin gespeicherte Wissen wieder aktualisiert werden kann. Das allerdings erweitert das Textnetz der bestehenden Kultur auf eine ungeheure und unermeßliche Weise. Denn es kommen ja nicht nur immer wieder neue Texte hinzu, sondern die alten Texte bleiben auch erhalten und weiterhin verfügbar - zumindest über einen sehr langen Zeitraum.
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3.3 Die hypermediale Kultur Schauen wir uns jetzt auf der Folie des bisher Gesagten die dritte Kulturstufe, die der hypermedialen Kultur, und ihre besonderen Formen von Intertextualität an. Zu diesem Zweck müssen wir uns kurz vergegenwärtigen, was ein Hypertext ist. Dabei werden wir feststellen können, daß gerade dieser Hypertext es ist, der bereits heute in weltweiten on-line Netzen mit gigantischen Speicherkapazitäten verfügbar gehalten wird, den wir als prototypischen Träger dieser Kulturstufe betrachten müssen.
3.3.1 Hypertext I Hypermedia Also: Was ist ein Hypertext? Das Grundprinzip des Hypertextes ist wie in der entsprechenden Literatur immer wieder betont wird 10 , seine Entlinearisierung, d.h. der Hypertext besteht nicht mehr aus einem einheitlichen sukzessive zu rezipierenden, eben linearen Text, sondern aus einem Konglomerat oder Komplex von Texten, zwischen denen sogenannte Referenzverknüpfungen (links) bestehen. Wird Text dabei in seiner allgemeinsten Bedeutung als semiotischer Komplex aufgefaßt, was also dann nicht mehr nur Schrifttext meint, sondern ebenso Bilder, Töne oder Filme einschließt, so wird von Hypermedia gesprochen. Hypertext- bzw. Hypermediasysteme basieren aber auf dem gleichen grundsätzlichen Prinzip einer netzartigen Verknüpfung unterschiedlicher, inhaltlich einheitlicher semiotischer Einheiten, den sogenannten Knoten. Welche unterschiedlichen Knotentypen es gibt und wie sie miteinander verknüpft werden können, ist in den beiden Abbildungen 1 und 2 skizziert. Das Besondere und Neue dieses Mediums besteht neben seiner Nichtlinearität vor allem darin, daß Hypertext- und Hypermediasysteme einen interaktiven Zugriff auf ihre einzelnen Elemente ermöglichen, d.h. jeder Knoten kann entsprechend der vorhandenen Verknüpfungsstruktur von verschiedenen Seiten her angesteuert werden. Dies bedeutet vor allem im Rahmen der Textgestaltung eine In-Sieh-Geschlossenheit der Texte, die es ermöglicht, unabhänig vom jeweiligen Ausgangspunkt den Text zu verstehen.
10
Cf. hierzu etwa Conklin 1987; Gloor 1990; Gloor / Streitz 1990; Kuhlen 1991; Schnupp 1992; Stanley 1993; Hasbrook 1995; Schulmeister 1996.
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Intertextualität und die Interaktivität von Hypertexten
linearer Text Grafik Tran skript Liste Glossar Tabelle
Bild
•
•
Foto
~/'-------' I Simulation
Töne / Geräusche
/~
..... _ - - - - - - -.... ~ Strichanimation Musik Gesang
Bildanimation
Sprache
Film
Bewegung
Abb.l: Die unterschiedlichen medialen Elemente von Hypermediasystemen
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Sven F. Sager
ü---(T-() Kette
a--A-o verzweigte Kette
Hierarchie
Abb. 2:
Grundsätzliche Verknüpfungsstrukturen in Hypertext- und Hypermediasysternen
3.3.2 Interaktivität und Netzstruktur Daß der Hypertext in dieser Form grundsätzlich interaktiv ist, bedeutet im einzelnen, der Benutzer kann - verschiedene Präsentationsformen selber wählen, - in diese jeweilige Präsentation aktiv eingreifen, - worauf der Hypertext jeweils spezifisch zu reagieren in der Lage ist. Diese Interaktivität ist, so können wir jetzt sagen, praktizierbare Intertextualität, und zwar insofern, als sie die textuell manifeste in eine abstrakt potentielle Intertextualität überführt, die aber gleichwohl Aspekte der aktuell kognitiven Heuristik enthält. Was heißt das? Der Textrezipient muß jetzt nicht mehr alle zitierten Texte kognitiv verfügbar halten, um entsprechende heuristische Verknüpfungen zwischen ihnen herzustellen - das leistet jetzt das hypertextuale System für ihn, sondern er kann sie jeweils aktuell aufgrund der vorhandenen Hypertextstruktur verknüpfen - oder es auch lassen. Was im Hypertext/Hypermedium also passiert, ist, daß der kognitive Speicher der Heuristik (d.h. die im Kopf vorhandenen Intertextualität) nun ebenfalls in den digitalisierten Speicher des Computers in Form der pro grammierten Netzstruktur hinausverlagert und damit potentiell ständig bereit ge-
1
.~
Intertextualität und die Interaktivität von Hypertexten
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halten wird. Wir können also sagen: Der Hypertext / das Hypermedium externalisiert nicht nur die bloße Gedächtnisleistung der Textspeicherung, wie es die Schriftkultur gegenüber der schriftlosen Kultur leistete, sondern auch die gedankliche Verknüpfung, die Heuristik des Lesers wird nun in eine externe Speicherstruktur - das programmierte Netz der Verknüpfungen - hinausverlagert. Dies betrifft durchaus auch Texte ohne explizite Intertextualitätssignale. Denn auch sie lassen sich ja durch realisierte Hyptertextverknüpfungen ohne weiteres miteinander vernetzen - und das zu jeder Zeit. Wir haben es hier mit einer ähnlichen Revolution zu tun, wie sie die Erfmdung der Schrift darstellte, die letztlich die diversen Mnemotechniken einer mündlichen schriftlosen Kultur überflüssig machte, indem sie nun die vormals zu memoriernde Textmasse materialisierte, in einen schriftlichen Text überführte und ihn damit der Archivierung und Rezeption in Bibliotheken zugänglich machte. In der hypermedialen Kultur wird nun auch die in der ko gnitiven Heuristik gedanklich aktualisierte Intertextualität in die materiell physikalische Netzstruktur des pro grammierten digitalen Speichermediums hinausverlagert und bereits heute in weltweit verfügbaren on-line Netzen bereit gestellt. In ihnen liegen, interaktiv abrufbar, gleichsam vorgefertigte Heuristiken vor, durch die der Benutzer virtuell wandern kann. Wobei der ideale Hypertext für den Rezipienten auch die zusätzliche Möglichkeit einer Konstituierung eigener Heuristiken, sprich: neuer und anderer Referenzverknüpfungen als der bereits vom Autor vorgegebenen, bietet. Hier entsteht nun allerdings das charakteristische Problem der Navigation und Orientierung in der hypermedialen Netzstruktur. Typische Phänomene in dem Zusammenhang sind das lost in hyperspace, also der Fall, daß der Benutzer auf seinem Weg durch die Verknüpfungsstruktur des Hypertextes die Orientierung verliert und weder vor noch zurück navigieren kann oder der sogenannte serendipity effect, die Tatsache, daß aufgrund der möglichen Verknüpfungen Rezeptionspfade eingeschlagen werden, die ursprünglich gar nicht anvisiert waren, so daß der Rezipient an Stellen gelangt, von denen er vorher gar nichts wußte bzw. zu denen er gar nicht gelangen wollte. Gerade der serendipity effect zeigt die Ambivalenz der Mö glichkeiten - bietet er doch zumindest grundsätzlich die Chance zu völlig neuen und unvermuteten Erkenntnissen, zu denen man aufgrund einer systematischen und linearen Rezeption möglicherweise gar nicht gekommen wäre. Andererseits besteht natürlich die Gefahr, daß dieses Phänomen Verwirrung, Aggression oder Frustration im Rezipienten auslöst und damit jede Form von Erkenntnis unmö glich macht.
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4. Die Verknüpfung der Prinzipien im Hypermedium 4.1 Navigation und Mnemotechnik Um dieses Navigationsproblem und die damit verbundenen Schwierigkeiten zu lösen, bedient sich die hypermediale Kultur Techniken der antiken Mnemonik. So werden etwa die diversen Metaphern, die in der Mnemotechnik verwendet wurden, materiell konkretisiert und zu verschiedenen Bildschirmmetaphern umgestaltet. Der Nutzer erschließt sich Informationen etwa dadurch, daß er gleichsam durch verschiedene virtuelle - also mnemotechnisch metaphorische - Räume wandert und Informationsbruchstücke zusammenträgt, die ihn weiterführen. Wir fmden dieses Verfahren etwa im Zusammenhang mit interaktiven Zeitschriften oder Katalo gen, bei denen der Nutzer zunächst in eine virtuelle Eingangshalle gelangt, von der aus er sich die verschiedenen Texte und Einheiten dadurch erschließt, daß er Gänge oder Räume durchwandert, an deren virtuellen Wänden z. B. die Texte oder Bilder aufgehängt sind. Am weitesten ausgearbeitet ist dieses Prinzip vielleicht in dem Computerspiel Myst, bei dem der Nutzer auf einer Insel landet und nun vor der Aufgabe steht, das Geheimnis dieser Insel bzw. seiner ehemaligen Bewohner zu lösen. Die einzige Möglichkeit, die das Spiel bietet, besteht darin, auf dieser Insel herumzuwandern und Informationen aufzusammeln, die in verschiedener Form dort abgelegt sind. So gibt es z.B. Gebäude, in die man eintreten kann, etwa eine Bibliothek, in deren Büchern man lesen kann oder eine Art Planetarium, deren Geräte man bedienen muß etc. Der Spieler weiß dabei nicht, welche Information wichtig ist und ihn an einer völlig anderen Stelle der Insel weiterbringt. Um die Pro bleme zu lösen, muß er sich nur immer weiter durch die virtuelle Welt bewegen, sich in ihr orientieren und die Informationen an den verschiedenen Orten einsammeln. Hier ist also das antike mnemotechnische Konzept der Durchwanderung von imaginären Räumen verwendet worden, um dem Problem der Verirrung im Informationsraum des Hypertextes zu entgehen. So wie man sich im realen Leben eben an den vielen Einzelheiten seiner Umgebung orientieren kann, so bietet natürlich auch die räumliche Bildschirmmetapher des Hypermediums die Möglichkeit einer Orientierung auf der Basis von auch in der realen Welt anwendbaren kognitiven Karten 11. Das einzige Problem, das damit verbunden ist, besteht darin, daß diejenigen, die auch im realen. Leben räumliche Orientierungsprobleme haben (etwa eine Rechts-Links-Schwäche), natürlich auch erhebliche Schwierigkeiten ha11
Zum Konzept der kognitiven oder mentalen Karten cf. Downs I Stea
Intertextualität und die Interaktivität von Hypertexten
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ben dürften, sich in derartigen virtuellen Räumen zu bewegen. Indem also das Medium sich simulativ der realen Welt immer mehr annähert (man denke sich etwa eine mediale Entwicklung über folgende Stufen: Erzählung/Gesang - Ritual - Spiel - Bild - Text - Foto grafie - Tonaufzeichnung - Film/Video - Hypermediasystem - virtuelle Realität), verliert es auch immer mehr von seinem wirklichkeitsreduzierenden Charakter, durch den häufig ja erst die die Erkenntnis konstituierende Wirkung zustande kommt: Und es handelt sich entsprechend damit die ganzen Probleme ein, die ein Sich-In-Der-Wirklichkeit-Zurechtfinden eben beinhaltet.
4.2 Das Prinzip der Externalisierung von Intertextualität Mit dem Auftreten von Hypertext und Hypermedia als computerrealisierten Medien wird also ein kultureller Zustand erreicht, bei dem sowohl die Textspeicherung wie die Intertextualität zu anderen Texten der Kultur externalisiert werden, d.h. so wie der Barde alle wichtigen Texte seiner Kultur mental, die Bibliothek textual bereit gehalten hatte, so hält der Computer sämtliche relevanten Texte samt ihren möglichen Relationsstrukturen in seinem Speicher parat und kann die Intertextualität per Knopfdruck am Bildschirm konkret realisieren, indem er die verschiedenen verknüpften Texte gleichzeitig zur Verfügung stellt. Das hypermediale/hypertextuale Prinzip der Interaktivität ermöglicht es dabei, diese virtuell auf Abruf bereit gehaltenen Texte und ihre Verknüpfungsstruktur jederzeit aufzurufen und zu aktualisieren - und das heißt miteinander zu verknüpfen. Potentielle Intertextualität wird so gleichsam zu einer virtuellen Intertextualität, in der der Nutzer sich die Texte und Informationen in den visualisierten Screenmetaphern der Bildschirmoberflächen erschließen kann. Textmasse, intertextuale Heuristik wie mnemotechnische N avigations- und Orientierungsbilder sind dabei in das digitale Speichermedium des Computers bzw. des On-line Netzes hinaus verlagert.
5. Schluß und Zusammenfassung Fassen wir zusammen: (1) Die schriftlose Kultur der Barden bediente sich spezifIscher Mnemotechniken, um die kulturkonstituierende Intertextualität im jeweiligen Rezitationsprozeß zu praktizieren.
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Die textuale Kultur der Bibliotheken hielt in einem mächtigen papierenen Festspeicher die Menge verfügbarer kulturbildenden Texte bereit, deren abstrakt potentiee bzw. textuell manifeste Intertextualität dann allerdings über heuristisch aktive Rezeptions- und Interpretationsprozesse erschlossen werden mußte. Die hypermediale Kultur der on-line Netze bzw. der lokalen Hypermediaanwendungen externalisiert die beiden Prinzipien der Gedächtnisfixierung und heuristischen Relationierung und erschließt dem Nutzer die immensen Informationsmengen mittels einer visuellen Konkretisierung alter antiker mnemotechnischer Raummetaphern in einer navigationsunterstützenden, bildhaften Screenoberfläche im Sinne virtueller Welten.
6. Verzeichnis der zitierten Literatur Barteis, Klaus (1994): Die Welt als Erinnerung. Über Mnemotechnik und Geschichte. In: Worldmedia interactive. Interaktive Zeitschrift auf CD-ROM. Hamburg 1994 Bystrina I. (1989): Semiotik der Kultur. Zeichen - Texte - Codes. Tübingen = Probleme der Semiotik Bd. 5 Conklin, Jeff (1987): Hypertext: An introduction and survey. In: Computer 9/ 1987: 17-41 Downs, R. M. / Stea, D. (1985): Kognitive Karten und Verhalten im Raum - Verfahren und Resultate der kognitiven Kartographie. In. Schweizer, H. (ed.) (1985): 18-43 . Downs, R. / Stea, D. (1977): Maps in Mind. New York. Dt.: Kognitive Karten. Die Weltin unseren Köpfen. New York Gloor, P.A. (1990): Hypermedia - AnweIidungsentwicklung. Eine Einführung mit HyperC ard-B ei spielen. Stuttgart 1990 Gloor, P.A. / Streitz, N.A. (eds.) (1990): Hypertext und Hypermedia. Von der theoretischen Konzeption zur praktischen Anwendung. Berlin etc. Hasebrook, I. (1995): Multimedia-Psychologie. Eine neue Perspektive menschlicher Kommunikation. Heidelberg etc. Holthius, Susanne (1993): Intertextualität. Aspekte einer rezeptionsorientierten Konzeption. Tübingen Kuhlen, R. (1991): Hypertext. Ein nicht-lineares Medium zwischen Buch und Wissensbank. Berlin etc. Lotman, I.M. (1990): Über die Semiosphäre. In: Zeitschrift für Semiotik 12-4/1990: 287-305
Intertextualität und die Interaktivität von Hypertexten
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Sager, S.F. (1995): Hypertext und Kontext. In: E.M. Jakobs / D. Knorr / S. Molitor-Lübbert (eds.): Wissenschaftliche Textproduktion. Mit und ohne Computer. FrankfunJM: 209-226 SChnupp, P. (1992): Hypertext. MünchenlWien Schulmeister, R. (1996): Grundlagen hypermedialer Lernsysteme. Theorie, Didaktik, Design. Bonn etc. Schweizer, H. (ed.) (1985): Sprache und Raum. Ein Arbeitsbuch für das Lehren von Forschung. Stuttgart Stanley, T. (1993): HyperTalk - HyperText. Programmierung von Apples HyperCard. Hannover Vivelo, F.R. (1978): Cultural anthropology handbook. A basic introduction. Dt.: Handbuch der Kulturanthropologie. Eine grundlegende Einführung. Stuttgart 1981
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Ernest W.B. Hess-Lüttich (Bern)
Text, Intertext, Hypertext - Zur Texttheorie der Hypertextualität 1. 2. 2.1 2.2 2.3 3. 3.1
Literaturgeschichte und Medienökologie Text, Intertext, Hypertext Text in Sprach-, Literatur- und Zeichentheorie Intertextualität und Intermedialität Vom linearen zum holistischen Text Die Textualität von Hypertext Die historische Perspektive: Von der Turing-Maschine zum multimedialen Text-Generator 3.2 Die strukturelle Perspektive: Systemaufbau der multimedialen Textintegration 3.3 Die ästhetische Perspektive: Hypertext, Literatur und Maschine 4. Hypertext als Thema Angewandter Textwissenschaft 5. Verzeichnis der zitierten Literatur
1. Literaturgeschichte und Medienökologie
Hand aufs Herz: war das vorauszusehen? Daß Germanistensich ihres Gegenstandes unsicher würden? Daß sie die seit Jahrhunderten gesicherten Gemarkungen ihres Feldes jählings in Frage gestellt sähen durch technische Innovationen, mit denen sie nichts zu schaffen hatten? Daß Colloquien und Symposien und ganze Germanistentage der Frage gewidmet sein würden, welche Rolle künftig die "Germanistik in der Mediengesellschaft" einzunehmen gedenke?1 Daß das Fundament je wanken könnte, auf dem gültig darüber entschieden würde, was Literatur sei und was ein Text? War das vorauszusehen, vor zwei Dekaden zum Beispiel, als Helmut Kreuzer behutsam dafür plädierte, "Veränderungen des Literaturbegriffs" im Umfeld der Medienkonkurrenz systematisch zu reflektieren (Kreuzer 1975)? Als das von Norbert Wiener (1964!) ausgerufene ,,zeitalter der Nachrichtentechnik" junge Kreuz-und Querdenker zum Plädoyer für einen Paradigmen1
Aus der anschwellenden Flut einschlägiger Sammelbände sei hier nur exemplarisch verwiesen auf Segeberg ed. 1987, Oellers ed. 1988, Schütz ed. 1988, Grossklaus & Lämmert eds. 1989, Hess-Lüttich & Posner eds. 1990, Elm & HiebeI eds. 1991; HessLüttich ed. 1991, id. ed. 1992, Jäger & Switalla 1994, Nöth ed. 1997 [im Druck]. Die folgenden Überlegungen sind im Interferenzbereich zwischen Linguistik und Literaturwissenschaft angesiedelt und wurden zunächst in der Schweiz als (unkorrigierte) Vortragsfassung in literaturwissenschaftlichem Kontext vorgestellt (in: Söring & Sorg 1997: 53-83).
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Ernest W. B. Hess-Lüttich
wechsel in der Literaturwissenschaft inspirierte (Kittler 1985)? Als Ernest Hess-Lüttich eine Sektion ,,Multimediale Kommunikation~' in der Deutschen Gesellschaft für Semiotik ins Leben rief (1975) und die Zeitschrift Sprache im technischen Zeitalter ein Sonderheft zu diesem Thema publizierte (cf. Höllerer ed. 1975; Hess-Lüttich 1978) - lange bevor ,,multimedia" als Werbebegriff der Computerindustrie in aller Munde war? War das vorauszusehen? Daß in den Hort des Literarischen einbrechen könne, was in den Feldern der Techno-Kunst und Video-Plastik und Computer-Musik zur geläufigen Gewohnheit wird? Daß die ,,Affmität von poiesis und techne" in einer Weise wachsen könne, daß "ein exklusives Beharren auf ,natürlicher Originalität' zwangsläufig unter Ideolo gieverdacht" zu geraten drohe (Söring 1997: 43)? Daß das Bild vom haftenden Autor, der einsam an seinem Texte feilt, verschwimmen könne zur Pluralität anonymer Autorschaften, die an Text-Netzen unendlich weiterflechten? Daß sie den primären Text einfach "durch beliebig zu öffnende Fenster nach allen Seiten hin austiefen, ergänzen, umstellen - und vor allem auch verstellen und verändern" dürfen (Lämmert 1995: Ms. 12)? Natürlich war das vorauszusehen. Zumindest für jene, die als ,Freunde des Wortes' und als Zeit-Zeugen der mittlerweile "dritten industriellen Revolution" an der Schwelle zum aufziehenden "Telekommunikationszeitalter" den Blick über ihre philologischen Umfriedungen hinaus wagten. Intellektuell vorausgedacht wurden die Veränderungen längst, in ihren Strukturen, Tendenzen, Perspektiven, nicht im technischen Detail: Walter Benjamin, N orbert Wiener, Marshall McLuhan, Walter Höllerer, Lars Gustafsson, Roland Barthes, Jacques Derrida, Jean Baudrillard - und wer heftet sich nicht·alles an ihre Fersen ... Literar- wie Sprachhistoriker haben in der Germanistik beharrlichen Widerstand geleistet gegen die Zulassung· von Fragen nach den Veränderungen literarischer Formen und sprachlicher Gewohnheiten durch die "zweite industrielle Revolution" (Wiener 1964: 150). Angesichts der dritten sind Fragen nach der Rück-Wirkung der ,Automaten' auf Literatur und Sprache nicht mehr unter ihrer Würde. Sie eröffnen vielmehr eine neue Perspektive auf die "Literatur im technischen Zeitalter" (Elm & Hiebel eds. 1991: 1lf.): Welche sprachlichen Muster und welche literarischen Formen generierte der Buchdruck? Welchen Einfluß nahm die Entwicklung der Briefpost [und dann der Telegraphie] auf die Struktur literarischer Werke? [... ] Welche Effekte zeitigt die phonographische Fixierung gesprochener Sprache (Schallplatte, Tonband, Tonfilm, Videoband), welche die Möglichkeit drahtlos-telegraphischer (funkischer) und telephonischer Tele-Kommunikation? In welcher Weise beeinflußt der [... ] Rundfunk die Schreib- oder Buchstaben-Kunst?
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Verändern die Schreibmaschine und schließlich der elektronische Textautomat bzw. der Personal Computer die Struktur des literarischen Textes? Vor zwanzig Jahren wurden meine in systematischer Absicht programmatisch formulierten Thesen zur multimedialen Kommunikation, zu Problemen intermedialer Code-Relationen, zu den transdisziplinären Aufgaben Angewandter Textwissenschaft (Hess-Lüttich 1978)2 mit Nichtbeachtung milde übergangen. Mittlerweile sind sie von der technischen Entwicklung eingeholt und überholt, und jedem Oberschüler ist ihre Substanz vertrauter als den Zunftvertretern, die das Thema jetzt als vielleicht auch germanistisches entdecken. In den letzten Jahren gewinnt es durch zwei technologische Entwicklungen an zusätzlicher Brisanz, die nach dem Urteil von Milde David Ledgerwood manche Literarhistoriker motiviert "to abandon their self-imposed insularity" (Ledgerwood1997 in press.: Ms. 2): The fIrst was the rapid expansion of what is now called the internet, with its possibility of creating texts that could be read at a distance. Together with a second change, the introduction of multimedia computers and multimedia materials, a revolution in literary input has taken place. [... ] With the advent of multimedia poetry and novels using hypertext links, literary critics are being forced to accept that their text-centered world is being challenged. Von der so markierten Position aus unterzieht Ledgerwood ausgewählte Beispiele ,multimedialer Literatur', 3 einer ebenso technisch versierten wie ästhetisch sensiblen Analyse, die hier indes nicht unser Thema ist. Mein Interesse zielt vielmehr auf den Textbegriff, von dessen bislang gültigem Verständnis Ledgerwood sich verabschieden zu sollen empfiehlt. Während der etablierte Philologe noch schwankt, ob sein Fach möglicherweise etwas mit den Prämissen und Zielen der neuerdings ,Textwissenschaft ' etikettierten BrückenDisziplin ,Diskursforschung , zu tun haben könnte oder vielmehr als ,Medienkulturwissenschaft' neu zu begründen sei4 , schwirrt ihm schon der Kopf vom Wirbel der Neu-Wörter wie Internet und Interface und Intertext
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Vorgetragen 1975 im Rahmen der Gründungsversammlung der Sektion "Multimediale Kommunikation" auf dem ersten Colloquium der Deutschen Gesellschaft für Semiotik in Berlin, in erweiterter Fassung publiziert in Borbe & Krampen eds. 1978: 21-48; cf. auch Hess-Lüttich ed. 1982. Ron Mann: Poetry in Motion, Voyager 1992; Greg Roach: The Madness 0/ Roland, HyperBole 1993; sowie ,,multimedia games wh ich come very elose to being multimedia literature such' as The Vir.tual Murder Series [or] The Adventures 0/ Sherlock Holmes, and adventure science fiction games such as Beyond the Wall 0/ Stars, Myst" etc. (Ledgerwood 1997 in press. Ms. 3). Cf. Plett 1975, van Dijk 1980, Hess-Lüttich 1984; Link & Parr 1990; Scheffer 1992; Schönert 1993; Schmidt 1994; Antos et al. eds. [LVorb.].
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und Hypertext -. und was ein Text sei, wird ihm immer rätselhafter. Wie bei vergleichbar modem-schillernden und deshalb gern polyse~ gebrauchten Begriffen wie ,Medium' (Posner 1985) oder ,Code' (Hess-Lüttich 1994) könnte hier eine genauere Festlegung dienlich sein.
2. Text, Intertext, Hypertext 2.1 Text in Sprach-, Literatur- und Zeichentheorie Das Nachdenken über den Text hat eine lange Tradition in der Literatur- und Sprachtheorie (natürlich auch in der Zeichen-, Medien- und Kulturtheorie). Ein ausführliches Resümee der jüngeren Geschichte und zentralen Positionen der Texttheorie, das ich für das Folgende voraussetze, fmdet sich in meinem Buch über die Grundlagen der Dialoglinguistik (Hess-Lüttich 1981: 318342; cf. Schlieben-Lange 1988: 1205-1215). Der darin bereits enthaltene Vorschlag einer genauen Differenzierung zwischen linguistischen, literarischen und semiotischen Textbegriffen hat sich bewährt: sprachliche Texte als materiale Substrate dialogischen Handelns in Form relationaler Strukturgefüge von verbalen Elementen wurden danach durch Kategorien wie Extension und Delimitation, Kohäsion und Kohärenz, Kotext und Kontext, Strukturalität und Systematizität expliziert (cf. de Beaugrande & Dressler 1981)5 und im Hinblick auf die ihnen inhärenten referentiellen, typologischen, modalen, temporalen, collocativen und colligativen Relationen beschrieben (cf. vanDijk 1977; Halliday 1978). Der linguistische Textbegriff kann zudem zeichentheoretisch elaborieit und auch auf andere als verbale Codes beliebiger semiotischer Struktur und Modalität bezogen werden. Dem entspricht die (schon in der Prag er und der Tartuer 'Schule übliche) Unterscheidung zwischen ästhetischen und poetischen Texten. Der poetische Text wird dabei z.B. im Sinne der kultursemiotisch orientierten Studien von Jurij Lotman (1972, 1973) in der neueren Literaturtheorie als "semantisch gesättigtes" "System von Systemen" aufgefaßt, dessen Bedeutung einerseits aus der Spannung zwischen seinen Subsystemen, durch Serien von Ähnlichkeiten, Oppositionen, Wiederholungen, Parallelismen etc. erwachse, andererseits durch die Relationen zu anderen Texten, Codes, ästhetischen Normen, litera-
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De Beaugrande & Dressler (1981: 3-14) formulieren sieben Kriterien der Textualität: Kohäsion, Kohärenz, Intentionalität, Akzeptabilität, Informativität, Situationalität, Intertextualität. (Der hier 'genannte Begriff der Intertextualität orientiert sich freilich weniger an Kristeva als an Quirk).
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rischen Konventionen, sozialen Prämissen im ,Dialog' mit dem Leser (Bachtin) entstehe (cf. Eagleton 1988: 79-109). Beide Komplexe werden heute im literaturtheoretischen Programm "semiotischer Diskursanalyse" anspruchsvoll integriert, indem die Frage nach der semiotisch speziftschen Struktur des literarischen Textes mit der nach der Hierarchie seiner kulturellen Einbettungskontexte und intertextuellen Verweisungs bezüge verbunden und Literarizität aus der Spannung zwischen immanenten (graphemischen, phonemischen, morphemischen, lexemischen, syntaktischen, suprasegmentalen) (Sub-)Systemen und externen (diskursiven, sozialen, funktionalen, kulturellen, institutionellen) Faktoren abgeleitet wird (cf. Link & Parr 1990: 107-130). Dem trägt - noch jenseits literatur-, sprach- oder medientheoretischer Relevanznahmen - eine texttheoretische Modellierung Rechnung, die den Text als ,konstruktive Gestalt' bzw. als Zeichengefüge (oder Superzeichen) bestimmt, nicht also mehr wie in der Textlinguistik als lineare Kette von Zeichen (cf. Hess-Lüttich 1981: 324). Eine solchermaßen im Prinzip bereits ,holistische' Modellierung des Textes ist kategorial hinlänglich komplex für die Integration auch nicht-linearer, mehrfach-codierter, multi-medialer Texte in den Gegenstandsbereich der Texttheorie. Sie kann die Zeichendimensionen des Textes auf der Ebene des Superzeichens analytisch entfalten und sie etwa (primär) als syntagmatisch-colligatives Objekt der Textsyntaktik oder als referentiell-signifikatives Objekt der Textsemantik oder als dialogisch-funktionales Objekt der Textpragmatik thematisieren, solange bewußt bleibt, daß Textualität - als Manifestationsmodus (als ontisches Strukturmerkmal) kommunikativer Prozesse zwischen (hypothetisch) handelnden sozialen Subjekten - sich erst im Zusammenwirken der semiotischen Dimensionen verwirklicht als kommunikative Sachverhalte vermittelnde Semiose, die im Falle poetischer Texte noch überlagert wird durch in der Literaturtheorie genauer beschriebene "sekundär modellbildende Systeme" (Au tofunktio nalität , Aktualisierung/Desautomatisation, Konnotativität, Polyisotopien, Ikonizität etc.: Lotman 1973; Nöth 1985: 455-498; Link & Parr 1990).
2.2 Intertextualität und Intermedialität Ein weiteres Teilstück der Texttheorie muß ich hier ebenfalls voraussetzen, das in den letzten Jahren besondere Aufmerksamkeit erlangte: das Konzept
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der Jntertextualität. 6 ,,Das Phänomen der Vernetzung von Texten" ist nun beileibe ,,keine Entdeckung der zeitgenössischen Literaturtheorie; Rhetorik und Poetik thematisieren dieses schon lange ... " (Holthuis 1993: 2). In der Tat gehört "die Frage des Verhältnisses zwischen Texten-seit _jeher-zum Kernbereich philologischer Diskussion" (Hess-Lüttich 1987: 9), da kein Text als creatio ex nihilo zu verstehen ist (cf. Stierle 1984). Was aber ist ein ,Intertext'? Ein Text "zwischen" anderen Texten, wie das Wort suggeriert? Und was unterscheidet ihn dann von diesen? Gibt es (autonome) Texte ohne Intertextualität? Und Intertexte, die keine Texte sind? Solche und ähnliche Fragen sind mittlerweile hinlänglich erörtert worden (cf. Ette 1985; Plett 1991). Hier geht es, noch diesseits der Verzweigungen, die die Diskussion in Textlinguistik und Semiotik, Text- und Literaturtheorie mittlerweile erfahren hat, um die mit diesem Begriff handlich begreifbare Formenvielfalt der Bezüge zwischen (ästhetischen oder nicht ästhetischen) Texten, also nicht nur die syntaktischen Verweise von Texten auf Prätexte (wie Zitate, Anspielungen, Parodien), nicht nur die strukturellen Homologien, die Texte einer Gattung oder Textsorte zuweisen, nicht nur semantische Relationen, die Gegenstand der Topos-, Motiv-, Stoff- und Quellenforschung sind, sondern 1m Sinne Janos PetöflS um die Summe der Relationen zwischen "dominant verbalen semiotischen relationalen Objekten [ ... ]" (Holthuis 1993: 249). Dieser semiotisch präzisierte Begriff von Intertextualität ,,merely indicates that one text refers to or is present in another one" (Mai 1991: 51) und grenzt sich mithin von dessen Globalverständnis in poetologisch-poststrukturalistischen Ansätzen (in der Nachfolge von Julia Kristeva: zur Kritik cf. Pfister 1985) ebenso ab wie von den linguistisch-reduktionistischen Konzepten, die Intertextualität als dem Text inhärente Eigenschaft zu bestimmen suchen, die durch explizite Merkmale intersubjektiv nachweisbare Verweisrelationen konstituiert. 7 Die Instanz zur Herstellung dieser Bezüge ist vielmehr der Leser, für den es allerdings nicht belanglos ist zu wissen, ob ein Autor einen Prätext gekannt hat oder nicht, ob er über das gleiche Textrepertoire verfügt oder nicht, ob er den Verweis-Instruktionen des Textes zu folgen weiß oder nicht. Die traditionellen Skalierungen von Intertextualität nach Maßgabe von Kriterien der Referentialität, Kommunikativität, Au to reflexivität , Struktura6
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Cf. zum Folgenden exemplarisch Lachmann 1984; Stierle 1984; Ette 1985; Harty 1985; Broich & Pfister eds. 1985; Zander 1985; Hess-Lüttieh ed. 1987; Worton & Still eds. 1990; Plett 1991; Holthuis 1993. ,,Any merely inter-literary, inter-linguistic taxonomie attempt will serve mainly archival purposes and even these in a slightly antiquated fashion" (Mai 1991: 52).
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lität, Selektivität, Dialogizität (cf. PfIster 1985: 25-30; Plett 1991; de Beaugrande & Dressler 1981: 188-215) und Typologisierungen ihrer TransferFormen im Hinblick auf Sprache (z.B. Übersetzungen), Sprachstufe (z.B. mittelhochdeutsche Epen in modernen Fassungen), Sprachvarietät oder Sprachregister (z.B. Dialektfassungen klassischer Balladen; populärwissenschaftliche Sekundär-Information), auf Gattung oder Textsorte (Parodien, Gegendarstellungen, Rezensionen), auf Medien nicht zuletzt (worauf sogleich zurückzukommen sein wird), fmden nun im Hypertext-Konzept ihre logische Fortsetzung, Anwendung und Ausweitung._ Denn die Herstellung intertextueller Bezüge ist das zentrale Kennzeichen von Hypertext, mittels dessen etwa - wie beim Shakespeare Multimedia Projekt am MIT8 - ein Drama als gespeicherte Textbasis ergänzt wird durch weitere ,Fenster' mit Textvarianten, Worterklärungen, Kommentaren, Literatur- und Quellenverweisen, Bild- oder Tonmaterial, Inszenierungsbeispielen, Filmversionen. Mai (1991: 50) erachtet deshalb Hypertext-Systeme als insofern prädestiniert für intertextuelle Analyse, als sie "a viable technical solution [darstellen] for those intertextualists interested in pointing out interconnections in large archives of diverse kinds of text (Y'erbal, visual, aural) as it allows the construction of comprehensive-informational networks." bamit rückt jedoch ein Typus von Intertextualität ins Zentrum des Interesses, der die (linguistische und literarische) Texttheorie vor ganz neue Herausforderungen stellt und für die Texttheorie der Hypertextualität zu einem weiteren (hier nicht zu entfaltenden) Kernstück wird: die Intermedialität. Da modeme Kommunikationsverhältnisse sich zunehmend "durch mediale Verbundsysteme, intermediale Fusionen und Transformationen" auszeichneten, fordert Müller (1992: 18) folgerichtig eine Theorie der Intermedialität, die er in Kürze in Form einer Habilitationsschrift vorlegen zu können hofft. Ihre Aufgabe wäre die Konstruktion des intermedialen Regelsystems, das den Übergang von Texten eines Mediums in Texte eines anderen mit ihren je. weils medienspeziflSchen Coderelationen zu beschreiben erlaubt. Die Forderung einer systematischen Medienkomparatistik ist schon älter (cf. Faulstich 1982: 46-58), und eine Fülle von Fallstudien belegt mittlerweile eindrucksvoll ihre Berechtigung auch in den Textwissenschaften. 9
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Das System verbindet die Theaterstücke mit Beispielen ihrer Inszenierungen und anderen medialen Varianten (cf. Zander 1985) zum Zwecke der Analyse intermedialer Übersetzungen. Über weitere Anwendungsmöglichkeiten von Hypertext orientiert Fendt 1995: 78-87. Cf. Hess-Lüttich ed. 1987, id. & Posner eds. 1990, id. ed. 1991, id. ed. 1992, id. & Müller eds. 1994, id. & Holly & Püschel eds. 1996.
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Vor dem Hintergrund der technischen Entwicklung im Bereich multimedialer Kommunikation gewinnt sie noch einmal an Zugkraft (cf. Hess-Lüttich 1992). Wie kann die Repräsentation von Wissen in multimedial zusammengesetzten Texten optimiert werden? Welchen Veränderungen unterliegt die Information beim Transfer von einem Medium ins andere? Welche Wirkungen hat die Transformation seriell-deduktiver Wissensverarbeitung in linear strukturierten Texten zu assoziativ-konzeptueller Wissensverarbeitung in mehrfach-codierten Textensembles auf deren Rezeption etwa in HypertextProgrammen autonomen Lernens? Welche Folgen hat der Übergang~Qn .ckL. linearen Textstruktur zur ,holistischen' für die Unterscheidung-zltvischen ,Autor' und ,Leser' im Falle von potentiell beliebig expandierbaren,J11odifizierbaren, manipulierbaren Hyperdokumenten?
2.3 Vom linearen zum holistischen Text Theodor Holm Nelson defmierte ,Hypertext' einmal als ,,non-linear text" (Nelson 1967: 195). Was wäre demgegenüber ein linearer Text? Als im traditionellen Sinne ~linear gelten Texte, deren Materialität eine feste Folge ihrer seriellen Elemente bedingt. Natürliche gesprochene Sprache etwa sei durch ihre zeitlich lineare Abfolge ohne räumliche Extension charakterisierbar (Nöth 1994). Natürliche geschriebene Sprache sei auf den verschiedenen Ebenen ihrer linguistischen Beschreibung durch die räumlich-lineare Abfolge ihrer Segmente (Phoneme, Moneme, Sätze, Paragraphen, Kapitel etc.) gegliedert. Diesem Gliederungsprinzip unterliege auch der Leser in seiner Lektüre von Texten. Trifft dies eigentlich so uneingeschränkt zu? Ist der Leser nicht längst daran gewöhnt, bestimmte Textsorten anders zu lesen als von Letter zu Letter sich hangelnd? Er überfliegt, blättert durch, liest quer oder diagonal oder kursorisch, er folgt Querverweisen, verknüpft thematisch oder argumentativ verbundene Passagen über weite Einschübe hinweg, er läßt sich von AutorInstruktionen vor- und zurückverweisen, nimmt nebenbei Fußnoten oder Anmerkungen, Marginalien oder Kommentare zur Kenntnis, verschafft sich einen Überblick durch Inhaltsverzeichnisse oder Stichwortregister , folgt den Lemmata in Enzyklopädien oder Wörterbüchern in eigener Regie. Den nicht-linearen Aktivitäten des Lesers bei der Rezeption .vonJexten (das gilt natürlich erst recht für nicht-verbale Texte wie numerische Tabellen, graphische Abbildungen, Photos, Bilder, Skulpturen, Fresken usw.) wird der semiotische Textbegriff demnach eher gerecht als der linguistische. Wer den Text von vornherein als ,konstruktive Gestalt', als Gefüge, Gewebe, Ge-
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flecht, als Netzwerk auffaßt, statt nur als Kette, Linie, Sequenz, Syntax von Zeichen10 , für den verliert der Übergang vom ,analogen' zum ,digitalen' Text, vom Text zum Hypertext, die jetzt allenthalben diagnostizierte Qualität des Quantensprungs. Die Idee, auf die das multimediale Konzept rekurriert, das verbale, paraverbale und non-verbale Codes (Sprache, Graphik, Farbbilder, Bildanimation, Töne, Klangsynthese, Film etc.) textuell integriert und intertextuelle Anschlußstellen in potentiell beliebiger Zahl bietet, reicht weit in vorelektronische Zeiten zurück. Die jüngere Hypertext-Historiographie, sorgsam nachgezeichnet etwa bei Kuhlen (1991) oder Fendt (1995: 12-52), unterscheidet Phasen der Mechanisierung (1932-1967), Digitalisierung (1961-67), Spezialisierung und Kommerzialisierung (1985- ?). Vannevar Bush schwebte eine Maschine vor - er taufte sie Memex -, die Informationen nach einer ganz anderen als der herkömmlichen, den Regeln formaler Logik und starrer Indexierung folgenden Methode zu speichern und abzurufen erlaube. Nach dem Modell assoziativer Denkprozesse sollten einzelne ,Dokumente' zu einem netz artig verknüpften Informationssystem verbunden werden: die Keimzelle des heutigen Internet oder des WorldWideWeb. l1 Dieser 1945 in The Atlantic Monthly publizierte Vorschlag zur Entwicklung von Text-Automaten "that serve a man's daily thoughts directly, fitting in with his normal thought processes, rather than just do chores for him" (Bush 1967: 76), wurde später von Douglas Engelbart und Theodor Holm Nelson aufgegriffen, verfeinert und fortentwickelt. Die forschungsgeschichtlich hochinteressante Rekonstruktion dieser Entwicklung ist hier nicht unsere Aufgabe (cf. dazu z.B. Nyce & Kahn eds. 1991; Coy 1994; S.u. Abs. 3.1). Beide folgen Bushs Assoziationsansatz zur Textvernetzung. Engelbart konzentriert sich dabei auf die maschinelle Simulation heuristischen Problemlösungsverhaltens und schlägt damit die Brücke zwischen Kognitionspsychologie, Linguistik und Computerwissenschaft. Seine Anregungen sollten einen nicht unerheblichen Einfluß gewinnen auf neuere geisteswissenschaftliche Ansätze texttheoretischer Modellbildung (s.u. Abs. 3.3). Noch deutlicher wird dieser Brückenschlag zwischen Geisteswissenschaft und Technologie der Automaten bei Theodor Holm Nelson, der in den 60er
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In die gleiche Richtung zielte bereits meine Kritik (1981) an einem in mehrfacher Hinsicht reduktionistischen, rein syntaktisch definierten, linguistischen Textbegriff (paradigmatisch etwa bei Plett 1975: s. dazu Hess-Lüttich 1981: 325). Zu Internet und WordWideWeb cf. Krol 1992: 227-242. Es ist bezeichnend, wie nahe die Metaphorik einerseits dem neurophysiologischen Modell des wohl eher assoziativparallel als deduktiv-seriell funktionierenden Gedächtnisses ist, andererseits dem semiotischen Konzept von Text (cf. Rieger 1994: 391).
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Jahren den Begriff Hypertext prägt 12 und in seinem Hauptwerk mit dem programmatischen Titel Literary Machines (Nelson 1987) von der Prämisse seinen Ausgang nimmt, "that hypertext is fundamentally traditional and in the mainstream of literature" (Nelson 1987: 1/17). Literatur ist dabei für ihn der sich in historischer Tradition entfaltende Umgang mit Texten flktionaler oder nicht-fIktionaler Art. Was diese Texte jedoch von Hypertext unterscheide, sei ihre Struktur der linearen Sequenz, der inhaltlichen Organisation des Darstellungsverlaufs und der semiotischen Modalität der Präsentation. Hypertext erweitere die Freiheit des Leser im Umgang mit dem Text entscheidend (Nelson 1967: 195): elektronische Anschlußstellen (,,links") erlaubten ihm (durch Verzweigung ,,into trees and networks") den Zugriff auf andere (räumlich noch so weit entfernte) Texte, er bestimme den Detaillierungsgrad der Darstellung (,,multiple levels of summary and detail"), er entscheide über die Darbietungsform der Information in Wort und Schrift, in Bild oder Ton, in Graphik oder Film oder allem zusammen, er werde vom passiv rezipierenden Leser zum aktiv in den Textprozeß eingreifenden Co-Autor, der den Text in seinen Teilen ergänze, verkürze, verändere, manipuliere, destruiere nach seinem Gusto und Interesse (cf. Landow 1992: 5). Hypertext werde so nachgerade zum methodischen Instrument der Dekonstruktion schlechthin. Dies wirft nun in der Tat einige Fragen auf, die die traditionelle Texttheorie im Kern berühren und ihre Neukonzeptualisierung erforderlich machen. Welches ist die Einheit des Textes, wenn seine Gestalt so frei manipulierbar ist? Welches sind seine Segmente, wenn der Wechsel zwischen den Codes Änderungen oder Verluste der Informationsstruktur bedingt? Was sind die ,nuklearen', nicht weiter reduzierbaren oder transformierbaren Einheiten? Welches sind die Grenzen des Textes, die ihn von anderen Texten, Kontexten, Ko-Texten trennen? Wie verändert sich Textualität beim Übergang vom analogen zum digitalen Medium? Welche Bedeutung transportiert ein Text, der sich im Prozeß jeweiliger Lektüren erst konstituiert? Wie steuern die audio-visuellen Codes diesen Prozeß? Welche Anwendungsperspektiven eröffnet die beliebige extensionale Expandierbarkeit und plurimediale Transformierbarkeit des Konzeptes für die Angewandte Textwissenschaft? Es ist kein Zufall, daß Post-Strukturalisten wie Roland Barthes, Dekonstruktivisten wie Jacques Derrida, Rezeptionstheoretiker wie Wolfgang Iser, Semiotiker wie Umberto Eco entlang solcher Fragen texttheoretisch voraus12
Der von Gerard Genette im Rahmen seiner Intertextualitätstheorie (1982: 7) gebrauchte Begriff von Hypertext zur Bezeichnung des Rückverweises eines Posttextes auf einen Prätext (,,hypotexte") ist demgegenüber eine rein literarische Kategorie, die er von Mieke Bal übernimmt (cf. auch de Saussures ,,Hypogramme"): Genette 1982: 11,469.
Text, Intertext, Hypertext
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gedacht haben. Diese geisteswissenschaftliche Tradition des Konzeptes gilt es gegen dessen endgültige Usurpation durch die Automaten-Ingenieure zu verteidigen, insbesondere solange seine "praktische Umsetzung in Anwendungszusammenhängen [... ] bisher im wesentlichen dem Bereich der Ingenieur- und Naturwissenschaften zugute gekommen [sei und] von einer erfolgreichen Anwendung und Übertragung dieser Ansätze im Bereich der Geisteswissenschaften bisher nicht die Rede sein" könne (Rieger 1994: 376 f.).
