Propyläen-Weltgeschichte Eine Universalgeschichte
Herausgegeben von Golo Mann, Alfred Heuß und August Nitschke
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Propyläen-Weltgeschichte Eine Universalgeschichte
Herausgegeben von Golo Mann, Alfred Heuß und August Nitschke
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
Bilder und Dokumente
XII. Bilder und Dokumente zur Weltgeschichte Ausgewählt und bearbeitet von Karl Danz und Wolfram Mitte. Mit einer Einleitung von Hans Freyer
Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
PWG Bd. 12 Rechenschaft über Jahrtausende. Eine Einleitung von Hans 7
Rechenschaft über Jahrtausende Eine Einleitung von Hans Freyer Von dreitausend Jahren muß der Mensch, nach dem bekannten Goethewort, sich Rechenschaft zu geben wissen, um nicht im Dunkel unerfahren von Tag zu Tage zu leben, und mit diesem Zeitmaß hat sich Goethe im Einklang befunden mit der Geschichtswissenschaft seiner Zeit. Um 1200 v. Chr. lag der Beginn der faßbaren Geschichte des Volkes Israel, und ebenda lag das erste, zwar noch halb sagenhafte, doch im Kern hinreichend beglaubigte Ereignis der griechischen Geschichte, der Troianische Krieg. Alles zuvor waren Sagen und Mythen der Völker, tiefsinnig zwar, doch nicht historisch verifizierbar, darum auch kein Gegenstand einer möglichen Rechenschaft. Neunzig Menschenalter aneinandergereiht, neunzigmal der Erbübergang von den Vätern zu den Söhnen – das war die »Weltgeschichte« zur Goethezeit. Diese drei Jahrtausende haben sich seitdem verdoppelt, ja verdreifacht; der vorliegende Band gibt mit seinen Bildern und Dokumenten über fast zehn Jahrtausende Rechenschaft. Der ausgrabende Spaten, der verschüttete Kulturen freilegte, die Entzifferung bisher unlesbarer Schriftsysteme und die Methoden der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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vergleichenden Sprachwissenschaft, die es gestatteten, auch in die schriftlosen Räume der Geschichte vorzudringen, haben diese Erweiterung des historischen Blickfeldes bewirkt. Die Welt des Alten Orients wurde aus einem »Traum der Vorzeit«, so nannte sie Herder, zum historischen Zeitraum, desgleichen die des alten Indien und des alten China. Sie gliederten sich auf in Völker mit bestimmtem Namen, in Reiche, die aufeinander gefolgt sind und politisch miteinander zu tun hatten, in Zivilisationen, die je ihr eigenes Gepräge trugen. Aus der einen Menschheit, die nach dem alten Geschichtsbild erst eine Kindheit, dann eine Jugend, dann ein Mannesalter durchlaufen hat und nun vielleicht ein Greisenalter durchläuft, wurde eine Vielheit selbständiger Träger des geschichtlichen Geschehens, und an die Stelle des großen Tageslaufs, als den Hegel die Weltgeschichte symbolisierte, trat ein weiter Raum, in dem bald hier, bald da Geschichte anhebt, Geschichte endet, etwa so, wie im Kosmos zu jeder Zeit alle Phasen des Sterngeschehens nebeneinander da sind, aufglühende Sterne, helle Sonnen und erkaltete Massen. All das betraf zunächst das dritte und zweite vorchristliche Jahrtausend, den Zeitraum der ältesten Hochkulturen. Doch auch darüber hinaus ist es der Geschichtswissenschaft gelungen, ihr Fundmaterial in dem Sinne zu »historisieren«, daß nicht nur die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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einzelnen Stücke abstrakt klassifiziert und mit naturwissenschaftlichen Methoden datiert werden können, sondern daß die konkreten Lebensformen, in denen sie ihren Ort hatten, und die menschlichen Gruppen sichtbar werden, die deren Träger gewesen sind. Wanderungen, Durchdringungen und Überlagerungen, Vorstöße und Untergänge zeichneten sich ab, auch in den Jahrtausenden der Frühgeschichte und in den Räumen, die außerhalb der Hochkulturen gelegen haben. Das ganze Neolithikum, also der ganze Zeitraum des seßhaft gewordenen Menschen, wurde grundsätzlich für die historische Fragestellung erschlossen. Weitere vier Jahrtausende sind damit der Weltgeschichte zugeschlagen, zumindest als »Übergangszone zur historischen Zeit« (A. Heuß) und als deren »urgeschichtlicher Horizont« (R. Pittioni); der Fackellauf der Generationen ist nahezu verdreifacht. Zweihundertfünfzig oder dreihundert Menschen, der eine als Vorfahr des anderen gedacht – das ist gewiß keine Masse, sondern eine übersehbare Schar, aber das ist die Kette der Generationen, die durch die Weltgeschichte gespannt ist, bis hin zu denen, die das Jägerund Sammlerleben mit dem seßhaften Dasein vertauschten, die zuerst (im Doppelsinne des Worts) »gebaut«, nämlich das Haus gebaut und das Feld bebaut, und die zuerst an festen Orten gewohnt haben. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Gerade angesichts der starken Erweiterung des historischen Blickfeldes ist es legitim, mittels der Generationenrechnung diese perspektivische Verkürzung vorzunehmen und sich dadurch der Übersehbarkeit der Weltgeschichte zu vergewissern, jedenfalls legitimer, als auf Größenmaße außerhistorischer Art zurückzugreifen. Seit sich die Naturwissenschaften – die Paläontologie, die Geophysik, die Kosmologie – ihrerseits auch historisiert haben, seit sie im prägnanten Sinne von einer »Geschichte« der Erde und des Lebens auf ihr, von einer »Geschichte« des Sonnensystems, des Weltalls sprechen, werden solche Rechnungen gern vorgelegt: am Alter des Homo sapiens gemessen sei das, was wir anspruchsvollerweise die Weltgeschichte nennen, kaum ein Fünftel, am Alter der Menschheit überhaupt gemessen sei es nicht viel mehr als ein Hundertstel, am Alter des organischen Lebens auf dem festen Land gemessen sei es der zwanzigste Teil eines Promille und so fort bis zu verschwindenden Bruchteilen. Als Rechenexempel ist das richtig, nur hat es keinen Sinn, Werdeprozesse, in denen unwegdenkbar das Bewußtsein und die Freiheit am Werke sind und deren Kontinuität durch Tradition, durch Fortsetzungs- und Veränderungswillen, immer auch durch Entscheidungen gestiftet wird, mit rein naturhaften Entwicklungen auf eine und dieselbe Zeitskala zu projizieren. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Zwar reichen einige der Kategorien, die für die geschichtliche Welt konstitutiv sind, in die vormenschlichen Stufen des organischen Lebens zurück. Dessen ist sich die moderne Biologie sehr bewußt, so Adolf Portmann, wenn er dem Leben insgesamt eine »Hypertelie«, d. h. die Eigenschaft zuspricht, sich in der Sorge für die Lebenserhaltung der Individuen und der Gattung und in der Ausbildung zweckhaft funktionierender Organe und Instinkte nicht zu verausgaben, sondern einen Teil seiner gestaltbildenden Energie zum Aufbau einer Innerlichkeit und einer sinnlichen Erscheinung zu verwenden, die vom Zwang der Umweltbedingungen und der Anpassung an sie unabhängig sind. Im humanen Bereich heißt diese Hypertelie Freiheit, Bewußtsein, Geist, und erst in dieser Steigerung wird sie zum Thema der Geschichte. Innerlichkeit, die sich ausdrückt, nun aber sich selbst aussagt und mitteilt – spontane Energie, die sich als sichtbare Erscheinung kundgibt, nun aber auch in die Umwelt hineinwirkt und in ihr gegenständlich wird – Kommunikation, die sich zu Ordnungen des Zusammenlebens durchformt und in Institutionen befestigt – alles das ist im organischen Leben zwar angelegt und leuchtet vielerorts, zu- weilen gespenstisch in ihm auf, doch erst in den schmalen Zeiträumen, in denen der Mensch seine Lebenszwecke und einen Teil seiner freien Gedanken auf Dauer in Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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ein Stück Erde hineinobjektiviert hat, entfaltet es sich voll, und erst dann wird der Werdeprozeß zu Geschichte, wird der Rhythmus des Geschehens und der Wirkungszusammenhänge zu historischer Zeit. Damit aber werden für alle Ereignisse und Zuständlichkeiten eigene Maßstäbe des Tempos und der Dauer gültig. Seit es Historie gibt, ist sie, nach Friedrich Schlegels Wort, »rückwärtsgewandte Prophetie« gewesen, das heißt, sie hat es unternommen, das Vergangene und schon Entschiedene in den Aggregatzustand der Aktualität zurückzuversetzen und es in diesem Sinne zu »vergegenwärtigen«. Wie der Prophet seine Gegenwart nach vorn zu vor die Entscheidung stellt, stellt der Historiker die Menschen gleichsam noch einmal vor die Entscheidungen, die schon getroffen worden sind und sich fortwirkend zu geschichtlicher Wirklichkeit konkretisiert haben, das Gewebe wieder auftrennend, das sich längst über ihnen geschlossen hat. Im nachdenkenden Bewußtsein wiederholt er den Weg, der von der noch offenen Situation durch die Aktualität des Handelns hindurch zur nächsten Epoche, d. h. zum nächsten Haltepunkt geführt hat. Die Rückwärtswendung des historischen Blicks biegt also wie in einer zwangsläufigen Torsion immer sofort in eine Bewegung ein, die vom Früheren auf das Spätere, vom Einst auf das Jetzt gerichtet ist. Die Historie registriert, oder sie erzählt oder sie sucht zu begreifen, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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wie die Ereignisse aufeinander gefolgt, die Situationen auseinander erwachsen sind, wie die Wege, die die Vorfahren einschlugen, von den Erben weitergegangen oder verlassen wurden, wie Begonnenes zum Erfolg geführt wurde oder zum Scheitern verurteilt war. Der Strom des Geschehens, der gegensinnig zur vergehenden Zeit in die Zukunft drängt, zwingt dem historischen Denken diesen Trend auf. Aber die Geschichte ist nicht nur die Abfolge der Ereignisse und Epochen im Nacheinander, sie ist auch das Fortbestehende, das Bleibende, und diese Begriffe müssen in der ganzen Breite ihrer Bedeutung verstanden werden: vom materiellen Nochimmer-Dasein bis zum insgeheim weiterwirkenden Anfang, von reinen Relikten bis zum Erbe, das sich durch viele Wandlungen hindurch erhält; denn in der geschichtlichen Wirklichkeit bleibt vieles lebendig, vieles über seine Zeit hinaus wirksam, vieles an seiner Stelle gültig. Die Veränderungen aber, die der Mensch an den natürlichen Beständen seiner Umwelt vorgenommen, die Werke, die er in sie hineingearbeitet hat, prägen sich der Erde auf, als wären sie Stücke von ihr. Sie dauern, während die Geschlechter der Menschen dahinsterben, auf ihr fort, sei es als Trümmer, die vom Wildwuchs überwuchert und unter angewehtem Erdreich begraben werden, sei es als vergessene oder als verwunschene oder als geheiligte Überreste aus grauer Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Vorzeit, sei es als Behausungen, in denen noch immer gewohnt werden kann, oder als Grundmauern, auf denen weitergebaut wird. So ist also die Oberfläche der Erde mit menschlicher Geschichte wie mit einer Patina überzogen, nicht gleichmäßig, denn das Ganze war kein Naturprozeß, als würde eine Bronzeschale durch die Einwirkungen der Luft verfärbt, sondern es ging im Geschehensmodus der Weltgeschichte vonstatten, ereignishaft, wellenweise, stoßweise, bald hierhin, bald dorthin ausgreifend, an vielen Stellen so undicht, daß die Spuren kaum sichtbar sind, an einigen so eindrücklich und in einer so dichten Abfolge immer neuer Zugriffe, daß es keinen Fleck gibt, der nicht von Menschenhand genutzt, gebahnt, gestaltet wäre, und daß die Residuen der Generationen, der Jahrhunderte, der Jahrtausende Schicht auf Schicht übereinander gelagert sind. Das beginnt mit dem Beginn der historischen Zeit, dort wo der Mensch zum seßhaften Wesen wird. Die moderne Prähistorie hat Vorformen der Seßhaftigkeit bei den spätpaläolithischen Jägern und Sammlern aufgedeckt: Hütten- und Hausbau, Anfänge des Feldbaus und der Tierhaltung. Doch erst im Neolithikum hat sich der Mensch in einigen Landschaften der Erde so festgenistet, daß er ihren Ertrag zu seiner Sache machte, zur Sache seines Besitzes und seiner Nahrung, aber auch zur Sache seiner Arbeit und Sorge. Das ist, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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an so wenigen und engbegrenzten Stellen es fürs erste geschehen sein mag, ein entscheidendes Ereignis in der inneren Geschichte des Menschen, und diese Wandlung der Innerlichkeit dokumentiert sich in sichtbaren Veränderungen, die der natürlichen Erde angetan werden. Rodungen in den Busch und den Wald hinein, Bezirke, die eingehegt und vom Wildwuchs freigehalten werden, Fluren, die, wie es bei Hesiod heißt, von den Werken Demeters erfüllt sind, Häuser aus Holz und Lehm oder aus Stein, gebahnte Wege, gefaßte Brunnen und Knüppeldämme durch den Sumpf – solche »Bilder« hat es zuvor auf Erden nicht gegeben. Der vorliegende Band der PropyläenWeltgeschichte setzt daher mit Bildern neolithischer Siedlungen, wie Karim Shahir und Qalat Jarmo, ein. Bereiche der Innerlichkeit, wie der Kult, die Sitte, die Familienordnung und das Gruppenleben, sind schwerer faßbar, doch auch sie haben in Bestattungsformen, zudem in Bildwerken und Kultgeräten einen Niederschlag gefunden, aus dem sie erkennbar oder doch erschließbar werden. Die gebrannte Tonware, die anfangs fehlt, dann aber von Schicht zu Schicht reicher wird, bietet mit ihrem technischen Standard, ihren Ritzungen und ihrer Bemalung das nahezu ideale Hilfsmittel für die Unterscheidung und Periodisierung der frühgeschichtlichen Kulturen. Seit es den Pflug gibt und dank ihm den tiefer Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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gefurchten Acker statt des bloßen Pflanzbeets, hat sich die Erde in ihren gemäßigten und subtropischen Zonen mit einem Streumuster bäuerlicher Landschaften überzogen, das dicht und dichter wurde, schließlich ganze Länder, halbe Kontinente bedeckte, bald mehr auf Feldbau, bald mehr auf Viehhaltung gestellt. Die Erfahrungen und Erkenntnisse, auf denen beide beruhen, die Techniken, mit denen sie arbeiten, wurden ständig gesteigert; auch kargen und schwierigen Böden wurde durch Bewässerung, durch Terrassierung, durch Melioration ein Ertrag abgewonnen. Ein ganzes System von Kategorien hat hier seinen Ursprung: Kategorien wie die Heimat, die Grenze, der Nachbar und die Grenze auch gegen ihn, das Eigentum, das im Boden verortete Recht, die Wirtschaft und Investitionen auf Zukunft. In der vielschichtigen Patina der kultivierten Erde stellt die bäuerliche Landschaft eine breit ausgelegte Schicht dar. Mit einer großartigen Stetigkeit hat sie sich durch die Jahrtausende hindurch gehalten, im Grunde stetiger als alles, was die hohen Kulturen mit ihren kühneren, aber auch hinfälligeren Einbauten an Landschaft geschaffen haben. Die hohen Kulturen, die seit dem Ausgang des vierten vorchristlichen Jahrtausends teils nacheinander, teils nebeneinander aufgestiegen sind, sind, an der Vielzahl der Völkerstämme gemessen, die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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außerhalb von ihnen lebten, seltene Gebilde; an der Weite der bewohnten Erde gemessen sind sie scharf lokalisiert, je an einen bestimmten Raum von der Größenordnung etwa des Niltals, des Zweistromlandes, des Punjab, des Huangho-Tals oder der Agäis gebunden; dies selbst dann, wenn man zu ihren Kerngebieten die Randzonen hinzunimmt, in die ihr Machtanspruch und ihre geistige Formkraft mit abnehmender Intensität hineinstrahlte. Bei weitem der größere Teil der Erdoberfläche ist in das Kategoriensystem der Hochkultur nie einbezogen worden. Nur als eine Mehrzahl von Inseln ist diese Schicht in die Patina der vermenschlichten Erde eingelegt. Zudem sind die hohen Kulturen vergänglich. Sie sind aufgestiegen und abgesunken oder zerborsten. In einzelnen Fällen wurden sie von feindlichen Nachbarn verbrannt, von Völkerfluten überschwemmt, in anderen erlahmten sie und erloschen. In ihrem Bereich nimmt das Geschehen ganz den Charakter der Geschichtlichkeit an. Seine Zeitmaße verkürzen sich. Drei oder fünf Generationen für das Anlaufen und Abklingen einer geistigen Bewegung oder eines Kunststils, zehn für den Bestand einer Machtordnung sind schon viel; nur wenige Reiche der Weltgeschichte haben es auf längere Lebenszeiten gebracht, und auch sie nur, wenn sie durch immer neue Nachgriffe gehalten und durch frische Kräfte aufgemischt Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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wurden. Am Anfang zwar nicht aller, aber der meisten Hochkulturen steht das geschichtliche Ereignis der Landnahme, zuweilen nur erschließbar, zuweilen in voller Deutlichkeit und sogar datierbar, und steht die Aufrichtung einer Herrschaftsordnung – ein Vorgang, der freilich auf sehr anderen Wegen verlauten und zu sehr anderen Effekten führen kann, als die schematische Überschichtungstheorie es wahrhaben will, und der insofern dauernd in die Geschichte eingefangen bleibt, als die Herrschaftsordnung durch Stände- und Klassenkämpfe wiederholt umgebildet werden kann. Jedenfalls haben alle Hochkulturen eine gestufte Gesellschaft aus Ständen verschiedenen Rangs und ungleichen Rechts zu ihrem Tragkörper gehabt. Dieser Spannungsfaktor muß in alle Kategorien eingerechnet werden, die für die Hochkultur gültig sind. Auch ihre Werkwelt zeigt, mit Augen zu sehen, die Stufung nach hoch und niedrig: hochummauerte Städte und breitgestreute Dörfer, Paläste, von denen aus geherrscht, und Quartiere, in denen gefront wird, Pyramiden und Stutentürme als Wahrzeichen der Dauer und bewegliches Leben in den Gassen des Handels, prunkvolle Tempel der Reichsgötter und verborgene Kultstätten der Bauern und Hirten. Damit verhärtet sich der Griff, der auf den natürlichen Landschaften liegt, und das Menschenwerk, das Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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in sie eingebracht wird, verdichtet sich. Hochkulturen nehmen ihr Land nicht nur in Pflege, sie gestalten es um. Schon seine Fähigkeit, eine dichtere Bevölkerung zu tragen, erst recht seine Fähigkeit, über den Nahrungsbedarf hinaus Überschüsse zu erbringen, die dem Kult, der Kunst und dem Luxus dienen, ist meist nicht Naturgabe, sondern menschliche Zutat, und diese Anlagen, z. B. die Bewässerungssysteme, durch die der reiche Segen der großen Ströme über das Land verteilt wird, sind großenteils das Werk der herrschaftlichen Gewalten; erst ein zielbewußter politischer Wille, der die lockeren Siedlungen zu einem einheitlich verwalteten Ganzen zusammengreift, denkt so weiträumig und langfristig. Noch augenscheinlicher als das Werk dieser Gewalten sind die repräsentativen Bauten, die Schmuckplätze und Gärten, die dem Land nun seine Schwerpunkte geben, aus ihm neue Mitten und Perspektiven erschließen und es im größten Fall geradewegs verzaubern können. Sie sind natürlich nie das Werk der Herrscher in dem Sinne, daß diese sie geschaffen hätten, aber sie waren die Auftraggeber, die Bauherren und die ersten Nutznießer. Von den Höhen, auf denen er in ganzer Reinheit erstrahlt, senkt sich der Stil, wenn eine Kultur voll ausreift, in die mittleren und unteren Lagen herab. Eine Schar schöpferischer Geister, keineswegs einhellig, jeder eigensinnig auf seine Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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besondere Leistung bedacht, doch durch ein vielfältiges Geflecht von Traditionen und Nachfolgen, von Beeinflussungen und Widerständen verbunden, schafft dann durch Generationen hindurch eine Welt von Formen, die zwar nicht aus einem Guß, aber aus einem Geist ist, Geniales neben nur Gekonntem, und die saubere Arbeit ist oft ebenso köstlich wie das glanzvolle Werk. An solchen Stellen wird sichtbar, daß in den hohen Kulturen die Kategorien des seßhaften Lebens so stark umgebildet und so über sich hinausgesteigert werden, daß sich in diesen Räumen eine neue Schicht von Menschlichkeit über die Erde gelegt hat. Von Gegenständen, die er mit seiner Hand gebaut und gebildet hatte, war auch der seßhafte Mensch der Frühkulturen schon umgeben; auch er lebte in einer Umwelt, die er zu einem beträchtlichen Teil selber gestaltet hatte. Doch alle Gegenstände, mit denen er umging, waren auf den Gebrauch hin gedacht, zu dem sie da waren; sie hatten ihren festen Ort im Haus oder in der Gemarkung, erfüllten da ihre Bestimmung und waren für diese zuhanden. Die Werke der hohen Kultur sind in viel höherem Grade Produkte eines schöpferischen Willens. Es ist, als löste sich ein Relief von dem gewachsenen Stein, aus dem es herausgearbeitet ist, ab und rundete sich zur vollen Figur: so runden sich hier die Formen zu voller Gegenständlichkeit. Der Mensch Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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ist dann von Dingen umgeben, die, obzwar aus seiner Werktätigkeit stammend, nicht nur zur Verfügung stehen, sondern sich behaupten, nicht nur zu etwas nütze sind, sondern etwas aussagen, und der Sinn, den sie aussagen, ist in ihnen ganz zu sinnlicher Erscheinung geworden. Dieser Sachverhalt gipfelt zu seiner Höhe auf, wenn das geschaffene Ding überhaupt zu keinem praktischen Gebrauch bestimmt ist, wenn also sein Daseinsrecht lediglich darin besteht, als bedeutungsvoller, sich selbst aussagender Gegenstand da zu sein. Das ist der Fall des Kunstwerks. Es ist Gegenstand im absoluten Sinn: Innerlichkeit, die ganz zu selbstgenügsamer, souveräner Erscheinung objektiviert worden ist. Hier ist allerdings sofort die Gegenrechnung anzufügen. Wenn wir die Werke, die aus früheren Kulturen erhalten geblieben sind, insbesondere die Werke ihrer hohen Kunst, als in sich vollendete Gebilde und als Muster der Schönheit schlechthin bewundern (und das sind sie gewiß auch!), so machen wir sie zum Objekt einer ästhetischen Betrachtung. Für sie selbst aber ist das nur ihre posthume Existenz, gleichsam ihre Fortdauer in die Sphäre der Zeitlosigkeit hinein. In ihrer primären Existenz waren sie Stücke einer Welt, in der von wirklichen Menschen wirklich gelebt worden ist. Sie waren: eine Krone, die getragen und umstritten worden ist, ein Schloß, indem Feste Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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gefeiert und Verträge geschlossen worden sind, ein Weihbild, dem Verehrung dargebracht wurde. In diese ihre Realität muß die Historie sie zurückversetzen, und so werden sie in diesem Bande genommen: als Dokumente des geschichtlichen Lebens. In der Schrift wird der Geist selbst, nämlich als Sprache, zum sichtbaren Gegenstand, verschlüsselt für den Unkundigen, durchsichtig klar für den, der lesen kann. Die heiligen Schriften der Weltreligionen, die Inschriften, in denen die großen Namen und Ereignisse festgehalten sind, die Urkunden und Rechtsbücher, in denen die Politik ihren Niederschlag gefunden hat, schließlich die Briefe und Aufzeichnungen, in denen der wirtschaftliche Verkehr und das private Leben eingefangen sind – das sind im ausgezeichneten Sinne »Dokumente«. Auch die Denkgeschichte der Menschheit, die Geschichte ihres Wissens und ihres Dichtens leuchtet in diesen Schriften auf. Nietzsche nennt in seiner unzeitgemäßen Betrachtung »Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben« diejenige Art der Geschichtsanschauung, die die Hinterlassenschatten der Vergangenheit zu bewahren bemüht ist und aus ihnen ihr Wissen schöpft, die antiquarische Historie. Ihren Nutzen sieht er darin, daß sie dem gegenwärtigen Leben das »Wohlgefühl seiner Wurzeln« zu geben vermag. Wendet man den Begriff der antiquarischen Historie allgemeiner, so ist Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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er eine treffende Bezeichnung für das Bestreben, das Einst aus dem zu erschließen, was von ihm nachgeblieben ist. Der antiqua- rischen Historie stellt Nietzsche die monumentalische entgegen: sie sucht in der Geschichte die großen Gestalten und Ereignisse, stellt sie in ihrer vollen Individualität vor Augen und ersieht aus ihnen, wessen der Mensch fähig ist; darin besteht ihr »Nutzen«. Die beiden Arten der Historie ergänzen einander, weil jede von ihnen anderen Bereichen und Aspekten der geschichtlichen Wirklichkeit gerecht wird. Für die Frühgeschichte und noch für die alten Hochkulturen ist die antiquarische Historie die adäquate Sichtweise, so gewiß auch in ihnen schon einzelne Gestalten und Ereignisse in die Monumentalität des Individuellen aufragen. Doch von der griechischrömischen Antike an fordert die monumentalische Historie ihr volles Recht, und es ist schwer zu sagen, ob dies mehr an der größeren Reichhaltigkeit der Quellen liegt oder an ihrer Andersartigkeit oder aber an der gesteigerten Geschichtlichkeit des Geschehens selbst. Wir möchten glauben, daß alle drei Momente zusammenspielen und einander bedingen. Für die Ereignisse bedeutet das, daß sie nunmehr in ihrer ganzen Einmaligkeit aufblitzen, hart individualisiert nach Zeit, Raum und Umständen, von bestimmten Personen bewirkt und ursächlich miteinander Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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verkettet. Viele der alten, z. B. der altägyptischen Inschriften halten fest, was immerzu und immer wieder geschehen ist. Herodot dagegen nimmt sich vor, zu erkunden und aufzuzeichnen, was einst und jetzt an Einmaligem geschah, damit, wie er sagt, »nicht die großen wunderbaren Taten ruhmlos dahinsinken, die von den Hellenen wie von den Barbaren vollbracht worden sind«. Das ist die Geburt der monumentalischen Historie. Sie begleitet von nun an das geschichtliche Geschehen und greift, soweit sie es vermag, in die Vergangenheit zurück; auch diese wird ihr zu einer dramatischen Bilderfolge aus lauter einmaligen, entscheidungsvollen und miteinander verketteten Ereignissen. In den uns näheren Jahrhunderten wird es möglich, das geschichtliche Geschehen durch Dokumente zu vergegenwärtigen, die aus ihnen selbst stammen: durch Flugschriften, Zeitbilder, schließlich durch Ereignisbilder. Dergleichen gibt es aus früheren Zeitaltern nur in seltenen Beispielen und dann immer mehr in symbolisierender als in individualisierender Absicht, z. B. als Denkmal für einen Sieg. Das neue Ereignisbild aber packt die Geschehnisse gleichsam in flagranti. Das technische Mittel der Fotografie gestattet es, Situationen, die mit dem bloßen Auge kaum übersehbar wären, und Geschehnisse, die mit dem Moment vergehen, im Bilde festzuhalten. In den Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Teilen XIII und XIV des Bandes wird davon reichlich Gebrauch gemacht. Für den Menschen, der in der Geschichte steht, in ihr handelt und schafft, bedeutet die gesteigerte Geschichtlichkeit, daß er als festumrissene, voll ausgeprägte Individualität faßbar wird. Die Denkgeschichte der Menschheit stellt sich nun nicht mehr bloß in anonymen geistigen Bewegungen, sondern in einzelnen Denkern dar, die Kunstgeschichte vermag die Namen der Künstler zu nennen, vermag den Geist, den Willen und die Schicksale zu charakterisieren, die ihren Werken wie ein individuelles Siegel aufgeprägt sind. So erst recht in der Sphäre des politischen Handelns. Wenn Jakob Burckhardt der europäischen Renaissance, und erst ihr, die »Entwicklung des Individuums« zuschrieb, war gewiß nicht gemeint, daß es nicht auch in früheren Zeitaltern ausgeprägte Persönlichkeiten gegeben hätte, wohl aber, daß nun die Individualität und ihre Autonomie zum kultivierten Wert und zum bewußten Einsatz im Spiel des geschichtlichen Geschehens wurde. Ein deutliches Symptom dafür ist das Porträt. In der für das Abendland charakteristischen Kunst der Ölmalerei schmilzt es alle Züge von Typik weg, die den früheren Porträtstatuen anhafteten, und gibt den Menschen in der ganzen Offenheit und Hintergründigkeit seiner Individualität wieder. In der Industriekultur des neunzehnten und Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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zwanzigsten Jahrhunderts tritt ein neues System von Kategorien in Kraft. Daß der Übergang zu ihr in der Geschichte der Menschheit eine Kulturschwelle bezeichnet, die derjenigen des Neolithikums ebenbürtig ist, ist und wird immer mehr die Überzeugung der modernen Geschichtsphilosophie, auch dort, wo sich diese Überzeugung keineswegs zu der These versteigt, die Heraufkunft der Industriekultur bedeute den Durchbruch zu der Endgestalt der menschlichen Kultur, und mit ihrer schon absehbar gewordenen Vollendung werde das Ziel der Geschichte erreicht sein. Das letztere ist der Leitgedanke vieler sozialistischer Geschichtsideologien, auch einiger liberaler und der meisten technokratischen. In den Spätzeiten der alten Hochkulturen – nicht aller, aber z. B. der ägyptischen, der griechisch-römischen und der chinesischen – kann man gewisse Analogien zu der Wandlung, die im Abendland mit der industriellen Revolution begonnen hat, und gradezu Vorgriffe auf das Kategoriensystem entdecken, das in ihr gültig wird: Expansionen weit über das ursprüngliche Kerngebiet der Kultur hinaus, Tendenzen auf Vergroßstädterung, Verstaatlichung, Bürokratisierung und das Dominantwerden ökonomischer und politischer Motive auf Kosten kultureller und religiöser. Das sind die Zeiträume, die die Kulturmorphologie gern als »Zivilisationen« im spezifischen Sinne Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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bezeichnet. Es kann aber heute bereits als entschieden gelten, daß die Industriekultur nicht oder höchstens zur Hälfte richtig interpretiert würde, wenn man sie als Spätphase einer immanenten Kulturentwicklung ansähe, die vergleichbar schon mehrmals in der Geschichte der Menschheit abgelaufen ist; nur der Begriff der Kulturschwelle wird ihr gerecht. Dafür spricht bereits die Durchschlagskraft, mit der sich der Industrialismus über die ganze Erde ausbreitet. Sein Ursprung liegt, dem Räume wie dem Geiste nach, eindeutig im Abendland, und im ersten Jahrhundert seiner Geschichte konnte er sehr wohl als Hochleistung und Sonderschicksal der europäischen Völker erscheinen. Seit der Epoche der Weltkriege aber ist er aus einer europäisch-amerikanischen Angelegenheit zum Lebensgesetz des ganzen Planeten geworden. Auch Räume, die nie eine Hochkultur und nicht einmal eine dichtere Bevölkerung getragen haben, übergreift er, oder er hat sie schon übergriffen, sie sogar mit besonderer Vehemenz. Eine Grenze, an der er haltmachen könnte, ist kaum mehr sichtbar. Weder eine Altkultur von tausendjähriger Prägung noch die natürliche Sprödigkeit urtümlicher Länder ist gegen ihn immun. Vor allem aber spricht dafür die Neuartigkeit des Ansatzes, der mit ihm genommen worden ist, und die Unbedingtheit, mit der er sich zur Geltung bringt. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Schon die analytisch-experimentelle Naturwissenschaft, die im siebzehnten Jahrhundert entstand und auf der die Industriekultur beruht, stellt in der Denkgeschichte der Menschheit einen durchaus neuen Typus des Erkenntniswillens und des methodischen Zugriffs dar. Das gilt noch mehr für die auf diese Wissenschaft fundierte Technik; sie ist nicht nur dem Grad und der Menge, sondern der Art nach etwas Neues. Während die alten Techniken, mit denen die Hochkulturen bis 1800 ausgekommen sind, die Natur zwar nicht durchweg stehen ließen, wie sie war, aber mit ihr rechneten, wie sie war, reißt die industrielle Technik die Natur dort auf, wo ihre innersten Strukturen verborgen sind und wo ihre latenten Energien schlummern. Die natürlichen Bestände werden von ihr nicht einfach genützt, auch nicht bloß veredelt, sondern in abstrakte Elemente zerlegt, in die sie sich von selbst nie zerlegen würden, und nach neuen Bauplänen konstruktiv zusammengesetzt, auch zu Materien, die in der Natur nicht vorkommen. Energien werden aufgestaut, die sich von allein nie an dieser Stelle aufgeladen hätten, und sie werden auf Wirkungsbahnen geleitet, die genauso künstlich sind. Wenn mit Einsatz solcher technischen Mittel auf die natürliche Erde eingewirkt wird, müssen sich auf ihr binnen kurzer Zeit Veränderungen einstellen, wie sie vom Menschen und seiner kultivierenden Arbeit in früheren Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Zeitaltern nie ausgegangen sind. Ein hundertprozentiges Industrierevier von heute unterscheidet sich von der Landschaft, die vor fünf Generationen an der gleichen Stelle lag, zweifellos bereits stärker, als diese sich von dem Buschwald unterschied, der vor fünf Jahrtausenden dort gestanden hat. Auch vor dem Menschen selbst macht die industrielle Technik nicht halt. Nicht nur, daß er mit Leib und Seele zum Objekt von Human- und Sozialtechniken gemacht wird: auch stillschweigend und indirekt, auf dem Wege der Anpassung und Eingewöhnung wird sein Dasein bis in die privaten Bezirke hinein verändert. Wo der Großbetrieb, die Massenware, der Asphalt und das technisierte Verkehrsmittel das Gesetz des Lebens bestimmen, wird auch die überlieferte Volksordnung in industrielle Gesellschaft transformiert. In den Neuländern ergibt das die charakteristischen Siedlungsbilder, die ohne historisches Fundament von vornherein auf den industriellen Zweck hin entworfen sind, zugleich immer die Sozialstrukturen, die sich in solchen Umwelten einstellen. Die Kategorien der Industriekultur: Rohstoff und Verarbeitung, Standort und Zubringersystem, Produktion, Absatz und Konsum, Arbeitsstätten, Wohnquartiere und Freizeitgelände verbinden sich dann zu einem funktionalen Zusammenhang, der alle Naturgegebenheiten in sich Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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aufsaugt. Das Land wird zur bloßen Standfläche, die nach rein industriellen Erwägungen frei gewählt und sodann zweckentsprechend aufgeschlossen, planiert, reguliert wird. In den alten Kulturländern dagegen hat das Kategoriensystem der Industriekultur in die älteren Schichten, die mit großer Mächtigkeit auf ihnen liegen, hineingeplant werden müssen. Es kann dann nicht anders sein, als daß diese Schichten wie in einer geologischen Revolution zerrissen und verworfen werden. Das betrifft sowohl die ländlichen Landschaften wie die Werke der Hochkultur. Ein Gebirgstal wird zur Stauanlage für den Zweck der Energieerzeugung oder zur Erholungslandschaft für die Städter funktionalisiert. Eine alte Stadt wird um ihren historischen Kern herum nach den Grundsätzen der modernen Stadterweiterung weitergebaut und bis in diesen hinein für den motorisierten Verkehr aufgeschlossen. Die ältere Kulturkritik hat in diesen Veränderungen meist nur die Zerstörungen gesehen, die durch sie angerichtet wurden, die Verluste an geruhsamer Menschlichkeit und festgegründeter Ordnung, die in Kauf zu nehmen waren. Sie maß also die Leistungen und Schicksale der industriellen Epoche an Normen, die der vorindustriellen Hochkultur entnommen waren, und ihre stillschweigende Voraussetzung war, daß es noch eine offene Wahl gebe, sei es für den einzelnen, sei es für ganze Völker. Es ist aber heute Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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bereits entschieden, daß die Veränderungen, die mit dem Übergang zur Industriekultur in die Erde und immer auch in den Menschen selbst eingearbeitet worden sind, nicht zurücknehmbar sind, und ebenso gewiß ist, daß sie sich fortsetzen, sogar verstärken werden; dies schon deswegen, weil die biologische Existenz der Menschheit, ihre heutige und morgige Größenordnung eingerechnet, vom Weiterbau des industriellen Systems schlechthin abhängig geworden ist. Da die Heraufkunft der Industriekultur als eine Kulturschwelle aufgefaßt werden muß, die die Menschheit seit zwei Jahrhunderten betreten, die sie aber noch keineswegs durchschritten hat, wird man sich bewußt sein müssen, daß das geschichtliche Geschehen gerade in solchen Schwellensituationen den Modus des Fortschritts annimmt. Sein Akzent rückt ganz auf die Bewältigung der neuen Lebenswelt, in die die Menschheit eintritt, und auf den Erwerb der technischen Mittel, die dazu vonnöten sind. Auf diese Aufgaben konzentriert sich die Erfindungskraft des Zeitalters, in ihren Trakt wird alles praktische Handeln hineingezwungen; daß dann der Sachzwang des technischen Fortschritts dem Menschen Entfremdungen auferlegt, die frühere Zeitalter nicht gekannt haben, wird lebhaft empfunden. Was aber auf dem neuen Niveau, in das die Schwelle hineinführt, an Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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schöpferischen Möglichkeiten, an menschlichen Gehalten neuer Art aufgehen wird, das kann in der Logik des Fortschrittsdenkens nicht vorausgesehen, es kann nur erwartet, erhofft und vertrauensvoll im stillen vorbereitet werden. Die Geschichtsphilosophie der Aufklärung stand auf dem Gedanken, daß der Mensch von Natur auf Vernunft angelegt sei, daß daher die Geschichte seiner Gattung gar nicht anders gedacht werden könne denn als Weg zu dem Ziel, seine Vernunftnatur vollständig zu entwickeln und alle seine Verhältnisse ihr gemäß zu gestalten. Die Völker und Kulturen, wie sie zeitlich aufeinander gefolgt sind, erschienen als die Etappen dieses königlichen Wegs, als die Stufen im »Fortschritt des Bewußtseins der Freiheit« – so bei Hegel, der zwar dem Vernunftdogma der Aufklärung absagte, insofern aber gleichen Sinnes mit ihr blieb, daß er der Geschichte der Menschheit von Anfang bis zu Ende einen Leitfaden einlegte, der sie zur Einheit eines Fortschrittsganges machte. Noch in den »Weltgeschichten«, die in den Bücherschränken unserer Großväter standen, war diese Lineatur sichtbar, wenn auch verblaßt und von der Fülle des Tatsachenmaterials überbordet. Sich von den Jahrtausenden Rechenschaft geben – das hatte dann einen klaren und einfachen Sinn. Es bedeutete: sich zum Bewußtsein bringen, wie weit jedes einzelne Zeitalter auf dem Wege Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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gekommen war, wie weit wir selbst gekommen sind und was noch vor uns liegt. Das Bild der Weltgeschichte, das uns heute vor Augen steht, ist nicht nur seinem Umfang nach wesentlich erweitert, sondern auch seiner Struktur nach sehr anders gestaltet. Es gleicht mehr einem reichgemusterten Teppich als einer Kette, deren Glieder einsinnig aneinander gereiht sind. Die Vielheit der Kulturen, die in ihm sichtbar sind, ihre Verflechtungen und Wechselwirkungen sind nicht als logische Entfaltung einer Idee deduzierbar, wohl aber sind sie konkrete geschichtliche Werke und Schicksale, die je zu ihrer Zeit getan und bestanden worden sind. Mit immer neuen Intentionen hat der Mensch seinen Lebenswillen, seinen Machtwillen und seine schöpferischen Kräfte in die Geschichte eingeschmolzen. Wir haben schon gesagt, daß die Bilder und Dokumente, in denen das vergangene Leben gegenwärtig zutage liegt, in das Medium der historischen Zeit zurückversetzt werden müssen, um wieder zu der menschlichen Wirklichkeit zu werden, die sie gewesen sind. Sich von den Jahrtausenden Rechenschaft geben heißt die Fülle der Menschlichkeit sehen, die in sie eingebracht worden ist – sie mit dem Auge derer sehen, die sich nun selbst in sie einzubringen haben. Die als Zitate gekennzeichneten Begleittexte zu den Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Abbildungen sind den Bänden der Propyläen-Weltgeschichte entnommen. Genaue Quellenangaben am Schluß des Bandes.
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I. Der Übergang zur historischen Zeit ¤ 0 Karte [Fundorte und historische Stätten] ¤ 1 Die Freilandstation Karim Shahir, ein noch nicht ständig bewohnter Platz des Natufian im irakischen Kurdistan, 9./8. Jahrtausend v. Chr. ¤ 2 Steinfundamente eines Rechteckhauses in der präkeramischen Siedlung von Qualat Jarmo am Hang des Zagrosgebirges bei Suleimanija-Kerkuk/Irak, Anfang 7. Jahrtausend v. Chr. ¤ 3 Einer der kunstvoll gebauten Öfen mit den Resten des Schornsteins in der Lehmwand eines Hauses von Qalat Jarmo, Anfang 7. Jahrtausend v. Chr.
»Der Übergang von der aneignenden Lebensweise eiszeitlicher Jäger und Sammler zu der produzierenden Wirtschaftsweise nacheiszeitlicher Bauern und die Entstehung der städtischen Hochkultur sind Vorgänge, die sich vor dem Eintritt der Menschheit in ihre ›geschichtliche‹ Phase abspielten... Neuere amerikanische Untersuchungen haben die Aufmerksamkeit der Forschung auf die hügelige Ostflanke Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Mesopotamiens gelenkt. Dort gelang es Braidwood, bei Qalat Jarmo Spuren einer sehr alten dörflichen Ansiedlung bäuerlichen Gepräges zu entdecken... Das Dorf hat etwa zwanzig bis fünfundzwanzig Anwesen umfaßt und schätzungsweise cinhundertfünfzig Einwohner beherbergt... die von Getreidebau und der Zucht kleiner Wiederkäuer lebten, zur Ergänzung dieser Nahrungsbasis ausgedehnte Jagd betrieben und Eicheln, Pistazien und Schnecken sammelten.« (H. Jankuhn) ¤ 4 Der Tell es-Sultan bei Jericho auf der Westseite des hier ungefähr dreihundert Meter unter dem Meeresspiegel eingebrochenen Jordangrabens in Palästina. Ein Ruinenhügel aus dem präkeramischen Neolithikum mit den Resten einer vor-dörflichen Anlage aus der zeit um 7800 v. Chr. und mit den Ruinen einer bereits befestigten stadtartigen Ansiedlung ¤ 5 Reste einer dörflichen Siedlung bei Seyl Aqlat in der Nähe von Petra im Südl. Jordanien, 8./7. Jahrtausend v. Chr.
Auch bei Seyl Aqlat »handelt es sich um ein wirkliches Dorf mit ansässiger Bevölkerung und nicht um einen periodisch immer wieder aufgesuchten und nur vorübergehend bewohnten Platz«. In den entwickelten Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Hausanlagen läßt sich eine Parallele zu Jarmo erkennen. »Die Häuser sind in einer einfachen Technik noch ohne Verwendung vorgeformter Ziegel errichtet. Sie setzen sich jeweils aus mehreren rechteckigen Räumen und Gängen zusammen. Die Fußböden bestehen aus dünnen, über Schilflagen verstrichenen Schlammschichten und waren mit Schilfmatten belegt. Für die nicht erhaltene Dachkonstruktion wird man Schilfbedeckung annehmen dürfen. Vereinzelte Beobachtungen lassen auf das Vorhandensein von Fenstern schließen, und Türangelsteine deuten die Existenz von Holztüren an.« Die Ausgräberin, Miss Kirkbride, sieht in dem großen Gang den geräumigen Flur eines Hauses und gleichzeitig den Mittelpunkt des Dorfes. Im Unterschied zu den Dauersiedlungen mit dörflichem Charakter bietet Jericho die Stufe einer stadtartigen Anlage. Um oder kurz nach 7000 v. Chr. wurde der vordörfliche Siedlungsplatz von Jericho »mit einer großen Steinmauer umgeben, der ein mächtiger Steinturm von etwa neun Meter Durchmesser und ungefähr gleicher Höhe angefügt war... Ein Eingang führte zu ebener Erde in den Turm, dort zu einer kleinen Kammer und über eine Treppe im Innern auf die Plattform des Turmes empor. Diese eindrucksvolle Befestigung umspannte ein Gebiet von über vier Hektar, dessen Innenraum dicht mit gut gebauten Rundhäusern bedeckt war. Mit dieser ersten Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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vollentwikkelten neolithischen Schicht noch ohne Keramik vollzog sich ein grundlegender Wandel. Eine schon vorher neben der Quelle seßhaft gewordene Bevölkerung nahm sprunghaft zu, ihre Zahl stieg nach Annahme der Ausgräber auf etwa zweitausend Menschen an.« Was Miss Kenyon mit ihren Mitarbeitern hier freigelegt hat, »zeigt das Vorhandensein einer sozialen Organisationsform an, die es gestattete, große Teile der Bevölkerung zu einer Gemeinschaftsarbeit einzusetzen.« (H. Jankuhn) ¤ 6 Steinmauer und Graben vor dem großen Wehrturm im Festungsgürtel des präkeramischen Jericho, um 7000 v. Chr. ¤ 7 Tänzer im Leopardenfell. Wandgemälde auf der Lehmsteinbank eines Kultraumes in der stadtartigen Anlage auf dem großen keramischen Tell von Catal Hüyük in Anatolien, Mitte 7. Jahrtausend v. Chr. ¤ 8 Reste einer Werkstatt zur Herstellung von Knochengeräten im präkeramischen Dorf bei Seyl Aqlat, 6500-5500 v. Chr. ¤ 9 Kleidung aus feinem Wollgewebe. Textilfund aus dem Schutthügel von Catal Hüyük, Mitte 7. Jahrtausend v. Chr. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Viele der Funde aus den bisher untersuchten Teils des frühen Neolithikums in Anatolien, Mesopotamien, Palästina und Syrien führen in den Bereich der Religion. Zu ihm gehören Wandmalereien, Figurenplastiken und Gewebe wie Wollteppiche. ¤ 10 Beweise für einen Ahnenkult im Präkeramischen Jericho: neolithische Schädelplastiken, 62505690 v. Chr. Amman, Museum
»Als am Ende des siebenten oder zu Beginn des sechsten Jahrtausends v. Chr. neue Ansiedler den Platz von Jericho besetzten, entstand auf dem Schutthügel wieder eine gut befestigte stadtartige Siedlung, diesmal in anderer Form als früher, nämlich mit mehrräumigen rechteckigen Bauten, zu denen auch Hofanlagen gehörten... Wohl das bemerkenswerteste Phänomen dieser Siedlungsschicht waren die Bestattungen. Sie lagen wie in der älteren Ansiedlung in oder unter den Häusern, Neben vollständig bestatteten Toten fielen Skelette auf, denen die Schädel fehlten. Sie fanden sich an anderer Stelle, die Gesichtsteile mit Stuck übermodelliert, die Augen mit Muscheln nachgebildet.« (H. Jankuhn) Der Tell von Gatal Hüyük im Süden der Türkei wurde durch Mellaart untersucht. Seine Ausgrabungen beweisen, daß es um 6500 v. Chr. nicht nur in Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Palästina eine reife stadtartige Kultur gegeben hat. Die schon in einer Art sozialer Organisation lebenden Siedler von Catal Hüyük, die in mehrräumigen Lehmsteinhäusern ohne Fenster und Türen wohnten und durchs Dach in ihre Behausungen einstiegen, wußten, wie man Körbe flicht, wie man töpfert, malt und webt. Tierhaltung und Anbau von Getreide und Hülsenfrüchten entsprachen den in Jericho vorhandenen Kenntnissen auf diesen Gebieten. Aber zu einer Zeit, in der sich für Jericho nur die präkeramische Stufe nachweisen läßt, existierte in Catal Hüyük bereits die gebrannte Tonware. ¤ 11 Ein Frauengrab und ein mit ihm freigelegter Korb in einer Hausbestattung auf dem Tell von Catal Hüyük, Mitte 7. Jahrtausend v. Chr.
»In der keramischen Produktion (seit dem sechsten Jahrtausend v. Chr.) spiegeln sich die spezifischen Intentionen der Siedlergemeinschaften.« (R. Pittioni) ¤ 12 Schale der Samarra-Kultur. Gebrannte Tonware aus Hassuna bei Mosul mit rotbrauner Bemalung auf hellem Grund, mit Swastiken aus Antilopen u. Liniendekor, um 5000 v. Chr. Bagdad, Iraq Museum ¤ 13 Schale der Halaf-Kultur. Gebrannte Tonware Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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aus Arpatschije mit schwarzer und roter Bemalung auf orangerotem Grund, Anfang 5. Jahrtausend v. Chr. Bagdad, Iraq Museum ¤ 14 Schalen der Susa I-Kultur. Gebrannte Tonware aus Susa a. d. Kercha mit schwarzbrauner Bemalung auf hellem Grund, Anfang 4. Jahrtausend v. Chr. Paris, Louvre ¤ 15 Reste einer stadtartigen Siedlung und ein Teil der Nekropole auf dem Tepe Sialk bei Kasan/Iran, Anfang 4. Jahrtausend v. Chr.
In der Sialk-Kultur, deren Kenntnis wir Ghirshman verdanken, gibt es eine Keramik in der Art der in Susa gefundenen Tonware, so daß ein Zusammenhang mit dem südlichen Zweistromland denkbar ist. Die Formen der Fruchtbarkeitsidole weisen ebenfalls recht gute Parallelen auf. Ganz sicher aber läßt sich eine Verbindung über das östliche Iran und Pakistan in das Indusgebiet hinein erkennen, »das durch seine verhältnismäßig junge, im dritten Jahrtausend v. Chr. beginnende und etwa in der Mitte des zweiten Jahrtausends zu Ende gegangene Indus- oder HarappaKultur berühmt geworden ist«. (R. Pittioni) Überall rückten »mit dem Übergang zur produzierenden Wirtschaftsweise Vorgänge in den Mittelpunkt Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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menschlichen Denkens, die mit der Fruchtbarkeit des Bodens und der Herden zusammenhingen«. Dieses Denken schlug sich in plastischen Figuren nieder, in Tier- und Frauengestalten, »Damit trat (im siebenten Jahrtausend v. Chr. offenbar zum ersten Mal) die Figur der später im Orient so beliebten Muttergottheit auf, die dann als Erbe der orientalischen Frühkulturen auch Eingang in die Götterwelt der klassischen Zeit fand.« (H. Jankuhn) Weibliche Fruchtbarkeitsidole aus verschiedenen neolithischen Kulturen, aus den keramischen Schichten in dem iranischen Teil Kurdistans, in Mesopotamien, in den Gebieten des Mittelmeeres, in Indien und Japan: ¤ 16 Weibliches Fruchtbarkeitsidol. Kleinplastik vom Tepe Sarab, um 6750 v. Chr. Chicago, Oriental Institute ¤ 17 Weibliches Fruchtbarkeitsidol. Kleinplastik aus der Gegend von Uruk, 5. Jahrtausend v. Chr. Bagdad, Iraq Museum ¤ 18 Weibliches Fruchtbarkeitsidol. Kleinplastik vom Tell Halaf, erste Hälfte 4. Jahrtausend v. Chr. Berlin, Staatliche Museen
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¤ 19 Weibliches Fruchtbarkeitsidol. Kleinplastik aus Sparta, um 3200 v. Chr. Athen, Nationalmuseum ¤ 20 Weibliches Fruchtbarkeitsidol. Kleinplastik aus Sesklo, Mitte (?) 4. Jahrtausend v. Chr. Athen, Nationalmuseum ¤ 21 Weibliches Fruchtbarkeitsidol. Kleinplastik von den Kykladen, um 2200 v. Chr. Karlsruhe, Bad. Landesmuseum ¤ 22 Weibliches Fruchtbarkeitsidol. Kleinplastik aus Hagar Kim/Malta, um 2200 v. Chr. Valletta, Museum of Malta ¤ 23 Weibliches Fruchtbarkeitsidol. Kleinplastik aus Mohenjo-daro, 3. Jahrtausend v. Chr. New Delhi, Nat. Museum of India ¤ 24 Weibliches Fruchtbarkeitsidol. Kleinplastik von Honshu/Japan, 2./1. Jahrtausend v. Chr. Zürich, Museum Rietberg ¤ 25 Idealbild eines menschlichen Kopfes. Skulptur aus der Siedlung von Khirokiti auf Cypern, um 5800 v. Chr. Nicosia, Cyprus Museum
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¤ 26 Die neolithische Nekropole des alten Byblos an der phönikischen Küste mit Totenbestattungen in großen Krügen, 5./4. Jahrtausend v. Chr.