3. Die Textualität von Hypertext 3.1 Die historische Perspektive. Von der Turing-Maschine zum multimedialen Text-Generator In seinen ,,Fünf Thesen zur Geburt der Hypermedien" rekonstruiert der Bremer Informatiker Wolfgang Coy die historischen Bedingungen der gegenwärtig einsetzenden und im nächsten Jahrhundert zur vollen Entfaltung gelangenden ,,kulturell subversiven" Kommunikationsrevolution durch die Omnipräsenz leistungsstarker Medienvernetzung (Coy 1994: 69-74; cf. Hiebels "Tabelle zur Geschichte der Medien-Technik" in Hiebel 1991: 186-224). So wie einst die Schrift das flüchtige, gesprochene Wort überindividuell verfügbar, prüfbar, übertragbar, fruerbar machte, so wie im 12. Jahrhundert bes~immte Textbausteine (wie die Gliederung in Paragraphen, Absätze, Kapitel, Indices, Inhaltsverzeichnisse) den Schritt vom Manuskript zum Buch ermö glichten, so wie die ,,historische Konstruktion des Textes [... ] die Voraussetzung der Gutenbergsehen Medienrevolution" war (Coy 1994: 70; cf. Genette 1989; Illich 1991), so wie Gutenbergs "artificialiter scribere" das Buch zum technisch reproduzierbaren Wissensspeicher werden ließ, als dessen Paradigma in der Aufklärung die Enzyklopädie galt - so vollzog Alan M. Turing mit seiner "Turing-Maschine" den entscheidenden Schritt zur ,,Maschinisierung der Kopfarbeit" (Nake 1992: 181-201), vom "artificialiter scribere" zur algorithmischen Programmierung der Automaten: ,,Die Gutenbergsehe Galaxis der statischen Druckmedien geht in der Turingschen Galaxis der dynamischen programmierbaren Medien auf" (Coy 1994: 71). Die damit (theoretisch) eröffnete Möglichkeit der digitalen Codierung von Texten beliebiger semiotischer Struktur und Modalität beginnt praktische Folgen zu zeitigen: die Umwandlung- mechanischer, elektrischer, thermodynamischer, biochemischer Impulse, die sensuelle Kontingenz optischer, akustischer, gustatorischer, olfaktorischer, haptischer Signalwerte fmden qua Digitalisierung erstmals ein gemeinsames Medium ihrer einheitlichen, präzis
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kopier- und reproduzierbaren maschinellen Speicherung, Übertragung und intermedialen Übersetzung. Am daraus folgenden Wandel unserer tradierten Kommunikationskultur (mit den entsprechenden Folgen für die überlieferten Muster vertrauter Textstrukturen und Textsorten-Gliederungen, für die Sicherheit im Urteil über ,Original' und ,Kopie', über authentisches Bild und photo graphisches Negativ) haben wir derzeit teil, wenn wir Briefe per Fax oder e-mail (electronic mail) verschicken, wenn wir Telephongespräche über ISDN-Netze führen, wenn wir Texte über das WorldWideWeb austauschen, wenn wir Musik von der Compact Disc hören oder ein Video von der CD-ROM abspielen, wenn wir Nachrichten in den Medien verfolgen über eine (vermeintliche) Wirklichkeit, die real sein mag oder ,virtuell', wenn wir in Werbe- oder Kinoftlmen eintauchen in die fantasy world der durch Computeranimation technisch manipulierten Wahmehmung. Der Computer wird zur medienintegrierenden Maschine schlechthin, die "durch ihre algorithmische Programmierbarkeit neue Möglichkeiten der interaktiven Nutzung eröffnet" (Coy 1994: 73). Unser Umgang im Alltag wird durch multimediale Kommunikation bestimmt werden, ob wir es wollen oder nicht. Unsere Wahrnehmung wird durch die Automaten verändert: ,,Die Geschichte der Medien ist eine Geschichte der Wahrnehmungsmuster" (Bolz 1990: 134). Der symbolintegrierende ,holistische' Zeichengebrauch im Umgang mit Konzepten wie Hypertext erfordert neue Seh-, Sprech-, Denkweisen. Sind wir dafür hinlänglich gerüstet? "Werden wir die Sprache des Computers sprechen?", wie die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung fragte und zu Antwort-Versuchen nach München lud (Gauger & Heckmann eds. 1988). Oder die Maschine je die unsere?
3.2 Die strukturelle Perspektive: Systemaufbau der multimedialen Textintegration Für das texttheoretische Interesse bedeutsam sind die technologisch bedingten Veränderungen geltender Prinzipien der Textkonstitution, -produktion, -rezeption, -transformation, -distribution, die sich durch das Hypertext-Konzept abzuzeichnen beginnen und deren Rückwirkungen auf die kommunikativ-medialen Funktionen bzw. die sprachlich-textuellen Formen traditionell linearer Textkonstitution erst allmählich Kontur gewinnen (cf. Kuhlen 199.0). Die sprachlich vermittelte Bedeutung setzt sich im Hypertext nicht mehr nur aus nach Regeln der Textgrammatik verketteten Zeichen zusammen, sondern
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aus der Integration semiotisch mehrfach codierter multimedialer Zeichenaggregate. 13 Der Systemautbau basiert auf der Kombination weniger Elemente (cf. zum Folgenden z.B. Rieger 1994: 390 ff.; Fendt 1995: 53-77). Die elektronische Verknüpfung von Datenbasen unterschiedlicher Struktur und Funktion (Texte, Graphen, Tabellen, Bilder, Videos, Töne, Geräusche, musikalische Sequenzen) mit Bearbeitungsinstrumenten (Textverarbeitung, Graphik:-Programmen, numerische Kalkulation, Statistik-Programme, Bildmanipulation, MIDI-Schnittstellen etc.) durch Zeigerstrukturen (pointers bzw. anchors) oder Bildsymbole (icons) läßt sich durch die ,,Fenstertechnik" herstellen, darstellen, verändern und jederzeit wiederholen. Jedem Fenster auf dem Bildschirm korrespondiert ein ,Knoten' (node) in der Datenbasis, der durch entsprechende Verknüpfungen (links) aufgerufen, ,geöffnet' und mit anderen Knoten verbunden werden kann. J~noten und Verknüpfungen, Texte (im semiotischen Sinne) als informationelle Einheiten (units of information) und intertextuelle Verweisfunktionen (im Sinne von Lesezeichen, Annotationen, intra- oder extratextuellen Verbindungen)· sind die elementaren Bestandteile des Hypertext-Konzeptes, deren Diskussion in der einschlägigen Literatur daher breiten Raum einnimmt, ohne daß diese deshalb bereits zu genau vereinbarten DefmitioI.1en geführt hätte (cf. Nielsen 1990; Kuhlen 1991). Sie ermöglichen die Netzwerk-Struktur des Textes, bei dessen ,Lektüre' der ,Leser' den vom ,Autor' in den Text eingeschriebenen Verknüpfungsinstruktionen folgen oder selbst zum ,Autor' werden kann, indem er neue Verknüpfungen herstellt und Knoten der Datenbasis manipuliert oder ergänzt oder kreiert. Die Verknüpfungen oder Verweisfunktionen können zudem über mehrere Ebenen hinweg erfolgen und zu einem assoziativ verzweigten Lektüreprozess führen, der den ,Leser' wie beim Blättern in einer Enzyklopädie möglicherweise weit vom Ausgangstext fortführt. Je nach Verweisebene entscheidet der ,Leser' selbst über seine Lesestrategie nach Maßgabe seiner Interessen und Relevanznahmen. Dabei kann er sich freilich leicht verirren im Labyrinth der Texte, Knoten und Verweise, was gern mit dem Ausdruck "lost in Hyperspace" charakterisiert zu werden pflegt. Die Freiheit im Umgang mit Texten ist also erkauft mit der Gefahr der Orie-ntierungslosigkeit und der Überinformation (',Datenmüll"), die letztlich die ,Aktivität' des Lesers in dessen völlige Passivität umschlagen zu lassen droht. 14 Deshalb bedarf es wirksamer Navigationshilfen, 13
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Zur genaueren Explikation des Begriffs ,mehrfach codierte Zeichenaggregate' cf. HessLüttich 1994. "Wissen wird nicht mehr durch Generationen tradiert, sondern breitet sich instantan und horizontal aus. Wahrnehmung emanzipiert sich von physischer Anwesenheit. Die
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die dem Leser/Autor die Orientierung in der Netzwerk-Struktur von Hypertexten erleichtern und ihm in der Pluralität der Lesewege und Textalternativen einen kohärenten Verstehenszusammenhang zu etablieren erlauben. So möchte er vielleicht je nach Interesse die Lektüre eines Textes vertiefen in bestimmten, etwa historischen oder kulturkontrastiven, Perspektiven, oder einzelne Teilaspekte des Themas sollen weiterverfolgt und zentrale Begriffe erläutert und zu verwandten Konzepten in Beziehung gesetzt werden. Seine Bibliothek mit den Enzyklopädien und Nachschlagewerken hat er also in der Maschine, und der Griff ins Regal wird zum ,Klick' mit der ,Maus'. Was an kontextueller Komplexität potentiell verloren geht (durch die Reduktion der Vielfalt von Texten auf programmierte Knoten und selegierte Segmente), wird durch die Pluralität der Perspektiven wieder gewonnen, die dem ,Leser' einen immer wieder anderen Blick auf den Text zu werfen erlaubt. Er wählt je nach Interesse zwischen den in einem Knoten angebotenen Alternativen und eröffnet sich damit immer neue Pfade oder Fährten (traUs) durch das Labyrinth der Texte im ,Rahmen' der durch das System vorgezeichneten Grenzen. Die Freiheit der Wahl zwischen den Verweisen ist also nicht unendlich, wie oft suggeriert; sie wird begrenzt durch den Rahinen (frame) des Systems, innerhalb dessen die Such-Strategien der Textvernetzung figurieren. 15 Solche Verfahren, Übersicht zu gewinnen, wie sie in der Buchkultur über Jahrhunderte hinweg entwickelt wurden 16 , sind im Hypertext-System noch im Entwicklungsstadium begriffen. Ihre optimale semiotische Struktur ist Gegenstand engagierter Debatten, wie sie Umberto Eco (1995) kürzlich (am Beispiel von ,,MS-DOS-Welt" und ,,Mac-Welt") als quasi-religiöse glossiert hat. Mittlerweile scheint der Streit darüber, ob die "Kontaktfläche" zwischen Mensch und Maschine (die ,,Benutzeroberfläche", das ,,Interface") zur Ausführung solcher Verweis- und VerknÜpfungsoperationen symbolisch oder iconisch modelliert sein solle, entschieden zugunsten eines ,,Interface Design", das nicht nur technischen, sondern auch kognitiven, perzeptiven, emotiven Aspekten Rechnung zu tragen habe (cf. Laure11990: XI).
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Aufnahme von Nachrichten wird so anonym und rollenunspezifisch wie die Nahrungsaufnahme. In diesem unaufhörlichen Vollzug verwandeln die Massenmedien Mensch und Welt gleichzeitig. Der Mensch erweist sich als eine Maschine, die Maschinen produziert, die Trägheit produzieren" (Bolz 1990: 140). Cf. zum einen das Konzept der Szenographie der Ecoschen Textsemiotik, zum anderen das Verhältnis limitativer und figurativer Regeln bei der Explikation von ,Medium' und ,Stil' in der Kommunikationstheorie (Hess-Lüttich 1981: 120 ff.; Richter i.Vorb.). Cf. z.B. die Untersuchung ,,mittelalterlicher Vorbilder für graphische Benutzungsoberflächen" von Clausberg 1994: 5-9.
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Es ist bezeichnend, in welchem Maße dabei zuweilen semiotische Lösungen herauskommen, die zugleich metaphorisch und kulturabhängig sind (cf. Carroll, Mack & Kellogg 1988). Übersicht (overview) gewinnt man etwa gern durch räumlich-kartographische Strukturen (maps) , die Texte werden wie bei der Arbeit am (vorzugsweise angelsächsischen) Schreibtisch (desktop) als Dokumente oder Akten (files) in Ordnern (folders) abgelegt oder in den Papierkorb geworfen (trash). Die damit erstrebte ,,Benutzerfreundlichkeit" soll die kognitive Belastung des modus operandi reduzieren und die Konzentration auf die Inhaltsverarbeitung erleichtern, aber ob die dafür entwickelten iconischen Metaphern universell verständlich und akzeptabel (wenn auch tendenziell normierend) sind, ist ebenso strittig wie die Frage, ob die Prinzipien des Interface Design (um den bislang noch eher trockenen Chamle deutscher Übersetzungsangebote wie ,,Benutzerschnittstellengestaltung" zu vermeiden) denen der aristotelischen Dramentheorie entsprechen sollten, von denen sich etwa Brenda Laurel (1991: 125-159) eine stärkere emotionale Involvierung der Textbenutzer ("user" genannt wie ehedem die Drogenabhängigen) erhofft.
3.3 Die ästhetische Perspektive: Hypertext, Literatur und Maschine Seit Theodor Holm Nelsons opus magnum über die Literary Machines (1987) erschien, gewinnen die Stimmen an Kraft und Gehör, die für die literaturtheoretische Fundierung des Hypertext-Konzepts plädieren (z.B. Bolter 1991; Delany & Landow eds. 1991; Landow 1992). Dabei wird zuweilen in amerikanischer Unbekümmertheit ins Volle gegriffen und Heterogenes großzügig zusammengerührt. Ob Roland Barthes in den beschaulich PC-freien 60er Jahren viel von den Rechnern verstand oder nicht - antizipiert habe er sie jedenfalls, als er Texte sah, soweit das Auge reicht ("as far as the eye can reach", Barthes 1974: 11; cf. Bolter 1991: 161; Landow 1992: 3). Nach der Erfmdung der Schrift, das muß er gespürt haben, stehe nun die zweite geistesgeschichtliche Revolution bevor, die alle traditionellen Vorstellungen von Kultur, Literatur oder Gesellschaft über den Haufen werfe (Bolter 1991: 233ff.). Kühn wird der Bogen geschlagen von der jüdischen Mishnah bis zur literarischen Avantgarde (Landow 1992), von der ars poetica des Horaz zur ars combinatoria des Hypertext, vom Mythos der Antike zur Maschine der Moderne (cf. Bolter 1991: 35 ff.), wenn es gilt, Hypertext als "an essentially literary concept" zu erweisen (Slatin 1988: 112) und dafür Vorläufer zu benennen und Parallelen zu (er-)fmden. Gemach, möchte man sagen, aus alteuropäischer Sicht.
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Landow hat sich die Poetik des Aristoteles vorgenommen - und siehe da: Hypertext setzt 'sie außer Kraft. Nichts mehr von ,,frxed sequence, defmite beginning and ending, a story' s ,certain defmite magnitude', and the conception of unity or wholeness" (Landow 1992: 102). Nun sind die Regeln der aristotelischen Poetik schon häufiger verletzt worden, auch von Autoren, die sich beim Verfertigen ihrer Texte noch des Federkiels bedienten. Sie gehören zur schnell wachsenden Gemeinde der Vorläufer von Hypertext. Laurence Sterne's Tristram Shandy wird hier gern genannt mit seiner Kunst der Digression (cf. Iser 1984), oder James Joyce's Ulysses und erst recht Finnegans Wake mit seinen enzyklopädisch verzweigten Assoziationsketten und subtilen Verweisungsnetzen (cf. Eco 1987: 72; id. 1990: 138), Alain RobbeGrillet, natürlich, oder Jorge Luis Borges oder Vladimir Nabokov: ihre Werke seien Belege für den Versuch der Autoren, "to divorce themselves from imposing a particular reading of their texts on their readers, attempting to eliminate linearity of texts, for example" (Ledgerwood 1997: Ms. 4). Zugegeben: die Bücher hätten einen Anfang und ein Ende, aber was zwinge uns zur Linearität der Lektüre? Waren es nicht gerade die reputablen Schriften alter Kulturen, die uns aus diesem Zwang entließen, die Zeichen des Lao Tse, die Qumran-Rollen, der Talmud, die Bibel der Christen? Man vergegenwärtige sich nur einen Traktat aus dem Talmud, die Seite kunstvoll gestaltet mit Kopfzeile und Fußnote, mit dem Text der hebräischen Mishnah in der Mitte, eingerahmt vom Kommentar der aramäischen Gemara, erweitert durch erläuternde Haggadah, assoziativ angeschlossene Parabeln und mnemo-technisch hilfreiche Merkworte und Wortspiele, Querverweise auf andere Texts tellen , auf die Bibel oder mittelalterliche Schriften, Einschübe, Marginalien, Korrekturen, Kommentare aus Jahrhunderten angelagert - so entstand im Laufe der Zeit "ein dichtes Geflecht von Texten über Texte, mit unzähligen Verweisen und Beweisführungen, das gerade durch die verschiedenen Lesarten, konkretisiert in den zahlreichen Kommentaren, zu immer neuer, ,unendlicher' Interpretationsarbeit auffordert" (Fendt 1995: Ms 93). Was sich im verständigen Umgang mit Handschriften - wir haben die klösterlichen Skriptorien vor Augen - über die' Jahrhunderte an Spuren ihres kritischen Gebrauches niederschlug und in Interlinear- oder Randglossen sedimentierte, zeuge von der Pluralität einer anonymen Autorschaft, die beitrug zum Werden und Wachsen des Textes. Nicht anders, im Prinzip, verführen die user von Hypertext, wenn sie Fenster um Fenster öffnen und sehen, was Autoren, über die Zeit und weit verstreut, zu seinem Ausgangspunkt zusammengetragen haben. So werde das ,Textgedächtnis ' fortgeschrieben und erweitert ins Unermeßliche und vielleicht Undurchschaubare, und es fmdet seine Grenzen nur in denen des Speichers. Wer sich verläuft im Irrgarten der
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Texte, erinnert sich vielleicht zum Troste, gebildet wie er (sie) hoffentlich ist, der seit der Antike beliebten und im 17. Jahrhundert zur Blüte reifenden Gattungs-Tradition der Text-Labyrinthe, durch die der Ariadnefaden linearer Lektüre keineswegs immer sicheres Geleit verhieß. Nicht-Linearität, Leser-Aktivität, Intertextualität, Pluralität der Lesarten und Offenheit der Lesewege: für jedes dieser Merkmale von Hypertext ließen sich unschwer literarische Vorbilder fmden, resumiert Fendt (1995: Ms. 108) die einschlägigen Bemühungen, Texte' von Autoren, die "das Experimentieren mit literarisch-ästhetischen Mustern zum Programm erhoben [haben] und in einer erstaunlichen Fülle der Kriterien, die auch für Hypertext gelten, auf ihre Texte" anwenden. 17 Andererseits, scheint mir, unterläuft den Jüngern der postmodernen ,,Literary Theory" im Überschwang auch die eine oder andere metaphorische Ungenauigkeit, wenn sie mit Derrida oder Bataille oder auch Sebeok die "unlimited semiosis in the semiotic web" beschwören. Die chunks und links im Hypertextsystem sind immerhin bezifferbar; die Zahl möglicher Verknüpfungen stößt an physikalische Grenzen der Rechnerkapazität (und physische Grenzen der Perzipierbarkeit); jemand muß die Verbindungen herstellen zwischen von ihnen defmierten und selegierten Texteinheiten im Rahmen der Möglichkeiten des Programms; die Einheiten (Texte, Knoten, chunks) müssen sinnvolle (nicht notwendigerweise vom Erstautor ~ solche intendierte) Anschlußstellen für weitere Verknüpfungen enthalten; " mit der Zahl der Verbindungen verliert die Rede vom Text als einer semantischen Funktionseinheit an Sinn; nicht alle Verbindungen sind von gleicher Plausibilität, es sei denn, man verstummt vor der Einsicht vieler Intertextualitätstheoretiker, nach deren schwer widerlegbarem Befund alles mit allem zu tun habe, und lauscht der Polyphonie der Stimmen im "chambre d' echos" (Barthes) der "Bibliotheque generale" (Grivel). Wären alle Verbindungen gleich gültig, würden sie gleichgültig gegenüber dem Anspruch ihrer Rechtfertigung. Gegen diese Beliebigkeit hat Eco (1990) die Grenzen der Interpretation markiert und gegen Derrida oder Bataille Plausibilitätsansprüche geltend gemacht. Unter Rückgriff auf Peirce erinnert er daran, daß auch bei theoretischer Unbegrenztheit potentieller Verbindungen gegebener Interpretanten mit Zeichen(komplexen) die Zahl der faktisch gewählten Verbindungen endlich und begrenzt sei. Nicht alle Metatexte zu Texten seien gleich-wertig, einige setzten sich durch, andere würden mit Fug verworfen; bestimmte Verbindungen machten mehr Sinn als andere, manche 17
Fendt untersucht insbesondere Arbeiten der französischen Schriftsteller gruppe oulipo, von Raymond Queneau und Julio CortItzar, Marc Saporta und Georges Perec, um zu demonstrieren, inwiefern die Verfahren des Umgangs mit Texten im HypertextKonzept Prinzipien folgen, die vielen literarischen Autoren durchaus vertraut sind.
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Wege führten al:lch in Sackgassen. Dies gilt es im Auge zu behalten, wenn künftig mit nüchterner Systematik texttheoretische Übe~legungen zu Hypertext vor der Folie ästhetisch-literarischer Texttheorien entwickelt werden.
4. Hypertext als Thema Angewandter Textwissenschaft Die modernen Textwissenschaften müssen sich - gerade wenn sie sich als kritische bewähren wollen (und nicht bloß modernistisch-affrrmative oder konservativistisch-archivarische) - der Herausforderung stellen und den Veränderungen Rechnung tragen, denen ihr Gegenstand durch die kulturellen Konsequenzen der technischen und gesellschaftlichen Entwicklung unterworfen wird. Die texttheoretische Diskussion des Hypertext-Konzeptes ist ein Paradebeispiel dafür, wie die Sprach- und Literaturtheorie durch die Integration zeichen- und medientheoretischer Befunde erweitert und bereichert werden kann. Die Anwendung etwa (post-)strukturalistischer, psycholinguistischer, dekonstruktivistischer Ansätze auf Hypertext hat interessante Parallelen, aber auch signifIkante Veränderungen der jeweils zugrundeliegenden Textauffassungen zutage gefördert (cf. Kuhlen 1991; Barret ed. 1989; Landow 1992). Wenn z.B. Barthes' Text-Einheit der ,Lexien' mit den Hypertext-Einheiten der ,Knoten' verglichen wird, so exponiert dies das Problem der adäquaten (defmierbaren, intersubjektiv prüfbaren) Textsegmentierung, das durch die multimediale Polycodierung noch an Schärfe gewinnt. Viele Formulierungen Derridas zum Text als Netz unendlicher Verweisstrukturen drängen sich geradezu auf für einen Vergleich mit Hypertext - u!ld gewinnen zuweilen erst dadurch ein_gewjs_~es Maß an Plausibilität. Bei manchen flink formulierten Analogien zwischen Formen der Konnexität in Text und Hypertext erweist sich der Mangel linguistischer Kenntnisse als Nachteil. Da wird von der Linearität der materialen Zeichenfolge unbekümmert auf die der von ihr bezeichneten thematischen, semantischen, logischen, argumentativen oder ideationalen Struktur geschlossen, was bekanntlich ein Trugschluß ist (cf. bereits Halliday 1978). Umgekehrt vermag der kognitionspsychologisch und psycholinguistisch geschulte Blick auf Prozeduren der Textverknüpfung (linking 0/ chunks) bei Hypertext möglicherweise zugleich das Verhältnis von Prozessen des Text-Verstehens auf den Ebenen von Propositionen, Propositionsclustern und Propositionssequenzen zu erhellen (cf. van Dijk 1980: 183). Wie beim Text-Verstehen die ihm eingeschriebenen Instruktionen des Autors und die Leistung des Lesers zusammenwirken, seine Selektion aus dem Potential der Verweise und seine Konstruktion über den Leer-, Schnitt-, Gelenk- oder Unbestimmtheitsstellen des Textes: hat die Rezeptionsästhetik
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(Riffaterre, Iser) hervorgehoben und damit den Boden bereitet für die NeuDefInition der aktiven Rolle des Hypertext-Rezipienten als "user" und Mitspieler in virtuellen Text-Welten. Die Spielregeln werden ihm dabei mit technischem Nachdruck ins Bewußtsein gehoben, denn jeder Wechsel der Perspektive im Verstehen des Textes, seiner Ebenen und Verweispotentiale, ist mit der physischen Aktivierung eines ,Fensters' verbunden, das ihm die gewählte Perspektive er-öffnet. Diese durch technische Restriktionen erzwungene neue Bewußtheit im Umgang mit Texten emanzipiert den HypertextLeser einerseits gegenüber der intentio auctoris, stärkt aber andererseits seinen Respekt gegenüber der intentio operis und vielleicht auch sein Mißtrauen gegenüber der Willkür, mit der heute jede beliebige intentio lectoris herrisch Acht~J].g heischt. Denn anders als mancher trendige Literatur-Dekonstrukteur eies akademischen Betriebs, der sich beschwingt von den Fesseln präziser Lektüre, historischer Kenntnis und plausibler Rechtfertigung seiner Interpretation befreit, muß sich der Hypertext-Leser die Brücken seiner Assoziationen selber bauen, und sie sollten tragen über die Leer-Stellen dazwischen. Würde dies, andererseits, die Verengung des Denkens in die Bahnen bedeuten, die die Maschine vorgibt, wie manche Warner warnen? Was wird aus den im individuellen ,,Leseerlebnis von Texten gemachten (emotionalen, intellektuellen, sozialen) Erfahrungen von interpretierter Welt", wenn sie ersetzt werden durch die "Sensationen der via Bildschirm erlebbaren MenschMouse-Manipulationen" (Rieger 1994: 401)? Wird die Kreativität dann endgültig an die Apparatur delegiert und der Mensch zum ,,Angestellten des Gestells (Heidegger)" (Söring 1997: 41)? Droht Reden, Schreiben, Denken auseinanderzufallen in maschinengemäßes und emotionalisiert-analphabetisches? Kurz, es stellt sieh die Frage: vollzieht sich nicht im Vordringen einer computergerechten Sprache lautlos eine Kulturrevolution, deren Folgen kaum schon abzusehen sind? Bringt der expandierende Umgang mit Computern eine ähnliche Bewußtseinsänderung mit sich, wie sie seinerseits [sie] die Einführung der Schrift, der Übergang von einer oralen zu einer skripturalen Kultur mit sich brachte? Hat hier nicht, mit Thomas Mann zu sprechen, etwas begonnen, "was zu beginnen kaum schon aufgehört hat?" (Heckmann & Gauger 1988: 9)
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Rajo Diekmallllshenke (Koblellz)
Spontane versus kanonisierte Intertextualität. Vom neuen Umgang mit der Bibel in der Reformationszeit 1. Vorbemerkung 2. Theoretische Überlegungen zur Intertextualität in theologischen Flugschriften I der frühen Neuzeit 3. Kanonisierte Intertextualität - das Beispiel Luther 4. Spontane Intertextualität - die Beispiele Rychsner und Langenmantel 5. Von der spontanen Intertextualität zur neuen Textsorte 'Präsentationstext' 6. Ausblick und Ergebnisse 7. Verzeichnis der zitierten Literatur
1. Vorbemerkung
Die Bedeutung historischer Bezüge beim Phänomen der Intertextualität braucht inzwischen nicht mehr betont zu werden - besonders die Literaturwissenschaft hat sich schon lange damit beschäftigt. In der linguistischen Intertextualitätsforschung spielte die Anwendung des in den letzten Jahren entwickelten Instrumentariums auf historische Phänomene eine eher untergeordnete Rolle. In diesem Beitrag soll deshalb versucht werden, die Brauchbarkeit und den daraus resultierenden Erkenntnisgewinn der linguistischen In~ tertextualitätsforschung an frühneuzeitlichen Texten zu erproben. 1 Dabei wird gezeigt werden, daß sich die uns in der Gegenwart vertrauten Erscheinungender Intertextualität schon dort beobachten lassen. Außerdem soll der Frage nachgegangen werden, ob und in welcher Weise Intertextualität Auswirkungen auf die Konstituierung und den Wandel von Textsorten zeigt. Gerade in der Frühen Neuzeit sind die drei kommunikativen Dimensionen Mündlichkeit, Schriftlichkeit und Bildlichkeit konstitutiv für das Verstehen von Texten. So fmden wir besonders in den Einblattholzschnitten und Flugblättern intermediale Bezüge bildlicher Art für ein leseunkundiges Publikum (Engelsing 1973) - man denke nur an die Darstellungen der Aufständischen mit der Bundschuh- oder der ,,Freiheits"-Fahne, welche übrigens auf einen pejorativ gemeinten Holzschnitt bei Thomas Murner zurückgeht. Bilder fungieren in diesem Zusammenhang als publikums adressierte Erläuterungen zum 1
Wichtige Überlegungen zu anderen Texten dieser Zeit finden sich besonders bei Kühlmann/Neuber 1994.
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Referenztext Bibel und dienen der Verständnissicherung. Auch Verspottung des Papstes und der Kleriker mit dem Mittel (der intertextuellen) Karikierung begegnet uns. Schwerer zu untersuchen sind intertextuelle Bezüge mündlicher Art - daß sie vorhanden sind, zeigt sich in der massenhaften Existenz von (literarischen) Dialogen und Predigtbezügen. Das erstrebenswerte Unterfangen, alle diese Bezüge zu einem Gesamtbild zu verbinden, würde jedoch den Rahmen eines solchen Aufsatzes sprengen und kann hier deshalb nicht geleistet werden. Konkret wird im folgenden untersucht, wie sich in Texten der Reformationszeit, genauer gesagt in Texten, die den theologischen und religiösen Diskursen dieser Zeit entstammen, eine spontane Intertextualität, die wir in den Flugschriften vieler religiös engagierter Laien fmden, von einer traditionell orientierten Bibelauslegung, welche als kanonisierte Intertextualität bezeichnet werden soll, unterscheidet. Dabei stellt sich die Frage, ob ein solcher neuer Umgang mit der Bibel auch Veränderungen der Textsorte bedingt.
L
Die Geschichte des Christentums ist wie die der anderen großen Religionen oder auch vieler ideologischer Systeme maßgeblich geprägt von intertextuellen Bezügen. Die Kanonisierung eines heiligen Textes aus einem Korpus von untereinander zum Teil inkohärenten ideologie- und glaubensträchtigen Texten, seine Tradierung, die Schaffung eines Netzes von weiteren Texten, die ihre Bedeutung durch den unmittelbaren Bezug zum heiligen Text erlangen und vor allem die Exegese des Ausgangstextes mit dem Ziel einer autoritätsbeanspruchenden kohärenten Deutung eben dieses Textes stellen Grundzüge nicht nur der abendländischen Kulturgeschichte dar. Bibelauslegung und der Streit um die richtige, gar die einzig wahre Auslegung, hat die Theolo gen über Jahrhunderte beschäftigt - und beschäftigt sie übrigens noch heute. Auch die lutherische Lehre bricht nicht prinzipiell aus dieser Traditionslinie aus, wie ein Blick in die theologische Fachliteratur zeigt, doch statt einer Traditionslinie stehen nun zwei nebeneinander, was zu Konflikten zwischen diesen beiden Konfessionen führt, aber auch - und dies gilt besonders für die evangelische Partei - innerhalb der Konfessionen. Abtrünnige, Nonkonformisten, Radikale und Sekten bestimmen in den Jahren zwischen 1524 und 1536 in nicht geringem Maße die öffentliche und innerkirchliche Diskussion. Doch soll hier weder vorrangig auf die in kirchlichtheologischer Sicht als ,,Dissidenten" zu bezeichnenden, noch auf die eigentlichen Vertreter der jeweilige Lehre geschaut werden. Laien sollen in ihrem Umgang mit dem Neuen Testament und den daran deutlich werdenden intertextuellen Momenten betrachtet werden, wo bei die beiden Augsburger Utz Rychsner, ein Weber, und Eitelhans Langenmantel, ein Landsknecht,
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stellvertretend für andere stehen sollen. Daß beide aus Augsburg stammen, ist Zufall und ist für diese Untersuchung nicht von Bedeutung. Ob sie sich überhaupt gekannt haben, darf bezweifelt werden. Da der eine nur bis 1525 als in Augsburg lebend nachzuweisen ist, spricht jedenfalls vieles dafür, daß zwischen beiden keine unmittelbare Beziehung bestanden hat.
2. Theoretische Überlegungen zur Intertextualität in theologischen Flugschriften der frühen Neuzeit
Intertextualität weist in zeitlicher Hinsicht sowohl eine synchrone wie auch eine diachrone Achse auf - synchron dahingehend, daß Autorln und RezipientInnen sich auf Texte ihrer unmittelbaren Gegenwart beziehen. Dies kann eine ParalleIlektüre der RezipientInnen ebenso einschließen wie z.B. verschiedene Kommentare zum gleichen Thema in verschiedenen Zeitungen. Diachrone Intertextualität dagegen ist in zweifacher Hinsicht zu konstatieren. Der Textproduzent (oder die Produzentin) bezieht sich auf zeitlich zurückliegende Texte, sogenannte Prätexte2 • Dies wäre als diachrone Intertextualität im Produktionsprozeß zu bezeichnen - ein alles andere als ungewöhnliches Phänomen. Für die RezipientInnen stellt sich besonders im Rahmen einer rezeptionsorientierten Konzeption von Intertextualität, wie sie Holthuis 1993 vertritt, die Situation jedoch anders dar. Einmal bedeutet sie die Sicht auf diese Prätexte, andererseits aber auch auf den jeweiligen Text aus der eigenen zeitlichen Distanz, also als zweifache diachrone Sicht. Eine Betrachtung frühneuzeitlicher Texte unter intertextuellen Fragestellungen muß letzteres zum Ausgangspunkt der Überlegungen machen.· Intertextuelle Beziehungen ermö glichen es auch, den Wandel von oder innerhalb von Textsorten zu erkennen. Abweichungen von oder Brüche mit der bestehenden intertextuellen Tradition führen somit zur Entstehung und Etablierung neuer Textsorten. Das letzte Phänomen - und dies ist eine meiner Hauptthesen - wird besonders in der anschwellenden Textproduktion der Reformationszeit zu einem charakteristischen Kennzeichen. Die prinzipielle Interpretierbarkeit von Texten, ganz besonders von schriftlich fIXierten, führt besonders in Zeiten des Streites um Meinungen, Auffassungen usw. unweigerlich zu einem Kampf um die Hegemonie symbolischen Handelns und deren dominierender Deutung. Die Rolle der Dissonanz zwischen möglichen Prätexten und dem zu rezipierenden Text darf dabei nicht unterschätzt werden. Erst dieses Spannungsverhältnis erlaubt eine Eta-
2
Zur Klassifizierung vgl. Broich/Pfister 1985 und Rössler 1997.
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blierung neuer Textsorten auf dem Hintergrund der intertextuellen Tradition. Zentrale Fragen sind dabei textstruktureller Art (Wie werden die Textbausteine strukturiert und gegebenenfalls verändert?), sie sind darüber hinaus bestimmt von der Weise und der Form der Aneignung durch die RezipientInnen.
3. Kanonisierte Intertextualität - das Beispiel Luther Um die Neuartigkeit der spontanen Intertextualität angemessen bewerten zu können, soll zuerst der Blick auf die "traditionelle" Intertextualität gerichtet werden. Vielfach scheint die Linie nur zwischen den Altgläubigen und allen anderen, die unter die Gefolgschaft Luthers subsumiert werden, zu verlaufen. Doch dies ist nur eine oberflächliche Betrachtungsweise. Vielmehr verläuft die Schnittlinie vorrangig zwischen einem theologisch motivierten und einem - nicht negativ zu verstehenden -laienhaften Umgang mit der Bibel, speziell mit dem Neuen Testament. Aus Platzgründen kann die katholische Tradition hier nicht näher behandelt werden, sondern das Augenmerk gilt Luther als dem bedeutendsten Vertreter der entstehenden neuen Konfession, wobei seine Person zugleich den Dreh- und Angelpunkt der religiösen Kontroversen bildet. Luthers Argumentation als Theologe steht in der Tradition Augustins, auch wenn er sich in bestimmten theologischen Fragen gegen dessen Auffassungen wendet (Soeffner 1992: 30). Dabei referiert er (im linguistischen Sinne) einerseits auf das Wort Gottes in der Bibel, andererseits referiert er damit auch (implizit) auf die gesamte Tradition exegetischer Texte, was man als theologische Diskursreferenz bezeichnen könnte. Zwar betont er die individuelle Hinwendung zum Wort Gottes und dessen Selbstoffenbarung im Text der Bibel, verzichtet damit jedoch nicht auf eine Auslegung derselben (Soeffner 1992: 36). Gott ist für Luther verborgen (absconditus), nicht aber unsichtbar (invisiblis). Aus diesem Grunde bedarf auch die Bibel weiterhin der Sichtbarmachung der letztlich verborgenen Wahrheit (Soeffner 1992: 49). Luther bemüht sich ebenso wie seine katholischen Gegner um eine kohärente Deutung der teilweise disparaten Einzeltexte innerhalb der Bibel mit dem Mittel der Exegese. Er unterscheidet sich von den katholischen Theologen in der Deutung von Text und Kontext, also der Gestaltung des religiösen Lebens, nicht aber in der Art und Weise dieser Deutung, eben vermittels der Exegese. So markieren die Schlagwörter Verborgenheit und Klarheit zentrale Fragestellungen der theologischen Diskussion z.B. zwischen Luther und Karlstadt, aber auch zwischen Luther und einigen so genannten Schwärmern
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und Sektierern. Das ambivalente Gottesverständnis Luthers und damit auch sein Beharren auf der Auslegung der Bibel zur sprichwörtlichen ,,Entdeckung" der verborgenen christlichen Wahrheit teilen die Laien in aller Regel nicht. Für sie bedeutet die Klarheit der Schrift deren wörtliches Verständnis. Der Bruch mit der Haltung Luther bedeutet nicht nur einen Bruch mit den intertextuellen Traditionen der Theologie, sondern in ihrer sozialen Konsequenz - man denke an den sog. Bauemkrieg und das Täufertum auch die Schaffung eigener Textsorten, die die Bibel nicht mehr auslegen, sondern als unmittelbaren Beleg für die göttliche Gerechtigkeit ansehen, die sich in ihren Forderungen und Vorstellungen widerspiegelt. Als Beispiel für die Herstellung intertextueller Beziehungen zu Primärtext und Diskurstradition bei Luther kann seine Schrift Das siebente Kapitel S. Pauli zu den Corinthern (1523; W A 12: 92-142) dienen. Dem eigentlichen Text ist eine Vorrede vorangestellt, die sich erstens explizit an den Adressaten wendet, mit einer traditionellen Begrüßungsformel eröffnet wird und schließlich kurz den eigentlichen Streitpunkt des theologischen Disputs umreißt: Dem gestrengen und vhesten Hans Loßer zu Pretisch, Erbmarschalck zu Sachsen, meynem guonstigen herrn und freunde. GNad und frid ynn Christo. Gestrenger und vhester, lieber herr und freund. Ich hallte meyns vermügens, was ich geredt habe, mit voller hoffnung, yhr werdet ewrem adelichem gemuot nach widderhalten, was yhr geredt habt, und nicht lenger ynn den verzug stellen. Damit yhr aber dester Christlicher dran gehet, hab ich euch zu dienst, und wilchen es gelustet zu nutz, das siebend Capitel aus der ersten Epistel S. Pauli zu den Corinthern fur mich genomen aus zu legen, aus der urs ach, das das selb Capitel fur allen schrifften der gantzen Bibel hyn und her gezogen ist widder den ehlichen stand, und gleych eyn gewelltigen scheyn gewunnen hat fur den ferlichen und seltzamen stand der keuscheyt. Und wenn ich die warheyt sagen soll, so hatt sich gemeyniglich mit dißem Capitel niemant so fasst auffgeblasen, als eben die selben, die am wenigsten keusch geweßen sind. Ich habe auch gemeynet, das keuscheyt so gemeyn were, als sie fur geben. Aber ich bynn, Gott lob, diße drey iar ynnen worden, was ynn der wellt ausser dem ehestand fur keuscheyt sey, auch beyde ynn man und frawen klöstern. (W A 12: 92) Luther hebt im folgenden an, dem Hans Loßer anläßlich dessen Hochzeit den Paulus-Brief, wie er sagt, im rechten Verständnis auszulegen und zu predigen. Nicht die unkommentierten Worte des Neuen Testaments sind in seinen Augen Gegenstand des Glaubens, sondern ihr rechtes Verständnis: Die weyl denn myr Gott auffgelegt hat, von dem ehestand zu predigen, und des teuffels keuscheytt den dekel ab zuthun, auff das der hurerey weniger, und
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Hajo Diekmannshenke
die arme iugent nicht so iemerlich durch der falschberuombten keuscheytt scheyn verfurt werde, mus ich vleys anwenden, das _auch diß Capitel, yhr heubtstuock, nicht lenger yhr schanddeckel bleybe, sondern nach der rechten A 12: 92) meynung S. Pauli verstanden werde.
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Sicherlich polemisiert Luther ausgiebig - und man ist geneigt zu sagen lustvoll- gegen seine theologischen Gegner, dennoch fmdet eine Auseinandersetzung mit ihren Auffassungen statt. Die sich daran anschließende Argumentation Luthers zu den Themen Keuschheit und Ehe ist zu umfangreich, als daß sie hier detailliert wiedergegeben werden könnte. Dennoch bleibt seine Argumentationsweise über den ganzen Text hinweg in einem wesentlichen Punkt konstant. Die Vielzahl der Bibelbelege steht nicht für sich allein und als Zeichen seiner theologischen Gelehrtheit. Für Luther sind diese Textstellen nur der Ausgangspunkt seiner Auslegung der Bibel. An ein jeweiliges Zitat, welches in der Regel durch eine Marginalie nachgewiesen wird, knüpft er längere interpretierende Passagen, die keineswegs als bloßer Kontrapunkt zur Meinung seiner Gegener verstanden werden sollen. Das rechte, d.h. richtige Schriftverständnis im Sinne des heiligen Paulus und damit auch der reformatorischen Lehre, also die kohärente Deutung der Bibel, stellt das Hauptanliegen Luthers dar. So defmiert auch die Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche unter dem Stichwort Hermeneutik: Was aus der Vergangenheit, sei es mündlich, sei es schriftlich, überliefert ist, muß mit dem Gedächtnis aufgenOIIlJilen werden, damit es lebendiger geistiger Besitz bleibe. [... ] Ist aber das Erbe der Vergangenheit zugleich in irge~d einer Weise Autorität geworden, etwa Muster geistiger Produktion, wie alle als klassisch gewertete Litteratur, oder Norm für das Rechtsleben, wie das Corpus juris es durch Jahrhunderte war_, oder ist es, wie die Bibel, die Offenbarungsquelle für die christliche Gemeinschaft, so wird das Bedürfnis einer Sicherung des rechten Verständnisses die Triebkraft zur Ausbildung einer Theorie der Auslegung des Überkommenen. Diese wird mit dem Kunstwort Hermeneutik bezeichnet. (Realencyklopädie 1896ff: Bd. 7, 718f.) In dieser Vorgehensweise entspricht die protestantische Tradition der katholischen. Unterschiede fmden sich innerhalb der jeweiligen Auslegung einzelner strittiger Fragen, nicht aber im Prinzip der Auslegung. Hierin jedoch unterscheiden sich die theologisch engagierten Laien deutlich von ihren theologisch (aus)gebildeten Kollegen beider Konfessionen. Betrachten wir daraufhin noch eine Passage aus Luthers oben genannter Schrift: Den ehelichen aber gepiete, nicht ich, sondern der herr, das das weyb sich nicht scheyden lass von dem manne. So sie sich aber scheyden lest, das sie an
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ehe bleybe, odder sich mit dem mann versune, und das der man das weyb nicht von sich lasse. Den andern aber sage ich, niht der herre: So eyn bruoder eyn unglewbig weyb hatt, und die selbige lest es yhr gefallen bey yhm zu wonen, der scheyde sich nicht von yhr. Und so eyn weyb eynen unglewbigen man hat, und er lest es yhm gefallen bey yhr zu wonen, die scheyde sich nicht von yhm. [usw.] (WA 12: 95) Deutlich wird diese Vorgehensweise noch an vielen anderen Stellen. Luther stellt häufig eine Passage aus dem N euen Testament voran, die vielfach auch graphisch vom übrigen Text abgehoben ist, und interpretiert diese anschließend. Dies gilt gleichermaßen für Schriften, in denen er wie im oben genannten Beispiel seine Meinung ausführlich darstellt, die also eher Lehrcharakter aufweist, als auch für solche, in denen er seine Gegner attackiert. Als Beispiel mag seine Schrift Wider die himmlischen Propheten, von den Bildern und Sakrament (1525), die ausdrücklich gegen Andreas von Bodenstein, genannt Karlstadt, gerichtet ist, dienen. Luther argumentiert ausführlich und angesichts der Brisanz der Kontroverse durchaus gewissenhaft. Denn disser spruch ,Du sollt keyne götter haben' ist ia der heubt spruch, das mas und das zil, darnach sich zihen, 1encken und messen sollen alle wort, die hernach folgen. Denn er zeyget an und drückt aus die meynung disses gepottes, Nemlich, das keyne ander götter seyn sollen. Daruomb mus das wort ,Machen', ,bilde', ,dienen' .etc. und was mehr folget, ia nicht weytter zuverstehen seyn, denn das keyne götter und abgötterey draus werde. Gleich wie das wort ,Ich byn deyn Gott' das mas und zil ist, alles was von Gottes dienst gesagt werden mag, Und were nerrisch, das ich darunter wollt zihen ettwas, das göttereyodder Gottes dienst nicht angehet, als haus bawen, pflügen .etc. Also kan auch unter das wort ,Du sollt keyne götter haben' nichts anders gezogen werden, denn was abgötterey betriefft, Wo aber bilde odder seulen gemacht werden on ab götterey , da ist solchs machen nicht verbotten, Denn es bleybt der heubtspruch (Du sollt keyne götter haben) unverseret. (WA 18: 69) Selbst dort, wo Luther vergleichsweise "wörtlich" vorgeht, bleibt die Auslegung im Sinne einer über das Wort hinausgehenden Sinn-Erfassung bestehen. Als letztes und nicht unwichtigstes Indiz mag man auch die Tatsache ansehen, daß Luther schließlich noch einen Großen und einen Kleinen Katechismus zur Sicherung des "rechten" Bibelverständnisses abfaßte (Soeffner 1992: 46). Bei vielen Laien dagegen wird die Bibel in ihrer Wörtlichkeit genommen und der katholischen, vielfach auch der lutherischen Auslegung entgegengestellt. Im Gegensatz zu Luther referieren sie das Wort Gottes. Die traditionelle theolo gische Diskursreferenz fmdet bei ihnen nicht statt und soll auch
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nicht stattfmden .. Dies markiert den Beginn eines nicht mehr allein konfessionell normierten Umgangs mit der Bibel und zugleich .das Entstehen einer neuen Textsorte, welche im folgenden näher charakterisiert wird, aus diesem laienhaften Verständnis heraus. Der Bruch mit der kanonisierten Intertextualität markiert den Beginn einer Selbstaneignung von bislang nur in einer einzigen Sicht - eben der kanonisierten - dargebotenen Glaubensbeständen, wobei aus diesen Glaubensbeständen im weiteren historisch-gesellschaftlichen Prozeß Wissensbestände werden. Der neue Umgang mit der Bibel im Gefolge des Ausbrechens aus der Deutungshegemonie der katholischen, bald aber auch der sich herausbildenden evangelischen Konfession und der ihnen beiden gemeinsamen theologisch-exegetischen Tradition hatte weitreichende Konsequenzen für die weitere Entwicklung. 'Neue' Intertextualität als spontaner Umgang mit der Bibel wird zu einem Indikator sich wandelnder gesellschaftlicher Bedingungen.
4. Spontane Intertextualität - die Beispiele Rychsner und Langenmantel Luthers Betonung der Klarheit der Schrift und der sich darin zeigenden Selbstoffenbarung Gottes zeigt über den eigentlichen theologischen Disput hinaus auch für den Initiator dieses Prozesses ungeahnte Forgen. Die Rückbesinnung auf das göttliche Wort ermutigt nun auch Laien, sich selbständig mit der Bibel zu befassen, die Thesen der Theologen und Prediger ,,kritisch" zu befragen. So bezeugt Valentin Ickelsamer in seiner Schrift Die rechte weis auffs kürtzist lesen zu lernen ein wachsendes Interesse vieler Menschen, nun Lesen und Schreiben lernen zu wollen: Lesen können hat inn langer zeit nit so wol seinen nütz gefunden/als itzo/dweyls seer ein yeder darumb lernet! das er Gottes wort/vnd etlicher Gotgelerter menner außlegungldarüber selbs lesen/und desto das darinn vrteylen möge. (Müller 1969: 53) Der Augsburger Schneider Utz Rychsner als Vertreter dieser Gruppe von theologisch interessierten Laien stammte vermutlich aus Straßburg und lebte nachweislich zwischen 1503 und 1525 in Augsburg. Nach den erhaltenen Gerichtsakten hat sich Rychsner im Oktober 1523 für den von bischöflicher Seite angegriffenen evangelischen Prediger Frosch eingesetzt. Im folgenden Jahr beteiligte er' sich an einem Aufstand gegen die katholische Salz- und Wasserweihe, die von dem als radikal geltenden Prediger Johann Schilling inszeniert wurde. Schilling wurde deswegen der Stadt verwiesen, was zu erneuten Unruhen - wieder unter Beteiligung von Rychsner - führte. (Roth
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1901) Die beiden 1524 hingerichteten Mitglieder der Weberzunft gehörten mit großer Wahrscheinlichkeit zu Rychsners Bekannten. Insgesamt verfaßte der Laie Rychsner vier Schriften. Zwei davon sind Reformationsdialoge, einmal zwischen einem Weber und einem Pfaffen, das andere Mal zwischen einem Weber und einem Kramer, in denen Ablaß und Sakramentslehre, Ohrenbeichte und ,,römisches" Priestertum die Themen sind. Neben einer Chronik der Päpste und ihrer Gesetze - alle drei bisher genannten Schriften wurden vermutlich'1524 gedruckt - verfaßte er als interessantestes Dokument im selben Jahr Eine schöne Unterweisung, daß wir in Christo alle Brüder und Schwestern sind. Rychsner, der mit größter Wahrscheinlichkeit keine theologische Ausbildung genossen hat, ist also einer jener Laien, die durch die Reformation ermutigt wurden, sich ihr eigenes, nicht-katholisch normiertes Urteil über die Kirche und ihre religiöse Praxis zu bilden. Geht man jedoch davon aus, daß in dieser Zeit in den Zünften und Gilden teilweise schon mehr als nur rudimentäre Kenntnisse im Lesen und Schreiben vermittelt wurden, wird erklärlich, wieso auch Laien nun in stärkerem Maße des "Wortes mächtig" werden. Orientiert sich Rychsner in seiner Unterweisung an der Textsorte des Sendbriefes, so fällt bei einer genaueren Betrachtung der einleitenden Worte noch einiges weitere auf: Ir allerliebsten brüder und schwester in Christo durch die gnad des himlischen
vatters unnd die new geburt, so wir glawben in seynem aingebornen son, unseren herren Jhesum Christum, als in unsern säligmacher unnd erlöser von dem ewigen tod, wie dann Johannes bezeugt in seinem evangelio am ersten capitel unnd spricht: Aber sovil in haben auffgenommen, den hatt er macht geben, kinder Gottes zuo werden, die da glawben, in seynem namen. (Flugschriften 1983: 422) Die Einleitung enthält traditionelle Elemente der Anrede, die wegen ihrer Gerichtetheit an die Gemeinde nicht mit der Fürstenhuldigung, wie wir sie sogar bei Müntzer oder Karlstadt in vielen Fällen fmden, sondern mit der christlichen Grußformel von den Brüdern und Schwestern in Christo eröffnet wird. Vergleicht man Rychsners Eröffnung mit der anderer, vornehmlich reformierter Autoren, so fällt auf, daß er nur eine rudimentäre Segensformel zustande bringt und sogleich auf sein eigentliches Thema zu sprechen kommt: Und so uns auß der gnad Gottes wurdt mitgetailt, das wir glauben in unnsern herren Jhesum Christum in rechter lieb und vertrawen in inen, so wirt uns Got nit fälen mit seyner verhayssung. Und auff solche verhayssung und zuosagung, wölche uns Got, unser getrewer himlischer vatter gethan hatt, wöllen
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wir unser hoffnung setzen und die roraffen3 lassen ligen und schreyen, wie lang sy wölien, wölche da sagen, der glawb, das leydefl!l und sterben Christi, sey unns nit genuog zuo der seligkayt, sonder wir rnüssent auch etwas darzuo tlmen. Und sy haben unns doch selbs lang gesagt, das ain ainiger pluetstropff, den Christus hab verröret in seiner marter, der wer genügsam, abzuelegen aller welt sünd! Da sehen wir was das für leüt seind, wann wir sy also hiessen liegen, so wißten wir nit vor inen zuo bleybenn. Die weyl aber sy es selber thon, so lassen wirs geschehen. Itern, sy wöllen auch nit schwester und brüder mit uns, sonder besser dann wir sein und sagent, sy haben gewalt uns zuo straffen und wir sy nit, und sagen auch, Got hab inen gewalt geben, zuo herschen uber allen gewalt der weltlichen öberkayt. Wölches alles erdichte menschen gesatz seind, das wiI ich beweren auß der hayligen geschrifft, als viI mir Got gnad geyt. Wa ich aber fälet auß meinem ainfältigen mißverstandt, so wiI ich mich gern gütlich underweysen lassen, wie ainern christen gebürt zuo thuon. (Flugschriften 1983: 422) Im Vergleich mit entsprechenden Textanfängen bei Karlstadt, Müntzer oder Spengler, die in unterschiedlicher Weise das gesamte Spektrum evangelischer und theologisch gebildeter nonkonformistischer Einstellungen repräsentieren, wird die ,,Einfeltigkeit" Rychsners deutlich. Handelt es sich bei den drei genannten Predigern um auch in der Schriftlichkeit und in der Wahl der geeigneten Textsorte versierte Schreiber, so kann man dies von Rychsner nicht behaupten. Rychsner kann allerdings nicht als ungebildet bezeichnet werden, denn zumindest setzt seine Schrift, die immerhin 16 Blätter umfaßt, Kenntnisse des Neuen Testaments voraus, die auf eigene Lektüre und intensive Beschäftigung zurückzuführen sind. Jedoch ist Rychsner, was schnell deutlich wird, in seiner Argumentation sowohl seinen gelehrten Gegnern als auch "gebildeteren" Nonkonfo~ten nicht ebenbürtig. Der zentrale Gedanke seiner Schrift betrifft die - modern gesprochen - Gleichberechtigung aller Gemeindemitglieder. Daß Rychsner diese Gleichberechtigung, die sich in der Formel von den Brüdern und Schwestern offenbart, aus der Bibel herleitet, kann in dieser Zeit nicht verwundern, andere als religiös motivierte Erklärungsansätze hat es nicht gegeben und konnte es auch in einem zutiefst religiös geprägten Denken nicht geben - was die wenigen Ausnahmen letztlich nur bestätigen. Interessant erscheint mir seine Art und Weise der Beweisführung. Sowohl der Titel als auch der Beginn seiner eigentlichen Argumentationdie ,)aienhaft" nicht von der Eröffnung getrennt ist - zeigen, daß Rychsner die Bibel "wörtlich" verstehen will. Ohne den Weg der Exegese zu gehen, glaubt Rychsner wie viele seiner Zeitgenossen an einen direkten Zugang zum 3
Brüllaffen.
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Wort Gottes. Er verbindet also mit der Berufung auf die Bibel als den (textuellen) Ort des Wortes Gottes einen grundsätzlichen anderen Handlungstyp als Luther oder die katholischen Geistlichen. Daß dahinter keine überhebliche Naivität eines Halbgebildeten steckt, sondern eine programmatisch zu nennende Haltung eines tief gläubigen Menschen, ist wichtig für die Analyse und die Wertung dieser Schrift - stellvertretend für eine Vielzahl ähnlich gesinnter Auto rInnen. Die Reformation und besonders Martin Luther predigten - vereinfacht gesprochen - eine Rückbesinnung auf den ursprünglichen Text der Bibel. Nicht die Bibel oder gar die Vulgata wurden infrage gestellt, sondern die Tradition katholischen, ,,römischen" Umgangs damit. Die Neufassung durch Luther - 1524 liegt immerhin schon seit etwa zwei Jahren das Septembertestament vor, das Alte Testament wird seitdem in Einzelveröffentlichungen publiziert - eröffnete auch dem gemeinen Mann, d.h. den Laien, eine neue, nicht mehr durch die katholische Auslegung verstellte Sicht auf das göttliche Wort. Diese Art der Offenlegung, bei der sich Luther, wie er immer wieder betont, um eine Verständlichkeit seitens des gemeinen Mannes bemüht, beseitigte auch die Verständnisbarriere der bisherigen Bibelübersetzungen. Mußten sich also Laien nicht dadurch ermutigt fühlen, die Bibel, speziell das Neue Testament, nun geschrieben in ihrer Sprache und der altgläubigen Deutungshegemonie entzogen, selbst zu deuten, d.h. im wörtlich Sinne verstehen zu wollen? Nichts anderes praktiziert Rychsner in seiner Bibelauslegung. Dabei verkennt er aber, daß der lutherische Disput mit der altgläubigen (Papst-) Kirche sich selbst innerhalb einer Tradition verstanden hat und zu dieser Zeit auch noch versteht - so waren die berühmten 95 Thesen anfangs nur für ein gelehrtes Publikum bestimmt gewesen, nicht für die Öffentlichkeit -, die nicht auf eine Auslegung der Bibel verzichtet. Ganz besonders deutlich wird diese Kontroverse schließlich im sogenannten Bauernkrieg der Jahre 1524/1525, als Luther seine Autorität in die Waagschale wirft, indem er nun Exegese im vergleichsweise traditionellen Sinne - und dies ist nicht politisch oder moralisch gemeint - betreibt, wobei für ihn eine Deutung der Bibel nur exegetisch möglich erscheint, und Position gegen die Aufständischen dieser Jahre bezieht. Aus dieser Tradition bricht Rychsner bewußt aus. Wenn er in seiner Einleitung davon spricht, daß er sich anband der Bibel widerlegen lassen will, so handelt es sich hierbei keinesfalls um eine bloße Redewendung. Die Verhörprotokolle der frühen Reformationsjahre ebenso wie der Jahre,_ die durch die Verfolgung von Täufergruppen und anderen nonkonformistischen Bewegungen - ich möchte hier bewußt nicht pauschal von Sekten reden - geprägt sind, zeigen immer und immer wieder, daß Prediger wie Laien bereit sind, ihrer Meinung "abzuschwören", sofern sie denn
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aus der Bibel, womit in der Regel übrigens das Neue Testament gemeint ist, anband eindeutiger Textstellen (allerdings im wörtlich~n Sinne verstanden) widerlegt werden (Diekmannshenke 1994). Die Masse des Quellenmaterials läßt keinen anderen Schluß zu. In diesem Sinne sollte man Rychsners Hinweis auf seine Einfältigkeit nicht als Kokettieren oder als traditionelle Formel abtun, sondern als Ausdruck ernsthaften Zweifels ansehen. Auch hier bieten die Verhörprotokolle und die übrigen Akten, Flugschriften, Briefe stets das gleiche Bild. Schaut man sich nun den anschließenden Text an, so wird Rychsners argumentative Vorgehensweise deutlich: Zum ersten: So Cristus spricht, Mathei. VI. Capitel: Vatter unser, der du bist in den himeIn etc., da hatt er weder den bapst, kayser, künig, cardineI, oder bischoff kain ander gebeet geleert wann das yetz gemelt. Mir ist auch kain zweyfell, seyn liebe muetter Maria, alle apostel und liebhaber Gottes haben in also angebet, wölliche sich dann am maysten seynes willens geilissen haben. Sy haben sich auch unser nit geschemet noch sich über uns erhebt. Er spricht auch Mathei XII. capitel: Wö1cher thuot den willen meines himlischen vatters, der ist mein bruoder, schwester oder muotter. Weytter Mathei am XXIII. Capitel: Ir soU euch nit mayster nennen lassenn, wann ainer ist eüwer mayster, Christus, ir aber seyt all brüder underainander. Item, ir sollent auch nyemant vater hayssen auff erden, dann ainer ist ewer vater, wölcher im himel ist. (Flugschriften 1983: 422t) Es werden Belegstellen zitierend aneinander gereiht , ohne daß diese selbst interpretiert werden. Direkte Glaubenserfahrung bedeutet Verkündigung des eigenen Glaubens anband der Präsentation von Belegstellen aus der Bibel. An keiner Stelle der Schrift Rychsners fmdet sich ebenso wie bei irgendeinem anderen Laien ein (positiver) Bezug auf theologische Autoritäten. Allein die Nennung von These oder Gegenthese, die schließlich durch eine Vielzahl von Belegstellen aus dem Neuen Testament gestützt wird, bildet den Kern der Glaubenspräsentation. Die Argumentationsstruktur präsentiert sich als extrem vereinfacht, wesentliche Momente einer komplexeren Argumentation fehlen. Unnd auß disen unnd andern sprüchenn, wöllicher noch viI anzuozaygen werent, ist gnuogsamlich bewert, das wir nach Adam und Heva natürlich brüder und schwester sein, und nach dem gayst deßgleychen, wann ye von ainer erden, von ainem Got und gayst. Wölcher aber von ainer bessern substantz oder bessern gayst ist, den will ich mich geren ains andern weysen lassen. Aber Johannes spricht im ersten capitel also: Inn dem anfang was das wort, und das wort was bey Got und Got was das wort. So ist ye das wort Jhesus Christus, der ist uns gesandt worden von dem vatter durch den hayligen gayst. Und
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spricht der ewangelist weytter in yetzgenantem capitel also: Unnd so viI in haben auffgenommen, sollichen hat er macht geben, zuo werden Gottes kinder, wölche da glauben in seynem namen, ja die da nit auß dem willen des mans, sonder die auß Got geborn seind etc. (Flugschriften 1983: 423) Nicht die Qualität des Arguments spielt eine Rolle, sondern allein die Vielzahl der neutestamentlichen Belegstellen. Rychsner bricht hier mit der Tradition der Bibelauslegung nicht aus Unwissenheit oder Unkenntnis - dies wäre zu einfach -, sondern auch aus grundsätzlichen Überlegungen. Das Wort Gottes ist ihm und seinen LaienkollegInnen heilig. Das wort, ihr sollt es lassen stan - dieser Ausspruch Luthers wird ihnen zur Maxime. Die Wörtlichkeit, die nicht nur als theologisches Programm einen Bruch mit theologischen Traditionen bedeutet, hat Auswirkungen auf die Gestaltung der Texte. Spontane Intertextualität führt zur Herausbildung einer Gruppe von Texten, die ich 'Präsentationstexte'4 nennen möchte, welche einen direkten und unmittelbaren Zugang zum Wort Gottes unter ausdrücklichem Verzicht auf die Exegese postulieren und die bislang noch wenig systematisch erfaßt worden sind. In Schwitallas Textsortenübersicht (1983: 367f.) lassen sie sich allenfalls unter den "gruppenkonstituierenden Programmen" (TS 10) einordnen, wo bei diesen allerdings gerade der für diese Texte typische Zug individueller Glaubensverkündigung fehlt. Befragt man solche Texte wie den Rychsners hinsichtlich ihres Publikums und ihrer Wirkung, so läßt sich die Art der Aneignung als laienhaft, die soziale Form - vor allem bei Sekten und nonkonformistischen Gruppen - als vornehmlich kollektiv beschreiben. Berücksichtigt man beide Momente, so wird deutlich, daß es sich bei diesen Sendschreiben und Flugschriften weniger um persuasive denn um ,Ingroup-Texte' handelt, die getragen sind von dem Streben, die eigene Gruppe oder "Gleichgesinnte" in ihrer Haltung zu bestärken, nicht aber innerhalb des öffentlichen Diskurses argumentativ zu wirken und letztlich zu überzeugen (Diekmannshenke 1995). IntertextuelIe Beziehungen werden damit aus dem breiteren öffentlichen Diskurs hin zu einer relativen oder bei einzelnen Sekten auch fast absoluten Abgeschlossenheit verlagert.
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Bei der Suche nach einem Namen für diese neue Textsorte war die Diskussion mit Josef Klein sehr hilfreich. Dabei zeigte sich, wie schwierig sich eine solche 'Textsortentaufe' gestalten kann, wenn nicht die Möglichkeit besteht, auf eine bereits vorhandene Klassifizierung zurückzugreifen.
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5. Von der spontanen Intertextualität zur neuen Textsorte 'Präsentationstext' In den folgenden Jahren fmden sich immer noch Zeugnisse dieser· Vorgehensweise. Auch der mit den Augsburger Täufern sympathisierende Eitelhans Langenmantel, Sohn eines Ratsherrn und aus einem Augsburger Patriziergeschlecht stammend, aber selbst Landsknecht, wählt in seinen erhaltenen Schriften eine Strategie der individuellen Auslegung der Bibel gegenüber einem an der evangelischen oder katholischen Praxis ausgerichteten kanonisierten Vorgehen. Wenn hier Langenmantel als Landsknecht bezeichnet wird, so bedarf dies einer Präzisierung. Er gehörte zu den Augsburger ,,Raisigen", die eine G.ruppe von Edelsöldnern bildeten, welche in der Regel aus dem Landadel oder dem städtischen Patriziat stammten (Roth 1900: 229). 1535 handelte es sich um insgesamt 70 Männer, die im Krieg als Zeugmeister, Säckelmeister oder ähnliches tätig waren. In Friedenszeiten "oblag ihnen die Führung von Geleitmannschaften, die Begleitung städtischer Gesandter auf Reichs-, Bundes- und Städtetage, der Befehl über die Stadtsöldner, die Ausrichtung von Aufträgen, zu denen man gewöhnliche Boten nicht verwenden konnte, der Sicherheits- und Kundschaftsdienst auf den Landstraßen und Ähnliches; ein mühsamer, unruhiger und gefährlicher Posten." (Roth 1900: 229) Sowohl in seiner Schrift Ein kurzer Begriff von den alten und neuen Papisten (Flugschriften 1992: 131-135) (Augsburg 1526) als auch in seiner Kurze[n] Anzeige, wie Dr. Martin Luther etliche Schriften vom Sakrament hat ausgehen lassen, die einander widersprechen (Flugschriften 1992: 194202) (Augsburg 1527) sind es ausschließlich Bibelstellen, die er als Beweis für seine Auffassung heranzieht. Für Langenmantel, der schließlich 1528 als vermeintlicher Täufer hingerichtet wird, entbehren die von ihm in seiner Kurzen Anzeige genannten Schriften Luthers einer Begründung im Wort Gottes: "So wird ich verursacht, auß ettlichen ungeschickten geschrifften, so Doctor Martin Luther yetz laßt ausgeen, darinnen er unns frembde go etter unnd secten, on grundt der schrifften anzaygt, und nit wie Christus oder Paulus." (Flugschriften 1992: 194) Das Wort Gottes, wie es sich in der Bibel fmdet, bedarf auch für ihn der Vermittlung, nicht der Auslegung. Die besondere Stellung und Autorität des Wortes der Bibel wird auch dadurch dokumentiert, daß keiner dieser Nonkonformisten, sei er evangelisch, ohne in allen Fragen Konsens mit Luther zu haben, sei er Spiritualist oder Täufer, oder sei es nur seine eigene, "private" Auffassung ohne Bindung an irgendeine religiöse Bewegung jemals bei aller Kritik und Polemik gegenüber den Reformatoren die Autorität der Lutherschen Bibelübersetzung in Zweifel gezogen
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hätte. Langenmantel stellt an einer Stelle so gar den lutherischen Bibeltext einer anderen Schrift des Reformators gegenüber, mit positiver Wertung der Bibel selbstverständlich: Doctor Martin Luther, hat vergangner zeyt ain sermon lassen außgeen, vom sacrament, über das evangelium Johannis 6: Mein flaisch ist ayn rechte speiß etc. Und in dem newen testament, auch Johannis 6, setzt er in der gloß: Diß capitel redt nitt vom sacrament des brots und weys, besonders vom gaystlichen essen, das ist glauben, das Christus Got und mensch, sein bluot für uns vergossen hat. An disen zwayen obanzaygten ortten, hatt Martin Luther wol geschriben, wer will der leße sy. Aber yetzunder schreybt er den seiben und andern seinen schrifften, gantz und gar entgegen, Gott der helffe auff seyner schwachait. (Flugschriften 1992: 201) Intertextualität präsentiert sich hier erneut als alleiniger Bezug auf eine einzige Text-Quelle, nicht als eine Reihe oder Folge von Texten innerhalb eines Diskurses, welche zusammen für ProduzentInnen wie RezipientInnen ein intertextuelles Beziehungsgeflecht bilden. Intertextualität in dieser Sicht ist allein (scheinbare) Rückkehr zum Originaltext und bewußter Bruch mit der Auslegungsgeschichte.Daß damit eine neue intertextuell relevante Tradition geboren wird, liegt außerhalb der Horizonts der ProduzentInnen. Das Wort Gottes wird stets den noch nicht Erleuchteten präsentiert, es wird aber nicht neu interpretiert, es wird ausschließlich vermittelt. Auf diesem Wege entstehen schließlich jene ,Präsentationstexte " die sich von exegetischen Texten strukturell, was sich im Wandel der sie konstituierenden Elemente oder Textbausteine zeigt, aber auch - und dies ist besonders zu betonen - im Wandel ihrer Funktion unterscheiden. Noch bleybt das wort Gottes ewig, dann ee sein wort vergeen wirt, ee wirt hymel und erden vergeen. So aber sein wort mitt menschen leer oder findlein verfelscht wirt, aIßdann hayßt und ist es nitt meer Gottes wort, besonder deren wort, von wellichen es verkoert. (Flugschriften 1992: 194) Die Autorität des Wörtlichen wird noch deutlicher in der folgenden Stelle, die sich in abgewandelter Form bei praktisch allen Nonkonformisten fmdet und die damit in rezeptionsorientierter Sicht eine neue Intertextualität konstituiert: Ir lieben im herren. Ir hapt gehoert, wie obsteet, das Christus klarlich spricht: Das ist meyn leyb, der für euch geben wirt. Er spricht aber nit: das brot ist mein leyb etc.Sein brot hieß er sy essen, und sprach weytter: Das ist der kelch, das newe testament in meinem bluot, das vergossen wirt. Er spricht aber nit: der weyn im kelch ist mein bluot, diß solt ir wol mercken etc. (Flugschriften 1992: 195)
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Im weiteren Verlauf der Schrift greift Langenmantel das bereits genannte Schema immer wieder auf. Er nennt einzelne Äußerungen Luthers zum Abendmahlsstreit und stellt ihnen Bibelstellen in seinem wörtlichen Verständnis dieser Passagen gegenüber. Die Bibel ist nicht auslegungsbedürftig, das ist die Grundannahme. Ein solches Verständnis hat Auswirkungen auf die argumentative Struktur. Während ein interpretatorisches Auslegen bestimmte argumentative Strukturen beinhaltet, welche von der Wörtlichkeit ausgehend in argumentativen Schritten zur Lehre hingelangen, erweisen sich die spontanen Texte als argumentativ redundant. Es dominiert das Prinzip der Wiederholung antithetischer Postulate - Luther sagt, ich antworte -, welches keine komplexe Argumentation zuläßt.
6. Ausblick und Ergebnisse Bedenkt man den zeitlichen Abstand vor dem Hintergrund der historisch-politischen Ereignisse (Bauernkrieg und Täufertum), so glaube ich darin einen Beweis zu erblicken, daß sich der einstmals durch spontane Intertextualität geprägte Umgang mit der Bibel zu einer eigenen Traditionslinie innerhalb eines religiösen Spektrums ausgeprägt hat. ,Präsentationstexte ' sind entstanden, die nicht mehr dem theologischen Disput oder der Meinungskundgabe in religiösen Fragen dienen, sondern die nur noch Selbstbestätigungsfunktion erfüllen. Vielleicht am extremsten zeigt sich dies innerhalb der Huterischen Brüdergemeinden. Wenn diese seit den 30er Jahren des 16. Jahrhunderts außer der Bibel nur noch die Briefe ihres Gründers Jakob Huter als einzige Schriftstücke und damit als Prä- und Kotexte intertextuellen Bezugs gelten lassen (Fischer 1956), konstituiert sich hier eine völlig neue Textsorte von ,Ingroup-Texten' in Form der ,Huter-Briefe', die nur noch äußerlich traditionellen (theologischen) Gemeinde-Briefen und anderen Textmustem ähnelt. Intertextuelle Bezüge und Anspielungen erfüllen eine gruppenkonstituierende Funktion, eine Erscheinung, die sich in der Gegenwart besonders anschaulich innerhalb von Jugendgruppen beobachten läßt (vgl. dazu den Beitrag von Androutsopoulos in diesem Band). Intertextuelle Untersuchungen scheinen besonders dort ergiebig zu sein, wo sich im Rahmen öffentlichen Meinungsstreites ein Wandel von Textsorten abzeichnet. Erkennen von Textsorten setzt intertextuelle Kenntnisse voraus. Werden die daraus resultierenden Erwartungen gestört, ist der Ansatzpunkt für einen Wandel von Textsorten gegeben. Systematische Untersuchungen besonders an historischen Korpora stehen hier noch aus. Allerdings gilt auch hier: Das ist (noch) ein weites Feld.
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7. Verzeichnis der zitierten Literatur Androutsopoulos, Jannis K. (1997): Intertextualität in jugendkulturellen Textsorten (in diesem Band) Broich, UlrichIPfister, Manfred (Hgg.) (1985): Intertextualität. Formen, Funktionen, angl. Fallstudien, Tübingen Diekmannshenke, Hajo (1994): Die Schlagwörter der Radikalen der Reformationszeit (1520-1536). Spuren utopischen :Bewußtseins, FrankfurtJMain [usw.] Diekmannshenke, Hajo (1995): Überzeugungsarbeit oder Selbstbestätigung? Der Schlagwortgebrauch der Radikalen der Reformationszeit am Beispiel von persuasiven und Ingroup-Texten, in: Historische Soziolinguistik des Deutschen H. Sprachgebrauch in soziofunktionalen Gruppen und in Textsorten, hrsg. v. Gisela Brandt, Stuttgart, 167-188 Engelsing, Rolf (1973): Analphabetentum und Lektüre. Zur Sozialgeschichte des Lesens in Deutschland zwischen feudaler und industrieller Gesellschaft, Stuttgart Fischer, Hans (1956): Jakob Huter. Leben, Frömmigkeit, Briefe (=Mennonite Historical Series, Bd. 4), Newton, Kansas/USA Flugschriften (1983): Flugschriften der frühen Reformationsbewegung (15181524), hrsg.v.d. Akademie der Wissenschaften der DDR, 2 Bde., BerliniDDR Flugschriften (1992): Flugschriften vom Bauernkrieg zum Täuferreich (15261535), hrsg. v. Adolf Laube in Zusammenarbeit mit Annerose Schneider und Ulman Weiß, 2 Bde., Berlin Holthuis, Susanne (1993): Intertextualität. Aspekte einer rezeptionsorientierten Konzeption, Tübingen Kühlmann, WilhelmlNeuber, Wolfgang (Hrsg.) (1994): Intertextualität in der Frühen Neuzeit. Studien zu ihren theoretischen und praktischen Perspektiven (Frühneuzeit-Studien, Bd. 2), FrankfurtJMain [usw.] Luther, Martin (1883ff): Werke. Kritische Gesamtausgabe, 61 Bde., Weimar 18831983 Luther, Martin (1906ff): Werke. Kritische Gesamtausgabe. Die Deutsche Bibel, 12 Bde., Weimar 1906-1961 Müller, Johannes (1969): Quellenschriften und Geschichte des deutschsprachigen Unterrichtes bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, Darmstadt [Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Gotha 1882] Realencyklopädie (1896ff): Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, 3. verb. u. verm. Aufl., hrsg.v. Albert Hauck, 24 Bde., Leipzig 18961913 Rössler, Elke (1997): Intertextualität in Zeitungstexten - ein rezeptionsorientierter Zugang (in diesem Band) Roth, Fr[iedrich] (1900): Wer war Haug 'Marschalck, genannt Zoller von Augsburg, in: Beiträge zur bayerischen Kirchengeschichte 6,229-234 Roth, Friedrich (1901): Augsburgs Reformationsgeschichte. 1517-1555, 4 Bde., München 1901-1911
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Hajo Diekmannshenke
Schwitalla, Johannes (1983): Deutsche Flugschriften 1460-1525. Textsortengeschichtliche Studien, Tübingen Soeffner, Hans-Georg (1992): Luther - Der Weg von der Kollektivität des Glaubens zu einem lutherisch-protestantischen Individualitätstypus, in: Ders.: Die Ordnung der Rituale. Die Auslegung des Alltags 2, FrankfurtJMain, 20-75
Natalia Troschina (Moskau)
Stilistisches Koordinatensystem und Intertextualität im öffentlichen Mediendiskurs Rußlands 1. Einleitung 2. Qualitative Veränderungen im russischen öffentlichen Mediendiskurs nach der Wende 3. Das systemhafte Herangehen an den öffentlichen Mediendiskurs. Intertextualität und stilistisches Koordinatensystem 4. Intertextuelle Innovationen im russischen Mediendiskurs, analysiert am Beispiel des TV -Programms ,,Kukly" 5. Schlußbemerkung 6. Verzeichnis der zitierten Literatur
1. Einleitung Der Begriff Text und somit auch der der ,,Intertextualität" werden hermeneutisch sehr weit gefaßt - Text als Welt geordneter Verweisungszusammenhänge ist nicht nur eine Manifestation vorgegebener, vorgedachter Sinnzusammenhänge, sondern gleichzeitig der Ort neuerschlossenen Sinns, der über das Gegebene hinausweist (Garz, Kraimer 1994: 7). Da die menschliche Welt eine Welt der nationalen und internationalen Kultur ist, kann das so gefaßte Konzept "Text" auf Kultur übertragen werden, was ein systemhaftes Herangehen an das Phänomen Kultur ermöglicht, d.h. Kultur wird als ein einheitliches Gebilde von sich entwickelnden Erscheinungsformen, auch von kommunikativen Bereichen (bzw. DiskursräumenJSphären) begriffen. Für die Behandlung des im Titel angegebenen Themas ist das Konzept der Logosphäre von Bedeutung, der Logosphäre als Gesamtheit der Diskursräume, in denen die Kommunikation vor allem durch die verbale Sprache 1 realisiert wird. Deshalb scheint es zweckmäßig zu sein, im Aufsatz einem eingeschränkten Textbegriff zu folgen und unter dem Text vor allem ein verbales Gebilde zu verstehen. Das systematische Herangehen an die Logosphäre und an die sie bildenden Diskursräume bedeutet ihre Betrachtung von drei Seiten: unter strukturellem, funktionalem und historischem Aspekt (Kagan 1996: 25).
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Vgl. die Definition der Logosphäre von A.K. Michalskaja: "Die Logosphäre ist der sprachlich-kognitive Bereich der Kultur" (Michalskaja 1996: 32).
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Natalia Troschina
2. Qualitative Veränderungen im russischen öffentlichen Mediendiskurs nach der Wende Diskursräume entwickeln sich nicht synchron, obwohl sie sich ständig gegenseitig beeinflussen. Die grundsätzliche Veränderung der politischen und sozialen Situation in Rußland hat am stärksten den öffentlichen Mediendiskurs beeinflußt. Es ist ja kein Zufall, daß die meisten Veröffentlichungen zum Problem "Sprachliche Innovationen" auf Medientexte bezogen sind, vor allem auf die demokratische- Presse (',Argumenty i fakty", ,,Itogi", ,,Izvestija", ,,Nezavisimaja gazeta", ,,Moskovskije novosti" usw.), wogegen Texte aus der sogenannten "oppositionellen" Presse bedeutend seltener analysiert werden (dazu Kakorina 1996: 409). Das ist wahrscheinlich damit zu erklären, daß der Wandel der kognitiven und sprachlichen Stereotypen vor allem durch die demokratische Presse reflektiert wird. Dabei betrifft der ko gnitive WandeI die wichtigsten kulturellen Konzepte, d.h. die Kulturdominanten (Karasik 1994: 53), z.B. ,,Freiheit", ,,Eigentum", "Gutes" und ,,Böses" usw. Da diese Konzepte nicht mehr kognitiv einheitlich gefiltert werden - und es war das wesentlichste Merkmal der mono stilistischen Kultur, daß solche Konzepte nur auf eine bestimmte, vorgeschriebene Weise gedeutet wurden (Troschina 1994; Troschina 1995; Troschina 1995a) -, bekommen sie neue inhaltliche und emotionale Werte und werden auch sprachlich neu manifestiert. Diese Innovationen vollziehen sich auf verschiedenen sprachlichen Ebenen, sie betreffen Texttypenmuster, aber auch das stilistische Prinzip allgemein, das von der Meinungsfreiheit bestimmt wird. So ist der früher vorwiegend monologisierte Mediendiskurs durch einen dialo gisierten ersetzt worden. Es entsteht ein neues Modell, sich öffentlich durch die Sprache zu etablieren. Im neuen Mediendiskurs werden oft konträre Meinungen zu einem und demselben Pro blem geäußert und diskutiert. Dialo gische Formen gewinnen stark an Bedeutung und realisieren sich in neuen. Programmen: Z.B. "Wahrheitsmoment ("Moment istiny"), "Thema", ,,Alte Wohnung" ("Staraja kwartira") usw., in denen nicht nur aktuelle Probleme diskutiert werden, sondern auch unsere Vergangenheit. Die Dialo gizität als ein wesentliches Merkmal des neuen Mediendiskurses bedingt zwei weitere Besonderheiten: stilistische Heterogenität und stark ausgeprägte Genreintertextualität. Stilistische Heterogenität ist eine Texteigenschaft, die als Folge der Abschaffung des institutionell vorgeschriebenen 2 verbindlichen stilistischen Kanons in jeweiligen Diskursräumen entsteht. Intertextualität ist die gegenseitige Bezogenheit von Texten im Mediendiskurs, 2
Hier Institution als eine beliebige Art von komplexen normativen Präskriptionen verstanden.
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die sich in drei Aspekten äußert - kognitiv, sprachlich und visuell. Die Grundlage der Intertextualität ist die Modellierung des kulturspeziftschen Rezeptionskontextes für die kognitive Verarbeitung von Referenztexten, oder in anderer Terminologie: das ist eine gleichzeitige Aktivierung von mehreren Frames in der kommunikativen Kompetenz des Rezipienten. So z.B. ist der Ausdruck ,,Istorija partü bez prava perepiski" durch und durch intertextueIl, weil das Wort "perepiska" zwei Assoziationen hervorruft: 1. "perepisyvat'" (,,neuschreiben"), dann heißt das soviel wie "eine offizielle unantastbare Version der Parteigeschichte, die nicht neugeschrieben werden darf'; 2. "perepisyvat's'a" (,,im Briefwechsel stehen"), dann ist das eine Anspielung auf die Repressionen zur Stalinzeit, wo die Häftlinge keine Post von Zuhause bekommen durften.
3. Das systemhafte Herangehen an den öffentlichen Mediendiskurs. Intertextualität und stilistisches Koordinatensystem Qualitative Veränderungen im Mediendiskurs lassen sich beim systernhaften Herangehen an diesen Diskursraum beobachten, wobei dem Phänomen der Intertextualität eine bedeutende Rolle zukommt. Wir wollen nun verfolgen, wie die intertextuellen Beziehungen die strukturelle, funktionale und historische Dimension des Mediendiskurses prägen. Ich möchte aber gleich vorwegnehmen, daß die Unterscheidung dieser drei Dimensionen nur als ein analytischer Forschungsgriff möglich ist. Im realen Diskursgeschehen sind sie dynamisch fest miteinander verbunden und spiegeln die sich ständig wandelnde soziokulturelle Situation wider. Thematische Vielfalt des Mediendiskurses und die Mö glichkeit ihrer freien kognitiven Verarbeitung ist ohne emotionale Bewertung der betreffenden Diskurskonzepte seitens der Textautoren nicht denkbar. Dabei werden die Akzente auf ganz unterschiedliche Aspekte der diskutierten Probleme gelegt. Die dadurch entstehenden stilistisch (und kognitiv) konträren Texte strukturieren entsprechende Themenbereiche des Mediendiskurses und generieren innerhalb des Diskursrahmens plurale Text-Text-Beziehungen auf stilistischer Ebene. Deshalb kann man die stilistische Intertextualität als ein wichtiges strukturelles Merkmal des Mediendiskurses betrachten. Intertextualität ist darüberhinaus ein Mittel zur Steigerung der Wirkungseffektivität im Mediendiskurs, weil der in der Kommunikation verwendete Prätext oder Fragmente von ihm den Diskurs konzeptuell, emotional und informativ sättigen, z.B. als Mittel hintergründiger Kritik. So heißt z.B. ein
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Artikel in der ~ochenschrift ,,Itogi" ,,Meine Miliz läßt sich bestechen" (',Moja milicija vz'atki b'er'ot"). Das wird als eine ironische Anspielung auf die berühmte Zeile von Vladimir Majakowskiy ,,Moja milicija m' en' a berezot" (,,Meine Miliz behütet mich") aufgenommen, was auch rhythmisch bedingt ist, denn das Versmaß ist im ,,Ito gi"-Text bewahrt. Die sarkastische Wirkung dieses Titels beruht darauf, daß in der kommunikativen Kompetenz des Lesers beide Miliz-Frames noch präsent sind: 1. der alte, in dem das Konzept ,,Miliz" mit dem Konzept ,,Behütung", "Verteidigung" verbunden und positiv konnotiert ist, 2. der neue, in dem das Konzept ,,Miliz" mit den Konzepten "Unrecht", "Korruption" assoziiert ist und bittere Konnotationen hervorruft. Unter funktionalem Aspekt ermöglicht der gewonnene Spielraum für thematische und stilistische Intertextualität neben der Steigerung und Differenzierung des Wirkungspotentials gegenüber den Rezipienten vor allem auch eine stärkere Verknüpfung des russischen Mediendiskurses mit der nationalen und internationalen Kultur, insbesondere auch der Weltliteratur (siehe Abschnitt 4).
Beim diskurshistorischen 3 Betrachten der Massenkommunikationsprobleme sind zwei Begriffe ausschlaggebend: die Kommunikationsfreiheit und das stilistische Koordinatensystem. Die gesellschaftliche Anerkennung der Kommunikationsfreiheit als Möglichkeit der Sprachteilnehmer, Freiräume kommunikativen Handelns (Fix 1990: 333) kreativ auszunutzen, prägt das stilistische Koordinatensystem als Gesamtheit von Stilmustern und fördert seinen Wandel. Der Grad der kommunikativen Freiheit des Individuums wird im Verhältnis ,,Institution/Individuum" reflektiert. Wenn man das bedenkt, wird klar, warum eben die historische Seite für die Beurteilung der Mediendiskurssituation in Rußland besonders wichtig ist. Massenhaft verbreitete Medientexte haben in der Regel einen ganz konkreten Autor, so daß der Grad der Kommunikationsfreiheit für die Journalisten mitunter den Grad ihrer persönlichen Freiheit bedeutet. Das genannte Verhältnis hängt von der soziokulturellen Situation im Lande ab und ist folglich variabel. In einer totalitären Gesellschaft mit einer für sie typischen monostilistischen Kultur ist dieses Verhältnis strikt präskriptiv: Das Individuum kann sich beim stilistischen Handeln nur im Rahmen des institutionell vorgeschriebenen Koordinatensystems bewegen, es hat so gut wie keine Wahl und vertritt in der Kommunikation eigentlich nicht sich
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Der Tenninus stammt von R. Wodak (Wodak 1990: 56).
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selbst, sondern die Institution. Damit geht eine der wichtigsten Funktionen des Stils zugrunde: die der Selbstdarstellung. In einer demokratischen Gesellschaft mit einer für sie typischen polystilistischen Kultur ist das InstitutioniIndividuum-Verhältnis bedeutend flexibler. Das Spiegelbild dieser Flexibilität ist eben der Stil, der die wichtigsten kommunikaiv-pragmatischen Parameter der Kommunikationssituation in sich faßt. Im Bereich der Sprachkommunikation projiziert sich diese Flexibilität auf das Verhältnis WaslWie und realisiert sich durch die kommunikative Freiheit des Individuums beim Umgang mit Stilmustern - "Orientierungen, mit welchen Mitteln stilistisch operational gehandelt werden kann" (Fix 1990: 332). Da im stilistischen Handeln das sprachkommunikative W ohlbefmden des Sprachteilnehmers zum Ausdruck kommt, kann dieses als Hauptaspekt der Sprachhandlung qualifIziert werden. Die kommunikativen Erfahrungen, die der Sprecher/Hörer dabei sammelt, erweitern seine kommunikative Kompetenz und verursachen Wandlungen im stilistischen Handlungssystem. Jede historische Etappe in der Entwicklung des Mediendiskurses verfügt über ihr spezifISches stilistisches Koordinatensystem, das die Praxis der Sprachkommunikation wesentlich lenkt und dabei nur im Kulturkontext funktioniert .
4. Intertextuelle Innovationen im russischen Mediendiskurs, analysiert am Beispiel des TV-Programms "Kukly" Die beiden Komponenten des WaslWie-Verhältnisses wählt der Sprecher nur, indem er kulturelle Traditionen und institutionelle Verhältnisse im Lande in Betracht zieht. Zum Bereich des Was (also zum ko gnitiven Aspekt des komplexen Zeichens Stil) gehören das Thema, das Alltagswissen, historisches und kulturelles Wissen, Urteile, Vorurteile, Werte usw.; der Bereich des Wie wird von der Sprache geprägt. Die Innovationen in diesem Bereich äußern sich in den neuen Zügen der Intertextualität: 1. die Prätexte werden aus einem bedeutend weiteren Textkorpus gewählt, 2. es werden genre-entfernte Texte beim stilistischen Handeln verwendet (juristische, massenmediale, Texte der schönen Literatur usw.), 3. die kommunikative Aufgabe der Intertextualität ist vor allem satirische Darbietung der Ereignisse und Kritik an der Staatsführung. Dabei entstehen neue Genres des Mediendiskurses als massenmediale Charakteristiken der Zeit.
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Ein schönes Be~piel dafür ist das Fernsehprogramm "Kukly" (,,Puppen"), das einmal wöchentlich vom Unabhängigen Fernsehen Rußlands (Nezavisimoje Televidenije - NTV) ausgestrahlt wird. V. Senderovic, der Leiter vom ,,Dixi" - Studio, wo diese Puppenftlme gedreht werden, war der erste im russischen Mediendiskurs, der die gewagte Metapher ,,Politik als Theater" auf den TV-Bildschirm gebracht hat. Schon die erste Sendung war ein Kanonbruch im Mediendiskurs, was sowohl Inhalt als auch Form anbetrifft, der "Kukly" sofort zum beliebtesten TV-Programm gemacht hat. Im Neujahrsheft von ,,Itogi" (1996, 1 33) schreibt V. Senderovic, daß schon 1995 das ,,DOO"-Studio von angebotenen Szenarios überflutet war. Die Palette der Autoren war beeindruckend: Sie reichte von Journalisten bis zu ordentlichen Mitgliedern im Fachbereich Kernphysik der Akademie der Wissenschaften. Seitdem es dieses Pro gramm gibt, ist allen, auch den Machthabern, klar geworden, daß der Mediendiskurs stilistisch prinzipiell anders geworden ist. "Wie weit darf es gehen?" Diese Fragestellung kommt aus der Zeit der monostilistischen Kultur und bedeutet, daß die Gesellschaft aus der Umbruchphase ihrer politischen und soziokulturellen Entwicklung noch nicht heraus ist. Der Generalstaatsanwalt hat gemeint, "Kukly" treibe es zu weit, und hat gegen das Programm ein aussichtsloses Gerichtsverfahren eingeleitet, das auch bald unter starkem Druck der Öffentlichkeit eingestellt wurde. Das war ein ganz wichtiger Schritt auf dem Wege zur Sicherung der Kommunikationsfreiheit und der Erweiterung des neuen stilistischen Koordinatensystems. Der neue Typ stilistischen Handelns in Form von TV-Intertextualität hat sich als kommunikativ sehr wirksam erwiesen, denn das intertextuelle Spielfeld wird visuell wahrnehmbar gemacht. Als Prätexte werden Werke von Gribojedov, Gogol, Dostojevskij, Cechbv, Dante, Goethe, sogar Agatha Christie verwendet, d.h. nicht nur inhaltlich, sondern auch textuell sehr gut bekannte Werke. Der für das "Kukly"-Programm charakteristische Typ der intertextuellen Beziehungen ist der der Hypertextualität, in der solche Erscheinungen wie die Parodie, die Imitation, die Anspielung u.ä. zusammengefaßt sind (vgl. Genette 1982: 7-14). Diese Verfahren der Textgestaltung aktivieren die diskursiv zentralen Konzepte des enzyklopädischen Wissens der Zuschauer, wodurch die Rezeption gesteuert wird. Als einen der erfolgreichsten "Kukly"-Filme muß man den nennen, der "Faust" von Goethe als Prätext hatte. Der Film stammt aus dem Juni 1994. Er wurde ein halbes Jahr vor den Duma-Wahlen (Parlamentswahlen) und ein Jahr vor den Präsidentenwahlen gezeigt. Die politischen Parteien versuchten,
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Jelzin bei den Duma-Wahlen für sich zu gewinnen und versprachen ihm dafür ihre Unterstützung bei den Präsidentenwahlen. Die Intensität der hypertextuellen Bezüge im "Kukly"-Text läßt sich mit Hilfe von folgenden qualitativen Kriterien, formuliert von PfIster (1985), feststellen 4 : 1) Referentialität (diese ist umso größer, je stärker ein Text den anderen thematisiert und nicht bloß verwendet): im "Kukly"-Text wird das Problem des Verhältnisses vom Guten und Bösen bei einer politischen Allianz thematisiert; 2) Kommunikativität (sie ist umso größer, je bewußter sich Autor und Zuschauer des Bezuges sind): dieses Kriterium wird schon im "Vorspiel auf dem Theater" realisiert; 3) Strukturalität (sie ist umso größer, je direkter und wörtlicher ein Element des Prätextes als Bezugsfolie verwendet wird): im "Kukly"-Film wird die Situation im Studierzimmer genau aufgeführt: das Bühnenbild, die Rollenverteilung, so gar das Versmaß bleibt auch im russischen Text bewahrt, ebenso die persönlichen Sprechweisen der handelnden Personen: FaustlJelzin, Mephisto/Gaidar bzw. Shirinowskij bzw. Süganow; 4) Selektivität (sie ist umso größer, je direkter und wörtlicher ein Element des Prätextes als Bezugsfolie verwendet wird): es gibt sehr viele wörtliche und modifizierte Zitate aus Goethes "Faust"; 5) Dialogizität (sie ist umso höher, je stärker der ursprüngliche und der neue Zusammenhang in semantischer und ideologischer Spannung zueinander stehen): es gibt zahlreiche intertextuelle Referenzen aus dem Bereich der sowjetischen/russischen Geschichte und der Wendezeit. Das einzige Kriterium der Intertextualität (nach M. PfISter), dem der "Kukly"-Text nicht entspricht, ist das der Autoreflexivität (die umso größer ist, je deutlicher der Autor über den von ihm hergestellten Bezug selbst reflektiert). Es ist aber interessant, daß, wenn dieses Kriterium intertextuell auch nicht präsent ist, über die Einstellung des Autors kein Zweifel besteht weder bei den Zuschauern noch bei der Macht. Daher auch ihre stark negative Reaktion gegen das NTV und ihrem Versuch, das Pro gramm zu verbieten. Der Film beginnt mit dem "Vorspiel auf dem Theater", wo der Theaterdirektor/Jelzin sich überlegt, was für ein Stück er nun aufführen soll (ganz genau nach dem Goethe-Text). Die Assoziationen bei den Zuschauern sind aber: 4
Einen Versuch, die Modelle von Genette und Pfister zu verbinden, finden wir in der Monographie von H. Pfandl (Pfandl1993: 100 ff.).