Im Byblos des vierten Jahrtausends v. Chr. erfreute sich das Steingefäß, das wir dreitausend Jahre früher im präkeramischen Jarmo und Jericho finden und das uns aus der schon dem sechsten Jahrtausend v. Chr. angehörenden Siedlung von Khirokili auf Gypern bekannt ist, noch sehr großer Beliebtheit. Byblos wird schon vor dem Jahr 3000 v. Chr. ein Umschlagplatz für die aus dem Osten kommenden Waren gewesen sein; denn die Funde im Mittelmeerraum, vor allem im vordynastischen Ägypten, beweisen »bei aller Selbständigkeit der inneren Entwicklung viele auswärtige Einflüsse. Töpfe mit Bootszeichnungen (und Kleinplastiken von Booten) belegen die Ausdehnung des Handelsverkehrs: auf den Booten ist die Bezeichnung des Heimathafens zu sehen. Lange vor der Vereinigung der ägyptischen Reiche umspannte demnach der Flußhandel den gesamten Nillauf vom Mittelmeer bis zum Ersten Katarakt. Als es staatliche Organisation erst im lokalen Maßstab gab, bewegten sich die ägyptischen Bootskaufleute mit ihren Waren ziemlich frei im ganzen Land. Und nicht nur das Nillai war einhexogen. Die fremden Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Erzeugnisse in den vordynastischen Gräbern zeigen, daß das Handelsnetz sehr weit reichte, sogar bis nach Persien. Das besagt nicht, daß ägyptische Karawanen bis Persien vordrangen oder daß persische Kaufleute nach Ägypten kamen; das besagt auch nicht, daß Handelsschiffe viele Jahrhunderte vor der historischen Zeit das Mittelmeer umsegelten. Wahrscheinlicher ist, daß die Waren aus der Ferne die großen Entfernungen in Etappen zurücklegten.« (J. A. Wilson) ¤ 27 Ägyptisches Flußboot und herausnehmbare Männerfigur. Rotpolierte Tonplastiken, Negade IKultur, 3400-3200 v. Chr. Kopenhagen, Nationalmuseet
»Grabungen an der Peripherie besiedelten Landes im Fayûm, am Saum des Deltas und in mittelägyptischen Siedlungsenklaven haben Material zutage gefördert, das den Kampf des vorgeschichtlichen Menschen um ein besseres Dasein illustriert. Von wandernden Nahrungssammlern aus der nordafrikanischen Prärie, die längere Zeit an den Ufern des Fayûm-Sees gehaust haben müssen, zeugt eine Küchenhöhle, in der sich neben Elefanten- und Nilpferdknochen auch spärliche Reste menschlicher Artefakte finden: mikrolithische Feuersteine, wenige Tongefäße. Dann – wahrscheinlich Jahrhunderte später – vertrieb die ungastliche Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Wüste die Wanderer, und sie zogen in die Nähe der Dschungelsümpfe am Nil. Hier gab es mehr, allerdings immer noch primitive Gerätschaften: Werkzeuge und Waffen, Perlen, Körbe, Tongefäße, Kornkammern, Haustierknochen. Bei Merimde-Beni Salâme am südwestlichen Deltarand haben sich sogar die Überreste eines Dorfes mit einigen aus Lehmklumpen gezimmerten ovalen Hütten erhalten... Der Versorgung des Dorfes diente eine gemeinsame Kornkammer: in die Erde versenkte Binsenkörbe. Eigene Kornbehälter hatten die einzelnen Hütten nicht. Anscheinend erhielten sich in den Anfängen des Dorflebens noch alte Stammesbräuche: Bevorzugung des Gemeineigentums, wenig Sinn für individuellen Besitz. Unter den Getreidearten fanden sich Geiste, wie wir sie heute kennen, Emmer, Sandwicke. Auch Flachs wurde angebaut, zu Fäden versponnen und auf primitiven Webstühlen zu Leinen verarbeitet. Die Entdeckung, daß Pflanzen gehegt, großgezogen und ertragreicher für Nahrung und Bekleidung gemacht werden können, hatte ihre umwälzende Wirkung bereits getan, Ebenso war bereits bekannt, daß sich manche Tiere zähmen lassen und dem Menschen dann Fleisch, Häute und Wolle liefern... Der Archäologe verzeichnet eine ganze Kette vordynastischer Kulturen: Tasa-, Badâri-, Amratien-, Gerzeen-Kultur, und zu jeder gibt es das entsprechende Zubehör an materiellen Belegen: Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Feuersteine, Tongefäße, frühe Metallerzeugnisse, Amulette, Grabstätten, Häuser, Kunstwerke.« (J. A. Wilson) Die hochstehende Töpfertechnik vor allem der Tasa- und Badâri-Kultur setzt sich in den nachfolgenden Perioden Negade I und II fort. Negade II ist die letzte Phase vor der Reichseinigung Ägyptens. ¤ 28 Ein in die Erde versenkter Vorratskorb mit Geräten nach der Freilegung im Fayûm in Ägypten, zweite Hälfte 5. Jahrtausend v. Chr. ¤ 29 Ägyptisches Ruderboot mit Sonnensegeln aus Palmblättern und Matten, mit Masten und Deckaufbauten in der wildreichen Nillandschaft. Rote Malerei auf einem hellen Tonkrug, Negade II-Kultur, vor 3000 v. Chr. Berlin, Staatliche Museen, Ägyptische Abt. ¤ 30 Barkenfahrer im Kopffederputz während einer religiösen (?) Zeremonie. Felsbild an dem zerklüfteten Massiv des Acacus in der libyschen Sahara, 7. (?) Jahrtausend v. Chr. ¤ 31 Rinderhirt mit einer Pflockleine in den Händen. Felsbild im Massiv des Tassili-n-Ajjer in der Sahara, Periode der Rinderhirten, 5. (?) Jahrtausend v. Chr.
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Neue Funde haben die These bestätigt, daß die NilKultur des Neolithikums Einflüsse aus der Sahara empfangen hat. Der Franzose Lhote zwar hatte die Beeinflussung noch umgekehrt gedeutet: Er sah in den libyschen Felsbildern nichts weiter als den Import ägyptischer Einwanderer, also eine Zufuhr aus vielleicht schon geschichtlicher Zeit. Man wird indes »kaum mehr daran zweifeln dürfen, daß auch das gesamte Nordafrika einschließlich der heutigen Sahara während des Boreais und des Atlantikums Europas eine dichte bäuerliche Besiedlung getragen hat. Im siebenten und sechsten Jahrtausend v. Chr. lebten in den heutigen Wadis noch zahlreiche Wassertiere, wie die Knochenreste von Krokodilen und Flußpferden erkennen lassen. Felsbilder von Elefanten, Wasserbüffeln und Rindern sind die untrüglichen Zeugen günstiger Lebensbedingungen.« (R. Pittioni) Die Felsbilder in dem der algerischen Grenze nicht fernen Acacus, die der Italiener Mori am Ende der fünfziger Jahre unseres Jahrhunderts entdeckt hat, beweisen sogar, daß es ein Sahara-Neolithikum des siebenten Jahrtausends gibt, in dem man bereits das Schiff gekannt hat. Ein Boot in der Wüste – das besagt ganz deutlich, daß in der Jungsteinzeit hier eine völlig andere Landschaft gewesen sein muß. Zwar ist das Schiff auf der Felswand nur ein Requisit in einer magischen oder religiösen Handlung, vielleicht einer Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Totenfeier, aber die Beobachtung von Booten auf wasserreichen Flüssen muß möglich gewesen sein. »Je stärker sich hier die postglaziale Wärmeperiode auswirkte, um so mehr wurde der Bodenbau durch die zunehmende Austrocknung zurückgedrängt und jene Entwicklung begonnen, die heute der Landschaft ihr Gepräge gibt. Doch was für Nordafrika das Ende bedeutete, war für Europa« und für Indien und China »die Zeit ungestörter Entfaltung mit einer noch nie erreichten Vergrößerung der Ökumene.« (R. Pittioni) ¤ 32 Reste der neolithischen Siedlung von Pan-p'o bei Hsi-an in der Provinz Shensi in China, die rechteckige Fundamentgrube eines Hauses mit dem Einstieg im Vordergrund, Yangshao-Kultur, 2500-2000 v. Chr. ¤ 33 Reste eines Keramikbrennofens in der neolithischen Siedlung von Pan-p'o bei Hsi-an, YangshaoKultur, 2500-2000 v. Chr. ¤ 34 Tönerner Dreifuß vom Gefäßtyp »Li«, eine Leitform chinesischer Keramik vom Neolithikum bis zu Chou-Periode. München, Staatl. Museum für Völkerkunde ¤ 35 Indisches Siegel mit Bilderschrift und einem Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Rhinozeros. Specksteinstempel aus Mohenjo-daro, 3. (?) Jahrtausend v. Chr. New Delphi, National Museum of India »Aus der Urgeschichte wissen wir, daß im gesamten heutigen China schon seit der frühesten Vorzeit Menschen existiert haben. Nicht nur prähistorische Anthropoiden – wie der Homo pekinensis, der vor fünfhunderttausend Jahren in Nordchina lebte – sind auf chinesischem Boden gefunden worden; auch sämtliche Perioden der Steinzeit haben in fast ganz China sichtbare Spuren hinterlassen. Doch zeigt die Archäologie zugleich, daß sich das eigentliche chinesische Kulturgebiet, der Kern, aus dem später der chinesische Staat hervorwachsen sollte, nur über das mittlere und untere Stromgebiet des Gelben Flusses, des Huangho, erstreckte. In der Jungsteinzeit haben vier getrennte Kulturen zum kulturellen Werden Chinas im Raum des Gelben Flusses beigetragen: im Osten der nordchinesischen Tiefebene die Kultur der schwarzen Töpferei, nach ihrem ersten Fundort die Lungshan-Kultur genannt; im Westen, im Lößhügelland, die gleichsam nach Westasien vorstoßende Kultur der roten, teilweise bemalten Töpferei, Yangshao; im südlicheren Teil der Tiefebene die Kultur der grauen Töpferei, Hsiao t'un; schließlich in der Steppe die Mikrolithen- oder Gobi-Kultur. Aus Hsiao t'un, die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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sich räumlich auf Kosten der anderen Kulturen ausbreitete, ist später (mit dem sechzehnten Jahrhundert v. Chr.) in direkter Folge die Shang-Kultur hervorgegangen.« (A. F. P. Hulsewé) Für die chinesischen Kulturen »gibt es bis jetzt keine Anhaltspunkte zu einem sehr hohen Alter. Im südlichen China, wo man die nördliche Randzone der hinterindischen Kulturform findet, ist eine rein bäuerliche Orientierung nicht gesichert, Jagd- und Sammelwirlschaft scheinen hier noch eine große Rolle gespielt zu haben.« (R. Pittioni) Aus den anderen Gebieten aber kennt man groß angelegte Dorfsiedlungen. »Die aus vorderindischem Bereich bekannten zahlreichen Einzelfunde neolithischer Steingeräte zeigen eine weitausgreifende und auch zum Teil, besonders in den Tallandschaften, verhältnismäßig dichte Besiedlung an. Aber für eine zeitliche Bestimmung und eine nähere Kennzeichnung der neolithischen Kulturform reichen sie nicht aus. Trotzdem muß an den imposanten Fundbestand der Indus-Kultur die Vermutung geknüpft werden, daß auch der Indusbereich in sehr alter Zeit besiedelt war. So plötzlich kann selbst in diesem ökologisch so begünstigten Gebiet eine Stadtkultur nicht entstehen. Ihre großartigen Stadtanlagen mit den vielen, in wohl durchdachter Form errichteten Bauten und den um sie gelegten Befestigungen sind doch nur das Werk einer sehr dichten, auf Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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eine lange Tradition aufbauenden Bevölkerung. Sie steht mit der westlich anschließenden Zone des unteren Zweistromlandes in Verbindung, wie sich aus Importgeräten gut erkennen läßt.« (R. Pittioni) Harappa im Punjab und Mohenjodaro in Sindh »liegen fünfhundertfünfzig Kilometer voneinander entfernt, und doch sind ihre Kulturen identisch und ohne lokale Varianten; offensichtlich hat die große Flußader des Indus die Verbindung zwischen beiden erleichtert. Es handelt sich um zwei große Städte, deren Umfang mindestens fünf Kilometer und vielleicht sogar mehr betrug. In beiden liegt am Westrand eine Zitadelle (etwa hundertzwanzig bis hundertfünfzig Meter zu sechzig bis neunzig Meter), die die eigentliche Stadt beherrschte.« (L. Petech) ¤ 36 Turm aus gebrannten Ziegeln im Festungswall der Zitadelle von Mohenjo-daro am Unterlauf des Indus im Westen Pakistans, 3. Jahrtausend v. Chr. ¤ 37 Reste der Befestigungsanlage und die Steinfundamente eines Hauses in der neolithischen Stadt Harappa im Punjab, 3. Jahrtausend v. Chr. Es ist heute kein Wagnis mehr, von einem europäischen Neolithikum des frühen fünften Jahrtausends v. Chr. zu sprechen. Durch die Radiokarbonmethode hat man für das kaum noch übersehbare Fundmaterial aus Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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den verschiedenen Kulturarealen Europas solche Datierungen erreicht. Im vierten und dritten Jahrtausend v. Chr. hat es zum Beispiel in Südosteuropa längst eine bäuerliche Bevölkerung gegeben, die in großen Dörfern von bereits städtischem Gepräge lebte. In den Siedlungsresten der Zentren Sesklo und Dimini ist vieles von dem schon angelegt, was wir aus den wenige Jahrhunderte später entstandenen Wohnplätzen und Herrschersitzen von Troia, Tiryns und Phaistos kennen, das heißt, aus den bereits zur Früh-Bronzezeit gehörenden Kulturkreisen des Anatolikums, des Helladikums und des Minoikums, Die Kulturen des ägäischen Raumes wurden durch Impulse aus Vorderasien, aus Ägypten und Nordafrika beeinflußt. ¤ 38 Reste der Stadtmauer um Troia mit einem zum Südwesttor führenden Weg, Früh-Anatolikum, Stufe Troia II, zweite Hälfte 3. Jahrtausend v. Chr. ¤ 39 Kulturgegenstand in Form eines Hauses der Kykladenbewohner. Specksteinarbeit aus Milo, vor 2000 v. Chr. München, Staatl. Antikensammlungen ¤ 40 Fundamente eines Rundgrabes auf dem Stadthügel von Tiryns in der Argolis, Früh-Helladikum, zweite Hälfte 3. Jahrtausend v. Chr.
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¤ 41 Ruinen von Wohnhäusern unterhalb des ältesten Westhofes im Palast zu Phaistos auf Kreta, FrühMinoikum, 3. Jahrtausend v. Chr. ¤ 42 Sitzender Mann aus dem Neolithikum in der Dobrutscha. Tonplastik aus den Grabungen von Berciu in Cernavoda/Rumänien, um 3500 v. Chr. Bukarest, Nationalmuseum ¤ 43 Neolithische Geräte und Waffen aus dem donauländischen Kolonisationsgebiet in Südwestdeutschland, 5.-3. Jahrtausend v. Chr.: Garnknäuel und Spinnwirtel, Feuersteinklinge in Holzschäftung, Steinbeil in Hirschgeweihschäftung, zwei Knochennadeln, Feuersteinsichel, Knochenhacke und Steingerät Unbekannter Verwendung; zwei Lanzenspitzen aus Feuerstein, drei Pfeilspitzen aus Feuerstein, zwei Armschutzplatten aus Ton und zwei Streitäxte aus Stein. Stuttgart, Württ. Landesmuseum, Vor- und Frühgeschichtliche Sammlungen
»Die in der ungarischen Tiefebene festgestellte Körös-Ware scheint bis jetzt die älteste Schicht des donauländischen Neolithikums darzustellen... Parallel dazu wächst im jugoslawisch-ungarischen Grenzgebiet die Starcevo-Form empör.« Beide Kulturen sind ganz bäuerlich orientiert. Sie haben von ihrem Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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ursprünglichen Verbreitungsgebiet weit ausgestrahlt; wir finden ihre Einflüsse auch in Deutschland, »In der donauländischen Kultur dürfen wir mit Recht die bäuerliche Kultur Europas kat exochen sehen.« (R. Pittioni) ¤ 44 Tonnenförmigen Topf mit eingezogenem Rand u. eingezapften Knubben, ein unter dem Einfluß der donauländischen Kultur von Körös-Starcevo entstandenes Tongefäß aus der von Niquet freigelegten frühbandkeramischen Siedlung bei Eitzum in Niedersachsen, Mitte 5. Jahrtausend v. Chr. Braunschweig, Landesmuseum
»In Westeuropa, Nordeuropa und in Nordosteuropa, wo der feine Kreidefeuerstein seit den ältesten Tagen des Paläolithikums bekannt war, begnügte man sich nicht mehr mit einem einfachen Aufsammeln der Knollen. Es begann ein großangelegter Feuersteinbergbau, dessen eindrucksvolle Reste in ausgedehnten Feuersteingruben (wie in Spiennes. Grand-Préssigny, Black Patch, Grimes' Graves) erhalten geblichen sind. In senkrechten Schächten ging man in die Tiefe und baute die Feuersteinlagen ab. Die einzelnen Schächte verband man in unterirdischen Galerien zu großangelegten Abhauräumen, in denen man auch die toten Bergleute bestattete... Es würde zu weit führen, die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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innerhalb des westeuropäischen Neolithikums während des vierten und dritten Jahrtausends emporgewachsenen zahlreichen regionalen Formen näher zu schildern. Nicht unerwähnt aber soll bleiben, daß die bäuerliche Kultur anscheinend schon gegen Ende des vierten Jahrtausends die Britischen Inseln erreichte und hier in ihrer ältesten Gestalt als die sogenannte Windmill-Hill-Form nachweisbar ist. Ihre Träger haben den ostenglischen Feuersteinbergbau aufgetan, und ihnen ist wahrscheinlich auch die erste Errichtung von Kultbauten zu verdanken, von denen der im Laufe des Neolithikums und der Bronzezeit zu seiner jetzigen Gestalt gewordene Stonehenge das bekannteste und beste Beispiel ist... In Westeuropa entstand der Dolmen, der Steintisch, von dem es heute noch zahlreiche Beispiele in der Landschaft gibt. Wollte man aber mehrere Tote in einem mit so viel Mühe errichteten Grab bestatten, dann ergab sich wieder wie von selbst eine Vergrößerung des Grabraumes, zu dem man durch einen verhältnismäßig schmalen Zugang gelangen konnte. Das Ganggrab war damit geschaffen. Überdeckte man es mit Erde, so ergab sich ein eindrucksvolles Totendenkmal, das in seiner Größe und Konstruktion den Absichten seiner Erbauer entsprechen konnte... Zweifellos entspringt die eindrucksvolle Entwicklung des Großsteinbaues einem besonderen Verhältnis der westeuropäischen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Neolithiker zu ihren Toten. Deshalb aber von einem ausgeprägten Ahnenkult zu sprechen und zu seiner Erläuterung auf Beispiele der Völkerkunde zurückzugreifen, liegt keine Veranlassung vor. Dies um so weniger, als wir gar nicht wissen, ob nicht auch der donauländische und südosteuropäische Neolithiker ein ähnliches inniges Verhältnis zu seinen Toten hatte.« (R. Pittioni) ¤ 45 Abbauräume der neolithischen Feuersteingrube von Grimes' Graves in Norfolk/England, 3. Jahrtausend v. Chr. ¤ 46 Das Innere eines neolithischen Grabes von Locmariaquer in der Bretagne mit einem bearbeitetem Steinpfeiler, Ende 3./Anfang 2. Jahrtausend v. Chr.
In einer Zeit, da im Zweistromland große, um Heiligtümer angelegte Siedlungen vollstädtischer Prägung existierten, und zu einer Zeit, in der eine starke politische Macht die Einigung Ägyptens vorantrieb und dort eine imponierende Hochkultur schuf, befand sich Europa noch im Stadium einer rein bäuerlichen Dorfkultur. Es änderte sich auch nicht mit der aus dem Norden kommenden, nach Süden vordringenden und ins Metallikum Europas überleitenden Trichterbecherund Einzelgrabkultur. »Das Früh-Metallikum I Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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(1800/1750-1500 v. Chr.) zeigt noch ein hohes Maß an Gleichförmigkeit.« (R. Pittioni) ¤ 47 Neolithischer Eschenholzspaten vom Wohnplatz in Satrup. Gerät aus der zur Ertebölle-Stufe zählenden Kultur von Ellerbek bei Kiel, 4./3. Jahrtausend v. Chr. Schleswig, Landesmuseum für Vor- und Frühgeschichte ¤ 48 Ochsengespann vor einem Wagen (?). Neolithische Steingravierung auf einem Block der Züschener Steinkiste, Ende 3. Jahrtausend v. Chr. Kassel, Staatliche Kunstsammlung ¤ 49 Neolithisches Boot (Einbaum) an der Ausgrabungsstelle im Moorgebiet bei Verup/West-Seeland, um 2200 v. Chr. ¤ 50 Leichnam im geöffnetem Eichensarg. Moorfund von Egtved/Jütland, Früh-Metallikum II, 1500-1300 v. Chr. Kopenhagen, Nationalmuseet ¤ 51 Bronzewaffen und Bronzeschmuck von verschiedenen Siedlungsplätzen aus dem Früh-Metallikum III in Schweden. Stockholm, Statens Historiska Museet
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Der norddeutsche und der skandinavische Raum behielt während des Früh-Metallikums III seine kulturelle Eigenart bei. Das beweisen die Bronzegeräte, wie Schwerter, Lanzenspitzen, Beile, Messer, Ringe, die halbmondförmigen Halsanhänger und die Gürtelschließen. Ganz frei blieb aber auch dieses Gebiet nicht von den Einflüssen der Urnenfelderbewegung, die während des Früh-Metallikums III Europa völlig in ihren Bann zog. Überall hinterließ diese »Lausitzer Bewegung« ihre Urnenfriedhöfe, ihre doppelkonischen, zylinderhalsförmigen Urnen und konischen Schalen. »Metallgeräte waren damals Gegenstand des Handels, weshalb typische Urnenfelderbronzen nicht immer das Vorhandensein der Urnenfelderkultur beweisen können.« (R. Pittioni) Aber es gilt allgemein, daß damals Angriffs- und Schutzwaffen mehr gebraucht wurden als in der Ruhezeit der Stufen I und II. ¤ 52 Bronzehelm mit hohem Kamm. Fund aus dem Main bei Kostheim, Früh-Metallikum III, 1100-900 v. Chr. Mainz, Altertumsmuseum ¤ 53 Opferbrunnen aus einem Eichenstamm am Rande eines bronzezeitlichen Dorfes an der Bäke in Berlin-Lichterfelde mit keramischen und pflanzlichen Weihgaben für eine Erdgottheit (?), Früh-Metallikum Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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III, 11. Jahrhundert v. Chr. ¤ 54 Zwei Pferde vor einem Streitwagen. Tonplastik aus Pitigliano in der italienischen Provinz Grosseto, Früh-Metallikum III, 9. Jahrhundert v. Chr. Mainz, Römisch-Germanisches Zentralmuseum ¤ 55 Toter Krieger mit seinen Waffen neben einem Wagen. Gravierung auf einem Grabstein der Urnenfelderstation von Solaña de Cabañas, Früh-Metallikum III, 9. Jahrhundert v. Chr. Madrid, Museo Arqueológico Nacional ¤ 56 Die Ruine des Nuraghen Losa, eines mächtigen, wehrhaften Wohnbaues bei Abbasanta auf Sardinien, Früh-Metallikum III, 10. (?) Jahrhundert v. Chr. ¤ 57 Gräber des Friedhofes von Hallstatt (darunter das Grab 167) mit den bestatteten Toten und den Beigaben. Aquarellierte Skizze von Isidor Engel, 18511863. Wien, Naturhistorisches Museum, Prähistorische Abteilung ¤ 58 Der Anfang des Protokolls über das Inventar des Grabes 167. Aus dem Manuskript des Ausgräbers Josef Ramsauer, 1851. Wien, Naturhistorisches Museum, Prähistorische Abteilung Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Auf die Bronzezeit folgen um 750/700 v. Chr. die Kulturen der älteren Eisenzeit und ihnen um 450 v. Chr. die der jüngeren Eisenzeit oder, um mit anderen, den hier verwendeten Begriffen zu sprechen: das Früh-Metallikum wird vom Mittel-Metallikum und dieses vom Spät-Metallikum abgelöst. »Bereits im Früh-Metallikum III bildeten sich jene Grundlagen heraus, die den Kern für die spätere Einzelvolk-Gestaltung darstellen.« In dem Augenblick, in dem Griechen, Italiker, Germanen und Kelten »im Licht der Geschichte erscheinen, sind sie schon durch die Zeit und durch den Raum, den sie einnehmen, geformt... Es scheint, daß die Kenntnis der Eisengewinnung und Eisenverwertung während des Mittel-Metallikums auf Süd- und Mitteleuropa beschränkt geblieben ist. Weder der Norden noch der Westen haben diesen neuen Rohstoff in der ersten Hälfte des letzten Jahrtausends verwendet. Erst in der zweiten Hälfte drang er langsam auch in diese Gebiete vor. Man wird mit der Annahme nicht fehlgehen, daß es sich dabei wie beim Kupfer um eine Handelsware aus Mitteleuropa handelt, die erst verhältnismäßig spät den südskandinavischen Raum erreicht hat... Anders als der Kupfererzbergbau hat der Eisenerzbergbau keine wesentliche Einwirkung auf die soziale Struktur der Bevölkerung ausgeübt... Trotz mannigfacher Berührungen mit den antiken Stadtkulturen ist es in Europa, nicht einmal in Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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der unmittelbaren Nachbarschaft Etruriens, zu Städtegründungen oder nur zu stadtartigen Siedlungen gekommen. Dieser bezeichnende Zug des europäischen Mittel-Metallikums ist um so mehr zu betonen, als wir beachtliche Menschenansammlungen auf verhältnismäßig kleinem Raum aus dieser Zeit kennen, deren soziale Gliederung gewisse Fortschritte gemacht haben muß. Am deutlichsten zeigt sich dies an Hand eines anderen Industriezweiges, der im Mittel-Metallikum zu großartiger Blüte emporstieg, des Salzbergbaues. Die bekanntesten Bergbaugebiete liegen im Dürrnberg bei Hallein (Salzburg) und im Salzberg am Fuße des Plassen bei Hallstatt (Oberösterreich)... Schon vor mehr als hundert Jahren begannen die Ausgrabungen des berühmten Friedhofes von Hallstatt. Rund zweitausend Gräber sind von dem damaligen Bergmeister Josef Ramsauer freigelegt worden. Der Steiger Isidor Engel fertigte glänzend ausgeführte Grabungsbilder an, während Josef Ramsauer alle seine Funde in einem Protokoll und einem Gräberfeldplan festhielt... So sind neben Bergherren und Obersteigern auch der kleine, arme Knappe und der mit Wehr und Waffen versehene Krieger an seinen Beigaben zu erkennen... Die Funde auf dem Hallstätter Friedhof haben manches ergeben, was nicht im Lande selbst erzeugt, sondern aus anderen Gebieten eingeführt worden ist. Dies weist auf einen intensiven Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Salzhandel hin.« (R. Pittioni) ¤ 59 Einige der Bronzebeigaben vom Inventar des Grabes 167: zwei Nadeln, Lanzenspitze und Zwinge. Wien, Naturhistorisches Museum, Prähistorische Abteilung ¤ 60 Goldene Bekrönung eines hölzernen Kultpfahles aus dem in der Urnenfeldertradition stehenden Wohnplatz Ezelsdorf in Mittelfranken, Früh-Metallikum I. Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum ¤ 61 Goldenes Pectorale der mit allem Prunk in der Tomba Regolini-Galassi, einem etruskischen Grab in Cerveteri, beigesetzten Fürstin (?), Mittel-Metallikum I. um 650 v. Chr. Città del Vaticano, Museo Gregor Etrusco
»In den Beziehungen des urzeitlichen Europas zu seiner frühhistorischen Umgebung war Griechenland der Kern; von ihm gingen alle Diffusionen aus. Zuerst war es die spätgeometrische Ware, die im Zuge der Kolonisation über die italienische Halbinsel verbreitet wurde. Daran schließt sich ein Handelsgut an, dessen Herkunft aus dem phönikischen Bereich wahrscheinlich ist und das wohl gleichfalls durch griechische Handelsleute in den Westen gelangte. Es handelt sich Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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dabei um wertvolle, verzierte Metallgefäße, deren Dekoration als orientalisierender Stil bezeichnet wird. Diese Objekte erreichten wieder in erster Linie die Westküste Mittelitaliens; sie geben sich deshalb als richtige Handelsware zu erkennen... Die erwähnten Handelsbeziehungen fallen etwa in die Zeit des ausgehenden achten und des älteren siebenten Jahrhunderts v. Chr... Mittelitalien wurde zu einem zweiten Kerngebiet der Diffusion, die mit der Ausdehnung der etruskischen Machtsphäre über den Apennin auf das nördlich von ihm liegende Gebiet einzuwirken begann.« Je weiter die verschiedenen Gruppen dieser sogenannten Hallstatt-Kultur »von der Einflußsphäre Griechenlands entfernt liegen, desto stärker kommt ihr urtümlicher, bäuerlicher, ihr urzeitlicher Charakter zum Ausdruck. Alle aber bauten auf der späten Urnenfelderkultur auf.« (R. Pittioni) ¤ 62 Goldener Schmuck aus dem Schatz von Fokoru/Ungarn, Mittel-Metallikum II, 6. Jahrhundert v. Chr. Budapest, Magyar Nemzeti Múzeum ¤ 63 Goldener Schmuck aus dem Schatz von Fokoru/Ungarn, Mittel-Metallikum II, 6. Jahrhundert v. Chr. Budapest, Magyar Nemzeti Múzeum
»Die Hallstatt-Kultur erstreckte sich von Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Ostfrankreich über Süddeutschland nördlich der Alpen über Bayern und die Sudeten bis nach Westungarn, griff von hier längs der Ostalpen nach Süden über, war im krainischen und im mitteljugoslawischen Gebiet besonders reich ausgeprägt und stieß im makedonischen Bereich an die Ausläufer der griechischen Stadtkultur. Diese weite Verbreitung gestattet die regionale Gliederung in eine französisch-süddeutsche, sudetische, ostalpine, krainische und balkanische Hallstatt-Kultur... Die bulgarisch-rumänische Zone einschließlich Siebenbürgen spielte eine Art Mittlerrolle zwischen Westen und Osten. Es ist ein reiches Gebiet mit Kupfererz- und Goldlagerstätten, die seit dem Früh-Metallikum abgebaut wurden. Diese Zone ist eigenartigerweise von der Urnenfelderkultur kaum berührt worden. Daher konnte sich die vom Früh-Metallikum I langsam immer klarer sich abhebende Eigenart über die Zeit der Unruhe halten und im MittelMetallikum ungestört weiterentfalten. Allem Anschein nach ist der Goldbergbau damals weiter intensiviert worden, denn die Goldfunde reichen über die Urnenfelderzeit im späten Früh-Metallikum bis tief in das Mittel-Metallikum hinein. So hat Bulgarien in dem Goldschatz von Valei Tran, Ungarn in dem von Fokoru und Galizien in dem Schatz von Michalkov reiche und einmalige Belege für die Goldschmiedekunst dieser Zeit ergeben, Sie stellte nicht nur Gefäße Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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verschiedener Art her, sondern auch Schmuckstücke, wie Fibeln und Diademe.« (R. Pittioni) ¤ 64 Ein Hallstatt-Krieger mit spitzem Helm, Halsring und einem Dolch am Gürtelreifen. Steinskulptur aus einem Grabhügel auf der Gemarkung Hirschlanden Württ., Mittel-Metallikum II, 6./5. Jahrhundert v. Chr. Stuttgart, Württ. Landesmuseum, Vor- und Frühgeschichtliche Sammlungen ¤ 65 Keltischer Reiter im Gewand aus Schweinsleder, mit Brustschild und Schwert am Gürtel. Steinskulptur aus Entremont/Südfrankreich, Spät-Metallikum, 3./2. Jahrhundert v. Chr. Aix-en-Provence, Museum Granet
»Die keltische Wanderung des vierten Jahrhunderts v. Chr. legte einen Riegel quer durch Europa.« (R. Pittioni) Völker mit echten Namen sind nun auf dem Plan – und damit hat auch in Europa die geschichtliche Zeit begonnen.
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II. Ägypten ¤ 0 Karte [Fundorte und historische Stätten] ¤ 1 Ein Zeugnis der inneren Kämpfe aus der Zeit der Konsolidierung der beiden Teile Ägyptens: Angehörige unterägyptischer Stämme in Gefangenschaft bei den Reichseinigern aus Oberägypten. Elfenbeinreliefs von einem Gefäß, nach 3000 v. Chr. Luzern, Sammlung E. u. M. Kofler-Truniger ¤ 2 Zwei Falken, Sinnbilder des oberägyptischen Himmelsgottes und der göttlichen Könige über Oberund Unterägypten, und zwei königliche Bauten aus der Reichseinigungszeit: eine Palastfassade mit Falkenbekrönung und der sogenannte Zeltpalast über einer mit niedrigen Nischen gegliederten Umfassungsmauer aus Lehmziegeln. Glasierte Fayencen aus dem ältesten Tempelbezirk in Abydos, nach 3000 v. Chr. Luzern, Sammlung E. u. Kofler-Truniger ¤ 3 Ein göttlicher König der I. Dynastie mit der oberägyptischen Krone. Elfenbeinstatuette aus dem ältesten Tempelbezirk in Abydos, um 2900 v. Chr. London, British Museum Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Am Anfang des dritten Jahrtausends v. Chr. »war eine in Oberägypten herrschende Familie nach dem Norden gezogen, hatte die beiden Teile des Landes durch Eroberung zusammengefügt, in Memphis, an der Scheidelinie der vordem selbständigen Länder eine Hauptstadt errichtet und so den Anfang gemacht mit einer langen Reihe von Dynastien, die sich über drei Jahrtausende fortpflanzte... Es sieht so aus, als sei die Ära der beiden ersten Dynastien eine Zeit der Konsolidierung gewesen... Erst unter der dritten und vierten Dynastie war das Staatsgebilde Ägypten so stabil geworden, daß es eigene, neue und charakteristisch ›ägyptische‹ Ausdrucksformen hervorzubringen vermochte... Der Herrscher proklamierte, er sei Horus, ein Gott der fernen Räume, wie der Falke ein Gott des Himmels. Er proklamierte, er sei die ›Zwei Herrinnen‹, eine Verkörperung der Wesenheit der beiden Göttinnen, die Ober- und Unterägypten symbolisierten... Als Gott war er der Staat, Natürlich brauchte er Beamte für ein Staatsgebilde, das sich ständig ausdehnte und zunehmend komplex wurde, aber diese Beamten waren seine Beamten... Den materiellen Niederschlag der Kultur der ersten drei Dynastien zeigen Architektur, Bildhauerei, Gewerbe und wenige Schriftdenkmäler... Unter der dritten Dynastie triumphiert das Material Stein – man kann es am großen Komplex rund um die Stufenpyramide des Königs Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Djoser in Sakkara (2620 v. Chr.) sehen.« (J. A. Wilson) ¤ Ägyptische Heilkunde. Diagnosen und Rezepte in einer Sammelhandschrift medizinischer Texte, 18. Dynastie, um 1550 v. Chr. Kolumne 41 aus dem hieratisch geschriebenen Papyrus Ebers. Leipzig, Universitätsbibliothek Das Studium der altägyptischen medizinischen Quellen bestätigt uns nachträglich, daß die ägyptischen Ärzte in der Alten Welt mit Recht ein hohes Ansehen genossen. Homer berichtet in der »Odyssee«, daß in Ägypten »jeder ein Arzt sei, erfahrener als alle anderen Menschen«. Gewiß waren viele Hausmittel Allgemeingut geworden, vor allem die Kosmetika, die Mittel gegen Ungeziefer und später auch die zahlreichen Rezepte aus dem Nachbargebiet der Magie: Heilung durch Zauberpraktiken, Behexung von Rivalinnen und Liebestränke. Das eigentliche medizinische Wissen jedoch, die Medizin als Wissenschaft, war alleiniger Besitz der Ärzte, die zum Teil sogar eifrig darüber wachten, daß ihre geheimen Mittel nur ihren Nachfolgern, nicht aber den Kollegen bekannt wurden. Im Anfangsstadium müssen wir uns den ägyptischen Arzt als Medizinmann vorstellen, der in seiner Person die Funktionen des Priesters, des Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Zauberers und des Arztes vereinigte. Aus dieser Verbindung ist es verständlich, daß die meisten Ärzte in ihrer Titulatur auch Priestertitel führten. In dem Bemühen, die ihnen anfangs unerklärlichen Kräfte zu erforschen und zu meistern, wurden verschiedene Heilpraktiken erprobt; die Ärzte experimentierten, und dabei überschritten sie ständig die Grenze zwischen Magie und Naturwissenschaft. Langsam entwickelte sich daraus die eigentliche »wissenschaftliche Medizin«. Sie machte sich über eine Reihe von natürlichen Zusammenhängen ein Bild und wußte von den Wirkungen vieler Drogen, selbst wenn sie nicht in allen Fällen ohne die Magie auskommen wollte. In dieses Stadium führt uns der Papyrus Ebers, eine etwa 20 Meter lange Papyrusrolle, die der Ägyptologe und Schriftsteller Georg Ebers im Jahre 1873 nach Leipzig gebracht hat. Der »Ebers« zählt zu den ägyptischen Texten, die im zweiten vorchristlichen Jahrtausend niedergeschrieben worden sind, deren Quellen aber teilweise bis ins Alte Reich, auf die Zeit um 2500 v. Chr., zurückreichen. »Das Haupt- und Grundbuch für unser Wissen von der altägyptischen Medizin« (Grapow) ist in hieratischer Schrift aufgezeichnet worden, einer mit Ligaturen durchsetzten kursiven Form der Hieroglyphen. Die einzelnen Zeichen blicken zum Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Zeilenanfang, sind also – wie in den semitischen Schriften üblich – von rechts nach links zu lesen. Durch rote Tinte (rubrum) hat man Überschriften und sonstige »Rubriken« kenntlich gemacht. Das altägyptische Schriftsystem enthält Ideogramme, Lautzeichen und Determinative. Bei den Ideogrammen stimmen Bild und Bedeutung überein. Wird der Lautwert eines Wortes zur Schreibung eines gleich oder ähnlich lautenden Wortes mit anderer Bedeutung verwendet, so liegen Phonogramme vor, bei denen nur die Konsonanten geschrieben werden. Ein am Wortende stehendes Zeichen, das nicht als Laut zu lesen ist, gibt als Determinativ die Kategorie an, in die das Wort gehört. So kann z. B. die Hieroglyphe »Auge« je nach dem Zusammenhang »Auge« (ägypt. jrt) bedeuten oder »tun« (ägypt.jrt) oder als Determinativ bei Wörtern wie »sehen« oder »schminken« stehen. Bei dem Papyrus Ebers, aus dem hier die Kolumne 41 im Facsimile wiedergegeben ist, handelt es sich nicht um ein Fachbuch für den Spezialisten. Solche Fachbücher sind: das Wundenbuch des Papyrus Smith für den Chirurgen, der Papyrus Beatty VI für den Internisten, der Papyrus Kahun für den Gynäkologen und ein zweiter Papyrus Kahun für den Veterinärmediziner. Im Papyrus Ebers liegt uns eine Sammelhandschrift vor, wie wir sie wieder in Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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den Papyri Hearst, London und Berlin, finden. In diesen »Kompendien« sind Rezepte und Diagnosen aus verschiedenen Gebieten gruppenweise zusammengefaßt worden. Der Papyrus Ebers enthält annähernd neunhundert Einzeltexte, deren Umfang stark variiert. Unter den Einzeltexten sind meist nur einfache Rezepte aufgeführt, die außer einer Überschrift – »Heilmittel zum Gesundmachen des Kopfes, wenn er schmerzt« – nur die Aufzählung der verordneten Drogen und eine knappe Anwendungsvorschrift – »werde gekocht, werde an vier Tagen getrunken« – aufweisen. Sehr viel ausführlicher und für die Forschung ergiebiger sind die Diagnosen, die in folgender Gliederung erscheinen: Überschrift, Untersuchung mit Aufzählung der Symptome, eigentliche Diagnose mit Nennung des Krankheitsnamens, Verdikt mit Angaben über die Heilungsaussicht, Behandlungsvorschrift, erklärende Glossen. Die Rezepte lassen sich als Extrakte von Diagnosen nachweisen: in einer formelhaft verkürzten Ausdrucksweise werden vor allem Teile der Überschrift und der Behandlungsvorschrift übernommen. Im einzelnen läßt sich der Inhalt des Papyrus Ebers in folgende Gruppen gliedern: 1. Zaubersprüche, die beim Auflegen und Abnehmen vonverbänden sowie beim Einnehmen von Trankmitteln zu rezitieren waren. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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2. Behandlung des erkrankten Leibes, vorwiegend der Verdauungsstörungen, durch Abführmittel. Nach der Theorie der altägyptischen Ärzte verfaulten die im Körper verbliebenen Abfallstoffe und verwandelten sich in schleimartige Krankheitskeime, die über das Gefäßsystem im Körper verteilt wurden und an den jeweils betroffenen Stellen Schmerzen verursachten. 3. Diagnosen und Rezepte für Magenerkrankungen. Zu dieser Gruppe gehört die facsimilierte Kolumne 41. 4. Göttermittel. Sie enthalten Wirkstoffe gegen Schmerzen aller Art, und ihr Erfolg wird in der Überschrift insofern garantiert, als die Götter Re, Schu, Tefnet, Geh, Nut und Isis diese Rezepte für sich selbst oder für Angehörige des ägyptischen Pantheon hergestellt und angewendet hatten. 5. Heilmittel gegen Kopfschmerzen. Unter den Rezepten befinden sich solche, die gegen die Krankheit »Halber Kopf«, einen Vorläufer unserer Migräne, bestimmt waren. 6. Mittel zur Regelung des Harnlassens und zur Förderung derVerdauung. Da Verstopfungen zu Appetitlosigkeit führten, wurdenTrank-mittel verabreicht, die das Herz veranlassen sollten, wieder Nahrung anzunehmen. Das Herz gehörte nach altägyptischer Vorstellung zum Verdauungssystem. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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7. Rezepte gegen Schleimstoffe (wörtlich »das Fließende«, Rheuma). Die gegen diese Krankheit verordneten Drogen sollten die im Körper umherfließenden Krankheitsstoffe in den Beckenraum führen, damit sie von dort auf normalem Wege ausgeschieden wurden. 8. Das Hustensekret war mit den Schleimstoffen verwandt und hatte seinen Ausgangspunkt im Leibesinnern. Neben einer Reihe von Hustensäften kannte man auch bereits eine Inhalationsmethode. 9. Augenrezepte. Diese Gruppe umfaßt etwa hundert Texte; sie ist damit die weitaus größte. In ihr sind zahlreiche Schminkmittel gegen das Nachlassen der Sehkraft zusammengestellt. Eine Droge gegen Blindheit wurde kurioserweise durch das Ohr eingeträufelt. 10. Bißwunden. Man sollte sie durch Verbände mit frischem Fleisch behandeln, u. Haarausfall und Ergrauen. Dagegen wurden Salben verwendet, bezeichnenderweise mit schwarzen Wirkstoffen. 12. Brandwunden und -blasen. Ihre Behandlung wurde durch Zaubersprüche unterstützt. Entsprechend dem Mythos, nach dem Isis ihren Sohn Horos vor dem Verbrennen gerettet hatte, sollte der Patient durch Analogiezauber geheilt werden. 13. Schwellungen. Man empfahl das Wasser herausziehen, damit sie von selbst zurückgingen. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Fressende Geschwüre wurden vornehmlich durch Verbände ausgeheilt. 14. Nagelbettvereiterungen mit drohendem Abfall des Nagels. Man behandelte, indem man die Finger mit Streupuder bedeckte oder sie verband. 15. Siebzig Rezepte gegen Gefäßerkrankungen: Adern, Muskeln, Sehnen. Versteifungen der Armund Beingelenke wurden durch Salben erweicht. 16. Schönheitsmittel. Sie dienten der Glättung von Falten und der Beseitigung von Körpergeruch. Ein Abführmittel unter den üblichen äußerlichen Mitteln zeigt, daß man Zusammenhänge zwischen einer gestörten Verdauung und Hautunreinheiten schon kannte. 17. Mund-, Nasen- und Ohrerkrankungen. Gegen Zungenschmerzen wurden Kaumittel verordnet. Lockere Zähne wurden befestigt, hohle ausgestopft. Die Nase wurde bei Schnupfen und Niesen behandelt, das Ohr bei Schwerhörigkeit oder bei Absonderung »fauligen Wassers« und anderer Sekrete. 18. Rezepte und Diagnosen aus der Frauenheilkunde. Sie betreffen vorwiegend Störungen der Menstruation, der Schwangerschaft und der Geburt. Mit Drogenextrakt befeuchtete Tampons sollten die Empfängnis verhüten. Prognosen gaben Auskunft über die Lebensfähigkeit des Neugeborenen. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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19. Räuchermittel. Durch sie konnte die Hausfrau schlechten Geruch im Hause und an den Kleidern vertreiben. Der Mundgeruch ließ sich durch Pillen verbessern. Andere Hausmittel waren für die Beseitigung des Ungeziefers, vor allem der Flöhe und Mäuse, bestimmt. 20. »Herzbücher«. Sie sind medizinhistorisch besonders interessant. In dieser Gruppe sind Glossen über das Herz und das Gefäßsystem gesammelt und zu einem anatomisch-physiologischen Lehrbuch zusammengestellt. Das Herz war das Zentrum des Gefäßsystems; es war mit allen Körperstellen durch die Gefäße verbunden. In den Gefäßen wurden die lebensnotwendigen Stoffe, nämlich Luft und Wasser, transportiert. Blut kannte man nur als Begleiterscheinung von Wunden, fressenden Geschwüren und krankhaften Ausscheidungen. Die Gefäße dienten dazu, Harn und Kot auszuscheiden; anderenfalls führte eine Verfaulung der Abfallstoffe zur Bildung von Krankheitskeimen, die wiederum über die Gefäße zu den verschiedenen Körperstellen geleitet Wurden und dort als Schmerz, Schleim oder Eiter in Erscheinung traten. 21. Diagnosen der Geschwülste und Geschwüre. Diese Gruppe bildet den Schluß des Papyrus Ebers. Als Heilmittel gegen diese Krankheiten wurden Verbände empfohlen oder operative Eingriffe Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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mittels Schnitts bzw. Ausbrennens. (In der Übersetzung ist der Text, der dem facsimilierten Ausschnitt vorangeht, und derjenige, der ihm folgt, in Klammern gegeben. Die rubrizierten Teile sind durch Unterstreichung [hier: durch Sonderfarbe 2], die nicht übersetzbaren Drogen durch Umschrift gekennzeichnet. In der vorangestellten Transkription erfolgt die Wiedergabe des hieratischen Textes durch Hieroglyphen.) ¤ [Transkription]
Übersetzung [Wenn du einen Mann untersuchst, der an seinem Magen leidet, dann mußt du deine Hand auf ihn legen. Wenn du findest, daß die Verstopfung sich auf seiner rechten Seite festgesetzt hat, dann sollst du sagen: (sie) hat sich angesammelt und einen Klumpen gebildet. Dann sollst du ihm Mittel dagegen machen als Sofort-Trank (bestehend aus): Samenkörnern des Emmer; werde durchgepreßt, werde getrunken an vier Tagen. Wenn du ihn untersuchst,] nachdem dies gemacht ist, und du findest dieses sein Leiden, indem es geblieben ist wie zu Anfang, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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dann sollst du ihm stark wirkende Mittel machen, so daß es abgeht, so daß er gesund wird: Früchte der Erbse 1/64, Körner (?) des Salzkrautes; werde zerrieben, werde gekocht in süßem Bier. Dann sollst du ihm stark wirkende Mittel aus Öl (bzw. Fett) machen, so daß es ihm abgeht: Aat-Mineral, Sechet-Körner; werde zerrieben, werde gekocht in Öl (bzw. Fett) und Honig, werde gegessen von dem Manne an vier Tagen. Wenn du einen Mann untersuchst mit einer Verstopfung in seiner linken Bauchhälfte, sie (die Verstopfung) befindet sich unterhalb seiner Rippengegend und hat sich (im Verdauungskanal) nicht quergelegt. Dann sollst du dazu sagen: Sie hat einen Uferstreifen gebildet und eine Sandbank angeschwemmt. Dann sollst du ihm Mittel machen zum (Lücke) seines Anfangsstadiums (?), bestehend aus: Pesedsch 1/4, zerrieben, Tejam-Pflanze 1/8, Peret-Scheni-Frucht 1/16, Baldrian (?) 1/8; werde zu einer Masse gekocht in Öl (bzw. Fett) 2/3 und Honig 1/3, werde gegessen von dem Manne an vier Tagen. Wenn du den Mann untersuchst, nachdem dies gemacht ist, und du findest sie (die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Verstopfung) ausgebreitet und abwärts gegangen, dann sollst du ihm einen Puder machen: Pesedsch; werde ganz und gar gekocht, werde gegessen von dem Manne, um seinen Bauch zu füllen, um seinen Darm in Bewegung zu bringen, an vier Tagen. Dann sollst du deine Hand auf ihn (den Magen?) legen, und findest du es (das Leiden?) zerschnitten und gemahlen wie Getreide nach der Ernte, dann sollst du ihm einen Sofort-Trank machen zum Kühlen: Samenkörner des Emmer 1, Jeweh-Körnerfrucht 1, Wasser; werde durchgepreßt, werde getrunken an vier Tagen. Wenn du einen Mann untersuchst, der an seinem Magen leidet; wenn du sie (die Verstopfung) findest, indem sie sich (im Verdauungskanal) quergelegt hat; er leidet an seinen beiden Seiten, sein Bauch ist zu eng für (weitere) Nahrung, sein Herz steht unter Druck, (dann sollst du dazu sagen: ...). Tritt nicht gegen ihn (den Krankheitsdämonen) auf: es ist ein Fall, dem man aus dem Wege gehen sollte. Du mögest (jedoch) den Kampf mit ihm aufnehmen mit stark wirkenden Mitteln, nachdem du sie (die Verstopfung) mit Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Gerstenschleim umschlossen hast. Nachdem sie unter deinen Fingern (in Bewegung) gekommen ist, sollst du ihm (dem Patienten) machen: vier Morgenmittel in Form einer Brühe (?), die in ihn eindringt und seine Lebensgeister (?) anstachelt: Wah-Hülsenfrucht 1/2, Kugeln (?) von Gummiharz 1/8, Ocker 1/16; werde gekocht in Öl (bzw. Fett) und Honig, werde gegessen von dem Manne an vier Tagen. Wenn es sich danach unter deinen Fingern ausbreitet wie Körner von Sand, indem alle seine Körperteile heiß sind unter der »Bitternis«-Krankheit, (dann sollst du ihm machen): Brot in fauligem Zustand, Schmutz, Brot aus Geflügel. Tritt gegen ihn (den Krankheitsdämonen) auf, gehe ihm nicht aus dem Wege! Wenn du einen Mann untersuchst mit einer Verstopfung seines Magens, sein Herz befindet sich in Angst, schwierig [ist das Eingehen zu ihm (dem Magen), wenn er irgendeine Nahrung gegessen hat; eng ist der Durchgang zu seinem Magen... Dann sollst du dazu sagen: Das ist eine Verstopfung von Schleimstoffen... Dann sollst du ihm Mittel machen, die geheim sind für (jeden) aus der Umgebung des Arztes, außer für deinen eigenen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Erben: frische Gerste... mit Dattelkernen gemischt; werde durchgepreßt, werde getrunken an vier Tagen, so daß er sofort gesund wird.] ¤ 4 Mauerecke vom Oberbau des Südgrabes im Grabbezirk des Königs Djoser bei Sakkara, 3. Dynastie, um 2620 v. Chr. ¤ 5 Totentempel des Königs Snefru an der Ostseite der wohl unter seiner Regierung vollendeten Pyramide von Medum, 4. Dynastie, 2580-2553 v. Chr. Im Hintergrund Mastaba
»Zweierlei drückte sich in diesen von Menschenhand erbauten Bergen aus, die schon der Anlage nach jeglichem Verfall den größten Widerstand entgegensetzen sollten: die Unvergänglichkeit ihrer Gestalten und ihres Aufbaus meldete für das sterbliche Wesen, das im Innern begraben war, den Anspruch auf ewiges Leben an, und die ungeheure Menge an Arbeitskraft und Material, die in jede einzelne Pyramide eingegangen war, verkündete vernehmlich, daß es die vornehmste Aufgabe des Staates sei, dem König zu dienen. Keine andere Tätigkeit beanspruchte die Kraftanstrengung des ägyptischen Volkes so sichtbar und so nachhaltig. Die Pyramide war das ewige Heim ihres Gott-Königs; sie verdiente den allergrößten Aufwand Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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an Zeit, Material, Arbeitsleistung und technischem Können. Mit sublimer Arroganz beherrschten die königlichen Pyramiden das Alte Reich, und über die Jahrhunderte, die folgen sollten, senkte sich ihr Schatten... Für den Alltag dieses in den Pyramiden verewigten Staates gab es keine geschriebene, in einzelnen Regeln konkretisierte Staatskunst; keine wurde benötigt, denn alles staatliche Dasein verdichtete sich in der Person des Gottes, der mit seinem göttlichen Diktum Ziel und Praxis des Regierens zu allen Zeiten bestimmte. Nach der geltenden Lehre war er die einzige Autorität: er allein war für die Erhaltung und Instandhaltung seines Besitzes verantwortlich. Er allein konnte zwischen dem Volk und den Göttern vermitteln. Ob gut oder schlecht regiert wurde, hing nur davon ab, ob es ihm gelang, für die Fruchtbarkeit des Bodens, für gewinnbringenden Handel und für ein Leben in Frieden Vorsorge zu treffen. Natürlich konnte der Pharao weder jede behördliche und richterliche Funktion im Lande wahrnehmen noch jeden Tag in allen Tempeln allen Göttern huldigen. Verantwortung mußte im Namen des Königs gewöhnlichen Sterblichen übertragen werden. Den Zustand von Staat und Gesellschaft beschreibt am besten das Symbol der Pyramide mit einem einzigen Stein an der Spitze. Ganz oben war der Pharao, unter ihm waren die Staatsminister, darunter die Statthalter der einzelnen Provinzen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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und ganz unten die Dorfschulzen. Sozial ragte der Pharao hoch über die Aristokraten, und tief unter den Aristokraten waren die Leibeigenen; unklar bleibt, ob Handwerker, kleine Händler und Verwalter eine besondere Klasse bildeten. In der staatlich-religiösen Organisation stellte der Pharao den einzigen Berührungspunkt mit den Göttern dar; damit stand er auch hoch über den Priestern, die ihrerseits über dem Volk standen.« (J. A. Wilson) ¤ 6 König Menkaurê (Mykerinos) und seine Frau Chamerer Nebti. Bemalte Schieferskulptur aus dem Taltempel des Königs vor seiner Pyramide auf dem Felsplateau von Gise, 4. Dynastie, 2489-2471 v. Chr. Boston/Mass., Museum of Fine Arts
»Auffallend ist das schnelle Tempo, in dem die Kunst zu voller Reife gelangte. Unter den ersten drei Dynastien war der Charakter des Werkes oft durch das benutzte Medium bedingt: Figürchen aus Elfenbein waren geschmeidig, frei, fließend, naturalistisch, steinerne Statuen klobig und massiv. Die verfeinerten Ausdrucksformen der vierten Dynastie machten jedes Material dem künstlerischen Zweck dienstbar. Für die Königsstatuen des Chephren und des Mykerinos wurde der härteste wie der weichste Stein benutzt, aber das Kunstwerk war nicht mehr vom Material Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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geformt, sondern souverän gehandhabtes Ausdrucksmittel der religiösen Intentionen des Bildhauers. Statuen und Reliefs aus der vierten und fünften Dynastie erzielten den erstrebten Eindruck von Würde, Autorität und ewigem Leben mit einer Vollkommenheit, die den Werken anderer Perioden in nichts nachsteht. Woher dies plötzliche Emporblühen technischer Reife und geistiger Ausdrucksfähigkeit? Ägypten war unter den ersten zwei oder drei Dynastien seiner selbst bewußt geworden; es hatte sich eine Identität gegeben und ein starkes Selbstgefühl entwickelt. Mit dem Erwachsenwerden kam ein selbstbewußter Optimismus empor, der fast ans Rüpelhafte grenzte: das spezifisch Ägyptische schien so gut, daß es für alle Ewigkeit gestaltet und festgehalten werden mußte... Der äußere Rahmen des freudig bejahten Lebens war der Staat, der mit dem König identisch war... Bis zur fünften Dynastie war nur der höchste Beamte, der Wesir, zugleich ›Siegelbewahrer des Königs von Unterägypten‹ mit der Vollmacht, die Reisen von Amtspersonen und die Beförderung von Gütern innerhalb Ägyptens zu überwachen; in der Spätphase der fünften und unter der sechsten Dynastie gab es bereits Dutzende solcher Siegelbewahrer. Ähnlich gab es bis zu den Anfängen der sechsten Dynastie nur einen ›Statthalter Oberägyptens‹ als Vizekönig für die entfernteren Teile des Landes; am Ausgang der sechsten Dynastie führten Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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diesen Titel mehrere lokale Herrscher; vermutlich war damit angedeutet, daß ihr Herrschaftsbereich über eine kleine Provinz hinausging. Darin äußert sich einmal die Umwandlung von Amtsbezeichnungen in erbliche Titel, zum ändern die beginnende Dezentralisation des Staates und der gesteigerte Machtanspruch lokaler Herrscher, nicht zuletzt aber auch die Ausweitung der Regierungsgeschäfte und die entsprechende Vermehrung der Ämter.« (J. A. Wilson) ¤ 7 Der Hofbeamte Ti im Nachen auf dem Nil beim Durchfahren des Papyrusdickichts. Bemaltes Relief in dem zur Kultkammer führenden unterirdischen Gang in seiner Mastaba bei Sakkara, 5. Dynastie, um 2400 v. Chr.