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Rußland - Theater J elzin - Theaterdirektor Theaterstück - Wahlkampagne Goethes Zeilen "Wie machen wir' s, daß alles frisch und neu und mit Bedeutung auch gefällig ist?" und ,;Zwar sind sie an das Beste nicht gewöhnt, allein sie haben schrecklich viel gelesen" haben ihre intertextuelle Entsprechung in der Replik vom Direktor/Jelzin: ,,Faust" / ein neues Stück? Und das in Rußland aufführen? Warum auch nicht? ... Unser Wähler ist an alles schon gewöhnt". Die politische Situation in Rußland verleiht aber dem letzten Satz zusätzliche Inhalte - es geht ja nicht um die Belesenheit der Wähler ... Diese intertextuellen Inhalte fmden ihre Korrelation in der ,'paktszene", wo Faust/Jelzin spricht: "Die Alchemie ist unsere liebe Mutter, zum Himmel stehe ich im persönlichen Kontakt, und an der Teufelei fehlt's ja auch nicht bei uns!"
Die intertextuelle Annährung von handelnden Personen wird durch Allusionen und modifizierte Zitierung erzielt: Faust/Jelzin: Ich bin Magister doch, bin ein gelehrtes Haus! Hab nun so viel studiert und kann so vieles leisten! Z.B. eine Hölle anstellen, das geht ja auch!
In Goethes Text heißt es: Heiße Magister, heiße Doktor sogar! Habe nun, ach! Philosophie, Juristerei und Medizin und leider auch Theologie studiert mit heißem Bemühn!
Der im Referenztext enthaltene Satz "Z.B. eine Hölle anstellen, das geht ja auch!" zeigt, warum der "Kukly"-Faust zu Kontakten mit dem Mephistos (Gaidar, Shirinowskij, Süganow) bereit ist. In diesem intertextuellen Spielfeld, im Spannungsraum zwischen Prä- und Referenztext kommt es zur Bildung neuer konzeptueller Schwerpunkte. So wird z.B. das Konzept Blut zu einem Stichwort im "Kukly"-Text im Unterschied zum Goethe-Text, denn dieses Wort bedingt im Referenztext mehrmalige Allusionen: FaustlJelzin "Und wie soll ich das (den Pakt) unterschreiben? Mephi sto/Gai dar: "Keine Tinte wollen wir vergießen, aber ein Tröpfchen Ihres Bluts - das wär schon was!" Faust/Jelzin: "Weiß ich! Passiert nur nicht das erste Mal!"
L
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(die Allusionen: das Gefecht um das Weiße Haus (russisches Parlament) im Oktober 1993 und der Krieg in Tschetschenien) Mephisto/Shirinovskij: "Ist das Blut schon da?" Faust/Jelzin: "Schon wieder Blut!" Mephisto/Shirinovskij: "Nicht widersprechen! So ist die ordnung!" Faust/Jelzin (spricht zum Mephisto/Süganow): "Komm her mit deinem Pakt! Schon wieder soll ich Blut aufs Papier vergießen!" Mephisto/Süganow: "Ohne Blut geht's nicht! Das weißt du selber!" Zahlreiche wörtliche/modifIzierte Zitierungen (z.B. ,,Das also war des Pudels Kern!": ,,Einen Pakt schließen"/,,Da ließe sich ein Pakt schließen ... ". "Wer bist du, Kläffer?/,,Nun gut, wer bist du denn?" usw.) machen die hypertextuellen Bezüge besonders deutlich. Auf eine weitere Analyse des "Kukly"-Textes muß ich leider aus Platzmangel verzichten.
5. Schlußbemerkung Daran, welche Prä- und Referenztexte die Struktur des öffentlichen Mediendiskurses prägen, welche handelnden Personen dabei in den Fokus genommen werden und welche kommunikativen Effekte damit erzielt werden, kann man die Chronologie des Mediendiskurses verfolgen. In dieser Chronologie kommen die Veränderungen in der kognitiven und sprachlichen Bewältigung der Umwelt zum Ausdruck.
6. Verzeichnis der zitierten Literatur Fix, Ulla (1990): Der Wandel der Muster - der Wandel im Umgang mit den Mustern: Kommunikationskultur im institutionellen Sprachgebrauch der DDR am Beispiel von Losungen, in: Deutsche Sprache, H.4, 332-347 Garz,Detlev/Kraimer, Klaus (1994): Die Welt als Text. Zum Problem einer hermeneutisch rekonstruktiven Sozialwissenschaft,in: Dies. (Hg.): Die Welt als Text: Theorie, Kritik und Praxis der objektiven Hermeneutik, Fr ankfurt/Main, 7-22
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N atalia Troschina
Genette, Gerard (~982): Palimpsestes. La litterature au second degre, Paris Kagan, M.S. (1996): Filosofija kultury, St.-Peterburg Kakorina, E.V. (1996): Stilisticeskij oblik oppozionnoj preSsy, in: Zemskaja E.A. (Hg.): Russkij jazyk konca XX stoletija (1985-1995), Moskva, 409-426 Karasik, V.I. (1994): Jazykovaja lienost' i dominanty kultury in:Jasyykovaja licnost' i semantika. Tezicy dokl. naue. Konf. 28-30.09.1994, Volgograd, 52-53 Michalskaja, A.K. (1996): Lekcii po sravnitelno-istoriceskoj ritorike, Moskva Pfand!, Heinrich (1993): Textbeziehungen im dichterischen Werk Vladimir Vysockijs, München (=Specimina philologiae slavicae, Supplementbd. 34) Pfister, Manfred (1985): Konzepte der Intertextualität, in: Broich, UlrichlPfister, Manfred (Hg.): lntertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, Tübingen (=Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft, Bd. 35),26-30 Troschina, Natalia (1994): Stilisticeskaja norma i jazykovaja lienost' :, in : Jazykovaja licnost' i semantika. Tezisy dokl. naue. konf. 28.-30.09.1994, Volgograd, 117 Troschina, Natalia (1995): Kommunikativer Kontext und stilistische Frames. In: Wodak, RuthlKirsch, Fritz-Peter (Hg.): Totalitäre Sprache - Langue deS bois Language ofDictatorship, Wien, 93-104 Troschina, Natalia (1995a): Soziokultureller Raum und kommunikative Kompetenz der Sprachteilnehmer, in: Kommunikationsgesellschaft, Thesen zur 26. Jahrestagung der GAL, 28.-30.09.1995, Kassel, 176 Wodak, Ruth (Hg.)(1990): Wir sind alle unschuldige Täter. Diskurshistorische Studien zum Nachkriegsantisemitismus, FrankfurUMain
Teil 3: Textbeziehungen in sachbezogenen Texten
Udo Ohm (Kassel)
Abduktionslogik und Textkomposition - Vom Nutzen der Intertextualitätsvorstellung für die Historische Semantik 1. Ansatz 2. Sprachtheoretische Grundlage 3. Der Forschungsprozeß als Akt der Fabelkomposition 4. Stufen des Forschungsprozesses 5. Zur Konstitution intertextueller Relationen 6. Beispiel 7. Verzeichnis der zitierten Literatur
1. Ansatz Mit dem vorliegenden Beitrag möchte ich das ,,Phänomen" Intertextualität vom Standpunkt des Handelnden im Forschungsprozeß aus betrachten. Das bedeutet, daß ich weder eine autororientierte noch eine rezeptionsorientierte Perspektive auf intertextuelle Relationen einnehme. Ich werde auch nicht zwischen beiden zu vermitteln versuchen. Meine Perspektive ist die eines Lesers, der Texte über Texte schreibt und darum zugleich Autor ist. Im Zentrum der Überlegungen steht damit nicht "das Werk", sondern der Akt der Textkomposition. Für den Wissenschaftler des hier angesprochenen Fachgebiets der Historischen Semantik erhebt sich aus dieser Perspektive die Frage nach dem Nutzen der Intertextualitätsvorstellung für seine Arbeit. Die Frage wendet sich gegen die Vorstellung, bei dem, was gemeinhin als intertextuelle Relation bezeichnet wird, handele es sich um ein bloßes Faktum, das seiner Entdeckung harre. Der Historische Semantiker wird demgegenüber die Auffassung vertreten, daß intertextuelle Relationen zweck gerichtet konstituiert werden, daß sie eine Funktion haben. Sie erfüllen ihre Funktion im Rahmen einer Methode, die der Wissenschaftler vor einem spezifISchen erkenntnis- und sprachtheoretischen Hintergrund anwendet.
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2. Sprachtheoretische Grundlagen In seiner Arbeit zur Grundlegung einer Historischen Semantik stellt Busse gleich zu Anfang folgende wichtige Forderung: ,,Die Veränderlichkeit der Sprache ist genuiner Bestandteil ihres Funktionierens und muß mit diesem zusammen, in einer Theorie, erklärt werden." (Busse 1987, 22) Demgegenüber pflegen die gängigen Vorstellungen von Sprache der Theorie ihres Funktionierens eine Erklärung des ,,Problems" Veränderlichkeit - sofern es überhaupt thematisiert wird - nachträglich hinzuzufügen. Das erweckt den Eindruck, als gebe es erstens Sprache, und zweitens verändere sie sich. Die Integration des Phänomens Veränderlichkeit in eine kohärente Theorie von Sprache bleibt damit ungelöst und führt zu den von Busse an verschiedenen Semantikkonzepten beschriebenen Aporien (v. a. Busse 1992). Zudem kritisiert Busse, daß "sich Linguisten heutzutage, nachdem sie das Textverstehen endlich als Thema der Sprachwissenschaft entdeckt haben, vornehmlich der Anleihen bei Psychologen bedienen" (Busse 1992, 131). Die algorithmischen Modelle der Psycholinguistik für das Textverstehen würden favorisiert. Dies entspräche der Ausrichtung "der ,Cognitive Science' an der algorithmischen Funktionsweise der digitalen Rechenmaschine" (Busse 1992, 127). Mit Wittgenstein kritisiert er "das Mißverständnis des Verstehens als einer Art Algorithmus" (Busse 1992, 126): ,,Nicht nur die fragwürdige Übertragung mechanistischer Modelle (... ) auf menschliche Denkprozesse wird hier kritisiert, sondern auch die unreflektierte Gleichsetzung von speziftsch symbolischen Phänomenen mit psychischen Prozessen." Dagegen besteht Busse auf einem "eigenen theoretischen Zugriffes), einer eigenen Begrifflichkeit, einer eigenen ,Grammatik'" für die Deutung sprachlicher Phänomene (Busse 1992, 128), also auch auf "einer spezifISch sprachwissenschaftlichen Theorie des Textverstehens bzw. der Textrezeption", von der z. Zt. keine Rede sein könne (Busse 1992, 131). Aus Busses Ansatz ergeben sich m. E. drei grundlegende sprachtheoretische Annahmen für eine Theorie der Historischen Semantik: 1. Bei dem, was wir mit Bedeutung bezeichnen, handelt es sich nicht um eine unabhängig von Sprache existierende geistige Entität (Begriff, Konzept etc.). Bedeutungen sind Beschreibungen des Gebrauchs sprachlicher Mittel. Es handelt sich bei ihnen daher um rein sprachliche Phänomene, die auf der Selbstreflexivität von Sprache beruhen. Bereits Wittgenstein hatte die Frage nach der Bedeutung eines Wortes nicht direkt zu beantworten versucht, sondern auf die ,,Erklärung der Bedeutung" verwiesen. Im hier diskutierten Zusammenhang sind zwei Aspekte bemerkenswert. Zum einen bewahre dieses Vorgehen vor der Gefahr der Verdinglichung von Bedeutung. Im ,Blauen
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Buch' heißt es dazu: ,,Das Studium der Grammatik des Ausdrucks ,Erklärung der Bedeutung' wird (... ) dich von der Versuchung heilen, dich nach einem Gegenstand umzusehen, den du Bedeutung nennen kannst." (Wittgenstein 1984, 15) Es stellt zum anderen heraus, daß wir nur mit Sprache über Bedeutung reden können. Diese letztlich tautologische Feststellung (womit, wenn nicht mit Sprache, sollten wir über etwas reden) zeigt, daß der einzig mögliche Bezug von Sprache auf Sprache der selbstreflexive ist. Bedeutung von Sprache ist daher weder'konstant, noch wandelt sie sich. Sie erscheint in der Rede über Sprache. Bedeutung von Sprache ist ein Phänomen der Reflexion über Sprache. Wer von Bedeutung spricht, interpretiert bereits. 2. Sprache kann "we~er auf den Pol des ,Objektiven' noch auf den Pol des ,Subjektiven' reduziert werden". Sprache ist intersubjektiv. ,,sie ist (in vollem Sinne) eine ,gesellschaftliche Tatsache' (Saussure)". Folglich ist auch ein Text "eine überindividuelle Größe; ein Text steht immer schon in funktionalen Bezügen, in Handlungsgefügen, in Sprachspielen, d.h. in einer gesellschaftlichen Praxis". (Busse 1992, 182) 3. Für eine Theorie der Textrezeption sind Textverstehen und Textinterpretation deutlich voneinander abzugrenzen. Textverstehen ist kein gewolltes Handeln des Lesers, sondern etwas, was jenem passiert, wenn er die Sprache beherrscht. Verstehen stellt sich ein. Es beruht auf der vorgängigen Intersubjektivität von Sprache. Textinterpretation dagegen ist ein Deuten, ein (sprachliches) Handeln, das einen Text hervorbringt, der ,,nur ein zusätzlicher Text in einer Reihe mit dem Ursprungstext" ist (Busse 1992, 190). Sie geht letztlich aber über das bloße Deuten eines Textes (um diesen besser zu verstehen) hinaus. Sie wird zur ,,Arbeit mit Texten", wenn sie bestimmten Zielen dient. Der Wissenschaftler will mit seinem Text über den Ursprungstext im wissenschaftlichen Diskurs überzeugen. Über das "Verständlich-Machen" durch Interpretation hinaus geht es hier um Festlegung von Textbedeutungen und die Frage der "Textgeltung" in bestimmten "gesellschaftlichen Handlungs bereichen". Was sich nun abzeichnet sind, Umrisse eines kreativen ProzessesI. Wer mit Texten arbeitet, sie interpretiert und über sie schreibt, schafft etwas Neues und will dieses Neue zur Geltung bringen. Er tut dies sprachlich, d. h., sein Text über Texte steht immer schon in überindividuellen Handlungsbezügen. Zwischen dem Untersuchungstext bzw. -korpus und dem Text über diese Texte oszilliert ein komplexes Handeln, das ich, in Anlehnung an Ricreur, als Akt einer Fabelkomposition beschreiben möchte.
I
V gl. hierzu den Ansatz von Rohr 1993, auf den ich unter Punkt 4 zurückkomme.
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3. Der Forschungsprozeß als Akt der Fabelkomposition Präfiguration Es gibt keinen Grund zur Annahme, daß das Vorverständnis des Wissenschaftlers über sein Handeln im Arbeitszusammenhang weniger hetero gen, weniger undurchsichtig und weniger unreflektiert ist als das von Nicht-Wissenschaftlern im Alltag. Ähnlich äußert sich Busse in seinen Überlegungen "Zum Status historisch-semantischer Erkenntnis". Er schreibt dort, daß es voraussetzungsfreie Erkenntnis nicht gibt, weil schon in der sprachlichen Aneignung der Wirklichkeit Vorprägungen unweigerlich wirksam werden. Die "reinen Fakten" des Empirikers sind deshalb nichts anderes als ein frommer Selbstbetrug. Wie eine theoriefreie Forschung nicht zu denken ist, so besteht auch kein theoretisches Modell ohne den Einfluß der praktischen Erfahrung. Bei seiner Formulierung hat eine tiefgreifende Kenntnis des bezogenen Phänomenbereichs immer schon stattgefunden. (Busse 1987, 297) Nach Busses Ansicht ist historische Semantik daher "selber Interpretation": Historische Semantik, auch wenn man ihre Bedingungen (... ) konkretisiert hat, und so ein reflektierbares Instrumentarium von Kriterien gewonnen hat, ist Interpretation, und als solche vom expliziten und impliziten Vorwissen und Vor-Meinen der Interpreten nicht zu lösen. (Busse 1987, 296) Wenn es stimmt, daß schon die Konstitution des Forschungsgegenstandes und die Ausgrenzung des jeweiligen Untersuchungs objektes "unter der Prämisse einer interpretatorischen Leitidee" geschehen (Busse 1987, 298), muß diese Prämisse um so mehr reguliert und regulierend in den Arbeitszusammenhang einbezo gen werden. Gleiches gilt für die Prämissen hinsichtlich der Konstitution der Zielsetzung und der Entwicklung von Fragestellungen und Untersuchungsraster, der Konstitution der Methode und deren Umsetzung in Verfahren, um nur das Offensichtlichste zu nennen. Bei der Gesamtheit der in den Arbeitszusammenhang eingehenden Prämissen handelt es sich um das im ursprünglichen Wortsinn Vorausgeschickte, das im Fortgang der Forschungsarbeit eingeholt werden muß. Anders ausgedrückt: Der Wissenschaftler nimmt an, er habe eine sinnvolle Zielsetzung, eine angemessene Methode und einen brauchbaren Gegenstand. Diese Annahmen gehen im folgenden u. a. in die Entwicklung von Fragestellungen, die Festlegung anzuwendender Verfahren, die Ausgrenzung von Untersuchungsobjekten ein. Das alles sind Handlungen, die auf Vorwissen beruhen. Letztlich wirkt das gesamte Vorausgeschickte über eine Folge von Handlungen in jenen einzelnen Handlungen, die dazu führen, Zeichenfolgen als sprachliche Ereignisse aus dem Gegenstand herauszulösen und zu Vorkommnissen zu
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erklären. Scheinbar gefundene Fakten sind bereits handelnd hervorgebrachte Ergebnisse. Der Forschungsprozeß ist ein kreativer Akt. Wie läßt sich das Vorverständnis des Handelns im wissenschaftlichen Arbeitszusammenhang beschreiben und in das Konzept einer Historischen Semantik integrieren? In Anlehnung an Ricreur spreche ich von einer Präfiguration (Ricreur 1988, 88) der wissenschaftlichen Tätigkeit. Eine Einteilung in strukturelle, symbolische und zeitliche Merkmale läßt sich in etwa folgendermaßen umreißen: - Die strukturellen Merkmale - Ricreur spricht auch von einer Semantik sind Grundlage eines "praktischen Vers tehens ". Der Wissenschaftler ist immer schon in einer gewissen Weise mit den Handlungen seines Arbeitszusammenhangs vertraut. Er weiß um deren Verweisung auf Ziele, Motive, Rolle der handelnden Subjekte, Umstände, Interaktion mit anderen. Er verfügt über die Kompetenz, die Ricreur das praktische Verstehen nennt. Der Wissenschaftler ist über die symbolische Vermittlung des Handelns den spezifischen Normen und Interpretationsregeln seines Arbeitszusammenhangs unterworfen. Wissenschaftlich Handeln heißt auch, sich in ein Verhältnis zur normativen Wertskala des Wissenschaftsbetriebs im allgemeinen und des eigenen Fachgebiets im besonderen zu setzen. Denn die "Weitstufen, die zunächst den Handlungen zugeschrieben werden, können auf die Handelnden selbst ausgedehnt werden" (Ricreur 1988, 96). - Der Wissenschaftler ist zusätzlich verstrickt in die Geschichten und Episoden, die ihm durch seine Tätigkeit widerfahren sind bzw. widerfahren. Vor allem aber ist der Arbeitszusammenhang, in dem er sich gerade befmdet, in der Perspektive der Zeitlichkeit eine Folge von Ereignissen und Episoden und aufs Ganze gesehen selbst eine ,,(noch) nicht erzählte Geschichte". Eill Vorverständnis von einer Handlung haben heißt demzufolge "sogar in der Handlung Zeitstrukturen, die zum Erzählen herausfordern" zu erkennen. Hier scheint mir die immanente Dynamik der Explikation angelegt: Es handelt sich nicht allein um die Veröffentlichung einer wissenschaftlichen Arbeit, sondern um den Prozeß "des Bekanntwerdens der Geschichte" der Forschungsarbeit (vgl. Ricreur 1988, 119). Konfiguration
Analytisch gesehen ist der Forschungsprozeß die Gesamtheit der einzelnen wissenschaftlichen Tätigkeiten, die zwischen dem ersten methodisch motivierten Hervortreten des Gegenstandes und dem Terminieren des Prozesses in der Endfassung des wissenschaftlichen Textes über den Gegenstand oszil-
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lieren. Ästhetisch gesehen handelt es sich um einen ganzheitlichen kreativen Akt. Mit Ricreur bezeichne ich diesen Akt als eine Konfigurationstätigkeit, die in der Konfiguration, die der Text des Wissenschaftlers ist, erst zu sich selbst kommt und darin zugleich aufgehoben wird. Die Konfiguration ist "das Reich des Als Ob"2. Der Forschungsprozeß eröffnet einen "Fiktionsraum", in dem die hervorgebrachten Ergebnisse ihre Bedeutung im Hinblick auf die Gesamtkomposition erhalten. Ein sprachliches Ereignis ist als beschriebenes Vorkommnis nicht mehr nur ein Einzelfall, sondern wird durch seinen Beitrag zur Entwicklung des wissenschaftlichen Textes defmiert. Umgekehrt aber muß die Geschichte, die ein wissenschaftlicher Text erzählt, ,,mehr sein als eine Aufzählung von Ereignissen in einer Reihenfolge; sie muß sie zu einer intelligiblen Totalität gestalten, so daß man immer die Frage stellen kann, welches das ,Thema' der Geschichte ist" (Ricreur 1988, 106). Desweiteren vereinigt der wissenschaftliche Text so heterogene Faktoren wie Motive, Handelnde, Umstände, Ziele, unerwartete Resultate etc. Diese in der präfigurativen Ordnung ursprünglich paradigmatisch angeordneten Faktoren der Sinnstruktur des Vorverständnisses werden im Konfigurationsakt syntagmatisch konfiguriert. Nicht zuletzt vermittelt der wissenschaftliche Text seine eigenen Zeitmerkmale. Der wissenschaftliche Text als Konfiguration kann daher als eine ,,synthesis des Heterogenen" (vgl. Ricreur 1988, 104ff.) bezeichnet werden. Grundlage der Kompositions- bzw. Konfigurationstätigkeit ist der "Urteils akt des ,Zusammennehmens'" (Ricreur 1988, 70), durch den der Wissenschaftler beständig auf eine präfigurative Ordnung einwirkt, was "ein Hervortreiben des Intelligiblen aus dem Akzidentiellen, des Universellen aus dem Vereinzelten, des Notwendigen oder Wahrscheinlichen aus dem Episodischen" bewirkt (Ricreur 1988,71). Die Hervorbringung des konfigurierenden Aktes selbst vergleicht Ricreur unter ausdrücklicher Berufung auf Kant mit der Arbeit der produktiven Einbildungskraft und erläutert: ,,Darunter muß man ein nicht psychologisierendes, sondern transzendentales Vermögen verstehen. Die produktive Einbildungskraft hat nicht nur keine Regel, sondern bildet die regelgenerierende Matrix." (Ricreur 1988, 109f.) Allerdings kommt sie nicht aus dem Nichts, denn sie folgt einem "Schematismus" und hat "Traditions charakter" .
2
Vaihinger hat mit seiner Philosophie des "Als-Ob" eine Form des Pragmatismus entwickelt. Hiernach kommt jegliche Erkenntis durch hypothetische Fiktion (',Fiktionalismus") zustande. Der Wahrheitsgehalt der Erkenntnis bemißt sich allein an ihrem praktischen Wert. Weiter unten werde ich unter Rückgriff auf den amerikanischen Pragmatismus ähnliche erkenntnistheoretische Überlegungen anstellen.
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Refiguration Der Leser des wissenschaftlichen Textes nimmt durch den Akt des Lesens den Konfigurationsakt wieder auf und vollendet ihn. Nur weil er ebenfalls über ein Vorverständnis des Handelns verfügt, dem in ähnlicher Weise strukturelle, symbolische und zeitliche Merkmale zugeordnet werden können, ist es ihm mö glich, den Text deutend nachzuvollziehen. ,,Das narrative Inder-WeIt-sein" von Autor und Leser ,,ist bereits durch die diesem Vorverständnis entsprechende Sprachpraxis geprägt" (Ricreur 1988, 128). Für den Leser bringt der wissenschaftliche Text daher vor allem eine ,,Bereicherung der vorgängigen Lesbarkeit" der Welt des Handelns, im engeren Sinn auch der Welt des wissenschaftlichen Handelns, im vorliegenden Fall des Neudeutens von Texten. Semantische Innovation, Intersubjektivität und das Problem der Textgeltung sind im vorliegenden Konzept keine von außen herangetragenen Kategorien, sondern Konstituenten der gestaltenden Tätigkeit des Wissenschaftlers im Forschungsprozeß. Daß sich dies auch an den einzelnen Aktivitäten oder Schritten bemerkbar macht, soll nun mit einer stärker analytischen Beschreibung gezeigt werden. 4. Stufen des Forschungsprozesses Von Peirce übernehme ich die Gleichsetzung der unterschiedlichen Stufen des Forschungsprozesses mit den Schlußweisen Abduktion, Deduktion und Induktion3 . Das Bild von den Stufen besagt, daß es sich um unterscheidbare, aber aufeinander aufbauende Aktivitäten handelt. Über diese Stufen führt der einzige Weg vom sinnlich-kreativen, sich entziehenden Moment des Forschungsprozesses zur reflektierten und intersubjektiv gefestigten Überzeugung. Der Forschungsprozeß besteht aus einer nicht vorhersehbaren und im. nachhinein nicht rekonstruierbaren Menge von Auf- und Abstiegen, die einander bedingen, ausschließen, widersprechen, aufheben, stützen, in Frage stellen etc. In ihrer Gesamtheit machen sie die Konfigurationstätigkeit aus, die in einem wissenschaftlichen Text ihren Abschluß findet.
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Dieser Auffassung hat sich Peirce nach Rohr (vgl. 1993, S. 86) bes. in seiner "erkenntnistheoretischen Phase" (nach 1900) zugewendet.
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a) Abduktion ("s.ensuos element") Am Anfang eines Experiments, einer Analyse, eines 'Forschungsprozesses steht eine Frage, eine Überzeugung, vielleicht auch bloß der Wunsch, etwas möge sich so oder so zusammenfügen. Vielleicht ist es der unerwartete, überraschende, widerständige Gebrauch sprachlicher Mittel, der uns dazu bringt Fragen zu stellen, der Ablehnung in uns hervorruft oder uns anzieht. Die Überraschung ("surprise" - Peirce u. a. CP 5.51) angesichts eines bestimmten Textvorkommnisses oder einer Menge von Textvorkommnissen löst ein ,,kompliziertes Fühlen" ("complicated feeling" - Peirce, CP 2.643) aus, das nach einer Richtung sucht. ,,Abduction seeks a theory" (Peirce, CP 7.218). Die Wahrnehmung eines Textvorkommnisses als eine bis zu einem gewissen Grad eigenständige Entität ist bereits ein interpretierender Akt. Wir beginnen uns etwas zurechtzulegen. Die Wahrnehmung von Textvorkommnissen ist in dieser Situation einerseits einem freien, assoziativen Verstehen zugänglich, zugleich aber auch der Kontrolle durch unser Vorwissen unterworfen (vgl. Rohr 1993, 106f.). Rohr spricht davon, daß die abduktive (kreative) Geistesverfassung zwischen beiden Polen oszilliert. Diese kreative Vermitt1ung zwischen freier Assoziation und präfigurativer Ordnung ist der Ausgangspunkt für die Formulierung (produktiver) Hypothesen. Abduktion ist also ,,hypothesengenerierend" (Rohr 1993, 92). Der Wissenschaftler prüft eine nicht näher quantifizierbare Menge Fakten und gestattet diesen, ihm eine Theorie zu liefern, die aus einer Reihe von Hypothesen besteht4 . Durch diese wird festgelegt, was in Folge zu erklären .ist und auf welchen Bereich die Erklärung angewendet werden soll. Die Abduktion ist somit
- das auslösende Moment eines Verstehens- bzw. Erkenntnisprozesses, dessen kreatives Moment, weil durch sie allein neue Aussagen generiert werden können, - das unsicherste Moment des gesamten Prozesses, da sie kaum zu kontrollieren ist und sich nicht selten in der menschlichen Fähigkeit richtig zu raten oder produktiv zu träumen erschöpft. b) Deduktion ("volitional element") Der Wissenschaftler kann sich nicht mit einer vagen Vorstellung davon, wie sich etwas fügen könnte, zufrieden geben. Die Möglichkeit einer Theorie ist für ihn der Ausgangspunkt für den Nachweis der Notwendigkeit der Theorie.
4
V gl. den unsignierten Brief von Peirce an Calderoni (Peirce, CP 8.209).
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Genau das ist das Geschäft der Deduktion, der notwendigen Schlußfolgerung. Wurde mit Hilfe der Abduktion lediglich festgestellt, daß eine Theorie möglich ist und welchen Prämissen sie folgen könnte, so stellt die Deduktion fest, welche Konsequenzen sich aus der Theorie für unsere Erfahrung ergeben werden, wenn wir bestimmte Handlungen ausführen (vgl. Peirce, CP, 7.115, Fn 27 5). Legte die Abduktion fest~ was erklärt werden soll, so legt die Deduktion fest, was zur VerifIzierung bzw. FalsifIzierung der Hypothesen gefunden werden muß. Die Deduktion bezieht sich daher auf ideale Objekte. Sie lenkt den Fokus der Aufmerksamkeit, den willentlichen Zugang zum Untersuchungsgegenstand. 6 Der Aufmerksamkeitsfokus ist methodisch vor allem abhängig von der Wahl der Verfahren (allgemein: semasiologisch, onomasiologisch) und der Eingrenzung des Untersuchungsbereichs (z.B.: Textsorten, Schaffensperioden, Themen). Mit Hilfe der Deduktion wird eine Art Versuchsaufbau geschaffen. c) Induktion ("habitual element") Für Peirce ist die Induktion das logische Äquivalent zur experimentellen Untersuchung. Um aussagekräftige Daten zu erhalten, hält der Wissenschaftler einzelne Parameter für die Dauer des Experiments stabil, d.h. es kommt ein deduktiv ermittelter Versuchsautbau zur Anwendung. Die Hypothesen bilden in Verbindung mit den gewählten Verfahren ein Netz, in dessen Maschen sich Textvorkommnisse verfangen, durch die sie aber auch hindurchschlüpfen können. Die Maschengröße will gut gewählt sein. Die Induktion führt nur zu Wahrscheinlichkeitsaussagen. Sie ist aber das Schlußverfahren, das "uns die einzige Sicherheit hinsichtlich des Realen" liefert (Peirce, CP 8.209). Peirce sieht in der Induktion die logische Formulierung des physiologischen Prozesses, der zur Bildung eines habit führt 7 . Ein habit ist aus pragmatistischer Sicht eine Tendenz zum Handeln. Die induktive Überprüfung wird im Wissenschaftler die Neigung schwächen oder stärken, die Hypothesen als Regeln des Gebrauchs sprachlicher Mittel zu betrachten. Er wird von den Hypothesen Abstand nehmen und ggf. nach neuen suchen oder seine Interpretation der durch die Regeln beschriebenen Textvorkomm-
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"We infer by Deduction that if the hypothesis be true, any future phenomena must present such and such characters." "As for deduction, which adds nothing to the premises, but only out of the various facts represented in the premisses selects one and brings the attention down to it, this may be considered as the logical formula for paying attention, which is the volitional element of thought" (Peirce, CP 2.643). "The physiological process of formation of ahabit" (Peirce, CP 2.643).
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nisse als wahrscheinlich betrachten und sie in einem Text über den Ursprungstext explizieren. d) Explikation (intersubjektives Element) Die Schlußweisen sind logische Äquivalente zu den Stufen des Forschungsprozesses. Als Ganzheit einer Konfigurationstätigkeit, die einen wissenschaftlichen Text hervorbringt, läßt sich das Handeln des Wissenschaftlers erst durch die Annahme eines ,,intersubjektiven Elements", das ich (in Anlehnung an Busse) Explikation nenne, beschreiben. Die Abduktion stellt mögliche Hypothesen zur Beschreibung von sprachlichen Phänomenen in einem Korpus auf. Die Deduktion ermittelt die notwendigen Konsequenzen, die sich aus solchen Hypothesen ergeben. Die Induktion prüft, ob die Hypothesen wahrscheinlich sind und ermöglicht intersubjektive Kontrolle (vgl. Rohr 1993,97). Aber erst mit der Explikation der Ergebnisse der Untersuchung in einem wissenschaftlichen Text erhebt der Wissenschaftler Anspruch auf deren intersubjektive Gültigkeit, d. h. Plausibilität. Explikation wäre falsch verstanden, wenn man sie mit einem bloßen Dokumentieren der Forschungsergebnisse nach Abschluß der Korpusanalysen gleichsetzen würde. Die ,,Festigung einer Überzeugung" ist dadurch, daß sie als Tendenz zum Handeln nach außen gerichtet ist, notwendig intersubjektiv. Im pragmatistischen Diskussionszusammenhang bietet Meads Terminus des "generalized other" (vgl. v. a. Mead 1934) hierfür ein passendes Beschreibungsmodell: Indem der Wissenschaftler seine Ergebnisse im Sinne der Semantik, der normativen Wertskala und nicht zuletzt der Geschichten seines Arbeitszusammenhangs expliziert, erzeugt er in sich die Haltungen (habits im Sinne von Tendenzen zum Handeln), die mögliche Leser seinem Text und ihm gegenüber einnehmen würden. Das Verfassen des Textes ist durch dieses Vorlaufen in die Rezeption immer schon intersubjektiv. 5. Zur Konstitution intertextueller Relationen Die Konstitution intertextueller Relationen beschreibe ich beispielhaft für drei Relationstypen: (1) korpusintern, (2) zwischen Korpus und wissenschaftlichem Text, (3) zwischen wissenschaftlichem Text und sekundären Texten. (1) Textvorkommnisse werden auf ihre Ähnlichkeit hin befragt. Die Ähnlichkeit wird nicht einfach gefunden, so als wäre sie immer schon vorhanden. Sie wird vom Wissenschaftler ent-deckt (Mhd. jemandem etwas entdecken = ,,mitteilen"), aufgedeckt, d. h. sie wird in der Interaktion mit dem Text hervorgebracht. Die Ähnlichkeit bringt nach Ricreur Identität und Differenz in
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Gegensatz und vereint sie zugleich miteinander: "das Selbe im Verschiedenen sehen ist das sehen des Ähnlichen" (Ricreur 1986, 186). Das "Entdecken" von Ähnlichkeit ist ein innovatives Wirken, eine Interpretation der Textvorkommnisse. Intertextuelle Relationen ergeben sich aus der probeweisen Fixierung von Sinnbezügen zwischen Textvorkommnissen. Zur Verdeutlichung stelle man sich einen großen Tisch vor, auf dem die exzerpierten Textvorkommnisse ausgebreitet wurden. Die Vorkommnisse können sortiert, gruppiert, klassifiziert ggf. auch aussortiert werden. Das alles sind Handlungen, die das Ausloten von Identität und Differenz zwischen den Vorkommnissen unterstützen. Bei großen Korpora muß die Arbeit ggf. EDV-gestützt durchgeführt werdenS. (2) Mit der Beschreibung bezieht sich der Wissenschaftler kontinuierlich auf seinen Untersuchungs gegenstand, das Korpus. Die sich dadurch konstituierenden intertextuellen Relationen vermitteln erstens die zuvor besprochenen korpusinternen Relationen und bringen zweitens deren Interpretation, d.h. die Beschreibung der Bedeutung dieser Relationen, hervor. Der Wissenschaftler als Autor konsdtuiert Sinnbeziehungen zwischen Texten oder Textobjekten. Es handelt sich dabei um sprachliche Ereignisse, die zum Konfigurationsakt einer größeren sprachlichen Einheit (z.B. eines Textes) beitragen. Diese Ereignisse sind nicht wiedereinholbar. Sie können jedoch in einem weiteren Text neu beschriebenen werden. (3) Der Wissenschaftler spielt sekundäre Texte zur Stützung der Argumentation in seinen Text hinein. Er tut dies zur Rechtfertigung seines Ansatzes, seiner Methode, des gewählten Gegenstandes, der Zielsetzung. Er untermauert seine Ergebnisse, seine Textinterpretationen. Er grenzt sich gegen andere Arbeiten ab oder schließt sich ihnen an. Die intertextuellen Bezüge dienen der argumentativen Absicherung, der Zuordnung zu einer Richtung oder Schule, als Beleg für Kompetenz und Belesenheit. Indem der Wissenschaftler solche intertextuellen Relationen konstituiert, stellt er seinen Text und implizit sich und seine Arbeit in einen Kontext. Die intertextuellen Relationen erfüllen auf dieser Ebene häufig pragmatische
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Eine Software, welche die Handlungen, die der Wissenschaftler im Rahmen seiner Konfigurationstätigkeit am Text vollzieht, unterstützt, muß erst noch entwickelt werden. Natürlich könnte sie auch die üblichen Verfahren (automatisches Suchen, Sortieren, Exzerpieren etc.) zur Verfügung stellen. Viel wichtiger wäre jedoch, daß sie das jeweilige Handeln des Wissenschaftlers, das sich erst am Gegenstand entwickelt und jederzeit verändern kann, stützt, ohne es sogleich zu bestimmen. Das Konzept für eine solche Software müßte daher auf der Grundlage von Beobachtungen dieses HandeIns entwickelt werden.
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Funktionen. Sie erhalten ihren Sinn im Hinblick auf die Semantik, die normative Wertskala und die Zeitlichkeit der präfigurative1:1 Ordnung, die der Textkomposition zugrundeliegt. Fazit: Sinnhafte Beziehungen erhalten Bedeutung durch ihre Einbettung in eine Textkomposition, zu der sie selbst beitragen. Das ,,Auffmden" intertextueller Relationen ist daher weniger rezeptiv als vielmehr konfigurativ. In der Diktion der Peirceschen Zeichentheorie handelt es sich um den Bezug eines ersten auf ein zweites vermittelt durch ein drittes, d. i. die Beschreibung der intertextuellen Relationen. Erst durch die Beschreibung werden Regel-, Gesetzmäßigkeit und Begründbarkeit der Relationen, d. h. Merkmale, die dem Seinsmodus der Thirdness zukommen, eingeführt. 9 Ohne das Dritte, die Beschreibung, den Text, kann man - im Sinne des Seinsmodus der Secondness - allenfalls vom Bewußtsein einer Relativität zwischen Textobjekten sprechen. Hier ist der Ansatzpunkt für die Abduktionslogik, die, indem sie die Möglichkeit einer Regel für die Bildung von Hypothesen annimmt, das Tor zur Thirdness aufstößt. Eine intertextuelle Relation als nacktes Faktum ist nicht beschreibbar. Unser unmittelbares Bewußtsein einer "dyadischen Relativität" (Peirce) zwischen Textobjekten entzieht sich uns in der Reflexion. Wenn wir beschreiben, dann haben wir bereits interpretiert. Ein Konzept von Intertextualität müßte m. E. die jeweilige Determiniertheit intertextueller Relationen durch einen Akt der Konfiguration bedenken. Anders ausgedrückt: Ich plädiere dafür, Intertextualität eher als Instrument kreativer Neuschöpfung zu begreifen denn als ein der Deutung von Texten vorgängiges Beziehungsgeflecht. In diesem Sinn lese ich das folgende Zitat von Stierle: Prinzipiell ist jedes Werk mit jedem korrelierbar. In jedem Fall ist das Ergebnis solcher Korrelation ein Bewußtsein konkreter Differenz, das die pure Faktizität des je einzelnen Werks aufhebt und perspektiviert. Jede Korrelation solcher Art ist ein vom Interpreten in Gang gesetztes Experiment, das das Bewußtsein des Werks steigert. Die konkrete Differenz der experimentierend gesetzten intertextuellen Relation schafft ein Reflexions medium, in dem das Werk als dieses zu gesteigertem Bewußtsein kommen, sein Eigenes freigeben kann. Experimente solcher Art sind geeignet, Stereotypen der Wahrnehmung aufzubrechen und das Werk in ungewohnte Beleuchtungen zu stellen. (Stierle 1983, 10)
Ein praktisches Beispiel für die anglistische Literaturwissenschaft liefert Rohmann mit seinem Vorschlag: "die Geschichte des Englischen Romans
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"The third is that wh ich is what it is owing to things between which it mediates and which it brings into relation to eacb other." (Peirce, CP 1.356)
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umschreiben zu einem Bezugssystem seiner Intertextualität". Er stellt ,,Intertextualität als Prinzip des kreativen Schreibens und Lesens" an Fallstudien zur "Gattungs-Intertextualität", "Archäologischen Intertextualität" und "Schöpferischen Intertextualität" dar (Rohmann 1991, 180). 6. Beispiel
Das folgende Beispiel wurde einer Untersuchung entnommen, die Verständnis und Funktion von "experience" in den Arbeiten 1. Deweys aufzudecken versucht 10 • In Übereinstimmung mit den erkenntnistheoretischen und methodischen Vorüberlegungen habe ich mich bemüht, keine Ergebnisse im Sinne bloßer Fakten zu referieren, sondern eine Art Momentaufnahme des Erkenntnisgangs zu liefern. Man kann von einer Episode sprechen, die der Möglichkeit nach einmal zur "ganzen Geschichte" beitragen könnte. Sie ist bereits eine Synthese hetero gener Faktoren, denn sie vermittelt meine Ziele, Motive, meine Rolle als Wissenschaftler des Fachgebiets Historische Semantik, die Umstände meiner Tätigkeit, meine Interaktionen mit anderen (unmittelbar mündlich oder mittelbar über Texte), die normativen Vorgaben meiner Fachdisziplin und die Ereignisse die mir zugestoßen sind, insbesondere im Rahmen meiner Forschungsarbeit, als ,,noch nicht erzählte Geschichten" miteinander". Die Episode selbst ist bereits eine Konfiguration. Desweiteren ist sie ein Beispiel für einen induktiv gesicherten Untersuchungsschritt, für die ,,Festigung einer Überzeugung" im Sinne einer Tendenz, "experience" bei Dewey im weiteren Handlungsvollzug in der dargestellten Weise deuten zu wollen. Diese Überzeugung muß aufgegeben oder modiftziert werden, wenn sie sich im Rahmen der Gesamtuntersuchung nicht bewährt. Zur Sicherung des Formenbestandes wurden zunächst alle Vorkommnisse des Lexems "experience" registriert. Beim vorliegenden Beispiel werden nur Formen des Substantivs behandelt. Die Registrierung ergibt folgenden groben Befund: Das Substantiv wird im Singular und im Plural verwendet. Es tritt als Kopf einer Nominalphrase in determinierten, prämodiftzierten und 10
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Die Werkausgabe des Center for Dewey Studies in Carbondale (111.) (Dewey 1969ff., 1976ff., 1981ff.) bildet die Textgrundlage für die Korpusanalysen. Das Beispiel bezieht sich auf einen Erkenntnisschritt im Rahmen der Untersuchung des Formenbestandes von "experience" (sb.) in der Arbeit ,,Experience and Nature" (The Later Works, Vol. 1, 1925). Die- Seitenangaben zu den Vorkommnissen beziehen sich auf diesen Band der Werkausgabe. Die Untersuchung ist Teil meines Promotion svorhaben s. Ergebnisse und Methode sowie der sprach- und erkenntnistheoretische Hintergrund werden im Rahmen der Dissertation (Ohm 1997) veröffentlicht.
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postmodiflzierteD- Formen auf. Zudem wird es in beträchtlichem Umfang selbst als Element postmodifizierender Phrasen und Neb,ensätze verwendet. Bereits diese ersten Feststellungen machen deutlich, daß Methode und Untersuchungs verfahren den Schematisierungen sprachwissenschaftlicher Tradition folgen: der Ansatz ist semasiologisch, die KlassifIZierung folgt anerkannten grammatischen Kriterien 12. Der nächste Schritt ist eine Differenzierung des Formenbestandes in Determination, Prä- und Postmodifikation. Determination: Verwendet werden identifIZierende Artikel und Pronomen (defIniter und indefIniter Artikel, Demonstrativ-, Possessiv- und Interrogativpronomen) und quantifizierende Pronomen. Prämodifikation: Die Reichhaltigkeit des Formenbestandes wird vor allem durch die Vielzahl der prämodifIZierenden Adjektive hervorgerufen. Diese treten häufIg koordiniert und in einigen Fällen modifIZiert durch Adverbien auf. Eine Ausnahme bilden zwei Vorkommnisse mit prämodifIZierendem Genitiv. Postmodifikation: CGEL unterscheidet die Postmodiftkation von Nominalphrasen durch ,fmite clauses', ,nonfmite clauses' und Präpositionalphrasen. Zu den postmodifIZierenden Präpositionalphrasen zählen auch die sog. of-Konstruktionen, die in der Regel mit Genitivkonstruktionen korrespondieren (vgl. CGEL 5.115, 17.3 8ff.). Die semantischen Beziehungen zwischen Nominalphrasen, die durch eine of-Konstruktion verbunden sind, sind nicht selten mehrdeutig und können auch nicht immer durch Hinzuziehung des unmittelbaren Kontextes disambiguiert. werden. Im vorliegenden Fall ist damit zu rechnen, daß unterschiedliche Interpretationen (Paraphrasen) der ofKonstruktionen zu unterschiedlichen Lesarten von "experience" führen werden bzw. unterschiedliche Lesarten voraussetzen. Wegen dieser semantischen Vagheit und der großen Zahl derartiger Vorkommnisse werden die of-Konstruktionen als eigene Gruppe behandelt. Auf der Basis dieses erzeugten (1) Datenmaterials ergibt sich abduktiv u. a. folgende Beobachtung: Werden die postmodifIZierenden of-Konstruktionen in Entsprechung zu Genitivkonstruktionen interpretiert, entsteht bei den Konstruktionen, die keine Objektbeziehung beinhalten, Ambiguität hinsichtlich der Interpretation i. S. eines ,possessive genitive' oder eines ,genitive of origin'. the conunon experience of man (26); the conunon experience of mankind (40); the experience of social intercourse (150); the net experience of the group (165); the experience of one form oflife (213) ..