Ti hatte die Oberaufsicht über die Sonnentempel des Königs Sahurê (2458-2446 v. Chr.); er war der Verwalter der Ländereien der königlichen Pyramiden des Neferirkarê (2446-2427 v. Chr.) und des Niuserrê (2419 bis 2396 v. Chr.). Byblos war eine ägyptische Handelsniederlassung, »von wo Zedernholz und Zedernerzeugnisse verschifft wurden und das wohl auch für Kupfer und Zinn von den Mittelmeerinseln, für kleinasiatisches Silber, für Wein und Olivenöl aus dem östlichen Mittelmeer und Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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für Lapislazuli aus weiter östlich gelegenen Ländern als Transitzentrum diente. Hier kam das Ende am Ausgang der sechsten Dynastie. Der ägyptische Tempel in Byblos wurde niedergebrannt, der ägyptische Handel stillgelegt. Offenbar hatte der Druck der neuen Völkerschaften aus der Wüste die innere Situation in Vorderasien chaotisch werden lassen. Die Unterbrechung des wichtigsten Handelsweges zwischen Ägypten und Asien war für den Pharao politisch und wirtschaftlich ein empfindlicher Schlag.« (J. A. Wilson) ¤ 8 Reste der ägyptischen Tempels mit Hof und dreiteiligem Heiligtum im phönikischen Byblos, 5./6. Dynastie ¤ 9 Steuererklärung der Dorfältesten vor der Gutsverwaltung. Relief in der Mastaba des Wesirs Mereruka bei Sakkara, 6. Dynastie, um 2300 v. Chr. ¤ 10 Heimkehrende Schiffer. Relief aus dem Grab eines königlichen Beamten, 5. Dynastie, nach 2450 v. Chr. Berlin, Staatliche Museen, Ägyptische Abt. ¤ 11 Kornspeicher. Bemaltes Holzmodell aus Assuan, 6. Dynastie. London, British Museum ¤ 12 Speiseopfer auf einer Tafel: Rinderkopf, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Stierschenkel, Brote und Kuchen neben Näpfen zum Ausgießen des Wassers. Tonmodell, 11. (?) Dynastie. Bremen, Übersee-Museum ¤ 13 Kornreibende Magd. Bemalte Steinskulptur, 5. Dynastie. Kairo, Ägyptisches Museum ¤ 14 Der königliche Kornkämmerer Kaëmsenu vor der Scheintür zu seinem Grab. Holzskulptur vor steinerner Architektur aus Sakkara, 6. Dynastie, um 2300 v. Chr. New York, Metropolitan Museum of Art, Gift of Edward S. Harkness, 1926 ¤ 15 Bierbrauende Dienerin. Bemalte Steinskulptur aus Sakkara, 6. (?) Dynastie. Florenz, Museo Archeologico
Das Alte Reich war am Ende der sechsten Dynastie völlig zusammengebrochen. Die Könige der Ersten Zwischenzeit (2130 bis 2010 v. Chr.) hatten zunächst von Memphis aus noch einen gewissen Einfluß. Aber bald galt der Herrscher als irrender und fehlbarer Mensch; die königlichen Vorrechte wurden »demokratisiert«. Lokale Fürsten nahmen den Königstitel an. Die Kleinherrscher von Herakleopolis (neunte und zehnte Dynastie) und Theben (elfte Dynastie) rangen um eine neue Einigung des Landes. »Als der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Hauptbewerber um die Herrschaft erwies sich ein thebanisches Fürstengeschlecht, das um 2133 v. Chr. schon so mächtig war, daß es sich als kleine Pharaonendynastie etablieren konnte. Fast hundert Jahre dauerte der Kampf des südlichen Thebens gegen die nördlich-mittelägyptische Koalition der Könige von Herakleopolis und der Fürsten von Assiut.« (J. A. Wilson) Um das Jahr 2040 v. Chr. siegte Mentuhotep I. über die verbündeten Feinde. ¤ 16 Der Triumph des thebanischen Eroberers Nebhepetrê Mentuhotep I. über einen Bundesgenossen der Könige von Herakleopolis. Bemaltes Relief aus einem Heiligtum des Königs Mentuhotep I. in Gebelên bei Theben, 11. Dynastie, nach 2040 v. Chr. Kairo, Ägyptisches Museum
Mentuhotep I. begründete das Mittlere Reich. Unter ihm wurde auch Nubien wieder ägyptisch. »Einen neuen Auftrieb erhielt der Ausbau der Bergwerke und Steinbrüche. Von Koptos am Nil marschierte über das Wadi Hammamat nach Kosseir am Roten Meer eine Militärexpedition von dreitausend Mann. In Kosseir wurde ein seetüchtiges ›Byblos-Schiff‹ gebaut und vom Stapel gelassen: es segelte, vielleicht als erster Träger eines wiederhergestellten königlichen Außenhandelsmonopols, zum Märchenland Punt, dem Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Myrrhengebiet an der afrikanischen Küste südlich des Roten Meeres. Ein anderer Trupp ging zur SinaiHalbinsel: ein Beamter aus Theben nahm die alten Bergwerkschächte wieder in Betrieb und brachte Kupfer nach Ägypten.« (J. A. Wilson) Nach der langen Regierungszeit Mentuhoteps I. gab es dann wieder sieben wirre Jahre (1998-1991 v. Chr.), und als sie vorbei waren, war eine neue Dynastie am Ruder: die zwölfte Dynastie. ¤ 17 König Cheperkarê Sesostris I. und der memphitische Gott Ptah. Relief auf einem Pfeiler aus einem von Sesostris I. geweihten Tempel im Hauptheiligtum des neuen Reichsgottes Amun in Karnak, 12. Dynastie, um 1940 v. Chr. Kairo, Ägyptisches Museum
»Sesostris I. war mächtig und seine Herrschaft gesichert... Wenn das Mittlere Reich keine Anstalten machte, Asien über die Sinai-Halbinsel hinaus zu erobern, so lagen die Dinge in Nubien und im Unteren Sudan ganz anders. Im Süden wurde der Kurs auf Angriff und Eroberung gesteuert. Der Druck von Libyen und vom Süden her hatte sich verstärkt; in Nubien entfaltete sich von neuem eine einheimische Kultur. Von der Idee geleitet, daß das gesamte Niltal ein Land sei und als Einheit regiert werden müsse, setzte Ägypten zur Eroberung der weiten Strecken zwischen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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dem Ersten und dem Zweiten Katarakt an. In Nubien wurde eine Kette von Festungen gebaut. Die offizielle Landesgrenze wurde bis zum Zweiten Katarakt vorgeschoben: hier mußte der zunehmende Druck der nach dem Norden drängenden Nehsiu, wie die Ägypter die Hamiten und Neger des Südens nannten, abgefangen werden... Der Vorstoß nach dem Süden machte an der bewachten und befestigten Grenze am Zweiten Katarakt nicht halt... Unmittelbar südlich des Dritten Katarakts liegt die heutige Stadt Kerma, der nördlichste Vorposten des fruchtbaren Südlandes, als Landwirtschafts- und Handelszentrum von gewisser Bedeutung. Im Mittleren Reich diente Kerma als Handelsniederlassung und zugleich als Umschlagplatz für Schiffe und Karawanen. Nördlich des Dritten Katarakts behauptete sich eine einheimische, im wesentlichen hamitische primitive Kultur, die manche Einflüsse aus Libyen und der Sahara erkennen ließ. Südlich des Dritten Katarakts war der Anteil der Neger sehr viel höher; hier begegneten die Ägypter Völkern, die ihnen wenig bekannt waren.« (J. A. Wilson) ¤ 18 Treppe und Eingang zum Grab des Sarenput I., des Gaufürsten von Elephantine zur Zeit Sesostris' I. Terrassenanlage bei Assuan, 12. Dynastie, um 1950 v. Chr.
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Die wandernden Völker in Asien stifteten Unruhe zu der Zeit, »da das Mittlere Reich noch mächtig war... Wer die Feinde des ägyptischen Staates seit der Mitte der zwölften Dynastie waren, zeigen Ächtungstexte, in denen der Pharao seine tatsächlichen und möglichen Feinde mit magisch-zeremoniellen Beschwörungen verfluchte... Ziemlich glimpflich kamen im Westen die Libyer weg. Im Süden traf der Fluch mehrere namentlich bezeichnete Fürsten, mehr Sudanesen als Nubier... Die Texte nennen viele Asiaten, die sich aber noch in Asien aufhielten; denn der Zersetzungsprozeß hatte offenbar etwa eine oder zwei Generationen vordem Hyksos-Einbruch eingesetzt.« (J. A. Wilson) In dem Augenblick, da die Wanderer unbekannter Herkunft zusammen mit Stammesgruppen aus Syrien und Palästina in Ägypten eindrangen und es eroberten (um 1730 v. Chr.), werden sie Hyksos genannt. Sie brachten das Pferd und den Kampfwagen mit. ¤ 19 Bittgesuch eines Ägypters an einen verstorbenen Angehörigen. Schreiben auf einer Tonschale, 11. (?) Dynastie. Paris, Louvre ¤ 20 Ägypter auf ungesatteltem Pferd. Bemalte Holzskulptur, 17. (?) Dynastie, 16. Jahrhundert v. Chr. New York, Metropolitan Museum of Art Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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¤ 21 Bärtige Köpfe von unterworfenen Feinden. Steinrelief aus Tanis (?), 12. Dynastie. Kairo, Ägyptisches Museum ¤ 22 Ein Ächtungstext auf einer zerschlagenen Tonfigur aus Sakkara, 12./13. Dynastie. Brüssel, Musées Royaux d'Art et d'Histoire ¤ 23 Königin Maatkarê Hatschepsut mit einem Opfergefäß in den Händen. Granitskulptur, 18. Dynastie, um 1490 v. Chr. Berlin, Staatliche Museen, Ägyptische Abt.
Nebpehtirê Ahmose hatte die Hyksos aus dem Land getrieben. Zu Beginn der achtzehnten Dynastie war Ägypten wieder frei. »In den äußeren Bekundungen kulturellen Schaffens fuhr die achtzehnte Dynastie genau dort fort, wo die zwölfte abgebrochen hatte; einen echten kulturellen Einschnitt hatte die Zweite Zwischenzeit nicht herbeigeführt. In Architektur und Kunst wiederholten sich die Formen und Motive früherer Zeiten. Die kleine, von einer Säulenreihe umgebene Kapelle wurde aus früheren Modellen entwickelt, und der terrassenförmige Tempel der Königin Hatschepsut war in manchem dem benachbarten Tempel des Mentuhotep aus der elften Dynastie nachgebildet... Dennoch machte sich schon in den Anfängen der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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achtzehnten Dynastie etwas Neues bemerkbar. Es war vorbei mit der alten geruhsamen Innenschau. Das Niltal war nicht mehr die Welt. Am Horizont der Ägypter leuchtete plötzlich die Vision ferner Grenzen in Asien und Afrika auf. Konnte man sich noch damit begnügen, den fremden Ländern die Überlegenheit der ägyptischen Kultur vorzuführen und damit Handelsvorteile einzukassieren? Die Fremden waren nicht mehr nachsichtig zu behandelnde Untertanen. Sie hatten sich aufsässig gezeigt, und der Pharao mußte sich nun die Zeit nehmen, ihnen in ihren eigenen Ländern Disziplin beizubringen,« (J. A. Wilson) Amenophis I. (1550-1528 v. Chr.) begann auf Feldzügen in Asien und Nubien mit dem Aufbau des ägyptischen Weltreiches. Thutmosis I. (1528-1515 v. Chr.) dehnte die Grenzen des Reiches in Asien bis zum Euphrat, in Nubien bis zum Dritten Katarakt aus. Er legte das erste Felsgrab im Tal der Könige bei Theben an und schmückte es mit neuen religiösen Texten aus. Nach dem Tod seines Nachfolgers (1502 v. Chr.) übernahm die Witwe Hatschepsut für ihren minderjährigen Stiefsohn die Regierung und ließ sich 1501 v. Chr. zum König proklamieren. Sie hielt sich an den traditionellen Kurs intensiver Bautätigkeit. Ihr größter Stolz war eine Schiffsexpedition nach Punt, Ihr Stiefsohn, Thutmosis III., dagegen regierte mit kriegerischer Aktivität, nachdem ihm 1481 v. Chr. die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Alleinherrschaft zugefallen war. ¤ 24 Reste einer Säulenhalle vom Tempel des Weltoberers Mencheperrê Thutmosis III. südlich der obersten Terrasse des Heiligtums seiner Stiefmutter, Tante und »Schwester«, der Königin Hatschepsut, in Deir el Bahri bei Theben, 18. Dynastie, nach 1481 v. Chr. (Freilegung des erst beim Wiederaufbau der Hatschepsut-Terrassenanlage durch polnische Archäologen unter Leitung von Prof. K. Michalowski, Warschau, 1962 entdeckten Tempels) ¤ 25 Ägypter im Kampf mit den Asiaten. Holzrelief auf dem Streitwagen des Königs Mencheperurê Thutmosis IV., 18. Dynastie, 1422-1413 v. Chr. Kairo, Ägyptisches Museum ¤ 26 Ausländer bei Bauarbeiten in Ägypten. Wandgemälde im Grab des Wesirs Rechmirê in Theben, 18. Dynastie, um 1440 v. Chr.
Unter König Thutmosis III. erhielt das ägyptische Weltreich seine größte Ausdehnung; es reichte vom Euphrat bis zum Vierten Nilkatarakt. »Mit den militärischen Siegen des Weltreichs kamen nach Ägypten Tausende von Menschen, die im Verlauf der Kämpfe gefangengenommen worden waren. Da Ägypten als Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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das Land der großen Möglichkeiten, der Kriegsbeuteund Aufstiegschancen erschien, waren die Gefangenen fürs erste bereit, als ägyptische Soldaten, auch gegen ihre eigenen Stammesangehörigen, zu dienen. In dem Maße, wie Ägyptens Herrscher reicher und fetter wurden, stellten diese fähigen Fremden immer mehr die erste Kraftreserve dar: mehr und mehr Nehsiu und Medjai aus dem Süden, Schasu aus dem Osten, Meschwesch aus dem Westen und Scherden von der See wurden zum Militärdienst und zu Verwalterfunktionen im Staatsapparat und auf den großen Gütern herangezogen. Viele dieser Fremden waren als Sklaven Eigenturn des Palastes, der Adelsgüter oder der Tempeldomänen... Der Totentempel Thutmosis' IV, beschäftigte eine ganze Kolonie von in Gezer in Palästina gefangengenommenen und der Priesterschaft des Tempels geschenkten Asiaten... Die Weltreichsituation gab der Armee automatisch Selbständigkeit und vermehrte Macht; das war eine radikale Abkehr von den Traditionen der Vergangenheit.« (J. A. Wilson) ¤ 27 Schiffer beim Löschen der Ladung. Relief in der Punt-Halle des Totentempels der Königin Hatschepsut in Deir el Bahri bei Theben, 18. Dynastie, um 1490 v. Chr.
»Mit der Ausweitung des Horizonts und dem Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Eindringen internationaler Elemente in den ägyptischen Alltag bekam auch der königliche Hof einen mehr kosmopolitischen Anstrich. Die sichtbare Folge war die Durchbrechung der alten Thronfolgegrundsätze... Thutmosis IV. nahm eine Tochter des Königs Artatama von Mitanni zum Weib, und dieser Verbindung entstammte Amenophis III. Als Sohn eines halbebenbürtigen Vaters und einer nichtägyptischen Mutter war er erst recht von zweifelhafter Legitimität, was ihm aber keine Sorgen zu machen schien. Zu seiner Königin machte er ein einfaches ägyptisches Bürgermädchen namens Teje, deren Eltern weder Rang noch Titel aufzuweisen hatten. Diese herausfordernde Bekundung des königlichen Anspruchs, über alle Regeln und Vorwürfe erhaben zu sein, verriet einiges von der beschwingten Großzügigkeit, die mit dem Weltreich eingezogen war.« (J. A. Wilson) Damit war auch die Feindschaft zwischen Ägypten und dem Mitanni-Reich beendet. ¤ 28 Salblöffel. Holzschnitzereien, 18. Dynastie, um 1400 v. Chr. Berlin, Staatliche Museen, Ägyptische Abt. ¤ 29 Gedächtnisskarabäus des Königs Nebmaatrê Amenophis III. zur Erinnerung an die Schaffung eines Ses für seine Frau Teje. Urkunde aus Theben, 18. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Dynastie, 1413-1375 v. Chr. New York, Metropolitan Museum of Art, Rogers Fund, 1935 ¤ 30 Salblöffel. Holzschnitzereien, 18. Dynastie, um 1400 v. Chr. Berlin, Staatliche Museen, Ägyptische Abt. ¤ 31 König Nebmaatrê Amenophis III. mit der Blauen Krone und dem »Gold der Tapferkeit«. Relief aus dem Grab seines Beamten Chaemhêt in Theben, 18. Dynastie, um 1380 v. Chr. Berlin, Staatliche Museen, Ägyptische Abt. ¤ 32 Pharao Amenophis IV. Echnaton und seine Familie unter den Strahlen des Sonnengottes Aton. Relief auf einem Pfeiler aus Amarna, 18. Dynastie, um 1370 v. Chr. Kairo, Ägyptisches Museum
»Amenophis IV. (1375-1358 v. Chr.) und Nofretete hatten sechs Töchter, die in den meisten zeitgenössischen Abbildungen als kleine Kinder erscheinen... Das ziemlich bewegte Leben der königlichen Familie spielte sich noch mehr in der Öffentlichkeit ab und wurde noch mehr zum Gegenstand öffentlicher Verehrung gemacht als das Amenophis' III. und Tejes. Die Abkehr vom streng abgeschlossenen Dasein der früheren Pharaonen und ihrer Haremsdamen scheint auf Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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einer politischen Absicht beruht zu haben. Zu keiner früheren Zeit waren Frauen so sichtbar als Teilnehmerinnen am öffentlichen Leben herausgestellt, nie das zärtliche Interesse des Königs an Frau und Töchtern so offen bekundet worden. Die Periode war betont feministisch... Der streng persönliche Charakter der Religion Echnatons, die Beschränkung der unmittelbaren Aton-Verehrung und Aton-Bindung auf die königliche Familie und der für alle Anhänger des Pharaos unausweichliche Zwang zur ausschließlichen Anbetung des Gott-Königs lassen uns verstehen, warum die neue Religion nach dem Tode Echnatons auseinanderfiel und sich in nichts auflöste... Vielleicht war die reaktionäre Strömung zu mächtig. Sowohl Echnaton als auch sein junger Favorit verschwanden von der Bildfläche. Der jugendliche Tutanchaton heiratete die Prinzessin Anchesenpaaton und wurde Pharao, war aber gezwungen, sich restlos zu ergeben. Die Kapitulation ging so weit, daß er seinen Namen in Tutanchamun und den Namen seiner Frau in Anchesenamun änderte, Amarna verließ und nach Theben zog. Die Revolution war gescheitert, wenn sich auch ein Anflug der Ketzerei noch einige Jahre halten sollte.« (J. A. Wilson) ¤ 33 Pharao Nebcheprurê Tutanchamun und seine Frau Anchesenamun im Palast. Relief auf der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Rückenlehne des Thronsessels aus dem Tutanchamun-Grab bei Theben, 18. Dynastie, 1358-1350 v. Chr. Kairo, Ägyptisches Museum ¤ 34 Angehörige asiatischer Stämme als Gefangene unter Aufsicht der Soldaten des ägyptischen Feldherrn Haremhab. Relief aus seinem Grab bei Sakkara, 18. Dynastie, um 1355 v. Chr. Leiden, Rijksmuseum van Oudheden ¤ 35 Gefangene bei Transportarbeiten. Relief aus dem Grab des Haremhab bei Sakkara, 18. Dynastie, um 1355 v. Chr. Bologna, Museo Civico ¤ 36 Neger im Gefangenenlager. Relief aus dem Grab des Haremhab bei Sakkara, 18. Dynastie, um 1355 v. Chr. Bologna, Museo Civico
Zur Zeit Tutanchamuns waren die Hethiter wieder auf dem Vormarsch nach Ägypten. Der Feldherr Haremhab brachte ihr Vordringen in Syrien zum Stehen und machte sich nach der kurzen Regierung des Eje (1350-1346 v. Chr.) zum König. Trotz seiner soldatischen Erfolge unterließ er Versuche, das Weltreich wiederzugewinnen. Im eigenen Land wurde jede Spur atonistischer Lehren ausgelöscht und das Andenken der ketzerischen Pharaonen in Acht und Bann getan, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Memphis als Residenz übernahm bald seine alten Rechte. Haremhabs Wesir und Stellvertreter wurde als Ramses I. 1321 v. Chr. der Begründer der neunzehnten Dynastie. Mit ihm und seinen Nachfolgern wurden die nördlichen Götter Re, Seth und Ptah wichtig. »Allmählich setzte sich im Bewußtsein der Ägypter die neue Ära als eine Zeit der Wiederherstellung der imperialen Glorie Ägyptens durch. Sethos I. zählte seine Regierungsjahre als Jahre der Renaissance.« (J. A. Wilson) ¤ 37 Eine der sieben Götterkapellen im Tempel des Königs Sethos I. in Abydos, 19. Dynastie, um 1310 v. Chr. Auf den Reliefs: Der Pharao beim Räuchern und Spenden vor dem memphitischen Totengott PtahSokar ¤ 38 Ägyptische Beamte beim Zählen der vor ihnen aufgehäuften Hände von den im Krieg gegen Ramses II. gefallenen Hethitern. Relief der Südwand seines Tempels in Abydos, 19. Dynastie, Mitte 13. Jahrhundert v. Chr. ¤ 39 Eine Karte der ägyptischen Goldbergwerke und Steinbrüche zur Ramessidenzeit. Fragment eines Papyrus mit den Berge- und Wegenamen in hieratischer Schrift. Turin, Museo Egizio Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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¤ 40 Sturm auf die befestigte Stadt Askalon in Palästina durch die Soldaten Ramses' II. Relief auf der Südwand der großen Tempelhalle in Karnak, 19. Dynastie, Mitte 13. Jahrhundert v. Chr.
»In der ersten Phase des Weltreichs hatte die Eroberung und Behauptung des Gebietes um Kadesch eine beträchtliche Rolle gespielt, und Ägypten hatte sich gewöhnt, als seine Hauptgegner erst Mitanni, dann das Hethiterreich zu sehen. So plante auch Sethos I. die Strategie seiner Feldzüge ausschließlich im Hinblick auf die Hethiter, und von derselben Voraussetzung ging zunächst auch Ramses II. aus. Bald aber mußte er erkennen, daß es keineswegs mehr um einen Zweikampf mit den Hethitern ging. Zwischen 1400 und 1100 v. Chr. hatten sich am östlichen Mittelmeer sehr erhebliche Verschicbungen vollzogen. Die Akteure auf der Bühne der damaligen Welt waren nicht mehr bloß Ägypter, Syrer, Hethiter und Mesopotamier; in den Vordergrund drängten neue Völker, aus denen sich später als Schicksalsmächte Europas Griechen und Römer herauskristallisieren sollten.« (J. A. Wilson) ¤ 41 Pharao Usermaatrê Ramses II. mit der Blauen Krone bei der Züchtigung seiner Feinde. Bemaltes Relief aus dem Tempel des Gottes Ptah in Memphis, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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19. Dynastie, erste Hälfte 13. Jahrhundert v. Chr. Kairo, Ägyptisches Museum ¤ 42 Die umwallte Anlage des sogenannten Ramesseums in Theben mit seinen, den größten Teil des Heiligtums einnehmenden Wohnungen, Magazinen und Stallungen, 19. Dynastie, Mitte 13. Jahrhundert v. Chr. Blick über das fruchtbare Land und den Nil auf die Berge der Wüste
Mit Ramses II, (1304-1238 v. Chr.) begann die Wiedereroberung des Imperiums, In den Jahren, die auf die Schlacht von Kadesch (1299 v. Chr.) folgten, wo er einer großen hethitischen Koalition gegenübergestanden hatte, »kämpfte er in Palästina und Syrien; er nahm Askalon und verwüstete Akko. Bei Tunip in Nordsyrien vollbrachte er die gleichen Bravourstückchen wie bei Kadesch; er führte den Angriff gegen die Stadt zwei Stunden lang an, ohne seinen Panzer anzulegen. Seine Feldzüge erstreckten sich über das ganze Land – von Südpalästina bis nach Nordsyrien... Im 22. Regierungsjahr Ramses' II. gingen Ägypten und das Hethiterreich mit dem Abschluß eines ›Friedensund Bruderschaftsabkommens‹ (1283 v. Chr.) ein Defensivbündnis ein. In seinem 34. Regierungsjahr wurden die freundschaftlichen Beziehungen durch eine politische Heirat besiegelt, was dem Ehebündnis Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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zwischen Ägypten und dem Mitanni-Reich entsprach.« (J. A. Wilson) »Ramses II. ließ seine Triumphgeschichte in Karnak, Luxor, West-Theben, Abydos, Abu Simbel und wahrscheinlich auch in den seitdem zerstörten DeltaTempeln in die Mauern einmeißeln... Mit seiner langen Regierungszeit, mit seiner großen Nachkommenschaft und der massiven Größe der Denkmäler, die seinen Namen tragen, hat er seinen Schatten auf die ägyptische Geschichte geworfen; ein Jahrhundert nach ihm trugen die Pharaonen seinen Namen. Seine Bauten suchten durch übermächtige Größe zu wirken, ohne auf die künstlerische Qualität großen Wert zu legen. In Tanis erhob sich ein Koloß von dreißig Meter Höhe. Ein anderer Koloß, dessen Gewicht auf tausend Tonnen geschätzt wurde, stand in dem als Ramesseum bekannten Totentempel. Der gewaltige Felsentempel in Abu Simbel in Nubien ist majestätisch imposant, aber bezeichnenderweise nur eine riesige Fassade mit sehr wenig Nutzfläche dahinter.« (J. A. Wilson) ¤ 43 Das Tal der Königsgräber im thebanischen Westgebirge mit der natürlichen Felsenpyramide des Gipfels El Qorn
Die von Userchaurê Sethnacht um 1200 v. Chr. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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begründete zwanzigste Dynastie hatte große Schwierigkeiten, die errungene Stabilität zu halten. Ramses III. (1198 bis 1166 v. Chr.) konnte zwar Ägypten vor den andringenden Seevölkern und Westlibyern noch einmal retten, aber auch ihm gelang es nicht, die ägyptische Vorherrschaft im östlichen Mittelmeer zu erhalten. Gold, Silber und Eisen wurden knapp; der Staat lebte in einer Krise. Die Korruption der Beamtenschaft nahm zu; der König war nur noch ein Werkzeug der herrschenden Oligarchie. Nun brach auch das Arbeitssystem zusammen. Um 1170 v. Chr. begann ein organisierter Protest der Arbeiter der thebanischen Nekropole: der erste Streik der Welt. Das war alarmierend. Vermutlich konnte der Konflikt nur vorübergehend geschlichtet werden; denn unter Ramses IX. (um 1120 v. Chr.) wurden die Königsgräber ausgeraubt. Die Gebote des Gottesstaates hatten ihre Autorität völlig eingebüßt. In den weit in das Herz des Gebirges hinein- und bis in fast hundert Meter Tiefe hinabgetriebenen Grabanlagen sind die Pharaonen der achtzehnten, neunzehnten und zwanzigsten Dynastie bestattet worden. Ganz links befindet sich der Eingang zum Grab des Königs Sethos I., ganz rechts das Tor zur Grabstätte des Königs Ramses VI. »Vom ›Jahr der Hyänen, in dem die Menschen hungerten‹ spricht ein anderer Text, und diese gallige Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Formel trifft für die gesamte traurige Periode zu. Zur Verschärfung der chaotischen Lebensbedingungen der großen Masse trug zu allem Überfluß noch eine neuartige Landplage bei: die allgegenwärtigen Banden räubernder Fremder. Die friedfertigen Arbeiter im Niltal wurden von diesen umherstreifenden Banden buchstäblich terrorisiert.« (J. A. Wilson) ¤ 44 Das alte Dorf der Arbeiter der thebanischen Totenstadt in Deir el Medine westlich von Theben, 19./ 20. Dynastie ¤ 45 »Wir sind hungrig!« »Protokoll« über den Sitzstreik der Arbeiter im Tal der Königsgräber. Aus dem Fragment einer Papyrusakte, 20. Dynastie, um 1170 v. Chr. Turin, Museo Egizio
»Vergessen und unbeachtet beschloß irgendwann um 1075 v. Chr. der letzte Pharao aus dem Ramessidengeschlecht die Endphase seines Schattenkönigtums; derweilen war die wirkliche Herrschaft über Ägypten auf Herihor, den Hohenpriester des Amun in Theben, und Smendes, den Regenten in Tanis, aufgeteilt... Abgesehen von sporadischen Energieausbrüchen, die ebensoschnell abflauten, wie sie entstanden, war Ägypten kein lebendiges Staatsgebilde mehr, sondern ein Nebeneinander von Kleinstaaten, die faktisch Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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unabhängig und nur durch Handelsbeziehungen verbunden waren.« (J. A. Wilson) Außenpolitisch war Ägypten bedeutungslos geworden; seine Versuche, wieder auf Syrien und Palästina Einfluß zu gewinnen, blieben erfolglos. ¤ 46 Ein Stammeszugehöriger des am Ende der zwanzigsten Dynastie, bald nach 1100 v. Chr., siegreichen Vizekönigs von Nubien. Glasierte Kachel aus dem Palast (?) des Königs Ramses III. bei seinem Tempel in Medinet Habu, 20. Dynastie, um 1180 v. Chr. Luzern, Sammlung E. u. M. Kofler-Truniger ¤ 47 Der Landesgott des Südreiches mit der Lilie als Wappenpflanze. Aus einem Relief am Thron des Königs Sesostris I. aus Lischt, 12. Dynastie, nach 1917 v. Chr. Kairo, Ägyptisches Museum
»In dieser Zeit kann ein neuer Machtfaktor auf: der wachsende Einfluß eines Fürstengeschlechts libyscher Abstammung aus dem Fayûm. Am Ausgang der zwanzigsten Dynastie hatte sich in Herakleopolis ein Libyer niedergelassen, der auf den ganz exotischen Namen Bujuwawa hörte und dessen Nachkommen in den nächsten fünf Generationen alle als Hohepriester des lokalen Gottes Harsaphes amtierten, ohne jedoch ihren Erbtitel als ›Große Häuptlinge der Me‹, das Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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heißt der westlibyschen Meschwesch-Stämme, abzulegen. Möglicherweise stammten sie von Söldnern ab, die, als Ägypten sein Weltreich aufgab, zu Siedlern geworden waren... Die Dynastie der Libyer fing mit überschäumender Siegesenergie an, verlor sich dann aber in untätiger Stagnation.« (J. A. Wilson) Es folgte ein Bürgerkrieg und ihm die äthiopische Invasion. ¤ 48 Der Landesgott des einst mit Oberägypten vereinigten Nordreiches mit dem Papyrus im Wappen. Aus einem Relief am Thron des Königs Sesostris I. aus Lischt, 12. Dynastie, nach 1917 v. Chr. Kairo, Ägyptisches Museum ¤ 49 Ein Vorfahre der seit 945 v. Chr. mächtig gewordenen libyschen Fürstenhäuser. Glasierte Kachel aus dem Palast (?) des Königs Ramses III. bei seinem Tempel in Medinet Habu, 20. Dynastie, um 1180 v. Chr. Luzern, Sammlung E. u. M. Kofler-Truniger
Pianchi (740-716 v. Chr.), der Nachfolger des äthiopischen Königs Kaschta, brachte den libyschen Fürsten Tefnacht, der von Sais aus die Kleinstaaten des Deltas und des nördlichen Mittelägyptens geeint hatte, zum Stehen und dehnte seine Herrschaft auf den Norden aus. Kusch hatte damit Ägypten, die Kolonie das Mutterland, erobert. Unter den Äthiopiern der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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fünfundzwanzigsten Dynastie erlebte Theben noch einmal eine Blütezeit. Aber der Zusammenbruch war nicht aufzuhalten; Ägypten wurde zum abhängigen Protektorat anderer Mächte. ¤ 50 Das zentrale Heiligtum des einst »elenden Kuschs«: Reste vom Tempel des Reichsgottes Amun am Fuß des Gebel Barkal unterhalb des Vierten Katarakts im Sudan, 25. Dynastie
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III. Hochkulturen in Vorderasien ¤ 0 Karte [Fundorte und historische Stätten] ¤ 1 Ruinenhügel in der Wüste Babyloniens, des einst fruchtbaren Gartenlandes im Kerngebiet der altvorderasiatischen Kultur. Blick von Nufedschi nach Süden auf die Grabstätten Frehat en-Nufedschi aus parthischer bis sasanidischer Zeit und auf das am Horizont liegende Uruk, eine der ältesten Städte Babyloniens ¤ 2 Ziegen und Menschen auf einem Topf der Scharlach-Keramik. Tonware aus Tutub am Dijala-Fluß in Mesopotamien mit roter und brauner Bemalung, um 2800 v. Chr. Bagdad, Iraq Museum ¤ 3 Herr und Diener beim Füttern der unter dem Schutz der Inanna stehenden Tempelherde. Abrollung eines beschädigten frühsumerischen Kalksteinsiegels, Anfang 3. Jahrtausend v. Chr. Paris, Louvre ¤ 4 Bauern beim Anschirren eines Rindes. Abrollung eines frühsumerischen Specksteinsiegels, Ende 4. Jahrtausend v. Chr. London, British Museum Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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¤ 5 Sumerische Bild- und Symbolzeichen. Tontafel aus Uruk (?), Ende 4. Jahrtausend v. Chr. Paris, Louvre
Im neolithischen Vorderasien folgten auf die Buntkeramik-Kulturen von Tell Halaf, Samarra und Eridu die überall in Mesopotamien beobachteten der ObedZeit »Die noch vorgeschichtlichen Obed-Kulturen wurden in Assyrien durch die Tepe-Gaura-Kultur und in Babylonien durch die frühgeschichtliche Uruk-Kultur abgelöst.« Während die Tepe-Gaura-Kultur aus der Tradition weiterwirkte, brachte die Uruk-Kultur etwas grundlegend Neues, das dem wohl aus dem Osten eingewanderlen Volk der Sumerer zu verdanken war. »Der Neubeginn wird zuerst in der Baukunst sichtbar.« In Uruk und Eridu entstanden große Tempelanlagen, »zum Teil mit Mauerwerk aus einer Art von Gußbeton über Sockeln aus kleinen Kalksteinblöcken« und mit Ton- und Steinstiftmosaikschmuck. »Als einige Tempel standen... kam jemand auf den wahrhaft genialen Gedanken, das Siegelbild in den Mantel kleiner zylindrischer Steinrollen einzuschneiden und das Bild dann auf dem Ton abzurollen... Gesiegelt hat man zunächst vorzugsweise Krugverschlüsse aus Ton, um unberechtigte Entnahmen aus Gefäßen zu erschweren. Diese Gefäße gehörten wohl überwiegend den Tempeln, die aller Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Wahrscheinlichkeit nach schon damals fast den gesamten Boden besaßen. Sie bildeten riesige Wirtschaftskörper mit Tausenden von Bediensteten in verschiedenen Funktionen. Die Tempel ohne irgendwelche Aufzeichnungen zu verwalten war auf die Dauer unmöglich.« (W. v. Soden) Die Sumerer kamen auf die Idee, »Gegenstände, Zahlen und Maße durch Bilder oder abgekürzte Symbole zu bezeichnen« und mit Griffeln auf Ton zu schreiben; man erfand die Schrift. »Während die frühsumerische Uluk-Kultur der Schrifterfinder nur in Südbabylonien nachgewiesen ist, breitete sich die aus ihr herauswachsende Dschemdet-Nasr-Kultur (etwa 3000-2800 v. Chr.) – genannt nach einem kleinen Hügel bei Kisch – über ganz Mesopotamien aus und befruchtete auch das frühdynastische Ägypten, mit dem auf dem Seewege um Arabien herum damals intensive Handelsbeziehungen bestanden. Es ist wahrscheinlich, daß die Ausbreitung über Mesopotamien zum Teil die Folge einer dieses ganze Gebiet zusammenfassenden Reichsbildung durch semitische Könige vielleicht von eben diesem Kisch aus war«; denn die akkadisch sprechenden Semiten haben schon zu Beginn des dritten Jahrtausends v. Chr. in Babylonien eine bedeutende Rolle gespielt. »Gegen Ende der Dschemdet-Nasr-Zeit ist ein Nachlassen der schöpferischen Kräfte spürbar... Der kulturelle Schwerpunkt Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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scheint sich vom Süden Babyloniens in den Nordosten verlagert zu haben, dessen Mittelpunkt bis zur Zeit Hammurabis Eschnunna wurde. In den Städten des Osttigrislandes übernahm die bemalte Keramik (Scharlachware) die bisher der Steinschneiderei und der Wandmalerei vorbehaltenen Kultszenen und Herdenmotive.« Auf die Dschemdet-Nasr-Zeit folgte um 2800 v. Chr. die Epoche der frühen Dynastien (von Uruk, Ur, Adab, Kisch, Elam und Mari). »Die Könige der frühdynastischen Zeit (bis 2414 v. Chr.) haben sich immer von verschiedenen Orten aus durchgesetzt, bisweilen für einige Generationen, oft aber auch nur für eine kürzere Zeit. Die zahlreichen Kriege zwischen rivalisierenden Dynastien, deren Ursache oft Streitigkeiten um das lebenswichtige Wasser und die Kanäle waren, schwächten das Land so, daß es etliche Male für kürzere oder längere Zeit fremden Eroberern zum Opfer fiel. Nach solchen Fremdherrschaften pflegte die Führung dann wieder an die alten Metropolen, das akkadische Kisch oder das sumeirische Uruk, das später seinen Vorrang an Ur abtreten mußte, zurückzufallen... Es gab keine feste Hauptstadt des ganzen Landes, und manchmal mag jede Zusammenfassung größerer Gebiete gefehlt haben. Die dauerhaften politischen Einheiten in der Sumererzeit waren ähnlich wie im frühen Griechenland die Stadtstaaten unter ihren Stadtfürsten (Ensi)... Starke Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Persönlichkeiten konnten zu Tyrannen werden. So soll Gilgamesch in seiner Hybris das ius primae noctis und schwere Fronarbeit gefordert haben.« (W. v. Soden) ¤ 6 Bewaffneter Krieger aus Mari im Fellumhang und mit Helm. Muscheleinlage von einem Wandrelief aus Mari am Euphrat, frühdynastisch, Mitte 3. Jahrtausend v. Chr. Paris, Louvre ¤ 7 Reste der Stadtmauer von Uruk, eines unter der Herrschaft des Königs Gilgamesch errichteten Schutzwalls von neuneinhalb Kilometer Länge mit etwa neunhundert Halbkreistürmen, 2750-2700 v. Chr.
Die Bauten der frühdynastischen Periode zeigen einen Wandel, technisch gesehen einen Rückschritt. »An die Stelle der Riemchenziegel, der kleinen Lehmziegel mit quadratischem Querschnitt, die ein sehr sauberes und dauerhaftes Bauen ermöglichten, traten jetzt für eine lange Zeit die höchst mangelhaften Plankonvexziegel mit gewölbter Oberfläche, die meist aufrecht gestellt wurden... Diese Ziegel ließen sich viel schneller als die allseitig geglätteten herstellen – und die neue Zeit mit politisch recht unstabilen Verhältnissen hatte anscheinend allen Anlaß, schnell zu bauen.« (W. v. Soden) Aus diesem Material ist z.B. die alte Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Wehranlage von Uruk. »Die Tempel dieser Zeit waren fast alle klein und hatten einen länglichen Kultraum mit Eingang an der Seite; es gab, wenn überhaupt, nur wenige Nebenräume. Manche Tempel lagen zu ebener Erde, andere auf den alten Hochterrassen. Die Anlagen in Tutub bei Eschnunna und in El Obed bei Ur wirken wie Burgen. In El Obed fand man noch Teile des Schmuckes der Tempelfassadc... In der Königstadt Kisch wurden Reste von großen Palästen freigelegt... Die politische Macht bekam jetzt ihr eigenes Gewicht neben der priesterlichen... Aus dem damals wohl schon überwiegend akkadischen Gebiet Nordbabyloniens stammen fünfzehn bis fünfundsiebzig Zentimeter hohe Steinstatuetten von Männern und Frauen in Gebetshaltung; seltener, vermutlich Fürsten vorbehalten, waren Sitzbilder. Man wollte wenigstens im Bilde dauernd anbetend vor der Gottheit im Tempel stehen.« (W. v. Soden) »Die geometrischen Zeichenformen der ältesten, ganz kurzen Weihinschriften von Königen beweisen, daß diese nicht vor etwa 2650 v. Chr. entstanden sein können. Wir besitzen solche Inschriften zum Beispiel von einem König Mesilim von Kisch, der ganz Babylonien beherrscht haben muß, auch von Mesannepadda und dessen Sohn Aannepadda aus der ersten Dynastie von Ur... Über die politische Aktivität Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Mesannepaddas ist nichts bekannt. Sein Name und der seiner Dynastie ist für uns aber mit einer der großartigsten Entdeckungen der orientalischen Archäologie verbunden, der Auffindung des Königsfriedhofes von Ur durch Leonard Woolley.« (W. v. Soden) ¤ 8 Anbeter vor sitzenden Gottheiten am Tempelaltar. Abrollung eines frühdynastischen Aragonitsiegels, zweites Viertel 3. Jahrtausend v. Chr. London, British Museum ¤ 9 Melken der Tempelkühe und Verarbeitung der Milch. Kalksteinrelief von der Fassade eines der Muttergottheit von Kisch, Ninchursang, geweihten Tempels auf einer Terrasse in El Obed bei Ur, frühdynastisch, Mitte 3. Jahrtausend v. Chr. Bagdad, Iraq Museum ¤ 10 Keule des Königs Mesilim von Kisch. Weihgabe dieses Herrschers für Ningirsu, den Stadtgott von Lagasch. Kalksteinskulptur aus Lagasch mit einer Inschrift des Königs von Kisch und Erbauers eines Ningirsu-Tempels, frühdynastisch, um 2600 v. Chr. Paris, Louvre ¤ 11 Sumerischer (?) Fürst beim Gebet. Steinskulptur aus dem bereits akkadisch gewordenen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Nordbabylonien, frühdynastisch, 2650-2550 v. Chr. Kopenhagen, Ny Carlsberg Glyptotek ¤ 12 Sumerische Kultfeier auf der sogenannten Standarte von Ur. Aus dem Mosaik auf der »Friedensseite«. Fund aus dem Königsfriedhof in Ur, frühdynastisch, 2650-2550 v. Chr. London, British Museum
»In einem Königsgrab fand man neben einigen Toten eine möglicherweise auf einer Stange als Standarte zu tragende Bildtafel, die auf vier Seiten Darstellungen in eingelegter Arbeit zeigt. Während auf den Schmalseiten in sechs Bildtrapezen die alten Motive in teilweise eigenartiger Abwandlung erscheinen, enthält die eine Hauptseite in drei Bildstreifen einen Kriegsbericht: die Phalanx der Fußkämpfer und die ungefügen Kriegswagen erringen für den König den Sieg über die Feinde; auf dem obersten Streifen werden ihm die nackten Gefangenen vorgeführt. Auf der anderen Seite werden Beute und Tiere zum Opfer herangebracht; König und Königin sitzen zuoberst vor ihren Großen bei einem feierlichen Umtrunk mit Musikbegleitung... Diese Trinkszenen, zu denen es auch aus jüngerer Zeit Parallelen gibt, können nicht als weltliche Siegesfeiern gedeutet werden, es muß sich vielmehr um Kultfeiern handeln, denn jüngere sumerische Texte deuten mit großer Wahrscheinlichkeit auf Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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das Mahl der ›Heiligen Hochzeit‹ hin, die der König und die Königin oder eine en genannte Hohepriesterin in Vertretung der Götter vollziehen, und zwar besonders für die Muttergöttin und ihren Geliebten Dumuzi. Durch den Vollzug dieses Kultes wurden die Könige der dritten Dynastie von Ur und von Isin zu Gottkönigen, die auch nach ihrem Tode verehrt wurden. Da auch Mesannepadda später vergöttlicht wurde, dürften die Kultbräuche und ihre Ausdeutung in seiner Zeit nicht wesentlich anders gewesen sein. Dann war aber die Bestattung eines Königs nach Vollzug dieses Kultes etwas anderes als die Beisetzung gewöhnlicher Menschen, weil sein Tod den Übergang in eine höhere Daseinsform bedeutete. Sicherlich hofften die Menschen, die mit ihm in den Tod gingen, an dieser Daseinsform teilzuhaben... Etwa zweitausend Gräber aus rund vierhundert Jahren (2700 bis 2300 v. Chr.), die meisten aus der Zeit der Dynastie Mesannepaddas, wurden freigelegt. Viele von ihnen waren – wie üblich – ausgeraubt. Die Toten lagen in Schlafstellung auf der Seite, oft nur in Matten gewickelt.« (W. v. Soden) Zu den Grabbeigaben gehörten Siegelrollen, Waffen, Geräte und Schmuck. ¤ 13 Goldschmuck einer Hofdame der Mesannepadda-Zeit in Fundlage. Aus einem reichgeschmückten Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Frauengrab im Königsfriedhof in Ur, 2650-2550 v. Chr. Bagdad, Iraq Museum Gleichzeitig mit der ersten Dynastie von Ur regierte die erste Dynastie von Lagasch, über die wir etwas besser unterrichtet sind. Neben einigen Königsnamen kennen wir Zeugnisse eines blühenden Wirtschaftslebens. Von sozialen Spannungen berichtet der Usurpator Urukagina, der als erfolgreicher Reformer dem Eroberer Lugalzaggesi (2435-2410 v. Chr.) zum Opfer fiel. Nun wurde der größte Teil Babyloniens von Uruk aus verwaltet – bis die semitischen Herrscher eine neue Zeit für Vorderasien heraufführten: das Großreich von Akkade. Sein Begründer, König Scharrukin (Sargon, 2414-2358 v. Chr.), eroberte ganz Mesopotamien, Teile Syriens, Kleinasiens und des Iran. »Er hielt es für zweckmäßig, die Hauptstadt in den bis dahin unbedeutenden Ort Akkade am Tigris zu verlegen, um sich dort inmitten seines Heeres ohne Rücksicht auf die alten Überlieferungen von Kisch ganz seinen großen Plänen widmen zu können... Das durch seine Eroberungen geschaffene Großreich formte er zu einem zentralistisch geführten BeamtenStaat.« Seine Nachfolger – zunächst seine Söhne Rimusch und Manischtuschu – mußten sich erst einmal gegen Aufstände in allen Teilen des Reiches durchsetzen, ehe es Naramsuen, dem Sohn des Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Manischtuschu, gelang, die verlorenen Gebiete zurückzugewinnen und neue zu erobern. »Seine Erfolge ließen ihn als ersten den später immer wieder gebrauchten Titel ›König der vier Weltränder (oder Weltufer)‹ annehmen. Aber er ging noch weiter, er ließ sich sogar als ›Gott von Akkade‹ verehren... Der stürmische Angriffsgeist ließ den Akkadern damals unmöglich Erscheinendes gelingen, weil geniale Führer ihn zu disziplinieren wußten und gleichzeitig große Meisterschaft in der politischen Improvisation zeigten. Trotz des Vorbildes, das die staatliche Ordnung der sumerischen Stadtstaaten gab, gelang den Führern der Übergang zu dauerhafter Gestaltung nicht; ihr Reich blieb Episode.« (W. v. Soden) ¤ 14 Krieger des Königs Scharrukin mit gefesselten Gefangenen. Fragment einer von den Elamitern des zwölften Jahrhunderts erbeuteten Dioritstele des akkadischen Herrschers. Fund aus Susa, 2414-2358 v. Chr. Paris, Louvre ¤ 15 Verzeichnis von Grundstückskäufen des Scharrukin-Sohnes Manischtuschu mit Angaben über den Verlauf der Grenzen. Dioritobelisk aus Susa, 23492334 v. Chr. Paris, Louvre ¤ 16 Triumph eines akkadischen Herrschers (des Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Königs Naramsuen?) über die in den Hochgebirgsgebieten des Zagros vernichteten Feinde. Felsrelief in einer Schlucht bei Darband-i-Gaur im iranischen Kurdistan, um 2300 v. Chr. ¤ 17 Kopf einer Streitkeule, einer Hiebwaffe der kriegerischen Bergbewohner Westirans. Bronzearbeit aus Luristan, letztes Drittel 3. Jahrtausend v. Chr. Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Museum für Vor- und Frühgeschichte ¤ 18 Die Schutzgottheit für einen unter Gudea in Lagasch errichteten Tempelbau. Bronzeplastik mit beschriftetem Nagel aus Lagasch, 2122-2100 v. Chr. Paris, Louvre
»Gegen Ende der Akkade-Zeit wurde das Bergland erneut unruhig. Aus Churrum (etwa Aserbeidschan) drangen Stammesgruppen in Nordmesopotamien ein und gründeten dort einen Staat, in dem man es um 2200 v. Chr. unternahm, die churritische Sprache in Keilschrift zu schreiben... Südlich von Churrum, etwa im nördlichen Luristan, lag das Gutium genannte Gebiet mit seinen kriegerischen Bewohnern. Seit etwa 2300 v. Chr. unternahmen die Gutäer oft Einfälle in das Osttigrisland, die, wie uns ein akkadischer Privatbrief lehrt, sogar die Feldbestellung verhindern Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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konnten. Im Jahre 2233 v. Chr. setzten sie zum Großangriff auf das geschwächte Babylonien an und machten sich selbst zu den Herren im Lande. Akkade wurde zerstört und erholte sich von dieser Katastrophe nie wieder. Mindestens hundert Jahre lang herrschten die Gutäer über Nordbabylonien. Die Königsliste nennt für einundneunzig Jahre einundzwanzig ›Könige‹, von denen einer fünfzehn Jahre, die anderen aber höchstens sieben Jahre regierten. Man hat daraus mit Recht geschlossen, daß die Gutäer kein erbliches Königtum kannten, sondern sich Fürsten auf drei Jahre wählten, die unter Umständen wiedergewählt werden konnten; die Rechte dieser Fürsten dürften beschränkt gewesen sein... Diese Jahrzehnte galten später als eine schwere Unglückszeit, in der die Barbarei geherrscht habe. Das Akkadische verlor für eine lange Zeit die beherrschende Stellung; der Zusammenbruch der hohen Kultur des Reiches von Akkade wird auch durch die Bodenfunde bestätigt. Die Sumerer müssen bei der Katastrophe viel glimpflicher davongekommen sein; vermutlich haben einige ihrer Fürsten sogar beim Sturz der Dynastie von Akkade mitgewirkt.« Der bedeutendste Gutäerfürst, Gudea, regierte um 2122 bis 2100 v. Chr. Er mußte wohl die Oberhoheit Umammus sowie des Nachfolgers in Ur, Schulgis, anerkennen und konnte nur im Osten Babyloniens unabhängig herrschen. Gudeas umfangreiche Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Bautätigkeit, etwa in Lagasch, wo er dem Gott Ningirsu einen großen Tempel weihte, verrät, daß es eine im wesentlichen friedliche Zeit gewesen sein muß. »Gudea zeichnet in der großen Tempelbauhymne und in den Inschriften das Idealbild des sumerischen Fürsten, wie es seine Zeit sah: er sollte kein großer Eroberer sein, so gewiß der Schutz vor den Feinden seine Aufgabe war, sondern ›der gute Hirte‹ seiner Untertanen, die von seiner Hingabe an den Dienst der Götter Segen für sich erhofften. Die Wirklichkeit war ganz gewiß nicht so schön, wie sie uns hier geschildert wird; aber wir gehen doch kaum fehl, wenn wir in Gudea eine Persönlichkeit sehen, die diesem Ideal in besonderer und vielleicht einmaliger Weise nacheiferte. Unter den leider nur wenigen Fürsten in Babylonien, über die wir etwas genauer unterrichtet sind, ist er menschlich der anziehendste.« (W. v. Soden) ¤ 19 Gudea, Stadtfürst von Lagasch, beim Gebet. Dioritskulptur aus dem Ningirsu-Tempel in Lagasch, 2122-2100 v. Chr. Paris, Louvre
»Utuchengal von Uruk, der Befreier Babyloniens von den Gutäern, hat sich seiner Herrschaft wahrscheinlich nur sehr kurz erfreuen dürfen. Schon 2123 v. Chr. setzte sich Urnammu von Ur (2123-2105 v. Chr.) an seine Stelle und begründete die letzte sumerisehe Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Dynastie, die dritte Dynastie von Ur (2123 2015 v. Chr.). Utuchengal und den vermutlich mit ihm verbündeten Stadtfürsten Nammachani von Lagasch hat Urnammu wohl gleichzeitig besiegt; der von ihm in Lagasch eingesetzte Urabba mußte aber sehr bald Gudea weichen. Wir besitzen Stücke der sumerischen Proklamation, die Urnammu sicherlich bald nach seinem entscheidenden Sieg erließ. Sie berichtet von Opfern für die Götter, sozialen und wirtschaftlichen Reformen und gibt am Ende etwa zwanzig Gesetze, die wie die meisten späteren Gesetze den Tatbestand in einem Bedingungssatz formulieren: ›Wenn ein Mann einem anderen mit einer Waffe einen Knochen zertrümmert, zahlt er eine Mine Silber.‹ Es ist anzunehmen, daß diese Gesetze entweder Regelungen enthalten, die von den bisherigen abweichen, oder eine Rechtsvereinheitlichung im ganzen Land vorbereiten sollten. Geldstrafen werden, wie fast immer im alten Orient, nach einem festen Satz ohne Rücksicht auf das Zahlungsvermögen des Schuldigen festgesetzt. Leider ist die Mehrzahl dieser Gesetze auf der einzigen erhaltenen Tafel zerstört. Die Bauinschriften Urnammus sind meist ganz kurz, zeigen aber, daß er sich um die Ausbesserung oder Wiedererrichtung der Tempel Sumers, die während der Fremdherrschaft schwer gelitten hatten, bemühte. Nippur, Uruk und Eridu erfreuten sich seiner besonderen Fürsorge... Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Auch einen neuen Kanal von Ur nach Eridu hat er zur Förderung der Handelsschiffahrt nach Arabien angelegt. Von seinen Kriegen hören wir nur beiläufig, so etwa von Verfolgungskämpfen gegen die Gutäer. Wie sein Zeitgenosse Gudea hat er über seine Leistungen für die Götter und Menschen in der Form hymnischer Selbstberichte erzählt, die uns freilich nur in jüngeren Überarbeitungen erhalten sind, so daß wir nicht genau wissen, was an ihnen authentisch ist.« (W. v. Soden) ¤ 20 Reste von »Codex« des Urnammu mit den Gesetzen zur sozialen und wirtschaftlichen Reform in seinem Land. Vorderseite und Rand einer Tontafel aus Nipur, um 2120 v. Chr. Istanbul, Altorientalisches Museum ¤ 21 Symbol für die Bautätigkeit Urnammus: ein Korbträger als Weihgabe aus der Fundamentkapsel eines Tempels in Uruk (?). Bronzeplastik, um 2110 v. Chr. London, British Museum
»Das so große sumerische Pantheon ist aus örtlichen Götterstaaten zusammengewachsen und eben dadurch für die Aufnahme weiterer Göttergruppen grundsätzlich offen. Die örtlichen Götterstaaten sind nach dem Muster des irdischen Stadtstaates organisiert mit dem Stadtgott und dessen Gattin an der Spitze: Minister, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Funktionäre und Handwerker kommen in größerer oder kleinerer Zahl hinzu. Die kleineren Götter waren für die Menschen sehr wichtig, denn die Macht der Hauptgottheiten war nach sumerischer Auffassung begrenzt, einmal weil man sich auf verhältnismäßig engem Raum viele Götter als wirksam dachte und zum anderen weil diejenigen Götter, die im Kosmos wichtige Funktionen innehatten, für die kleinen Sorgen der Menschen nicht immer frei waren... An der Spitze der kosmischen Gottheiten stand der Himmelsgott An von Uruk, der nur selten in irdische Dinge eingriff. Um so mehr tat dies sein Sohn Enlil von Nippur, der Gott des Luftraumes, der die Könige einund absetzte, obwohl seine eigene Stadt nie Hauptstadt war. Die Erde galt als weiblich und wurde durch die Muttergöttin vertreten, die fast überall unter einem anderen Namen verehrt wurde, etwa als Baba in Lagasch, Ninchursang in Kisch, Mama in Kesch. Die die Erde befruchtende Kraft des Grundwasserozeans vertrat der weise Enki von Eridu als vierter Gott des Kosmos. Kultorte im sumerischen Süden wie im akkadischen Norden hatten die großen Gestirngottheiten, unter denen der Mondgott Nanna von Ur (akkadisch Suen mit einem uralten Tempel in Tutub bei Eschnunna) wegen seiner Weisheit den Vorrang hatte. Der Sonnengott Utu von Larsam trat demgegenüber anders als Schamasch von Sippar etwas zurück, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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während die Venusgöttin Inanna von Uruk ebenso wie die Ischtar der Semiten, die zahlreiche Tempel hatte, zugleich Göttin der Liebe mit dirnenhaften Zügen und Muttergöttin war.« (W. v. Soden) In Uruk wurden Inanna und ihr Vater, der Himmelsgott An, verehrt. In dem ihr geweihten Bezirk errichtete Urnammu ein gewaltiges Massiv aus Lehmziegeln. Wie in Ur, wo er der Tempelhochterrasse des Mondgottes die Gestalt gab, lassen die heute noch anstehenden Reste auch Spuren späterer Erneuerungen mit Veränderungen erkennen; denn in neubabylonischer Zeit wurden die Heiligtümer teilweise abgetragen und neu aufgebaut. ¤ 22 Die Zikkurrat von Uruk, ein Bauwerk aus der Zeit Urnammus. Blick auf die Nordostseite der allein noch erhaltenen Tempelhochterrasse ¤ 23 Reste des Inanna-Tempels in Nippur. Blick aus Südosten über Nebenräume und den Vorhof auf den höher gelegenen Eingang zum Heiligtum aus der Zeit Schulgis, 2105-2057 v. Chr.
»Aus den Jahresdatenformeln Schulgis, des Sohnes und Nachfolgers von Urnammu, ergibt sich, daß Schulgi (2105-2057 v. Chr.) in seinen ersten etwa zwanzig Regierungsjahren anscheinend nicht einmal Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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ganz Babylonien beherrschte; in Lagasch dürfte noch Gudeas Sohn Urningirsu recht selbständig gewesen sein. Dann aber wurde es anders: widerspenstige Stadtfürsten wurden abgesetzt und durch Familienangehörige oder andere ihm ergebene Männer ersetzt. Das Osttigrisland, Assyrien und Teile von Elam wurden angegliedert. Nach Syrien scheint Schulgi nicht gekommen zu sein; in der Wiederaufnahme des Titels ›König der vier Weltufer‹ lag aber wohl der Anspruch, auch dort als Oberherr anerkannt zu werden... Vermutlich seit dem zweiten Viertel seiner Regierungszeit nannte Schulgi sich selbst Gott. Damit ahmte er nicht Naramsuen von Akkade nach, sondern knüpfte wohl an alte Gebräuche in Ur selbst an, die uns durch den spät-frühdynastischcn Königsfriedhof dort bezeugt sind. Die Hymnen an Schulgi und an spätere Könige und die kultische Liebeslyrik zeigen, daß die Voraussetzung für die Vergöttlichung der Nachvollzug der Heiligen Hochzeit der Muttergöttin Inanna mit Dumuzi (oder auch einer anderen Götterhochzeit) durch den König und eine en genannte Hohe Priesterin war... Ein überaus merkwürdiges Zeugnis für diesen Königskult ist ein am ehesten als Totentempel zu bezeichnendes Bauwerk in Ur, das an der Ostecke des heiligen Bezirkes ganz nahe an den alten Königsgräbern gefunden wurde. Zuerst wurden zwei Grabkammern angelegt, die über breite Treppen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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erreichbar waren und wahrscheinlich für Urnammu und seine Gattin oder en-Priesterin bestimmt waren; die zweite Kammer soll mehrere Leichen enthalten haben. Später wurde die Grabanlage zugebaut und darüber ein Gebäude von achtunddreißig mal sechsundzwanzig Meter errichtet, das teils einem Tempel, teils einem großen Wohnhaus ähnelte. Von ihm aus wurden Löcher in die Grüfte geschlagen, vermutlich um die Toten aus ihnen zu entfernen und in den Tempel überzuführen. Der Tempel scheint u.a. mit Goldblech geschmückt gewesen zu sein. Der Hauptbau, der durch Ziegel Schulgis zeitlich bestimmt ist, wurde später durch zwei kleinere Anbauten erweitert, die seine beiden Nachfolger angelegt haben.« (W. v. Soden) ¤ 24 Ruinen einer Grabkammer für Urnammu (?) und die Reste des darüber gebauten Totentempels für Schulgi und seine Nachfolger (Amarsuena und Ibbisuen) am Rande des Königsfriedhofes in Ur, 21232015 v. Chr.
Schon vom akkadischen Großreich unter Scharrukin wissen wir, daß Schiffe aus Ostarabien und dem Indusgebiet euphrataufwärts fuhren, daß es also Handels- und Kulturbeziehungen zwischen Mesopotamien und Indien gab. Daß die Wege des westöstlichen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Austausches noch unter dem letzten König der Dynastie von Ur, unter Ibbisuen (2039-2015 v. Chr.), offen waren, bezeugen Elfenbeinimporte aus Indien. An der Nordküste der Insel Tilmun (Bahrein) zum Beispiel lag eine bedeutende Handelsstadt, von der große Teile freigelegt worden sind. In Kleinasien, das nur kurze Zeit unter Scharrukin und Naramsuen dem Großreich von Akkade angegliedert war, sonst aber in zahlreiche Kleinstaaten zerfiel, bildete sich im dritten Jahrtausend v. Chr. eine hochstehende eigenständige Metallbearbeitungskunst aus. Träger dieser Kultur dürften die Protohattier gewesen sein. In das von ihnen besiedelte Zentralkleinasien drangen von Osten die indogermanischen Hethiter und Luvier ein. Die ursprünglich schriftlosen Hethiter übernahmen die babylonische Keilschrift und machten später Haltusas zu ihrer Hauptstadt. Das bis etwa in diese Zeit (die Wende zum zweiten vorchristlichen Jahrtausend) zum Reich der dritten Dynastie von Ur gehörende Assur wird unter König Iluschumma (1915 bis 1800 v. Chr.) zu einer großen Handelsmacht Vorderasiens: in Anatolien entstanden viele Handelskolonien; ihr Zentrum war Kanesch. ¤ 25 Reste eines Terrassentempels auf Tilmun im Persischen Golf. Blick nach Nordwesten auf den von zwei Mauern umschlossenen Vorraum und auf die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Eingangstreppe zum Heiligtum auf dem wichtigen Umschlagplatz des alten Ost- West-Handels, zweite Hälfte 3. Jahrtausend v. Chr. ¤ 26 Ein Kleidungsschmuck der Protohattier. Goldarbeit aus Aladscha Hüyük in Anatolien, 2300-2100 v. Chr. Ankara, Archäologisches Museum ¤ 27 Ein Musikinstrument der Protohattier. Bronzearbeit aus Horoztepe in Anatolien, 2100-2000 v. Chr. Ankara, Archäologisches Museum ¤ 28 Gerichtsprotokoll über eine Hauptabrechnung zweier assyrischer Handelshäuser in Anatolien. Altassyrische Tontafel aus Kanesch, 19. Jahrhundert v. Chr. Heidelberg, Universität, Sammlung des Orientalischen Seminars ¤ 29 Göttliches Ehepaar mit zwei Kindern. Anatolische Steatitgußform aus der altassyrischen Handelsmetropole Kanesch, 18. Jahrhundert v. Chr. Ankara, Archäologisches Museum
Etwa zur Zeit der altassyrischen Handelskolonien erlebte ganz Vorderasien eine neue semitische Unterwanderung. Sie hat die Handelswege in Mesopotamien unterbrochen. Babylonien zerfiel nun in einzelne Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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von Semiten geführte Staaten. »Der bedeutendste unter ihnen war zunächst der von Isin: Ischbi'erra konnte bereits 2005 v. Chr. die Elamiter wieder aus Ur vertreiben und damit die Nachfolge der Könige von Ur auch offiziell antreten. Larsam dürfte noch längere Zeit von Isin abhängig gewesen sein, während Eschnunna sicher ganz unabhängig war. Bei der Uneinigkeit Babyloniens hätte Elam jetzt leicht ein gefährlicher Gegner werden können, wenn es selbst einig gewesen wäre. Elam war damals aber nur ein Staatenbund.« (W. v. Soden) »Die meist unter dem Namen Isin-Larsam-Zeit zusammengefaßten reichlich zweihundert Jahre sind eine Übergangszeit zwischen zwei Höhepunkten der Geschichte Babyloniens. Es ist das große Verdienst der meist kanaanäischen Dynastien, in deren Händen damals die Führung der babylonischen Staaten lag, daß sie auf eine stürmische Semitisierung, die kulturell einen Scherbenhaufen hinterlassen hätte, verzichtet haben. Indem sie die kulturelle Führung des politisch entmachteten Sumerertums anerkannten und dessen großes geistiges Erbe liebevoll pflegten, ließen sie den Semiten, den seit langem ansässigen wie den zugewanderten Kanaanitern, Zeit, in die alte Kultur hineinzuwachsen, ohne sich ihr bedingungslos zu verschreiben. Sie bereiteten damit den Boden, auf dem sich die zweisprachige babylonische Kultur, der dann Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Hammurabi zum Durchbruch verhalf, entfalten konnte.« (W. v. Soden) ¤ 30 Susa, die Hauptstadt von Elam. Blick auf die an der Kercha gelegene Metropole mit ihren Ruinen aus verschiedenen Zeiten und Kulturen ¤ 31 Sumerischer Gottesbrief eines Bürgers der Stadt Ur an den vergöttlichten König mit der Bitte um Schutz für das Haus seines Vaters. Vorder- und Rückseite einer Tontafel aus Uruk, um 1950 v. Chr. Bagdad, Iraq Museum ¤ 32 Ein Korbträger des Kudurmabuk, eines in Elams Diensten gegen Larsam stehenden Fürsten aus dem Osttigrisland. Bronzeplastik, Ende 19. Jahrhundert v. Chr. Berlin, Staatliche Museen, Vorderasiatisches Museum ¤ 33 Brief des Königs Anam von Uruk an Sinmuballit von Babylon mit der Bitte um Schlichtung des Streites zwischen Babylon und Uruk und um Einwilligung in die Waffenhilfe durch Dritte beim Kampf Uruks gegen Larsam. Vorderseite einer Tontafel aus Uruk, 1821-1817 v. Chr. Bagdad, Iraq Museum ¤ 34 Straße zwischen den Ruinen eines Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Wohnviertels der Stadt Ur, Isin-Larsam- Zeit, 19. Jahrhundert v. Chr. ¤ 35 Der königliche Palast in Mari. Blick auf die Ruinen der am mittleren Euphrat gelegenen Residenz, 19./18. Jahrhundert v. Chr.
»Um mehrere große Höfe waren über dreihundert größere und kleinere Räume gelagert, von denen etwa zweihundertsechzig ausgegraben wurden. Einige der Mauerstümpfe, die auch hier allein erhalten geblieben sind, stehen immerhin fünf Meter hoch. Neben den Staats- und Privaträumen des Königs enthielt der Palast einen Tempel. Verwaltungsräume, Wohnungen für die Diener und die Palastwache sowie viele Magazine. Dazu kam noch eine Palastschule für den Schreibernachwuchs.« (W. v. Soden) »Das alte semitische Kulturzentrum Mari am Euphrat, aus dem Ischbi'erra von Isin hervorgegangen war, verschwindet nach 2000 v. Chr. für etwa hundertfünfzig Jahre aus unserem Blickfeld, da noch keine Urkunden aus dieser Zeit bekanntgeworden sind.« (W. v. Soden) Um 1830 v. Chr. wurde Mari von Jaggidlim regiert. Auf ihn folgte sein Sohn Jachdunlim, der seinem Reich große Teile Mesopotamiens angliederte und in Mari den Bau des Königspalastes begann. Nach seiner Ermordung fiel der Staat an Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Schamschiadad, dem es gelang, sich auch zum Herrn über Assyrien zu machen, nachdem dieses Land unter Naramsin von Eschnunna bereits eine kurze Zeit der Fremdherrschaft erduldet hatte. Zum Reich Schamschiadads gehörten auch Teile der Gebirgsländer im Osten und Norden. Seine Söhne, Ischmedagan und Jasmachadad, wurden sehr früh zum gerechten Regieren erzogen und als Vizekönige über das Osttigrisland und Mari eingesetzt. Die Glanzzeit Maris fiel in die Regierungszeit Zimrilims (1782-1759 v. Chr.); er vollendete den Palast. Mit weniger Erfolg herrschte Ischmedagan (1782-1742 v. Chr.) über Assyrien. Bald rangen mehr als zehn Kleinstaaten um die Macht in Vorderasien; es war eine Krisenzeit. Sie wurde erst durch Hammurabi (1793-1750 v. Chr.) beendet. Nach anfänglicher Abhängigkeit von Rimsin begann er von Babylon aus, sein Reich zu vergrößern: Larsam wurde erobert, dann Mari und Eschnunna sowie ein großer Teil von Assyrien. »Bis hierher ist die Geschichte Hammurabis die eines klugen, aber oft bedenkenlosen Politikers, der durch Diplomatie und Gewalt Babylonien wieder einigte, aber realistisch genug war, seiner Eroberungspolitik keine unerreichbaren Ziele zu stecken. Da sein Reich ihn nicht lange überlebte, wären seine Erfolge eine Episode geblieben, wenn sich nicht seine Innenpolitik als geschichtsmächtig erwiesen hätte. Erst sie hat es bewirkt, daß Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Babylon für viele Jahrhunderte der geistige Mittelpunkt Vorderasiens wurde und auch durch Zeiten politischer Ohnmacht hindurch blieb. Was Hammurabi war und wollte, zeigen uns am besten seine berühmte Gesetzesstele und auch seine Briefe sowie die Briefe seiner hohen Beamten... Hier ist dasselbe Verantwortungsbewußtsein eines gereiften Mannes wirksam wie bei Schamschiadad, es ist nur stärker geistig fundiert. Denn Hammurabi war allem Anschein nach ein gebildeter Mann, der vermutlich auch die schwierige Keilschrift lesen konnte.« (W. v. Soden) ¤ 36 König Hammurabi (?) auf einer sumerischen Inschriftentafel eines in seinen Diensten stehenden Beamten. Relief, erste Hälfte 18. Jahrhundert v. Chr. London, British Museum ¤ 37 Der »Codex« des Königs Hammurabi. Aus der Gesetzesinschrift auf der im 12. Jahrhundert v. Chr. nach Susa verschleppten Basaltstele, 1793-1750 v. Chr. Paris, Louvre ¤ 38 Ein semitisches Götterpaar bei der Rechtsprechung. Abrollung eines altbabylonischen Hämatitsiegels, 18. (?) Jahrhundert v. Chr. London, British Museum
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Hammurabi verhalf dem Akkadischen, das unter seiner Regierung zur Verwaltungssprache geworden war, auch in der Literatur zur vollen Entfaltung. Man dichtete große Hymnen und Heldengesänge, und die Mythen u. a. von Gilgamesch und Etana wurden neu und anders gestaltet. Ebenso erfuhr die Religion eine Umdeutung der sumerischen Vorstellungen. »Die Zahl der Götter, denen geopfert wurde, war nicht mehr so groß wie bei den Sumerern, weil viele untergeordnete Gottheiten kaum noch angerufen wurden. Zwar war der sumerische Familienschutzgott-Gedanke immer noch lebendig, wie die vielen Siegelbilder mit der Einführungsszene zeigen. Immer häufiger steht aber der Beter auf den Bildern auch unmittelbar vor der großen Gottheit, weil die Semiten ihren Göttern zutrauten, daß sie die Fürsorge für die Einzelnen mit ihren Funktionen im Kosmos und der Sorge für die Staaten verbinden konnten. Hier bahnt sich ein ganz entscheidender Wandel in der Gottesvorstellung an, der später noch weitergehende Konsequenzen haben sollte. In die so wesentliche Rolle des Fürsprechers wuchsen jetzt vor allem die Göttergemahlinnen hinein, die in der sumerischen Religion meist noch keine große Bedeutung hatten.« Geistesgeschichtlich wichtig ist die altbabylonische Mathematik. »Sie hat sich auf der Basis des sumerischen Sexagesimalsystems aus der Feldmesserei entwickelt und war daher Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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zunächst vorzugsweise Geometrie; man berechnete außerdem Großbauten und Kanäle sowie die dafür erforderlichen Arbeitstage. In den Kanaaniterstaaten beschäftigte dann auch das Heer seine Mathematiker, wenn es Festungen mit Hilfe von Belagerungsdämmen angriff, deren Größe und Bauzeit genau zu errechnen schon deswegen notwendig war, weil für die Feldzüge oft nur einige Monate zur Verfügung standen. Die Schüler wurden in diese Arbeiten an Hand vieler Probeaufgaben eingeführt, denen teilweise auch nicht maßstabgerechte Zeichnungen beigegeben wurden... Man machte vom Lehrsatz des Pythagoras praktisch Gebrauch und konnte mit arithmetischen Reihen umgehen, hat aber ebenso wie in der Theologie und Philologie keine einzige Erkenntnis formuliert... Daher kann die babylonische Mathematik nicht als eine Vorstufe zur griechischen angesehen werden.« (W. v. Soden) ¤ 39 Text und geometrische Zeichnung zum Problem der Berechnung von Länge und Breite eines Rechtecks bei gegebener Diagonale und Fläche. Altbabylonische Tontafel vom Tell Dhiba'i (heute Bagdad), 18. Jahrhundert v. Chr. Bagdad, Iraq Museum
Leider sind wir nur mangelhaft über das Eindringen der Kanaanäer in Syrien und Palästina unterrichtet. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Daß mindestens kleinere Semitengruppen um 2000 v. Chr. dorthin gelangten, wird durch das Auftreten kanaanäischer Namen in Ägypten seit 1980 v. Chr. bewiesen. Um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts v. Chr. ist wohl dann der größte Teil Palästinas kanaanisiert. Zu Mesopotamien hatten schon lange vorher lose Beziehungen bestanden; jedoch lag die Geschichte Palästinas vor 2000 v. Chr. im dunkeln. Wir erhalten wichtige Nachrichten über dieses Land erst wieder durch die Pharaonen des Mittleren Reiches und aus den Briefen von Beamten und Agenten Zimrilims von Mari und seiner Zeitgenossen. »Wenn die Überlieferung von Genesis 14, nach der zur Zeit Abrahams Tid'al zusammen mit anderen Königen an einem Koalitionskrieg gegen palästinische Fürsten teilgenommen habe, einen historischen Kern enthält, wofür heute einiges spricht, müßte Tudhalijas, der erste König des älteren Hethiterreiches (um 1730 v. Chr.), nach Süden gezogen sein.« Von den nachfolgenden Königen in Hattusas sind vor allem zu nennen Labarnas I. (1670-1640 v. Chr.), sein Neffe Hattusilis I. (1640-1615 v. Chr.), dessen Sohn Mursilis I. (bis 1580 v. Chr.) und Telepinus (1580-1500 v. Chr.). Zunächst wurden Gebiete Syriens erobert, dann folgte die Plünderung Babylons (1595 v. Chr.). »Eine Inschrift von Hattusilis I. berichtet von den Feldzügen der ersten sieben Jahre und ist ein Dokument der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Freude am Kampf und an großer Kriegsbeute. Wie bei fast allen hethitischen Inschriften können wir nur einen Teil der erwähnten Länder und Orte wenigstens ungefähr lokalisieren... Telepinus wollte dem nun schon mehrere Generationen lang andauernden Morden durch eine Staatsreform ein Ende setzen und gab daher einen umfangreichen Erlaß heraus, der mit einem ausführlichen Bericht über die Geschichte des Landes seit Labarnas I. beginnt. Nach einem kurzen Rückblick auf seine Feldzüge, die über Anatolien wohl nicht hinausführten, erzählt uns Telepinus, daß er einen Reichstag einberief und durch ihn die Reformen billigen ließ. Die wichtigste war die Festlegung der Erblichkeit des Königtums... Ob der Erlaß unmittelbar Erfolg hatte, wissen wir nicht, da das ältere Hethiterreich nach Telepinus zusammenbrach, ohne daß wir irgendeine Nachricht darüber hätten. Eine Ursache dafür war sicher der Aufstieg des Mitanni-Reichs; ob Angriffe anderer Nachbarn und innere Streitigkeiten noch dazukamen, ist nicht bekannt.« (W. v. Soden) ¤ 40 Reste des Altars in einem Tempel des kanaanäischen Stadtstaates Megiddo am Karmelgebirge in Palästina, 19./18. (?) Jahrhundert v. Chr. ¤ 41 Bericht über Feldzüge des Königs Hattusilis Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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I.-Labarnas II. Vorderseite einer Tontafel aus Hattusas mit der hethitischen Fassung des Berichtes, vor 1615 v. Chr. Ankara, Archäologisches Museum ¤ 42 Bericht über Feldzüge des Königs Hattusilis I.-Labarnas II. Vorderseite einer Tontafel mit der akkadischen Version des Berichts, vor 1615 v. Chr. Ankara, Archäologisches Museum ¤ 43 Bericht des Königs Telepinus über seine Regierungstaten. Rückseite einer Tontafel aus Hattusas, vor 1500 v. Chr. Ankara, Archäologisches Museum ¤ 44 Hethitische Stadtmauer, Randstück eines Tongefäßes aus Hattusas, 15. Jahrhundert v. Chr. Ankara, Archäologisches Museum
Um die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts v. Chr. hatten die aus Nordwestiran eingebrochenen Churriter Staaten in Assyrien und Nordmesopotamien gegründet. »Für etwa 1640 v. Chr. lassen hethitische Berichte auf die Existenz eines auch auf Ostkleinasien übergreifenden Churriterreichs in Mesopotamien schließen, dessen Schicksale dann wieder für über hundert Jahre ganz im dunkeln liegen. Vermutlich in dieser Zeit, sicher aber vor 1500 v. Chr., rissen in den meisten Churriterstaaten aus Iran nachstoßende arische Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Adelsgruppen die Führung an sich. Die dem ältesten Indischen ganz nahestehende Sprache dieser Arier, die sich vielleicht im Aralseegebiet von den späteren Indern gelöst hatten, ist uns nur durch Namen von Fürsten und Adligen sowie durch eine größere Zahl von Lehnund Fremdwörtern in den Sprachen Vorderasiens in den Grundzügen bekannt; zusammenhängende Texte wurden noch nicht aufgefunden. Da diese Fremdwörter überwiegend Termini der Pferdezucht und des Wagenbaus sind, kann kein Zweifel daran bestehen, daß der von Pferden gezogene schnelle Streitwagen mit leichten Speichenrädern von diesen Ariern nach Vorderasien gebracht wurde. Die große Beweglichkeit des Streitwagens, der freilich nur in offenem Gelände wirksam eingesetzt werden konnte, revolutionierte die damalige Kriegstechnik, und die kleinen arischen Kriegergruppen verdankten vor allem ihm ihre überraschenden Erfolge. Die anderen Völker Vorderasiens und die Ägypter des Neuen Reiches mußten sich auf die neue Kampfesweise so schnell wie möglich umstellen, bedurften dazu aber arischer Lehrmeister, die ihnen vor allem ihre in Generationen erworbenen Erfahrungen in der Pferdezucht vermitteln mußten. Dabei bereitete die Akklimatisierung der Pferde in den subtropischen Steppen und Flußtälern größere Schwierigkeiten als in den Gebirgsgebieten.« (W. v. Soden) Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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¤ 45 Zwei Pferde vor einem Streitwagen. Tonplastik aus Emesa in Syrien, 15. (?) Jahrhundert v. Chr. Mainz, Römisch-Germ. Zentralmuseum
»Die erste arische Reichsgründung, von der wir wissen, ist das Reich Mitanni (1530 bis 1350 v. Chr.). das durch einige Generationen mindestens von den Abhängen des Zagrosgebirges in Kurdistan bis ans Mittelmeer reichte. Seine Hauptstadt trug den arischen Namen Wassukkanni: sie lag wohl an einem der Quellflüsse des Chabur. Einen gewissen Ersatz für die fehlenden Archive der Hauptstadt bieten uns die reichen Funde in zwei Provinzstädten, dem nahe der Westgrenze gelegenen nordsyrischen Alalach und dem osttigridischen Nuzi.« (W. v. Soden) Unter König Barattarna, der das Reich um 1500 v. Chr. regierte, gab es einen Vasallen namens Idrimi von Mukisch, von dem ein Sitzbild erhalten geblieben ist. ¤ 46 Idrimi, König von Mukisch. Oberteil einer Steinskulptur aus dem Haupttempel von Alalach in Nordsyrien, um 1470 v. Chr. London, British Museum
»Idrimi stammte aus Halab und mußte von dort vor seinen Brüdern fliehen und sich sieben Jahre bei nomadisierenden Hapiru-Gruppen in Syrien aufhalten. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Er kam dann über See unerwartet in sein Land zurück und nahm es nach einem Ausgleich mit seinem Oberherrn Barattarna in Besitz. Später machte er reiche Beute im hethitischen Grenzgebiet, ohne dort auf Widerstand zu stoßen. Sein so wechselhaftes Schicksal war in vielem typisch für eine Zeit, in der viele Kondottieres churritischer, arischer und semitischer Herkunft in den zwischen den Großmächten strittigen Gebieten herumzogen und zeitweilig größere Fürstentümer beherrschen konnten. Das Nebeneinander von oft aus Eindringlingen bestehenden herrschenden Klans, Alteingesessenen und Flüchtlingsgruppen aus Nachbarländern führte in diesen Gebieten zur Bildung sehr zahlreicher sozialer Klassen und Grüppchen, mit unterschiedlichen Rechtsverhältnissen.« (W. v. Soden) ¤ 47 Brief des Kanaaniters Abdichepa, eines von Amenophis IV. Echnaton in Urusalim bestätigen Vasallenfürsten, an den König von Ägypten mit der Bitte um Entsendung von Truppen für den Kampf gegen die Hapiru. Rückseite einer Tontafel aus El Amarna, um 1365 v. Chr. Berlin, Staatliche Museen, Vorderasiatisches Museum
Eine der wichtigsten Quellen für die politische Geschichte dieser Zeit ist die unter dem Namen »ElAmarna-Briefe« bekannte Keilschriftkorrespondenz Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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aus den Jahren 1400-1350 v. Chr., in denen Ägypten sein ertragreiches vorderasiatisches Gebiet allmählich verlor. ¤ 48 Pharao Amenophis IV. Echnaton. Fragment einer Steinskulptur von einem Pfeiler aus dem AtonTempel in Karnak, 18. Dynastie, um 1370 v. Chr. Kairo, Ägyptisches Museum
Die Briefe, die Amenophis III. und sein Nachfolger Echnaton aus Syrien und Palästina erhielten, wurden meist mit Gleichgültigkeit gegenüber den Ereignissen in diesen durch Kleinkriege heimgesuchten Ländern aufgenommen. »Der schieibfreudigste unter den Fürsten Syriens und Palästinas war Ribaddi von Gubia, von dem über sechzig Briefe an den Pharao oder seine Minister bekannt sind. Da er wegen des gewinnbringenden Ägyptenhandels treu zu seinem Oberherrn hielt, war er dauernd Schikanen der Aufständischen ausgesetzt und hatte viel Anlaß, sich über die ›Hunde‹ zu beschweren und ägyptische Truppen zu seinem Schutz anzufordern, offenbar nur selten mit Erfolg. Ebenso wie Ribaddi wirft sich in den Briefen aber auch sein Hauptgegner Abdaschirta von Amurru ›siebenmal und siebenmal‹ vor dem Pharao nieder, obwohl er die Ergebenheit offenbar nur heuchelt. Denn er versteht es, sein ursprünglich sehr kleines Gebiet Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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auf Kosten seiner Nachbarn immer mehr zu vergrößern, und vermißt sich sogar, allerdings vergeblich, Gubla zu belagern. Er befindet sich dabei im Bunde mit den gefürchteten Hapiru, Banden heimatloser Söldner, die man in den Städten doch als Bürger dritter Ordnung behandelte und die daher kein Interesse an stabilen Verhältnissen hatten; die früher übliche Identifizierung mit den Hebräern des Alten Testaments läßt sich nicht mehr aufrechterhalten. Abdaschirta fällt durch Mord, aber sein Sohn Aziru vergrößert das Gebiet noch und baut es zu dem Staat Amurru aus, der nach Bedarf einmal zu Ägypten und einmal zu den Hethitern hält. Waren diese beiden Kanaaniter, so waren der in ähnlicher Weise agierende Etakkama von Kadesch und sein Bruder Birjawaza arische Adlige. Im südlichen Kanaan (damals Kinachchi oder Kinachna, ›Purpurland‹) spielte Labaja eine verwandte Rolle. Die Mehrzahl der aus späterer Zeit bekannten Küstenstädte kennen wir aus den Briefen, darunter Ugarit, Ai'wad, Beruta, Sidon, Tyros (Ssurru), Joppe, Askalon und Gaza, aber erstmalig auch Jerusalem (Urusalim), dessen Fürst Abdichepa ebenfalls eine umstrittene Persönlichkeit war. Von Israeliten in Palästina wissen diese Briefe aber noch nichts. Die kanaanitische Muttersprache der meisten Fürsten oder ihrer Schreiber kommt in zahlreichen kanaanitischen Glossen zum Ausdruck, die auch geläufigen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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akkadischen Wörtern beigefügt werden; ägyptische und churritische Wörter begegnen aber ebenfalls öfter. Das Ende der Amarnazeit wird herbeigeführt einmal durch den gänzlichen Zusammenbruch der ägyptischen Herrschaft in Syrien und großen Teilen Palästinas gegen Ende der Regierung Echnatons, zum anderen durch die weitgehende Ausschaltung des Mitanni-Reichs durch die Hethiter und die Assyrer und die ersten Vorstöße neuer Semitengruppen aus Arabien, die später Aramäer genannt wurden.« (W. v. Soden) ¤ 49 Plan der Stadt Nippur mit den Grundrissen kassitischer Bauten. Fragment einer Keilschrifttafel, um 1300 v. Chr. Jena, Universität, Hilprecht-Sammlung Vorderasiatischer Altertümer ¤ 50 Vertrag zwischen den Staaten Ugarit und Amurru aus der Zeit um 1350 v. Chr. Vorderseite einer Tontafel aus dem Südarchiv des großen Palastes in Ugarit ¤ 51 Brief eines Heerführers an seinen Herrn, den König Ammistamru II. von Ugarit, über die Ereignisse im Grenzland von Ugarit auf dem Boden des Staates Amurru und dringende Mahnung zur Bereitstellung neuer Streitkräfte für den Kampf gegen einen mit Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Ägypten verbündeten Feind. Vorderseite einer Tontafel aus Ugarit, um 1250 v. Chr. In den drei Jahrhunderten nach 1500 v. Chr., in denen Babylonien unter der Dynastie der Kassiten stand, die eine feudale Gesellschaftsordnung durchsetzten, im wesentlichen unter Wahrung der alten babylonischen Tradition, gab es in Syrien und Palästina zahlreiche Kleinstaaten, die zwischen Mitanni, Ägypten und dem Reich der Hethiter lavierten und nur vorübergehend selbständig waren. Zu diesen Staaten gehörte Ugarit an der syrischen Küste. In Ugarit lebte damals »eine ähnliche semitisch-churritische Mischbevölkerung wie in den anderen syrischen Städten. Seinen großen Wohlstand verdankte es vor allem dem Handel mit Ägypten, Cypern und Kreta und der Herstellung von Bronzegegenständen und Purpurstoffen. Neben den Beamten der königlichen Verwaltung spielten daher die Kaufleute und Handwerker eine gewichtige Rolle.« (W. v. Soden) Sie bauten ihre Häuser auf dem Sandstrand dicht an einer flachen Bucht, wo sich ein schützender Ankerplatz für ihre Schiffe anbot. Die Ausgrabungen durch Claude Schaeffer beweisen, daß es in der Hafenstadt auch eine Kolonie mykenischer Kaufleute gab. Sie gehörte zu der gesellschaftlich sehr geschätzten Händlerklasse, die zu den eigentlichen Initiatoren der phönikischen Expansion wurde, durch Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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die sich die Mischkultur über das Mittelmeer ausbreitete. Etwas landeinwärts liegen die Ruinen der eigentlichen Stadt Ugarit. In ihr finden wir den Königspalast mit seinen vielen Nebengebäuden. Das ganze Viertel auf dem großen Hügel war mit starken Wällen aus zyklopischem Mauerwerk umgeben; vieles erinnert an die militärischen Anlagen in Hattusas oder Tiryns. Ugarit war nicht nur ein wichtiges Handelszentrum, sondern auch eine bedeutende Kulturstätte. Die mythischen Dichtungen, die sich auf Tontafeln erhalten haben, sind sprachlich und religionsgeschichtlich für das Verständnis des Alten Testaments hochbedeutsam. Hinzu kommen die historischen Berichte, aus denen wir vieles über die politischen Ereignisse jener Zeit erfahren. Es war zum Beispiel eine Folge des Vertrags zwischen Niqmaddu II. von Ugarit (1370 bis 1340 v. Chr.) und Aziru von Amurru, daß beide Staaten als ein Land betrachtet wurden und daß man gemeinsam gegen äußere Feinde kämpfte. Wir befinden uns in dem Jahrhundert, in dem Ugarit ein hethitischer Vasallenstaat wurde. ¤ 52 Ruinen der befestigten Stadt Ugarit. Blick auf die Verteidigungsanlagen um das auf dem großen Hügel liegende Palastviertel, 14./13. Jahrhundert v. Chr.
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¤ 53 Ruinen des Hafenviertels von Ugarit unterhalb des umwallten Palasthügels. Blick auf die Bucht an der syrischen Küste ¤ 54 Großkönig Muwatallis von Hatti auf seinem Weg zu einem Heiligtum. Felsrelief im »Brückenkopf«-Gebiet Atun am Seyhan in Kilikien, 13151292 v. Chr. ¤ 55 Staatssiegel der hethitischen Großkönige. Tonbulle des Suppiluliumas aus Hattusas, 1385-1345 v. Chr. Ankara, Archäologisches Museum ¤ 56 Staatssiegel der hethitischen Großkönige. Tonbulle des Muwatallis aus Hattusas, 1315-1293 v. Chr. Ankara, Archäologisches Museum ¤ 57 Staatssiegel der hethitischen Großkönige. Tonbulle des Urhiteschup aus Hattusas, 1293-1286 v. Chr. Ankara, Archäologisches Museum ¤ 58 Staatssiegel der hethitischen Großkönige. Tonbulle der Puduchepa, Gemahlin des Hattusilis III., aus Atun (?), 1275-1250 v. Chr. Adana, Museum
Um 1400 v. Chr. kämpften die Hethiter um ihre Gleichberechtigung. Der Begründer ihres Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Großreiches, Suppiluliumas, unterwarf große Teile Kleinasiens und zerschlug das Mitanni-Reich, dessen Reste in Syrien und Mesopotamien er zu Vasallenstaaten machte. Mursilis II. (1343-1315 v. Chr.) war in Kleinkriege verwickelt, die wir aus seinen Annalen recht gut kennen. »Sehr viel weniger wissen wir über die Regierungszeit des Muwatallis, der mehrmals nach Syrien ziehen mußte, weil Ägypten seit Sethos I. dort wieder im Angriff war. Die Auseinandersetzung verschärfte sich, als Ramses II. sich zur Wiedereroberung von Nordsyrien anschickte, aber in seinem fünften Jahr von Muwatallis bei Kadesch empfindlich geschlagen wurde, wenn es auch nicht gerade zu einer Katastrophe kam. Ramses schrieb sich natürlich den Sieg zu, mußte sich aber nach Galiläa zurückziehen. Unter Muwatallis' Sohn Urhiteschup (1293-1286 v. Chr.) lähmten innere Unruhen das Reich; denn sein Onkel Hattusilis III. (um 1286 bis 1260 v. Chr.) agitierte systematisch gegen ihn... Den Streit mit Ägypten beendete Hattusilis 1283 v. Chr durch den Abschluß eines Friedensvertrages mit Ramses II., dessen akkadischer und ägyptischer Text teilweise erhalten ist. Beide Teile einigten sich auf die Anerkennung des Status quo in Syrien und beurkundeten einander Bruderschaft. Später schickte Hattusilis dem Ramses eine Prinzessin als Gemahlin... Der Vertrag sah neben dem Verzicht auf Angriffe ›für immer‹ sogar die Pflicht zu Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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gegenseitiger Hilfeleistung bei Angriffen Dritter oder bei Aufständen vor. Politische Flüchtlinge sollten ausgeliefert werden.« (W. v. Soden) Tudhalijas IV. (1260-1230 v. Chr.) erhielt das gute Verhältnis zu Ägypten. Um 1200 v. Chr. wurde das Großreich Hatti durch die Seevölker vernichtet. ¤ 59 Pharao Ramses II. beim Angriff auf eine nordsyrische Stadt. Relief auf der Nordwand seines Felsentempels von Beit el-Wâli südlich von Assuan, 19. Dynastie, Mitte 13. Jahrhundert v. Chr. ¤ 60 Der hethitisch-ägyptische Vertrag vom Jahr 1283 v. Chr. Reste einer Tontafel mit der akkadischen Fassung des Abkommens. Berlin, Staatliche Museen, Vorderasiatisches Museum ¤ 61 Ein hethitischer Gott als Krieger mit Spitzhelm, Axt und Schwert. Relief von der Innenseite des Königstores im Osten der Stadtmauer von Hattusas, 14. Jahrhundert v. Chr. Ankara, Archäologisches Museum
»In seiner politischen Struktur war das jüngere Hethiterreich stärker als das ältere durch die orientalischen Nachbarländer beeinflußt. Der König regierte jetzt ziemlich absolut, wobei die Erbfolgeordnung des Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Telepinus anscheinend noch als verbindlich galt. In seiner Titulatur kamen zu den alten Titeln Tabarna und Großkönig die Titel Held, Liebling des Gottes X und vor allem ›Meine Sonne‹. Dieser Titel war ebenso wie die zum König gehörige geflügelte Sonnenscheibe aus Ägypten entlehnt, kennzeichnete aber bei den Hethitern den lebenden König nicht als Gott. Erst bei seinem Tode ›wurde er Gott‹; vor seiner Statue wurde dann geopfert... Die kultischen Verpflichtungen der Könige hatten solche Ausmaße, daß neben ihnen eigentlich nur wenig Zeit für die Regierung blieb. Bei längeren Kriegszügen mußten sie sich aber davon frei machen. Die Aufgabe, den Göttern Tempel zu errichten, hatte der König ebenso wie sonst in Vorderasien. Merkwürdigerweise berichtet er aber fast nie über seine Bautätigkeit, wie ja der Stil und der Aufbau der hethitischen Königsinschriften auch sonst sehr stark von dem des Zweistromlandes abweichen, nicht zuletzt dadurch, daß Mißerfolge öfter zugegeben und als göttliche Strafgerichte gedeutet werden... Fünf hethitische Tempel konnten in Hattusas im Grundriß freigelegt werden. Sie sind von den Tempeln des übrigen Vorderasiens in ihrer Anlage sehr verschieden... Die Festungsanlagen sind denen des älteren Reiches ähnlich, doch noch monumentaler. An den Torgewänden fanden sich Plastiken, darunter der berühmte ›Krieger‹ vom Königstor, wahrscheinlich ein Gott, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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bei aller Schlichtheit der Gestaltung ein Meisterwerk... Der oberste Feldherr war der König selbst, der, solange er gesund war, auch selbst die Mehrzahl der militärischen Unternehmungen anführte. Soweit das Gelände es zuließ, wurde dabei die von den Mitanni übernommene Streitwagenwaffe ausgiebig eingesetzt... Die Kriegführung war nicht so brutal wie die der Assyrer, das Niederbrennen von Ortschaften und Verschleppungen großer Bevölkerungsteile waren aber häufig. Das Ziel der Kriege war den kleineren Staaten gegenüber selten deren völlige Einverleibung. Meistens ging es darum, sie zu Vasallenstaaten zu machen, wobei Verträge die beiderseitigen Rechte und Pflichten genau festlegten.« (W. v. Soden) ¤ 62 Ausfalltunnel unter der Festungsmauer von Hattusas. Blick vom Eingang im Süden der Stadt durch das Kragsteingewölbe der siebzig Meter langen Poterne, 14./13. Jahrhundert v. Chr.
Als Suppiluliumas von Hatti Tuschratta angriff und bald das Reich Mitanni schwächte, hatte Assurs Stunde geschlagen. Sein König Assuruballit I. (13661330 v. Chr.) machte sich unabhängig. Er begünstigte Kurigalzu II. (1343-1318 v. Chr.), dem es unter assyrischem Schutz gelang, sich in Babylon durchzusetzen, Angriffe Elams abzuweisen und selbst bis Susa Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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vorzustoßen. Aber unter Nazimaruttasch (1318-1292 v. Chr.) kam es zu neuen Konflikten zwischen Babylon und Assur, das damals von Adadnerari I. regiert wurde. Assyriens Eroberungspolitik hatte unter seinen Nachfolgern wechselnde Erfolge; erkämpftes Gebiet ging oft schnell wieder verloren, so daß auch die Königstreuen das ihnen geschenkte Land an den Feind abtreten mußten. Adadnerari I. hatte sich gegen die Hethiter gestellt, so daß Salmanassar I. (1276-1246 v. Chr.) nicht nur gegen Babylon, sondern auch gegen Hatti zu Felde ziehen mußte. Aus hethitischen Briefen ergibt sich, »daß das Verhältnis zu Hatti später recht gut wurde, da offenbar die Assyrer das von den Hethitern gewonnene Eisen brauchten«. Aber dieser friedliche Zustand hielt nicht lange an; bereits Tukultininurta I. (1246 bis 1209 v. Chr.) griff nach Ostanatolien und zwang Tausende von Hethitern zur Übersiedelung nach Assyrien. Er führte sein Reich auf einen ersten Höhepunkt, aber seine Erfolge trieben ihn zur Maßlosigkeit, und sein Werk brach im Bürgerkrieg zusammen. ¤ 63 Urkunde über eine Landschenkung unter Melischichu von Babylon. Grenzstein aus Susa, um 1185 v. Chr. Paris, Louvre ¤ 64 Brief Hattusilis' III. von Hatti an Salmanassar Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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I. (?) von Assur über das Fehlen bestimmter Eisenobjekte. Vorderseite einer Tontafel, um 1265 v. Chr. Berlin, Staatliche Museen, Vorderasiatisches Museum ¤ 65 Brief Hattusilis' III. von Hatti an Salmanassar I. (?) von Assur über das Fehlen bestimmter Eisenobjekte. Rückseite einer Tontafel, um 1265 v. Chr. Berlin, Staatliche Museen, Vorderasiatisches Museum ¤ 66 Königin Napirasu, Gemahlin des Untaschhupan von Elam. Bronzeplastik aus Susa, um 1250 v. Chr. Paris, Louvre ¤ 67 Ruinen der Stadt Assur, der Metropole Assuruballits und seine Nachfolger. Blick von der Zikkurrat nach Nordosten auf das Gebiet des dem Stadtgott geweihten Tempels und auf den Tigris mit seinem Seitenarm ¤ 68 Eine Gruppe von vier Tempeln am Fuß der fünfstöckigen Zikkurrat im Mittelpunkt der elamischen Stadt Dur-Untasch südöstlich von Susa. Bauten des Königs Untaschhupan, 1265-1245 v. Chr.
Der Bürgerkrieg brachte Assur zeitweise in Abhängigkeit von Babylon, das wenigstens unter Melischichu Ruhe und Frieden gehabt haben muß. Dann Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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wurde Babylonien ein Opfer des wieder erstarkten Elam. Kuternahhunte entführte viele der babylonischen Denkmäler und bereitete der Kassilendynastie in Babylon ein Ende. »Vermutlich noch als ein Vasallenfürst von Elam kam in Babylonien 1160 v. Chr. Mardukkabitachcheschu zur Herrschaft, mit dem die zweite Dynastie von Isin (1160-1028 v. Chr.) begann. Der unumstritten bedeutendste König dieser Dynastie war Nebukadnezar I. (1128-1106 v. Chr.), der die Elamiter vernichtend schlug, Elam plünderte und in iranisches Gebiet vorstieß. Mit wechselndem Erfolg kämpfte er auch gegen Assyrien, das nach der Zeit des Niedergangs in Assurreschischi I. (1135-1117 v. Chr.) wieder einen energischen Herrscher bekommen hatte. Beide Könige beanspruchten den Titel ›König der Welt‹, aber erst Tiglatpilesar I. (1117-1078 v. Chr.) von Assur konnte ihn wieder mit einigem Recht führen... Er drang als erster Assyrerkönig nach Schamschiadad I. bis zum Mittelmeer vor... Sippar und Babylon wurden neben anderen Städten gebrandschatzt... Der zweite Sohn des großen Eroberers, Assurbelkala (1076-1158 v. Chr.), konnte das Reich trotz seiner vielen Kriege nicht mehr halten.« Bruderzwistigkeiten gaben der zweiten Dynastie von Isin den Todesstoß. Aus der nachfolgenden Zeit bis Assurnassirpal II. (884-859 v. Chr.) wissen wir wieder einmal sehr wenig. »Stabile Verhältnisse herrschten also Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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gewiß nicht.« (W. v. Soden) Viele kriegerische Unternehmungen seit Tiglatpilesar I. richteten sich gegen den Osten und Norden. Hier hatten zugewanderte Volksgruppen Gefahrenzonen geschaffen. Die Urartäer, die Mannäer und die Reitervölker im Luristangebiet waren auf dem Plan. Hunderte von Einzelfunden sind uns von dort bekannt. ¤ 69 Ruinen von Hasanlu, einer befestigten Stadt der Mannäer südwestlich des Urmia-Sees. Blick nach Nordwesten auf das von Assyrern und Urartäern heimgesuchte Land ¤ 70 Prunkhacke mit ergänztem Stiel. Bronzegerät aus Westiran, 1200-700 v. Chr. Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Museum für Vor- und Frühgeschichte ¤ 71 Stangentrense mit Plattenknebeln. Bronzeteil eines Pferdegeschirrs aus Luristan, 1200-700 v. Chr. Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Museum für Vor- und Frühgeschichte ¤ 72 Gürtel mit eingeritzten Tierbildern. Rechter Teil eines Bronzeblechs aus Luristan, 1200-700 v. Chr. Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Museum für Vor- und Frühgeschichte Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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¤ 73 Stierjagd. Steinrelief aus dem Palast des Fürsten Kapara in Guzana, um 830 v. Chr. Berlin, Staatliche Museen, Vorderasiatisches Museum ¤ 74 Zweikampf. Steinrelief aus dem Palast des Fürsten Kapara in Guzana, um 830 v. Chr. Berlin, Staatliche Museen, Vorderasiatisches Museum
»In der Zeit Assurrabis II. (1014-973 v. Chr.) fand ein großer Vorstoß der Aramäer statt, durch den Westmesopotamien ganz von Assyrien gelöst wurde. Diese Nachricht bestätigt die auch aus anderen jüngeren Quellen zu gewinnende Einsicht, daß in den Jahrzehnten vor und nach 1000 v. Chr. die Aramäer, sicher durch viele neue Einwanderer aus Arabien verstärkt, außerordentlich aktiv waren und Mesopotamien und Syrien zum größten Teil besetzten.« Dort stellten sie sich den Assyrern in den Weg. Ihre Staaten kann man unter dem Begriff »späthethitisch-aramäische Kleinstaaten« zusammenfassen. »Im ganzen Gebiet, von Malatia im Norden bis nach Hama im Süden und von Kilikien im Westen bis nach Guzana im Osten, kommen Denkmäler der späthethitisch-churritischen Kunst vor, die trotz beträchtlicher örtlicher Verschiedenheiten durch sehr wesentliche Gemeinsamkeiten des Stils miteinander verbunden sind. Zusammen mit den Bildwerken finden sich in den Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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meisten Orten auch Inschriften in hethitischen Hieroglyphen und in luvischer Sprache, deren Verbreitung nach Osten allerdings am nordsüdlich verlaufenden Teil des Euphrattales ihre Grenze findet. Nach 900 v. Chr. treten neben den bildhethitischen Inschriften solche in phönikischer Buchstabenschrift auf, die an der Küste, in Kilikien und teilweise auch in Nordsyrien in phönikischer Sprache, sonst aber, vor allem nach 800 v. Chr., in Aramäisch oder einem verwandten semitischen Dialekt abgefaßt sind... Von den mesopotamischen Aramäerstaaten ist nur Guzana (heute Tell Halaf) wegen der dort gemachten Funde zu nennen. Auf dem seit dem Ausgang der Buntkeramikzeit unbesiedelten Hügel legten Aramäer nach 1000 v. Chr. eine neue Siedlung an. Adadnerari II. nennt dort um 900 v. Chr. einen ihm tributpflichtigen Fürsten Abisalamu. Von ihm oder von dessen Nachfolger muß dort der erste mit Orthostaten geschmückte Palast erbaut worden sein. Nach 830 v. Chr. hat dann Kapara ein neues Bauwerk errichtet und zugleich seine Inschrift auf die nach eigener Aussage von Großvater und Vater übernommenen Bildplatten gesetzt. Er selbst oder sein Nachfolger versuchten sich 808 v. Chr. gegen Sammuramat aufzulehnen. Guzana wurde nun eine Provinzhauptstadt. Kapara und seine Vorgänger müssen die Verbindung mit Syrien intensiv gepflegt und von dort Künstler gewonnen haben.« Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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(W. v. Soden) ¤ 75 Kampf einer Gottheit gegen ein Felsungeheuer. Relief auf einem Goldgefäß der Mannäer, 9. Jahrhundert v. Chr. Teheran, Archäologisches Museum
»Nach den Inschriftenfunden war das Gebiet zwischen Wan- und Sewansee das Kernland von Uraitu, das von seinen Bewohnern Bia genannt wurde. Als Hauptstadt erscheint Tuschpa... Schon der erste durch eine Inschrift bezeugte König Sardur I. (um 835-825 v. Chr.) nennt sich, vielleicht zur Zeit des Bürgerkriegs in Assyrien nach 828 v. Chr., kühn ›König der Welt und der Nairi-Länder‹, nimmt so die assyrische Titulatur für sich in Anspruch; er muß demnach bereits ein größeres Gebiet beherrscht haben. Sein Sohn Ischpuini (um 825-805 v. Chr.) regierte etwa zehn Jahre allein und dann zusammen mit seinem Sohn Menua (815 bis 790 v. Chr.), der eine besonders große Zahl von Inschriften hinterlassen hat... Soweit wir die geographischen Bezeichnungen und die militärischen Fachausdrücke in seinen viel von Feldzügen handelnden Inschriften verstehen, zog Menua oft auch in die pferdereichen Etiu-Länder und in das südlich daran anschließende Land Aizi... Unmittelbar assyrisches Interessengebiet waren die Nairi-Länder und das iranische Man südlich des Urmia-Sees, doch Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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nennt Menua die Assyrer in diesem Zusammenhang nicht, obwohl er in diesen auch von Assyrien oft heimgesuchten Ländern auf assyrische Truppen gestoßen sein muß. Vermutlich hat er gegen die Assyrer keine Erfolge erringen können, wie auch die Assyrer nichts von größeren Siegen über Urartu berichtet haben; die in den Bergländern vorn oberen Euphrat bis zum Urmia-See etwa gleichstarken Großmächte vermieden große Schlachten... Urartu war eine erbliche, absolute Monarchie, in der sich der König in allen seinen Handlungen als Beauftragter des Gottes Chaldi fühlte. Über den Aufbau des Staates wissen wir sehr wenig. Er mag anfänglich locker gefügt gewesen sein, wurde dann aber zu einem Beamtenstaat nach dem Muster des assyrischen, wie Urartu überhaupt Assyrien in vielem nachgeahmt hat; der Stil der Inschriften war allerdings trotz mancher Entlehnungen ein durchaus eigener. Die Provinzen wurden von Statthaltern verwaltet, die, wie die Ausgrabungen von Karmir Blur zeigten, vor allem große Magazine für die Abgaben anzulegen und zu verwalten hatten. Daß Urartu der zentrifugalen Tendenzen an den Rändern seines nie sehr großen Reiches immer nur vorübergehend Herr werden konnte, lag gewiß vor allem an der unwegsamen Hochgebirgslandschaft.« (W. v. Soden) Wiederholte Zusammenstöße mit assyrischen Truppen, oft nicht einmal in Urartu selbst, sondern in den Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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zeitweise abhängigen Gebieten wie dem kleinen Staat der Mannäer, konnten nicht ausbleiben. Die Assyrer erwiesen sich auf die Dauer als die Stärkeren. ¤ 76 Begrüßung der Könige Mardukzakirschumi von Babylon und Salmanassar III. von Assur. Relief am Sockel eines kürzlich in Kalach am Tigris ausgegrabenen Königsthrones, nach 852 v. Chr. ¤ 77 König Salmanassar III. von Assur. Oberteil der bei derselben Grabung in Kalach gefundenen Steinskulptur, um 840 v. Chr.