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Als Grundlage wird verwendet: Quirk [u. a.] 1985 (kurz eGEL).
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In Entsprechung zum ,possessive genitive' ergeben sich folgende Paraphrasen (vgl. CGEL 5.115f): manJmankind has a common experience; the group has a net experience; one form of life has an experience; * socia! intercourse has experience. Die letzte Paraphrase ist nicht akzeptabel. Es geht hier weniger um ein Besitz- als um ein Zugehörigkeitsverhältiris. Folgende Paraphrasierung ist dagegen möglich: socia! intercourse has experience as its basis; aber auch eine Paraphrasierung in Entsprechung zum ,genitive of origin' (vgl. CGEL 5.116): socia! intercourse gives birth to/creates experience. Die entsprechenden Paraphrasen für die anderen Vorkommnisse: manJmankind creates a common experience; the group creates a net experience; one form of life creates an experience. Je nach Paraphrasierung bezeichnen of-Konstruktionen ein Zugehörigkeitsoder ein Herkunftsverhältnis. Ein Blick auf die durch Possessivpronomen determinierten Formen von "experience" stützt die Vermutung, daß es Dewey um ein Zugehörigkeitsverhältnis geht. Sogar das emphatische Possessivpronomen "own" wird verwendet. (sg.): our direct or primary experience (23), our primary experience (37), their experience (39), bis own experience (39f.), our experience (55), their own experience (167), its actual experience (213), its experience (214), our waking experience (300); (p1.): its prior experiences (189). Desweiteren wird mit Hilfe des Fragepronomens "whose" genau die Frage nach einer Zugehörigkeit von "experience" gestellt. Die Frage wird durch doppelte Anführungszeichen hervorgehoben: "Whose experience?" (178). Bei den prämodifIzierenden Formen drücken die Genitivkonstruktionen ein Zugehörigkeitsverhältnis von "experie~ce" zu einem Subjekt aus: A's experience (141), B's experience (141). Bis hierher scheinen die Befunde eindeutig zu sein. Zwischen den zitierten Vorkommnissen wurden Sinnbezüge hergestellt. Man könnte von intertextu-
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ellen (genauer: intratextuellen) Relationen sprechen, die von einer interpretativen Idee gestiftet worden sind. Das Beziehungsgeflec~t ist erweiterbar auf andere Vorkommnisse, weitere Texte, evtl. auch sekundäre Texte, die diese Deutung stützen. Daß aber bereits ein einziges weiteres Vorkommnis Anlaß zu einem abduktiven Schluß geben kann, der die bisherige Deutung des Datenmaterials tiefgreifend verändert und der gleichzeitig den ,,Fiktionsraum" für mögliche Deutungen neu eröffnet, soll nun vorgeführt werden. our primary experience as it comes (37). Angesprochen ist unsere ursprüngliche experience, so wie sie ,,kommt", d. h. ohne daß wir sie uns aussuchen könnten. Mit Hilfe des Vorkommnisses experience as an existence (12); deduziere ich, daß "experience als etwas ins Leben tretendes" zu verstehen ist. Diese Interpretationsidee kann gestützt werden, indem induktiv (über syntaktische und/oder semantische Ähnlichkeit) weitere Vorkommnisse ermittelt werden. Das vorliegende Datenmaterial enthält bereits zwei weitere derartige Vorkommnisse, so daß die beabsichtigte Deutung über eine kohärente Interpretation der in einer Gruppe "zusammengenommenen" Vorkommnisse expliziert werden kann: experience as an existence (12); OUf primary experience as it comes (37); experience as it exists (56); experience when it happens (179). ,,Existence" interpretiere ich mit Peirce (u. a. CP 5.429) (intertextuelle Relation!) als etwas das ex-sistiert (ex-sists) und durch sein Hervortreten auf anderes Existierendes einwirkt, d. h. Teil des Lebens wird. Experience wird demzufolge als etwas betrachtet, das ins Leben tritt (exists). Als solches passiert sie einfach (it happens). Unsere ursprüngliche experience tritt in unser Leben: sie ist da. Sie hat Vorrang, steht an erster Stelle. Wir haben sie nicht, sondern sie kommt· (auf) uns zu. Wir können nicht anders, als unsere ursprüngliche experience so zu nehmen wie sie kommt (as it comes). Durch diese Neudeutung verändern sich die Beziehungen zwischen den Textvorkommnissen. Der Zugehörigkeitsaspekt scheint nur eine mögliche Perspektive auf experience zu sein, die Dewey zu bestimmten Zwecken einnimmt. Die Beziehung von experience zu postmodifIzierenden Nominalphrasen in of-Konstruktionen sollte nicht vorschnell in Entsprechung zu traditionellen Genitivparaphrasen interpretiert werden. Im Vergleich zu anderen postmodifIzierenden Konstruktionen sind die of-Konstruktionen weniger explizit.
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Im Fortgang der Untersuchung verliert die dargestellte Episode ihren akzidentiellen Charakter. Sie ist nicht nur Ausgangspunkt für die folgenden Analysen, sondern wird durch diese selbst wieder gestützt und modifIziert. Sie wird damit zu einem intelligiblen und notwendigen Teil einer umfassenderen Einheit, zuletzt der "ganzen Geschichte" des Forschungsprozesses.
7. Verzeichnis der zitierten Literatur Busse, Dietrich (1987): Historische Semantik. Analyse eines Programms, Stuttgart. Busse, Dietrich (1992): Textinterpretation. Sprachtheoretische Grundlagen einer explikativen Semantik, Opladen. Dewey, John (1969ff./1976ff./1981ff.): The Early Works (1882-1898)/ The Middle Works (1899-1924)1 The Later Works (1925-1952), CarbondalelEdwardsville (111.).
Mead, George Herbert (1934, 1972): Mind, Self, and Society: from the Standpoint of a Social Behaviorist, Morris, Charles. W. (Hg.), ChicagolLondon. Ohm, Udo (1997): Die Bezeichnung experience im Werk John Deweys, Diss. Kassel. Peirce, Charles Sanders (1931-34; 1958): Collected Papers of Charles Sanders Peirce. Hartshorne, CharleslWeiss, Paul (Hg.) Vol. I-VI; Burks, Arthur. W. (Hg.) Vol. VII u. VIII, Cambridge, Mass.lLondon (Sigle: CP). Quirk, Randolph [u. a.] (1985): A Comprehensive Grammar of the English Language, LondonlNew York. Ricceur, Paul (1986, 1991): Die lebendige Metapher (frz. La metaphore vive, 1975), München. Ricceur, Paul (1988): Zeit und Erzählung. Band I: Zeit und historische Erzählung (frz. Temps et recit, tome I, 1983), München. Rohmann, Gerd (1991): "Intertextualität in englischer Gegenwartsprosa", in: Brunkhorst, MartinIRohmann, GerdiSchoell, Konrad (Hg.): Klassiker-Renaissance. Modelle der GegenwartSliteratur, Tübingen, 179-188. Rohr, Susanne (1993): Über die Schönheit des Findens. Die Binnenstruktur menschlichen Verstehens nach Charles S. Peirce: Abduktionslogik und Kreativität, Stuttg art. Stierle, Karlheinz (1983): "Werk und Intertextualität", in: Schmid, Wolf/Stempel, Wolf-Dieter (Hg.): Dialog der Texte. Hamburger Kolloquium zur Intertextualität, Wien, 7-26. Wittgenstein, Ludwig (1984): Das Blaue Buch, in: Ders.: Werkausgabe Bd. 5, Frankfurt am Main.
Eva-Maria Jakobs (Saarbrücken)
Quellenverfälschungen im wissenschaftlichen Diskurs 1. Vorbemerkung 2. Intertextualität als konstitutives Merkmal wissenschaftlicher Texte 3. Textquellenverfälschungen 3.1 Verfälschungen auf inhaltlicher Ebene . 3.2 Verfälschungen auf formal-sprachlicher Ebene 3.3 Übergangserscheinungen zu anderen Phänomenen 4. Schlußfolgerungen für wissenschaftliche Autoren 5. Verzeichnis der zitierten Literatur
1. Vorbemerkung
Zu den Merkmalen wissenschaftlicher Texte gehört die Vielfalt ihrer Bezüge auf andere Fachbeiträge. Die wissenschaftliche Prosa kann spätestens seit dem 19. Jahrhundert als genuin intertextuell bezeichnet werden (vgl. Bazerman 1988). Als wichtigstes Mittel der Vemetzung von Fachbeiträgen gelten dabei Formen der expliziten Bezugnahme, d.h. Verweise, Zitate und referierende Inhaltswiedergaben (Jakobs 1994a). Bezugnahmen auf andere Darstellungen ermöglichen vielerlei, etwa den Dialog mit anderen Auffassungen oder intellektuelle Anleihen eines Autors bei anderen Autoren. Sie sind - in der westlich geprägten Wissenschaft konventionell vereinbart - explizit sprachlich anzuzeigen. Die Bezugnahmen sollen korrekt erfolgen, für das Textverständnis notwendig sein und vom Leser jederzeit nachvollzogen werden können. Der Blick in die Praxis zeigt jedoch, daß dies durchaus nicht immer der Fall ist. Die Verstöße gegen die genannten Grundregeln wissenschaftlichen Agierens reichen von verdeckten Bezugnahmen auf andere Texte, d.h. Plagiaten (vgl. Jakobs 1993 und 1995a), bis zur verfälschenden Wiedergabe von Quellen. Mein Beitrag greift den letztgenannten Aspekt auf. Ausgehend von der Klärung des hier vertretenen Konzeptes von Intertextualität und ihrer Funktion im wissenschaftlichen Diskurs werden verschiedene Formen der Textquellenverfälschung diskutiert und nach Erklärungsansätzen für diese Phänomene gesucht.
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Eva-Maria Jakobs
2. Intertextualität als konstitutives Merkmal wissenschaftlicher Texte Wenn im folgenden von Intertextualität gesprochen wird, sind damit konkrete sprachlich markierte Bezüge von Textexemplaren auf andere Textexemplare gemeint, die durch sprachliche Handlungen des Bezugnehmens, wie Zitieren und Verweisen, hergestellt werden. 1 Im Verständnis der Intertextualitätstheorie entspricht dies 'einer eingeschränkten Auffassung von Intertextualität (vgl. dazu PfISter 1985, 25ff.). Mit Blick auf den heterogenen Gebrauch des Begriffs in der Fachliter~tur und den damit verbundenen Problemen (vgl. Jakobs 1994b, 466f.) tendiere ich dazu, anstatt von Intertextualität von intendierten Beziehungen zwischen Texten bzw. von Bezugnahmen in Textexemplaren auf andere Textexemplare zu sprechen. Ob und in welcher Form Texte Beziehungen des oben genannten Typs zu anderen Texten eingehen (können), hängt unter anderem von der Textsortenzugehörigkeit des bezugnehmenden Textes und seiner Situierung in Handlungsräumen (oder Domänen) wie auch von historischen Moden und kulturellen Konventionen ab (vgl. Jakobs 1995b). Als Handlungsraum gelten mit Brinker (1988, 7) "bestimmte gesellschaftliche Bereiche, für die jeweils spezifische Handlungs- und Bewertungsnormen gelten". Im folgenden wird zwischen Textsorten (und den ihnen zugrundeliegenden Mustern) unterschieden, die Bezugnahmen auf andere Texte typischerweise fordern (z.B. Gerichtsurteile), Textsorten, die Bezugnahmen auf andere Texte zulassen (z.B. Werbetexte; vgl. Jakobs 1994c) und Textsorten, die Bezugnahmen eher ausschließen, etwa weil sie aus sich heraus verständlich sein sollen (wie etwa Rezepte). Zu den Textsorten( -mustern), die sich prototypisch durch sprachlich markierte Bezugnahmen auf andere Texte auszeichnen, gehören wie erwähnt wissenschaftliche Texte, insbesondere der wissenschaftliche Zeitschriftenaufsatz. Die modernen Wissenschaften bilden eine Domäne, in der seit dem 19. Jahrhundert Bezugnahmen auf andere Fachbeiträge als obligatorisches Merkmal wissenschaftlicher Prosa gelten. Dies hat wissenschaftshistorische Gründe. Im 19. Jahrhundert kommt es zu einer zunehmenden Institutionalisierung der einzelnen Fachdisziplinen. Sie entwickeln je eigene Methoden und Praktiken und grenzen sich gegen andere Disziplinen ab. Die Zahl der Diskussionsforen nimmt rasch zu und mit ihr die Dynamik der Kommunikation. Die fortschreitende Erforschung einzelner Themen und ihre Darstellung in den 1
Das hier diskutierte Konzept von Intertextualität zeigt Bezüge zum Konzept der deiktischen Intertextualität bei Wilske und Krause (1987, 894/895) bzw. zum Konzept der referentiellen Intertextualität bei Devitt (1991).
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Diskussionsforen wie auch die Tendenz zu einer immer intensiveren Forschungsvemetzung bedingen die gegenseitige Zurkenntnisnahme und Diskussion von Forschungsergebnissen. Bazerman (1988) ist in einer Langzeitstudie der Frage nachgegangen, wie sich im Verlauf der letzten hundert Jahre die Qualität und Quantität von Bezugnahmen auf die Fachliteratur verändert hat. Sein Untersuchungskorpus bilden experimentelle Aufsätze zur Spektroskopie, die zwischen 1893 und 1980 in der Zeitschrift Physical Review publiziert wurden. Die Ergebnisse zeigen deutliche Veränderungen in der Art des gegenseitigen Zurkenntnisnehmens. Während die von ihm analysierten Texte zu Beginn des Jahrhunderts nur lose Verbindungen zu anderen Texten eingehen, d.h. wenig und nur sehr allgemein auf andere Fachbeiträge referieren, zeichnen sich die Aufsätze von 1980 durch ein überaus enges intellektuelles Beziehungsgeflecht zu anderen Autoren und deren Beiträge aus. Bezugnahmen auf andere Fachbeiträge besitzen nun unmittelbare Relevanz für die Darstellung und werden stark fokussiert diskutiert. Jede Phase der Argumentation steht in Beziehung zu anderen Arbeiten. Die zunehmende Bedeutung von Bezugnahmen als Mittel der Verflechtung von Forschungsergebnissen und Diskussionen zwischen Autoren und Schulen2 wie auch die Konsolidierung der einzelnen Fachdisziplinen fmdet ihr Pendant in konventionellen Regelungen zum Bezugnehmen und in ihrer Anpassung an sich verändernde Kommunikations gewohnheiten. Dies zeigt sich besonders deutlich bei Disziplinen, die sich durch einen vergleichsweise hohen Konsens in bezug auf Forschungsgegenstände, -interessen und Untersuchungsmethoden auszeichnen, wie etwa die Experimentelle Psychologie. Sie entwickelte 1929 als erste humanwissenschaftliche Disziplin einen eigenen Standard (beschrieben in Bentley et al. 1929), der sich vom philosophischen Diskurs unterschied und in der Folgezeit für die sozialwissenschaftlichen Fächer Modellcharakter erlangte. Während sich die frühen Empfehlungen dieses Standards auf einige wenige Hinweil\e zum Referieren beschränken (vgl. Bentley et al. 1929, 60/61), umfassen die Vorgaben des APA-Standards (Standard der American Psychological Association) zum Zitieren und Verweisen heute etliche Seiten (vgl. American Psychological Association 1983, 68-70, 107-134). 2
In dem Maße, wie sich Bezugnahmen auf andere Fachbeiträge als obligatorischer Bestandteil wissenschaftlicher Beiträge durchsetzen, gewinnen Textbezüge als Indikatoren für fachliche Veränderungen wie auch als Maß für wissenschaftliche Leistung an Bedeutung .. Sie werden in dieser Eigenschaft auf metawissenschaftlicher Ebene ausgewertet, um Hinweise auf Schulenbildungen, Themen- und Fachentwicklungen zu erhalten (vgl. dazu Leschinsky/Schoepflin 1991) oder anhand von Zitationsindizes Aussagen über den wissenschaftlichen Einfluß von Forschern und Institutionen treffen zu können (v gl. kritisch dazu PIette 1993).
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Der Stellenwert von Textbezügen auf die Fachliteratur ergibt sich nicht zuletzt aus der Vielzahl der Funktionen, die ihnen in der wissenschaftlichen Prosa zukommen. Dazu gehört in erster Linie die bereits erwähnte Vemetzung des Forschungsstandes in der "scientific community", aber auch wichtige Funktionen beim Informationstransfer, sei es in Form des Verweisens auf weiterführende Literatur, des Referierens von Forschungsdaten und Untersuchungsmethoden oder des Zitierens definitorischer Festlegungen. 3 Die Funktionalität derartiger Bezugnahmen hängt von ihrer Qualität ab, insbesondere von ihrer Korrektheit, Adäquatheit und Nachvollziehbarkeit. Die genannten Größen bilden domänenspeziflSche Kriterien für den textproduktiven Umgang mit Fachbeiträgen in der Wissenschaft (in anderen Domänen, z.B. in der Werbung oder in der so genannten schönen Literatur gelten andere). Über die Einhaltung dieser domänenspeziflSchen Kriterien wachen die Fachorgane (disziplinenabhängig unterschiedlich strikt). Obwohl als Grundgebot wissenschaftlichen Arbeitens voraussetzbar, fordern Editorials und Manuals von Fachorganisationen explizit dazu auf, nach dem Original zu zitieren, Bezugnahmen anhand von Sekundärquellen als solche auszuweisen4 , zu kontrollieren, ob die Quellenangaben im Text mit denen im Literaturverzeichnis übereinstimmen sowie ob sie vollständig und korrekt sind. Nicht selten werden solche Vorgaben - der Wirksamkeit halber - mit Warnungen vor den Folgen potentieller Verstöße gegen die Norm verbunden. 5
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Textbezüge auf andere Fachbeiträge erfüllen darüber hinaus vielfältige Funktionen auf argumentativer und formulativer Ebene sowie bei der (sachlichen wie auch personenzentrierten) Gestaltung von Beziehungen in der Forschergemeinschaft, z.B. beim Aufbau von Traditionslinien oder bei der Gestaltung von Partnerbeziehungen (vgl. dazu Jakobs 1994a). In der Vancouver-Konvention als Standard für Publikationen in den Biowissenschaften heißt es z.B.: "The references must be verified by the author(s) against the original documents" (International Committee of Medical Journal Editors 1991, 426). Und das APA-Manual mahnt: ,,References cited in text must appear in the reference list; conversely, each entry in the reference list must be cited in text [... ]. The author must make certain that each sour ce referenced appears in both places and that the text citation and reference list entry are identical. Failure to do so can result in expensive changes after a manuscript is set in type. The author bears the cost of these changes" (American Psychological Association 1983, 111). "The best way to ensure that information is accurate and complete is to check each reference carefully against the original publication. Give special attention to spelling of proper names and of words in foreign languages [ ... ] and to completeness of journal titles, years, volume numbers, and page numbers" (American Psychological Association 1983, 112). ,,Authors are responsible for all information in a reference. Accurately prepared references help establish your credibilityas a carefull research er. An inaccurate or incomplete reference ,will stand in print as an annoyance to future investigators and a
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Schaut man kritisch in die Fachliteratur, zeigt sich, daß die Interventionen der Fachorgane nicht unbegründet sind. Unzulänglichkeiten im Umgang mit anderen Beiträgen reichen von Inhaltsverfälschungen unterschiedlichster Art bis hin zu falschen Seiten- und Titelangaben, die dem Leser das Auffmden der Quelle oder der Textpassage erschweren, auf die im bezugnehmenden Text referiert wird. Im folgenden werden einige Varianten der Quellenverfälschung genannt und nach mö glichen Ursachen gefragt. Der Beitrag ist keineswegs als Besserwisserei oder als' Diskreditierung vorliegender Arbeiten gemeint. Im Gegenteil, ich gehe davon aus, daß die Mehrzahl der Autoren sorgfältig vorgeht. Ungeachtetdessen fmden sich immer wieder Beispiele für Formen des Umgangs mit anderen Texten, die zumindest diskussionswürdig sind. Dies gilt sowohl für geübte als auch für weniger geübte akademische Schreiber (die eigene Person eingeschlossen). Umso mehr stellt sich die Frage nach den möglichen Ursachen von Quellenverfälschungen und - soweit möglich - ihrer Vermeidung. Da es mir nicht um Personen geht, sondern um die zu diskutierenden Phänomene, wird bei der Angabe von Beispielen nach Möglichkeit auf Autorennamen verzichtet und nur die Quelle genannt, in der ein Fall beschrieben vorliegt. Beispiele, die aus meinem Fundus stammen, können bei mir auf Anfrage eingesehen werden.
3. Textquellenverfälschungen Wenn im folgenden von Textquellenverfalschungen gesprochen wird, sind damit alle Formen des Umgangs mit Quellen gemeint, die in dieser oder jener Weise zu ihrer Entstellung führen. Im folgenden werden zwei Bereiche der Quellenverfalschung unterschieden: Verfälschungen, die den Inhalt der Textquelle betreffen, und Verfalschungen, die eher die Ebene formaler Korrektheit tangieren (insbesondere die bibliographischer Daten). Beide Bereiche subsumieren eine Vielzahl von Varianten.
3.1 Verfälschungen auf inhaltlicher Ebene Aus studentischen Arbeiten ist uns das Problem hinreichend bekannt: Bedingt durch mangelnde Erfahrung im Umgang mit Quellen und/oder unzureichenmonument to the writer' s carelessness' (Bruner, 1942, p. 68)" (American Psychological Association 1983, 112).
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des thematische~ Hintergrundwissen (ausführlich dazu Flower et al. 1990) werden Quellenaussagen unzulässig generalisiert und Nichtzusammenpassendes vereint. Aus vorsichtigen Prognosen und Überlegungen der referierten Autoren werden abgesicherte Einsichten. Aussagen des Autors A werden Autor B zugeschrieben, aus Sekundärquellen übernommene Abschreibfehler weitergeschleppt etc. Beispiele für Probleme dieser Art fmden sich jedoch nicht nur in der studentischen Prosa, sondern auch in der professionellen Fachliteratur. Sie lassen sich hier kaum auf mangelnde Erfahrung im Umgang mit Quellen zurückführen. Auch Konzentrationsprobleme durch Schreiben unter Zeit- und Arbeitsdruck und daraus resultierende Produktionsfehler und -sünden (Verzicht auf Quellenüberprüfung etc.) erklären nur einen Teil der Phänomene, insbesondere Fehler auf der formal-sprachlichen Ebene (Inkonsistenzen bei der Angabe von Jahreszahlen etc.). Ursachen für Textquellenverfälschungen auf inhaltlicher Ebene sind - so die im folgenden vertretene These - eher im Bereich der kognitiven Prozesse zu suchen, die beim Rückgriff auf die Fachliteratur eine Rolle spielen (vgl. dazu Jakobs 1995b, 95ff.). Sie betreffen vor allem den Prozeß der Aneignung und der Interpretation von Quellen sowie der Reproduktion von Quellenkonzepten und ihrer Integration in die eigene Argumentation. Dies soll im folgenden an einigen Beispielen diskutiert werden. Textinterpretationen als Ergebnis individueller und sozial geprägter Aneignungsprozesse
Wie eingangs erwähnt, erfüllen Bezugnahmen in Fachtexten auf andere' Fachtexte wichtige Funktionen bei der Vernetzung des Wissensstandes in der Forschergemeinschaft. Von Fachautoren wird erwartet, daß sie die einschlägigen Arbeiten anderer kennen und sich in ihrer Darstellung auf diese beziehen. Wissenschaftliches Arbeiten ist insofern immer erst Rezeption und dann Produktion. Wie sich Autoren letztendlich auf die von ihnen rezipierte Literatur beziehen, hängt in hohem Maße von der Qualität der vorausgegangenen Rezeption und von der Qualität der Rekonstruktion von Textquelleninformation ab wie auch von dem Ausmaß, in dem sich Autoren auf ihre Erinnerung (und auf ihre Aufzeichnungen) verlassen. Die Erschließung, Verarbeitung und Wertung von Fachtexten ist ein höchst individueller Prozeß, dessen Qualität von verschiedenen Größen beeinflußt wird. Dazu gehören die individuellen Voraussetzungen des Lesers wie auch Eigenschaften des Rezeptionsobjektes und der Rezeptionssituation. In bezug auf die individuellen Voraussetzungen spielen vor allem themati-
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sches Vorwissen und Vorannahmen eine Rolle, das Interesse, die Motivation und die Perspektive, die der Rezeption zugrundeliegen, die Fähigkeit, Beziehungen zu anderen Darstellungen herzustellen und zu bewerten, Lese- und Memorierungstechniken sowie die fachliche und kulturelle Sozialisation des Rezipienten. Auf den Verlauf und die Qualität des Rezeptionsprozesses nehmen Eigenschaften der Textquelle Einfluß, wie ihre Strukturiertheit und die Logik der Darstellung. Je vager die Darstellung ist, umso interpretationsbedürftiger ist sie auch. Ihre Erschließmig setzt ein hohes Maß an Inferenzbildungen und Elaborationen voraus, was wiederum Folgen für die Subjektivität der Textrepräsentation hat. Zu den situativen Bedingungen, die sich auf die Aneignung von Textquellen auswirken können, gehören Zugriffsmö glichkeiten auf die Textquelle (im Original, als Kopie, über die Sekundärliteratur etc.), die zur Verfügung stehenden Mittel zur Bearbeitung von Textquellen und zur Archivierung von Rezeptionsergebnissen, Zeitresourcen und Störfaktoren sowie die Möglichkeit, sich mit anderen Kollegen zum Text austauschen zu können. Ein anderer sensibler Bereich ist der Rekonstruktion früher rezipierter Literatur. Der Rückgriff auf entsprechende Gedächtnisbestände ist nicht nur aufgrund des fragmentarischen Charakters solcher Repräsentationen problematisch, sondern auch dadurch, daß diese vielfachen Einflüssen unterliegen und oft fehlerhaft sind. In die mentale Textrepräsentation fließen Elaborationen ein, z.B. in Form des Herstellens neuer Beziehungen, Assoziationen und des Weiterdenkens der Problematik. Mitunter ist es schwierig, nach einer gewissen Zeit zwischen dem zu unterscheiden, was tatsächlich in einem Text zu einem bestimmten Thema steht und was dazu an anderer Stelle gelesen und gehört wurde. Veränderte, verzerrte und unvollständige Erinnerungen können solcherart - so sich der Autor auf sie verläßt - in vielfältiger Weise zu fehlerhaften Bezügen auf die Fachliteratur führen. Anpassen von Quelleninhalten an die eigenen Vorstellungen
Eine Reihe von Textquellenverfälschungen können auf Aneignungsstrategien zurückgeführt werden, bei denen der Rezipient versucht, den Text in eine für ihn nachvollziehbare Interpretation zu verändern (vgl. dazu Bartlett 1932). Dazu werden Inkonsistenzen und Widersprüche zwischen Textinformation und Leserwissen beseitigt sowie die Textrepräsentation durch Informationen angereichert, die nicht im Text selbst enthalten sind, aus der Sicht des Lesers aber Sinn verleihen. "Anpassungsprozeduren" wie auch Abrufprozeduren orientieren sich an bereits vorhandenen Schemata. Vicente und Brewer (1993) vermuten in schema-orientierten Rekonstruktionsprozessen eine Ursache für das Phäno-
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men der Verfäls~hung experimenteller Darstellungen inder psychologischen Fachliteratur: [... ] some of these distortions can be attributed to reconstructive memory processes of various types, including source confusions, interference effects, and schema-based reconstructions (ebd., 125). Schema-orientierte Rekonstruktionsversuche scheinen gerade beim Referieren neuer, noch nicht in der Untersuchungs praxis etablierter U ntersuchungsmethoden eine Rolle zu spielen. Tests deuten darauf hin, daß in solchen Fällen Quellenverfälschungen darauf zurückzuführen sind, daß sich die Betreffenden bei der mentalen Rekonstruktion der rezipierten Literatur zu stark von idealisierten Schemata des dargestellten Sachverhaltes leiten lassen: In all of the cases reviewed, the recall of scientists seems to be driven by an idealized experiment schema that distorts certain details of the actual experiment being reported in predictable ways (Vicente/Brewer, 123/124). Verfälschende Wiedergaben werden als Ergebnis zweier Tendenzen erklärt: (1) die Neigung, Sachverhalte, die von etablierten Schemata abweichen (z.B. Versuche, die von der kanonischen Form von Experimenten abweichen) bekannten Schemata angepaßt zu beschreiben, (2) die Neigung, die Textinformation zu reduzieren, d.h. sich auf einzelne Aspekte des Textes zu konzentrieren (z.B. die Ergebnisse eines Experiments) und sich die damit verbundenen Kontexte (das Experiment in seinen vielen, zum Teil inkohärenten Details) in einer vereinfachten, kohärent gemachten Version zu merken (ebd., 124).
Quellenveifälschung als Ergebnis kollektiver Rezeptionsgeschichte Interne Repräsentationen rezipierter Fachliteratur sind das Ergebnis kollektiver wie individueller Aneignung und Interpretation. Ausgehend von individuellen Interpretationen einer Quelle einigen sich Forschergemeinschaften häufig im Verlauf der Rezeptionsgeschichte der Textquelle auf eine gemeinschaftlich akzeptierte Variante (vgl. dazu Small 1978), z.B. der Art, daß Ideen, Methoden und Konzepte mit bestimmten Texten systematisch assoziativ verbunden werden. 6 Dieser Prozeß kann mit der Fokussierung und Reduzierung von Texten auf einzelne Aussagen einhergehen. Der Text erhält ein ,,Etikett", unter dem er geführt wird. Individuelle Rezeptionsprozesse wer6
Als Beispiel ließe sich die verbreitete Ansicht anführen, daß Beaugrande und Dressler in ihrer 1981 erschienenen Einführung in die Textlinguistik das Konzept der Intertextualität in die Linguistik eingebracht haben, obwohl dies bereits 1978 Zimmermann in seinen Erkundungen zur Texttypologie leistete (vgl. Wilske/Krause 1987, 891).
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den durch solche Etikettierungen beeinflußt, im Extremfall sogar durch die Übernahme von Etiketten ersetzt. Die Einigung auf gemeinschaftliche Interpretationen gründet auf Ökonomieprinzipien. Sie erlaubt die Kommunikation über Gegenstände und Methoden durch den Bezug auf die Quellen, in denen diese beschrieben vorliegen. Problematisch wird die Übernahmen von Interpretationen erst dann, wenn sie automatisch erfolgt und nicht mehr hinterfragt wird sowie wenn sich Interpretationen verselbständigen, d.h. sich vom Textoriginal entfernen und ein Eigenleben beginnen. Ersteres kann zur Übernahme von Quellenverfälschungen und ihr "Weiterschleppen" führen, letzteres zur Erzeugung von Quellenentstellungen. Als Beispiel läßt sich der vielzitierte Aufsatz von Whorf (1940) und seine Rezeptionsgeschichte anführen. Whorf verweist in seiner Diskussion zum Zusammenhang von Sprache, Denken und Wirklichkeit darauf, daß Eskimos im Gegensatz zu anderen (Kulturen, Sprachen) über unterschiedliche Ausdrücke zur Bezeichnung von Schnee verfügen. Um wieviel Ausdrücke (welcher Eskimosprache) es sich dabei genau handelt, bleibt undeutlich (eine Graphik suggeriert drei, der Text mehr Ausdrücke7 ; vgl. ebd., 240 bzw. 247). Der Aufsatz, genauer Whorfs Beispiel, wurde in der Folgezeit häufig zitiert. Dabei wurde nicht nur Whorfs Ansatz, sondern auch die Anzahl der ,,Eskimo words for snow" zum Teil sehr unterschiedlich wiedergegeben. Einige Quellen sprechen von "genau drei Wörtern", andere von "vielen" Eskimowörtern für Schnee, Lehrbücher, die mit dem Beispiel operieren, von über hundert Wörtern (vgl. dazu Martin 1986, 419f.). Martin sieht die Ursachen für die ,,Inflation" der Angaben zum einen im defizitären Umgang mit Quellen, aber auch in der Verselbständigung des Beispiels, das aufgrund seiner Exotik und Überzeugungskraft immer und immer wieder angeführt und dabei allmählich "popularisiert" und "trivialisiert" wird. 8 Die Kommunikationsge"We (das Englische. E.J.) have the same word for falling snow, snow on the ground, snow packed hard like ice, slushy snow, winddriven flying snow - whatever the situation may be. To an Eskimo, this all-inelusive word would be almost unthinkable; he would say that falling snow, slushy snow, and so on, are sensuously and operationally different, different things to contend with; he uses different words for them and for other kinds of snow" (Whorf 1940,247). "Through repetition in print or in lecture, the snow example has become eloaked in scholarly importance. Its patina of sophistication retlects on the lecturer who appears to be in possession of specialized knowledge and impresses any listener to whom elose attention to the details of language or culture may be a novel enterprise. Its ,meaning' remains vague but seems generally simple: human beings are very different from each other [... ]" (Martin 1986, 421). ,,In the case of the snow example, sheer repetition reinforces it, embedding it ever more flrmly in folk wisdom where it is nearly immune to challenge. Whenever issues in language, culture, and thought are raised, a substantial
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schichte, die der Text erfährt, reduziert ihn allmählich auf das "snow words" Beispiel. Dies wIrkt sich wiederum auf die Bewertung der Quelle aus. 9
Quelleninterpretation im Kontext nationaler Rezeptionsgeschichte Textinterpretationen, die zu Verfälschungen auf inhaltlicher Ebene führen, können nach Mangasser (in Vorbereitung) das Ergebnis nationaler Rezeptionsgeschichte sein. Nationale Rezeptionsgeschichte meint hier die besondere Art und Weise, wie eine bestimmte Theorie und die dazugehörigen Texte zur Kenntnis genommen und bewertet werden. Bei dem Beispiel handelt es sich um die nach Mangasser (in Vorbereitung) den deutschen Rezeptionsraum auszeichnende "Gleichsetzung bzw. die unsaubere Vermischung" des kognitionspsychologischen Prototypenansatzes von Rosch (1973) mit dem sprachphilosophischen Stereotypenansatz von Putnam (1975), etwa bei Lutzeier (1985, 115):10 (1)
Die jeweilige Vorstellung von [... ] Tassen nennen wir mit Putnam (1975b) ein Stereotyp [... ]. So ein Stereotyp entsteht durch Abstraktion. Dies [... ] wird in dem interessanten und einflußreichen Artikel Rosch (1973) bestätigt: ,,[ ... ] subjects appear to operate inductively by abstracting a ,prototype' (a central tendency) of the distribution [... ], a ,prototype' which then appears to ,operate' in classification and recognition of instances."
Mangasser (in Vorbereitung) verweist mit Recht darauf, daß die Konzepte des Stereotyps bzw. des Prototyps keinesfalls gleichzusetzen sind, sondern einer je eigenen Diskussion bedürfen, und zwar nicht nur aufgrund ihres gänzlich anderen theoretischen Ursprungs, sondern auch wegen der den Begriffen zugrundeliegenden Konzepte und ihres Erklärungspotentials. Rosch selbst habe nur einmal auf Putnam und dessen Stereotypenkonzept Bezug
10
proportion of listeners are unwilling to abandon the notion that ,1t's all just like Eskimos and snow'" (ebd.). "Such a trivialization of the complexity inherent in linguistic structures, linguistic behaviors, and the relationships among them distorts the requirements of research into these relationships by implying that counting words is a suitable method of pursuing such investigations. It may not be excessive to speculate that, through this process, the example has come to substantiate for same the bias that these investigations are either impossible, irrelevant, or unscientific. In this twisted form, the snow example returns to the academic context and is adduced as ,proof' that Whorf s ideas were superficial or lacked insight [ ... ]" (Martin 1986, 421). Sie sieht die Ursachen dafür vor allem in einer nur punktuellen Rezeption der Arbeiten von Rosch.
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genommen (vgl. Rosch 1988, 386).11 Sie sei dabei nie von einer Gleichsetzung der Begriffe ausgegangen, sondern habe lediglich Ähnlichkeiten konstatiert. Sie beschränken sich auf das Abweichen von klassischen Kategorisierungsmodellen und auf das Aufzeigen von Alternativen. (In einer jüngeren Veröffentlichung weisen Lutzeier und Konerding (1992, 351) dann auch darauf hin, daß Stereotyp und Prototyp sinnvollerweise nicht miteinander gleichzusetzen sind.)
Incorporation fictions as facts Fehlzuschreibungen körmen das Ergebnis situativ bedingter Überlagerungen mentaler Konstrukte sein. Fälle dieser Art liegen vor, wenn die Lektüre von anderen Tätigkeiten unterbrochen oder begleitet wird (z.B. die mentale Auseinandersetzung mit einem Gegenstand) und man damit zusammenhängende gedankliche Inhalte auf den gelesenen Text "überträgt" bzw. später als Textinhalt erinnert. Eco (1991, XI/XII) berichtet über einen solchen Fall aus eigenem Erleben. Er war zwanzig Jahre lang der Meinung, den "entscheidenden Gedanken" zur Lösung eines komplizierten Problems per Zufall in einem bestimmten Buch gefunden zu haben. Die Probe aufs Exempel ergab, daß Eco sich ohne weiteres an den Standort des Buches und an die Markierung der betreffenden Textstelle erinnern konnte, die aufgesuchte Passage jedoch nicht den zugeschriebenen Gedanken enthielt: [Der Autor des betreffenden Buches. E.J.] hatte nie den Gedanken geäußert, den ich ihm zugeschrieben hatte [... ] Es hatte sich so zugetragen, daß ich beim Lesen von Vallet (der von anderem sprach) und auf irgend eine mysteriöse Weise angeregt von dem, was er sagte, jene Idee gehabt hatte und so auf den Text, in dem ich Unterstreichungen vornahm, fixiert war, daß ich die Idee dem Vallet zuschrieb (Eco 1991, XI/XII). Ich habe nochmals darüber nachgedacht und festgestellt, daß ich im Verlaufe meiner Auseinandersetzung mit der Literatur oft Gedanken anderen zugeschrieben hatte, zu deren Suche jene mich angeregt hatten; und in vielen anderen Fällen war ich der Meinung, ein bestimmter Gedanke stamme von mir, während ich doch beim Nachsehen in einem Buch, das ich viele Jahre vorher gelesen hatte, feststellte, daß der Gedanke, oder jedenfalls sein Kern, von einem anderen Autor stammte (ebd., XII).
11
,,In philosophy, the idea of criterial features for categories is at least as old as Aristotle (1941). (. .. ), and in recent years Putnam (1977) has developed an influential noncriterial accont of natural kind terms" (Rosch 1988, 386).
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Zuschreibungen .durch Verwechseln von Textquellen Eine andere Ursache für Fehlzuschreibungen wurde - mit dem Ausdruck "source confusion" bei Vicente und Brewer (1993, 125) angesprochen: fehlerhafte Erinnerungen (oder Aufzeichnungen) führen dazu, daß Inhalte einer anderen Quelle zugeschrieben oder Inhalte verschiedener Quellen ,,kombiniert" einer Textquelle zugeordnet werden. Unter diese Kategorie können unter Umständen Textquellenverfälschungen fallen, wie die folgende, die Grabowski (1991, 53 Fußnote 15) beschreibt: Miller & Kintsch (1980, S. 349) referieren, daß Kintsch & van Dijk (1978) für die Übereinstimmung zwischen vorhergesagten und beobachteten Repr 9duktionshäufigkeiten Korrelationen zwischen .92 und .96 erzielt hätten. Ich habe in dem Artikel von Kintsch & van Dijk auch bei mehrfacher Durchsicht diese Angabe nicht finden können; die Autoren berichten zur Übereinstimmung zwischen Prognose und Empirie nur die im Haupttext angeführten X2_ Tests. Korrelationen werden allerdings an einer anderen Stelle berichtet, an der die Zusammenhänge der Reproduktionen über die drei erhobenen Behaltensintervalle hinweg dargelegt werden. Dort werden insgesamt sechs Koeffizienten mitgeteilt, von denen einer .92, jedoch keiner .96 beträgt.
Veränderungen bei Übernahme von Sekundärquelle zu Sekundärquelle Ein anderer Typ der Verfälschung von Quellenaussagen liegt mit der unzulässigen Verkürzung von Textquellenaussagen vor. Unzulässige Verkürzungen können durch unterschiedliche Phänomene verursacht werden. Dazu gehören Verstehensprobleme beim Lesen der Textquelle, oberflächliches Lesen, Simpliflzierungsversuche, mißglückte Paraphrasierungsversuche und Übernahmen von dritten, die bereits Veränderungen des Originals enthalten. Bei Soreth (1991) fmdet sich ein Beispiel für die Metamorphose, die eine Quellentextpassage in der Sekundärliteratur durchläuft. Bei der Originalpassage handelt es sich um ein Kant-Zitat (die Belege 2 bis 4 werden aus Soreth 1991, 150 übernommen; dies gilt auch für die Kommentierung und die Interpolationen der Beispiele): (2)
[ ... ] der [sc. Raum], in welchem alle Bewegung zuletzt gedacht werden muß (der mithin selbst schlechterdings unbeweglich ist), heißt der reine, oder auch absolute Raum. aus: Emanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (1. Auflage 1781). Prolegomena. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaften. Berlin 1911, 480, 3-5
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Der Ausdruck "der reine, oder auch absolute Raum" wird in einem anderen Text der Sekundärliteratur ein erstes Mal varüert und zwar durch Austausch der Adjektive. Die Rede ist nun vom "absoluten oder reinen Raum": (3)
Die 1. Erklärung der ,'phoronomie"}) nennt den ,,absoluten oder reinen Raum" denjenigen, ,Jn welchem alle Bewegung zuletzt gedacht werden muß". Diese Ausdrucksweise hat zu sehr viel Mißverständnissen Anlaß gegeben. Anm. 1: 1. Hauptstück der ,Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaften '. 1786. (2. Hauptstück: Dynamik, 3. Hauptstück: Mechanik, 4. Hauptstück: Phänomenologie). Akad. Ausg. 4, 4.
Ein zweiter Fachautor, dem Soreth Anleihen beim Verfasser von (3) unterstellt, verkürzt die fragliche Passage auf "der ,absolute reine Raum "': (4)
Sehr deutlich wird der transzendental-idealistische Standpunkt bereits [? sic!] 1786 in ,Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft'. Wohl kann auch hier noch [? sic] die Formulierung, daß der ,,absolute reine Raum" derjenige ist, ,in welchem alle Bewegung zuletzt gedacht werden muß' zu Mißverständnissen führen 43 ) [ ... ].
Anm. 43): Vergl. ,Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft [sic]' 1786, 1. Hauptstück "Phoronomie".
Problematische Kontexteinbettungen Inhaltliche Fehlzuschreibungen können auch indirekt erzeugt werden, zum Beispiel dadurch, daß unterschiedliche Diskussionen zum gleichen Thema unmarkiert nebeneinandergesetzt werden, wie in: (5)
Im Sinne der traditionellen Textlinguistik wird bekanntlich der erkennbare Bezug auf Vorgängertexte als "Intertextualität" bezeichnet (Beaugrande/ Dressler 1981, Jakobs 1994). Ohne hier auf terminologische Probleme und konzeptuelle Unterschiede eingehen zu können, läßt sich systemtheoretisch "Intertextualität" als "Selbstreferenz" von Texten gegenüber tradierten Texten verallgemeinern.
Beide im ersten Satz des Beispiels genannten Quellen äußern sich zu Intertextualität, verstehen aber unter dem Ausdruck "erkennbarer Bezug" durchaus unterschiedliche Dinge. Während die erstgenannte Quelle Intertextualität als allgemeines Merkmal von Texten behandelt, das diese besitzen müssen, um als ,,kommunikativ" zu gelten, diskutiert die zweitgenannte Quelle terminologische Probleme und konzeptuelle Unterschiede bei Anwendung des Begriffs in der· Linguistik (einschließlich seiner Verwendung bei der erstgenannten Quelle) und spricht sich gegen Intertextualität als allgemeine Eigenschaft von Texten aus.
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Dem bezugnehmenden Autor mag diese Widersprüchlichkeit nicht bewußt gewesen sein. Beide Referenztexte behandeln "d~sselbe" Thema. Ich vermute, daß hier keineswegs Böswilligkeit im Spiele war, sondern eher flüchtiges Lesen, flüchtiges Erinnern und Inbeziehungsetzen von Quellen sowie ein oberflächliches Integrieren der Bezugnahmen (Zusätze wie vgl. etwa und kritisch dazu hätten den Fokus der Verweisungen deutlicher gemacht). Für diese Interpretation spricht, daß es sich bei dem Beispiel um eine überleitende Passage zum eigentlichen Thema des bezugnehmenden Beitrages handelt.
3.2 Verfälschungen auf formal-sprachlicher Ebene Textquellenentstellungen auf eher formal-sprachlicher Ebene sollen hier nur kurz angesprochen werden. Zu diesem Typ der Quellenverfälschung rechne ich alle Eingriffe bei der wörtlichen Wiedergabe von Textpassagen, die nicht sinnentstellend sind, sowie Fehler bei der Wiedergabe bibliographischer Daten. Letztere sind in Abhängigkeit von ihren Auswirkungen für die N achvollziehbarkeit von Bezugnahmen unterschiedlich zu wichten und sollen im folgenden kurz behandelt werden.
Veifälschte bibliographische Daten Fehlerhafte Quellenangaben fmden sich überaus häufig. Sie sind vor allem dann störend, wenn der interessierte Leser einem Quellenhinweis folgen will und die Literatursuche durch fehlerhafte (oder fehlende) Angaben erschwert wird. Die Palette der Phänomene reicht von Texten, die erwähnt, jedoch nie erschienen sind, über verfälschte Titel bis hin zum vergleichsweise harmlosen, aber lästigen Fall unkorrekter Seitenangaben.
Veifälschung des Autornamens Falschschreibung von Autorennamen12 begegnet sowohl bei der Wiedergabe fremdsprachiger 13 als auch bei der Wiedergabe deutscher Autorennamen. 12
13
PIette (1993, 91) zufolge wird mitunter sogar der Name des eigenen Doktorvaters falsch geschrieben. Ein schönes Beispiel für Probleme bei der Wiedergabe fremdsprachlicher Quellen fand ich in einem amerikanischen Aufsatz. Die bibliographische Angabe lautet: Hanisch, G. (1990). Schummeln Ergebnisse einer Befragung von Wiener Schule rinnen und
Schulern [Cheating: Results of questioning Viennese Pupilsl. Wien, Oesterrich: Ludwig-Boltzmann-Institute für Schulentwicklung und international-vergleichende Schulj-orschung [sic].