Auf König Assurnassirpal II., der für alle Länder, die er betreten hatte, zum Inbegriff der Grausamkeit geworden war, »folgte sein ähnlich gearteter und sehr befähigter Sohn Salmanassar III. (859-824 v. Chr.), der überall das Werk seines Vaters weiterführte, aber, anders als dieser, die Grenzen seiner Macht nicht immer klar erkannte und daher nach großen Erfolgen oft Rückschläge hinnehmen mußte... Mit Nabuapaliddin von Babylon hatte er in Frieden gelebt. Nach dessen Tod 852 v. Chr. stritten sich aber die beiden Brüder Mardukzakirschumi (852 bis 826 v. Chr.) und Mardukbelusati um die Herrschaft. Salmanassar griff zugunsten des ersten ein und tötete nach zweijährigen Kämpfen den ›Usurpator‹. Er opferte in Babylon und Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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ließ sich feiern... In den kommenden Jahren zog er nicht nur nach Armenien, sondern wieder nach Syrien, wo er große Massen von Bauholz und Steinen erbeutete. 848 und 845 v. Chr. kämpfte er erneut gegen die zwölf Verbündeten, die der bedrohte Barhadad II. von Damaskos um sich hatte. Der ›Sieg‹ seiner einhundertzwanzigtausend Mann über die ›zahllosen‹ Truppen der Syrer 845 v. Chr. blieb ohne Wirkung, Bald danach trat aber, wie das Alte Testament berichtet, in Damaskos Haza'el an die Stelle des Barhadad, und in Israel machte sich Jehu zum König. Dadurch zerfiel die Koalition, und Salmanassar kam 841 v. Chr., ohne auf großen Widerstand zu stoßen, bis an den Hermon, schlug dort ein Heer Haza'els und belagerte diesen in Damaskos, freilich vergeblich... Die letzten Jahre des wohl sehr alt gewordenen Salmanassar verdüsterte der Aufstand seines ältesten Sohnes Assurdanninapla, der sechs Jahre lang einen großen Teil des Reiches beherrschen konnte. Da außer Kalach ganz Assyrien sich dem Empörer anschloß, werden wohl nicht nur persönliche Differenzen zwischen Vater und Sohn, sondern auch innenpolitische Spannungen zu dem Konflikt geführt haben. Der von ihm nach oder kurz vor dem Aufstand zum Thronfolger bestimmte Schamschiadad V. (824-810 v. Chr.) hatte nach dem wohlwollend neutralen Babylonien fliehen müssen und noch als Kronprinz dort einen Vertrag Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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mit Mardukzakirschumi abgeschlossen. Erst in seinem zweiten Jahr konnte er seinen Bruder schlagen und sich in ganz Assyrien durchsetzen.« (W. v. Soden) ¤ 78 Truppenaufmarschgebiet der Assyrer in Phönikien. Blick vom Felsen mit den Inschriften von Tiglatpilesar I., Salmanassar III. und anderen Heerführern nach ihnen auf die schmale Küstenebene an der Mündung des Nahr el-Kelb
»In Babylonien waren nach mehreren Jahren schwerer Wirren mit häufigem Thronwechsel erst unter Eribamarduk (etwa 795 bis 764 v. Chr.) wieder geordnetere Verhältnisse eingetreten; Adadnerari III. (806 bis 782 v. Chr.) schloß mit ihm einen Freundschaftsvertrag... Von Adadneraris Nachfolgern haben wir keine Inschriften. Salmanassar IV. (782-772 v. Chr.) kämpfte nach der Eponymenliste sechsmal, sicher ohne dauerhaften Erfolg, mit Urartu und zog 773 v. Chr. gegen Damaskos. Sein Statthalter Schamschilu von Tilbarsip schreibt sich einen Sieg über Urartu zu, ohne den König zu nennen. Assurdân III. (772 bis 754 v. Chr.), durch Pestepidemien 765 und 759 v. Chr. und Aufstände in Assyrien (762 bis 759 v. Chr.) an aktiver Politik behindert, zog kaum noch nach Syrien, wo die Aramäerfürsten zwischen Assyrien und Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Urartu zu lavieren versuchten... Die Lähmung der assyrischen Angriffskraft erreichte unter Assurnerari ihren Höhepunkt.« (W.v. Soden) ¤ 79 Weiblicher Kopf aus Elfenbein als Möbelschmuck. Arbeit einer phönikischen Werkstatt, ein Beutestück der Assyrer. Fund aus Kalach, 8. (?) Jahrhundert v. Chr. London, British Museum ¤ 80 Assyrischer Text auf der zweisprachigen Inschriftenstelle der Könige Ischpuini und Menua von Urartu auf dem Paß von Kelischin südwestlich des Urmia-Sees, um 810 v. Chr. ¤ 81 Ein urartisches Gebäude mit Zinnenbekrönung. Bronzemodell aus Toprakkale/Armenien, 7. Jahrhundert v. Chr. London, British Museum
Das Reich Urartu war unter Menua (815 bis 790 v. Chr.) groß geworden. In den ersten Jahren seiner Regierung war er zusammen mit seinem Vater, Ischpuini, in das Land Parsua eingefallen. »Auf dem Paß von Kelischin, über den man ins Perserland hinabstieg, steht noch heute eine Stele von ihnen mit zweisprachiger Inschrift und berichtet von Weihgaben für den Gott Ghaldi von Mußaßir nordwestlich des Passes und den großen Schafherden des Tempels.« Bevor Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Urartu um 620 v. Chr. den Skythen erlag, hatte es auf der Grundlage einer intensiv gepflegten Viehzucht eine blühende Gartenkultur entwickelt. Am Export von Pferden wurde viel verdient. »Eine weitere Quelle des Reichtums war die Gewinnung, mehr noch die Verarbeitung von Metallen. Neben den Gold-, Silberund Kupferschmieden zeigten auch die Eisenschmiede ein damals unübertroffenes Können. Die Erzeugnisse ihrer Arbeit wurden exportiert.« (W. v. Soden) ¤ 82 Reste eines urartischen Köchers. Bronzearbeit aus Toprakkale/Armenien, 7. (?) Jahrhundert v. Chr. London, British Museum ¤ 83 Assyrische Würdenträger. Wandgemälde aus dem Statthalterpalast der assyrischen Könige in Tilbarsip am Euphrat, 780-727 v. Chr. Aleppo, Museum
»Die Untätigkeit, die dem assyrischen Heer unter Assurnerari V. auferlegt war, konnte bei dem Aufbau des Staates und seiner politischen Ideologie kein Dauerzustand sein. Der normale Steuerertrag reichte für den Unterhalt der Truppen nicht aus; außerdem führte die unzureichende Beschäftigung der Offiziere immer wieder zu Aufständen von Statthaltern, die in den großen Provinzen zu mächtig geworden waren. So kam es 746 v. Chr. zu neuen Unruhen in Assyrien, die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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einen älteren General, nach einer Inschrift vielleicht einen jüngeren Sohn Adadneraris III., mit dem programmatischen Namen Tiglatpilesar III. (746-727 v. Chr.) auf den Thron brachten.« Seine Innenpolitik war gekennzeichnet durch die Aufhebung vieler Städteprivilegien, die Aufteilung großer Provinzen und die Verminderung der Statthalterbefugnisse. Zwangsumsiedlungen führten zur Schaffung einer Mischbevölkerung, in der das Aramäische eine große Rolle spielte. Als Aramäergruppen »auch assyrisches Gebiet plünderten, durchzog Tiglatpilesar Babylonien bis zum Meer und brandschatzte die Stämme... 744 v. Chr. kamen die Meder an die Reihe... Urartu griff er 735 v. Chr. in dessen Kerngebiet an.« Auch Syrien bekam seine Grausamkeit in der Kriegführung zu spüren. »734 v. Chr. zog er durch Israel bis zur Philisterhauptstadt Gaza, die der König Hanun durch seine Flucht nach Ägypten preisgab. Damit stand Assur erstmalig an der Grenze von Ägypten.« Tiglatpilesar nutzte die chaotischen Verhältnisse in Babylon aus und vereinigte es mit Assur durch Personalunion. »Residenzstadt von Tiglatpilesar war vor allem Kalach, wo er ein Hilani-Haus nach syrischem Muster errichtete und den Palast Salmanassars III. für sich umbaute. Mit seiner vielen Kriegsbeute konnte er den Palast prächtig ausschmücken und mit Schätzen füllen. Damals mögen viele erlesene Elfenbeinplastiken Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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aus den Ländern Syriens nach Kalach gekommen sein. Auf den Wänden des Palastes berichtete er in Wort und Bild von seinen großen Siegen.« (W. v. Soden) ¤ 84 Erstürmung einer Stadt und Entführung ihrer Götterbilder durch Truppen Tiglatpilesars III. von Assyrien. Ergänztes Alabasterrelief aus dem Zentralpalast des Königs in Kalach, 746-727 v. Chr. London, British Museum ¤ 85 Zedernholztransport übers Mittelmeer. Alabasterrelief aus dem Palast des Königs Sargon II. von Assur in Dur-Scharrukin, 713-705 v, Chr. Paris, Louvre ¤ 86 Sklaven bei der Arbeit im Steinbruch unter Aufsicht bewaffneter Soldaten aus dem Heer des Königs Sanherib von Assur. Alabasterrelief aus dem Palast des Königs in Ninive, nach 700 v. Chr. London, British Museum
»Der Anführer einer Verschwörung gegen Salmanassar V., den mißliebigen Sohn Tiglatpilesars, nahm den altberühmten Namen Sargon (722-705 v. Chr.) an. In Ausführung der Zusagen, die er vor seiner Nominierung gewiß hat geben müssen, stellte er als Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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erstes die alten Privilegien wieder her und gewährte besonders den großen Tempeln wieder ihre Abgabenfreiheit. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern stützte er sich also wieder auf die konservativen Kräfte, konnte Assyrien aber auch damit keinen dauernden Frieden geben. Außenpolitisch war er äußerst aktiv, wenn auch nicht immer erfolgreich.« (W. v. Soden) Er beseitigte die letzten »späthethitischen« Kleinstaaten, besiegte das Reich von Urartu, kämpfte gegen die Meder und warf einen babylonischen Aufstand nieder, so daß er von den Babyloniern als Befreier begrüßt wurde. Seine zu groß geplante Hauptstadt Dur-Scharrukin nördlich von Ninive blieb unvollendet. ¤ 87 Historischer Bericht des Königs Sargon II. von Assur. Achtseitiges Tonprisma aus Dur-Scharrukin, nach 722 v. Chr. Bagdad, Iraq Museum ¤ 88 König Sanherib von Assur bei der Entgegennahme der in Lachisch gemachten Beute und drei ihm huldigende Bürger der besiegten judäischen Stadt. Alabasterrelief aus dem Palast des Königs in Ninive, nach 700 v. Chr. London, British Museum
Unter den Nachfolgern Sargons, die Assyrien auf den Höhepunkt seiner Macht führten, sind zwei auch durch die biblische Überlieferung bekannt: Sanherib Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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(705-681 v. Chr.) und Assarhaddon (681-669 v. Chr.). Ihre Babylon-Politik und die Assurbanipals (669-627 v. Chr.) war unterschiedlich. Sanherib packte die Babylonier hart an, Assarhaddon ließ das völlig zerstörte Babylon wieder aufbauen, und Assurbanipal kehrte schrittweise zum Kurs seines Großvaters zurück, nachdem aus dem anfänglich guten Verhältnis zu seinem Bruder Schamaschschumukin offene Feindschaft geworden war. Sanherib bewies die Abkehr von der Politik seines Vaters Sargon, indem er Dur-Scharrukin verließ und Ninive zu seiner Hauptstadt machte. Er zerschlug jede Koalition, die Babylon gegen ihn zusammenbrachte. 701 v. Chr. unternahm er seinen wenig erfolgreichen Feldzug gegen die mit Ägypten verbündeten Fürsten Phönikiens und Palästinas. Sanheribs Spuren waren auch auf den Kriegsschauplätzen in Südarmenien und Kilikien noch lange zu sehen. Elam erreichte er als erster Assyrer mit einer von Phönikern und Griechen gebauten Flotte. Viele elamische Städte wurden zerstört; die Rachegedanken der Besiegten blieben, bis sie mit Assur unter Assarhaddon Frieden schlössen. Dadurch bekam Assyrien freie Hand gegen Ägypten, das mit dem Äthiopier, König Taharka, unzufrieden war; bald lagerten assyrische Heere in Memphis. Assarhaddons Annalen nennen noch kleinere militärische Zusammenstöße mit Arabern, Skythen und Kimmeriern. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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¤ 89 »Familientafel« des Königs Assarhaddon von Assur und Erinnerungsstele an seine Siege in Phönikien und Ägypten. Hier: Schamaschschumukin, der zweitälteste Sohn Assarhaddons und Kronprinz für Babylon. Stele Assarhaddons aus Sam'al, der Hauptstadt des Fürstentums Ja'dija in Südostanatolien, nach 670 v. Chr. Berlin, Staatliche Museen, Vorderasiatisches Museum ¤ 90 »Familientafel« des Königs Assarhaddon von Assur und Erinnerungsstele an seine Siege in Phönikien und Ägypten. Hier: Triumph Assarhaddons über einen ägyptischen Prinzen und über Abdimilkutti von Sidon. Stele Assarhaddons aus Sam'al, der Hauptstadt des Fürstentums Ja'dija in Südostanatolien, nach 670 v. Chr. Berlin, Staatliche Museen, Vorderasiatisches Museum ¤ 91 »Familientafel« des Königs Assarhaddon von Assur und Erinnerungsstele an seine Siege in Phönikien und Ägypten. Hier: Sein jüngerer Bruder Assurbanipal, der Nachfolger seines Vaters auf dem assyrischen Thron. Stele Assarhaddons aus Sam'al, der Hauptstadt des Fürstentums Ja'dija in Südostanatolien, nach 670 v. Chr. Berlin, Staatliche Museen, Vorderasiatisches Museum
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¤ 92 Kämpfe assyrischer Truppen aus dem Heer Assurbanipals gegen kamelreitende Araber. Alabasterrelief aus dem Palast des Königs in Ninive, 669-627 v. Chr. London, British Museum ¤ 93 Sturm der Soldaten Assurbanipals auf das zäh verteidigte Susa, die Hauptstadt des Reiches Elam. Alabasterrelief aus dem Palast des Königs in Ninive, nach 640 v. Chr. London, British Museum
Unter Assurbanipal mußten sich die Assyrer aus Ägypten zurückziehen. Schwierigkeiten in Babylonien und die über dreißig Jahre sich hinziehenden Auseinandersetzungen mit Elam machten eine Rückeroberung unmöglich. »In Elam jagte ein Aufstand mit Ermordung oder Flucht des Königs den anderen; es folgten mehrere Kriege, bis die Assyrer 640 v. Chr. Susa einnahmen, ausplünderten und größtenteils zerstörten... Damit war der Weg für die Perser frei... Gegen die Araber kam es später noch zu Vergeltungsfeldzügen.« Aus erbitterten Kämpfen gegen seinen Bruder Schamaschschumukin ging Assurbanipal als Oberherr in Babylon hervor. »Er, der selbst nicht sehr oft zu Felde zog, hatte kein großes außenpolitisches Konzept, wie es seine Vorfahren hatten, sondern begnügte sich mit der Abwehr von unmittelbar drohenden Gefahren; die neuen Machtzentren, die sich in Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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größerer Entfernung bildeten, beachtete er nicht.« (W. v. Soden) In Assyrien muß es zu Lebzeiten Assurbanipals rivalisierende Könige gegeben haben, vielleicht sogar einen Bürgerkrieg; denn die Stärke dieses Reiches wäre durch äußere Feinde allein kaum gebrochen worden. Aber man war für die Invasion der Skythen, für die Kriege mit Babylon unter dem Chaldäer Nabupolassar (626-605 v. Chr.) und für die Angriffe der Meder unter Kyaxares (625-583 v. Chr.) schlecht gerüstet. Um 609 v. Chr. war die Rache der einst Verfolgten vollzogen: Assyrien existierte nicht mehr. Nach und nach gelang es den Chaldäern, die ihre Vorbilder im Babylonien Hammurabis suchen mußten, daß ihr Land als führende Macht galt. Babylon wurde zur größten und reichsten Stadt der Mittelmeerwelt. Im Kampf gegen Ägyptens Verbündete zerstörte Nebukadnezar II. (605 bis 562 v. Chr.) Jerusalem und ließ die Juden in die »Babylonische Gefangenschaft« führen. Nun umfaßte sein Reich auch Syrien und Palästina. ¤ 94 Reste der spätbabylonischen Zikkurrat in dem durch Nebukadnezar II. erneuerten, groß angelegten Bezirk des Nabû-Tempels Ezida im Borsippa südlich von Babylon, erste Hälfte 6. Jahrhundert v. Chr.
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¤ 95 Achaimenidisches Kurzschwert mit dem Namen Dareios' I. Ein Geschenk des Königs an einen Beamten. Fund aus Luristan, 521-486 v. Chr. SolingenGräfrath, Deutsches Klingenmuseum
Gegen den letzten König Babyloniens, den Emporkömmling Nabonid (556-539 v. Chr.), bestand im eigenen Land eine starke Opposition. Sie veranlaßte ihn, Babylon zu verlassen und auswärts eine Aufgabe zu suchen; er nahm sich vor, große Teile Arabiens seinem Reich anzugliedern. Während dieser Zeit, in der Babylonien von seinem Sohn Belsazar regiert wurde, hatte Kyros II. von Persien sein Reich vergrößert; jetzt gehörte Medien zu ihm. »Die Mardukpriester in Babylonien und andere waren zu der Überzeugung gekommen, daß es ihnen unter der Herrschaft des Kyros besser gehen würde, da dieser sich bisher immer als maßvoller Sieger gezeigt hatte. In geheimen Vorverhandlungen sagte ihnen Kyros die freie Kultausübung zu, wie er sie allen Unterworfenen gewährte. Als er nach gründlicher Vorbereitung 539 v. Chr. Babylonien angriff, mußte er nur noch das gewiß nicht sehr starke Heer Nabonids aus dem Felde schlagen und zog dann kampflos in Babylon ein, das sich trotz seiner gewaltigen Festungswerke nicht verteidigte. Die anderen Städte folgten diesem Beispiel. Nabonid selbst ergab sich und erhielt als Lehen eine kleine Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Herrschaft in Ostiran, die er noch einige Zeit verwaltete. Damit hatte Babylonien als selbständiger Staat zu bestehen aufgehört und wurde zu einer persischen Provinz. Mesopotamien und Syrien-Palästina unterwarfen sich ebenfalls kampflos dem neuen Herrn. Alle diese Gebiete waren zu sehr daran gewöhnt, von anderen beherrscht zu werden, und ihre Mischbevölkerung kannte nach den Massendeportationen fast nirgends mehr ein Nationalbewußtsein... Die politische Geschichte Babyloniens ist jetzt die Geschichte der Großreiche der Achaimeniden und Alexanders des Großen, der Seleukiden und der Arsakiden.« (W. v. Soden) »Kyros hatte sich nach der Eroberung des Zweistromlandes, Syriens und Kleinasiens bis zum Hellespont dem iranischen Osten zugewandt. Jetzt griff der Osten auf den Westen über, diesmal in Zarathustras Verkündigung, die Medien und dann die Persis erreichte... Kambyses, der Sohn Kyros' II., hatte die nach Westen gerichtete Eroberungspolitik fortgesetzt und 525 v. Chr. Ägypten dem Reich einverleibt. Unterdessen erhob sich in seinem Rücken der Aufstand, und nach Kambyses' Tod konnte der Magier Gaumata den Thron besteigen (März 522 v. Chr.), Die neue Religion hielt sich für stark genug, einen der Ihren an die Macht zu bringen... Der Gegenschlag ließ indes nicht lange auf sich warten. Ein Jahr nach Gaumatas Erhebung beseitigte Dareios, Hystaspes' Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Sohn (521-486 v. Chr.), aus einer Seitenlinie der Achaimeniden, im Bund mit sechs adligen Persern den Magier und bestieg den Thron.« (F. Altheim) »Beide Parteien, Gaurnata und Dareios, hatten sich auf Ahuramazda berufen. Aber in dem Kampf hatte sich der Gott für den Achaimeniden und gegen den Magier entschieden. Der Sieg des legitimen Herrschers hatte nicht nur den unmittelbaren Gegner getroffen, er brachte auch allen seinen Glaubensgenossen Verderben. Das Fest der Magiertötung, über dessen Einzelheiten Herodot berichtet, feierte diesen Sieg in regelmäßiger Wiederkehr. So blieb eine innere Zwiespältigkeit: Dareios hatte Zarathustras Lehre übernommen, der Prophet selbst aber wurde als Magier von dem Verdammungsurteil mitbetroffen, eine Haltung, zu der sich der Sieger nach Ahuramazdas Hilfe berechtigt glauben durfte... Von der Persis war die Erhebung gegen die Meder ausgegangen... Gestützt auf eine kriegstüchtige Bevölkerung hatte Kyros sein Reich begründet, hatten die Nachfolger es erweitert und gefestigt. Doch von der Persis aus ließ sich das persische Weltreich nicht lenken.« Man verlegte den Regierungssitz nach Babylon und Susa, in die Ebene. »Alles hing davon ab, ob Herrscherhaus und Hof, die Träger des Reichsgedankens, auf der Höhe blieben, auf der sie unter Kyros und Dareios I. gestanden hatten. In Asien hat Größe selten zwei Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Generationen überdauert, und die Achaimeniden machten darin keine Ausnahme. Abgeschnitten vom Mutterboden, im Tiefland inmitten seiner verfallenden Zivilisation ging das altpersische Königshaus an der Schönheit seiner Frauen und am physischen Genuß zugrunde.« (F. Altheim) ¤ 96 Das von Sphinxen gehaltene Zeichen für den Lichtgott Ahuramazda über einem Medaillon mit dem Bildnis seines Propheten Zarathustra (?). Abrollung eines achaimenidischen Chalzedonsiegels, 5. (?) Jahrhundert v. Chr. London, British Museum ¤ 97 König Dareios I. von Persien unter dem Schutz Ahuramazdas auf der Löwenjagd in Südmesopotamien. Abrollung eines achaimenidischen Achatsiegels aus Theben, vor 486 v. Chr. London, British Museum ¤ 98 Ein Zeugnis aus der Zeit der Kämpfe unter Xerxes I., Artaxerxes I. und ihren Nachfolgern bis Artaxerxes III. auf den Kriegsschauplätzen in der Ägäis, in Ägypten, Phönikien und Kleinasien: Der Nahkampf zwischen einem leicht bewaffneten Perser und einem mit Schild und Lanzen bewehrten Feind. Abrollung eines spätachaimenidischen Chalzedonsiegels. London, British Museum
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¤ 99 Ruinen der Königsburg von Persepolis, der Sommerresidenz der Achaimeniden unter Dareios I. und seinen Nachfolgern. Blick von einem unvollendeten Tor im Norden des Platzes vor dem Thronsaal aus der Zeit des Artaxerxes I. auf die große Audienzhalle und den Palast des Xerxes
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IV. Griechenland und die hellenistische Welt ¤ 0 Karte [Fundorte und historische Stätten] ¤ 1 Die Palastanlage von Knossos auf Kreta. Blick über die Stätte der kultischen Spiele und über die Feststraße auf den nördlichen Teil des spätminoischen Palastes, 1560-1470 v. Chr.
Bis zum Beginn des zweiten Jahrtausends v. Chr. »hatten Völkerschaften, die in südlichen Breiten beheimatet waren, die Geschichte des griechischen Festlandes bestimmt, so die Sumerer, Semiten, Hamiten und Ägäer. Durch das Ausgreifen indoeuropäischer Scharen gewannen nun Fremdlinge die Oberhand, die härtere Lebensbedingungen gewohnt waren und sich durch brutalere Lebensart auszeichneten; den Erfolg verdankten diese Angreifer ihrer stärkeren Kampfkraft. Zwar hatten Protogriechen, Luvier und Hethiter als Waffe zuerst nur die Streitaxt, dennoch unterlagen Griechenland und Kleinasien ihrer Angriffswut... Einzig Kreta hat in dieser Zeit dank seiner Insellage seine Selbständigkeit bewahrt... Noch um 2100 v. Chr. war die Insel nicht mehr als ein beliebiger Teil Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Griechenlands oder Kleinasiens. Nun gab sie auf die Herausforderung einer feindlichen Umwelt ihre großartige Antwort: eine bislang unerhörte Schöpferkraft schuf die kretischen Paläste. Fürstensitze hat es schon seit frühesten Zeiten gegeben, doch waren sie im Vergleich zu den Häusern der Privatleute nichts anderes als primi inter pares. Das gilt auch für die Megaronbauten der Herrscher von Dimini oder von Troia, die noch inmitten der Häuser ihrer Untertanen standen. Der Palast hingegen war baulich und gesellschaftlich eine Welt für sich und rückte in seiner übergeordneten Würde neben den Tempel. Die Paläste bildeten zugleich die kommerziellen Zentren der Städte... Im Palast gab es Speicher, Werkstätten, Kapellen für Kultzwecke, Wohnräume für das Gefolge und prächtig ausgestattete Gemächer mit Säulenterrassen für die Herrschaft. Repräsentative Säle für Empfänge und Gastmahle werden nicht gefehlt haben. Korridore und Treppen spielten bei der verwirrenden Zahl von Räumen eine wesentliche Rolle.« (E. Schachermeyr) »Volkreich und ausgedehnt waren die Städte, die zu den Palästen gehörten. In Knossos standen rings um den Palast die Villen der Vornehmen, an die sich die Quartiere des Volkes anschlössen. Am Stadtrand lagen die Gräber. In Phaistos thronte der Palast auf hoher Hügelterrasse, an deren Fuß sich die Häuser der Städter ungeordnet drängten. Zu Mallia war der Palast Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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von freien Plätzen und Privatquartieren umgeben, die Gräber lagen im Küstenkliff, der Hafen befand sich am benachbarten Sandstrand.« (F. Schachermeyr) ¤ 2 Ruinen eines ländlichen Handelshauses in Gortyn auf Kreta mit den zu ebener Erde gelegenen Speichern und Verkaufsräumen, spätminoisch, nach 1500 v. Chr.
»Die Minoer konnten sich einer geordneten Landwirtschaft rühmen, verfügten über gewaltige Viehbestände, über treffliche Erzeugnisse der Gartenbetriebe. Sie erzeugten und exportierten Wein, Öl, Parfüme und führten nach Ägypten sicherlich auch Holz aus. Einer der wichtigsten Aktivposten der minoischen Handelsbilanz waren aber die kunstgewerblichen Arbeiten. Wohl mußte man das dafür benötigte Gold und Elfenbein einführen, auch waren die ägyptischen Erzeugnisse in der Feinheit ihrer Goldschmiede- und Einlegearbeiten unerreichbar. Aber an Originalität seiner Gefäße aus Ton, Fayence, Steatit und Edelmetall, seiner Tierstatuetten und Holzschnitzereien, an Meisterschaft seiner Glyptik mit ihren Gemmen und Siegeln, auch in der Herstellung seiner langen Schwerter mit prächtigen Griffen überbot Kreta alle übrige Welt.« (F. Schachermeyr) Die Art der auf dem Festland gefundenen Waren läßt auf eine gute Beziehung Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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zwischen Kreta und Mykene schließen. ¤ 3 Eins der großen Speichergefäße im Lagerraum des spätminoischen Palastes in Knossos ¤ 4 Prunkdolch aus den Gräbern IV und V von Mykene. Bronzeklinge mit Einlagen aus Gold, Silber und schwarzem Niello, frühmykenisch, 1570-1550 v. Chr. Athen, Nationalmuseum ¤ 5 Prunkdolch aus den Gräbern IV und V von Mykene. Bronzeklinge mit Einlagen aus Gold, Silber und schwarzem Niello, frühmykenisch, 1570-1550 v. Chr. Athen, Nationalmuseum ¤ 6 Prunkdolch aus den Gräbern IV und V von Mykene. Bronzeklinge mit Einlagen aus Gold, Silber und schwarzem Niello, frühmykenisch, 1570-1550 v. Chr. Athen, Nationalmuseum ¤ 7 Achtseitiges hieroglyphisches Siegel aus Ostkreta, undatiert. Oxford, Ashmolean Museum ¤ 8 Goldene Votivaxt mit Linear A-Inschrift aus der Kultgrotte von Arkalochori in Zentralkreta, um 1600 v. Chr. Boston/Mass., Museum of Fine Arts
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¤ 9 Linear B-Täfelchen aus Knossos, vor 1350 v. Chr. Herakleion/Kreta, archäologisches Museum ¤ 10 Bügelkanne mit Linear B-Inschrift aus Theben, vor 1300 v. Chr. Theben, Archäologisches Museum ¤ 11 Kypro-minoische Schrifttafel aus Enkomi, vor 1200 v. Chr. Nicosia, Cyprus-Museum
Als erste Schrift auf europäischem Boden finden wir in Kreta nach dem Bau der älteren Paläste (20. Jahrhundert v. Chr.) auf Siegeln und Siegelabdrücken eine Hieroglyphenschrift, neben der auf Objekten aus Ton und vermutlich auch auf weichen Schreibmaterialien eine Kursivschrift verwendet wurde. Etwa um 1700 v. Chr. ging die hieroglyphische Kursivschrift (Protolinear) in eine vereinfachte Kursive (Linear A) über, die bis in die Periode Spätminoisch I b (1500-1450 v. Chr.) in Gebrauch blieb, in der alle Orte mit Linear A-Archiven durch eine Katastrophe zerstörtwurden. In Knossos wurde Linear A durch eine neu geschaffene »Hofkalligraphie« (Linear B) ersetzt, die man bis zur endgültigen Zerstörung des Palastes in der Zeit um 1350 v. Chr. geschrieben hat. Tontäfelchen mit Linear B sind auch in den festländischen Palästen von Pylos und Mykene und neuerdings in der Kadmeia von Theben gefunden worden, neben beschrifteten Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Tonbullen und Bügelkannen, die auch in Tiryns, Orchomenos und Eleusis zutage getreten sind. Hier hat sich die B-Schrift bis zur Zerstörung der festländischen Paläste in der Zeit der Agäischen Wanderung um 1200 v, Chr. erhalten. Einen anderen Ableger der kretischen Schrift kennen wir in Cypern in Gestalt der an Linear A anknüpfenden kyprominoischen Schrift, die sich etwa von 1525 v. Chr. bis zum Ende der kyprischen Bronzezeit verfolgen läßt. Aus ihr hat sich nach einer noch dunklen Übergangszeit etwa im 8. Jahrhundert v. Chr. die kyprische Silbenschrift entwickelt, die bis in hellenistische Zeit auch für Aufzeichnungen in griechischer Sprache verwendet wurde. (E. Grumach) »Auf Kreta spielte das Religiöse eine große Rolle; das gesamte öffentliche wie private Leben war in religiöses Denken und Fühlen mit eingeschlossen... Von Anfang an setzte man die Verstorbenen mit Vorliebe in natürlichen Höhlungen bei. Schon früh baute man unter nordafrikanischen Einflüssen statt der Höhlen Rund- oder Kuppelgräber, in denen die Toten in größerer Zahl – Mitglieder einer Familie, mitunter auch die Bewohner einer ganzen Ortschaft – die letzte Ruhestätte fanden. Die kleineren Rundgräber und die von mittlerer Größe waren mit einer gemauerten Kuppel (Tholos) überdacht. An die Rund- oder Kuppelgräber schloß man vielfach noch viereckige Vorräume Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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an, die anfangs wohl dem Totenkult, später auch der Bestattung der Toten dienten. In einem Kuppelgrab bei Hagia Triada fand man einige besonders interessante Miniaturszenen des Totenkultes aus Ton. Sie zeigen uns einen Reigentanz, das Backen des heiligen Brotes und eine merkwürdige Opferzeremonie... Zu den Begehungen des Kultes gehörte vor allem die Darbringung von Weihgaben, von Blumen und Kultkleidern, des heiligen Brotes und mancher Trankopfer. An Festtagen wurden Prozessionen veranstaltet, und Frauen führten im heiligen Hain kultische Tänze auf... Was man von der Erdgöttin erflehte, war nicht nur Fruchtbarkeit, sondern vor allem Schutz vor seismischen Katastrophen. In diesen Zusammenhang ist auch der Stierkult zu rücken... Jünglinge und Mädchen, die sich auf ihre lebensgefährliche Aufgabe vorbereitet hatten, warteten den heranstürmenden Stier ab, faßten nach seinen Hörnern und ließen sich, wenn er den Kopf emporwarf, über seinen Rücken hinweg in den Sand schleudern. Das gelungene Wagnis wurde zweifellos mit Begeisterung aufgenommen, doch dürfte die Mehrzahl der Kühnen ihr Unterfangen mit dem Tode bezahlt haben. Auch eine andere, leichtere Art des Stierspringens scheint mitunter geübt worden zu sein, bei der man seitlich über den Rücken des Tieres setzte.« (F. Schachermeyr)
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¤ 12 Beter mit Trankopfern vor zwei hinter den Altären sitzenden Götterpaaren (?). Tonplastik aus einem Kuppelgrab bei Hagia Triada auf Kreta, frühminoisch, 20. Jahrhundert v. Chr. ¤ 13 Eine Phase des Stierspieles. Aus einem Wandgemälde vom Ostflügel des spätminoischen Palastes in Knossos, Anfang 15. Jahrhundert v. Chr. Herakleion/Kreta, Archäologisches Museum
Die minoische Kultur wurde vom weiblichen Geschmack geprägt, im Mittelpunkt der mykenischen Kultur stand der Mann. ¤ 14 Heroischer Kampf eines mykenischen Ritters. Relief auf einem Goldring aus dem Grab IV im Gräberrund A von Mykene, um 1560 v. Chr. Athen, Nationalmuseum ¤ 15 Die Burg von Mykene vor dem Berg Hagios Elias in der peloponnesischen Landschaft Argolis. Blick auf die Ruinen des kyklopischen Mauerringes und des darüberliegenden Palastes, spätmykenisch, 1400-1200 v. Chr.
Auf dem Festland hatte sich im Verlauf von fünf Jahrhunderten ein mykenisches Griechentum gebildet. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Seine um 1400 v. Chr. bereits verfeinerte Ritterkultur breitete sich rasch über ganz Griechenland aus. Die Residenz der Fürsten von Mykene gewann immer mehr an Bedeutung. »Rund um den Burghügel wurde ein monumentaler Mauerring erbaut; nach einer grandiosen Erweiterung dieser Befestigung wurde auch der alte Begräbnisplatz der Schliemannschen Schachtgräber miteinbezogen. Über den alten Grüften legte man eine hohe Aufschüttung an und errichtete auf diesem neuen Niveau die ehrwürdigen Stelen. Eingeschlossen wurde diese Gedenkstätte von dem sogenannten Plattenring. Der Zugang zur Burg und zum Plattenring führte jetzt durch das Löwentor. Auf dem Gipfel erhob sich ein stattlicher Palast mit geräumigem Megaron. An den Hängen standen zahlreiche Häuser von Rittern und Priestern. Außerhalb des Mauerringes wohnten in verschiedenen Häusergruppen vor allem Kaufleute. Auch hier gab es mehrere Kuppelgräber, meistens unter großen Erdhügeln geborgen. Deren größtes wurde später als ›Schatzhaus des Atreus‹ bezeichnet... Eine zweite Residenz, sicherlich der gleichen Dynastie wie Mykene gehörend, erhob sich zu Tiryns. Dort lagen der Hafen und die große Stadt, dort residierten die Herrscher Mykenes vermutlich während des Winters. Ebenso wie in Mykene war der Palast zu einer mächtigen Burg ausgebaut und mit allen Errungenschaften der damaligen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Befestigungskunst ausgestattet. Sein Zentrum bildete wiederum ein großes Megaron, das sich auf einen geräumigen Hof hin öffnete.« In der »Provinz« regierten die Vasallenfürsten. »Das starke Machtaufgebot, das uns die Argolis vor Augen führt, legt die Annahme nahe, daß die Könige von Mykene nicht nur über diese Landschaft herrschten, sondern darüber hinaus eine Hegemonie über weite Teile der Peloponnes, ja, zeitweise wohl über ganz Griechenland ausgeübt haben... Teils unter der Führung von Mykene, teils auf eigene Faust fuhren die Helden mit ihren Schiffen in die Ferne und gründeten feste Plätze, ließen sich als Händler nieder, verdingten sich als Streitwagenkämpfer oder lebten einfach von Seeraub und Plünderung.« (F. Schachermeyr) Die mykenische Vormachtstellung fand in der Zeit um 1200 v. Chr. ihr Ende. Im Verlauf der »Dorischen Wanderung« stießen Nordwestgriechen und Dorier nach Süden vor und überschichteten die bestehende Kultur. ¤ 16 Wagenzug und Aufmarsch der Krieger. Bildfriese auf einer attischen Deckelamphora, Ende 8. Jahrhundert v. Chr. Athen, Nationalmuseum ¤ 17 Olympia, eine der ältesten Kultstätten des Zeus und der Hera im Tal des Alpheios auf der westlichen Peloponnes Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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¤ 18 Homer. Vorderseite einer Didrachme. Gepräge von der Insel Ios mit dem Idealbildnis des Dichters, zweite Hälfte 4. Jahrhundert v. Chr. Berlin, Staatliche Museen, Münzkabinett ¤ 19 »Heilige Hochzeit« von Zeus und Hera, dem olympischen Götterpaar. Oberteil einer vollständig erhaltenen Holzschnitzerei aus dem Heraion auf Samos, 625-600 v. Chr. Athen, Nationalmuseum ¤ 20 Junger Opferträger. Ionische Bronzeplastik aus Samos, um 525 v. Chr. Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Staatliche Museen, Antikenabteilung ¤ 21 Reste des Heraions in Olympia. Blick über den um 600 v. Chr. erbauten Tempel mit der im Vordergrund stehenden Basis vom Kultbild der Hera auf die links am Hang des Kronoshügels liegende Terrasse mit den Resten der Schatzhäuser
»In dem Augenblick, da die griechische Gesellschaft der historisch bedeutsamen Gebiete sichtbar in unser Blickfeld tritt, also etwa zwei- bis dreihundert Jahre nach der Wanderung, im achten vorchristlichen Jahrhundert, war sie durch die Existenz eines ausgeprägten Adels gekennzeichnet.« (A. Heuss) Zur selben Zeit veränderte sich die wirtschaftliche Situation: das Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Handwerk nahm in einigen Gebieten einen bedeutenden Aufschwung, die Ausweitung des Handels führte aber weithin zu Preisverfall und dadurch zu Schulden und Armut bei den kleinen Bauern. Alle Macht konzentrierte sich in den Städten; sie wurden die Zentren erst einmal des wirtschaftlichen, dann auch des politischen Lebens. Das Königtum gewann nur in den Randzonen, etwa in Makedonien, dauernde Bedeutung. Der mächtig gewordene Adel schuf die Stadtstaaten, in denen sieh die griechische Kultur prächtig entfalten konnte. Die Griechen, die sich damals noch nicht als politische Einheit begriffen, fühlten sich durch die Schrift und durch die Epen Homers bald geistig verbunden. An den zunächst örtlich begrenzten kultischen Spielen, so in Olympia, in Delphoi und in Korinth, beteiligte sich bald ganz Griechenland, und das Orakel von Delphoi wurde von Griechen wie von Nichtgriechen befragt. ¤ 22 Das Stadion in Delphoi, die Stätte der panhellenischen Spiele zu Ehren des Apollon Pythios in der mittelgriechischen Landschaft Phokis ¤ 23 Weitsprung und Diskoswurf aus dem Pentathlon, dem sportlichen Fünfkampf der Griechen. Vasenbild auf einer Deckelpyxis des attischen Malers Nikosthenes, 525-510 v. Chr. Rom, Villa Giulia Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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¤ 24 Speerwurf aus dem Pentathlon, dem sportlichen Fünfkampf der Griechen. Vasenbild auf einer Deckelpyxis des attischen Malers Nikosthenes, 525-510 v. Chr. Rom, Villa Giulia
»Im siebenten Jahrhundert v. Chr. kam die Zeit einer massiven sozialen Krise herauf. Zwischen dem Adel und dem ›gemeinen Mann‹, dem ›Demos‹, entstanden Spannungen, die sich immer mehr zuspitzten und die griechische Gesellschaft, soweit sie von der Differenzierung des Adelsstaates erfaßt worden war, in einen über ein Jahrhundert dauernden Gärungszustand versetzte. Das deklassierte und enteignete Bauerntum war nicht das einzige Element dieser elementaren Spannungen. Es fand sich in der Nachbarschaft eine andere Schicht: die Tagelöhner, die während der Ernte halfen, dann aber ohne geregeltes Einkommen auf der Straße lagen. Zu ihnen stießen die Söhne von kleinen Bauern, für die auf dem Hof kein Auskommen war. Auf diese Weise hatte sich ein richtiges Proletariat gebildet.« Von hier aus führte eine Interessenverbindung zur Tyrannis. »Sie lebte davon, daß sie den Forderungen der Zeit Geltung verschaffte und ihren Geist ausdrücklich anerkannte.« Ein Stück von diesem Geist repräsentieren die Künste jener Jahrhunderte. »Schließlich zeigen die Tyrannen zum erstenmal in der griechischen Geschichte, zu welchen materiellen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Aufwendungen die öffentliche Hand‹ fähig war... So entstanden Anfang des sechsten Jahrhunderts v. Chr. auch die Isthmien in Korinth, die Nemeien in der Argolis und die Pythien in Delphoi, panhellenische Feste wie die olympischen.« (A. Heuss) ¤ 25 Bauer hinter einem von Pferden gezogenen Pflug. Boiotische Tonplastik, Ende 7. Jahrhundert v. Chr. Paris, Louvre ¤ 26 Waffenschmied bei der Arbeit an einem Helm. Korinthische (?) Bronzeplastik, Mitte 8. Jahrhundert v. Chr. New York, Metropolitan Museum of Art, Fletcher Fund, 1942 ¤ 27 Prunkhelm mit Silberbeschlägen. Korinthische Bronzearbeit aus dem archaischen Südwall des Stadions in Olympia, Ende 7. Jahrhundert v. Chr. Olympia, Archäologisches Museum ¤ 28 Bergleute bei der Arbeit in einer Tongrube. Schwarzfiguriges Bild auf einem korinthischen Tontäfelchen, 575-550 v. Chr. Berlin, Staatliche Museen, Antiken-Sammlung ¤ 29 Bemanntes Kriegsschiff. Elfenbeinrelief aus dem Heiligtum der Artemis Orthia in Sparta, Ende 7. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Jahrhundert v. Chr. Athen, Nationalmuseum Sparta, das bis etwa 800 v. Chr. die Ebene des Eurotas besetzt und überall eine streng aristokratische Verfassung geschaffen hatte, »stand mitten in der allgemeingriechischen Entwicklung, und so blieben ihm auch die Schwierigkeiten nicht unbekannt, die sich aus der sozialen Differenzierung ergaben... Die Untertanen meldeten sich von selbst zum Wort. Nicht alle. Es waren die vor zwei Generationen bekriegten Messener; sie traten in den Aufstand des Zweiten Messenischen Krieges (660-640 v. Chr.)... Die Lagerstadt Sparta ertönte von Waffengeklirr, das nicht allein um seiner selbst willen zu vernehmen war, sondern dessen düsteren Hintergrund der Ernst der Stunde bildete. Vor allem jedoch verlor die militärische Technik jetzt auch ihrerseits jeden Reiz ritterlichen Spiels: dem gefährlichen Feind konnte nicht mehr stolz mit Roß und Wagen entgegengetreten werden. Der spartanische Einzelkämpfer mußte absteigen und sich in gegliederten Haufen formieren. Die allgemeine und spezielle Notwendigkeit wies den Weg zur Phalanx.« Der Aufstand wurde niedergeschlagen, man verteilte das eroberte Land und reformierte die Verfassung. »Die spartanische Reform liegt etwa gleichzeitig mit der sehr frühen korinthischen Tyrannis und damit ein Menschenalter vor den erst in das sechste Jahrhundert Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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v. Chr. fallenden Ansätzen anderswo. Überall sonst gingen die Auseinandersetzungen weiter, meistens das ganze sechste Jahrhundert hindurch und noch länger. Sparta konnte damals all die Probleme politischer und sozialer Gärung als erledigt betrachten und sah sich durch sie nicht mehr berührt... So machte Sparta den Eindruck einer allem Werden und den damit verbundenen Gefahren entzogenen Größe und stand in der archaischen und klassischen Zeit da wie ein monolithischer Block.« (A. Heuss) Es ist nicht zuletzt von daher zu verstehen, daß sich andere, auch große Stadtstaaten in Zeiten innerer und äußerer Gefahren mit Sparta verbündeten. ¤ 30 Kampf der Götter gegen die Giganten in Hoplitenausrüstung. Aus dem Nordfries des von der reichen Stadt Siphnos in Delphoi gestifteten Schatzhauses, vor 525 v. Chr. Delphi, Museum ¤ 31 Krieger mit Helm. Bemaltes Alabastron von einem rhodischen Kernos aus Samos, 600-580 v. Chr. Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Staatliche Museen, Antikenabteilung ¤ 32 Die Landzunge von Naxos im Osten Siziliens. Blick durch die Ruinen des griechischen Theaters in Tauromenion auf die Stätte der Landnahme durch Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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griechische Siedler aus Chalkis im Jahr 734 v. Chr. ¤ 33 Die Sybille von Kyme, das Wahrzeichen der durch Kolonisten aus dem euboeischen Kyme um die Mitte des 8. Jahrhunderts v. Chr. an der kampanischen Küste gegründeten Stadt. Vorderseite eines Silbernomos. Gepräge aus Kyme, vor 420 v. Chr. Hannover, Kestner-Museum ¤ 34 Sitzstufen des griechischen Theaters in Katane, der im Jahr 728 v. Chr. von den Griechen aus Naxos als Tochterkolonie gegründeten Stadt an der Ostküste Siziliens ¤ 35 Mädchen mit Schleier. Fragment einer Marmorsäule vom archaischen Apollon-Tempel in Didyma bei Milet, der Gründungsstadt vieler griechischer Kolonien am Schwarzen Meer, um 540 v. Chr. Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Staatliche Museen, Antikenabteilung ¤ 36 Reste des Athene-Tempels auf der Akropolis von Gela, der im Jahr 688 v. Chr. im Südosten Siziliens entstandenen Gemeinschaftskolonie von Rhodos und Kreta ¤ 37 Sizilisches Tempelchen. Tonmodell aus Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Sabucina, einer von Gela aus hellenisierten Hügelstadt im Südosten Siziliens, 6. Jahrhundert v. Chr. Caltanissetta/Sizilien, Museum ¤ 38 Eine Hafenstätte bei Lilybaion im phönikischen-karthagischen Westsizilien. Blick auf den von griechischen Auswanderern oft vergebens angesteuerten Ankerplatz ¤ 39 Das Gebiet einer von deutschen Archäologen angegrabenen karthagischen Faktorei aus dem 8./7. Jahrhundert v. Chr. auf dem Cortijo de los Toscanos an der Mündung des Río Vélez im Süden der Iberischen Halbinsel und vielleicht die Stelle der von den Griechen im Verlauf ihrer Kolonisation bei Torre del Mar eingerichteten Handelsniederlassung ¤ 40 Lakedaimon, die Hauptstadt des spartanischen Kasernenstaates in der fruchtbaren, dreiseitig von Bergen umschlossenen Ebene des Eurotas im Südosten der Peloponnes. Blick auf die Ruinenstätte beim Theater. ¤ 41 Dionysos, der ursprüngliche Antipode der homerischen olympischen Götter, aber der beliebteste Zeus-Sohn in den Zeiten der Tyrannis. Vorderseite einer Drachme. Gepräge aus Naxos, 550-530 v. Chr. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Luzern, Auktion Hess-Leu 1962 ¤ 42 Harmodios und Aristogeiton, die nach einer patriotischen Legende berühmten Tyrannenmörder zur Zeit der Athener Hippias und Hipparch. Schildzeichen der Athene auf einer panathenäischen Amphora, zweite Hälfte 5. Jahrhundert v. Chr. Hildesheim, Roemer-Pelizaeus-Museum
»Die Kolonisation setzte noch in der unerschütterten Adelszeit ein. Sie erfüllte dann das ganze siebente Jahrhundert v. Chr. und war auch noch im sechsten eine wichtige Erscheinung... Anfangs haben Nahrungsmangel und Übervölkerung nicht nur dominiert, sondern sind der ausschließliche Grund dafür gewesen. Nach Lage des Einzelfalls konnten handelspolitische Gesichtspunkte vorherrschend sein. Vor allem jedoch zeichnet sich das Zeitalter der sozialen Krise in der Kolonisation ab... Hinfort waren Griechen nicht nur über die gesamte Küste der Ägäis, sondern ebenso über den Rand der Dardanellen und des MarmaraMeeres verstreut anzutreffen. Sie saßen aber auch jenseits am Schwarzen Meer wie am westlichen Mittelmeer, auf Sizilien, in Süditalien, ja auch im fernen Südfrankreich und sogar in Afrika... Es war, als ob diejenige Spielart, die von den Griechen vor allem außerhalb des griechischen Festlandes, auf den Inseln Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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und in Kleinasien, bis jetzt ausgebildet worden war, sich vervielfältigt hätte. Dort war dem Griechentum die Erfahrung der Grenze mit großer Eindringlichkeit entgegengetreten. Wer da draußen wohnte, dessen Blick wurde von selbst für das Nichtgriechische und in Rückwirkung darauf für die eigene Art geschärft.« (A. Heuss) Weder Sparta noch Athen waren wesentlich an diesem Aufbruch beteiligt. Vor allem Athen hatte sich mit der inneren Konsolidierung zu befassen. Etwa 683 v. Chr. wurde das Königtum vom Archontat abgelöst. Fünfzig Jahre später mißlang Kylon der Versuch, in Athen die Tyrannis zu errichten. Es kam zu einer Reform, und unter der Herrschaft Solons erhielt Athen eine Verfassung (594 v. Chr.). Trotzdem blieb die erhoffte Stabilisierung aus. Mit militärischen Mitteln wurde auch hier die Tyrannis begründet. Sie begann 546 v. Chr. mit Peisistratos und endete erst 510 v. Chr., als es Kleisthenes gelungen war, die Spartaner für seine Sache zu gewinnen. ¤ 43 Ein Reiter. Silberrelief auf der Wangenklappe eines Helms vom illyrischen Typ aus dem Schatz der Weihgaben in Olympia, um 530 v. Chr. Olympia, Archäologisches Museum ¤ 44 Ruinen der achaimenidischen Residenz in Persepolis. Blick vom Prozessionsweg nach Süden auf Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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die Nordtreppe der Apadana, auf den Palast des Dareios I. (rechts) und auf die im Hintergrund liegende Banketthalle des Xerxes ¤ 45 Dreisprachige Inschrift über die Ausdehnung des achaimenidischen Reiches unter Dareios I. Goldtafel aus den Fundamenten der Apadana in Persepolis, Ende 6. Jahrhundert v. Chr. Teheran, Archäologisches Museum ¤ 46 Tributträger auf dem Weg zum persischen König. Steinrelief auf den Treppenwangen vor dem Palast des Dareios I. in Persepolis, Anfang 5. Jahrhundert v. Chr.
»Die griechische Welt lag nicht außerhalb des persischen Blickfeldes. Der altorientalische Universalismus, in den die beiden großen Begründer des persischen Weltreiches, Kyros und Dareios, von selbst hineingewachsen waren und dem sie eine imposantere Verwirklichung schufen als alle ihre Vorgänger, führte zu einer Konzeption, welche der Idee nach für den persischen Herrschaftsanspruch überhaupt keine geographischen Grenzen kannte. Im Grunde hätte die ganze Welt, soweit sie damals bekannt war, dem Begriff nach als persisches Untertanenland gelten können. Wohin der Großkönig deshalb im Verlauf von Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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irgendwelchen militärischen Operationen seinen Fuß setzte, da hinterließ er die deutlichen Spuren einer dauernden Herrschaftsergreifung. So war es denn schon zwanzig Jahre vor der Niederwerfung des Ionischen Aufstands im Zusammenhang mit dem Feldzug gegen die europäischen Skythen zur Einrichtung zweier, wenn auch loser, europäischer Untertanenbezirke gekommen, dem thrakischen Balkangebiet und dem nördlichen Teil von Griechenland mit Makedonien und Thessalien.« (A. Heuss) ¤ 47 Ein Symbol für den Kampf der Griechen gegen ein im Mutterland eingefallenes kriegerisches Volk aus dem Osten: Der Triumph des Achilleus über Penthesileia. Skarabäus, Anfang 5. Jahrhundert v. Chr. Boston/Mass., Museum of Fine Arts ¤ 48 Die Ebene von Marathon in Attika, das Gebiet der Schlacht zwischen den Athenern unter Miltiades und den Persern unter Datis im Jahr 490 v. Chr. ¤ 49 Nahkampf zwischen einem Hopliten und einem leichtbewaffneten Perser. Vasenbild auf einem attischen Gefäß, um 440 v. Chr. Ferrara, Museo di Spina ¤ 50 Ein Epigramm auf die gefallenen MarathonKämpfer. Fragment einer Marmortafel in Athen, nach Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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490 v. Chr. ¤ 51 Befehl des Themistokles zur Mobilmachung der Bürger Athens und zur Evakuierung der Frauen und Kinder vor dem dritten Feldzug gegen die Perser. Eine um 330 v. Chr. entstandene Abschrift der Proklamation aus dem Jahr 480 v. Chr. Athen, Epigraphisches Museum ¤ 52 Themistokles, der Sieger in der Schlacht von Salamis. Römische Kopie des Kopfes einer 460 v. Chr. in Magnesia (?) entstandenen Bildnisstatue. Ostia, Museo Ostiense ¤ 53 »Die Perser«. Fragment einer Dichtung des Timotheos von Milet über die Schlacht von Salamis im Jahr 480 v. Chr. Papyrus aus der Zeit Alexanders d. Gr. Berlin, Staatliche Museen, Papyrus-Sammlung
Die Gegner rüsteten erneut für den Krieg, Persien unter seinem neuen König Xerxes und Athen unter seinem Archon Themistokles. Als Fortschrittler hatte er erkannt, daß die Zukunft Athens in einer starken Flotte lag, und es war ihm gegen den Widerstand der konservativen agrarischen Adelskreise, vor allem gegen ihren Führer Aristeides, gelungen, den Bau von über hundert Schiffen durchzusetzen. So konnten die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Perser den Vorteil kaum nutzen, der ihnen bei Thermopylai entstanden war, als sie Leonidas und die von ihm geführte spartanische Schar besiegt hatten und bald darauf in Athen standen. Hier »galt die nicht unberechtigte Parole, die Perser zu fassen, wo man ihrer habhaft werden konnte, und dies war glücklicherweise an Ort und Stelle der Fall, denn sie lagen vor der attischen Küste bei der Insel Salamis... Themistokles hatte den Krieg als ganzen begriffen und sollte dies im Verlauf der Kriegshandlungen mehr als einmal beweisen... Nach zwölfstündigem Kampf war die See übersät von Schiffstrümmern und Leichen. Eine geschlagene und stark dezimierte persische Flotte fand sich am Abend im attischen Hafen Phaleron ein.« (A. Heuss) Diesem Sieg von 480 v. Chr. folgte ein Dreivierteljahr später der bei Plataiai. Die Perser zogen sich zurück, das griechische Festland war frei. ¤ 54 Ein von Miltiades für Zeus Olympios gestifteter Helm. Bruchstück der einst auf dem Südwall des olympischen Stadions aufgestellten Waffengeschenke, vor 488 v. Chr. Olympia, Archäologisches Museum ¤ 55 »Stimmzettel« mit dem Namen des zu verbannenden Kimon. Ostrakon aus Athen, 461 v. Chr. Athen, Kerameikos-Museum
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¤ 56 Abstimmung. Vasenbild auf einer Schale des attischen Malers und Töpfers Duris, vor 470 v. Chr. Wien, Kunsthistorisches Museum, Antikensammlung
Die Siege der hellenischen Verbündeten über die Perser waren so ermutigend, daß man den Krieg in Kleinasien fortsetzte und die ionischen Städte befreite. Sie schlossen sich sofort Athen an; das war die Gründung des ersten Attischen Seebundes, dem Sparta nicht mehr angehörte. Die Bundesgenossen hatten Schiffe für die Fortführung des Krieges zu stellen oder entsprechende Geldbeträge für die gemeinsame Kasse zu zahlen. Aristeides, der als Gegner der Flottenbaupolitik des Themistokles ostrakisiert worden war, wurde 480 v. Chr. zurückgerufen. Er erwarb sich bei der Festlegung der von den Bundesgenossen zu tragenden Lasten den ehrenvollen Beinamen eines Gerechten. Die offensive Politik Athens gegenüber Persien hatte anfangs kaum nachhaltigen Erfolg. Erst als Perikles die uneingeschränkte Führung über Attika in seine Hände bekam, war eine Entscheidung abzusehen. Nach einem glänzenden Waffenerfolg bei Salamis auf Kypros (449 v. Chr.) mußten sich die Perser in Verhandlungen einlassen, und der Athener Kallias konnte den Frieden vermitteln. Persien erkannte die Autonomie der kleinasiatischen Griechenstädte an, Athen verzichtete auf weitere Unterstützung revolutionärer Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Erhebungen im persischen Machtbereich. Zur gleichen Zeit schwelte der Konflikt mit Sparta, den der Übertritt Megaras auf die Seite Athens ausgelöst halte, gefährlich weiter, es konnten der auf fünf Jahre geschlossene Waffenstillstand und der 446 v. Chr. erfolgte Friedensschluß über das schlechte Verhältnis zwischen den beiden Mächten nicht hinwegtäuschen. In der ersten Hälfte des fünften Jahrhunderts v. Chr. mußte mancher von der politischen Bühne abtreten, dem Athen einen entscheidenden Sieg verdankte. Miltiades, der Sieger von Marathon, wurde nach einem Mißerfolg im Krieg zu hoher Geldstrafe verurteilt. Dem Konkurrenzkampf fielen Aristeides, Themistokles und Kimon, der Sohn des Miltiades, zum Opfer; sie wurden durch ein Gesetz, das Kleisthenes zum Schutz der athenischen Verfassung und vor allem gegen die Tyrannis eingeführt hatte, ostrakisiert, d. h. mit mindestens sechstausend Stimmen auf Tonscherben des Landes verwiesen. ¤ 57 Reste eines zur Feier von Gelons Sieg über die Karthager im Jahr 480 v. Chr. errichteten Tempels in Himera an der Nordküste Siziliens
»Sizilien war die Landschaft der dichtesten griechischen Kolonisation und führte die Griechen durch die räumliche Begrenzung enger zusammen als anderswo. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Dieser Zwang wirkte sich indessen nicht im Sinne eines besonderen inneren Zusammenhalts aus, sondern erhöhte die Reibungen zwischen den einzelnen Städten.« Dem Tyrannen Hippokrates von Gela war es gelungen, seinen Herrschaftsbereich gewaltig auszudehnen, und sein Nachfolger Gelon regierte über einen noch größeren Teil der Insel. Hieron und Theron standen auf seiner Seite. Als der durch Theron vertriebene Terillos von Himera die Karthager um Hilfe anrief, kam es zum Kampf. »Die Schlacht an der Himera (480 v. Chr.) wurde zur größten karthagischen Niederlage. Für zwei Menschenalter wandte Karthago den griechischen Dingen konsequent den Rücken.« (A. Heuss) ¤ 58 Die Zeichen Himeras auf einer Münze: Die Krabbe als Symbol von Akragas und der dort und über Himera herrschender Tyrannen, der Hahn als Sinnbild des Asklepios, des Gottes der Medizin und somit der Heilquellen Himeras. Rückseite und Vorderseite einer Didrachme aus der Zeit des Tyrannen Theron, um 480 v. Chr. Hannover, Kestner-Museum ¤ 59 Perikles, der große Demokrat unter den Politikern Athens. Römische Kopie des Kopfes einer um 420 v. Chr. von Kresilas geschaffenen posthumen Bildnisstatue. Città del Vaticano, Musei Vaticani Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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¤ 60 Die Eule, der heilige Vogel der Athene, Rückseite, einer Tetradrachme. Gepräge aus Athen, 460440 v. Chr. Tübingen, Universität, Archäologisches Institut ¤ 61 Werkzeuge des Bildhauers Pheidias aus dem Schutt seines Ateliers in Olympia, um 440 v. Chr. Olympia, Archäologisches Museum
»Die politische Welt, in der Perikles stand, tat ihm nicht den Gefallen, sich von vornherein seinem Willen anzupassen und ihm durch ihre eigene Anlage ein ›natürliches‹ Fundament zu schaffen. Es ging in dieser Welt mehr auseinander, als sich zusammenfand in harmonischer Einigung, und man ist deshalb versucht zu sagen, daß sich Perikles eher trotz als kraft seines Zeitalters hielt. Das einfache historische Datum; daß Perikles nicht nur während der langen Kriegszeit, sondern ebenso in der anschließenden fünfzehnjährigen Friedenszeit der leitende Staatsmann Athens war, besitzt jedenfalls auf diesem Hintergrund den Schein des ganz Außerordentlichen. Er kommt ihm ohnehin zu, denn keine attische Politik, weder vorher noch nachher, hat etwas Vergleichbares fertiggebracht. Man müßte schon an Peisistratos denken, aber der war ja Tyrann... Unter Perikles stellte sich das Bewußtsein ein, daß Athen mit der Demokratie die ihm Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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eigentümliche politische Form gefunden habe... Unmittelbar nach Beendigung des Perserkrieges 448 v. Chr. nahm Perikles den Wiederaufbau der Akropolis in Angriff. Seit der Zerstörung durch die Perser war da noch nichts Entscheidendes geschehen. Zwischen 447 und 432 v. Chr., ziemlich genau diese ganze Friedensspanne ausfüllend, entstand nun der berühmte Parthenon, der Tempel der jungfräulichen Stadtgöttin Athene, zu dem sich von 437 v. Chr. an noch das Eingangstor zu dem Burgbezirk, die Propyläen, gesellten. Da dies nicht nur eine architektonische Leistung war, sondern auch einem regen bildhauerischen Schaffen das Arbeitsfeld bot, wurde hier Perikles zur soziologischen Prämisse für zahlreiche kunstfertige Hände, aus denen unter Leitung des Pheidias wie ein Sturzbach die ganze künstlerische Kraft des attischen Volkes hervorbrach... Perikles schien gekommen, um das Beste aus Athen herauszuholen und dessen strotzende Lebenskraft in Leistungen einschießen zu lassen.« (A. Heuss) ¤ 62 Die Westecke der Akropolis von Athen. Blick durch die Osthalle der Propyläen auf die Westfront des Parthenon ¤ 63 Griechische Phalanx im Angriff auf eine Bergfestung. Relief vom sogenannten Heroon in Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Gölbaschi, in der Gegend von Trysa in Lykien, zweite Hälfte 5. Jahrhundert v. Chr. Wien, Kunsthistorisches Museum, Antikensammlung ¤ 64 Verzeichnis der in der großen Seeschlacht gegen die Spartaner bei der Arginusen im Jahr 406 v. Chr. verschollenen Athener. Fragment einer Marmorplatte, 405 v. Chr. Athen, Epigraphisches Museum
Die Zeit des Perikles war abgelaufen. Griechenland befand sich mitten im Peloponnesischen Krieg (431404 v. Chr.). »Die Schaukelpolitik von Tissaphernes und Alkibiades war das retardierende Moment der letzten Kriegsphase, welches die definitive Niederlage Athens immer wieder hinausschob. Sie selbst war eine ausgemachte Sache, denn daß Athen nach dem zahlreichen Abfall der Bündner und nach dem persischen Eingreifen den unversehrten Bestand seines Reiches durch alle Schwierigkeiten hindurch retten würde, war ein Ding der Unmöglichkeit.« (A. Heuss) ¤ 65 Spartanischer Bronzeschild, eine Trophäe der Athener aus den Kämpfen um Pylos im Jahr 424 v. Chr. Athen, Agora-Museum ¤ 66 Verkaufsangebot des beschlagnahmten Eigentums eines während der inneren Wirren zur Zeit des Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Alkibiades in Ungnade gefallenen Atheners. Fragment einer Steintafel aus Athen, um 414 v. Chr. Athen, Agora-Museum Alkibiades, der Athen veranlaßt hatte, der sizilianischen Stadt Segesta Hilfe gegen Syrakus und Selinus zu leisten, der Mann, der nach Sparta geflohen war, weil er sich in Athen wegen angeblichen Religionsfrevels verantworten sollte, und der ab sofort gegen Athen arbeitete, indem er Sparta veranlaßte, in Attika einzufallen, und mit den Persern verhandelte, Sparta zu helfen – dieser Alkibiades wurde 411 v. Chr. von den Athenern zum Strategen gewählt. Im Dienst dieser Stadt, für die er schon einmal eingetreten war, errang er mehrere militärische Erfolge. Aber die Athener hatten ihn bereits wieder abgewählt, als sie die größte Seeschlacht, die sich Griechen je geliefert haben, gewannen. »Unter dem Eindruck der Schlacht bei den Arginusen in der Nähe von Lesbos ließ sich Sparta abermals zu einem Friedensangebot herab.« Es wurde jedoch abgewiesen. Nun gab Sparta keine Ruhe. Der spartanische Feldherr Lysandros, dem persische Unterstützung schon lange gewährt wurde, schloß Athen zu Lande und zur See völlig ein. Athen mußte die Festung des Peiraieus und die Langen Mauern zwischen der Stadt und diesem Hafen schleifen. Die Bürger mußten die Hegemonie Spartas Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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anerkennen und der Abschaffung der Demokratie zustimmen. Die oligarchischen Kreise hatten gewonnen. »Der Umsturz fiel mit einem moralisch-politischen Tiefstand zusammen, der kaum noch zu überbieten war... Die Hinrichtungsbehörde, die ›Elf‹, kam aus der Arbeit nicht heraus. In verhältnismäßig kurzer Zeit brachte sie es auf fünfzehnhundert Opfer. Aus bloßem Raubinstinkt, zur Bereicherung dieser Clique und gar nicht aus politischen Motiven, wurden massenweise Konfiskationen vorgenommen. Wer klug war, suchte von vornherein das Weite. In Scharen flüchteten die Bedrohten aus der Stadt auf das Land oder ins Ausland. Diese Evakuierung auf kaltem Wege schien System zu haben.« (A. Heuss) Die Schwäche Athens ermunterte die Karthager zu neuen Unternehmungen auf Sizilien, so daß der Tyrann Dionysios I. gewaltig rüsten mußte. Seine Siege brachten keinen wirklichen Erfolg. ¤ 67 Lakedaimoniergrab auf dem Staatsfriedhof im Kerameikos am Nordwestrand des alten Athen. Reste des Grabmals für die in den politischen Kämpfen am Ende des Peloponnesischen Krieges gefallenen spartanischen Offiziere ¤ 68 Reste der Befestigungen zwischen Athen und seinem Hafen Peiraieus. Ein Teil des etwa zehn Jahre Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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nach der Kapitulation Athens (404 v. Chr.) erneuerten Schutzwalls ¤ 69 Ruinen des Forts Euryalos bei Syrakus. Blick von der Südwestecke des inneren Grabens auf die Türme der großen Batterie, um 400 v. Chr. ¤ 70 Der karthagische Stützpunkt Motye an der Westspitze Siziliens mit einem bereits im 6. Jahrhundert v. Chr. gebauten Kanal vom Meer zu einem künstlichen Hafenbecken ¤ 71 Die Agora von Athen. Blick über die Nordwestecke des »Staatsmarktes« auf den kurz nach 450 v. Chr. errichteten Hephaistos-Tempel ¤ 72 Die Bühne der politischen Redner auf der Pnyx, dem großen Versammlungsplatz im Südwesten Athens, 4. Jahrhundert v. Chr.
Das Athen des vierten vorchristlichen Jahrhunderts zeigt, daß es wohl politisch tief gestürzt war, aber seine Gestaltungskraft nicht eingebüßt hatte. ¤ 73 Das Theater in Delphoi. Blick über die Zuschauertribüne auf die Orchestra des 4. Jahrhunderts v. Chr., auf die Reste des etwa gleichzeitig erneuerten Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Apollon-Tempels und auf das Schatzhaus der Athener aus dem Anfang des 5. Jahrhunderts v. Chr. ¤ 74 Schauspiel während der Aufführung einer Tragödie. Fragment eines tarentinischen Kelchkraters, vor 350 v. Chr. Würzburg, Martin-von-Wagner-Museum ¤ 75 Liste der siegreichen Komödiendichter des 5. Jahrhunderts v. Chr. Fragment einer Marmortafel aus hellenischer Zeit, um 279 v. Chr. Athen, Epigraphisches Museum
»Hellas war durch den Peloponnesischen Krieg in seiner Lebenskraft weder getroffen noch irgendwie gekürzt. Die Menschenverluste, die der Krieg mit sich gebracht und vor allein Athen erlitten hatte – zumeist durch die Pest –, hielten doch das Wachstum der griechischen Bevölkerung nicht auf. Das Land erlebte einen zivilisatorischen Aufschwung. Die Menschen wurden reicher und leisteten sich größeren Luxus als vorher. Die bis dahin sehr einfach gehaltenen Privathäuser gewannen durch großen Aufwand einen gewissen Glanz. Das plastische Talent der Griechen fand nicht weniger als vorher die wirtschaftlichen Voraussetzungen zu seiner Entfaltung. Skopas, Praxiteles und Lysippos, jeder mit seiner Schule, schufen ihre Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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zahlreichen Werke.« (A. Heuss) Die medizinische Wissenschaft fand ihren ersten großen Vertreter in Hippokrates von Kos, und in der Philosophie dominierten die Schüler des Sokrates; Platon verfaßte seine Schriften und gründete die Akademie. Die Theater wurden erweitert, damit sie den breiteren Strom der Besucher auffangen konnten. Man brachte vor allem die klassischen Tragödien auf die Bühne, wohl weil es nach dem Tod des Sophokles und des Euripides an guten Stücken fehlte. Auch die »Sieben gegen Theben«, ein Werk, das Aischylos 467 v. Chr. geschrieben halte, waren wieder zu sehen. Der Komödie hingegen flossen neue Stoffe zu: das Gesellschaftsdrama kam auf und gab ihr einen zweiten Höhepunkt. ¤ 76 Goldene Amphora mit einer friesartigen Darstellung des Kampfes der Sieben gegen Theben. Unter griechischen Einfluß entstandene tarentinische Arbeit. Aus dem Schatz von Panagjurischte in Bulgarien, Ende 4. Jahrhundert v. Chr. Plovdiv, Archäologisches Museum ¤ 77 Goldene Amphora mit einer friesartigen Darstellung des Kampfes der Sieben gegen Theben. Unter griechischen Einfluß entstandene tarentinische Arbeit. Aus dem Schatz von Panagjurischte in Bulgarien, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Ende 4. Jahrhundert v. Chr. Plovdiv, Archäologisches Museum ¤ 78 Tempelruinen auf Samothrake, dem Heiligtum der Großen Götter in der nördlichen Ägäis. Blick nach Nordosten über den Altarhof im Zentrum der Mysterienstätte
Unberührt von den unsteten Bündnissystemen, in denen sich Athen bald als Freund, bald als Gegner Spartas und Ioniens erkannte und durch die sich fast jeder einmal gezwungen sah, gegen den alten Kampfgenossen zu Felde zu ziehen, meldete sich Makedonien als Macht zum Wort. »Und Makedonien«, das zur Zeit der Kapitulation Athens von Archelaos, in den Jahren, in denen der Versuch einer thebanischen Hegemonie scheiterte, von Perdikkas III. und ab 359 v. Chr. dreiundzwanzig Jahre lang von Philippos II. regiert wurde, bevor der berühmte Alexander den Thron bestieg – dieses Makedonien »wurde nicht wie alle anderen wieder herabgeschleudert, sondern behauptete sich.« (A. Heuss) Philippos war es gelungen, seine Macht auf Obermakedonien und auf die Halbinsel Chalkidike auszudehnen und seinen Einfluß in Thessalien zu vergrößern; 342 v. Chr. wurde er Archon auf Lebensdauer. Seinen Schwiegersohn Alexander setzte er in Epeiros Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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ein. Als er sich in die attische Sache auf Euboia einmischte, wurde Athen verärgert; es gründete schnell den Hellenenbund, der jedoch nichts wesentliches gegen den mächtig gewordenen Makedonier auszurichten vermochte. Philippos schuf die Korinthische Liga, außerdem nahm er sich vor, den Kampf gegen das zu seinem Nachbarn gewordene Persien aufzunehmen. Auf dem Höhepunkt seiner Expansionspolitik stehend, wurde er abberufen: im Mai oder Juni des Jahres 336 v. Chr. fällte ihn der Dolch des Mörders. Der neue König, Alexander der Große, widmete sich sofort der Aufgabe, die ihm durch seinen Vater gestellt war. Von Pella aus zog das Heer nach Kleinasien. ¤ 79 Pella, die Nachfolgerin der makedonischen Königsstadt Aigai und die Garnison der Elitetruppen Alexanders des Großen. Blick auf die Ruinen aus frühhellenischer Zeit ¤ 80 Flüchtlingsgut der Einwohner Samareias aus ihrem Exil am Toten Meer: Persischer Papyrosrolle mit sieben Siegeln und dem Datum vom 18. März 335 v. Chr. (In der Wiedergabe geteilt). Jerusalem, Palestine Archaeological Museum ¤ 81 Zufluchtsort der Samareier in einer engen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Schlucht am Toten Meer und zugleich die Stätte ihrer Vernichtung durch die Feuer eines makedonischen Verfolgungstrupps ¤ 82 Krieger eines Stammes im nördlichen Schwarzmeergebiet beim Reiterkampf. Griff eines vollständig erhaltenen, unter griechischem Einfluß entstandenen Goldkammes, 4. Jahrhundert v. Chr. Fund aus Südrußland. Leningrad, Ermitage ¤ 83 Alexander der Große. Hellenistische Kopie des Kopfes einer zu Lebzeiten des Makedoniers entstandenen Bildnisstatue. Marmorskulptur aus Pergamon. Istanbul, Archäologisches Museum
Nach dem Übergang über den Hellespont schlug Alexander die persischen Satrapen am Granikos und befreite anschließend die Griechenstädte. Nach seinem Marsch durch Kleinasien wandte er sich gegen Dareios III., der ihm bei Issos unterlag. Nun war der Weg nach Syrien frei. Die Küstenbewohner flohen vor den Kolonnen des Alexander-Heeres, aber sie wurden bis ans Tote Meer verfolgt. Alexander zog weiter nach Süden, machte einen Abstecher nach Ägypten und wandte sich nach seiner Rückkehr in die Lagerstadt Tyros in Richtung Euphrat und Tigris. Nachdem er Mesopotamien durchquert und Dareios Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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bei Gaugamela entscheidend geschlagen hatte, eroberte er ganz Persien. Seine Truppen stießen bis nach Indien vor. Überall wurden Stationen errichtet; Ora im Norden Pakistans war nur eine von vielen. Im Jahr 325 v. Chr. rebellierte das zu stark beanspruchte Heer; es zwang den großen Eroberer zum Rückzug. Auf seinem Weg nach Babylon schmiedete er bereits neue Feldzugspläne, aber er konnte sie nicht mehr realisieren. »Alexander hatte eine einzigartige Stellung eingenommen, die kein anderer hätte antreten können. Sie beruhte in der Hauptsache auf seinen ununterbrochenen überwältigenden Kriegserfolgen, daneben aber auch auf seinem Talent der Menschenbehandlung, seinem Mißtrauen, seiner Rücksichtslosigkeit und der Faszination, die von ihm ausging. Das Instrument seines Erfolges war das makedonische Heer zu Fuß und zu Pferde mitsamt den aus Thrakien stammenden Hilfstruppen, die er fast immer persönlich anführte: den Agrianern, den Bogenschützen und den Speerwerfern. Nur in drei Fällen erlaubte er anderen, den Befehl über diese Truppen auszuüben: davon ist Ptolemaios' angebliches Kommando an der Persischen Pforte wahrscheinlich dessen eigene Erfindung; kurze Zeit unterstanden diese Truppen 327 v. Chr. Krateros und 325 v. Chr. Leonnatos, und dabei muß es sich um außergewöhnliche Situationen gehandelt haben,« (C. B. Welles) Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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¤ 84 Ruinen der Festung Ora im Reich der Oreiten in Nordpakistan. Blick auf das im 6. Jahrhundert v. Chr. errichtete und von den Kolonnen unter Alexander, Ptolemaios und Leonnatos im Jahr 325 v. Chr. verwüstete Bollwerk ¤ 85 Vornehme Ägypterin. Silberstatuette, vor 300 v. Chr. New York, Metropolitan Museum of Art, Theodore M. Davis Collection ¤ 86 Ptolemaios I. Soter bei kultischen Zeremonien für den ägyptischen Gott Horus. Bemaltes Kalksteinrelief aus einer Kapelle des Königs in Mittelägypten, um 300 v. Chr. Hildesheim, Roemer-Pelizaeus-Museum
Nach dem Tod Alexanders des Großen begannen die Auseinandersetzungen unter seinen Feldherren. Die sogenannten Diadochen-Kämpfe erreichten ihren Höhepunkt, als man die leiblichen Erben Alexanders beiseite geschafft wußte und hinfort seinen eigenen Interessen folgen konnte. Seleukos im oberen Asien, Ptolemaios in Ägypten, Lysimachos in Thrakien und Kassandros in Makedonien nahmen die Königstitel an und stellten sich damit gegen Antigonos, der für die Zentralgewalt eingetreten war. Demetrios, der Sohn des Antigonos, vermochte noch einmal, Athen und Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Makedonien zusammenzubringen, mußte aber den Versuch der Erneuerung einer Reichseinheit in Seleukos' Gefangenschaft aufgeben. Die Dynastie der Seleukiden machte sich zum Herrn von Mesopotamien, Persien und Kleinasien. Sie konnte dieses große Gebiet jedoch nicht behaupten, so daß es schließlich in unabhängige Herrschaftsbereiche zerfiel. Ein Hauptgegner der Seleukiden waren die Ptolemaier; denn beide Dynastien machten den Besitz von Syrien und Palästina geltend. Auf die Dauer gesehen, zog Ägypten den kürzeren. Es mußte sich mit seiner Macht im eigenen Land begnügen. Dort wurde sie durch innere Kämpfe genug geschwächt. »In Griechenland kämpften traditionsgemäß weiterhin alle gegen alle. Wie üblich verschoben sich die Bündnisse; wie üblich gab es interne Parteizwistigkeiten, die sich auch nach außen hin auswirkten. Aber die Schrecken der Kriege wurden weitgehend dadurch gemildert, daß sie von größeren und weniger zahlreichen Staaten ausgefochten wurden. Die einzelnen Städte wurden entweder von anderen Mächten – wie Athen und Korinth von Makedonien direkt beherrscht, oder sie bewahrten – wie Elis, Sikyon, Argos und Megalopolis ihre Unabhängigkeit unter einem Tyrannenregiment, das in der Regel zu Makedonien hielt und von Makedonien gestützt wurde... Das wichtigste und neuartigste Kennzeichen der Epoche war das Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Erstarken der beiden großen Staatenbünde: die Aitolische und die Achaiische Liga.« (G. B. Welles) Die Aitolier fanden sich in der Abwehr der gallischen Stämme zusammen, die Achaier im Kampf gegen die Spartaner. ¤ Aufforderung des Königs Ptolemaios II. Philadelphos zur Meldung des Vieh- und Sklavenbesitzes in Syrien und Phönikien aus dem Jahr 262 v. Chr. Wien, österreichische Nationalbibliothek, Papyrussammlung Zahlreiche Papyri geben ein genaues Bild von der Wirtschaftspolitik der Ptolemäer in Ägypten, doch über die Lage in den anderen hellenistischen Gebieten unterrichten nur dürftige Quellen. Um so sensationeller ist der hier facsimilierte Papyrus, der Teil eines umfangreicheren Gesetzes war. Dieser Erlaß wurde in Ägypten in mehreren Exemplaren hergestellt; auf der Rückseite sind noch Buchstabenabdrücke einer zweiten Ausfertigung zu erkennen. Die vielen im Erlaß herangezogenen Verordnungen zeigen anschaulich, wie intensiv sich der hellenistische Herrscher der Neuordnung der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse widmete, die in Syrien und Phönikien – und dazu gehörte auch Palästina – durch Kriege und Besitzwechsel zerrüttet waren. Später haben die Seleukiden die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Finanzorganisation in diesen Gebieten belassen, wie sie von den Ptolemäern eingerichtet worden war. Auch die Römer zur Zeit Christi haben an dem Überkommenen kaum etwas geändert. Wie in Ägypten wurde ein doppeltes System der Steuererfassung eingeführt, das Selbstveranlagung und Kontrolle miteinander verband. In dem in »Hyparchien« eingeteilten Land – die Hyparchien entsprechen anscheinend den persischen Satrapien – lag die Verwaltung in den Händen von »Ökonomen«, den oberen Finanz- und Wirtschaftsbeamten, die wohl aus Ägypten abgeordnet wurden. Ihnen unterstellt waren die »Komarchen«, die Dorfmeister. Doch wurde die Steuererhebung gern an wohlhabende Bauern verpachtet, weil auf diese Weise die reiche Bevölkerung für die Einkünfte des Königs verantwortlich gemacht werden konnte. Ihre Stellung in der Bevölkerung ist uns von den »Zöllnern« des Neuen Testaments her bekannt. Der vorliegende Erlaß aus dem Herbst 262 v. Chr., der im Frühjahr 261 v. Chr. wirksam wurde, verlangt eine vollständige Deklaration des Viehbesitzes. Vielleicht beabsichtigte die Verwaltung, auch statistisches Material über die Wirtschaftsstruktur zu erhalten. Steuerfrei waren wohl die für den eigenen Verbrauch und nicht für den Markt Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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gehaltenen Tiere. In der zweiten, besser erhaltenen Verordnung handelt es sich um das Bemühen des ägyptischen Königs, die Sklaverei wenigstens einzudämmen und in rechtlichen Bahnen zu halten. Die Menschen, die bei Razzien oder durch Schulden in Sklaverei gefallen waren, sollten wieder ihre Freiheit erhalten. Darüber hinaus ging es Ptolemaios wohl um einen grundsätzlichen Schutz der Bauern und Handwerker vor der Sklaverei; denn der König, der auf seinen Domänen in Ägypten und Syrien Hörige arbeiten ließ, hatte kein Interesse an verkäuflichen Sklaven. In solchen Absichten unterschied sich das Reich der Ptolemäer wesentlich von den anderen hellenistischen Staaten. Es fehlte jedoch die Konsequenz, und der Erfolg blieb aus; schließlich verzichtete auch Ptolemaios II. nicht darauf, gegebenenfalls Schuldner zu Sklaven zu machen und einen legalen staatlichen Sklavenmarkt zuzulassen. Spätere Gesetze gegen den Sklavenhandel in Ägypten zeigen, daß die Kraft der Gesetze nicht ausreichte, die Freiheit der wirtschaftlich Schwachen zu schützen. [Im Original stehen für etos, das Jahr, dragmê, die Drachme, und die Zahl 6000 die entsprechenden Symbole; hier durch * gekennzeichnet.]
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[Transkription] Spalte A: ........].. tai pros ton en [he]kastêi hyparcheiai [oiko]nomon ton apes]talmenon en hême[r]ais x aph' hês an hêm[e]ras to prostagm]a ektethêi tên t[e hy]p[o]telê kai tên [a]telê leian]osa .[.......]kae [.... s]ymbola lambanein. Ean d]e tine[s mê poiô]sin [kathoti] progegraptai tês te l]eias ste[rêthêsontai kai enochoi] esontai tois ek tou diag]rammat[os epitimois .... a]n tês leias anap[o]graphos hê]i mechri [tou to prostagma ek]tethêna[i] tôm men [e]panô e]tôn a[polythêsontai (?) ......]. ennomiou kai [...]anou kai tôn l.[... epit]imôn. A[po de tou e]k *etos tel[esmata] ta ginom[ena kata] kômas e .[.... ôsa]n hoi Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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edido[san.. n t[.]s tou [.......] ateleia [...... a]pographô[..... toutois an[....eis a]lla onom[ata tas a]pographas [..... ..]tai, p[eri d' au]tôn ho bas[ileus dia]gnôsetai, [ta de] hy]parchon[ta autôn a]nalêmphth[êsetai. Hom]oiôs de [hosoi es]ontai beb[aiôtêres t]ên apog[raphên poi]êsôntai [....esôntai s[y]nistorou[nt]es. Apographesthai de kai t[ous] memisthômenous tas k[ôm]as ka[i] tous kômarchas en t[ôi] autôi chronôi t[ên] hyparch[ousan en] tais kômais leian hypotelê kai atelê kai hôn [est]i patrothen kai patridos kai di' hôn nemetai, homoiôs d[e k]ai hosên an eidôain anapographon kai hyparchousan eis D[y]stro[n] tou ek *etos kata cheirographian horkou basilikou. Poiêsontai de kai kat' eniauton tas apographas en tois autois chronois kai ta ginomena taxontai kathoti para epistolêi Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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en têi tou basileôs diasesaphêtai en tois kathêkousin meisin kata [t]o diagramma. Ean de tines mê poiôsin ti tôn progegr[a]mmenôn tois auto[i]s ep[i]timois enochoi [es]ontai hois kai hoi apograpsamenoi tên [idi]an leian eis alla o8n]omata. Mênyei[n] de ton boulomenon kai lêpsetai tôm men kata to diagramma prassomenôn epitimôn kath[o]ti en tôi diagrammati diêgoreutai, tôn de analambanomenôn ousiôn eis to basilikon to triton meros. Basileôs prostaxantos; ei tines tôn kata Syrian kai Phoi[nikên] hagorakasin sôma laik[o]n eleutheron ê exenenkasin k]ai katesch[ê]kasin ê kat' allon tropon kek[tê-] ntai .....].. ai ...[.]isôma[...].. tis a . tôn .[.. ]pro[s ton oikon]omon ton e[n hekastêi]
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Spalte B: hyparcheiai kathestêkota aph' hês an hêmera[s] to prostagma ektethêi k. Ean de tis mê apograpsêtai ê anagagêi tou te sômatos sterêthêsetai kai proseisprachthêsetai eis to basilikon hekastou sômatos *dragmê *6000 kai ho basileus peri autou diagnôsetai. Tôi de mênysanti dothêsonhe[ka]s a ta[i to]y sômatos *dragmê [.]. Ean de tin[[es]] t[ô]n sômatôn t[ôn a]pographent[ôn] kai anachthentô[n e]pideiknyôsin êgora]kotes onta oiketika apodidostha[i] autois. Tôn de e]n tais basilikais aparteiais pepramenôn sôkyrias einai mat]ôn ean tina phaskêi el[e]ythera einai tas ktêseis] tois eônêmenois. Tôn de strateuomenôn kai tôn allôn tôn katoikountôn en Syriai kai Phoinikêi hosoi synoikousin gynaixi laikais [has] aneilêphasin mê apographesthôsan. Kai eis [to]loip[on] de mêdeni exestô agoraze[in] mêDigitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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de [hy]poti[the]sthai sômata laika heleuthera pareuresei mêd[e]miai, plên tôn hypo tou dioikountos tas kata Syrian kai Phoinikên prosodous en prosbolêi did[o]menôn, hôn hê praxis kathêkei kai ek tou sômatos ginesthai, kathoti en tôi nomôi tôi epi tês misthôseôs gegraptai. Ei de mê tois autois epitimois enochoi esontai, homoiôs de kai hoi a[p]odomenoi kai hoi hypothentes. Tois de pr[o]sangeilasi dothêsetai ek tôn prachthêsomenôn hekastou s[ôm]atos *dragmê t Übersetzung (...Die Meldung ist zu erstatten) in jeder Hyparchie an den abgesandten Wirtschaftsverwalter, binnen 60 Tagen – von dem Tage an gerechnet, an dem der Erlaß ausgehängt worden ist – und zwar in bezug auf den steuerpflichtigen wie den steuerfreien Herdenbesitz... sie sollen darüber Bestätigungen erhalten. Wenn jemand das nicht durchführt, wie es vorgeschrieben ist, so soll er der Herde verlustig gehen und die in der Vorschrift vorgesehenen Strafgelder zahlen müssen. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Wenn bis zum Aushang dieses Erlasses ein Herdenbesitz nicht gemeldet worden ist, so sollen dem Besitzer für die vergangenen Jahre die Abgaben, wie Weideabgabe und... und... erlassen werden. Aber vom 35. Jahre an sollen die in den Dörfern fälligen Steuern gezahlt werden.... (Wenn aber Leute) auf andere Namen die Meldungen (vornehmen),... bei denen wird der König entscheiden; deren Vermögen aber wird eingezogen werden. Ebenso sollen alle, die Gewährgeber (Bürgen) sind, die Meldung vornehmen... (sowie diejenigen,) die Zeugen bei der Erwerbung sind. Aber auch diejenigen, die die Steuererhebung dorfweise gepachtet haben, und die Dorfmeister sollen zur selben Zeit den in den Dörfern vorhandenen steuerpflichtigen und steuerfreien Herdenbesitz melden, mit Angabe des Vaternamens und des Heimatortes (des Eigentümers) und derer, von denen die Herde gehütet wird; wenn sie aber erfahren, daß eine Herde nicht gemeldet aber vorhanden ist, so sollen sie sie bis zum Dystros des 25. Jahres unter königlichem Schrifteid anzeigen. Sie sollen die Meldungen jährlich zur selben Zeit vornehmen und die auf sie entfallenden Beträge zahlen, wie es in dem Brief des Königs vorgeschrieben ist, in den nach dem Erlaß bestimmten Monaten. Wenn aber irgend jemand eine von Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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diesen Vorschriften nicht durchführt, so soll er die gleichen Strafgelder zu zahlen schuldig sein, wie diejenigen, die ihre Herde auf andere Namen gemeldet haben. Wer will, mag (solches) anzeigen, und er soll von den laut Erlaß eingetriebenen Strafgeldern soviel erhalten, wie im Erlaß vorgeschrieben ist, von den für das Konigsgut beschlagnahmten Vermögen aber (soll er) ein Drittel (erhalten). Auf Befehl des Königs: Wenn Leute, die in Syrien und Phönikien wohnen, einen einheimischen freien Arbeiter gekauft oder geraubt oder (als Pfand) zurückgehalten haben oder auf andere Weise besitzen, (so sollen sie ihn melden und vorführen vor den in jeder Hyparchie zuständigen) Wirtschaftsverwalter, binnen 20 Tagen, nachdem der Erlaß ausgehängt worden ist. Wenn jemand die Meldung oder Vorführung nicht durchführt, so soll er dieses Menschen verlustig gehen und soll auch noch als Strafe an die königliche Kasse pro Kopf 6000 Drachmen zahlen, und der König wird über ihn entscheiden. Dem Anzeiger aber sollen pro Kopf ... Drachmen gegeben werden. Wenn sie aber nachweisen, daß sie irgendwelche der gemeldeten und vorgeführten Menschen als (Haus-?)Sklaven gekauft haben, so sollen sie ihnen zurückgegeben werden. Was aber die in Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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den königlichen Versteigerungen veräußerten Menschen angeht, so sollen – auch wenn welche behaupten, sie seien frei – die Eigentumsrechte zu Recht bestehen. In bezug auf die Truppen in den Garnisonen und die übrigen der Militärsiedler in Syrien und Phönikien, die mit einheimischen Frauen zusammenleben und sie zu sich genommen haben, wird bestimmt, daß sie diese nicht melden müssen. Und auch in Zukunft soll es niemandem gestattet sein, einheimische freie Arbeiter unter irgendwelchem Vorwand zu kaufen oder sich als Pfand geben zu lassen; ausgenommen sind lediglich die von dem Verwalter der Einkünfte in Syrien und Phönikien bei dem Zwangsversteigerungsverfahren Hingegebenen, gegen die ihm auch die Gewalt über ihre Person zukommen kann, wie in dem Gesetz über Landpacht geschrieben steht. Falls sie diesen Vorschriften zuwiderhandeln, sollen sie derselben Strafgelder schuldig sein, genauso wie die Verkäufer und die Verpfänder. Dem Anzeiger sollen pro Kopf 300 Drachmen aus den eingetriebenen Geldern gegeben werden. ¤ 87 Demetrios I. Poliorketes. Vorderseite einer Tetradrachme mit dem Bildnis des Königs von Makedonien und Phrygien. Gepräge aus Amphipolis in Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Ostmakedonien, um 289 v. Chr. Hannover, KestnerMuseum ¤ 88 Antiochos III. (der Große). Vorderseite einer Tetradrachme mit dem Bildnis des Königs von Syrien. Gepräge aus Tyros in Phönikien, vor 200 v. Chr. Luzern, Auktion Hess-Leu 1962 ¤ 89 Perseus von Makedonien. Vorderseite einer Tetradrachme mit dem Bildnis des Königs. Gepräge aus Amphipolis (?), vor 168 v. Chr. Luzern, Auktion Hess-Leu 1962 ¤ 90 Mithridates VI. Eupator. Vorderseite einer Tetradrachme mit dem Bildnis des Königs von Pontos, 90/89 v. Chr. Hannover, Kestner-Museum
Der griechische Westen, der nicht unmittelbar in den Machtbereich Alexanders gehört hatte, wurde in der folgenden Zeit in die römisch-italische Wehrgemeinschaft einbezogen. Die Tyrannen Siziliens in der Nachfolge des Dionysios I. befanden sich mehr denn je in einer verworrenen politischen Situation: sie hielten zu den Karthagern und hatten diese im nächsten Augenblick zum erbitterten Feind. Ebenso schwankend waren sie in ihrem Verhältnis zu den im Osten und auf dem griechischen Festland, dort und von dort Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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aus herrschenden Männern. ¤ 91 Herakles im Kampf mit der Hydra. Ein Symbol für den Krieg der unteritalischen Bündner gegen den Tyrannen Dionysos I. von Syrakus. Rückseite eines Silbernomos. Gepräge aus Kroton/Süditalien, um 390 v. Chr. Hannover, Kestner-Museum ¤ 92 Militärgeld der Karthager. Rückseite einer Tetradrachme. Gepräge aus dem karthagisch besetzten Teil Siziliens, 380-350 v. Chr. Hannover, KestnerMuseum ¤ 93 Nike beim Errichten eines Siegerdenkmals. Ein Symbol für den Triumph des Tyrannen Agathokles von Syrakus über die Karthager im Jahr 310 v. Chr. Rückseite einer Tetradrachme. Gepräge aus Syrakus, nach 310 v. Chr. Hannover, Kestner-Museum ¤ 94 Das Wahrzeichen des Aitolischen Bundes. Rückseite einer Tetradrachme. Gepräge aus Aitolien nach dem Sieg der Liga über die gallischen Stämme im Jahr 279 v. Chr. Hannover, Kestner-Museum ¤ 95 Reiter im Kampf mit einem Fußsoldaten. Fragment einer Skulpturengruppe von einem Grabmal in Taras/Süditalien, Mitte (?) 2. Jahrhundert v. Chr. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Tarent, Museo Nazionale »Die hellenistische Welt, wie sie die Eroberungen Alexanders des Großen geschaffen hatten, war der Schauplatz des Zusammen- und Aufeinanderwirkens verschiedener Völker und Kulturen. Wenn sich das Endprodukt auch nicht vor dem Römischen Reich herausbildete, ja auch dann noch unvollkommen blieb, so war doch die Richtung, die der Prozeß nahm, schon unverkennbar: er brachte nach und nach eine homogene Bevölkerung hervor, die Griechisch sprach oder wenigstens verstand und an einer gemeinsamen Kultur teilhatte. Diese Kultur sollte nicht nur von Griechenland oder vom Orient ererbte Züge und Institutionen, sondern auch neue Elemente umfassen, die sich in ihrem eigenen Rahmen entwickelten und den Bedürfnissen ihres Wirkungsbereichs und des in ihm lebenden Volkes entsprachen... Der Prozeß der sozialen und kulturellen Begegnung und Berührung vollzog sich auf verschiedene Weise. Am offensichtlichsten und am weitesten bekannt war der kontinuierliche Auswandererstrom, der Griechen und hellenisierte Makedonier aus dem griechischen Mutterland und aus den Küstenstädten Thrakiens und Kleinasiens in die neuen Königreiche Asiens und Ägyptens und zu einer späteren Zeit auf nicht unähnliche Weise nach Italien brachte. Sie emigrierten in den Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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verschiedensten beruflichen Funktionen: als Soldaten, Beamte, Techniker, Schriftsteller, Künstler, Geschäftsleute. Manche von ihnen gelangten an die Höfe der Könige oder Satrapen, als Protegés der Großen oder selbst schon als Große. Manche wurden zu ständigen Angehörigen der neuen stehenden Heere – sei es im Frontdienst, sei es in besonderen Militärsiedlungen – oder verdingten sich als Söldner auf Zeit. Viele siedelten sich in den neugegründeten Städten der Seleukiden oder in den Dörfern Ägyptens an. Viele wurden reich, und manche blieben in den bescheidenen Lebensverhältnissen von Tagelöhnern oder Hausbediensteten. Sie alle aber waren in diesem oder jenem Maße Träger der griechischen Sprache und der griechischen Kultur, und sie alle lernten mancherlei von ihrer neuen Umgebung... Schon in früheren Zeiten hatte der Osten, hatte besonders Griechenland einen beträchtlichen Einfluß auf Rom und Italien ausgeübt: teils direkt, teils über die griechischen Städte Siziliens und Südilaliens, teils über die Etrusker. Nun kam das neue Phänomen, der sozusagen hellenistische Hellenismus mit seinen vielfältigen Einwirkungen. Nachweisbar beeinflußten griechische Ideen und Vorbilder die Literatur, die Religion, das Recht Roms.« (C. B. Welles)
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V. Rom und die römische Welt ¤ 0 Karte [Fundorte und historische Stätten] ¤ 1 Etruskische Familie. Wandgemälde in ihrer Tomba, dem sogenannten Grab des Baron Kestner, in der Nekropole der südetruskischen Stadt Tarquinii, 510-500 v. Chr.
»Rom war zunächst einmal eine Stadt, und zwar nur eine Stadt. Städte gab es aber auch in Griechenland und vor allem in dem weiten Bereich des kolonialen Griechentums, mit dem auch Italien in seinen wichtigen südlichen Küstenpartien urbanisiert war; städtisches Wesen trug die phönikische Kolonisation in den Westen des Mittelmeeres; das südliche Spanien kannte ein einheimisches, mediterranes Städtetum, und städtisch organisiert waren auch die Etrusker.« (A. Heuss) »Mit dieser Form des Zusammenlebens waren sie allen anderen Völkern Italiens weit voraus. Allerdings brachten sie es ebensowenig wie die Griechen der Zeit zu einer starken, alle Städte einschließenden Organisation. Es gab zwar einen Bund etruskischer Städte mit einem Beamten an der Spitze, dem später zwölf Städte angehörten. Die Mitgliederzahl richtete Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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sich wahrscheinlich nach dein Grad an Einfluß und Macht der einzelnen Städte. Politische Bedeutung hatte dieser Bund jedoch nicht; seine Versammlungen im fanum Voltumnae in der Nähe von Volsinii trugen vornehmlich religiösen Charakter. Außenpolitik, insbesondere die Kriegszüge, betrieb jede Stadt auf eigene Faust; bisweilen fand man sich natürlich zu gemeinsamem Kampf gegen einen auswärtigen Feind zusammen, aber häufiger siegte die Rivalität über nationale Gemeinsamkeiten. Die Macht der einzelnen Städte war recht unterschiedlich... Der politischen Sonderentwicklung entsprechend gingen Architektur und Handwerk in den einzelnen Orten vielfach eigene Wege, und jede Stadt rückte eine besonders verehrte Gottheit in den Mittelpunkt ihres Kultes... Mit dem siebenten Jahrhundert v. Chr. wurden die Etrusker außergewöhnlich expansiv.« (J. Bleicken) Von ihrem Siedlungszentrum in der Toskana aus stießen sie nach Latium und Kampamen vor; sie gründeten Ruma (Rom). Etwas später dehnten sie ihr Herrschaftsgebiet bis hin zu den Alpen aus. »Außerhalb des Mauerrings jeder Stadt lag die Nekropole, manchmal auch deren mehrere. An langen Straßen wurden die Toten in teilweise prächtig ausgestatteten Gräbern zur letzten Ruhe gebettet. Neben großen Kuppelgräbern finden sich einfachere Kammer- und Schachtgräber... Als Spiegelbild des Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Diesseits gab das Jenseits dem Toten ein Dasein, angefüllt mit Kampf und Lebensfreude, Die Fresken der Gräber schildern uns mannigfaltige Situationen des täglichen Lebens, und sie berichten von der Entführung der Seele in das Reich des Todes und von dem Leben im Jenseits.« (J. Bleicken) ¤ 2 Gegenstände des etruskischen Haushalts. Bemaltes Relief auf einem Stützpfeiler im sogenannten Grab der Reliefs in der Nekropole der südetruskischen Stadt Caere, Ende 4./Anfang 3. Jahrhundert v. Chr. ¤ 3 Die Befreiung des Caile Vipinas, eines etruskischen Helden aus Volci, durch Servius Tullius, einen Etrusker auf dem Königsthron, Roms (?). Wandgemälde aus der sogenannten Tomba François in der Totenstadt des südetruskischen Volci, Anfang (?) 3. Jahrhundert v. Chr. Rom, Museo Torlonia ¤ 4 Weihinschrift von einem Tempel der im karthagischen Herrschaftsbereich heimisch gewordenen und in Etrurien mit der Gottheit Uni gleichgesetzten syrischen Göttin Astarte. Eine Stiftung des Thefarie Veliunas, eines von Karthago unterstützten Etruskers auf dem Thron von Caere. Zwei der drei 1964 unter den Resten dieses Heiligtums im caerischen Seehafen Pyrgi gefundenen Goldtäfelchen mit etruskischer und Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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phönikischer Schrift, um 500 v. Chr. ¤ 5 Etruskischer Kampfwagen. Holzarbeit mit einer Reliefverkleidung aus Bronze, 550-540 v. Chr. Fund aus der Gegend von Spoleto. New York, Metropolitan Museum of Art, Rogers Fund, 1903 ¤ 6 Etruskischer Krieger. Bronzeplastik, nach 500 v. Chr. Paris, Bibliothèque Nationale
Die Etrusker nahmen griechische Kulturelemente, wie sie von Seefahrern und Siedlern überall im Westen verbreitet wurden, bereitwillig in sich auf. Aber sie sahen in den griechischen Nachbarn auch einen sehr gefährlichen Handelskonkurrenten. »Deshalb verbanden sich Caere und vielleicht noch andere etruskische Städte mit einer Macht, der die griechische Kolonisation ebenso ein Dorn im Auge war, mit Karthago... Das Bündnis zwischen Etruskern und Karthagern sollte von Dauer sein. Der Druck von Seiten der Griechen hielt an und gab den beiden Partnern des öfteren Gelegenheit, ihre Einigkeit gegenüber den Eindringlingen unter Beweis zu stellen.« (J. Bleicken) Als die Etrusker im Jahr 414 v. Chr. wieder einmal versuchten, die griechische Stadt Kyme an der kampanischen Küste zu erobern, mußten sie eine schwere Niederlage hinnehmen. Sie hatte zur Folge, daß die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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etruskische Herrschaft in Kampanien zusammenbrach und die Städte in dieser fruchtbaren Ebene von oskischen Volksstämmen besetzt wurden. Die nächste Schlappe erlebten die Etrusker im Norden; sie verloren ihr Land durch die Invasion der Gallier. Auch Rom ging in Flammen auf. ¤ 7 Fundamente eingeschossiger Häuser der »nach funktionalen und ästhetischen Gesichtspunkten« in der großen Zeit der etruskischen Kultur, vielleicht schon vor 500 v. Chr., angelegten Stadt Marzabotto/ Nordetrurien ¤ 8 Die Servianische Mauer, ein nach der römischen Niederlage an der Allia im Jahr 387 v. Chr. zum Schutz gegen die Gallier errichteter Tuffsteinwall um die sieben Hügel Roms
»Kurz vor dem Einbruch der Gallier in Mittelitalien hatten die Etrusker auch ihren südlichsten Vorposten, das mächtige Veii, verloren.« Das konnte sie jedoch nicht »dazu bewegen, gegen den drohenden Feind im Süden eine festere Bundesorganisation zu gründen. Hundert Jahre noch vermochten sich die etruskischen Städte gegen die Stadt am Tiber zu halten; zu Anfang des dritten Jahrhunderts v. Chr. mußten sie sich dann zu Bündnissen mit Rom bequemen, das die einzelnen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Städte politisch isolierte und von sich abhängig machte. Dem Verlust der politischen Selbständigkeit folgte dann rasch auch der kulturelle Niedergang des Etruskertums.« (J. Bleicken) Als die Gallier den erbitterten Widerständen nachgaben und sich nach Norden zurückzogen, gab es in Italien nach wie vor »zahlreiche, voneinander erheblich unterschiedene Volksgruppen und erst recht politische Einheiten. Aber gerade diese Tatsache gab einer aktiven Kraft einen verhältnismäßig großen Spielraum.« Rom besaß diese Kraft, und es nutzte die Gelegenheit. Ein Rivale trat ihm »erst in den Samniten entgegen. Der Kampf mit ihnen wurde denn auch zum Kampf um die römische Suprematie in Italien.« (A. Heuss) »Aber die Samniten waren kein Stadtstaat, sondern blieben auch während ihrer Expansion in Stammesverbänden organisiert. So schwer den Römern die Auseinandersetzung mit Samnium wurde und so langwierig sie sich gestaltete (in der Zeit von 343 bis 290 v. Chr. führten sie drei Kriege), letztlich lag auf ihrer Seite – schon auf Grund ihrer städtischen Gemeindestruktur – die stärkere Kräftekonzentration. Einmal in einem größeren Rahmen entwickelt, mußte das städtische Prinzip seine Überlegenheit beweisen. Die Samniten kannten keine starke Monarchie, die aus ihnen eine ständig aktionsfähige Einheit gemacht hätte. So Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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zogen sie schließlich den kürzeren und mußten den Römern nicht nur den Sieg, sondern auch die Herrschaft über Italien belassen.« (A. Heuss) Nach einem erneuten Einbruch der Gallier sicherten die Römer den Norden, und nach dem Krieg, den die Tarentiner gegen sie führten, waren sie die Herren auch über Unteritalien. ¤ 9 Die Meerenge von Messina. Blick von Italien nach Sizilien auf das Gebiet der römischen Landung im Jahr 264 v. Chr.