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Unsicherheiten bei deutschsprachigen Autoren besteht nach PIette (1993, 91) z.B. bei Doppelnamen oder Namen, die Zusätze wie von enthalten. Auch Namen, deren Schreibung abweicht, z.B. Soeffner, werden gern falsch wiedergegeben. Zum Teil werden Bibliographierfehler dieser Art durch ungeprüfte Übernahme nicht bekannter bibliographischer Daten aus der Sekundärliteratur von Autor zu Autor und von Text zu Text mitgeschleppt. Duplikationsphänomene ergeben sich geradezu zwangsläufig bei der Aufnahme fehlerhafter bibliographischer Daten in Literaturverwaltungsprograll1l1le und der automatischen Erstellung von Literaturverzeichnissen auf der Basis des archivierten Datenbestandes. Fehlerhafte Literaturangaben lassen ungewünschte Rückschlüsse auf den Autor zu und erschweren dem interessierten Leser die Ermittlung von Textquellen. Ein anderer Bereich, in dem sich fehlerhafte (und inkonsistente) Schreibweisen auswirken, bildet die Aufstellung von Zitationsindizes. Sie setzt korrekte Autorennennung voraus (vgl. PIette 1993, 91f.). Tite lverfälschung
Verfälschungen bibliographischer Angaben begegnen auch im Bereich der Wiedergabe von Titeln und Untertiteln, wobei unter dem Aspekt der Wiederauffmdbarkeit von Quellen Abweichungen beim Haupttitel schwerer wiegen als Abweichungen bei der Angabe des Untertitels. Bei der Bewertung solcher Abweichungen spielt nicht nur die Frage der Wiederauffmdbarkeit eine Rolle, sondern auch das Ausmaß, in dem der Sinn eines Titel verändert wird. Eingriffe in den Sinn liegen zum Beispiel bei Titelveränderungen vor wie Bemerkungen zur Logik des Zahlenbegriffs in Logische Untersuchungen über die Zahl. Falsch oder nicht korrekt referierte Titel müssen nicht die Folge unachtsamerErfassung sein, sie können auch gänzlich andere Ursachen besitzen, die mit Kommunikationsabsprachen und Publikationsmechanismen in der "scientific community" zu tun haben. So ist es in Fachgemeinschaften durchaus üblich, sich auf Arbeiten zu beziehen, die vom Herausgeber akzeptiert und im Druck befmdlich sind. 14 Diese Übereinkunft trägt dem Paradox Rechnung, daß For14
Hinzu kommen Arbeiten, die sich erst ,,in Vorbereitung" befinden. Ihre Erwähnung kann unterschiedliche Gründe haben, etwa die Intention, ein bestimmtes Arbeitsgebiet für einen Autor zu claimen, das interessierte Fachpublikum vorzuinformieten oder die Eigentumsrechte von Autoren zu wahren, die noch nicht wissen, wo sie publizieren werden. Die Akzeptanz für ,,in Vorbereitung" befindliche Arbeiten differiert fach abhängig.
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schungsbeiträge möglichst aktuell sein sollen (gerade auch mit Blick auf die zur Kenntnis genommene Fachliteratur zum Thema),. die maschinelle Herstellung von Büchern und Zeitschriften durch den Verlag jedoch oft Monate, wenn nicht Jahre dauert. Problematisch wird die Erwähnung im Druck befmdlicher Arbeiten dann, wenn der Beitrag - wie in Beispiel (6) - unter seinem Arbeitstitel im Literaturverzeichnis des bezugnehmenden Textes geführt, jedoch unter einem anderen Titel publiziert wird: (6)
Erwähnung in der Sekundärliteratur: Knorr, D. (im Druck). Jonglieren mit Constraints - Überlegungen zur Beschreibung wissenschaftlicher Textproduktion. In: Jakobs, E.-M./ Knorr, D. und Molitor-Lübbert, S. (Hg.). Wissenschaftliche Textproduktion. Mit und ohne Computer. Frankfurt/M.: Lang Original titel: Knorr, D. (... ): Elektronische Medien im wissenschaftlichen Alltag. Au swir kungen des Einsatzes von Computern auf die persönliche Literaturverwaltung und -nutzung. In: (... )
Die beschriebene Situation trifft auch für den vorliegenden Beitrag zu. Bei der Durchsicht der Druckfahne mußte ich feststellen, daß sich im Verlauf der Bandproduktion sowohl der Titel des Bandes als auch die Reihenfolge der Herausgeber geändert hat. Zitiert habe ich den Beitrag andernorts nach den ursprünglichen Angaben der Herausgeber. Noch krasser wird die Situation, wenn sich ein Autor auf einen Fachtext bezieht, dessen Publikation durch einen Herausgeber zugesichert. war, und der Herausgeber dann die Publikationszusage zurücknimmt.
Falsche Angabe des Erscheinungsjahres und des Erscheinungsortes Falsche Angaben zum Erscheinungsjahr oder -ort können durch Übernahme von Fehlern aus der Sekundärliteratur entstehen, müssen es aber nicht. Falsche Jahresangaben können z.B. auch das Ergebnis von Tipp- und Konzentrationsfehlern beim Abschreiben vom Original sein. Sie lassen sich zum Teil schwer ermitteln und ausmerzen, weil Autoren eher dazu neigen, sich auf inhaltliche Aspekte ihres Manuskripts zu konzentrieren und/oder aufgrund mangelnden Abstandes zum eigenen Produkt für solche Fehler "betriebsblind" sind. Gerade im Bereich der kritischen Durchsicht des Textproduktes zeigen sich die Konsequenzen der Verlagerung editorischer Arbeiten auf den Autor. Die Forderung, einen printfähigen Endtext zu liefern, erzwingt die Übernahme verschiedener Rollen durch den Autor. Er muß seine Aufmerksamkeit zwischen inhaltlicher, formaler und Layout-Gestaltung
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teilen. Bei Texten mit einem hohen Schwierigkeitsgrad reichen die Kapazitäten (unter Zeitdruck) oft nicht aus, was sich auf die Qualität des Textproduktes auswirkt.
3.3 Übergangserscheinungen zu anderen Phänomenen Im Grenzbereich zwischen Quellenverfälschung und anderen Formen des nicht normkonformen Umgangs mit Quellentexten fmden sich eine Reihe von Problemen, die hier zumindest erwähnt werden sollen. Dazu gehören Inkonsistenzen zwischen Quellenangaben im laufenden Text und im Literaturverzeichnis (z.B. abweichende Jahresangaben oder fehlende Markierung bzw. Abgrenzung bei Bezugnahme auf mehrere Arbeiten eines Autors, die im seIben Jahr erschienen sind), fehlende bibliographische Nachweise für im laufenden Text genannte Literatur oder - umgekehrt - im Literaturverzeichnis genannte Arbeiten, die nicht im Text Erwähnung finden. Ein anderes Phänomen bilden Zitate ohne Quellenangabe. Der Urheber wird zwar genannt, der Äußerungskontext jedoch nicht weiter spezifIZiert ( 0 b es sich um eine mündliche oder eine schriftliche Äußerung handelt, in welchem Kontext sie geäußert w':lrde etc.). Peter Baumann15 machte mich auf einen solchen Fall aufmerksam, und zwar ein Russell-Zitat bei Hospers (1958, 129) (Bsp. 7), das in der Sekundärliteratur auch öfters zitiert wird, immer jedoch mit Bezug auf Hospers (vgl. Beispiel 8): (7)
Well, then, could we ever have, not acted, but desired otherwise than we did desire? This gets us once again to the heart of the matter we were discussing in the previous section. Russell said, "We can do as we can please but we can't please as we please." But I am persuaded that even this statement conceals a fatal mistake. Let us follow the same analysis through.
(8)
Finally, something must be done to meet the challenge embodied in Russell's famous slogan,9 "We can do as we please, but we can't please at we please" the challenge, that is, that freedom is not just a matter of doing as one desires, but requires, in addition, that we should have something to say about what we desire. We have OUf work cut out for us.
15
Peter Baumann ist Philosoph und Soziologe und war bis September 1996 am Graduiertenkolleg Kognitionswissenschaften der Universität Hamburg tätig. Er interessierte sich für-den Kontext des Russell-Zitates 'und versuchte, ihn ,,aufzuspüren". Weder die Suche in Russells Texten noch Nachfragen bei einem Russell-Archiv in Canada und bei Hospers selbst führten zu einem Ergebnis. Hospers reagierte nicht, das Archiv leitete Baumanns Anfrage an eine Russell-Diskussionsgruppe im World Wide Web weiter - bis heute erfolglos.
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QuotOO in John Hospers, "What Means This Freedom?" in Sidney Hook (00.), Determinism andFreedom (New York, 1958), p. J29
9
4. Schlußfolgerungen für wissenschaftliche Autoren Zieht man das Fazit aus dem oben Gesagten, ergeben sich nur wenige Möglichkeiten, Fehlern und Entstellungen beim Rückgriff auf Fachliteratur vorzubeugen. Eine erste Konsequenz ist, eigene Gewohnheiten im Umgang mit der Fachliteratur kritisch zu reflektieren. Ich bin im Verlauf der Beschäftigung mit der Thematik sensibler und sorgfältiger im Umgang mit Quellen geworden, aber auch aufmerksamer für ihre Darstellung in anderen Arbeiten. Eine zweite Konsequenz ist, sich weniger als vorher auf Gedächtnisbestände, auf Aufzeichnungen und auf Darstellungen in der Fachliteratur zu verlassen. Einige wenige Probleme - wie die wiederholte korrekte Wiedergabe von Quellenangaben oder von Textpassagen - lassen sich inzwischen auch schon mit elektronischen Hilfsmitteln in den Griff bekommen, wie z.B. mit Literaturverwaltungsprogrammen, gesetzt den Fall, man schreibt mit dem Computer, [mdet das richtige Programm und gibt die benötigten Daten fehlerfrei ein. Was alle diese Varianten und Lösungen jedoch nicht ersetzen, ist der Griff zum Original und die wiederholte Lektüre. So zeitraubend und arbeitsintensiv diese auch zunächst erscheinen mag, sie hat einen Vorteil: Man liest Texte im Laufe der Zeit immer wieder mit neuen Augen und entdeckt dabei oft mehr, als man erwartet.
5. Verzeichnis der zitierten Literatur American Psychological Association (1983): Publication Manual of the American Psycho10gical Association (1983). 3rd Edition. Washington, DC: American Psycho10gical Association Bartlett, FrOOeric C. (1932): Remembering. A study in experimental and social psychology. Cambridge u.a.: Cambridge University Press Bazerman, Char1es (1988): Theoretical Integration in Experimental Reports in Twentieth-Century Physics: Spectroscopic Artic1es in Physical Review, 18931980. In: Bazerman, Charles (00.): Shaping written know1OOge. Madison: The University of Wisconsin Press [Rhetoric of the Human Sciences], 153-186 Beaugrande, Robert-Alain del Dressler, Wolfgang Ulrich (1981): Einführung in die Textlinguistik Tübingen: Niemeyer
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Eva-Maria Jakobs
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Claudia Fraas (Mannheim)
Bedeutungskonstitution im Diskurs - Intertextualität über variierende Wiederaufnahme diskursiv zentraler Konzepte Eine exemplarische Analyse 1. Einführende Bemerkungen 2. Der Diskurs zur deutschen Einheit 3. Fallbeispiel: Das Konzept DEUTSCHE im Einheitsdiskurs 3.1 ,,Die Ost- und Westdeutschen sind ein Volk" 3.2 ,,Die Ostdeutschen sind leistungsfähig und den Westdeutschen ebenbürtig" 3.3 ,,Die Deutschen sind autoritätshörig und steif' 4. Schluß 5. Kürzel der Text-Quellen 6. Verzeichnis der zitierten Literatur
1. Einführende Bemerkungen Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf ein inzwischen abgeschlossenes Projekt zum Diskurs der deutschen Einheit, das immer wieder zu intertextuellen Phänomenen hinführte, obwohl diese nicht das zentrale Beschreibungs- und Erkenntnisziel waren. Ein wesentlicher Grund hierfür liegt wohl darin, daß die Analysen sich auf einen Diskurs-Begriff stützen, der im Unterschied zum Diskurs-Begriff der Gesprächsanalyse thematisch begründet ist. Diese Auslegung des Begriffs knüpft an die Tradition der französischen Diskurs analyse an, die in der deutschen Sprachwissenschaft erst in jüngster Zeit zunehmend rezipiert wird (vgl. BusselTeubert 1994, S. 14ff.). Als Diskurse werden hier Mengen von Texten verstanden, die auf eine gemeinsame inhaltliche Einordnungsinstanz, ein gemeinsames globales Thema bezogen sind. Das heißt, die Texte eines so verstandenen Diskurses referieren alle mehr oder weniger auf ein gemeinsames Thema. Sie leisten quasi die thematische Ausdifferenzierung dieses Themas und sind auf diese Weise vielfältig miteinander verbunden. Dabei wird das Diskursthema weniger innerhalb jedes einzelnen Textes, sondern vielmehr intertextuell, im Zusammenwirken vieler Einzeltexte verhandelt. Diese Auffassung von Diskurs ist umstritten und noch ungenügend geklärt. Sie hat jedoch offensichtlich einen so großen heuristischen Wert, daß sie sich im linguistischen Instrumentarium mehr und mehr etabliert. Diskurs ist in diesem Sinne sowohl eine abstrakte Kategorie als auch ein heuristisches Instrument, das es ermöglicht, bestimmte Bereiche
220
Claudia Fraas
der (öffentlichen) Kommunikation unter inhaltlichen Gesichtspunkten zusammenzufassen, Textmengen unter bestimmten Aspekten zusammenhängend zu betrachten und sprachliche Vemetzungsphänomene zwischen Texten zu beschreiben. Der folgende Beitrag soll zeigen, daß der methodische Rahmen des oben genannten Projektes geeignet ist, die referentielle Vemetzung von Texten über Konzepte und somit einen Aspekt von Intertextualität analytisch faßbar zu machen. Wenn für den Diskurs zur deutschen Einheit auf der Grundlage großer Textmengen vorgeführt wird, wie Sprecher kommunikativ zentrale Konzepte vertexten, welche Elemente konzeptgebundenen Wissens sie dabei aktualisieren oder auch anzweifeln und pro blematisieren, wird damit auch gezeigt, wie die Sequenzen unterschiedlicher Texte über diese Konzepte aufeinander bezogen sind. Im Projekt wird dargestellt, wie sich die Konzepte in Textmengen entfalten, wie dabei aktualisierte Wissensbereiche variieren, wie allmählicher Gebrauchswandel zu Konzeptverschiebungen führen kann und wie durch diese Phänomene intertextuelle Relationen induziert werden. Der Diskurs zur deutschen Einheit eignet sich besonders für Untersuchungen dieser Art, denn er spiegelt die ganze Dynamik des deutschen Vereinigungsprozesses wider und führt anschaulich vor, wie sich gesellschaftliche Umbrüche auf sprachliche Gebrauchsmuster auswirken. Am Beispiel des Einheitsdiskurses wird es möglich, über einen relativ kurzen Zeitraum hinweg sprachliche Dynamik und Veränderungsprozesse zu verfolgen und zu zeigen, wie Sprecher Konzepte problematisieren und Bedeutungen explizit aushandeln. Dieses Aushandeln von Bedeutungen ist - wie an späterer Stelle ausführlich gezeigt werden wird - ein wesentlich intertextuelles Phänomen. Als Analysegrundlage dient ein umfangreiches computergestützt gespeichertes und recherchierbares Korpus des Instituts für deutsche Sprache, das Texte der öffentlichen Kommunikation aus den Jahren 1989-1992 enthält. Aus diesem Gesamtkorpus wurden die Texte ausgewählt, die dem Diskurs zur deutschen Einheit zuzuordnen sind, d.h. die Texte, die sich thematisch auf den deutschen Vereinigungsprozeß beziehen.
2. Der Diskurs zur deutschen Einheit Eine Gesamtschau der Korpustexte des Einheitsdiskurses läßt erkennen, daß das globale Thema des Diskurses DEUTSCHE EINHEIT in einer Reihe von_thematischen Ausdifferenzierungen behandelt wird, die jeweils bestimmte Aspekte des globalen Themas fokussieren, z.B. die folgenden:
Bedeutungskonstitution im Diskurs
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I. II.
Welche Rolle soll ein vereintes Deutschland in Europa spielen? Wie soll mit Rechtsextremismus, Fremdenhaß und Gewalt im vereinten Deutschland umgegangen werden? 111. Soll Bonn oder Berlin die Hauptstadt des vereinten Deutschland sein? IV. Wie soll die Vergangenheit der DDR bewältigt werden? V. Wie kann der Rezession begegnet werden? VI. Welche Folgen hat die Abwicklung ganzer Industriezweige und Institutionen im Osten Deutschlands? VII. Wie stehen die Deutschen zu ihrer Identität? Diese thematischen Ausdifferenzierungen sind in gewisser Weise diskursive Subthemen, denn sie fokussieren einzelne Aspekte des globalen Themas. Die Aspekte des globalen Themas, die zu thematischen Ausdifferenzierungen führen, werden als neue Information und in diesem Sinne als rhematisches Element eingebracht und von den Konzepten qer lexikalischen Einheiten getragen, die jeweils zum globalen Diskursthema DEUTSCHE EINHEIT in Beziehung gesetzt werden. Dies sind in den oben genannten diskursiven Subthemen folgende: Europa, Rechtsextremismus, Fremdenhaß, Gewalt, Hauptstadt, Vergangenheit, Rezession, Abwicklung, Osten, Deutsche, Identität
Diese lexikalischen Einheiten signalisieren den Bezug zum globalen Diskursthema, d.h. sie wirken im Diskurs wie Indikatoren für Äußerungen, die auf thematische Ausdifferenzierungen des globalen Themas Bezug nehmen. Um die thematische Struktur des Einheits-Diskurses beschreibbar zu machen, ist es wesentlich, zwei Ebenen in der Betrachtung voneinander zu trennen: die Textebene, die jeweils einen Text in den Blick nimmt, und die Diskursebene, die textübergreifende Beziehungen fokussiert. Die thematischen Ausdifferenzierungen bilden zum Teil das zentrale Thema eines Textes, oder um die Terminologie von Stutterheims (1992) zu verwenden, die Quaestio, die die Hauptstruktur und die Nebenstrukturen des jeweiligen Textes festlegt. In den meisten Fällen allerdings sind sie nicht das Textthema, sondern textintern der Nebenstruktur (vgl. von Stutterheim 1992, 164) zuzuordnen. In bezug auf das globale Diskursthema jedoch, d.h. innerhalb der referentiellen Struktur des Diskurses, erlangen diese nebenstrukturellen Textsequenzen thematische Qualität, indem sie auf einen Aspekt des globalen Diskursthemas referieren. Auf diese Weise erhalten Textsequenzen, die auf der Ebene eines Textes thematisch eine untergeordnete Rolle spielen, auf der Diskursebene unter dem Gesichtspunkt der thematischen Ausdifferenzierung des globalen Diskursthemas eine zentrale Rolle.
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Claudia Fraas
Z.B. wird in einigen Texten zum diskursiven Subthema IV (Wie soll die Vergangenheit der DDR bewältigt werden?) nebenstrukturell auch IDENTITÄT thematisiert. Damit leistet eine Textsequenz, die textintern als thematisch nebenstrukturell zu charakterisieren ist, textübergreifend einen Beitrag zum diskursiven Subthema VII (Wie stehen die Deutschen zu ihrer Identität?). D.h. diese Sequenz erhält auf der Diskursebene eine thematische Qualität, die von ihrer textinternen thematischen Qualität verschieden ist. Oder, um ein anderes Beispiel zu nennen, im Rahmen von Texten zum diskursiven Subthema I (Welche Rolle soll ein vereintes Deutschland in Europa spielen?) wird mitunter auch RECHTSEXTREMISMUS thematisiert und damit textübergreifend auf das diskursive SubthemaII (Wie soll mit Rechtsextremismus, Fremdenhaß und Gewalt im vereinten Deutschland umgegangen werden?) Bezug genommen. Auf diese Weise sind die Texte des Einheits-Diskurses referentiell vielfältig und mehrdimensional miteinander verbunden, denn die thematischen Ausdifferenzierungen des globalen Diskursthemas vollziehen sich weniger textintern, sondern vor allem intertextuell. Darin liegt eine wesentliche Ursache für die thematische Vemetzung, die den inhaltlichen Zusammenhang des Diskurses ausmacht. Im folgenden sollen diese Behauptungen anband eines Fallbeispiels genauer erläutert werden, d.h. es soll gezeigt werden, wie ein diskursiv zentrales Konzept des Einheitsdiskurses - das Konzept DEUTSCHE - zur thematischen Vernetzung der Diskurstexte beiträgt.
3. Fallbeispiel: Das Konzept DEUTSCHE im Einheitsdiskurs Der methodische Ansatz basiert auf der Annahme, daß der sprachliche Zugang zu konzeptgebundenem Wissen über in einer Sprachgemeinschaft gebräuchliche Prädikationen möglich ist (vgl. Harras 1991; Schwarz 1992; Konerding 1993). Konzepte, die in der gesamtgesellschaftlichen Auseinandersetzung brisant sind, werden in Texten der öffentlichen Kommunikation häufig prädiziert. Für den Einheitsdiskurs spielt u.a. das Konzept DEUTSCHE eine zentrale Rolle, und die Diskurstexte enthalten dementsprechend eine Vielzahl von Prädizierungen dieses Konzeptes, z.B., um nur einige wenige zu nennen:
223
Bedeutungskonstitution im Diskurs
TEXT 3:
TEXT 1:
TEXT 12:
Die Deutschen sind ruhig und friedlich geworden
Die Deutsch en hängen an de r gemeinsamen Nation
TEXT 2:
Die Deu tschen haben aus der Vergangenheit gelernt
Die Deutschen kommen selten ohne Feindbilder aus
TEXT 4:
Die Deutschen hatten schon immer ein schwach entwickeltes Nationalgefahl
TEXT 11:
Die Deutschen sind ein legitimitätsbedarftiges Volk
TEXT 10:
Die Deutschen an Autoritäten
TEXT 9:
Die Deutschen haben sich auseinandergelebt
Die Deutschen sind zutiefst konservativ
TEXT 7:
Die Deutschen hassen nicht die Fremden - eher hassen sie sich selbst
Die Deut· sehen nehmen sich zu wichtig
Wenn man die Menge der in den Diskurs-Texten verwendeten unterschiedlichen Prädizierungen von DEUTSCHE zusammenstellt, wird ein implizites intertextuelles Beziehungsgefüge erkennbar, das aus einer abstrakten Betrachterperspektive auf den Diskurs Informationen darüber liefert, wie das Konzept diskursiv verarbeitet wird, d.h. wie Sprecher das Konzept DEUTSCHE in die öffentliche Auseinandersetzung um die deutsche Vereinigung einbringen und verhandeln. Dabei können die verschiedenen Kontextualisierungen als sprachliche Spuren des Wissens interpretiert werden, das Sprecher über das Konzept haben und das sie. im Diskurs aktualisieren. So kann auf einer sehr abstrakten Ebene die diskursive Vertextung von Konzepten als komplexes und mehrdimensionales referentielles Netzwerk verstanden werden. In einem sehr vereinfachten Schema, das nur eine geringe Auswahl von Prädizierungen ent-
224
Claudia Fraas
hält, kann man sich das wie in obiger Abbildung vorstellen. Das Netzwerk der Aussagen, die die Sprecher über DEUTSCHE maGhen, setzt diejenigen Texte zueinander in Beziehung, die Prädizierungen des betreffenden Konzeptes enthalten und so einen Beitrag zur Aktualisierung von Wissen über dieses Konzept leisten. Die in den verschiedenen Rahmen dargestellten Sequenzen der Texte (die Numerierung soll keine Rangfolge verdeutlichen, sondern lediglich darauf verweisen, daß es sich hier um unterschiedliche konkrete Diskurs-Texte handelt) enthalten Aussagen von Sprechern über das Konzept DEUTSCHE, über Eigenschaften, die sie den Deutschen zuschreiben. Diese Aussagen widersprechen sich zum Teil, was ein Indiz dafür ist, daß das Konzept DEUTSCHE im Einheitsdiskurs - wie später ausführlicher zu behandeln sein wird - problematisiert und ausgehandelt wird. Wie dieses Aushandeln linguistisch systematisch und detailliert beschrieben werden kann, soll im folgenden genauer gezeigt werden. Zur Systematisierung und Aufbereitung der aus dem Korpus gewonnenen Datenmenge eignet sich ein Instrumentarium, das auf einem für die Linguistik adaptierten Frame-Konzept (Konerding 1993) beruht. Dieses Frame-Konzept geht davon aus, daß das Potential der kommunikativ sinnvollen Kontextualisierungen eines Konzeptes mit Hilfe von Frames darstellbar ist. Frames werden hier aufgefaßt als systematisch aufgestellte Listen von Fragen, die das Kontextualisierungspotential von Konzepten vorgeben und konzeptgebundenes Wissen detailliert veranschaulichen können (vgl. Minsky 1975, Winograd 1975, Konerding 1993). Der Frame für DEUTSCHE, der nach der Methode von Konerding (1993) hergeleitet wurde, enthält z.B. folgende Fragen: Frame für DEUTSCHE (gekürzt)
L I.a)
Konstitutionsrelationen und Eigenschaften In welchen gesellschaftlichen Prozessen oder Zusammenhängen spielt die Gruppe der Deutschen eine wichtige Rolle? Lb) Welche Rolle spielen bzw. welche Funktion haben die Deutschen in diesen gesellschaftlichen Prozessen oder Zusammenhängen? Lc) Woraus konstituiert sich die Gruppe der Deutschen? I.d) Wozu befähigt die Mitgliedschaft in der Gruppe der Deutschen? Welche Vorteile bringt es mit sich, Deutscher zu sein? Le) Was verbietet die Mitgliedschaft in der Gruppe der Deutschen? Welche Verbote bringt es mit sich, Deutscher zu sein? Li) Wozu verpflichtet die Mitgliedschaft in der Gruppe der Deutschen? Lg) Durch welche sonstigen Eigenschaften wird die Gruppe der Deutschen charakterisiert?
Bedeutungskonstitution im Diskurs
225
(Auf die Ausführung der Frame-Dimension n. soll hier verzichtet werden.) III. Bedeutung der Deutschen lILa) Unter welchen Bezeichnungen ist die Gruppe der Deutschen bekannt? III. b) Welche Rollen und Funktionen nimmt die Gruppe der Deutschen in Handlungen und Handlungszusammenhängen des Menschen ein? IILc) Welche Ziele verfolgt die Gruppe der Deutschen in Handlungen und Handlungszusammenhängen des Menschen? III.d) Unter welchen Bedingungen werden Aktivitäten der Gruppe der Deutschen gut geheißen? IILe) Auf welche Art und Weise wird die Gruppe der Deutschen wirksam? IILt) Unter welchen Bedingungen und aus welchen Gründen sanktioniert die Gruppe der Deutschen jemandes Verhalten oder stößt jemanden aus? III.g) Welche besonderen Aufgaben und Pflichten nimmt die Gruppe der Deutschen wahr? III.h) Welche Rechte besitzt die Gruppe der Deutschen ? Da die Frame-Fragen das Kontextualisierungspotential für das Konzept DEUTSCHE vorgeben, können die Prädizierungen von DEUTSCHE in den Diskurs texten als Antworten auf die Frame-Fragen aufgefaßt und den verschiedenen Frame-Dimensionen zugeordnet werden. Auf diese Weise wird es möglich, die Mengen der Kontextvorkommen systematisch zu erfassen und für die Analyse aufzubereiten. So sind z.B. Prädizierungen wie ,,DEUT sind y", ,,DEUT kennzeichnet y" oder ,,für DEUT gilt y" der Frame-Dimension Lg (Durch welche sonstigen Eigenschaften wird die Gruppe der Deutschen charakterisiert?) zuzuordnen. y fungiert dabei als Variable für Slots der entsprechenden Prädikationen zu DEUTSCHE, die in den konkreten Texten durch entsprechende Fillers besetzt sind. In den Korpustexten wird z.B.: die Prädikation DEUT(x) sind y sehr häufig vorgenommen. Dabei wird y unter anderem durch folgende Fillers besetzt: -eine Nation, die wie andere Nationen in Freiheit leben will (BTP 8.11.89,13040)
-ein Volk (BTP 16.11.89,13356)
-wieder wer (BTP 28.11.89,13543)
- mehr als eine Bevölkerung (Bild 11.11.89,5)
-eine Nation, die dies eigentlich gar nicht mehr sein will (Zt 3.10.91,4)
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Claudia Fraas
Diese Vorgehensweise bietet den Vorteil, die unüberschaubar große Menge der Kontextvorkommen in einen abstrakteren Rahmen stellen zu können und auf diese Weise analysierbar und vergleichbar zu machen. Die unterschiedlichen Frame-Fragen eröffnen verschiedene Dimensionen, die ein erstes Systematisierungsraster für die Prädikationen vorgeben. So können z.B. Aussagen der Sprecher zu Rollen und Funktionen der Deutschen in gesellschaftlichen Zusammenhängen (vgl. Frame-Dimension I.b) und Aussagen zu Eigenschaften der Deutschen (vgl. Frame-Dimension I. g) unterschieden und getrennt erlaßt werden. Auf der Grundlage dieser ersten groben Systematik lassen sich jeweils innerhalb der unterschiedlichen Frame-Dimensionen die Prädizierungen weiter gruppieren. Die einzelnen Frame-Dimensionen bilden also jeweils einen Rahmen für feinere Gruppenbildungen und damit eine weitere Systematisierung der Datenmenge. Wenn man z.B. die Aussagen der Sprecher über Eigenschaften der Deutschen (vgl. Frame-Dimension I.g) miteinander vergleicht, wird deutlich, daß sich die Prädizierungen aus den Texten zu inhaltlich bestimmten Verwendungsclusters zusammenfassen lassen. Diese Verwendungsclusters bündeln jeweils Aussagen der Sprecher über DEUTSCHE innerhalb einer FrameDimension unter einem ganz bestimmten inhaltlichen Aspekt. Solche Clusters deuten darauf hin, daß einzelne thematische Aspekte für den Diskurs bestimmend sind, d.h. daß sich die Sprecher mit diesen Aspekten besonders intensiv - auch kontrovers - auseinandersetzen. Diese zentralen thematischen Aspekte werden, wenn sie einmal in den Diskurs eingeführt sind, von den Sprechern immer wieder aufgegriffen und etablieren sich auf diese Weise als Diskurswissen, das bei den Diskursteilnehmern als bekannt vorausgesetzt werden kann. D.h., Sprecher referieren immer wieder darauf und setzen voraus, daß die Rezipienten in der Lage sind, die intendierten Dekodierungen vorzunehmen. Die Befunde aus dem Einheitsdiskurs zeigen, daß die Aussagen der Sprecher zu Eigenschaften der Deutschen (vgl. Frame-Dimension I.g) z.B. Clusters bilden, die durch folgende Thesen überschrieben werden können: (1) (2) (3)
Die Ost- und Westdeutschen sind ein Volk Ga oder nein) Die Ostdeutschen sind leistungsfähig und den Westdeutschen ebenbürtig Ga oder nein) Die Deutschen sind autoritätshörig, und steif Ga oder nein)
Die kontroverse Behandlung dieser Thesen ist ein Indiz dafür, daß das Konzept DEUTSCHE im Diskurs brisant wird.
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Bedeutungskonstitution im Diskurs
3.1 "Die Ost- und Westdeutschen sind ein Volk" Betrachten wir zunächst die These (1), die den Rahmen für den ersten Verwendungscluster bildet. In der linken Spalte der untenstehenden Tabelle werden Aussagen der Sprecher aufgelistet, die die These (1) positiv, in der rechten Spalte solche, die sie negativ auslegen. Die Aussagen werden formal zum einen als ,,DEUT sind y", zum anderen als ,,DEUT haben y" realisiert, wo bei jeweils die Fillers für y varüeren und die wesentliche Vergleichsgrundlage bilden .. s ist eine Variable für sprachliche Hinweise auf Vertextungsstrategien und Sprechereinstellungen im weitesten Sinne, hier z.B. für den expliziten Bezug auf andere Sprecher und Äußerungen. Durch Anstrich wird jeweils eine neue Textaktualisierung eines Prädikates eingeleitet.
Die Ost- und Westdeutschen sind ei n Volk ja
I
nein
DEUTsindy - y:
ein Volk
(BTP 16.11.89,3356)
- y:
sich fremd
(FR 12.5.90,25)
- y:
vor wenigen Tagen erst äußerte Günter Grass noch nicht reif für die Einigung
- s:
nein - ich kann dem Diktum - y: fast ein halbes Jahrhundert lang (des Münchner Historikers getrennt und haben sich weiter Christian Meier) keineswegs auseinandergelebt, als sie selbst beipflichten wahrnahmen eine "Nation, die dies eigentlich (Zt 15.2.91,3) gar nicht mehr sein will"
jetzt wieder unauflöslich mitein- - s: ander verbunden (BTP 21.6.90,757) y:
(BZ 9.3.91,5)
y:
(Zt 3.10.91,4)
DEUT haben y - y:
- y: sich auseinandergelebt mehr gemeinsam als andere, nämlich Geschichte, Kultur und (FA 15.5.90,7) Sprache
(FA 6.5.89,31)
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Claudia Fraas
Die großen Demonstrationen vom Herbst 1989 in der ehemaligen DDR haben mit ihrem Slogan Wir sind ein Volk die Ausgap.gsthese einer unerschöpflichen Debatte geliefert, die immemoch anhält. In allen in der Tabelle zitierten Textsequenzen formulieren die Sprecher ihre Auffassung dazu, ob die Ost- und Westdeutschen ein einheitliches Volk sind oder nicht. In allen Äußerungen wird somit die Grundthese aufgenommen und entweder positiv oder negativ ausgelegt. Alle diese Äußerungen sind also implizit auch mit dem Demo-Slogan Wir sind ein Volk verbunden. In vielen Fällen wird der Bezug auf Äußerungen anderer Sprecher auch ganz explizit hergestellt. In den zitierten Beispielen oben wird die jeweilige Bezugsäußerung einmal zurückgewiesen und einmal zitierend aufgenommen (nein - ich kann dem Diktum (des Münchner Historikers Christüin Meier) keineswegs beipflichten / vor wenigen Tagen erst äußerte Günter Grass). Der Demo-Slogan Wir sind ein Volk vom Herbst 1989 wird in Textse-
quenzen der nachfolgenden Jahre immer häufiger in Zweifel gezogen, kritisiert oder auch persifliert. Ein typisches Beispiel dafür, wie ein Sprecher wörtlich auf diesen Slogan referiert und ihn ironisiert, um die Unterschiede der Ost- und Westdeutschen zu betonen, ist folgende Sequenz: Obwohl sie derzeit beide noch die Unterschiede betonen, sind zumindest in einem Punkt die jungen Deutschen aus Ost und West ein Volk: Sie drücken sich vor der Verantwortung. (BZ 4.5.91,3)
In Äußerungen wie dieser werden also beide Seiten der Grundthese, wie sie in der obenstehenden Tabelle durch die rechte und linke Spalte dargestellt sind, aufgenommen und so gleichzeitig indirekt ein Aspekt des Diskur~es mit den entsprechenden Äußerungen anderer Sprecher kommentiert. Eine Art Zusammenfassung der Kontroverse liefert der Autor folgender Textsequenz, der sich zitierend auf einen prominenten Sprecher des Diskurses (Wolf Lepenies, Rektor des Wissenschaftskollegs zu Berlin) beruft: Die Bevölkerung der DDR ist ... in einer anderen Lage als Ungarn, Tschechen, Slowaken und Polen. Zum einen hat sie ihre eigene staatliche Existenz aufgegeben und muß nun bis auf weiteres mit den zwischen Ost- und Westdeutschen bestehenden Asymmetrien des Wohlstands, der sozialen Sicherheit und des historischen Erfahrungszusammenhangs leben. Sie muß sich mit der massiven Mehrheit der "Nicht-Betroffenen" arrangieren, und das auf längere Zeit: " Vereint im Sinne nicht nur der Angleichung der Lebenschancen, sondern einer zunehmenden Übereinstimmung der Lebenslagen, zu der eine gemeinsame Zukunftsperspektive ebenso gehört wie eine miteinander geteilte historische Identität, werden erst jene Deutschen sein, die nach dem 3. Oktober 1990 geboren wurden" (Lepenies). (Zt 3.4.92,82)
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Bedeutungskonstitution im Diskurs
3.2. "Die Ostdeutschen sind leistungsfähig und den Westdeutschen ebenbürtig" In engem Zusammenhang mit der These (1) ist die These (2) zu sehen, denn sie baut in gewisser Weise auf dieser auf, nämlich auf der Frage, ob die Deutschen als ein einheitliches Volk anzusehen sind oder ob die Unterschiede zwischen Ost-und Westdeutschen überwiegen. Ebenso wie die These (1) wird auch die These (2) im Einheitsdiskurs kontrovers verhandelt. Textsequenzen wie die in der linken Spalte der untenstehenden Tabelle, die z.T. geradezu euphorisch Anerkennung und Bewunderung gegenüber den Ostdeutschen ausdrücken, stammen alle aus der unmittelbaren Wendezeit (Herbst 1989) bis zur Zeit kurz vor der Volkskammerwahl (Anfang März 1990). Bereits kurz nach der Wahl kündigt sich ein Umschwung der positiven Bewertung und ein allmählicher Übergang zur Distanz an. Das Pathos klingt ab, und Deftzite der Ostdeutschen werden thematisiert, jedoch immer noch mit Sympathie und Verständnis und dem deutlich erkennbaren Willen zur Unterstützung einerseits und zum Einbringen ostdeutscher Anstrengungen und Werte andererseits.
Die Ostdeutschen sind leistungsfahig und den Westdeutschen ebenbürtig ja
nein DEUT(OST) sind y
- y:
tüchtig, gut ausgebildet und be- - y: gierig nach Erfolg
(Bild 11.11.89,5)
nach dem Kraftakt des Umbruchs physisch, psychisch, sozial, geistig überfordert
(Zt 5.7.91,60)
DEUT(OST) haben y DEUT(OST) waren immer y - y: große Chancen gegenüber man- - y: die Deutschen zweiter Klasse (Zt 15.2.91,3) chem Westdeutschen. Da ist viel Bildung, viel Solidität, auch viel Erfahrung und Kraft, schwere Situationen zu überwinden (BZ 13.8.91,2-3)
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Claudia Fraas
DEUT(OST) haben y getan - s: wir empfinden Stolz darüber, daß y: mit ihrem friedlichen Eintreten für Freiheit, für Menschenrechte und Selbstbestimmung ein Beispiel ihres Mutes und ihrer Freiheitsliebe gegeben (Kohl Reden 2/90,112)
Sofort mit der Realität der Vereinigung beider deutscher Staaten (Oktober 1990) setzt ein massives Umschlagen der ·sprachlichen Signale von positiven auf negative Bewertungen ein: Die Deutschen der Ex-DDR werden - wie einst die Ostfriesen - als Deppen der Nation verspottet. (Sp 15.10.90,146)
In den meisten Texten seit dem Herbst 1990 werden die Ostdeutschen - im Gegensatz zu den Aussagen vom Herbst 1989 - mit negativen Werturteilen belegt. Die Ostdeutschen werden nicht mehr als souveränes Subjekt der Geschichte dargestellt, sondern als überfordert, unselbständig, unfähig und eigennützig: Die Ostdeutschen sind nach dem Kraftakt des Umbruchs physisch, psychisch, sozial, geistig überfordert. Ständig wird ihnen von den Großwessis deutlich gemacht, wie unselbständig sie sind. (Zt 5.7.91,60)
Positive Aussagen über die Ostdeutschen werden meist nur noch in ostdeutschen Medien formuliert: Ich sehe, daß viele Ostdeutsche große Chancen gegenüber manchem Westdeutschen haben. Da ist viel Bildung, viel Solidität, auch viel Erfahrung und Kraft, schwere Situationen zu überwinden. (BZ 13.8.91,2-3)
Die überhöhte positive Sicht der Wendezeit auf die Ostdeutschen wird relativiert und zurückgewiesen: Ob die Ostdeutschen - wie oft behauptet - die "besseren" Deutschen sind, erscheint höchst fraglich . ... Auch die Ostdeutschen dachten zuerst an sich; auch bei ihnen ließe sich aufzählen, was sie schon immer vergaßen, verdrängten oder nach ihren Bedürfnissen zurechtrückten. (Zt 15.2.91,3)
231
Bedeutungskonstitution im Diskurs
Mit diesem Bewertungswandel geht einher, daß das Verhältnis von Ost- und Westdeutschen ins Zentrum des Interesses rückt und immer häufiger thematisiert wird.
3.3 "Die Deutschen sind autoritätshörig und steif" Eine dritte Kontroverse, die sich durch den Einheitsdiskurs hindurchzieht, betrifft das Image der Deutschen, das u.a. durch das Stereotyp "die Deutschen sind autoritätshörig und steif' charakterisiert werden kann (vgl. These (3)). Im Einheitsdiskurs wird dieses Stereotyp in einigen Textsequenzen bestätigt, in anderen in Zweifel gezogen. Wieder gibt es metasprachliche Hinweise auf andere Texte, darüber hinaus auch darauf, daß das Stereotyp als bekannt und als mehrheitlich akzeptiertes Wissen vorausgesetzt wird. Andererseits wird diese Akzeptanz angegriffen und eine Umbewertung vorgenommen (ich glaube nicht an das Klischee ... im Gegenteil ... ):
Die Deutschen sind autoritätshörig und steif ja
I
nein
DEUT(x) sind y
- y:
sehr gehorsam, das heißt sie - s: können ihre eigenen Gefühle y: nicht so offen rauslassen, wenn es keine Erlaubnis von oben s: gibt y:
(taz 23.12.89,12)
ich glaube nicht an das Klischee besonders steif, diszipliniert oder einfallslos im Gegenteil: das beweglichste Volk auf Erden
(Zt 26.7.91,5)
232 - s:
y:
Claudia Fraas
mir fiel soeben ein Zitat von Lenin ein: ein legitimitäts bedürftiges Volk, sie würden auch noch eine Fahr karte für den Bahnsteig lösen, bevor sie ihn stürmen
(VT 19.4.90,52)
- y:
ein Volk ohne jeden revolutionären Geist
(stern 29.3.90,23)
DEUT tun y DEUT sind y geworden - y: klammem sich an Autoritäten, - y: allmählich lässiger, schlitzohrian den Staat, an Verordnungen ger geworden, sie haben pfuund Gesetze schen und vertuschen gelernt; (Zt 25.9.92,59) auch die Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit haben Risse bekommen; selbst die Treue zum Staat, der Respekt vor Autoritäten und Hierarchien haben spürbar nachgelassen (Zt 25.9.92,59)
Anband der Beispiele sollte klargeworden sein, wie unterschiedliche Sprecher in unterschiedlichen Texten ein Konzept variierend wiederaufnehmen, sich auf andere Sprecher oder Äußerungen beziehen und z.T. explizit über Eigenschaften verhandeln, die sie diesem Konzept zuschreiben. Die variierende Wiederaufnahme und Problematisierung der Konzepte wird von den Sprechern zum Teil durch metasprachliche Äußerungen verbal unterstützt, indem sie sich explizit zustimmend oder ablehnend auf andere Äußerungen zum betreffenden Konzept beziehen. Dieser Bezug wird z.B. durch Formulierungen hergestellt wie es ist genau umgekehrt, wie Meier es sehen möchte ... / ... wie die Präambel des Einigungsvertrages so trefflich falsch sagt, ... / entgegen dem Votum Christian Meiers ... / .,. nein, ich kann dem Diktum des Münchener Historikers Christian Meier keineswegs beipflichten ... / ich entgegnete dem Ex- Verteidigungsminister Rupert Scholz, der kürzlich in einer Fernseh-Diskussion die Meinung vertrat ... Mit Hilfe solcher metasprachlicher Äußerungen sagen Sprecher, was sie von der Äußerung anderer Sprecher halten und wie sich ihre eigene Meinung dazu verhält. Auf diese Weise wird der Bezug auf Sequenzen anderer Diskurs-Texte verbal expliziert.
Bedeutungskonstitution im Diskurs
233
4. Schluß Die Ausführungen dieses Beitrages sollten deutlich gemacht haben, daß die systematische Betrachtung der Kontextualisierung diskursiv zentraler Konzepte in Textmengen ein methodischer Weg sein kann, intertextuelle Bezüge zu beschreiben. Indem die Konzepte relativ zu einer globalen Einordnungsinstanz, dem Diskursthema, varüerend wiederaufgenommen werden, entstehen textübergreifende Zusammenhänge, die die inhaltlichen Vemetzungsrelationen des Diskurses unterstützen.
5. Kürzel der Text-Quellen Bild BTP BZ
FA FR Kohl Reden Sp stern taz VT Zt
Bildzeitung (Tageszeitung) Bundestagsprotokolle Berliner Zeitung (Tageszeitung) Frankfurter Allgemeine. Zeitung für Deutschland (Tageszeitung) Frankfurter Rundschau. Unabhängige Tageszeitung Bundeskanzler Helmut Kohl: Reden und Erklärungen zur Deutschlandpolitik Der Spiegel. Das deutsche Nachrichten-Magazin (Wochenzeitung) stern. Das deutsche Magazin (Wochenzeitung) taz (Tageszeitung) Volkskammertagungen (Protokolle) Die Zeit. Wochenzeitung für Politik, Wirtschaft, Handel und Kultur
6. Verzeichnis der zitierten Literatur Busse, Dietrich/Teubert, Wolfgang (1994): "Ist Diskurs ein sprachwissenschaftliches Objekt? Zur Methodenfrage der historischen Semantik", in: Busse, Dietrich/Hermanns, FritziTeubert, Wolfgang. (Hrsg.): Begrijfsgeschichte und Disku rsgesch ich te. Methodenfragen und Forschungsergebnisse der historischen Semantik, Opladen, S. 10-28. Foucault, Michel (1985): Die Ordnung des Diskurses, FrankfurtlM. Harras, Gisela (1991): "Zugänge zu Wortbedeutungen", in: Harras, GiselaJHaß, UIrike/Strauß, Gerhard: Wortbedeutungen und ihre Darstellung im Wörterbuch, BerliniNew York, S. 3-96.
234
Claudia Fraas
Konerding, Klaus-Peter (1993): Frames und lexikalisches Bedeutungswissen. Untersuchungen zur linguistischen Grundlegung einer Fraf(letheorie und zu ihrer Anwendung in der Lexikographie, Tübingen. Minsky, Marvin (1975): "A Framework for Representing Knowledge", in: Winston, Patrick Henry (ed.): The Psychology 0/ Computer Vision, New York, S. 211278. Schwarz, Monika (1992): Kognitive Semantiktheorie und neuropsychologische Realität. Repräsentationale und prozedurale Aspekte der semantischen Kompetenz, Tübingen. von Stutterheim, Christiane (1992): "Quaestio und Textstruktur", in: Antos, GerdiKrings, Hans (Hrsg.): Textproduktion. Neue Wege der Forschung, Trier, S.159-171. Winograd, Terry (1975): "Frame Representation and the DecIarativeIProcedural Controversy", in: Bobrow, DanieVCollins, Allan (Hrsg.): Representation and Understanding. Studies in Cognitive Science, New York, S. 185-210.
Elke RößIer (Potsdam)
Intertextualität in Zeitungs texten - ein rezeptionsorientierter Zugang 1. 2. 3. 3.1 3.2 3.3 4.