Karthago war seit Jahrhunderten eine große Macht im westlichen Mittelmeerbecken. »Von dem Gebiet des heutigen Tunis aus erstreckte sich sein Einfluß entlang der nordafrikanischen Küste, im Osten bis hin zur Großen Syrte, im Westen bis zur Straße von Gibraltar; darüber hinaus besaß es an der Küste des südlichen Spaniens und auf Sardinien eine Reihe von Stützpunkten, und ebenso hatte es das westliche Sizilien in der Hand.« Nachdem die einst griechische Kolonie Rhegion an der Südspitze Italiens, direkt an der Meerenge von Messina, 270 v. Chr. von der Diktatur kampanischer Söldner befreit war, stand Rom an der Wassergrenze eines von Karthago beobachteten Gebietes. »Fortan waren die sich befehdenden sizilischen Gemeinden, falls sie auswärtige Hilfe suchten, nicht Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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mehr allein auf Karthago angewiesen. Fast zwangsläufig mußte Rom in die Wirren auf Sizilien hineingezogen werden.« (W. Hoffmann) Es geschah, als der neue Machthaber von Syracusae, Hieron II., die Marmertiner angriff, und sie sowohl Karthago als auch Rom um Unterstützung baten. Die Römer nahmen das Hilfegesuch an, überquerten die Meerenge von Messina und faßten auf Sizilien Fuß. Da die Römer nicht daran dachten, Messana wieder zu verlassen, taten sich die alten Rivalen Syracusae und Karthago gegen die Eindringlinge zusammen, und es kam zum Ersten Punischen Krieg. In dem »Zweikampf« mit Karthago gelang es den Römern, mehrmals auch auf dem Meer zu siegen. 241 v. Chr. konnten sie den Frieden erzwingen und die Karthager aus Sizilien vertreiben; die Insel wurde dann die erste römische Provinz. Bald wurde auch Sardinien annektiert. Aber das Ziel, das im Jahr 255 v. Chr. dem Konsul Regulus vorgeschwebt hatte, war nicht erreicht; Karthagos Macht war angeschlagen, jedoch nicht gebrochen. »Als Herr über ein Gebiet, das außer den von Karthago abhängigen Siedlungen an der afrikanischen Küste noch einzelne Stützpunkte im südlichen Spanien umfaßte, überschritt Hamilkar Barkas 237/236 v. Chr. die Straße von Gibraltar. Sein Ziel war die Eroberung der Pyrenäenhalbinsel.« (W. Hoffmann) Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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¤ 10 Der Schlachtenlenker Juppiter und die Siegesgöttin Victoria in der Quadriga. Rückseite einer Didrachme. Kampanisches Gepräge, um 250 v. Chr. Luzern, Auktion Hess-Leu 1962 ¤ 11 Militärgeld der Karthager. Rückseite einer Tetradrachme. Gepräge aus dem karthagisch besetzten Teil Siziliens, nach 360 v. Chr. Luzern, Auktion Hess-Leu 1962 ¤ 12 Saguntum an der Ostküste Spaniens. Blick über die Ruinen der antiken Stadt auf die Akropolis mit den Bauten aus iberischer, römischer und arabischer Zeit ¤ 13 Das Schlachtfeld bei Cannae am rechten Ufer des nach Nordosten fließenden Aufidus. Blick auf den Hügel der apulischen Stadt und auf den Unterlauf des Flusses ¤ Der Frieden zwischen Rom und Karthago von 203 v. Chr. Historikerfragment aus einem Geschichtswerk des 2. Jahrhunderts v. Chr. Manchester, John Rylands Library ¤ [Rückseite] Dieses Fragment aus Arsinoë in Ägypten stammt von einer einseitig beschriebenen Papyrusrolle, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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deren Rückseite für ein Register von sogenannten Kleruchen verwendet wurde, die König Ptolemaios VIII. Euergetes II. um 120 v. Chr. im Fayûm angesiedelt hatte. Jede zweite Zeile auf der Rückseite enthält die Wendung ho klêros, das Landlos, das wohl noch genauer bezeichnet war. Wichtig sind diese Notizen der schreibfreudigen ägyptischen Verwaltung eigentlich nur zur Datierung und Lokalisierung des einzigartigen Historikerfragments auf der Vorderseite. Der Papyrus bezeugt das Interesse der hellenistischen Bevölkerung Ägyptens für Rom, andererseits tritt auch die Kultur des Orients in den römischen Gesichtskreis, wie die um 140 v. Chr. erfolgte Ägyptenreise des jüngeren Scipio zeigt. Außerdem wirft das Dokument ein neues Licht auf einen kritischen Zeitpunkt der römischen Geschichte, deren Anfänge einschließlich der punischen Kriege einseitig und schlecht überliefert sind. Über den Zweiten Punischen Krieg wissen wir von karthagischer Seite fast nichts, und Livius, der zwei Jahrhunderte danach schrieb, mußte sich auf römische Annalisten stützen, die mehr als ein Jahrhundert nach dem Krieg – meist weder sachkundig noch wahrheitsbeflissen – geschrieben haben. Auch die lebendigen und anschaulichen Berichte des Polybios stützen sich auf Erkundigungen, die er erst Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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wenige Jahre vor dem Dritten Punischen Krieg bei alten Kriegsteilnehmern eingezogen hat. Das kurze Fragment des unbekannten Historikers ist bedeutsam, weil es eine streng sachliche Darstellung der Ereignisse gibt: etwas knapp und trocken im Vergleich zu der künstlerisch ungleich eindrucksvolleren Schilderung des Polybios, aber ohne die römisch orientierte Sicht. Der von Wilhelm Hoffmann ergänzte und historisch ausgewertete Text führt uns an das Ende des Zweiten Punischen Krieges. Scipio hatte mit den Karthagern einen befristeten Waffenstillstand geschlossen, und Rom war geneigt, endlich Frieden zu schließen; denn man wagte nicht, auf eine Entscheidungsschlacht zu hoffen, wie sie Zama 201 v. Chr. brachte. Es kam vor dem Senat in Rom zu Verhandlungen; der Frieden sollte in einer bisher ungewohnten Form zweimal beschworen werden und erst nach der erneuten Eidesleistung in Karthago in Kraft treten. Doch in Karthago kam es – wohl unter dem Eindruck von Hannibals Landung in Afrika – zu einem Stimmungsumschwung. Er hatte die Ablehnung des Friedensvertrages zur Folge. (Davon muß in der Lücke des Textes etwas gestanden haben.) Die Fortsetzung des Krieges durch die Karthager erschien den Römern später als Treulosigkeit, und Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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dieses Thema spann die Annalistik bis zu Livius konsequent fort. Das facsimilierte Dokument dagegen besagt, daß Treulosigkeit und Unredlichkeit, Überfälle auf römische Schiffe und Gesandte sowie Scipios Großmut gegenüber den Karthagern wohl als Fälschung und Ausschmückung der tatsächlichen Vorgänge zu bewerten sind. (Der Text enthält keine Interpunktion. Die Zeilen mit Satzanfängen sind durch daruntergesetzte Paragraphenstriche gekennzeichnet. In der Umschrift finden sich Worttrennung und Akzentsetzung.) Spalte A ou]den ap[ei]pan [... pe]mpsamenoi tois [presb]eutais edô[kan tou]s horkous kai [elys]an êdê tên [aichma]lôsian tôn [eugenôn] akêkootes [tois Phoi]n[ixin e-] [gesthai eu]peitheste[rous] t[ou]s paroche[as on]tas peri tôn [horkiôn] exapesteiDigitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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[lan s]yn tois apo [tês Kar]chêdonos kai [pa]r' hautôn tous apoisontas ta horkia kai lêpsomenous par' autôn. hoi men oun apo Rhômês katêran eis tên tou Skipiônos polin. [hoi] de Phoinikes hôs hêkon eis tên Karchêdona kai ta diôikêmena [p]eri tês eirênês [êngeilan] 5 Zeilen fehlen [..]n[....]. ôtak .[..] Spalte B th[ [ be[ tôn[ ex[ pros auto[ys athe-] tounte[s tous hor-] kous apesteilan pherontas ant[i tês] Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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eirênês ton po[lemon. tout[ou men ou-] n angelthent[os] amphoterois [tois] stra[topedois ...] men[ dy[ ch[ Übersetzung ... sie (die Römer) leisteten den Gesandten die Eide und entließen sogleich die gefangenen Adligen, da sie gehört hatten, daß den Phönikern Leute, die etwas in bezug auf die Verträge gewährten, willkommener sein würden. Sie schichten zusammen mit den Vertretern aus Karthago auch ihrerseits Gesandte, die die Eide leisten und von ihnen entgegennehmen sollten. Die aus Rom nun landeten in der Scipio-Stadt. Als aber die Phöniker in Karthago ankamen und das, was den Frieden betreffend vereinbart war, meldeten... ...indem sie (die Karthager) ihnen gegenüber die Eide mißachteten, schickten sie die (römischen) Gesandten fort, die (nun) anstelle des Friedens Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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den Krieg brachten. Als dies beiden Heeren gemeldet wurde,... »Ohne von den Römern belästigt zu werden, gelang es Hamilkar, im Verlauf von acht Jahren das gesamte südliche Spanien zu unterwerfen und dort die Herrschaft seines Hauses zu begründen. Das änderte sich unter seinem Nachfolger, seinem Schwiegersohn Hasdrubal. Er schob seit 229 v. Chr. vor allem mit diplomatischen Mitteln die Einflußzone der Barkiden bis tief in das mittlere Spanien vor und brachte dann durch die Gründung von Neukarthago, an der Stelle des heutigen Cartagena, die Existenz der neuen spanischen Monarchie der übrigen Umwelt erst wirklich zum Bewußtsein.« Rom drängte ihn zu dem Versprechen, den Ebro nicht zu überschreiten, und Hasdrubal verpflichtete sich, die Zusage zu halten. »Schlagartig änderte sich das friedliche Bild, als Hannibal, der Sohn Hamilkars, nach Hasdrubals Ermordung im Jahr 221 v. Chr. die Nachfolge in Spanien antrat und andererseits mit dem Sieg von Clastidium für Rom ein Ende der oberitalischen Kämpfe in greifbare Nähe gerückt war. Hannibal, damals fünfundzwanzig Jahre alt, seinem Vorgänger an militärischen Fähigkeiten weit überlegen, gab schon ziemlich rasch der spanischen Politik einen neuen Impuls.« (W. Hoffmann) Als Hannibal das den Römern verbündete Saguntum Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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angriff und nach acht Monaten, 219 v. Chr., eroberte, sah Rom nur böse zu. Doch der nächste Schritt, der Vormarsch über den Ebro, löste den Krieg aus, den Zweiten Punischen Krieg (218-201 v. Chr.). Hannibal fiel in Italien ein und brachte Rom drei große Niederlagen bei, die letzte 216 v. Chr. bei Cannae. Trotzdem dachte Rom nicht daran zu kapitulieren. Auf Nebenkriegsschauplätzen fiel schließlich die Entscheidung: auf Sizilien und in Spanien. Publius Cornelius Scipio eroberte Spanien und setzte nach Afrika über, wo ihm Hannibal in der Schlacht bei Zarna unterlag. Der Friedensvertrag untergrub – zunächst einmal vorübergehend – die karthagische Herrschaft im westlichen Mittelmeer, aber es gelang damit noch nicht, Karthago als wichtige Wirtschaftsmacht auszuschalten. Das blieb dem Dritten Punischen Krieg vorbehalten. In den welthistorischen Zusammenhang gehören die keltischen Völkerscharen, mit denen fast jede Großmacht des Westens einmal in Berührung kam, seitdem die indogermanischen Stämme der Gallier, wie die Kelten latinisiert heißen, sich auf Wanderschaft befanden. »Schon im sechsten Jahrhundert v. Chr. waren sie aus ihrer vermutlichen Heimat, dem Gebiet der oberen Donau und der Rheingegend, nach Westen gezogen. Im Laufe des sechsten und fünften Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Jahrhunderts v. Chr. wurden ganz Frankreich. Britannien und Irland von ihnen erobert und besiedelt. Etliche Scharen gelangten nach Spanien, vor allem in die zentrale Hochebene und nach Asturien, wo sie sich mit den einheimischen Iberern vermischten. Die Apenninenhalbinsel erlebte im vierten Jahrhundert v. Chr. die ersten Keltenstürme.« An ihnen zerbrach die etruskische Herrschaft in Oberitalien. Und als Splittergruppen die Stadt Rom erreichten, wurde das römische Aufgebot vernichtend geschlagen, Rom erobert und niedergebrannt... »Die Römer bewahrten den Tag der Niederlage an der Allia, nach der Tradition den 16. Juli 387 v. Chr., als einen dies ater, einen schwarzen Tag, in Erinnerung.« (J. Bleicken) Es ist kein Wunder, daß sie alles daransetzten, die Kelten der Po-Ebene unter ihre Herrschaft zu bekommen. Sie trafen diesen Feind jedoch immer wieder an. Keltische Krieger gehörten zu den Truppen, die Hannibal bei seinem Einmarsch in Italien mit sich führte. Als die Römer mit den Illyrern in kriegerische Auseinandersetzungen verwickelt wurden, hatten sie auch gegen Kelten zu kämpfen; denn diese hatten den Balkan erreicht und sich bald nach 300 v. Chr. unter den Thrakern und Illyrern festgesetzt. Schon um 277 v. Chr. zogen keltische Siedler nach Kleinasien und bedrohten von »Galatien« aus durch ihre Raubzüge die umliegenden Diadochenreiche, mit denen Rom bald Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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freundliche, bald feindliche Beziehungen unterhielt. Und noch Caesar mußte gegen die Kelten ins Feld ziehen. ¤ 14 Befestigte Siedlung der Kelten auf dem nach Süden zum Mittelmeer steil abfallenden Hügel von Ensérune nördlich des späteren Narbo Martius
Dieser Hügel war seit dem Neolithikum bis zur Ankunft der Römer ständig bewohnt; das beweisen die Funde, die aus vorgeschichtlicher, griechischer, iberischer, keltischer und römischer Zeit stammen. Im zweiten Jahrhundert v. Chr. erreichte die Siedlung wohl ihre größte Ausdehnung. ¤ 15 Reste des Juppiter-Tempels in Soluntum an der Nordküste Siziliens. Blick von der hochgelegenen Altstadt über das nach den Punischen Kriegen errichtete römische Heiligtum auf den Hafen nach Osten ¤ 16 Reste des Pons Aemilius aus dem Jahr 179 v. Chr. in dem heute »Ponte Rotto« genannten Brückenfragment über dem Tiber in Rom
Überall, wo die Römer Militärverwaltungen eingerichtet hatten, wurde gebaut, und es entstanden nicht nur Wehranlagen, Straßen, Brücken und Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Wasserleitungen; auch viele Tempelbauten wurden ausgeführt und kündeten fortan von der Großmacht, die Rom zu werden versprach. Seine politischen Kräfte mußten sich nach 200 v. Chr. noch im Osten bewähren: gegen Philipp V. von Makedonien, der sich erst mit Karthago verbündet hatte und dann seine Kraft in Griechenland erproben wollte, und gegen Antiochos III. von Syrien, der die Ansprüche Roms nach der Niederlage Philipps zu durchkreuzen versuchte. Ihn ereilte das Schicksal, das Philipp im Kampf gegen Flamininus bei Kynoskephalai 197 v. Chr. getroffen hatte, acht Jahre später bei Magnesia. In einem dritten Waffengang gegen die Makedonier, die diesmal unter der Führung von Philipps Sohn Perseus standen, wurde die Gefahr gebannt. Die Niederlage bei Pydna im Jahr 168 v. Chr. hatte zur Folge, daß das makedonische Königtum abgeschafft und das Land in vier Zonen aufgeteilt wurde. Es gab dann noch Unruhen, aber 148 v. Chr. war Makedonien eine römische Provinz. »Das griechische Stadtbürgertum vertauschte mit den Römern nur die eine Abhängigkeit gegen eine andere und bot sich den Römern in dem erfreulichen Status einer bereits weitgehend entpolitisierten Existenz, Man könnte denken, die hellenistische Geschichte hätte nichts mehr sich angelegen sein lassen, als der römischen Herrschaft den Weg zu bahnen.« (A. Heuss) Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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¤ 17 Reste der Tempel und Häuser aus griechischer, hellenischer und römischer Zeit auf Delos. Blick vom römischen Freihafen gegen den Kynthos ¤ 18 Titus Quinctius Flamininus. Vorderseite eines Staters mit dem Bildnis des römischen Konsuls und Siegers bei Kynoskephalai. Gepräge aus Makedonien, nach 179 v. Chr. Berlin, Staatliche Museen, Münzkabinett ¤ 19 Der griechische Philosoph Karneades, ein Gesandter Athens an den römischen Senat im Jahr 155 v. Chr. Abguß einer verschollenen Büste. Kopenhagen, Statens Museum for Kunst ¤ 20 Ruinen punischer Häuser auf der von Scipio Aemilianus im Jahr 146 v. Chr. zerstörten Byrsa von Karthago ¤ 21 Reste der Tribunenhäuser des römischen Legionslagers auf dem Plateau Peña Redonda gegenüber dem Hügel von Numantia, vor 133 v. Chr.
Die Zerstörung Karthagos war eine Antwort auf die Annexionspolitik der Numider. »Größere Anstrengungen und größere Opfer als die Kriege in Afrika und im Osten kosteten die Kämpfe um Spanien. Sie Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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dauerten von 154 v. Chr. an mit nur geringen Unterbrechungen insgesamt dreiundzwanzig Jahre.« Die Stadt Numantia leistete erbitterten Widerstand. »Die Entscheidung fiel erst, als Scipio Aemilianus, der Eroberer von Karthago, das Kommando übernahm.« (W. Hoffmann) 133 v. Chr. gaben die Gegner den Kampf auf. ¤ 22 Antigonos II. Gonatas, König von Makedonien, mit seiner Mutter Phila, der Frau des Demetrios I. Poliorketes (?). Aus dem Wandgemälde »Die Antigoniden vor dem griechischen Philosophen und Staatsmann Menedomos« aus der Villa von Boscoreale bei Pompeii nach einem um 200 v. Chr. entstandenen Vorbild, um 40 v. Chr. Neapel, Museo Nazionale
»Die Welt war befriedet, aber es war die Ruhe des Kirchhofs, die in sie eingezogen war. Wollte der Sieger sein Tun vor der Geschichte rechtfertigen, so mußte er aus den Trümmern neues Leben erwecken. Das war nach allem, was geschehen war, nicht leicht; es setzte vor allem voraus, daß er selber seine Einstellung änderte und zu begreifen begann, daß Herrschaft nicht Ausbeutung der Untertanen bedeutet, sondern die Verpflichtung einschließt, auch für deren Wohl zu sorgen. Aus eigener Kraft waren die Römer nicht imstande, diesen Weg zu beschreiten, sie bedurften dazu Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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der Hilfe. Sie bot sich ihnen in dem geistigen Erbe der griechischen Welt, und nun kam alles darauf an, ob die Römer bereit und fähig sein würden, diese Hilfe auch anzunehmen.« (W. Hoffmann) »In einer Reihe von militärisch-politischen Aktionen haben die Römer die hellenistischen Reiche des Ostens entmachtet und dort ihre eigene Vorherrschaft für die Zukunft aufgerichtet. Doch im Augenblick ihres politischen Triumphes wurde offenbar, daß der Besiegte über Kräfte verfügte, denen der Sieger nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen hatte. Auf Grund ihrer großen Vergangenheit war die zur Ohnmacht verurteilte griechische Nation überlegen in den Formen des Lebens, in dem Niveau ihrer Kultur, in der Durchgeistigung ihres Daseins. Und hier mußte sich auf die Dauer das sieggewohnte Volk beugen. ›Das unterworfene Griechenland überwältigte den rauhen Sieger und brachte die Segnungen der Kultur in das unkultivierte Land der Latiner‹, schreibt zur Zeit des Augustus der Dichter Horatius. Knapp und eindrucksvoll wird hier das Ergebnis dieses denkwürdigen Prozesses umschrieben. Die Unterwerfung des Ostens leitete die Hellenisierung Roms ein.« (W. Hoffmann) ¤ 23 Der Ager Romanus. Römisches Bürgergebiet in Latium an der Westküste Italiens
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Es hat im vierten und dritten vorchristlichen Jahrhundert nicht an Aristokraten gefehlt, die dafür eingetreten sind, die Not des Bauernstandes zu lindern. Mit Tiberius Gracchus aus der patrizischen Familie der Sempronier kam ein Mann ins Volkstribunat, den der Widerstand des Senats bei den Bestrebungen, der einfachen Bevölkerung durch eine umfassende Agrargesetzgebung zu helfen, nicht schreckte. Er brachte 133 v. Chr. ein Gesetz durch, das die Landzuweisung aus dem Ager Publicus im römischen Bürgergebiet begrenzte und neue Bauernstellen schuf. Als ein Kollege gegen dieses Gesetz interzedierte, ließ er ihn von der Volksversammlung absetzen. Das brachte die Optimalen noch mehr gegen ihn auf. Kein Wunder, daß der Versuch, im folgenden Jahr als Volkstribun wiedergewählt zu werden, heftige Unruhen auslöste, in deren Verlauf man ihn erschlug. Der Senat legte die Tätigkeit der Ackerkommission, zu der Gaius Sempromus Gracchus, der jüngere Bruder des Tiberius, gehörte, lahm. Aber Gaius gab nicht Ruhe. Als die Zeit, die für die Ideen seines Bruders gearbeitet hatte, reif schien, trat er mit einer Agrarreform hervor. Er schlug die Ansiedlung der Bürger in Übersee, besonders in Karthago, vor und stellte den Antrag, den Bundesgenossen das Bürgerrecht zu verleihen. Vorher hatte er dem Ritterstand Privilegien im Gerichts- und Steuerwesen verschafft. Ein Kollege im Volkstribunat, M. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Livius Drusus, untergrub die Popularität des Reformers, und dem Senat gelang es, Gaius und seine Anhänger zu vernichten; ihre Ideen freilich konnte er nicht ausrotten. ¤ 24 Die Verbriefung der Rechte für Veteranen. Marmorrelief vom Altar eines Censors aus republikanischer Zeit. Paris, Louvre ¤ 25 Das Tullianum unter dem römischen Staatsgefängnis am Fuß des Mons Capitolinus
Hier wurden die zum Tode verurteilten Verbrecher, aber auch die gefangengenommenen Staatsoberhäupter eingesperrt und hingerichtet. Der numidische König Jugurtha, mit dem Rom sechs Jahre lang Krieg führte, die Anhänger des Rebellen Catilina und der König der Arverner, Vercingetorix, der den Aufstand gegen Caesar leitete, mußten in diesem Raum sterben. ¤ 26 Bleibehälter mit Münzgeld aus republikanischer Zeit. Ein neuer Fund auf Sizilien. Syrakus, Museo Nationale ¤ 27 Reste der beiden römischen Säulen am Ende der Via Appia, der 312 v. Chr. begonnenen ersten großen römischen Heerstraße, am zwei Generationen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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später entstandenen Hafen von Brundisium im Osten des antiken Kalabrien Zu den inneren Unruhen, die mit den Reformversuchen der Gracchen begonnen hatten, kamen die kriegerischen Auseinandersetzungen mit den Cimbern und Teutonen, mit dem numidischen König Jugurtha und mit Mithridates VI. Eupator von Pontos, so daß der römische Staat lange Zeit in seinen Grundfesten erschüttert wurde. In den Kämpfen gegen die ins Scordiscerland und von da ins Ostalpengebiet eingefallenen Germanenstämme mußte Rom bei Noreia und auf keltischem Boden in Frankreich bei Arausio schwere Niederlagen hinnehmen, bevor es ihm durch Gaius Marius gelang, die Cimbern und Teutonen bei Aquae Sextiae und bei Vercellae zu vernichten. Diese Siege verdankte Rom der Heeresreform, die Marius durchgesetzt hatte; besitzlose Bürger wurden zum Militärdienst verpflichtet, und die Veteranen erhielten Landstellen. Das auf diese Weise gewonnene Berufsheer war dann in den Kriegen gegen Mithridates eine unentbehrliche Einrichtung. Zur Abwehr des Herrschers von Pontos, der die Griechen zum Abfall von Rom veranlaßt hatte, wurde Sulla bestimmt. Er besiegte den Feind und zwang ihm 84 v. Chr. den Frieden auf. Dadurch wurde Mithridates auf seinen ursprünglichen Besitz beschränkt. Als Sulla im Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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nächsten Jahr in Brundisium landete, war sein Widersacher Marius zwar schon drei Jahre lang tot, aber Rom stand im Bürgerkrieg gegen dessen Anhänger. Er hatte seine Ursache nicht zuletzt in der Rivalität zwischen Marius und Sulla; denn auf Marius' und Rufus' Betreiben hatte das Volk versucht, Sulla das Truppenkommando zu entreißen und Marius damit zu beauftragen. Sulla hatte erst nach Rom marschieren und Marius zum Staatsfeind erklären müssen, ehe er gegen Mithridates antreten konnte. Nun war bei seiner Rückkehr von Brundisium aus ein zweiter Marsch auf Rom erforderlich, und Sulla mußte seinerseits mit Proskriptionen beginnen. Als Diktator setzte er schließlich eine Verfassungsreform durch. Sie zielte auf eine Erweiterung des Senats zuungunsten des Volkstribunats. 79 v. Chr. zog sich Sulla aus der Politik zurück. Pompeius übernahm es, die letzten Marianer in Spanien zu bekämpfen, und es kam ihm zu, Mithridates, der sich in römische Belange eingemischt hatte, als Nikomedes III, von Bithynien sein Reich Rom vererbte, endgültig zu vernichten und Kleinasien und Syrien in die Provinzen Pontus, Syria und Cilicia aufzuteilen. ¤ 28 Einer von Sullas Offizieren (?). Marmorskulptur aus dem Unterbau des sogenannten Hercules-Tempels in Tibu im nördlichen Latium, um 80 v. Chr. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Rom, Museo Nazionale Romano o delle Terme ¤ 29 Grundriß vom Theater des Pompeius auf dem Campus Martius in Rom. Eine Vergnügungsstätte für etwa zehntausend Menschen und der steinerne Theaterbau Roms, 55 v. Chr. Fragment des Severischen Marmor-Stadtplans von Rom. Rom, Comune di Roma ¤ 30 Gladiatorenkampf. Tonplastiken eines griechischen Meisters auf römischem Boden. Fund aus Tarentum. Tarent, Museo Nazionale ¤ 31 Keltiberischer Hornbläser. Steinrelief aus Osuna in Südspanien, 1. (?) Jahrhundert v. Chr. Madrid, Museo Arqueológico Nacional ¤ 32 Keltischer Krieger. Steinskulptur aus Vachères in Südfrankreich, nach 50 v. Chr. Avignon, Lapidarium Calvet
Die Mittelmeerwelt lebte so im Bann des Eroberers Pompeius, daß es kaum bemerkt worden war, wie weit sich ein Unbekannter, Gaius Iulius Caesar, in den Vordergrund der politischen Bühne gedrängt hatte. Pompeius war bald nach seiner Rückkehr aus dem Osten auf Caesars Hilfe angewiesen; denn die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Landversorgung der Veteranen, die Pompeius vom Senat gefordert hatte, wurde erst auf Drängen Caesars 59 v. Chr. durchgesetzt. Es scheint uns heute, als habe es von Anfang an zu den Plänen Caesars gehört, Pompeius und die Mitkonsuln zu überrunden und, durch formale Wahrung der republikanischen Einrichtungen klug getarnt, die Herrschaft des Senats abzubauen, damit Rom monarchisch regiert und die Mittelmeerwelt unter seiner Führung stehen konnte. Es ist Caesars Verdienst, die Romanisierung des Westens eingeleitet zu haben, und diese Tat wird nicht geschmälert, wenn wir durch viele geschichtliche Einzelheiten wissen, daß die Zeitgenossen genügend Gründe hatten, Caesar den strahlenden Ruhm zu versagen. Schließlich maß man die äußeren Erfolge an seinem Verlust im politischen Spiel des Jahres 40 v. Chr. Dabei spielte wohl auch der Neid vieler Optimaten eine Rolle, und für Mißgunst fehlte es nicht an Stoff. Überall hatte Caesar Roms Feinde besiegt: auf dem Boden Belgiens, Frankreichs, Englands und Spaniens, aber auch in Nordafrika, in Ägypten und Kleinasien. Die zähen Gegner im Westen, einzelne keltische Stämme wie die Keltiberer oder die Haeduer unter Dumnorix, waren geschlagen worden. Um die Nachfolge Caesars rivalisierten Marcus Antonius und Octavianus. Länger als ein Jahrzehnt standen beide im Mittelpunkt der Geschichte Roms, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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lange im scheinbar friedlichen Nebeneinander. 31 v. Chr. fielen die Würfel zugunsten des Octavianus. ¤ 33 Gaius Iulius Caesar. Vorderseite eines Silberdenars. Gepräge des Meisters L. S. Macer, 44 v. Chr. ¤ 34 Keltischer Krieger mit Fackel, Schwein und Kopftrophäe. Vorderseite einer Silbermünze des Haeduers Dumnorix, um 60 v. Chr. ¤ 35 Marcus Antonius. Vorderseite eines Aureus. Gepräge aus Gallien, 39 v. Chr. ¤ 36 Gaius Iulius Caesar Octavianus. Vorderseite eines Silberdenars. Gepräge aus Griechenland (?), 31-29 v. Chr. ¤ 37 C. I. C. Octavianus Augustus beim Empfang seines siegreich heimkehrenden Stiefsohnes Tiberius und römische Soldaten sowie Angehörige der Hilfstruppen aus dem Balkan (?) beim Aufrichten eines Tropaion nach den Erfolgen des Feldherrn Tiberius in Dalmatien im Jahr 9. Onyxkameo aus dem Besitz des Augustus (?), um 10. Wien, Kunsthistorisches Museum, Antikensammlung ¤ 38 Triumph der römischen Kavallerie. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Bronzefiguren von einem Brustblatt aus Velia in Lukanien, Anfang (?) 1. Jahrhundert. Salerno, Soprintendenza ¤ 39 Eine von den Römern unter C. Petronius, dem Statthalter in Ägypten, nach 24 v. Chr. eroberte Festung auf der Westseite des Nils. Wichtiger Stützpunkt in Nubien für die Strafexpedition des Petronius gegen das romfeindliche Königshaus Kusch
Nachdem zwei große Staatsmänner, von Kleopatras Schönheit und Bildung angezogen, Roms Geschichte mit der Ägyptens verquickt hatten, war es für Octavianus Augustus nicht mehr schwer, dieses Land zu einer römischen Provinz zu machen. Die Verwaltung lag fortan in den Händen eines direkt vom Kaiser bestellten Präfekten. Ägypten wurde schnell zum wichtigsten Getreidelieferanten Roms und zum Durchgangsland für den Handel mit Arabien und Indien. Roms dritter Statthalter in Ägypten war Gaius Petronius. ¤ 40 Die Königin Amenitere von Kusch beim Vollzug der Strafe an den Feinden. Relief auf dem Pylon eines nach Vergebung des Überfalls auf die Römer errichteten königlichen Tempels im Norden von Napata, der Hauptstadt des Landes Kusch, vor 8 v. Chr. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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¤ 41 Der sogenannte Gladius des Tiberius. Stichschwert und Scheide mit einer bildlich dargestellten Botschaft für Octavianus Augustus: der Nachricht vom Sieg des Tiberius über die Vindelicier im Jahr 15 v. Chr. Fund aus Mainz. London, British Museum
Octavianus ordnete den Staat neu, indem er an die von Caesar verdrängte republikanische Tradition anknüpfte. In dem Reich, das er schuf, blieben rein äußerlich die Aufgaben des Senats und seiner Beamten unangetastet. Drei Faktoren stützten seine Stellung als Princeps: die offiziellen Ämter, die er je nach Notwendigkeit, auf Dauer oder mit Unterbrechungen bekleidete, sein überragender persönlicher Einfluß, auch als Kriegsherr, und die Neigung des Plebs, dem Friedensstifter unbedingt zu folgen. »Imperator Caesar Augustus, alle Bestandteile seines Namens sind im Laufe der Zeit zu Herrschertiteln geworden, obwohl ursprünglich keiner von ihnen eine derartige Bedeutung besaß.« (H.-G. Pflaum) Die Ordnung, die man in Rom so wohltuend empfand, wurde mit Erfolg in die schon befriedeten Provinzen übertragen; sie unterstanden von neuem der Verwaltung des Senats. Dort, wo der Frieden durch äußere Feinde bedroht wurde, schickte Augustus das Heer in die Offensive. In vielen Kämpfen glänzte vor allem Tiberius, der Stiefsohn des Kaisers. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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»Die Eroberung des Alpenvorlandes im Jahr 15 v. Chr. war die erste Etappe einer groß angelegten strategischen Konzeption, die die Eroberung von Germanien zum Ziel hatte. Die unmittelbare Folge dieses Sieges war die Bildung militärischer Schwerpunkte am mittleren und unteren Rhein, die ein weiteres Vordringen durch die Täler des Mains und der Lippe in das Herz Deutschlands ermöglichte. Im Zusammenhang damit stand die Erbauung der Legionsfestung Mogontiacum unter Drusus. Einem Offizier dieses Waffenplatzes wurde, so glauben wir, das sogenannte Schwert des Tiberius nach dem Sieg« über den Stamm der Vindelicier »als Auszeichnung von seinem Kommandeur überreicht.« (H. Klumbach) Augustus entschied sich erst spät, Tiberius den Thron zu vererben. Die reservierte Haltung, die man dem bewährten Feldherrn und Verwaltungsmann von oben her entgegengebracht hatte, mußte ihn verstimmen. »Untätigkeit, Unbeweglichkeit sind die Kennzeichen der Regierung des Tiberius. Der Nachfolger des Augustus befolgte nur zu gewissenhaft die Ratschläge des Gründers des Principats, sich an den Grenzen auf eine Abwehrpolitik zu beschränken. Aus eigenem Antrieb hielt sich der Fürst aber an eine zweite altbewährte politische Regel der Römer: divide et impera... In seiner Personalpolitik haßte der Princeps den Wechsel.« (H.-G. Pflaum) Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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¤ 42 Der Hafen von Puteoli am Golf von Neapel, ein bedeutender Umschlagplatz für den römischen Seehandel. Wandgemälde aus Stabiae, vor 79. Neapel, Museo Nazionale
Caligula, der seine Kindheit im germanischen Feldlager verbracht hatte, wurde bei seinem Regierungsantritt seines allgemein beliebten Vaters, des Idols Germanicus, wegen freudig begrüßt. Aber nur zu schnell entpuppte er sich als ein echter Vertreter des tyrannischen Absolutismus. Rom erlebte unter seiner Herrschaft Verschwendungssucht, Willkür und Grausamkeit. Er wurde umgebracht, »von niemandem betrauert außer von seinen germanischen Leibwächtern und dem römischen Mob, der unter seiner Regierung ein fröhliches, unbekümmertes Leben hatte führen können. Die Verschwörer hatten sich auf keinen Thronkandidaten geeinigt. Die Prätorianer fanden Tiberius Claudius Nero, den Bruder des Germanicus, den letzten Überlebenden der Dynastie, hinter einem Vorhang versteckt und riefen ihn zum Kaiser aus... Sein schwacher Charakter machte ihn zum Spielzeug seiner Umgebung, vor allem seiner Frauen, Geliebten und Freigelassenen. Es wäre bestimmt richtiger, von der Regierung der ›Favoriten‹ des Claudius zu sprechen, als diesen halben Narren für Maßnahmen verantwortlich zu machen, die unter seiner Herrschaft getroffen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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wurden.« Man setzte die expansive Politik fort. In Britannien wurden vier römische Legionen stationiert. Auch Judaea wurde wieder einem römischen Statthalter unterstellt. Unter Nero, dem nächsten Princeps, übrigens einem Künstler auf dem Thron Roms, herrschte so lange Frieden, bis seine intrigante Politik ruchbar wurde und im Mutterland Unruhe stiftete. Unter ihm wurden die Christen zum erstenmal verfolgt, zunächst nur in der Stadt Rom. An den Grenzen war die Lage von Anfang an nicht rosig; es gärte überall, besonders in Britannien und Palästina. Wegen Armenien mußte Nero gegen die Parther Krieg führen, und das Ende brachte nur einen Verständigungsfrieden. Die Parther waren eine Großmacht, die Rom 66 anerkennen mußte. In den Kämpfen an den Westgrenzen des Reiches und im Feldzug gegen Palästina, wo jüdische Protestaktionen gegen Übergriffe römischer Soldaten einen Aufruhr entfacht hatten, der schnell um sich griff und Jerusalem erfaßte, hatte sich ein Heerführer unentbehrlich gemacht: Titus Flavius Vespasianus. Ihm gelang es dann auch als Princeps, Herr der chaotischen Zustände zu werden, die das Reich nach Neros Tod schwächten. Es ist das Verdienst »des sorgsamen Hausvaters Vespasianus, im Inneren Ordnung geschaffen und an den Grenzen Kastelle errichtet zu haben«. (H.-G. Pflaum)
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¤ 43 Ein Tor der römischen Mauer von Perge in der Provinz Pamphylia. Sitz einer auf der ersten Missionsreise des Paulus von Tarsos vor 50 gegründeten griechenchristlichen Gemeinde ¤ 44 Reste des befestigten Nordpalastes Herodes' I. auf drei Terrassen im Felsmassiv von Masada am Westufer des Toten Meeres, nach 35 v. Chr. Blick auf den Schauplatz der Tragödie des Jahres 73: die Stätte des Massenselbstmordes der Juden im Verzweiflungskampf gegen die römische Besatzungsmacht ¤ 45 Trauernde Juden, ein Symbol für die Niederwerfung des jüdischen Aufstandes im Jahr 73 und für das Ende des unter Nero begonnenen und von Vespasianus und Titus weitergeführten Krieges in Palästina. Rückseite eines Aureus des Kaisers Titus Flavius Vespasianus. Gepräge aus Rom, 73. Hannover, Kestner-Museum ¤ 46 Gefangene Germanen nach den römischen Angriffen auf das rechte Ufer des Rheins in den Jahren um 75. Relief auf einer Säulenbasis aus der unter Vespasianus erweiterten Legionsfestung Mogontiacum. Mainz, Altertumsmuseum ¤ 47 Parther mit vorgehaltener Standarte. Ein Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Symbol für den Hilferuf der zwischenzeitlich von Rom abhängigen Parther an Vespasianus zur Entsendung römischer Truppen für den Kampf gegen die Alanen, ein iranisches Bergvolk. Rückseite eines Aureus des Vespasian-Sohnes Domitianus drei Jahre vor seinem Regierungsantritt. Gepräge aus Rom, 78. Hannover, Kestner-Museum ¤ 48 Das Herrenhaus eines Gutshofes. Ergänztes Wandgemälde aus einer römischen Villa in Augusta Treverorum, dem Hauptort der Treverer an der Mosel, um 100. Trier, Landesmuseum ¤ 49 Reste eines römischen Gutshofes in dem spätestens seit T. Claudius römisch kolonisierten Gebiet der Treverer, 2. Jahrhundert. Modell nach den Ausgrabungen in Bollendorf. Trier, Landesmuseum
Nach der Alleinherrschaft des Vespasian-Sohnes Titus, die so kurz war, daß sich seine humane Gesinnung kaum auswirken konnte, fiel die höchste Macht seinem jüngeren Bruder Flavius Domitianus zu. Er nutzte sie, um den Limes Germaniae zu bauen und die römischen Gebiete in Britannien zu vergrößern. ¤ 50 Die Ruine eines Terrassenheiligtums für den Kaiserkult im Municipium Flavium Muniguense, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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einem unter Vespasianus mit dem römischen Bürgerrecht ausgestatteten Ort in der Provinz Baetica in Südspanien. Blick auf den Osthang des Stadthügels mit der dem Fortuna-Tempel von Praeneste vergleichbaren monumentalen Anlage. Erste Hälfte 2. Jahrhundert Der Kaiserkult wurde durch den christen- und judenfeindlichen »Herrn und Gott« Domitianus zu einer gefährlichen Einrichtung. ¤ 51 Römische Standartenträger. Relief von einem der nach Eroberung Dakiens durch Traianus geschaffenen Denkmäler entlang der Donau in der 106 eingerichteten Provinz Dacia ¤ 52 Marcus Ulpius Traianus, der erste Provinziale auf dem römischen Kaiserthron und der siegreiche Feldherr in den Kriegen gegen Dakien, Arabien, Armenien, Mesopotamien und Assyrien, zu Pferd mit einer gegen den Feind gerichteten Lanze. Rückseite einer Großbronze des Kaisers. Gepräge aus Rom, 104. Hamburg, Kunsthalle ¤ 53 Angehöriger der Hilfstruppen vor dakischen Soldaten. Relief von einem der nach Eroberung Dakiens durch Traianus geschaffenen Denkmäler entlang Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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der Donau in der 106 eingerichteten Provinz Dacia Aus den Rückschlägen, die Domitianus im Kampf gegen die Daker hatte hinnehmen müssen, zog sein Nachfolger, Traianus Optimus, den Schluß, daß man die wachsende Bedrohung nur in einem Offensivkrieg abwenden könnte. Er behielt Recht. ¤ 54 Mauern und Tore der Römerstadt Aventicum. Blick auf die Wehranlagen des bereits seit Caesar römisch besetzten Hauptortes der Helvetier, 2. Jahrhundert ¤ 55 Das heute Qasr al Hêr genannte Kastell an der Südostgrenze des Imperiums. Reste der Mauern und Türme einer militärischen Anlage in dem unter Traianus begonnenen offenen Limes in Syrien, einem System von unterschiedlich großen Verteidigungsanlagen gegen Parther und Araber ¤ 56 Personifikation der römischen Provinz Scythia (nach Toynbee). Marmorsockel vom Podium (?) des von Antonius Pius 145 in Rom geweihten Tempels für Divus Hadrianus mit den symbolischen Darstellungen der bis etwa 150 erworbenen kaiserlichen Provinzen. Neapel, Museo Nazionale
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¤ 57 Personifikation der römischen Provinz Phrygia (nach Toynbee). Marmorsockel vom Podium (?) des von Antonius Pius 145 in Rom geweihten Tempels für Divus Hadrianus mit den symbolischen Darstellungen der bis etwa 150 erworbenen kaiserlichen Provinzen. Neapel, Museo Nazionale ¤ 58 Personifikation der römischen Provinz Parthia (nach Toynbee). Marmorsockel vom Podium (?) des von Antonius Pius 145 in Rom geweihten Tempels für Divus Hadrianus mit den symbolischen Darstellungen der bis etwa 150 erworbenen kaiserlichen Provinzen. Neapel, Museo Nazionale
Die römischen Provinzen, die Traianus in Mesopotamien und jenseits des Tigris hatte einrichten können, lösten sich sehr bald auf; die Garnisonen wurden von den rebellierenden Juden, denen sich die Parther angeschlossen hatten, völlig aufgerieben. »Traianus übergab das Kommando über die Armee und die Statthalterschaft von Syrien seinem Verwandten Hadrianus.« Mit dem Tod des großen Feldherrn und Politikers wurden »sofort alle neuen Eroberungen aufgegeben; denn sein Nachfolger kehrte zur traditionellen römischen Friedenspolitik im Osten zurück«. (H.-G. Pflaum) Die Regierungszeit des Hadrianus war ausgefüllt mit Reisen in die Provinzen und mit dem Ausbau Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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der Grenzbefestigungen. ¤ 59 Die Reste einer römischen Villa von Fishbourne in Chichester, dem alten Noviomagus, 3. Jahrhundert ¤ 60 Die Villa des Hadrianus unterhalb von Tibur etwa 25 Kilometer östlich von Rom. Blick in die Südostecke des Villenbezirks entlang des sogenannten Canopus auf die Ruinen der Großen Thermen, nach 125 ¤ 61 Die unter Traianus erbaute Prachtstraße durch Petra im Süden Jordaniens. Blick auf die Prunkfassaden vor den sogenannten königlichen Felsgräbern am Rand der seit dem zweiten Jahrhundert v. Chr. blühenden und nach den Ereignissen des Jahres 106 von den Römern annektierten Hauptstadt der Nabatäer ¤ 62 Das Amphitheater in Arelate, dem heutigen Arles, im Rhône-Delta, ein Bau aus der Zeit des Hadrianus. Blick auf die Stätte der Gladiatorenkämpfe ¤ 63 Marcus Aurelius. Porträtkopf der bronzenen Reiterstatue auf dem Kapitolsplatz in Rom, um 173 ¤ 64 M. A. Severus Antonius Caracalla im Jahr Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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seines Regierungsantritts, 211. Porträtkopf einer Marmorbüste aus Rom. Berlin, Staatliche Museen, Antiken-Slg. Aurelius wäre vermutlich der idealste Friedenspolitiker des zweiten Jahrhunderts gewesen, hätte er sich nicht gegen Hungersnot und Pest sowie gegen den Ansturm der Germanen wehren müssen. Caracalla dagegen war ein leidenschaftlicher Soldat. Seine wichtigste Regierungsmaßnahme war die Verleihung des Bürgerrechts an alle Einwohner. ¤ 65 Das Forum Romanum, der Mittelpunkt des politischen Lebens in Rom bis zum Untergang des Westreichs
Mit drei Schlagworten lassen sich die römische Kaiserzeit bis einschließlich Marcus Aurelius und das Neue, das diese zwei Jahrhunderte gebracht haben, kennzeichnen: orbis Romanus, civis Romanus, pax Romana. »Orbis Romanus, der römische Weltkreis, umfaßte den gesamten Umkreis des Miltelmeeres von der Straße von Gibraltar bis zum Schwarzen Meer und vom Nildelta bis zum äußersten Winkel der Adria. Aber die Römer haben auch weite Küsten des Ozeans von Marokko bis zur Elbmündung in Besitz genommen und sind bis zum Roten Meer Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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vorgedrungen... Die große Staatskunst dieses Volkes hat seit jeher darin bestanden, die besiegten Gemeinwesen als Verbündete zu gewinnen, und dieser Grundsatz ist von den römischen Kaisern peinlich beachtet worden.« (H.-G. Pflaum) »Niemals zuvor und niemals danach ist es einem Herrscher oder einem Volk wieder gelungen, innerhalb eines so ausgedehnten und von so verschiedenen Völkern, Sprachen und Kulturen erfüllten Raumes eine solche Eintracht und Zusammengehörigkeit ins Leben zu rufen... Civis Romanus, römischer Bürger, zu sein oder zu werden, war Stolz und Ehrgeiz aller Einwohner des großen Reiches. Die Eroberung der Vormacht Roms in Italien war stets darauf aufgebaut gewesen, daß Rom den Angehörigen der besiegten Völker den Eintritt in die römische Bürgerschaft gewährte. Außerdem sahen die Kaiser darauf, daß Abstammung und Herkunft niemanden am sozialen Aufstieg hinderten... Die unbeschränkten Aufstiegsmöglichkeiten beruhten letztlich auf der Gleichheit aller römischen Bürger vor dem Gesetz, Seit jeher war die Kenntnis des Rechts für alle ehrgeizigen Römer eine Voraussetzung ihrer Beamtenlaufbahn, da jeder Magistrat Recht sprach.« (H.-G. Pflaum) »Pax Romana, Frieden im Land und Sicherheit an den Grenzen, erlaubte es allen Einwohnern, von einem Ende des Reiches bis zum anderen zu reisen, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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ohne befürchten zu müssen, ausgeraubt, versklavt oder getötet zu werden. Auch der Güteraustausch nahm einen ungeahnten Aufschwung. Der Fernhandel zwischen Ost und West konnte sich wie nie zuvor entfalten und führte zur Anlage großer Häfen an allen Küsten.« (H.-G. Pflaum) ¤ 66 Entladen eines mit gerefftem Segel im Hafen von Ostia liegenden Schiffes. Relief, 3. Jahrhundert. Rom, Museo Torlonia ¤ 67 Eine Schlacht zur Zeit des Kaisers Septimius Severus. Relief von der Langseite eines Marmorsarkophags für einen Feldherrn, um 195. Rom, Museo Nazionale Romano o delle Terme ¤ 68 Die Gefangennahme des römischen Kaisers Valerianus I. durch Schapur I., den König der Sasaniden, im römisch-persischen Krieg (254-260). Sasanidische Gemme, um 260. Paris, Bibliothèque Nationale ¤ 69 Ansprache des römischen Kaisers an seine dakischen Truppen vor dem Feldzug nach Armenien; Empfang der armenischen Gesandten; Diocletianus und sein Caesar Galerius aus Dakien beim Opfer vor Beginn des neuen Kriegs gegen Persien; persische Friedensunterhändler in der römischen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Provinzhauptstadt. Reliefs auf einem der Pfeiler vom Triumphbogen des Galerius in seiner Residenz Thessalonike in der römischen Provinz Macedonia, um 298 »Seit Marcus Aurelius setzten die großen Völkerbewegungen im asiatischen Raum ein, die, an Roms Grenzen brandend, die Römer in die Verteidigung zwangen und den Abstieg einleiteten. Der Anspruch auf die Beherrschung der bekannten und bewohnten Welt, der seit Alexanders des Großen Tagen allen großen Herrscherin des Abendlandes vorschwebte, hat einen Nero, einen Traianus, einen Caracalla besessen und hat verhindert, daß Rom mit den Arsakiden oder deren Nachfolgern, den Sasaniden, den Beherrschern Parthiens, dann Persiens, zu einer Verständigung gelangte. Dieser nie wirklich zur Ruhe kommende Gegensatz zwischen den beiden einzigen Großmächten dieser Epoche hat beide Staaten geschwächt. Trotzdem ist der asiatische Osten des Reiches weniger verheert worden als die in Europa liegenden Provinzen, da zwischen den ständig aufflammenden Kriegen immer wieder friedliche Ruhepausen lagen. Hingegen rissen im Westen die unablässigen Angriffe der aus den Steppen des osteuropäischen und asiatischen Tieflandes hervorbrechenden Barbaren nicht ab.« (H.-G. Pflaum) Seit Septimius Severus war Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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es nichts Außergewöhnliches mehr, daß die Kaiser durch das Militär bestimmt wurden. Caracalla war ein Mann, der sich erst durch die Soldaten Popularität verschafft hatte. Seitdem bildete die Soldateska eine Gefahr für die Herrscher, die um geordnete Verhältnisse rangen und dabei auf den Widerstand der vom Militär erhobenen Mitregenten stießen. Die acht Jahrzehnte bis zum Regierungsantritt des Kaisers Diocletianus im Jahr 284 waren angefüllt mit Intrigen und Aufständen. Infolge einer Geldentwertung traten Requisitionen an die Stelle geregelter Steuererhebungen. Und an seinen Grenzen hatte das Römische Reich noch schwerere Belastungsproben zu bestehen; denn im Westen brachen germanische Stämme auf, vom Schwarzen Meer her kamen die Goten, und im Osten gaben die Sasaniden nicht Ruhe. Erst unter Diocletianus, der umfassende Maßnahmen zur Neuordnung des Staates durchführte, kam es auch an den Grenzen wieder zu einer gewissen Stabilität. ¤ 70 Die zwölf Apostel. Wandmalerei in der südlichen Kammer des unteren, durch Treppen mit Katakomben verbundenen Stockwerks im Sepulcrum Aureliorum in Rom, erste Hälfte 3. Jahrhundert ¤ 71 Die allen jüdischen Religionsgruppen gemeinsamen Symbole: siebenarmiger Leuchter und Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Thora-Rollen neben anderen synagogalen Gegenständen. Marmorrelief aus dem Bezirk des jüdischen Tempels in dem zur römischen Provinz Asia gehörenden Priene, 3./4. Jahrhundert. Berlin, Staatliche Museen, Frühchristlich-Byzantinische Sammlung ¤ 72 Gaius Valerius Aurelius Diocletianus, der Christenhasser und Judenfeind. Porträtkopf aus Rom, um 295. Rom, Villa Pamphili