Vorbemerkung Zur Untersuchungsperspektive Beispielanalysen Intertextuelle Titel Intertitularität als Musterbezug Intertextualität und Textverstehen Verzeichnis der zitierten Literatur
1. Vorbemerkung Intertextualität (IT) als Verweis eines gegebenen Textes auf einen oder mehrere andere Texte gehört zu unserer sprachlichen Alltagserfahrung in allen Kommunikationsbereichen. Während es auf dem Gebiet der Literatur schon lange Analysen und Beschreibungen solcher Strategien gibt, fehlen ähnlich umfassende Darstellungen für den Bereich nichtliterarischer Texte. Da IT als Textmerkmal jedoch für alle Texte gelten soll, müßte es auch ein Interesse der Textlinguistik sein, ihr Funktionieren für diesen Kommunikationsbereich zu beschreiben und zu erklären. Ich wende mich deshalb intertextuellen Verwendungen in Texten der Tagespresse zu und konzentriere mich auf die Wechselbeziehung Text und Rezipient im Textverstehen.
2. Zur Untersuchungsperspektive Ich gehe davon aus, daß auch im nichtliterarischen Kommunikationsbereich wenn auch in anderer Form als bei literarischen Texten! - die Potenz derartiger Referenzen, in ökonomischer Weise auf Informationen, welche bereits durch andere Texte vermittelt wurden, zurückzugreifen2 , in unterschiedlichen Formen gezielt eingesetzt wird.
1
2
V. a. aufgrund der Andersartigkeit der Rezeptionsbedingungen (Leseinteressen, -erwartungen und -strategien sind grundSätzlich verschieden) als auch zum Teil anderer intertextueller Verfahren und Art der Bezugstexte. D. h. bestimmte Vortextinformation sowohl vorauszusetzen als auch weiterzugeben und damit deren Bedeutungspotential für die eigene Textkonstitution nutzbar zu machen.
236
EIke Rößler
Das heißt, für die Betrachtung des Textverstehens wird grundsätzlich davon ausgegangen, daß intertextuelle Verweise auf andere Texte zielgerichtet "rezipientenbezogen funktionalisiert" (Schulte-Middelich 1985, 206) werden. Die im Text gesetzten (intertextuellen) Signale fungieren dann als textuelles Angebot und Anweisungspotential an Leser, die entsprechenden Bezüge unter Hinzunahme textuelIen Vorwissens (sowie situativer Merkmale) im Leseakt herzustellen und zu verarbeiten. Die Forderung nach intertextueller Lektüre verlangt somit vom Leser eine besondere Rezeptionshaltung, die als "zweidimensional" (Stempel 1983, 97) charakterisiert werden kann; sie umfaßt sowohl die syntagmatische Dimension fortschreitender Abarbeitung des linearen Textes als auch die vertikale Dimension der Erkennung, Präsenthaltung und Differenzerfahrung von Vortexten. Letzteres meint, daß Rezipienten auch die Neugestaltung in der Verbindung unterschiedlicher Textexemplare ermitteln und in einen sinnvollen Zusammenhang bringen sollen3 und nicht nur beim Erkennen einer intertextuelIen Relation als Aha-Erlebnis stehenbleiben. Entscheidende Folge einer solchen Verarbeitungsleistung sollen dann Mehrfachkodierungen, Zusatzstrukturierungen oder Sinnkomplexionen im Verstehensergebnis sein; R. Lachmann (1984, 134) spricht sogar von einer semantischen Explosion, die in der Berührung der Texte geschieht. Insgesamt werden jedoch derartige Theoriepostulate in der Forschungsdiskussion, soweit ich das überblicke, derzeit analytisch hauptsächlich produzenten- bzw. textseitig abgeprüft, d. h., vorrangiges Interesse erfahren vor allem intertextuelle Produktionsstrategien von Autoren sowie deren Konkretisierung innerhalb des Textautbaus. Die Rezipientenperspektive, inwieweit also intertextuelle Strategien in Texten von konkreten Sprachteilnehmern auch tatsächlich wahrgenommen und verarbeitet werden, wird - obwohl man ihre Wichtigkeit unterstreicht in der Regel nicht weiter untersucht bzw. nur aus der Perspektive des professionellen Interpreten und Beobachters in den Blick genommen. Damit bleibt jedoch die Frage nach der Bedeutung von IT im genuinen Rezeptionsakt, der sich von wissenschaftlicher Textanalyse und Interpretation wesentlich unterscheidet, grundsätzlich bestehen.
3
Denn: "Die ,Intertextualität' ist keine bedeutungsleere und intentionslose Verweisung", sondern Texte werden in ein je bestimmtes Verhältnis gesetzt. Dies kann ein Verhältnis der "Applikation sein oder der Überbietung, der Aufbietung einer Autorität, der ironischen Distanznahme, der Erweiterung, der Korrektur oder der Ausschöpfung eines Spielraums, der durch den vorgängigen Text oder durch eine Folge vorgängiger Texte gesetzt ist." (Stierle 1983, 15).
Intertextualität in Zeitungstexten
237
Denn es kann keinesfalls von vornherein angenommen werden, daß Rezipienten angelegte intertextuelle Verweise auch identifIZieren und die entsprechenden Vortexte kennen. Und die Forderung nach zweidimensionaler Lektüre scheint auch dann nicht zwingend geboten, "soweit der Leser eigenständig zu einem befriedigenden Konkretisationsergebnis gelangt" (Stempel 1983,102). An diese Hypothesen knüpft sich unmittelbar mein Untersuchungsanliegen für die Rezeption intertextuell konstituierter Zeitungstexte. Es ist zu fragen, inwiefern das Erkennen eines intertextuellen Bezugs beim Lesen eines Textes überhaupt möglich, nötig und tatsächlich von konkreten Rezipienten geleistet wird und zur angenommenen Bereicherung der Textbedeutung führt. Dies ist natürlich nur im Zusammenhang mit Textanalysen und empirischer Datenerhebung zu Verstehensergebnissen sinnvoll diskutierbar. Dieses Anliegen, sich kognitiven Zuständen von Rezipienten sowie deren Inanspruchnahme in Verarbeitungsleistungen im Prozeß des Textverstehens zu nähern, konfrontiert die Analyse mit nicht unerheblichen methodischen Problemen und Schwierigkeiten, da diese Prozesse nicht unmittelbar zugänglich sind. Da jedoch die Beschäftigung mit IT und Rezeption zwangsläufig zu Fragen der Wahrnehmung, der Wissensrepräsentation und -verarbeitung von Texten, als einem wichtigen und nicht zu unterschlagendem Faktum im Kommunikationsprozeß führt, muß es m. E. auch Aufgabe der Textlinguistik sein, sich diesen Fragen zu stellen. Hierbei greife ich auf Erkenntnisse von Nachbardisziplinen wie Psycholinguistik, Sprachpsychologie, Gedächtnisund KI-Forschung zurück, die entsprechende Modelle und Methoden auch für eine kognitiv orientierte Textlinguistik zur Verfügung stellen. Für die Betrachtung des Textverstehens lege ich ein dynamisches Modell, das Mehrebenenmodell der strategischen Bedeutungsanalyse von Kintschlvan Dijk (1983) zugrunde, welches die aktive Rolle des Rezipienten bei der Konstruktion eines kohärenten Textes hervorhebt und sowohl text- als auch wissensgeleitete Vorgänge integriert. Bottom-up-Prozesse als textgeleitete Kohärenz werden hier als propositionale Integration in permanenter Interaktion mit top-down-Prozessen modelliert, da das Zusammenfügen von Propositionen Wissen (auch textuelles Vorwissen) immer schon voraussetzt. Für die Beschreibung und Analyse intertextueller Formen im Text und intertextueller Rezeption4 scheint es ein aufschlußreiches und methodisch umsetzbares Konzept zu sein, da auch das Angebot intertextueller Textelemente 4
Hierbei stehen natürlich nur die Resultate von Verstehensleistungen mittelbar über produzierte Texte der Rezipienten zur Verfügung, was wiederum einen nicht unerheblichen Interpretationsspielraum für die/ den Analysierende(n) schafft.
238
EIke Rößler
als Öffnung des Textes auf Sinnangebote anderer Texte als kognitive Leistung des Rezipienten begriffen werden kann. Methodisch unterscheide ich dann für die Analyse von IT (in Anlehnung an Grübel 1983, 227 ff.) zwischen Textintertextualität als den Verweisformen, die anhand einer gegebenen Textstruktur dingfest gemacht werden können, was empirische Textanalysen transparent machen sollen, und Rezeptionsintertextualität als den Text-Text-Beziehungen, die ein konkreter Rezipient im Textverstehen herstellt, was im Experiment mittels Methoden wie freie Reproduktion, Assoziations- und Lückentest sowie Fragebo generhebungen getestet wurde. Ein Rezipient wird, so meine Vermutung, ausgehend vom situierten Text, signalisierte Bezüge der textuellen Anweisungsmenge auf andere Textvorkommen wahrnehmen oder nicht bemerken, oder aber er stellt aufgrund individueller Vorkenntnisse zusätzliche, darüber hinausgehende oder auch andere Relationierungen her. Text-IT meint aber zunächst noch sämtliche intertextuellen "Gebundenheiten", die ein Text mit anderen Texten auf der Textoberfläche eingehen kann. Ich unterscheide hier folgende Typen intertextueller Referenz:
REFERENZ- Einzeltextrefe-
SystemrefeSystemrefeSystemrerenz als allrenz als Text ferenz als sortenreferenz Diskurs typ- gemeine Textreferenz (1) (2) referenz (3) (4) formale a) Vollständiger a) Vollständi- Subtyp von abstrakteste Ausprägung Referenztext ger Referenz- (4): journa- Form der im Text Referenz auf -Titel text (Text als listischer -Neuabdruck Ver-treter einer Diskurs; be- allgemeine Texts orte) stimmte cha- tex tkonstitutive Normen6 rakteristische b) Referenzb) ReferenzSchreibweitextelemente textelemente -Zitat -Reproduktion sen, Text-
TYP
6
renz5
w
Die Begriffe Einzeltextrejerenz und Systemrejerenz übernehme ich von Broich und Pfister 1985,48 und 52 ff. "Jeder sprachliche Text ist als sprachliches Konstrukt und als textuelle Einheit prinzipiell auf alle anderen zu beziehen, steht er doch mit ihnen in der, wenn hier auch sehr abstrakten und allgemeinen, Similaritätsrelation gleicher oder ähnlicher textkonstitutiver sprachlicher Normsysteme." (Pfister 1985, 53).
Intertextualität in Zeitungs texten
-Anspielung -Namen -Motive etc.
formaler Strukturen -metakomm. Verweis usw.
239
aufmachungen
Typ (1) und (2) machen den Kembestand konkreterer Formen der IT aus, wobei innerhalb dieser Gruppen wiederum Abstufungen in der Komplexität und Abstraktheit vorliegen: Typ b) ist jeweils spezifischer als a), Typ (1) insgesamt weniger komplex als (2). Ich schließe mich enger gefaßten IT-Konzepten an, mit deren Hilfe vor allem verschiedene Formen konkreter Bezüge zwischen sprachlichen Einzeltexten beschrieben werden können (also (1) und (2». TYP (3) und (4) werden somit aus der Betrachtung ausgeschlossen, weil diese nur in mittelbarer oder recht abstrakter Verbindung zu einem Ausgangstext stehen, da alle (wie in (4» oder alle journalistischen Texte (3) von den entsprechenden Mitteln ständig Gebrauch machen, "ohne darauf zu verweisen" (PfIster 1985, 54). Und auch Typ (2a) als allgemeiner Bezug auf einen bestimmten textsortenmäßigen Zusammenhang mit einer Gruppe von Texten soll nicht Gegenstand meiner Analysen sein. Als Aktualisierung eines komplexen Musters könnte der fragliche Text aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer Gruppe von Texten mit gleichen oder ähnlichen Merkmalen und Funktionen dann höchstens in seiner relativen Ähnlichkeit! Verschiedenheit erfaßt werden, was vor allem theoretisch zu Fragen der Musterbildung von Gattungen bzw. Textsorten führt. Andererseits fmden sich jedoch auch innerhalb von Texten bestimmte feste syntaktische Formeln und Wendungen als konkreterer Verweis auf Texte anderer Sorten wie: "Es war einmal... ", "nur die Wahrheit und nichts als die Wahrheit", "im Namen des Volkes" usw., die auf bestimmte andersartige Kommunikations- und Sinnzusammenhänge eben dieser Textgruppen anspielen, wovon Leser in der Regel Kenntnis haben und die in ihrer Differenz zum betrachteten Text auch erfahrbar werden. Solche expliziten Verweise auf Textgruppen, die sich in der Reproduktion von konkret benennbaren Vortextelementen oder auch in metasprachlicher Explikation ("Wer glaubt, hier wird ein Märchen erzählt... ") äußern können, rechne ich mit zum Kembestand einer enger verstandenen IT und beziehe sie in die Analyse ein7 . Damit konstituiert sich das Untersuchungsfeld - immer im Hinblick auf die These der Bedeutungsbereicherung - auf die Summe aller möglichen
7
Auch weil diese meist zugleich einen konkreten Einzeltext mitaufrufen.
240
Elke Rößler
Verfahren der Übernahme konkreterer Textelementeund -strukturen, da diese Bezüge für das Textverständnis als in besonderem Maße sinnstiftend angesehen werden können. Diese können dann in qualitativ und quantitativ unterschiedlicher Weise einen gegebenen Text "durchkreuzen"; für die Textanalyse schlage ich folgendes Analyseschema vor, welches die unterschiedlichen Referenztypen zusätzlich spezifiziert: 1. Ort der Bezugnahme im Text, d. h., an welcher Stelle im Text bzw. auf welcher der verschiedenen Ebenen der Textkonstitution sind sie angesiedelt, 2. Referenztyp/ Art der Bezugnahme (vgl. Tabelle (la)-(2b): Unterformen: Zitat, Anspielung, metakommunikativer Verweis, Motto etc.), 3. Anzahl und Verteilung der Prätexte, auf die der untersuchte Text verweist, 4. Umfang reproduzierter fremder Textmaterialien. Hier kann das Spektrum von punktueller Wiederaufnahme einzelner vorgeprägter Schlüsselwörter über die Reproduktion größerer Textpassagen bis zum Ganztext reichen, der permanent als Folie dient, 5. Grad der Veränderung reproduzierter fremder Textteile auf einer Skala von maximal wörtlicher Wiederholung bis zu partiellen oder größeren Abänderungen und 6. Art und Weise der Markierung eines Text-Text-Kontaktes. Hier gibt es natürlich einmal die generelle Möglichkeit deutlicher Kennzeichnung durch verschiedene graphische Marker wie Zitieranführungen, Kursivoder Fettdruck, explizite Quellenangaben und dergleichen. Insgesamt korrespondiert jedoch mein sechstes Kriterium immer auch mit den Punkten 1.-5., und zwar in besonderem Maße - wie in den folgenden Textbeispielen -, wenn a) der intertextuelle Bezug im Titel als exponierter Textstelle erscheint, auch wenn zusätzliche graphische Marker fehlen, b) Anspielungen verwendet werden, die, da sie oft als in besonderem Maße bekannt vorausgesetzt, generell nicht als solche gekennzeichnet werden, bzw. c) der Grad der Veränderung so groß ist, daß eine intertextuelle Strategie kaum noch erkennbar ist, ja vielleicht bewußt verschleiert werden soll (wie z. B. im Fall des Plagiats). In den folgenden Analysen werde ich mich auf diese Punkte beschränken und versuchen, deren Auswirkungen auf die Rezeption zu zeigen.
Intertextualität in Zeitungstexten
241
3. Beispielanalysen Meine Untersuchungen zu Formen und Funktionen von IT in der Tagespresse basieren auf einem Korpus von mehr als 200 schriftlichen Texten verschiedener Textsortenzugehörigkeit unterschiedlicher Tages- und W ochenzeitschriften sowie auf Wiedergabeexperimenten und Fragebogenaktionen mit Studenten der Universität Potsdam. Dabei habe ich mit unterschiedlichen Methoden zum einen Wiedererkennungsleistungen als auch vorhandenes Vorwissen geprüft. Teilweise wurden dafür Textbeispiele isoliert gegeben und nach dem Erkennen· eines Vortextes gefragt. Das waren nicht immer nur Titel, sondern auch Anspielungen, Zitate, prägnante Schlüsselwörter u. a., die authentischen Texten entnommen wurden. Weiterhin wurde die Beziehung intertextueller Titel und Ko-Text in der Rezeption (auch in Verbindung mit dessen (des Titels) formaler Verfremdung) ins Verhältnis gesetzt sowie Ganztexte ohne intertextuellen Titel, aber mit einer Fülle anderer intertextueller Formen zum Lesen gegeben und anschließend zur Wiedergabe des wesentlichen Textinhalts aufgefordert. Ich werde also nur einen kleinen Einblick geben können. Zunächst bespreche ich intertextuelle Titel, auch weil diese Art der Bezugnahme eine sehr häufig auftretende Form in Zeitungstexten ist.
3.1. Intertextuelle Titel Die folgenden Textbelege sind Anspielungsstrategien im Titel von N achrichten, Werbetexten, Feuilletons u. a., die zur Illustration der Fülle von Verweisen, ihrer unterschiedlichen formalen Ausprägung, der verschiedenen Herkunft und Inhalte der Bezugstexte dienen sollen. Aus Platzgründen mußte auf die dazugehörigen Ko-Texte verzichtet werden. Für fast alle Texte kann man aber feststellen, daß der intertextuelle Bezug nur punktuell, d. h., ohne daß umfangreiche Elemente oder Strukturen des jeweiligen Vortextes reproduziert werden, ja der Verweis oft nur auf den Titel beschränkt bleibt, angelegt ist. Formal ist weiterhin interessant, daß der Bezug auf Vortexte an der Textoberfläche unterschiedlich deutlich zutage tritt, was im Fall der Anspielung generell unmarkiert bleibt. Ich unterscheide hierbei zwischen voller und partieller formale.r Identität (vgl. a) und b)). Die Beispiele unter b) "spielen" mit dem Bezugstext derart, daß Elemente verändert, ausgelassen oder erweitert werden (die Abänderungen des Originals entsprechen hier den kursiv gesetzten Teilen).
242
ElkeRößler
Rezipienten müssen in diesem Fall, um entsprechende Beziehungen herstellen zu können, die Ähnlichkeit der syntaktischen/lexikalischen Fügung wiedererkennen. Eine Teilidentität muß also wenigstens gewahrt bleiben, damit die Quelle noch erkennbar wird. a) volle formale Identität: 1.
Das doppelte Lottchen
(Werbetext für Swatch Twinphon, in: Tip 21/1992, 48; - Romantitel Erich Kästners)
2.
Auferstanden aus Ruinen
(Feuilleton über den Wiederaufbau der Frauenkirche in Dresden, in: Die Zeit 3.9.1993 - erste Zeile der Staatshymne der ehemaligen DDR)
Auferstanden aus Ruinen
(Kommentar über Klinik Beelitz Heilstätten, in: Tip 17/1995, 63)
3.
Sag mir, wo die Blumen sind
(Feuilleton über die Erfolgsgeschichte einer Modeschöpferin, in: Die Zeit 24.9.1993, 91 - Liedtitel)
4.
Götterdämmerung
(Kommentar über das Rechtsbündnis in Italien, in: Welt am Sonntag 3.4.1994,9 - Operntitel»
5.
Jenseits von Afrika
(Rezension über eine Lesung, in: Potsdamer Universitätszeitung 13.1.1992, 12 - Filmtitel)
6.
Der fremde Freund
(Feuilleton über Russen in Berlin, in: Berliner Zeitung 24.8.1995, 29 - Erzählung Chr. Heins)
b) partielle formale Identität:
7.
Autos, Autos über alles, über alles in (Bildkarikatur, in: Wohnen 1/1993, Berlin ... 23 - Deutschlandlied)
8.
Tausend rote Nelken tür den guten (Kommentar über die Verhandlung Menschen von Dresden zur Wahlfälschung von H. Modrow, in: Tagesspiegel 21.4.1993, 3 - Der gute Mensch von Sezuan (B. Brecht»
9.
Spiel uns das Lied von Tod und (Feuilleton über eine Theaterinszenierung, in: Tagesspiegel 2.5.1993, 24
Intertextualität in Zeitungstexten
Hoffnung
10.
243
- Filmtitel: Spiel mir das Lied vom Tod)
Krauses Dichtung und der Ostabge- (Kommentar: Der Bundesverkehrsminister zieht erfolgreich Zwischenbiordneten Wahrheit lanz, in: Berliner Zeitung 18.12.1992,
2 - Dichtung und Wahrheit (J. W. Goethe» 11.
Szenen zweier Ehen
(Buchinfo, in: Freundin 1/ 1993, 128 - I. Bergmann: Szenen einer Ehe)
12.
Also sprach Bellavista
(Buchinfo, in: Freundin 1/ 1993, 128 - F. Nietzsche: Also sprach Zarathustra)
13.
Im Osten nichts Neues
(Rezension: Theaterpremiere, in: Tip 1/ 1993, 80 - Im Westen nichts Neues (E. M. Remarque»
14.
Wenn die Elfen Trauer tragen (UT: (Feuilleton Theaterpremiere, in: TaHans Neuenfels' "Sommernachts- gesspiegel 14.6.1993, 11 - Filmtitel: Wenn die Gondeln Trauer tragen; traum" am Schillertheater) Shakespearel Fühmann u. a.: Sommemachtstraum)
15.
Über allen Gipfeln ist Schmu
(Bericht über den Weltwirtschaftsgipfel Juli 1992 in München, in: Die Zeit 3.7. 1992, 72 - Über allen Gipfeln ist Ruh (1. W. Goethe»
Anhand dieser und anderer Beispiele habe ich ein Wiedererkennungs- und Lückentextexperiment durchgeführt. Den Studenten wurden schriftlich unvollständige Anspielungen (also unter Auslassung der abgeänderten Teile) auf - wie ich meine - Vortexte relativ hohen Bekanntheitsgrades vorgelegt, die sie ergänzen und vervollständigen sollten. Für Beispiel 15. etwa" Über allen Gipfeln ist ... a. Als Ergebnis konnte festgestellt werden, daß insgesamt nur sehr wenige Leser in der Lage waren, den jeweils intendierten Vortextbezug herzustellen. Das konnte zum Teil an der Art der Bezugstexte und somit fehlendem Vorwissen (besonders für 8, 11, 12 und 14) als auch an der isolierten Gabe des Beispiels und der Kürze der Zeit im Experiment liegen. Auch der Grad formaler Abänderung konnte sich auf die Wiedererkennungsleistung dergestalt auswirken, daß mit zunehmender Veränderung Vortexte schwerer identifizierbar waren (etwa für 8 und 10).
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3.2. Intertitularität als Musterbezug In dieser Hinsicht sind auch die Beispiele unter c) interessant. Auch hierbei handelt es sich nur um partielle formale Reproduktion der unten angenommenen Quelle, die reihenbildend wirkt. Der Vortextbezug oder auch eine gegenseitige Beeinflussung der Titel untereinander verfestigt sich in 1. - 14. fast schon zur typischen Formel, zum syntaktischen Muster, das in immer neuer Ausprägung verwendet wird, ohne an ein bestimmtes Thema gebunden zu sem. c) Intertitularität
(wahrscheinliche Quelle: Liedtitel von Ina Deter: Neue Männer braucht das Land)
1)
Starke Frauen braucht das Land
(Buchtitel, Mini-Graffiti Nr. 51 129, München 1990)
2)
Neue Chauvis braucht das Land
(Buchtitel, A. Kraikerl R. Kutschera, Frankfurt a. M. 1992)
3)
Neue Lehrer braucht das Land
(Kommentar über Erziehung in der Schule, in: Spiegel 14.6.1993, 35)
4)
Neue Eltern braucht das Land
(Kommentar über Erziehungsprobleme, in: Mitteldeutsche Zeitung 19.6.1993, 2)
5)
Neue Wege braucht das Land
(Werbetext Verkehrsprojekte deutsche Einheit, in: Berliner Zeitung 18.12. 1992,8)
6)
Neue Wunden braucht das Land
(Interview, in: Tip 221 1993, 192)
7)
Schöne Männer braucht das Land - (Kommentar: Schönheitsfarm für auf nach Bad Driburg Männer, in: Berliner Morgenpost 6.17.11. 1993, R 10)
8)
Diese Preise braucht das Land
9)
Neue Autokennzeichen braucht die (Bericht, in: Tagesspiegel 4.5.1994, Stadt 8)
(Telefon-Werbung, in: Berliner Zeitung 22.2.1994, 5)
10)
Neue Galerien braucht die Stadt
(Ein Rundgang durch die Berliner Galerien Busche, ... , in: Tagesspiegel 27.5.1993,16
11)
Neue Lieder braucht die Stadt
(Rezension, in: Tagesspiegel 2.11. 1993, 10)
245
Intertextualität in Zeitungs texten
12)
Neue Ideen braucht die Stadt
(Werbetext für 25/1994,43)
Möbel,
in:
Tip
13)
Neue Männer braucht die Welt
(Fernsehsendung, in: TV Spielfilm 8/1994,76)
14)
Solche Männer hat das Land
(Rezension über ein Berliner Kabarett, in: Berliner Zeitung 24.8.1995, 27)
Auch hier liefert der Vergleich der einzelnen Beispiele (etwa nur 7 mit 9) eine Abstufung in qualitativer Hinsicht: aufgrund der Substitution zweier Lexeme rückt Beispiel 9 in größere Distanz zum Original. Obwohl nach Nord (1991, 9): Der Rekurs auf einen vorhandenen, möglicherweise erfolgreichen Titel ... die Einpragsamkeit (und damit den Wiedererkennungs effekt) der Titelformulierung erhöhen soll, erkannten nur wenige der von mir befragten Studenten den Vortextbezug. Das kann jedoch auch auf eine schwächere Kontur der Anspielung zurückgeführt werden, was - neben der eventuellen Unkenntnis ebenfalls zur Folge haben kann, daß die Beziehung zwischen Original und Anspielungstext nicht mehr oder nur schwer erkennbar wird.
3.3. Intertextualität und Textverstehen Anhand zweier Texte soll jetzt abschließend gezeigt werden, wie diese Vortexte ins Spiel gebracht werden und welche Konsequenzen sich daraus für das Verstehensresultat ergeben (können) (vgl. die Beispiele: Text (1) WERBETEXT: Wer ist die Schönste im ganzen Land (aus: Stern Nr. 37/1993,93) und Text (2) KOMMENTAR: Irrungen und Wirrungen (aus: Mitteldeutsche Zeitung 3.4.1993, 5».
246
ElkeRößler (
Text (1):
Wer ist die Schönste
im ganzen Land. Es war einmal eine Zeit, da wurden kleinere Badewannen von den Designern recht stiefmütterlich behandelt. Heute spiegelt sich ein anderer Trend wider: Die Girostar von Kaldewei hat normale Maße und ist trotzdem großartig im Design. Ihre elegante Form bietet viel Komfort auf wenig Raum. Ihren hübschen Schwung bekommt sie durch ein kreisrundes Rücken-profil und zwei langgestreckte Armlehnen. Ihre feine Oberfläche bleibt in jeder Farbe, ob Weiß wie Schnee oder Schwarz wie Ebenholz, makellos. Denn diese Badewanne ist aus starkem Stahl-Email. Und das ist der solide Grund für ihre imponierende Mitgift: 30 Jahre Garantie. Wer meint, hier wird ein Märchen erzählt, kann die Wahrheit und nichts als die Wahrheit leicht ergründen. Im Sanitär-Fachhandel erfahren Sie alle Details über die schöne Girostar und ihre verführerischen Qualitäten. Und wenn sie nicht gerade verkauft ist, dann bekommen Sie sie sogar noch heute. Wannen von Kaldewei bekommen Sie in zig Formen und Hunderten von Farben. Wir liefern ausschließlich über den Sanitär-Fachgroßhandel. Die richtigen Adressen und unsere Gesamtübersicht "Das ganze Programm fürs Baden und Duschen" geben wir Ihnen gern. Schreiben Sie uns: Kaldewei GmbH & Co., Postfach 1761, 59206 Ahlen, ST 36/93. Oder rufen Sie kostenlos an: 0130-860880. KALDEWEI Europas Nr. 1 in Badewannen
Intertextualität in Zeitungstexten
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modifizierter Text (1): Eliminierung aller expliziten intertextuellen Bezugsstellen auf der Textoberfläche
KALDEWEI Europas Nr.1 in Badewannen Früher wurden kleinere Badewannen von den Designern recht stiefmütterlich behandelt. Heute spiegelt sich ein anderer Trend wider: Die Girostar von Kaldewei hat normale Maße und ist trotzdem großartig im Design. Ihre elegante Form bietet viel Komfort auf wenig Raum. Ihren hübschen Schwung bekommt sie durch ein kreisrundes Rückenprofil und zwei langgestreckte Armlehnen. Ihre feine Oberfläche bleibt in jeder Farbe makellos. Denn diese Bade-wanne ist aus starkem Stahl-Email. Und das ist der solide Grund für ihre imponierende Mitgift: 30 Jahre Garantie. Im Sanitär-Fachhandel erfahren Sie alle Details über die schöne Girostar und ihre verführerischen Qualitäten.
Wannen von Kaldewei bekommen Sie in zig Fonnen und Hunderten von Farben. Wir liefern ausschließlich über den Sanitär-Fachgroßhandel. Die richtigen Adressen und unsere Gesamtübersicht "Das ganze Programm fürs Baden und Duschen" geben wir Ihnen gern. Schreiben Sie uns: Kaldewei GmbH & Co., Postfach 1761, 59206 Ahlen, ST 36/93. Oder rufen Sie kostenlos an: 0130-860880.
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EIke Rößler
Text (2):
Irrungen und Wirrungen Nun ist es ja eine Sache mit der Suche - sucht man seine Brille, hat man sie auf der Nase; sucht man seine Latschen, hat man sie an usw., das kann man beliebig fortsetzen. Und bei den Kleinen ist das Spiel mit der Suche ja
sehr beliebt; und meist finden sie schneller, was sie suchen. Schade, daß man selbst kein Kind mehr ist - in Eisleben wäre das unter Umständen sehr nützlich ...
Die Raismeser Straße kennt jeder in der Lutherstadt; auch hinzukommen, wenn man fremd ist, dürfte nicht allzu schwerfallen. Aber wie das so ist: Will man jemanden fragen, läßt sich garantiert keine ~en schenseele finden. Also, wie war das nochmal? Den Sonnenweg hoch, dann links ab und dann einfach nur die richtige Hausnummer suchen - kein Problem! Die Straße geht links ab, aber ein Straßenschild fehlt - und die Hausnummern an den Straßenblocks zählen rückwärts. So ein Pech! Die gesuchte Hausnummer liegt in der Eigenheimsiedlung, aber von der ist weit und breit nichts zu sehen .. , Taxifahrer wissen so allerhand.
zwecklos. Beim Leiter des Ordnungsamtes waren die Straßenbeschilderung und die no"Wildtorischen parker" auf dem Spielplatz schon einige ~ale das Gesprächsthema. Reaktion: Straßenschild zu teuer 10.000 angeblich ~ark; eine Summe, die man sich erstmal auf der Zunge zergehen lassen muß; und der vermeintliche Spielplatz sei ein Parkplatz. Komisch das Gelände ist ideal für einen Parkplatz, asphaltiert, von hohen Pappeln umgeben. Nur eine Zufahrt gibt es nicht! Die braucht man nun mal dafür; genauso wie das blaue Schild mit dem weißen "P" drauf - nirgends zu finden. Rundum Geländer bzw. ein mit Platten aus ge-
Der gerade vorbeikommt, kratzt sich am Kopf, der Straßenname fehle, die Strecke sei aber richtig. Also, nochmal: Sonnenweg hoch, oben links ab, dann nach dem letzten Wohnblock wieder rechts an ein paar Garagen vorbei. Die Wegbeschreibung erweist sich als richtig ... War doch nicht schwer zu finden? Die Frage ist ernst gemeint, die Antwort auch: Wenn's hier mal brennt oder einer krank ist - eh sich jemand herfindet, ist schon alles gelaufen. Wie wär's mit 'nem Lotsen vom an der Straße? Oder mal 'ne Eingabe ans Ordnungsamt? Das haben wir schon mehrfach versucht, kommt prompt die Antwort, scheinbar
legter Fußweg. Wie kommen die Autos also auf den Platz? Ganz einfach: über den Rasen und den Fußweg, schon sind sie da, wo sie hingehören oder auch nicht. Der Rasen selbst dient eh als Parkplatz, da kann von frischem Grün keine Rede sein. Und die Ordnungshüter? Lassen sich hier kaum blicken, kassieren nur in der Stadt. Zuwenig Leute, sagt der Leiter des Ordnungsamtes. Es gibt aber genug Arbeitslose. Kein Geld, sagt der Leiter. Und wer bezahlt den Rasen, die kaputten Gehwegplatten ? Die kosten schließlich auch. Sitzen da etwa falsche Leute auf dem richtigen Stuhl? ~an muß schon sagen, in Eisleben ist eine ~enge los .. ,
Intertextualität in Zeitungs texten
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Bereits die Titel beider Texte führen in Form maximaler Wörtlichkeit zwei konkrete Vortexte ein: als minimal abgewandeltes Zitat der Werbetext das Grimmsche Märchen von Schneewittchen (die direkte Rede ist nicht durch Anführungsstriche gekennzeichnet, das zu erwartende Fragezeichen der Satzart Frage wurde durch einen Punkt ersetzt) und als Anspielung partieller formaler Identität, da die Konjunktion _"und" ergänzt wird, der Kommentar den Romantitel "Irrungen, Wirrungen" von Th. Fontane. Auf diese Weise kann bereits durch einen intertextuell geprägten Titel das semantische Potential ganzer Texte bzw. die jeweilige kognitive Repräsentation, über die ein Rezipient vom betreffenden Text verfügt, evoziert werden, ohne dessen inhaltliche und/oder strukturellen Merkmale noch einmal konkret ausführen zu müssen, und gleichzeitig werden bestimmte Erwartungen geschaffen, die für die fortschreitende Rezeption einen bestimmten Rahmen setzen. Im Verlauf der Rezeption kann sich dann diese semantische Vorgabe in Verbindung mit dem gegebenen Text als plausibel und sinnvoll erweisen bzw. kann von Rezipienten eine sinnvolle Verbindung hergestellt werden, oder aber Erwartungen werden nicht bestätigt und müssen somit relativiert oder verworfen werden. Denn der Titel bildet zwar das erste exponierte Textsignal, welches einen intertextuellen Bezug herstellt! herstellen kann, wobei aber auch das Wechselverhältnis von Titel und dazugehörigem Text ständig hinterfragt werden muß, z.B. inwieweit intertextuelle Elemente im Text selbst noch vorkommen bzw. welche Funktion ein intertextueller Titel in bezug auf seinen Ko-Text übernimmt usw. Das ist für das Verständnis des Gesamttextes unverzichtbar und muß für jeden Einzelfall geprüft werden. Wahrscheinlich aufgrund einer höheren Bekanntheit identifIZierten fast alle nach der Erkennung eines Vortextes im Titel Befragten den Märchentext, einige wenige nur die Anspielung auf den Fontane-Roman. Ich betrachte jedoch nur die Fälle, in denen von intertextueller Lektüre, also einer Identifizierung des jeweiligen Vortextes und somit dessen Einflußnahme im weiteren Rezeptionsprozeß gesprochen werden kann. Text 1 liefert in permanentem Rückgriff auf Vortextelemente des Bezugstextes über den ganzen Text verteilt für eine derartige Rezeption weitere textuelle Anhaltspunkte (etwa in Form lexikalischer Schlüsselwörter wie stiefmütterlich oder als unmarkiertes Zitat: weiß wie Schnee oder schwarz wie Ebenholz), es wird auf konstitutive Bestandteile der Textsorte des Bezugstextes (siehe Eingangsformel: es war einmal, Endsatz: Und wenn sie nicht ... sind, dann ... ) zurückgegriffen und sogar der Bezug auf Kommunikationsbedingungen dieser Gruppe von Texten metasprachlich thematisiert (Wer meint, hier wird ein Märchen erzählt... ).
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EIke Rößler
In Text 2 hingegen bleibt der Vortextbezug punktuell auf den Titel beschränkt, der Ko-Text liefert keine weiteren Signale für eine mögliche Verbindbarkeit zum Vortext. Für Rezipienten dieses Textes konnten demgemäß Titel-Erwartungen nicht bestätigt werden, im Gegenteil erzeugten sie eher Irritation und letztlich das Verwerfen eines möglichen Bezugs. Allein wörtliches Verstehen im Hinblick auf das Thema des Textes war plausibel. Der Titel wurde hier in seiner Appellfunktion wahrscheinlich nur als ,,Angelhaken" instrumentalisiert, um einen sonst eher langweiligen Artikel aufzupeppen bzw. überhaupt Interesse für den Ko-Text zu wecken. Text 1 hingegen funktionalisiert den Märchentext im Sinne seiner Intention der Produktwerbung und Anregung zum Kauf, indem in der permanenten Vergleichs- und Kontrasthaltung Vorzüge des Produkts (vor allem Schönheit) sowie der Wahrheits- und Tatsachengehalt der vorgeführten Produkteigenschaften betont wird. Insgesamt kann jedoch aufgrund der Analyseergebnisse auch bei reichhaltiger intertextueller Präsenz für diesen Text verallgemeinernd festgestellt werden, daß der Vortextbezug vor allem eine stilistische Bereicherung im Sinne der Originalität sowie der Aufmerksamkeits-, Interessen- und Einstellungssteuerung darstellt, was sich damit nachweisen ließ, daß Rezipienten, denen der Text unter Auslassung aller expliziten Prätextverweise, auch unter Abänderung des Titels (vgl. den modifIzierten Text 1) zum Lesen und Wiedergeben des Textinhalts vorgelegt wurde, im wesentlichen zum gleichen Verstehensergebnis kamen wie diejenigen, die den authentischen Text mit allen intertextuellen Bezügen lasen. Die Funktion der Textsorte Werbetext dominiert insgesamt die Wiedergabetexte, die intertextuellen Referenzen, obwohl von den Befragten (durch Aufforderung zum Unterstreichen derselben) identifIZiert, tauchen in den Verbalisierungsprotokollen kaum auf.· Sie haben somit vielleicht nur eine stützende, subsidiäre Rolle8 inne, die Hilfestellungen für die Realisierung der Textsortenfunktion geben kann, aber nicht muß. Insgesamt interessant scheint mir jedoch bei diesem Text die zentrale strukturbildende Idee der Verschachtelung zweier Schemata oder, wie van Dijk/Kintsch 1983 es nennen, zweier Superstrukturen. Graphisch ließe sich das - in Anknüpfung an meine theoretischen Prämissen - etwa folgendermaßen darstellen: (v gl. Abbildung 1).
8
Z.B. der "Akzeptanzstützung" (Techtmeier 1995 im Gespräch) bzw. Aufwertung.
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Intertextualität in Zeitungs texten
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UND WENN SIE NICHT gerade verkau ist, DANN bekommen Sie sie sogar NOCH HEUTE. '
Abb. 1: Aspekte eines Textweltmodells von Text (1) Relationen:
HT (Handlungsträger), A (Attribut), 0 (Objekt), P (Teil-Ganzes), T (Zeit), F (Zweck), Spec (Spezifizierung), OPP (Gegensatz) (vgl. de Beaugrande/ Dressler 1981, 101-103)
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EIke Rößler
Die Abbildung soll Teile einer integrierten Konfiguration von Konzepten und Relationen' (de Beaugrande/Dressler 1981, 203 nennen es "Textweltmodell") als Ergebnis des Verstehens repräsentieren, das sowohl der textuellen Oberfläche entnommene (Kursivdruck) sowie durch Inferenzen erschlossene Propositionen (feingepunktete Linien) als auch intertextuelle Textsignale (Großbuchstaben) und Vorwissen textueller Art (Texts 0 rtenwissen in Form von Schemata, Wissen über das Märchen von Schnee-wittchen (Fettdruck» beinhaltet. Der linearen Abarbeitung des Textes entsprechend wird (für einige Be- , fragte bereits durch den Titel) für alle mit der Einleitungsformel Es war ein- ~ mal das Schema Märchen9 instanziiert. Aufgrund der äußeren Kommunikationssituation (Pressekommunikation) sowie der Aufmachung des Textes wird jedoch die Sprachhandlung des Erzählens kaum erwartet werden können, vielmehr wird schon im anschließenden Nebensatz als auch in den folgenden Sätzen klar, daß für ein Produkt geworben wird. Wiederum textsortenspezifISches Vorwissen, kognitiv repräsentierbar als Schema Werbetext, fließt dann in das Verstehen ein. Aspekte beider Schemata, Textpropositionen sowie darüber hinausgehende Wissensbestände müssen dann organisiert bzw. integriert werden, wobei dem Schema Werbetext eindeutig die dominierende Rolle (graphisch ausgedrückt durch die äußere Umrahmung) zukommt. Zusätzliches textuelles Vorwissen etwa in Form sehr detaillierter Angaben zum Schneewittchentext (Studenten ergänzen in den Wiedergabeprotokollen z.B. rot wie Blut oder Spieglein, Spieglein an der Wand) können problemlos in dieses Modell aufgenommen werden, was einer individuell unterschiedlichen Entfaltung von Konzepten bzw. rezipienten abhängigem Umfang an Vorwissen entspricht. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß IT in Zeitungstexten in unterschiedlichen Graden der formalen Ausprägung und Intensität in Erscheinung tritt (wobei sich auch Tendenzen textsortenspezifIScher Verwendungen abzeichnen) und damit ein textuelles Angebot geschaffen wird, was das Verständnis dieser Texte differenzieren und bereichern kann. Ob es allerdings zur intertextuellen Rezeption im Sinne konkreter Einzeltextreferenz kommt, hängt - wie die Untersuchungen gezeigt haben, - neben der Kenntnis der entsprechenden Vortexte auch vom Grad der Signalisierung, dem Grad formaler Abänderung sowie des Umfangs wiederaufgenommener Elemente und deren Verteilung im Text selbst ab. 9
Hier kann IT der Identifizierung der Textform dienen als Rahmenvorgabe für das Verstehen zu dieser Gruppe gehöriger Texte.
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Dementsprechend können sich entgegen der idealtypischen Annahme zielgerichteter Einsatz rezeptionssteuemder Signale der textuellen Anweisungsmenge, adäquate Rezeptions-IT - ABWEICHUNGEN einstellen: 1. Konnte ein Bezug nicht identifIziert werden, wurde aufgrund lexikalischen Wissens meist nur "wörtlich" verstanden. 2. Wurde ein Bezug wahrgenommen, der jedoch aufgrund fehlenden Wissens, von Unkenntnis im Detail oder zeitlicher Distanz nicht gedeutet werden konnte, konstruierten die Befragten entweder andere Verbindungen im Zusammenhang mit dem Text oder aber verstanden nicht. In diesem Fall könnte sich IT eventuell auch verstehenshemmend auswirken. Das scheint mir jedoch vor allem ein besonderes Problem von Literatur zu sein, was seinen Ausdruck fmdet in der Modellierung von Lesertypen und der These, daß der Text sich sein Publikum schafft. In der Pressekommunikation sollte es in der Regel ein Interesse des Produzenten sein, von einem breiteren Leserkreis auch verstanden zu werden. 3. Wurde ein konkreter Vortext identifiziert, fielen Umfang und Intensität intertextueller Beziehungen zum gegebenen Text aufgrund verschiedener Aufmerksamkeitsleistungen bzw. Interessen und Vorkenntnissen unterschiedlich intensiv aus. 4. Zum Teil stellten die Befragten auch Bezüge her, die in besonderem Maße individuellen Charakter trugen im Sinne der These Stierles (1983, 9), "daß prinzipiell jeder Text mit jedem korrelierbar ist" und daß die Interpretation "ein vom Interpreten in Gang gesetztes Experiment" ist, welches "das Bewußtsein des Werkes (Textes, E. R.) steigert". Wie weit und umfassend also die Beziehung zwischen verschiedenen Textexemplaren im Textverstehen wird, entscheidet maßgeblich auch der Leser mit seinem individuellen Vorwissen, wobei der Text zusätzliche Hilfestellungen geben kann lO • Insgesamt kann ein hoher Explizitheitsgrad intertextueller Verweisung im Sinne deutlicher Markierung und geringer Abänderung der Quelle (sowie das Zurückgreifen auf für einen bestimmten Leserkreis angenommene "wohlbekannte Texte" (de Beaugrande/Dressler 1981, 193) aufgrund der besseren Zugänglichkeit für Rezipienten) einen größeren intertextuellen Effekt in der Weise bewirken, daß deutliche und wiederholte Signale eine Erleichterung in der Erkennung der konkreten Bezugsquellen als auch Verständnishilfen für die Kohärenzbildung im Textverstehen bieten. 10
In meinen Untersuchungen geht es ja v.a. um die intertextuellen Referenzen, die ein Text auch anzeigt und damit die Rezeption steuert.
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ElkeRößler
4. Verzeichnis der zitierten Literatur Beaugrande, R. A. de/ Dressler, W. (1981): Einführung in die Textlinguistik. (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft. 28). Tübingen. Broich, U./ Pfister, M. (Hgg.) (1985): lntertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft. 35). Tübingen. Grübel, R. (1983): Die Geburt des Textes aus dem Tod der Texte: Strukturen und Funktionen der Intertextualität in Dostojewskis Roman "Die Brüder Karamasov" im Lichte seines Mottos. In: Schmid, W./ Stempel, W.-D. (Hgg.) (1983). 205271. Kintsch, W./ van Dijk, TA. (1983): Strategies of discourse comprehension. London. Lachmann, R. (1984): Ebenen des Intertextualitätsbegriffes. In: Stierle, K./ Warning, R. (Hgg.) (1984). 134-138. Nord, ehr. (1991): Titel, Texte und Zitate. Intertextualität in Titeln und Überschriften - ein pragmatisches Übersetzungsproblem. (unveröffentl. Vortrag auf der 22. Jahrestagung der Gesellschaft für Angewandte Linguistik e.V. (26.28.9.1991). Mainz). Schmid, W./ Stempel, W.-D. (Hgg.) (1983): Dialog der Texte. Hamburger Kolloquium zur lntertextualität. (Wiener Slawistischer Almanach, Sonderband 11). Wien. Schulte-Middelich, B. (1985): Funktionen intertextueller Textkonstitution. In: Broich, U./ Pfister, M. (Hgg.) (1985). 197-242. Stempel, W.-D. (1983): Intertextualität und Rezeption. In: Schmid, W./ Stempel, W.-D. (Hgg.) (1983). 85-109. . Stierle, K. (1983): Werk und Intertextualität. In: Schmid, W./ Stempel, W.-D. (Hgg.) (1983). 7-26. Stierle, K./ Warning, R. (Hgg.) (1984): Das Gespräch. (poetik und Hermeneutik. 11). München.
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Nun ist es ja eine Sache mit der Suche ~ sucht man seine Brille, hat man sie auf der Nase; sucht man seine Latschen, hat man sie an und so weiter, das kann man beliebig fortset~ zen. Und bei den Kleinen ist das Spiel mit der
Suche ja sehr beliebt; und meist finden sie schneller, was sie suchen. Schade, daß man selbst kein Kind mehr istIn Eisieben wäre das unter Umständen sehr nützlich ...
Die Raismeser Straße kennt jeder In der Lutherstadt; auch hinzukommen, wenn man gerade fremd ist, dürfte nicht allzuschwer fallen. Aber wie das so ist: Will man jemanden fragen, läßt sich garantiert keine Menschenseele fi-nden. Also, wie war das noch mal? Den Sonnenweg hoch, dann links ab und dann einfach nur die richtige Hausnummer suchen - kein Probleml Die Straße geht links ab, aber ein Straßenschild fehlt - und die Hausnummern an den W.ohnblocks zählen rückwärts. So ein Pechl Die gesuchte Hausnummer liegt in der Eigenheimsiedlung, aber von deristweit und breit nichts zu sehen ... Taxifahrer wissen so allerhand. Der gerade vorbeikommt kratzt sich am Kopf und redet was von Helfta und dann über den Acker. Der Straßenname fehle, trotzdem sei die Strecke richtig. Also, nochmal zum Mitschreiben: Sonnenweg hoch, oben links ab, dann nach dem letzten Wohnblock wieder rechts an ein paar Garagen vorbei. Die Wegbeschreibung erweist sich als richtig - die Suche war beende!, Kaffee - der Tee inzwischen ka~. War doch nicht schwer zu finden? Die Frage ist ernst gemeint, die Antwort auch: Wenn's hier mal brennt oder jemand krank ist - eh sich jemand herfindet, Ist schon alles gelaufen. Wie wär's mit 'nem Lotsen vorn an der Straße? Oder mal 'ne Ein-
asphaltiert, von hohen Pappein umgeben. Nur eine Zufahrt gibt es nichtl Die braucht man nun mal dafür; genauso wie das blaue Schild mit dem weißen "P" drauf - nirgends zu finden. Rundum Geländer bezlehungsweiseeinmitPlallen ausgelegter Fußweg. Wie kommen die Autos also auf den Platz? Ganz einfach: über die Rasenfläche und den Fußweg,schonsinddieAutosda, wo sie hingehören -oder auch nicht. Der Rasen selbst dient eh als Parkplatz, da kann von frischem Grün keine. Rede sein. Und die Ordnungshü-
Ein schöner Parkplatz, wirklich ...
gabe an's Ordnungsamt? Das haben wir schon mehrfach versucht, kommt prom! die Antwort, scheinbar zwecklos. Beim LetterdesOrdnungsamtes war die Straßenbeschilderung und die notorischen "Wildparker" auf dem Splelplatz schon einige Male das Gesprächsthema. Reaktion: Straßenschild zu teuer - angeblich 10 000 Mark; eine Summe, die man sich erst mal auf der Zunge zergehen lassen muß; und dervermeintliehe Spielplatz sie ein Parkplatz. Komisch - das Gelände Ist Ideal für einen 'Parkplatz,
ler? Antwort: Lassen sich hier oben kaum blicken, kassieren nur in der Stadt. Zuwenig Leute, sagt der Leiter des Ordnungsamtes. Es gibt aber genug Arbeitslose. Kein Geld, sagt der Leiter. Und wer bezahlt die Rasenfläche, die kaputten Gehwegplatten? Tja, die kosten schließlich auch. Und sitzen da etwa falsche Leute auf dem richtigen Stuhl? Man muß schon sagen, in Elsleben ist wirklich eine Menge los ... Ein Kommentar von Rudolf Schmldt
Teil 4: Textbeziehungen in ästhetisch-spielerischen und literarischen Texten
Rosemarie Gläser (Leipzig)
Das Motto im Lichte der Intertextualität 1. 2.
3. 4. 4.1 4.1.1 4.1.2 4.2 4.2.1 4.2.1.1 4.2.1.2 4.2.1.3 4.2.1.4 4.2.2 4.2.2.1 4.2.2.2 4.2.2.3 5. 6.
Einleitung: Begriffsbestimmung des Mottos Das Motto als Gegenstand der Textlinguistik Gegenstand, Ziel und Methode der Untersuchung Die Wechselwirkung von Motto, Textsorte und Fachgebiet Motti in Textsorten der poetischen Kommunikation (Belletristik) Motti in Romanen und Erzählungen' Motti im literarischen Essay Motti in Textsorten der Fachkommunikation Motti in Textsorten der fachinternen Kommunikation Motti in der wissenschaftlichen Monographie Motti im wissenschaftlichen Sammelband Motti im fachbezogenen Essay Motti im Hochschullehrbuch Motti in Textsorten der fachexternen Kommunikation Motti im populärwissenschaftlichen Einführungswerk Motti im Sachbuch Motti in Memoiren Linguistische Auswertung und Schlußfolgerungen Verzeichnis der zitierten Literatur
1. Einleitung: Begriffsbestimmung des Mottos Im bisherigen textlinguistischen Verständnis beinhaltet der Begriff Intertextualität im weitesten Sinne die gegenseitige Bezogenheit und Abhängigkeit von Texten. Solche Wechselbeziehungen bestehen zwischen 1.
2. 3. 4. 5.
Basistext und abgeleitetem Text (z.B. Dissertation: Thesen, Autorreferat, Gutachten) Prototypischem Textbildungsmuster und neu produziertem Text (Fachtexte wie Zeitschriftenartikel oder Patentschrift) Zitaten als eingebetteten Fremdtexten und dem sie aufnehmenden Text (z.B. in der Fachliteratur und der Publizistik) Literarischen Originaltexten und Parodien (wobei die seriöse Form der Vorlage häufig mit einem weniger seriösen Inhalt gefüllt wird) Textfragmenten mit Zitatcharakter, die in dem sie aufnehmenden Text Assoziationen oder Implikaturen hervorrufen. Zu dieser Gruppe intertextueller Erscheinungen gehört das Motto.
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Rosemarie Gläser
Das Motto (Plural Motti oder Mottos) ist ein Begriff der Literaturwissenschaft und wird gelegentlich als Synonym zu Epigraph gebraucht. Eine Defmition des Mottos scheint sowohl in der Literaturwissenschaft als auch in der Stilistik: und Journalistik: Schwierigkeiten zu bereiten, da die bekannten Nachschlagewerke dieser Disziplinen das Motto nicht berücksichtigen. Im Alltagsverständnis, auf das allgemeine Lexika Bezug nehmen, ist das Motto ein Leitwort, ein Leit- oder Wahlspruch, der einem literarischen Werk oder auch einem einzelnen Kapitel vorausgeht und den Leser auf den Inhalt des Folgetextes vorbereiten will. Das Sachwörterbuch für den Literaturunterricht Klassen 9 bis 12, herausgegeben von KARLHEINZ KASPER 5 (1983 : 123), vermerkt: Motto: Als Motto (ital. motto - "Spruch") bezeichnet man einen Leit- oder Wahlspruch, der literarischen Werken, z. T. auch einzelnen Kapiteln, vorangestellt ist. Das Motto kann die Funktion besitzen, die Idee des Werkes anzudeuten.
Als Beispiele werden Motti aus der deutschen Nationalliteratur bei den Schriftstellern Erich Neutsch und Hermann Kant genannt. Die Literaturwissenschaftlerin KRIS TA SEGERMANN (1977:9) entscheidet sich für folgende Arbeitsdefinition: Allgemein läßt sich der Begriff des Mottos so fassen, daß er alle geformten Texte kleineren Umfangs einschließt, die vor einem anderen, längeren Text "zitiert" werden und deren Aussagen zu der Aussage des Folgenden in eine signifikante Beziehung treten. Der Literaturwissenschaftier RunOLF BÖHM (1975:128) vertritt die Ansicht, daß sich das Motto einer ,,logisch-klaren Defmition" entzieht, und entwickelt am Ende seiner umfangreichen Untersuchung zu Motti in der epischen englischen Literatur des 19. Jahrhunderts einen zehn Hauptpunkte umfassenden Merkmalkatalog, der wiederum kaum in eine Defmition überführt werden kann. Einige dieser Merkmale sollen hier als Defmitionselemente genannt werden (BÖHM 1975:247): Das Motto ist 1. Zitat oder, selten, zitatähnliche Eigenformulierung; 2. aus im engeren Sinne literarischen, wissenschaftlichen, biblisch-religiösen, volkstümlichen, aktuellen, privaten Quellen entnommen oder Eigenschöpfung; 3. vor jedem Erzeugnis schriftstellerischer Tätigkeit verwendbar; 4. sowohl vor dem Gesamtwerk wie Werkteilen einsetzbar; 5. durch seine Anordnung deutlich von Titel wie Text abgesetzt;
Das Motto im Lichte der Intertextualität
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6. häufig durch Sprachform, Stilebene und Druckbild als eigenständiges Element hervorgehoben (... ). Für die folgende textlinguistische Untersuchung des Mottos soll als Arbeitsdefinition gelten: Das Motto ist eine Textsorte mit Zitatcharakter, die thematisch, funktional, makrostrukturell und typographisch zu einem Empfängertext der Schriftkommunikation in Beziehung tritt und auf seiten der Rezipienten eine intertextuelle Dekodierung verlangt.
Diese Begriffsbestimmung bedarf jedoch eines detaillierten Kommentars, der im folgenden Abschnitt gegeben werden soll.
2. Das Motto als Gegenstand der Textlinguistik Motti sind in erster Linie Fremdtexte. Sofern sie nicht zu den Sprichwörtern gehören, sind sie Zitate, d. h. sie sind aus dem Zusammenhang eines Quellentextes herausgelöst und in einem Empfängertext in einer bestimmten Funktion eingebettet. Zitate umfassen auch geflügelte Worte, deren Herkunft im Laufe ihres häufigen Gebrauchs verblaßt ist, und Aphorismen, die aufgrund ihrer Kürze keinen einbettenden Minimalkontext benötigen und stets isoliert auftreten. Das Motto ist eine Textsorte sui generis. In seiner makro strukturell abgehobenen Position zwischen dem Titel eines Buches bzw. der Überschrift eines Kapitels oder eines Artikels und dem Folgetext verliert es seine ursprüngliche Bindung an den Quellentext und geht eine neue Beziehung mit dem Empfangertext ein. Diese Beziehung kann locker oder eng sein; das Motto kann, selbst wenn es dem Empfängertext in einer typographisch ansprechenden Form vorangestellt ist, wie ein Fremdkörper wirken und damit ein isolierter Text bleiben, oder es kann durch thematische Kohärenz in den Folgetext voll integriert sein, wenn ein in dem Motto enthaltenes Lexem als kohärenzstiftendes Schlüsselwort ausgenutzt wird oder als Kontextsynonym in dem Empfangertext wiederkehrt. Insofern ist das Motto stets eine Textsorte-in-Relation. Es vermittelt zwischen der Textsorte Titel bzw. Überschrift und dem Folgetext. Damit hat es hinsichtlich der Makrostruktur des aufnehmenden Textes einen ähnlichen Status wie das Vorwort, die Widmung, die Danksagung, der Titel und(oder Untertitel, das Inhaltsverzeichnis, das Abkürzungsverzeichnis und das Impressum. Keine dieser Textsorten tritt isoliert auf.
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Das Motto kann den Empfängertext durch seine doppelte Gerichtetheit mit Hilfe intertextueller Assoziationen thematisch und nicht selten auch rezeptionsästhetisch bereichern. Doch ist die Entschlüsselung (Dekodierung) eines Mottos stets eine intellektuelle Leistung des Rezipienten. Dieser muß, namentlich dann, wenn kein Quellenwerk, sondern nur der Autor des Zitats genannt ist, mit Hilfe seiner Verstehensvoraussetzungen in der Lage sein, das Motto zu erkennen und in den neuen Kontext einzugliedern, d.h., er muß die thematische Kohärenz selbst herstellen. Gelingt diese ko gnitive Handlung auf seiten des Rezipienten nicht, läuft das Motto Gefahr, als redundant zu gelten, überlesen und ignoriert zu werden, als ,,modische Zutat", als "chapter tag" (BERGER 1982) oder auch als Ablenkung vom eigentlichen Text in Mißkredit zu geraten und damit die vom Autor intendierte Wirkung zu verfehlen. Die Spendertexte der Motti sind in erster Linie Werke der Belletristik (der National- und Weltliteratur), die Bibel, ferner Werke von Philosophen, Wissenschaftlern und Politikern, Künstlern und Publizisten, anonyme Quellen wie Sprichwörter oder Volksweisheiten und schließlich private Quellen oder auch von den Autoren selbst erfundene Motti und Eigenzitate (vgl. auch BÖHM 1975). Das Motto hat in der epischen Literatur und der Lyrik der Vergangenheit eine wechselnde Rolle gespielt. Wie die Untersuchungen von R. BÖHM (1975) zu Motti in englischen Romanen und Erzählungen in der Literatur des Viktorianismus, der Aufsatz von D.A. BERGER (1982) zur Verwendung des Mottos in Walter Scotts Romanen und die Arbeit von K. SEGERMANN (1977) über das Motto vor Gedichten der französischen Romantik und N achromantik dargelegt haben, war das Motto im 19. Jahrhundert eine über die Ländergrenzen hinauswirkende literarische Modeerscheinung. Selbstzeugnisse beweisen, daß Schriftsteller nicht selten in Schwierigkeiten gerieten, die Lesererwartungen in bezug auf ständig neue Motti zu Textteilen und Einzelkapiteln zu erfüllen, und notfalls selbst Motti prägten. Von Sir Walter Scott, dem Verfasser der Waverley Novels, stammt der sarkastische Ausruf ,,Damn the mottoe". Er fmdet sich in einer Tagebuchnotiz vom 24. März 1826 in dem folgenden Kontext: J.B. clamourous for a motto. Go to. D-n the mottoe. It is foolish to encourage people to expect mottoes and such-like Decoraments. You have no credit for success in finding them, and there is a disgrace in wanting them" (vgl. BERGER 1982:373).
Ähnliche Erfahrungen machte Isaac Disraeli. R. BÖHM (1975: 110) zitiert eine Textstelle aus Curiosities 0/ Literature, Bd. 11, 420, London 1863, wo dieser Autor bemerkt:
Das Motto im Lichte der Intertextualität
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"To make a happy one (ie. quotation) is a thing not easily to be done" (... ) there is not less invention in a just and happy application of a thought found in a book, than in being the frrst author of that thought. Aus dem eigenen Materialkorpus gewinnt R. BÖHM: (1975: 111) bei einer Reihe von Motti einen zwiespältigen Eindruck: Eine große andere Gruppe von Belegen scheint den mangelhaften Werkbezug gedankenloser, routinemäßiger Pflichtübung zu verdanken, d.h. der Angleichung an eine verbreitete, in Einzelfällen womöglich als lästig empfundene konventionelle Manier. Speziell bei Kapitelmottos in Romanen gibt es außerdem so etwas wie einen "Systemzwang": die Erfordernisse der Konsequenz führen gelegentlich zu bloßer funktionsloser Lückenfüllung. Das Motto ist ein fakultatives Textsegment. Von dem Folgetext ist es typographisch durch eine kleinere Schriftgröße oder Kursivdruck und durch seine Anordnung am rechten Rand der Seite (was die Regel ist) optisch hervorgehoben. Es kann in Anführungsstrichen stehen. Ein weiterer Hinweis auf das Motto als Zitat ist der Name des Autors, in einigen Fällen ergänzt durch dessen Lebensdaten, und günstigenfalls die Nennung des Quellenwerkes. In wissenschaftlichen Arbeiten sind Motti mitunter mit einem Index versehen und als Anmerkung bibliographisch nachgewiesen. Das Motto ist eine Textsorte-in-Funktion. Seine Verwendung als Vorspann zu einem Text ist in jedem Falle eine subjektive Entscheidung des Autors. K. SEGERMANN (1977) spricht in diesem Zusammenhang von ,,Mottisierung" und versteht darunter den Vorgang und das Ergebnis. Die aktuelle Funktion des Mottos ist abhängig vom Kommunikationsgegenstand und Thema des Textes, von der Intention des Autors und von der Texts orte, der es zugeordnet ist. Sowohl R. BÖHM (1975) als auch K. SEGERMANN (1977) haben eine Klassiftkation von Funktionen des Mottos vorgeschlagen, aber erkannt, daß im aktuellen Kontext jedes Motto eine mehrfache Funktion ausüben kann und daß eine Funktionszuweisung nicht frei von Spekulationen des Rezipienten ist. R. BÖHM (1975: 110ff.) unterscheidet folgende "Funktionen des Mottos": 1. ,,Emotionale Einstimmung" (Der Leser soll sich auf die Lektüre innerlich einstellen.) 2. "Rationale Vorbereitung" (Der Leser soll sich intellektuell mit Motto und Folgetext auseinandersetzen und konzeptionelle Parallele~ erkennen.) 3. "Inhaltsbezogene Information" (Das Motto kann zur "Titel-Erhellung" dienen und ein "stofflicher Vorwurf', d. h. Vorgriff sein.)
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4. "Autorenkommentar" (Die in der Ich-Form gehaltenen Motti haben die t,funktion der Beglaubigung" und stützen die Argumentation des Autors.) 5. ,,spannungserregung" (Anreiz zur Lektüre; Wecken von Interesse des Lesers.) 6. "Kontrast" (Die Aussage des Mottos kann der Aussage des Werkest dem es vorangestellt ist, entgegengesetzt sein t woraus ein besonderer Reiz entstehen kann.) 7. "Integration"
(Die Aussage des Mottos bietet Aufschluß über das Gesamtwerk eines Autors.). Die von K. SEGERMANN (1977:43f.) unterschiedenen Funktionsarten des Mottos haben vorrangig Geltung für lyrische Texte der französischen Romantik, aus denen sie mit Hilfe einer Korpusanalyse gewonnen wurden. Dennoch weist SEGERMANNs KlassifIzierung Ähnlichkeiten mit den von R. BÖHM genannten Funktionen des Mottos in epischen Texten auf. Die Autorin unterscheidet fünf Funktionsarten des Mottos: 1. "das Motto als Schmuck" 2. "das Motto als Devise"
C,Hinweis auf das Selbstverständnis des Dichters"; t,Hinweis auf die Tendenz des Werkes"; "Angabe einer Lebensmaxime'') 3. "das emblematische Motto" C,sentenziöse Deutung eines individuellen Schicksals oder einer konkreten Begebenheit"; "gefühlsbetonte Deutung eines Geschehens"; "charakterisierende Interpretation einer Figur") 4. "das Motto als Argumentum" ("Angabe des Sujets"; "Hervorhebung einzelner Elemente"; t,Hinweis auf den Hintergrund"; "Hinweis auf das zugrundeliegende Motiv") 5. t,das Motto als Autoritätenzitat" ("Verbürgung der Glaubwürdigkeit"; "Bestätigung"; t,Propagierung neuer Vorbilder") .
3. Gegenstand, Ziel und Methode der Untersuchung Wie die Untersuchungen von R. BÖHM (1975), D. A. BERGER (1982) und K. SEGERMANN (1977) nachgewiesen haben, sind Aussagen über die Quellen, das Vorkommen und die Funktion der Motti nur auf der Grundlage umfangreicher Korpusarbeit möglich. Das Datenmaterial in BÖHMs Habilitationsschrift beläuft sich auf ca. 4000 Motti aus der gesamten epischen Literatur
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des Viktorianischen England; K. SEGERMANN trifft zwar keine quantitativen Aussagen über die Datenbasis ihrer Motti in Gedichten der französischen Romantik und Nachro mantik , doch ist mit einigen Hundert Belegstellen zu rechnen. Im Unterschied zu diesen Vorgängerarbeiten bezieht sich die folgende Untersuchung nur auf 200 Motti, die jedoch hinsichtlich der Empfangertexte unterschiedliche Textsorten repräsentieren. Sie beschränken sich nicht auf Texte der Belletristik, sondern erstrecken sich auch auf Textsorten der Fachkommunikation mit unterschiedlichem Spezialisierungsgrad (sowohl fachintern als auch fachextern). Die hier vertretenen Fachtextsorten mit Belegen aus dem Deutschen und Englischen sind die Monographie, der Sammelband, der Essay, das Hochschullehrbuch, das populärwissenschaftliche Einführungswerk, das Sachbuch und Memoiren. Da anscheinend das Motto sowohl in der englischen als auch in der deutschen Gegenwartsliteratur keine stilistische Mode mehr ist und in der Fachkommunikation auch keine Massenerscheinung darstellt, wird die Gewinnung eines Korpus von Motti arbeits aufwendig , wobei der Untersuchende selbst bei bekannten Schriftstellern und Publizisten der heutigen Literaturszene eher auf Zufallsfunde angewiesen ist. Gleiches gilt für die Fachliteratur in den Geisteswissenschaften. Die Bereitstellung eines homogenen Datenmaterials stößt hier an objektive Grenzen. Das Ziel der folgenden Analyse besteht darin, das Motto in seiner Beziehung zum Quellen- bzw. Spendertext und Empfangertext als Textsorte sui generis und als Textsegment, das thematische Kohärenz bewirkt (oder auch nicht), zu untersuchen. Damit ist im konkreten Kontext eine Funktionsbestimmung des Mottos verbunden. Das Motto als Textsorte-in-Relation und Textsorte-in-Funktion wird in einen intertextuellen Bezugsrahmen eingeordnet, wobei auch das Assoziationspotential und die Angemessenheit des Mottos Berücksichtigung finden.
4. Die Wechselwirkung von Motto, Textsorte und Fachgebiet Das Motto hat eine Mittlerfunktion zwischen Spendertext und empfangendem Text. Die daraus resultierende thematische Kohärenz zwischen beiden Texten ist aber in den seltensten Fällen an der Textoberfläche sichtbar und muß deshalb vom Rezipienten durch eine kognitive Operation erst hergestellt werden. Kohärenzbeziehungen besonderer Art bestehen unter doppelten und mehrfachen Motti untereinander sowie gegenüber dem empfangenden Text. Die Funktionen des Mottos sind in jedem Falle variabel und komplex; in der
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Regel ist "das Motto polyfunktional. Invariabel ist allein die Stellung des Mottos vor demjenigen Textteil mit dem größten Umfang und Mitteilungswert. Das Motto ist kein Privileg einer bestimmten Textsorte, sondern ein frei verfügbares Struktur- oder Kompositionselement, das durch die Intention des Textautors bestimmt ist. Motti begegnen uns in naturwissenschaftlichphilosophischen Abhandlungen und tagespolitischen Reden C. F. von Weizsäckers (1989-1990), in literaturwissenschaftlichen Aufsätzen und Essays Hans Mayers und Annemarie Auers, in literarischen Essays und Vorlesungen von Christa Wolf und in Essays von Gerhard Wolf und Susan Sontag, in sprach- und literaturwissenschaftlichen Monographien und Sammelbänden englischer und deutscher Herausgeber, ja selbst in einem englischen Hochschullehrbuch. Im allgemeinen scheint das Motto in Textsorten der Didaktisierung einen bescheidenen Platz einzunehmen, während es in Textsorten der Popularisierung einen bedeutsamen Platz hat und sich erfolgreich behauptet. Seine Domäne ist hier das Sachbuch; aber auch in der Memoirenliteratur von Künstlern tritt es an prominenter Stelle auf und ist häufig ein wesentlicher Bestandteil des Individualstils eines Autors. Das Motto kann faktisch in Textsorten aller Fachgebiete vorkommen, wenn es eine intentional begründete Aufgabe zu erfüllen hat. In dem folgenden Materialteil der Untersuchung wird das Motto in unterschiedlichen Kommunikationssphären beleuchtet: nur punktuell in der poetischen Kommunikation bzw. Belletristik, in weitaus umfangreicherem Maße in der Fachkommunikation. Berücksichtigt werden dabei Textsorten der fachinternen und fachexternen Kommunikation und eine Vielzahl von Fachgebieten, darunter die Sprach- und Literaturwissenschaft, das Theater- und Filmwesen, die Geschichtswissenschaft, Archäologie, Weltraumforschung, die Meereszoologie und Paläozoologie. Diese Fachgebiete haben nur exemplarischen Charakter und bedürfen der systematischen Erweiterung, damit allgemeingültige Aussagen über das Vorkommen und die Verwendungsweise von Motti getroffen werden können.
4.1. Motti in Textsorten der poetischen Kommunikation (Belletristik) In der Gegenwartsliteratur werden Motti - im Gegensatz zur Literatur des 19 . Jahrhunderts - allem Anschein nach sparsam verwendet. Dennoch begegnen sie uns weiterhin als Leitspruch zu Romanen, Erzählungen und Essays. Ihre Funktion ist abgewogen, ihre Wahl wohlbegründet.
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4.1.1. Motti in Romanen und Erzählungen Zu den Gegenwartsschriftstellern, die ein ungestörtes Verhältnis zum Motto bewahrt haben, gehört CHRISTA WOLF. Sie verwendet Motti mit Vorbedacht und keineswegs als Regelfall, als Vorspruch für ihre Romane, Erzählungen, Essays und Vorlesungen. Das Motto dient als Brücke zum literarischen Sujet. Dem problemschweren Roman Nachdenken über Christa T. stellt CHRISTA WOLF (1974:4) einen Ausspruch von Johannes R. Becher voran, der lautet: Was ist das: Dieses Zu-sich-selber-Kommen des Menschen? Dieses Motto thematisiert das Problem der Selbstfmdung und Selbstverwirklichung des Individuums in wechselhaften Lebensumständen. Über das von CHRISTA WOLF gewählte Motto reflektiert HEINRICH MOHR in seinem 1971 entstandenen Aufsatz Produktive Sehnsucht. Struktur, Thematik und politische Relevanz von Christa Wolfs ,Nachdenken über Christa T. (. Er nennt weitere intertextuelle Bezüge zu Becher in CHRISTA WOLFS Formulierung "Die große Hoffnung oder über die Schwierigkeit, ,ich' zu sagen" (MoHR 1989:46), eine Anspielung auf Bechers Titel Auf andere Art so große Hoffnung. Von den "drei unwahrscheinlichen Geschichten", die CHRISTA WOLF unter dem Titel Unter den Linden (1974) veröffentlicht hat, sind zwei mit einem beziehungs reichen Motto versehen. Die Erzählung Unter den Linden trägt als Motto einen in der Ich-Form gehaltenen Ausspruch der jüdischen Intellektuellen Rahel Varnhagen, den sich auch CHRISTA WOLF (1974:7) als Devise ihres Handelns gewählt haben könnte: Ich bin überzeugt, daß es mit zum Erdenleben gehört, daß jedes in dem gekränkt werde, was ihm das Empfindlichste, das Unleidlichste ist: Wie er da herauskommt, ist das Wesentliche. Rahel Varnhagen In der Erzählung Neue Lebensansichten eines Katers (1974:63) ist die Intertextualität des Mottos und der ganzen Geschichte vordergründig durch den
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Bezug auf E.T.A. Hoffmanns Kater Murr, der sich gleichfalls - als vemunftbegabtes Wesen - in der Ich-Form äußert. Sein Ausspruch einer allgemeinen Wahrheit überbrückt den Abstand zwischen den Zeiten und Gesellschaftsfonnen: Je mehr Kultur, desto weniger Freiheit, das ist ein wahres Wort. E. T. A. Hoffmann, Lebensansichten des Katers Murr Eine autobiographische Funktion haben die beiden Motti, die CHRISTA WOLF als Zitate aus Selbstzeugnissen Heinrich von Kleists und der Günderrode der Erzählung Kein Ort. Nirgends (1988) vorangestellt hat. Hiermit wird der Grundton angeschlagen für die tragische Lebensgeschichte der beiden Dichterpersönlichkeiten, die durch ihre absoluten Ansprüche an ein erfülltes Leben an den gesellschaftlichen Verhältnissen ihrer Zeit scheiterten. Die Motti lauten (S. 5): Ich trage ein Herz mit mir herum, wie ein nördliches Land den Keim einer Südfrucht. Es treibt und treibt, und es kann nicht reifen. Heinrich von Kleist Deswegen köm mt es mir aber vor, als sähe ich mich im Sarg liegen und meine beiden Ichs starren sich ganz verwundert an. Karoline von Günderrode Beide Aussprüche beruhen auf einem imaginären bzw. visionären Vergleich zwischen Schein und Sein und führen zum Kemproblem der Erzählung. Eine wichtige Rolle spielen die Motti in CHRISTA WOLFS umfangreichem 5 Buch Kassandra (1987 ), das aus vier Vorlesungen und einer Erzählung, dem Hauptwerk, besteht. Dem Buch ist ein Goethe-Zitat vorangestellt, in dem Kassandra namentlich genannt ist (S. 5, keine Quellenangabe): Diesem düsteren Geschlecht ist nicht zu helfen; man mußte nur meistenteils verstummen, um nicht wie Kassandra, für wahnsinnig gehalten zu werden, wenn man weissagte, was schon vor der Tür steht. Johann Wolfgang von Goethe Jede der Vorlesungen über die Kassandra-Thematik ist mit einem Motto, das auch einen metaphorischen Sinn haben kann, versehen. Die erste Vorlesung ist betitelt Ein Reisebericht über das zufällige Auftauchen und die allmähliche Veifertigung einer Gestalt und erweckt intertextuelle Assoziationen zu
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einem Aufsatz von Heinrich von Kleist Über die allmähliche Veifertigung der Gedanken beim Reden. Als Motto dieser Vorlesung wählt CHRISTA WOLF einen chinesischen Spruch (S. 11): Die Stadt kannst du wechseln, den Brunnen nicht. Chinesisches Weisheitsbuch Der Titel der zweiten Vorlesung lautet: Fortgesetzter Reisebericht über die Veifolgung einer Spur, begleitet von einem Zitat aus der Orestie von Aischylos, wo Kassandra sagt (S. 57): Wenn ihr mir nicht glaubt, was tut' s? Die Zukunft kommt gewiß. Nur eine kleine Weile Und ihr seht es selbst. Die dritte Vorlesung bezieht sich auf Ein Arbeitstagebuch über den Stoff, aus dem das Leben und die Träume sind und trägt als Motto ein Gedicht von Sarah Kirsch, betitelt Ende des Jahres. Der Gegenwartsbezug des Trojanischen Krieges anhand dieses Gedichtes sind für CHRISTA WOLF die von Sarah Kirsch gemeinten Atomwaffenversuche der 80er Jahre. Die vierte Vorlesung von CHRISTA WOLF ist Ein Brief über Eindeutigkeit und Mehrdeutigkeit, Bestimmtheit und Unbestimmtheit; über sehr alte Zustände und neue Seh-Raster; über Objektivität. Das Motto ist hier ein Zitat von Ingeborg Bachmann aus ihrem Buch Der Fall Franza und lautet (S. 161): Denn die Tatsachen, die die Welt ausmachen sie brauchen das Nichttatsächliche, um von ihm aus erkannt zu werden. Die thematische Kohärenz zwischen Motto und Brieftext wird durch die Schlüsselwörter "Tatsachen" und "Objektivität" hergestellt. Die Erzählung Kassandra ist durch ein Zitat der Sappho eingeleitet. Schon wieder schüttelt mich der gliederlösende Eros, bittersüß, unbezähmbar, ein dunkles Tier.
4.1.2. Motti iin literarischen Essay In dem gemeinsam mit Gerhard Wolf gestalteten Band mit dem Titel Ins Ungebundene gehet eine Sehnsucht. Gesprächsraum Romantik. Prosa - Essays
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(1985) verwendet CHRISTA WOLF wiederum Motti, z. B. in dem Essay Kleists Penthesilea ({. GERHARD WOLF wählt in se~em Essay Der arme Hälderlin als Motti Aussprüche von Wilhelm Waiblinger (1827) und Anatoli Lunatscharski (1929) und für seinen Essay Die Sehnsucht hat allemal Recht. Fragmentarisches über Bettine für jeden Teilabschnitt ein Motto, das auf einen Ausspruch von Bettina von Arnim zurückgeht und unmittelbaren Bezug zum Thema hat. Auch sein in dem gleichen Band erschienener Essay über Heine in Berlin. Zwischen Romantik und Revolution verwendet als Motto ein Heine-Zitat. JJ
Diese Zitate als Quellentexte der Objektsprache (Literatur) stehen zugleich in einem intertextuellen Verhältnis zur Metasprache der Literaturinterpretation und Literaturkritik, wobei der Essay zwischen poetischer Kommunikation und Fachkommunikation vermittelt. Schriftsteller, die in mehreren Genres produktiv sind und auch als Literaturkritiker in Erscheinung treten, neigen dazu, literarische Essays mit einem Motto auszustatten. Diese Tendenz teilt auch die amerikanische Schriftstellerin SUSAN SONTAG. Einige ihrer Essays sind 1990 in deutscher Übersetzung unter dem Titel Im Zeichen des Saturn erschienen. Dieser Band wird durch ein Motto aus dem Drama Endspiel (Endgame) des Iren Samuel Beckett eröffnet. Der Essay Wider sich denken: Reflexionen über Cioran hat ein Zitat von Samuel Beckett und John Cage als Doppelmotto; beide Aussprüche haben thematische Beziehung zum Text des Essays. Der Essay mit dem Titel Syberbergs Hitler, der sich mit einem amerikanischen Film über Hitler auseinandersetzt, trägt als Motto ein Goethezitat (S. 148). Darin wird der zeitliche Abstand von Ereignissen und ihre Wirkung auf geschichtsbewußte Menschen der Gegenwart angesprochen: Wer nicht von dreitausend Jahren Sich weiß Rechenschaft zu geben, Bleib im Dunkeln, unerfahren, Mag von Tag zu Tage leben. Johann Wolfgang von Goethe 4.2. Motti in Textsorten der Fachkommunikation Von einer wissenschaftlichen Veröffentlichung eines bestimmten Fachgebiets, sei es eine Monographie, ein Sammelband oder ein Hochschullehrbuch, erwartet man normalerweise nicht, daß der Gesamtveröffentlichung ein Motto
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als Leitspruch vorangestellt ist und daß außerdem die einzelnen Kapitel mit Motti eingeleitet sind. Eine solche Konvention besteht für keine der genannten Textsorten; der Gebrauch von Motti ist hier allein die persönliche Entscheidung eines Autors. Die Tatsache aber, daß Motti in der Fachliteratur durchaus keine Seltenh~it sind, macht diese Textsorte interessant für die Stilistik, die Textlinguistik lmd die Fachsprachenforschung. Im Gang der folgenden Korpusuntersuchung soll zwischen fachinterner und fachexterner Kommunikation, wie es seit einem reichlichen Jahrzehnt in der Fachsprachenforschung üblich ist, unterschieden werden. Als fachinteme Kommunikation gilt die Interaktion unter Experten und mit angehenden Fachleuten. Unter fachexterner oder fachgrenzenüberschreitender Kommunikation wird gewöhnlich die Interaktion zwischen Experten und Nicht-Fachleuten, in der Regel fachlich interessierten Laien, verstanden. Der Fachlichkeitsgrad der in diesem Kommunikationsbereich vorkommenden Textsorten unterscheidet sich deutlich von dem der fach-internen Kommunikation. Eigentümlicherweise tritt das Motto als Strukturelement in bestimmten Textsorten sowohl der fachinternen als auch der fachexternen Kommunikation auf, ohne daß dieser Umstand Auswirkungen auf den Fachlichkeitsgrad des Textes hätte. Die Mottisierung als Kompositionsprinzip scheint fachübergreifend, unabhängig von der Textsorte und vom Adressaten zu sein und übereinzelsprachlich zu funktionieren. Gegenstand der folgenden Teilanalyse sind Motti in Texten der fachinternen Kommunikation, vertreten durch die Textsorten wissenschaftliche Monographie, wissenschaftlicher Sammelband, fachbezogener Essay und Hochschullehrbuch. In einem zweiten Arbeitsschritt werden Motti in Texten der fachexternen Kommunikation, vertreten durch die Textsorten populärwissenschaftliches Einführungswerk, Sachbuch und Memoiren, untersucht.
4.2.1. Motti in Textsorten der fachinternen Kommunikation In den Geisteswissenschaften ist der Textautor im allgemeinen weniger durch Formulierungsmuster in der Textproduktion (namentlich beim wissenschaftlichen Zeitschriftenaufsatz) gebunden als in den Natur- und Technikwissenschaften. Die relative Freizügigkeit der Text- und Stilkonventionen mag auch ein Grund dafür sein, daß in der Sprach- und Literaturwissenschaft nicht selten Beispiele für die Verwendung von Motti für eine Gesamtpublikation und für Einzelkapitel auftreten. Eine solche Kompositionstechnik fmdet man namentlich in solchen Monographien, die einem komplexen und oft kontrovers
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diskutierten Thema gewidmet sind. Hier setzt der Autor das Motto ganz offensichtlich in der Funktion des Arguments, des Eigenkommentars und des Autoritätenzitats ein. Weitgehend auszuschließen wären in diesem Zusammenhang die Verwendung von Motti zur rationalen Einstimmung des Lesers, zur Spannungserzeugung oder als ornative Zutat des Textes.
4.2.1.1. Motti in der wissenschaftlichen Monographie Als Beispiel für die Mottisierung einer Monographie als Gesamttext, ohne
daß die Motti in den Einzelkapiteln fortgesetzt werden, kann die Veröffentlichung von H.G. WIDDOWSON Explorations in Applied Linguistics (1979) gelten. Der Autor, bekannt als Hochschullehrer der Londoner Universität, als Vertreter der angewandten Sprachwissenschaft und als Koordinator von Lehrbuchprojekten, stellt seiner Mono graphie auf der Titelblatt ein treffendes Zitat von T.S. Eliot als Motto voran: We shall not cease from exploration And the end of all our exploring Will be to arrive where we started And know the place for the first time. T.S. Eliot, Little Gidding Die thematische Kohärenz zwischen Motto und Folgetext ist durch die Schlüsselwörter "exploration" und "exploring" deutlich. WIDDOWSON will offensichtlich mit diesem Motto zu bedenken geben, daß der Prozeß des Erkundens unter Umständen wieder zum Ausgangspunkt zurückführt, der damit in einer anderen Perspektive erscheint. Diese Erkenntnis braucht nicht notwendigerweise ein Circulus vitiosus zu sein. Die folgenden drei Monographien sind sowohl vor der Einleitung als auch vor den Einzelkapiteln mit einem Motto versehen. Jeder der Autoren erörtert einen aktuellen und klärungsbedürftigen Themenkomplex der an gewandten Sprachwissenschaft, der von der Warte der Pragmatik, Stilistik und Fachsprachenforschung aus betrachtet wird. Die Motti haben eine wichtige Funktion als Autoritätenzitate für eine interdisziplinäre Betrachtungsweise. Es handelt sich um folgende Arbeiten: ALWIN FILL: Wörter zu Pflugscharen. Versuch einer Ökologie der Sprache (1987). BARBARA SANDIG: Stilistik der deutschen Sprache (1986). THOMAS KREFELD: Das französische Gerichtsurteil in linguistischer Sicht: Zwischen Fach- und Standessprache (1985).
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Der Grazer Anglist ALWIN FILL (1987:7) leitet sein Vorwort durch ein Bibelzitat ein, wodurch das gewählte Motto den Leser direkt zum Titel des Buches hinführt und emotional auf dessen Inhalt einstimmt. ... und sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen umschmieden und ihre Lanzenspitzen zu Winzermessern; kein Volk wird noch gegen ein anderes Volk das Schwert erheben, und sie werden sich hinfort nicht mehr auf den Krieg einüben. Jesaja 2,4 Die Kapitel zwei, drei und sechs tragen Motti, die auf die Überschrift und den folgenden Inhalt abgestimmt sind und die thematische Kohärenz herstellen. Kapitel 2, mit der Überschrift" Gegensatz und Spannung House Marke 1Hoover > Groover ......................................................1.!:g,'Y!:!:q.y.~.r:..?: ..Y!:t!!!!..qy~.r. .....................\.[t!:8.~!:!!J:~.~~~~t.?:..ßg,y.~.r:.~.~~!.~!:.. Drogen ~ Adidas > Adihash ~ Tipp Ex> Trip-Ex ......................................................~.!?g,~~.. ?:.!!.g,~~............................................1.MJ!.~q..?: ..M.4.'!!.f!:................................ Tabu 1Bahlsen > Blasen 1Die Weissen > Nie Scheissen ......................................................~.f..:t.Cf:!..?:..~~.Cf:.~ ..............................................l.!:g,f]8.n~~~..?: ..!:.~~~.M..~~!!. ............... Spaß & Provokation 1Fiat > Mafia 1Bi-Fi Roll> Mi-Fi Proll l Brandt > Skorbut l Shell > Hell
Die quantitativ größere Gruppe ,,spaß und Provokation" enthält Referenztexte mit lustigen über absurden und krassen bis hin zu polemischen semantischen Kontrasten zum ursprünglichen Warennamen bzw. zum Weltwissen, das diese Ware repräsentiert. Der Prätext-Symbolik wird hier ein völlig anderer Erfahrungsbereich gegenübergestellt. Es wird angestrebt, (verdeckte?) Verbindungen zwischen zwei verschiedenen Wissensrahmen herzustellen, oder aber ,harmlose' Alltagsprodukte werden mit Ekelhaftem assoziiert.
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Davon heben sich mit jeweils ca. 20% des Materials drei Untergruppen von Referenztexten ab, die in gewissem Sinne die subkulturelle Lebensmaxime "Sex, Drugs & Rock'n'Roll" darstellen. Wiederkehrende Lexeme in Referenztexten der Gruppe ,,Musik und Partykultur" z.B. sind Rave/Raver in der Bedeutung ,Techno-Party, Techno-Fan' und Groove/Groover in der Bedeutung ,Rhythmus'. Die Referenztexte der Gruppe ,,Drogen" sind Drogenbezeichnungen oder Bezeichnungen für Dro geneffekte, diejenigen der Gruppe "Tabu" sind Vulgarismen mit Bezug auf den Sexualakt oder auf Körperfunktionen. Diese Daten lassen darauf schließen, daß die Parodierung der konsumorientiertenAlltagskultur und ihre Kontrastierung mit Konsumgütern und Riten der f ,eigenen' jugendlichen Subkultur die wichtigsten Richtlinien für die semantische Gestaltung der Falschlogos darstellen. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, daß die meisten Falschlo gos keinen direkten Angriff ihres spezifischen Prätextes darstellen. Die Prätexte werden als Exemplare aus der Masse der Konsumprodukte herausgezogen, und die Verspottung wendet sich vielmehr gegen die Masse und nicht gegen das spezifIsche Exemplar. Nur in wenigen Fällen liegt ein direkter Angriff des Prätextes vor, so in den beiden nachfolgenden Beispielen (vgl. auch Abb. 6 unten): (12)
Keine Macht den Drogen
(13)
Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein
> Keine Macht den Doofen > Keine Nacht ohne Drogen > [ ... ] stolz, bei Aldi zu kaufen
Nicht zufällig sind diese beiden Prätexte keine Logos von Konsumprodukten, sondern sozial-ideologisch geprägte Slogans, die aus dem Rahmen der dominanten Kultur (Anti-Drogen-Kampagne) bzw. einer feindlichen Subkultur (Neo-Nazis) stammen. Im Hinblick auf die formal-strukturelle Dimension stellte sich die Frage, ob und auf welche Weise die Maxime der minimalen formalen Distanz zwischen Prätext und Referenztext verfolgt wird. Grundsätzliches Merkmal der Falschlogos ist, daß die visuelle Komponente des bimedialen Zeichens unverändert bleibt und als Erkennungskonstante fungiert. Nur in wenigen Fällen kommen Eingriffe in die visuelle Komponente vor. Sie beschränken sich dabei auf Einzelheiten, die den semantisch hergestellten Kontrast begleiten oder ergänzen. In den Logos von Fruit oi the Loom und American Express (vgl. Abb. 4) werden Haschischzigaretten eingebaut, die Substitution von Brandt durch Skorbut (vgl. Abb. 8) wird von Zähnelücken begleitet, das Blumenmuster des Originallogos Ellen Betrix wird durch eine lachende Fratze im Falschlogo Ellen Be-Trips ersetzt (vgl. Abb. 8).
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Jannis K. Androutsopoulos
Die visuelle Konstante schränkt auch die Modiftkationsmöglichkeiten der verbalen Komponente ein. Fast immer ist die gleiche Ap.zahl von Graphemen erforderlich und visuell relevante Grapheme, d.h. Anfangs- und Endbuchstaben werden möglichst unverändert gehalten. Auch bestehen die meisten mitspielenden Logos aus nur einem sprachlichen Zeichen. Bei Logos mit mehrgliedrigen Namen wird in der Mehrheit nur eine Konstituente modifIziert. Typische Beispiele sind: Fruit Of The Loorn > [ ... ] Doorn, Keine Macht den Drogen> [ ... ] Doofen, United Colors of Benneton > Divided [ ... ]. Relativ selten, aber dafür umso auffälliger sind Prätexte aus Namen und Slo gan, bei denen beide Bestandteile modiftziert werden. Beispiele für diese mehrfache Abwandlung sind: Dr. Oetker I GalettaI ohne Kochen Dr. Oefter I Ravetta lohne Knochen (15) Schwäbisch Hall- Auf diese Steine können Sie bauen Chemisch Prall - Diese Steine können Sie rauchen (16) Milka I Vollmilchschokolade I Alpenmilch Mdma I Vollgasschokolade I Ravermilch 14)
Strukturell gesehen bilden die Abwandlungen ein Kontinuum von größtmöglicher Übereinstimmung (z.B. Aral > Oral) bis zur Substitution durch ein völlig unterschiedliches Lexem (z.B. Coca-Cola> Germany). Beim Versuch einer Gruppenbildung bin ich zu einer Einteilung in fünf Gruppen gekommen, die in der Tabelle 10 (s. nächste Seite) zusammen mit Beispielen dargestellt werden. Die Gruppe (1) umfaßt Referenztexte, die durch Addition, Subtraktion und Umstellung von Graphemen entstehen; Gruppe (2) umfaßt ~inimal paare im engeren Sinne,31 Gruppe (3) umfaßt ,Quasi-Minimalpaare', d.h. sogenannte ,Phonoid-Kontraste' zwischen mehr als einem Phonem bzw. Graphem. 32 Zur Gruppe (4) gehören sowohl einfache Lexeme als auch Komposita. Bei den ersteren werden graphematische Merkmale des Prätextes (Graphienzahl, Anfangs- und Endbuchstabe bzw. ihre visuellen Konturen) konstant gehalten, bei Komposita und SuffIXbildungen dient die W ortbildungsstruktur als Konstante. Als ,lose' Substitutionen (Gruppe 5) habe ich Referenztexte mit neuen Lexemen oder Konstituenten von Komposita eingestuft, die keine deutliche wortinteme strukturelle Gemeinsamkeit zum Prätext aufweisen.
31
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Diese Minimalpaare sind phonetisch, müssen aber nicht immer zugleich graphematisch sein. Dies ist der Fall bei die weissen > nie scheissen oder Betrix > B-Trips. Vgl. dazu Ortmann (1981: IX, XI).
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Tab. 10: Formale Verfahren der Herstellung von Falschlogos (1)
1 Addition,
Subtraktion, Umstellung
::::::::::T~~~~~~~:::::::::::::::::::::::::::::::::::::I~:~~:~~::~?H:~:~~~~~:~~?!.?::::::::::r:t.~?~:'~~:~::!.~~?:~:::::::::::::: l Subtraktion
l Lego > Ego
l Shell > Hell
···········'f·Ädditi~~·&··S·~btr~ti~~········!·Fi~·i··;··M~fi~··································r················ ......................................
············l·u~~~il~~g:································Tij~hi~~·~··;·Bi~~~~························I·s~"i;i~~~~·;·;··s~h~i~;~;······· •....••.••.•; ...........................................................j ................................................................ Naiv
~
·.· ..... · ...i ..........................................................., ...............................................................;.......................................................
.~~!.. . .[.~~.~~.~~.~~~.~~..........................................................................................~ ...................................................... ~ wortinitial
..
~ Aral > Oral
~ lever> Never
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