Die christliche Missionstätigkeit blieb von Anfang an ohne kaiserliche Zustimmung. Der römische Staat besaß aus vorchristlicher Zeit sogar juristische Handhaben, um gegen »unerlaubte Gemeinschaften« vorzugehen. Zunächst wurde freilich keins dieser Gesetze für eine Christenverfolgung allgemeiner Art angewendet. Das geschah erst mit dem kaiserlichen Edikt von 250. Decius hatte in der großen Zahl von Christen die Ursache allen Unglücks im Reich gesehen und allen Untertanen befohlen, nur den heidnischen Göttern zu opfern. Aus ähnlichen Gründen bekämpften Valerianus und Diocletianus das Christentum. ¤ 73 Der Apostel Petrus. Relief auf einem Marmorfragment vom Gebälk des Hauptportals der einige Jahre nach dem Sieg des Christen Constantinus I. über den Mitherrscher Maxentius (312) erbauten Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Basilika über dem Apostelgrab ¤ 74 Der Apostel Paulus. Relief auf einem Marmorfragment vom Gebälk des Hauptportals der einige Jahre nach dem Sieg des Christen Constantinus I. über den Mitherrscher Maxentius (312) erbauten Basilika über dem Apostelgrab ¤ 75 Die Stadtmauer der Kaiserresidenz Augusta Treverorum mit dem Haupttor hinter der Moselbrücke. Rückseite eines Goldmedaillons des Kaisers Constantinus I. Gepräge aus Trier, um 315. Trier, Landesmuseum ¤ 76 Römische Silberschale mit dem Namen des Valerius Licinianus Licinius. Ein Geschenk an den oströmischen Kaiser aus Anlaß seines zehnjährigen Regierungsjubiläums im Jahr 317 mit guten Wünschen für weitere zehn siegreiche Jahre. Arbeit aus Naïssus, einer Stadt im Westen der römischen Provinz Moesia. Luzern, Sammlung E. u. M. Kofler-Truniger ¤ 77 Personifikationen der beiden Reichshauptstädte Rom und Konstantinopel. Rückseite eines Solidus des oströmischen Herrschers Constantius II. Gepräge aus Konstantinopel zum zwanzigjährigen Regierungsjubiläum des Caesaren, 343. Luzern, Auktion Hess-Leu Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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1961 ¤ 78 Der Reichseiniger Flavius Theodosius I. Vorderseite eines Solidus mit dem Bildnis des christlichen Kaisers. Gepräge aus Sirmium an der unteren Save, nach 379. Luzern, Auktion Hess-Leu 1957 ¤ 79 Dedikationsinschrift für das Heer der Teodosius-Söhne Arcadius und Honorius unter Führung des romanisierten Vandalen Flavius Stilicho, des Siegers über die Westgoten Alarichs bei Pollentia und Verona. Inschrift mit dem nach seiner Ermordung im Jahr 408 getilgten Namen Stilichos auf dem Marmorsockel für ein nicht bekanntes Reiterstandbild des bewährten Heerführers auf dem Forum Romanum in Rom ¤ 80 Die heute Sadowske Kale genannte Gotenburg etwa 40 Kilometer südlich von Plewna im Norden Bulgariens. Eine der Felsenbastionen der seit Constantius in der römischen Provinz Moesia siedelnden und den Römern unter seinen Nachfolgern zum Verhängnis gewordenen Goten ¤ 81 Reste der Bischofskirche in Ephesos, der Hauptstadt der Provinz Asia. Blick auf die dreischiffige, in das heidnische Museion hineingebaute Basilika, die Tagungsstätte des ökumenischen Konzils von Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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431 zur Anerkennung der »Gottesmutter Maria« und auf den Ort der wegen des Streits zwischen den Anhängern der monophysitischen und der dyophysitischen Christologie stürmisch verlaufenen Synode von 449 Constantinus hatte auf dem Konzil in Nicaea vorgeführt, wie die dogmatisch geeinigte christliche Kirche fortan dem Reich religiösen und moralischen Halt geben sollte. Das Rom verheißene ewige Dasein war nun aber Konstantinopel beschieden, das der Kaiser zur Hauptstadt bestimmt hatte. ¤ 82 Reste einer Sergius-Kirche, der sogenannten Basilika B in Resapha an der Strata Diocletiana in Syrien. Blick auf die Westseite des im fünften Jahrhundert begonnenen und wohl unter Iustinianus I. vollendete Baus ¤ 83 Reste der großen Landmauer zur Sicherung der Osthauptstadt Konstantinopel. Blick auf Außenring und Graben des 439 durch Cyrus von Panopolis vollendeten Schutzwalls ¤ 84 Theoderich der Große, König des Ostgoten und der Begründer des Germanenreiches auf italischem und sizilischem Boden. Goldmedallion, Anfang 6. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Jahrhundert. Rom, Museo Nazionale Romano o delle Terme ¤ 85 Theodora, die Frau des Kaisers Iustinianus I. Marmorskulptur eines griechischen (?) Künstlers aus Konstantinopel (?), um 530. Mailand, Museo del Castello Sforzesco ¤ 86 Flavius Anicius Iustinianus I., der »große Mann des Rechts« auf dem Kaiserthron Konstantinopels. Aus dem Mosaik der vom Kaiserpaar gestifteten Kirche S. Vitale in dem seit 540 von Ostroms Statthaltern regierten Ravenna, vor 547 ¤ 87 Ruinen des Klosters Abda in der Diözese Oriens in Negeb. Blick auf die vermutlich unter Iustinianus I. zur »christlichen Festung« ausgebauten Anlage über einer Gemeindegründung, vielleicht schon aus der Zeit vor der Christenverfolgung unter Diocletianus
»Im Jahr 527 traten Iustinianus und Theodora die Alleinherrschaft über den Osten an. Der Haß der Gegner hat das Bild des Kaisers verzerrt; es verrät aber so erst recht seine geistige Besessenheit, seinen unermüdlichen Fleiß, der freilich der Tyrannengefahr erlag, alles selber machen zu wollen. Theodora Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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übertraf ihn in der Kunst des Abstandes von den Dingen, an nüchterner Pragmatik und nicht zuletzt auch an persönlichem Mut... Die sehr verschwimmende Physiognomie des Kaisers, die Unsicherheit, ja selbst eine Nachgiebigkeit, die seine Vorurteile noch übertraf, verraten deutlich, daß er die Kräfte, die sich regten, nicht zu bändigen vermochte, weil er sie nicht verstand. Einer der bestbezeugten Herrscher der Geschichte bleibt im Grunde anonym: öffnet sich das Visier, so zeigt es die Züge seiner Zeit. Und dieses Zeitalter war vielfältig widersprüchlich.« Es hatte mit Constantinus begonnen, »mit der Gründung von Konstantinopel und mit der Erhebung des Christentums zur Staatsreligion. Beide Ereignisse bezeugen den Triumph des Ostens,« Constantius und Iulianus Apostata hatten das globale Geschehen nicht beeinflussen können. »Die Zukunft war den nüchternen illyrischen Generalen Valentinianus I. und Valens vorbehalten gewesen; unter ihnen hatte der Osten zum letztenmal seine Gesetze vom Westen empfangen. Trotz der Bemühungen dieser Männer war der Osten mit der Niederlage von 378 in einen der reißendsten Strudel seiner Geschichte gestürzt worden, der dann aber nicht ihn, sondern den Westen verschlang.« Aber die zusammengeballte Kriegermacht der Germanen auf der Wanderschaft »hatte auch dem großen Spanier Theodosius I. geholfen, nochmals das Reich zu retten, und Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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in seinem Fall eindeutig vom Osten her... Als letzter römischer Kaiser vor der Restauration des Reiches durch Iustinianus hatte Theodosius über das Gesamtreich geherrscht. Als er es 395 zwischen seinen Söhnen Arcadius und Honorius geteilt hatte, war dieser Akt nicht als die Spaltung der Mittelmeerwelt gedacht, sondern, wie die Aufgabe für Stilicho zeigt, als die Überwindung der administrativen Schwierigkeiten. Auf dynastischer Grundlage hatte man versucht, die alten Rezepte der diocletianischen Tetrarchenherrschaft von neuem anzuwenden.« (B. Rubin) Das Schicksal des Westreiches war längst bestimmt und eben nicht erst, seitdem 476 der Föderatenführer Odoaker über Italien herrschte und 493 der Ostgotenkönig Theoderich dort die Macht besaß. Ostrom war den Sasaniden räumlich so nahe, daß oft Nichtigkeiten den Anlaß zu harten Auseinandersetzungen gaben. So mußte Iustinianus wie schon viele Herrscher Westroms den Perserkrieg von seinem Vorgänger übernehmen. Er hatte an der südöstlichen Ecke des Schwarzen Meeres begonnen. »Die machtund handelspolitischen Differenzen im Kaukasusraum gehörten zu den Ursachen; sie waren auch daran schuld, daß der Konflikt nach Einstellung der Kampfhandlungen an den Hauptfronten weiterschwelte... Der Krieg verlagerte sich bald in den Bereich der südlichen Limeszonen.« Beide Seiten kämpften mit Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Unterstützung alter und noch schnell gewonnener Satelliten, aber gerade dadurch gerieten die Fronten sehr durcheinander; einmal sahen sich die Sasaniden in der Defensive, einmal die Römer. Erst der fünfzigjährige Frieden (562) brachte – ohne daß die Frist später eingehalten worden wäre – ein paar Jahre Ruhe. Dafür hatte sich Ostrom gegen andere Mächte zu wenden. Zwar waren noch vor dem Ende des Krieges im Osten die Kampfhandlungen in Italien abgeschlossen worden, nach den Erfolgen bei Tadinae und Capua sogar mit der Bildung einer oströmischen Provinz, zwar konnten Afrika und Spanien als befriedet gelten, »aber die Summe der Siege kam einer Niederlage gleich. Die großen Gebiete ließen sich auf die Dauer nicht mehr übersehen... Die Schwäche der Balkanpolitik des Kaisers Iustinianus führte unter seinen Nachfolgern zu weiteren Rückschlägen in Südosteuropa, Italien und den übrigen römischen Einflußbereichen des westlichen Mittelmeerraumes... Im Balkangebiet stellten sich die Awaren als die gefährlichsten Gegner des Reiches heraus.« (B. Rubin) ¤ 88 Die heute Takht-i-Suleiman genannte Festung der Sasaniden östlich vom Urmia-See. Blick auf die Außenseite des Südosttores in dem mit achtunddreißig Türmen nach dem Vorbild der römischen Kastelle erbauten Wall um die Pilger- und Palaststadt Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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der Großkönige am Feuerheiligtum aus älterer Zeit ¤ 89 Der Jordan mit seiner Mündung im Toten Meer. Durchzugsgebiet sasanidischer Truppen nach ihren Siegen in Armenien, dem Streitobjekt der Großmächte, in Kappadokien und Kleinasien. Mosaik aus der Palästina-Karte im Fußboden der Basilika in Madaba im Ostjordanland, 6. Jahrhundert ¤ 90 Die Ebene bei Tadinae in Umbrien, Schauplatz des Kampfes der oströmischen Invasionsarmee unter Narses, dem Vertrauensmann der 548 verstorbenen Kaiserin Theodora, gegen die Goten unter Totila im Jahr 552. Blick über den Nordteil der verschütteten alten Stadt und über die Via Flaminia auf den Westabhang der Apenninen ¤ 91 »Olivenöl vom Holz des Lebens von den heiligen Stätten Christi«. Mit verkleinerten Nachbildungen der Mosaiken und Fresken in den Kirchen Palästinas geschmückte Bleiampullen aus Jerusalem (?), Geschenke des Papstes Gregor I. an die Langobardenkönigin Theodolinde, 6. Jahrhundert. Monza, S. Giovanni Battista ¤ 92 Reiter mit Gefangenem. Medaillon auf einem Goldkrug aus dem Schatz von Nagyszentmiklós im Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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heutigen Rumänien. Getriebene Arbeit aus der Zeit der slawisch-awarischen Herrschaft über die Balkanländer Belisar und dann Narses, den Feldherren des Iustinianus, war es noch einmal gelungen, Italien dem Reich anzugliedern. Diese oströmische Provinz ließ sich jedoch nicht lange halten. »Kaiser Maurikios konnte seinen Versuch, Italien durch das Spiel mit den goldenen Kugeln zu halten, nur teilweise mit Erfolg krönen. Exarch Romanus sah den Angriffen des Königs Agilulf auf Rom tatenlos zu. In solcher Not legte Gregor der Große das politische Fundament des Kirchenstaats. Iustinianus hatte den moralischen Vollzug des Romgedankens einem Papst überlassen, dessen Reich nicht von dieser Welt war. Diese Zeiten waren vorbei. Gregor I. verteidigte Rom mit dem Schwung Belisars und der schwertgewaltigen deutschen Bischöfe späterer Jahre.« (B. Rubin) »Plünderungen, Zerstörungen, Massaker auf der einen Seite, Assimilation der Sieger, die den institutionellen Rahmen und die Sitten einer höheren Zivilisation übernahmen, auf der anderen; militärische und politische Ohnmacht der überfallenen Bevölkerung und ihre aktive Zusammenarbeit mit den Barbaren in neuen Staats- und Regierungsformen; heftige Gegensätze und friedliche Koexistenz der Kirchen: es war Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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eine revolutionäre Situation. Alle alten Werte der Zivilisation schienen in Frage gestellt. Die Lösung der Krise brachten die Barbarenkönige, indem sie auf die jahrhundertealte Erfahrung des Römischen Reiches zurückgriffen... Die römische Zivilisation lebte weiter, mit einzigartigem Glanz bei den Westgoten Spaniens und bei den Ostgoten Italiens, weniger existenzsicher bei den Burgundern Galliens, fast betäubt bei den Franken. Nirgends jedoch verschwand sie ganz und für immer.« (W. Seston) ¤ 93 Die Krönung Agilulfs zum König der Langobarden im Jahr 590. Vergoldete Platte, Anfang 7. Jahrhundert. Florenz, Museo Nazionale
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VI. China ¤ 0 Karte [Fundorte und historische Stätten] ¤ 1 Bäuchlings beigesetzter Toter in einem Stufengrab bei Ta-ssu-k'ung-ts'un in der Nekropole der ehemaligen Hauptstadt des Shang-Reiches in der Nähe von An-yang
Aus den neolithischen Kulturen in der nordchinesischen Ebene entstand schon vor 1500 v. Chr. die hochentwickelte Bronzekultur des Shang-Volkes. Obwohl neue Ausgrabungen unser Wissen über Art und Verbreitung dieser Kultur fast jedes Jahr wesentlich erweitern, stützen sich unsere Kenntnisse vom ShangVolk und seiner Kultur zum größten Teil noch auf die 1928 begonnenen Ausgrabungen der letzten, während der zweiten Hälfte des elften Jahrhunderts v. Chr. vernichteten Shang-Hauptstadt in der Nähe des heutigen Anyang in der Provinz Honan. Über offenen Gruben, die den Einwohnern der Hauptstadt als Wohnhäuser dienten, war ein Holzgerüst errichtet, das ein Strohoder Schilfdach trug. Außer diesen einfachen Behausungen wurden hier zum erstenmal Fundamente aus gestampfter Erde ausgegraben, Reste von großen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Holzbauten, wahrscheinlich Tempeln, Palästen oder Gemeindehäusern. Neben der Stadt der Lebenden lag eine ausgedehnte Nekropole mit zahlreichen Gräbern, die mit Beigaben reich ausgestattet waren. Das gilt vor allem für die Königsgräber, um die herum die geopferten Diener beigesetzt wurden. Die Inschriften der besonders eindrucksvollen Bronzegefäße sind fast ausschließlich von monosyllabischer Kürze. Erheblich aufschlußreicher sind die Inschriften auf Orakelknochen und Schildkrötenpanzern, die wohl aus einem Staatsarchiv des Shang-Reiches stammen. »Das Material, das sich auf diese Weise erhalten hat, ist umfangreich, aber die Auskunft, die es gibt, nicht allzu präzise.« (A. F. P. Hulsewé) Die Orakelinschriften bestätigen jedoch die in der alten chinesischen Literatur überlieferte Ahnentafel fast völlig; damit beweisen sie die Zuverlässigkeit einer der ältesten chinesischen Geschichtsquellen. Die hochentwickelte Technik des Bronzegusses, deren Herkunft – entweder einheimisch oder aus dem innerasiatischen Raum importiert – bisher noch nicht mit Sicherheit festgestellt werden konnte, breitete sich allmählich von dem hauptstädtischen Kulturzentrum in die umliegenden Lehnsbezirke und auch in die eroberten Gebiete aus, wie in das Stromgebiet des niederen Yangtzu. Auch dort wurde, vielleicht schon gegen Ende der ShangZeit, Bronze für Waffen und rituelle Gefäße Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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verwendet. Die Bauern aber lebten fast überall noch in der Neusteinzeit. Erst während der Chou-Zeit vollzog sich auf dem Land ein direkter Übergang vom Gebrauch steinerner Ackerbaugeräte zu dem eiserner Pflugscharen. ¤ 2 Klingstein mit stilisiertem Tigerdekor. Jadearbeit aus einem Königsgrab der Shang-Zeit in Wu-kuants'un in der Nähe von An-yang ¤ 3 T'ao-t'ieh, eine magische Tiergestalt. Fragment einer Marmorskulptur, Shang-Zeit. Zürich, Museum Rietberg ¤ 4 Gesichtsmaske. Bronzearbeit, Grabverzierung (?), Shang- oder frühe Chou-Zeit. Amsterdam, Museum van Aziatische Kunst ¤ 5 Dolch mit Griff in Form eines Tierkopfes. Bronzearbeit, Shang- oder frühe Chou-Zeit, Amsterdam, Museum van Aziatische Kunst, Sammlung Dr. R. Flaes ¤ 6 Bronzeglocke mit stilisierten Tieren im Reliefschmuck. Ein Stück aus dem Serienfund von Wei-hui in der Provinz Honan, späte Chou-Zeit, um 482 v. Chr. Amsterdam, Museum van Aziatische Kunst Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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¤ 7 Bambuskorb mit Toilette-Gegenständen aus einem Grab außerhalb der Mauern von Ch'ang-sha in der Provinz Hunan, einem wichtigen Zentrum der Ch'u-Kultur während der späten Chou-Zeit. Lackierte Holzarbeiten, 4.-2. Jahrhundert v. Chr.
Annähernd acht Jahrhunderte des ersten vorchristlichen Jahrtausends standen im Zeichen der Chou-Dynastie, eines ursprünglich aus der Gegend des WeiTals stammenden Königshauses, dessen Angehörige um 1020 v. Chr. die Hauptstadt der Shang erobert und völlig vernichtet hatten. Die Großkönige des Chou-Hauses waren eine Macht in der Hierarchie des traditionellen Lehnsystems, und sie behielten diese Macht, solange sie ihre Hauptstadt halten konnten. Mit deren Verlegung nach dem Osten in die Gegend des heutigen Lo-yang (770 v. Chr.) begann für die Chou-Herrscher ein Schattendasein, in dem sie kaum mehr als ihren sakralen Verpflichtungen nachkamen. Die Teilstaaten wurden mächtiger und zahlreicher: ihre Oberhäupter traten in den Vordergrund, um die gesamte Staatsmacht zu übernehmen. In den unruhigen Jahrzehnten der Zeit der Kämpfenden Staaten (nach 450 v. Chr.) bildeten sich allmählich größere Fürstentümer, die sich bald mit diesem, bald mit jenem Staat verbündeten und die in der Hegemonie einander schnell ablösten. An den Höfen der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Kleinstaaten, deren Größe oft nach dem Kontingent der Streitwagen eingeschätzt wurde, traten in dieser Zeit herumwandernde Philosophen als Berater auf. Einige von ihnen sind zu Chinas größten Denkern zu rechnen. »Der bedeutsame Vorstoß der frühen Philosophen bestand darin, daß sie das menschliche Tun als fragwürdig ansahen und nach einer Ideallösung suchten: die ideale Ordnung der Gesellschaft sollte das richtige Verhalten der Menschen gewährleisten oder überhaupt erst ermöglichen. Die vorgefundene Struktur der Gesellschaft erschien den frühen Denkern als unzureichend und unbefriedigend und wurde von ihnen implicite und explicite verurteilt.« (A. F. P. Hulsewé) Neben den Denkern, die sich wie Konfuzius um die Wahrung des alten Lehnsystems bemühten, gab es die Propagandisten einer »allumfassenden Liebe« und die Realpolitiker der sogenannten Rechtsschule. Nur die Taoisten unterließen den Versuch, die Gesellschaft neu zu ordnen; sie erstrebten vielmehr, sie in Einklang mit dem Naturprozeß zu bringen. Das trifft für den Mystiker Lao-tzu, den angeblichen Verfasser des berühmten »Tao-te-ching« (Dreißig Speichen treffen sich in der Nabe, aber in dem, was nicht ist, liegt der Nabe Brauchbarkeit), ebenso zu wie für seinen größten Nachfolger Chuang-tzu im späten vierten Jahrhundert v. Chr. Unter den Denkern der Rechtsschule, die sich darum bemühten, ihren Fürsten Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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zum Sieg über die Rivalen zu verhelfen und eine zentrale Herrschaft in China zu gründen, war Shang Yang der Erfolgreichste. ¤ 8 Streitwagenbestattung in der Nähe von Hui-hsien in der Provinz Honan, späte Chou-Zeit, 4./3. Jahrhundert v. Chr. ¤ 9 Grabhügel eines Kaisers in der Westlichen HanDynastie im »Pyramiden«-Bezirk in der Nähe der ehemaligen Han-Hauptstadt unweit vom heutigen Sian-fu in der Provinz Shensi
Shang Yang war als Berater des Fürsten von Ch'in an dessen Eroberung Chinas beteiligt. Dieser konnte schon 221 v. Chr. als erster Kaiser (Ch'in Shih Huang-ti) eines nahezu vollständig »unifizierten« Chinas den Thron besteigen. Nicht nur in Ch'in, sondern im ganzen neuen Reich wurden die Ideen der Rechtsschule in die Praxis umgesetzt und in der Staatsverwaltung verwirklicht. Um die staatliche Einheit des in sechsunddreißig Kommanderien aufgeteilten Reiches zu erhalten, mußten die Chinesen manches hinnehmen, was tief in ihr Leben eingriff. »Zu den ersten Schutzmaßnahmen gehörte die Einziehung aller im Land vorhandenen Waffen... Das Konsolidierungsprogramm brachte die Vereinheitlichung der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Gesetze, der Maße und Gewichte, der Schriftzeichen und der Spurbreiten der für den Wegtransport bestimmten Karren... Auf Vorschlag des Kanzlers Li Ssu, eines der stärksten Initiatoren der Vereinheitlichungspolitik, bestimmte 213 v. Chr. ein kaiserlicher Erlaß die Einziehung aller das Altertum betreffenden Schriften und stellte Besitz und Studium solcher Schriften unter Strafe... Die konfuzianische Geschichtsschreibung verurteilte den ersten Kaiser der Ch'in als wüsten Unmenschen; dagegen preist die allerneueste chinesische Geschichtsschreibung, die vieles anders deutet, seine Verdienste um die Einigung der Kämpfenden Staaten und die Gründung des chinesischen Reiches.« (A. F. P. Hulsewé) Dem Nachfolger des Kaisers Gh'in Shih Huang-ti wurde eine Rebellion, die sich sehr schnell über das ganze Land ausbreitete, zum Verhängnis. Ein Führer der Aufständischen, der Bauernsohn Liu Fang, siegte nach vielen Kriegsjahren über seinen Rivalen Hsiang Yü und bestieg 202 v. Chr. den Thron Chinas als erster Kaiser des Han-Reiches. ¤ 10 Chinesische Dienerin. Bemalte Tonplastik, Han-Zeit oder Zeit der Drei Reiche, 1.-3. Jahrhundert. Berlin, Staatliche Museen, Ostasiatische Sammlung ¤ 11 Eine Festung der Han-Zeit. Tonmodell aus Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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einem Grab in einem Vorort von Kanton, um 76 ¤ 12 Gemeindevorsteher der Han-Zeit. Abklatsch von einem Teil eines Reliefziegels aus einem Grab in der Provinz Hunan. Berlin, Privatbesitz ¤ 13 »Pietätvolle Kindesliebe«. Darstellung des beliebten Themas in einer Lackmalerei der Han-Zeit auf einem Körbchen aus einem Grab in Lo-lang / Nordkorea
Unter der Regierung des ersten Han-Kaisers wurden die »Lehnskönige durch Mitglieder seines eigenen Geschlechts, der Liu, ersetzt. Für die weitere Entwicklung des chinesischen Reiches war die lange Regierungszeit des Kaisers Wu (141-87 v. Chr.) entscheidend. Ihm gelangen die endgültige Ausschaltung der politischen Macht der neuen Feudalherren, der Aufbau eines durch Prüfungen ausgesuchten Beamtenstandes und die Erweiterung der Zentralverwaltung. Nicht minder bemerkenswert sind Wus Triumphe in der Kriegsführung. Seine offensive Politik gegen die Hsiung-nu (›Hunnen‹) führte zur Eroberung des chinesischen Nordwestens (129-120 v. Chr.) und zur Einbeziehung Mittelasiens in den chinesischen Machtbereich (bis 100 v. Chr.). Das damals noch unabhängige Südchina wurde zum Objekt der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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chinesischen Durchdringungspolitik: große Teile der heutigen Provinzen Kiangsi, Kuangtung und Kuangsi sowie das nördliche Indochina einerseits, Kueichou und Yünnan andererseits wurden dem Reich einverleibt. Die chinesische Vorherrschaft in der südlichen Manchurei und in Nordwestkorea wurde konsolidiert.« (A. F. P. Hulsewé) In den eroberten Gebieten, die teilweise von den Chinesen besiedelt wurden, entwickelten sich unter dem Einfluß der Han-Kultur zahlreiche Lokalkulturen, die alle ihr eigenes Gepräge hatten. Bei den in Yünnan ausgegrabenen Funden lassen sich Verbindungen mit der indochinesischen Dongson-Kultur nachweisen, aus Kuangtung, aus Ssu-ch'uan, aus der Manchurei, aus Nordkorea und den Steppen der Mongolei besitzen wir eine Fülle von Material, das die Schlußfolgerungen stützt, die man aus den für diese Zeit schon recht reichlich fließenden Geschichtsquellen gewonnen hat. Während der Gh'inund der frühen Han-Zeit wurden entlang der Nordgrenze Chinas Verteidigungsanlagen gebaut, aus denen später die berühmte Chinesische Mauer entstehen sollte. Sie spielte eine wichtige Rolle in den ständigen Kriegen gegen das nomadische Hirtenvolk der Hsiung-nu in den nördlichen Steppengebieten. ¤ 14 Ein Chinese. Tonplastik der Östlichen Han-Zeit aus einem Vorort von Kanton Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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¤ 15 Lautespielender Musiker. Tonplastik aus Mienyang in der Provinz Ssu-ch'uan, Han-Zeit ¤ 16 Chinesen auf der Hirschjagd. Relief auf einem Tonziegel, Han-Zeit. Rom, Museo Nazionale d'Arte Orientale ¤ 17 Herd mit zwei Gefäßen. Tonmodell aus einem Grab in Chengchou in der Provinz Honan, Han-Zeit. Berlin, Staatliche Museen, Ostasiatische Sammlung
Schwache Herrscher mußten zusehen, wie die Regierung in die Hände von Usurpatoren fiel und Kaiserinnen ihre Verwandten an die Staatsspitze lancierten. Im nachchristlichen Jahr 6 verstand es der Regent Wang Mang, ein »Mandat des Himmels« zu erwerben und nach Beseitigung eines unmündigen Han-Kaisers den Thron zu besteigen. Dieses Interregnum, das sich durch eine fanatische Verehrung der klassischen Chou-Zeit und eine starke Konfuzianisierung der Staatsstruktur auszeichnete, endete im Jahr 23 mit einem Aufstand, durch den wieder ein Mitglied des Hauses Liu zum Kaiser ausgerufen wurde. Mit ihm kehrte zwar die berühmte Han-Dynastie zurück, aber sie erreichte niemals mehr den Höhepunkt ihrer früheren Macht. Eine neue Expansion in das zentralasiatische Tarimbecken gab wiederholt Anlaß zu Kriegen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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mit den Hsiung-nu in den nördlichen und nordwestlichen Grenzgebieten. Aber Erfolge wechselten mit Mißgeschick, so daß die von den Chinesen eroberten Territorien nicht auf die Dauer gehalten werden konnten. Die besondere Bedeutung der Han-Dynastie für die spätere Geschichte Chinas liegt deshalb auch keineswegs allein in der militärisch-politischen Expansion, durch die sich die Han-Kultur nicht nur im Gebiet innerhalb der heutigen chinesischen Grenzen, sondern auch weit darüber hinaus verbreitete. »Die Einrichtung der Hochschule (T'ai-hsüeh) war der erste Schritt zur Verpflichtung der Beamtenschaft auf den Konfuzianismus mit besonderer Betonung der Treue und Ergebenheit gegenüber dem Staat, der Anfang des hierarchischen Aufbaus der Gesellschaft und der daraus erwachsenden gesellschaftlichen Pflichten.« (A. F. P. Hulsewé) Obwohl das Prüfungssystem erst später in allen Einzelheiten ausgearbeitet wurde, kann es keinen Zweifel daran geben, daß dieses so außerordentlich wichtige Fundament für das Werden der späteren chinesischen Staatsstruktur schon während der HanZeit gelegt wurde. Es ist von grundsätzlicher Bedeutung, daß die Han-Dynastie eine lange Atempause schuf, in der es den Chinesen gelang, ihre einheimische Kultur auf- und auszubauen; denn als der Buddhismus in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten zu einer Springflut anschwoll, konnten sich nur die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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stärksten Traditionen über Wasser halten. »Eine wesentliche Umformung chinesischer Geistigkeit und Zivilisation – eine der wichtigsten in der Geschichte Chinas überhaupt – ging unter dem Einfluß des Buddhismus vor sich.« (H. H. Frankel) Dies jedoch geschah erst während Chinas Aufsplitterung in die »Drei Reiche« (220-265), während der beiden ChinDynastien (265-420) und in der Zeit der Nördlichen und Südlichen Dynastien (420-589), als chinesische Geschlechter im Süden und die T'o-pa und andere eingewanderte Nomadenstämme im Norden Chinas herrschten. ¤ 18 Die fünfzehnstöckige Ziegelpagode des Tempels Sung-yüeh-ssu auf dem Berg Sung Shan in der Provinz Honan, Wei-Dynastie, um 520
»Die erste und langlebigste unter den Nord-Dynastien war die der Nord-Wei (386-535); die von den T'o-pa, einem führenden Klan der nichtchinesischen Hsienpei, gegründet worden war. Die Periode der T'o-paWei ist deswegen von besonderem Interesse, weil sie den ersten in Urkunden belegten Fall einer langwährenden Verschmelzung von Chinesen und ›Barbaren‹ auf chinesischem Boden darstellt.« (H. H. Frankel) Die Kaiser der Nord-Wei erwiesen sich als energische Förderer des Buddhismus. Unter ihrer Herrschaft Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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wurde in den nördlichen Gebieten Chinas von Tunhuang bis tief in die Manchurei hinein mit dem Bau prachtvoller Höhlentempel begonnen. Die frühesten, von denen die Grotten von Yün-kang sehr bekannt sind, verraten noch im Stil der Buddha-Figuren und in der Architektur der Höhlenanlagen eine enge Verwandtschaft mit der buddhistischen Kunst des Tarimbeckens, wo chinesische Pilger auf dem Weg nach Indien und eine internationale polyglotte Gesellschaft von buddhistischen Missionaren auf ihrem Weg nach China sich in den Kultstätten und Oasen zu religiösem Gedankenaustausch trafen. In den ersten künstlerischen Zeugnissen dieses Statuen-Kults auf chinesischem Boden sind die Spuren von Gandhara und Bamiyan noch unverkennbar. Nach und nach jedoch wurden Buddhas, Bodhisattvas und auch Hindu-Götter in eine einheimische Formensprache übersetzt. Diesen Prozeß der »Sinifizierung« des Buddhismus, der sich am Stilwandel der Skulpturen beobachten läßt, kann man auch aus der umfangreichen buddhistischen Literatur Chinas rekonstruieren. Neben den seit dem zweiten Jahrhundert aus dem Sanskrit und den zentralasiatischen Sprachen übersetzten heiligen Schriften des Buddhismus sind zahlreiche chinesische Traktate und Kommentare überliefert. Das Studium der Texte führte zur Bildung chinesischer Sekten; sie sind ein anderes Symptom für die immer weiter Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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fortschreitende »Sinifizierung« der buddhistischen Lehre in China. Obwohl man auch im Süden unter den einheimischen Dynastien dem Buddhismus anhing, ist dort fast keine der ursprünglichen Kultstätten erhalten geblieben. ¤ 19 Buddha und seine Lebensgeschichte. Reliefskulpturen auf dem Zentralpfeiler und an der östlichen Wand der Höhle VI des Felsheiligtums von YünKang in der Provinz Shansi, Nord-Wei-Zeit, zweite Hälfte 5. Jahrhundert ¤ 20 Der fünfköpfige Hindu-Gott Vishnu. Steinrelief am Eingangsportal zur Höhle VIII des Tempels von Yün-kang, Nord-Wei-Zeit, zweite Hälfte 5. Jahrhundert ¤ 21 Bodhisattva Maitreya der künftige Buddha. Steinskulptur aus einer Nische der Ku-yang-Höhle von Lung-mên in der Provinz, Nord-Wei-Zeit, Anfang 6. Jahrhundert. Zürich, Museum Rietberg ¤ 22 Untersatz für einen Sarkophag. Chinesische Steinskulptur mit Reliefdekor, Nord-Ch'i-Zeit, zweite Hälfte 6. Jahrhundert. Boston/ Mass., Museum of Fine Arts
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¤ 23 Krieger in Rüstung bei der Gefangennahme eines Mannes. Fragment eines Wandgemäldes aus den Trümmern eines buddhistischen Tempels im Kumtura im chinesischen Turkestan, 7.-9. Jahrhundert. Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Staatliche Museen, Indische Kunstabteilung
Als zuerst unter der Sui-Dynastie (581 bis 618) und dann unter der T'ang-Dynastie die Wiedervereinigung Chinas zustande kam und das Reich der Mitte zur alten Expansionspolitik gegen Zentralasien zurückkehrte, gedieh in, dem kosmopolitisch gewordenen Klima der kaiserlichen Hauptstädte auch die international eingestellte Religion des Buddhismus. »Der Buddhismus in China erreichte seinen Höhepunkt in der ersten Hälfte der T'ang-Dynastie... Die Kaiserin Wu förderte ihn während ihrer Regierung mit allen Kräften, war allerdings gleichzeitig auch bestrebt, eine Synthese für die drei Hauptreligionen Konfuzianismus, Taoismus und Buddhismus zu finden.« (H. H. Frankel) Das bedeutete nicht nur eine religiös-philosophische Vertiefung, sondern auch einen Höhepunkt der kirchlichen Organisation mit wirtschaftlich großem Einfluß. Aber die starke Position der buddhistischen Kirche wurde ihr selbst schließlich zum Verhängnis. Um die Mitte des neunten Jahrhunderts ging die T'ang-Dynastie offensiv gegen den Buddhismus Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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vor. Zahlreiche Tempel, besonders in den Gebieten der Metropolen, wurden säkularisiert und in einem regelrechten Bildersturm vernichtet. Kultbilder aus vergoldeter Bronze mußten eingeschmolzen werden, und die meisten Mönche wurden in die Welt zurückgestoßen. Von dieser Katastrophe hat sich der chinesische Buddhismus niemals wieder ganz erholt. ¤ 24 Die Göttin vom Lo-Fluß. Aus einer im 12. Jahrhundert entstandenen Handrolle nach einem Bild des Chin-Hof-Malers Ku K'ai-chih, vor 406. Washington, Smithsonian Institution, Freer Gallery of Art ¤ 25 Yang Chien, als Kaiser Wen (581-604) der Begründer der Sui-Dynastie. Aus einer dem am T'angHof arbeitenden Yen Li-pen zugeschriebenen Handrolle mit dreizehn Kaiserporträts, vor 673. Boston/ Mass., Museum of Fine Arts ¤ 26 Buddhistische Pilger bei ihrer Ankunft in einer Stadt. Wandgemälde in Höhle 217 (Pelliot, Nr. 70) der »Grotten der tausend Buddhas« bei Tun-huang in der Provinz Kansu, T'ang-Zeit, um 660 ¤ 27 Huldigung der turkvölkischen Uiguren vor dem siegreichen T'ang-General Kuo Tzu-i. Tuschmalerei Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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auf einer Handrolle im Stil des 1106 gestorbenen Li Kung-lin. Taichung/Taiwan, National Palace an Central Museums ¤ 28 Yang-ti (604-618), der zweite Kaiser der SuiDynastie, mit Gefolge. Aus einer dem am T'ang-Hof arbeitenden Yen Li-pen zugeschriebenen Handrolle mit dreizehn Kaiserporträts, vor 673. Boston/Mass., Museum of Fine Arts
»Die chinesische Kultur der Sui- und der frühen T'ang-Zeit war Einflüssen des Auslands gegenüber in bemerkenswerter Weise aufgeschlossen und tolerierte die verschiedensten fremden Bräuche und Vorstellungen. Je mehr die Großstädte wuchsen, die um die kaiserlichen Metropolen und die vielen Provinzzentren herum entstanden und auch ausländische Bürger anzogen, desto mehr erhielt die chinesische Zivilisation weltstädtisches, kosmopolitisches Gepräge... Reisende kamen nach Ch'ang-an: Diplomaten, Kaufleute, Soldaten, buddhistische Mönche und Schausteller, Musikanten, Sänger. Tänzer, Akrobaten und Gaukler aus Zentralasien, Indien und Südostasien waren am Hof der Sui- und T'ang-Kaiser besonders beliebt.« (H. H. Frankel) Fremde Religionen konnten sich nun auch in China entfalten: der Glaube der Nestorianer, der Zarathustra-Kult und vor allem der Manichäismus Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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der Uiguren. Dieses Turkvolk spielte in der Geschichte der T'ang-Zeit eine wichtige Rolle. Mit seiner Hilfe wurde um die Mitte des achten Jahrhunderts der Aufstand des Militärkommandanten An Lushan niedergeschlagen. Als aber der Uiguren-Khan selbst die Herrschaft über China anzutreten versuchte und im Bunde mit den Tibetern die Westliche Hauptstadt plünderte, griff der General Kuo Tzui ein, indem er die ausländische Koalition zersplitterte; damit war die Dynastie gerettet. ¤ 29 Die Ta-yen-Pagode bei Ch'ang-an, der Hauptstadt des T'ang-Reiches am Wei-Fluß in der Provinz Shensi. Blick auf die oberen Stockwerke der um 652 mit Hilfe des buddhistischen Pilgers Hsüan-tsang erbauten, im 10. Jahrhundert erhöhten Pagode ¤ 30 Iranischer Kamelreiter. Tonplastik aus einer Gruppe von sechs figürlichen Grabbeigaben aus der Provinz Shansi, T'ang-Zeit 7./8. Jahrhundert. Amsterdam, Museum van Aziatische Kunst ¤ 31 Reiter auf gesatteltem Pferd. Bemalte Tonplastik aus einem Grab im Hsien-yang in der Provinz Shensi, T'ang-Zeit. Berlin, Staatliche Museen, Ostasiatische Sammlung
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¤ 32 Hofdamen bei einem Palastkonzert. Aus einer Hängerolle im Stil des Süd-T'ang-Malers Chou Wenchü. Taichung/Taiwan, National Palace and Central Museums ¤ 33 Damen bei der Verarbeitung von Seide. Aus einer vom Sung-Kaiser Hui-tsung gemalten Handrolle nach einer Vorlage aus der T'ang-Zeit. Boston/Mass., Museum of Fine Arts
»In der zweiten Hälfte des neunten Jahrhunderts führten die Spannungen und Streitigkeiten in der Hauptstadt und in den Provinzen allmählich zum völligen Zerfall des T'ang-Reiches... Das halbe Jahrhundert, das auf das Ende der T'ang-Dynastie folgte, ist als die Zeit der ›Fünf Dynastien‹ und der ›Zehn Staaten‹ bekannt.« (H. H. Frankel) Die »Fünf Dynastien« hatten ihre Hauptstädte im Norden, in K'ai-feng oder Lo-yang: die wichtigsten Städte der »Zehn Staaten« lagen in West- oder Südchina. Das Reich der Süd-T'ang, in der Gegend des heutigen Nanking, war das Zentrum einer verfeinerten Hofkultur, die in den Genremalereien des Chou Wenchü und in den Gedichten ihres tragischen letzten Kaisers, Li Yü, in lebhaften Farben geschildert wird. Wie der buddhistische Staat des Wu-Yüeh in der heutigen Provinz Chekiang wurde auch Li Yüs Reich bald Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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nach einer Verschwörung des Generals Chao K'uangyin, des Begründers der Sung-Dynastie, wieder einer Zentralregierung unterworfen. »In ihrer Kunst und ihrem Denken erscheint uns die Sung-Epoche als ein Zeitalter der Selbstbeobachtung und gebändigter oder abgelenkter Energien. Obwohl diese Zeit eine Periode des Wohlstands und des wirtschaftlichen Wachstums mit verstärkter Handelstätigkeit und einem regen städtischen Leben war, stand die Dynastie während ihrer ganzen Geschichte unter der Bedrohung durch feindliche und militärisch starke Nachbarn einer fremden Kultur und hat niemals eine militärische Lösung dieses Problems gefunden. Die Sung-Zeit hat sich, wenn auch widerstrebend, für einen Verzicht auf eine militärische Lösung entschieden. Die Landesgrenzen, die schon bei ihrem Beginn gegenüber denen der T'angZeit geschrumpft waren, wurden weiter landeinwärts gedrückt. Schließlich wurde die ganze nördliche Hälfte des Reiches geräumt; von 1126 bis zum Ende der Dynastie im Jahr 1278 bestand das Reich als die ›Südliche Sung-Dynastie‹, die tatsächlich nur die südliche Hälfte des Herrschaftsbereichs des Gründers regierte.« Das elfte Jahrhundert war eine Zeit lebhafter intellektueller Tätigkeit. »Konfuzianische Begriffe wurden wieder zum Mittelpunkt geistiger Aktivität; der Konfuzianismus im Staat gab das rein Formale zugunsten von etwas sehr lebendigem auf, und seine Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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die ganze Gesellschaft durchpulsende Lebenskraft wurde regeneriert.« (F. W. Mole) Aus dieser geistigen Strömung wurde der Neo-Konfuzianismus geboren, der bis in die Neuzeit maßgebend für Erziehung und Regierung in China sein sollte. Wang Anshihs Reformmaßnahmen auf dem Gebiet der Staatsverwaltung, das Wiederaufleben des Buddhismus, besonders der meditativen Ch'an-Sekte, und die neuen kunstphilosophischen Ideen einer kleinen Gruppe der »Schöngeister vom Westlichen Garten«, zu der die größten Künstler und Dichter dieser Zeit gehörten – auch das charakterisiert die Zeit vor dem Zusammenbruch. ¤ 34 Literatenversammlung im Westlichen Garten. Aus einer in der Ming-Zeit entstandenen Hängerolle nach einem Bild des Literatenmalers Li Kung-lin, vor 1106. New York, Metropolitan Museum of Art ¤ 35 Die Grabanlage des Sung-Kaisers T'ai-tsung (976-997) bei Kung-hsien in der Provinz Honan. Blick auf den von großen Steinskulpturen flankieren »Geisterweg« zum Tumulus ¤ 36 Häuser, Pavillons und Brücken an einem Fluß in den Bergen. Aus einer Handrolle, Sung-Zeit, Anfang 12. Jahrhundert. Cleveland/Ohio, Museum of Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Art ¤ 37 Das Ch'i-ch'iao-Herbstfest im Han-Palast. Albumblatt im Stil des Chao Po-chü, Süd-Sung-Zeit. Taichung/Taiwan, National Palace and Central Museums
Gegen die Khitans (Liao) hatten die Chinesen fast ständig Krieg geführt, ohne daß jemals ein entscheidender Sieg errungen worden wäre. Bald nachdem das Hirtenvolk der Jurchen die immer mehr sinifizierten Khitans unterworfen hatte, vernichteten diese neuen Einwanderer auch die Sung-Heere. Während der gefangene Kaiser Hui-tsung nach dem Norden entführt wurde und seine prächtige Hauptstadt K'ai-feng der Plünderung ausgesetzt war, begann eine große Völkerwanderung nach dem Süden; Staatsbeamte, Hofmaler und spezialisierte Handwerker flohen vor der anrückenden Jurchen-Kavallerie. Da man wußte, daß die Jurchen erst vor dem Wasser haltmachen würden, zogen sich die chinesischen Behörden mit ihrem Gefolge auf Hang-chou zurück. Dort setzte man einen Verwandten des Sung-Hauses auf den Thron. Obwohl in späteren Jahren die Gegenstöße des berühmten Volkshelden Yüeh Fei in die besetzten Gebiete recht erfolgreich waren, gelang es der Friedenspartei, am Hofe das Übergewicht zu gewinnen. Man fand sich Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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mit dem Verlust der chinesischen Gebiete nördlich des Huai und des Yang-tzu ab, weil man schließlich einsah, daß es sich als viel billiger erwies, den Jurchen Abgaben zu entrichten, als die Ausgaben für eine große stehende Armee zu bestreiten. In der chinesischen Geschichte war die Verlegung des Regierungssitzes und des Kulturzentrums von großer Bedeutung; sie war die Ursache dafür, daß sich die wirtschaftlichen Kräfte voll entfalten konnten, und daß die lokalen handwerklichen Traditionen jetzt erst richtig zu Geltung kamen so in der Druckkunst und in der keramischen Industrie. Die kulturelle Blütezeit bildete einen schroffen Gegensatz zur politischen Ohnmacht und zum Verfall des Reiches. Die Kultur der »Provisorischen Hauptstadt«, wie Hang-chou aus Reverenz gegenüber den kaiserlichen Irredentisten genannt wurde, soll von einer seltenen Verfeinerung gewesen sein. Ihre zahlreichen Paläste und Brücken wurden viel später, als die Stadt schon wieder Provinzhauptstadt geworden war, noch von Marco Polo gerühmt. »Der letzte und größte Angreifer in den drei oder vier Jahrhunderten fortgesetzter zentralasiatischer Bedrohung, die Mongolen, standen im Jahr 1200 bereit, Eurasien zu erobern. Die Liao und die Chin wurden von dieser Welle vollkommen verschlungen, aber China erhob sich am Ende wieder daraus und setzte ohne Bruch der Kontinuität seinen traditionellen Weg Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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fort.« (F. W. Mote) 1234 besetzte der Sohn des großen Tschinghis Khan, Ogödei, den Staat der Jurchen, den er seitdem von Karakorum aus verwalten ließ. »Die Eroberung Chinas ist wahrscheinlich bereits unter Tschinghis Khan das Hauptziel der Mongolen gewesen. Sie sondierten und zögerten lange, wandten sich erst einmal der Sicherung anderer Erwerbungen zu oder dehnten sich an anderen Fronten aus. Aber zwangsläufig kamen sie auf China zurück.« (F. W. Mote) Nachdem Khubilai den Thron bestiegen und 1267 seine Hauptstadt nach dem heutigen Peking verlegt hatte, erfolgte bald der Angriff gegen die südliche Sung-Dynastie. Im Jahr 1279 fiel zum ersten Mal ganz China unter die Fremdherrschaft. Erst um 1368 konnten die Mongolen wieder vertrieben werden. »Die damaligen Chinesen betrachteten die Mongolen als die schlimmste Geißel der Geschichte, doch die Schäden, die sie der chinesischen Kultur zugefügt hatten, waren an der Oberfläche geblieben und wurden nach der Wiederherstellung der chinesischen Herrschaft leicht überwunden. Das ging um so rascher, als die Mongolen sich von China fernhielten, gewarnt durch das Beispiel der sich selbst auslöschenden Chin-Eroberer. Sie bewahrten ihren Nationalcharakter, und ein großer Teil Zentralasiens trägt heute den Namen Mongolei, den ihm ihre Anwesenheit im dreizehnten Jahrhundert gab. Sie zogen es vor, ihre Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Identität als Volk zu erhalten. Sie regierten China schlecht und recht, in der Hauptsache mit Hilfe nichtchinesischer Vertreter. Die Staatsmaschine ließen sie auf niedrigen Touren laufen, sie selbst aber erhielten sich bei bester nomadischer Leistungsfähigkeit. Indem sie es vermieden, die Regierung Chinas stärker zu rationalisieren, blieben sie zum mindesten selbst weitgehend davor bewahrt, den heimtückischen Preis für den Erfolg zu zahlen.« (F. W. Mote) ¤ 38 Ein Mongolenfriedhof in der Nähe von Ninghsia unweit der ehemaligen Hauptstadt des Hsi-hsiaTanguten-Reiches, 11.-13. Jahrhundert ¤ 39 Die Entlassung einer vornehmen Chinesin aus mongolischer Gefangenschaft. Aus einer Hängerolle von Ch'en Chü-chung, um 1205. Taichung/Taiwan, National Palace and Central Museums ¤ 40 Tschingis Khan beim Empfang einer Prinzessin. Persische Miniatur in einer Abschrift der »Allgemeinen Geschichte der Welt« von Raschid an-Din, um 1310. Paris, Bibliothèque Nationale ¤ 41 Mongolen bei der Fütterung ihrer Pferde. Aus einer in der Ming-Zeit (?) entstandenen Handrolle im Stil des Je Jen-fa. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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¤ 42 Die Wiederaufnahme der unter Khan Hülägü begonnenen mongolisch-französischen Kontakte durch Khan Öldscheitü. Aus einem Schreiben in uigurisch-mongolischer Schrift an Philipp den Schönen von Frankreich, Juni 1305. Paris, Archives Nationales ¤ 43 Kämpfe beim Landungsversuch der Mongolen in Japan. Aus einer Handrolle des japanischen Tosa Nagataka (?), 1293. Tôkyô, Kaiserlicher Besitz
Der Erfolg der Chinesen im Kampf gegen die Mongolen ist wahrscheinlich mehr dem Verfall der Mongolen-Herrschaft als der Führung des Chu Yüan-chang, des Gründers der Ming-Dynastie, zu verdanken. »Nachdem Chu Yüan-chang nach den Erfolgen der letzten Feldzüge, 1367 bis 13721 Kaiser geworden war, überwältigte ihn anscheinend die Einsamkeit seiner Majestät. Offenbar besessen von der Angst, den so leicht gewonnenen Preis wieder zu verlieren, wurde er argwöhnisch gegen jedermann. Die meisten seiner Waffengefährten ließ er unter Beschuldigungen des Verrats niedermetzeln... Die Aussichten auf eine geistige Blüte in der Ming-Periode scheinen nicht gerade ermutigend gewesen zu sein, wenn man die erstickende Atmosphäre unter der Regierung des Gründers und Kaisers Yung-lo und die konformistischen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Tendenzen berücksichtigt, denen man damals folgte. Immerhin war die Ming-Zeit eine Epoche der Stabilität und des Wohlstands, ausgezeichnet durch die hohe wirtschaftliche Prosperität, durch das Wachsen der Städte und ihre steigende Bedeutung, durch eine soziale Mobilität, zu der die Bildung erheblich beitrug, die durch Weiterentwicklung billiger Druckverfahren und weite Verbreitung von Büchern begünstigt wurde.« (F. W. Mote) Anfangs diente Nan-king der Dynastie als Hauptstadt, doch 1421 verlegte Yung-lo den Regierungssitz nach Peking. Er und die zwölf Kaiser, die ihm folgten, wurden in der Nähe von Peking in reich ausgestatteten Gräbern beigesetzt. Unter ihrer Herrschaft erhielt Peking das großartige Gepräge einer wirklich imperialen Hauptstadt. Die Ming-Dynastie, fest auf konfuzianischen Grundlagen gegründet, hatte besonders in den ersten Jahrzehnten ihres Bestehens viel Erfolg in der Außenpolitik. Aber schon während des sechzehnten Jahrhunderts gab es im Norden wieder Unruhen. Der Aufstieg der Manchus im frühen siebzehnten Jahrhundert sollte dann zum endgültigen Untergang der echten chinesischen Ming-Dynastie führen. ¤ 44 Das Mausoleum des Ming-Kaisers der Ära Yung-lo (1403-1424) in der Nähe von Peking. Blick auf den sogenannten Geisterturm vor dem Tumulus Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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¤ 45 das Grab des Ming-Kaisers der Ära Wan-li (1573-1620) in der Nähe von Peking. Blick in die Gruft mit den Sarkophagen des Kaisers und zweier Kaiserinnen ¤ 46 Matteo Ricci (1552-1610), Begründer einer Jesuitenmission in China. Gemälde eines unbekannten Künstlers. Rom, Galleria del Gesù ¤ 47 Johann Adam Schall von Bell (1592-1666), ein Nachfolger Riccis, in der Tracht eines Mandarins. Gemälde eines unbekannten Künstlers. Ehemals im Familienbesitz ¤ 48 Giraffe aus Bengalen, ein Tribut vom 20. September 1414 für den Ming-Kaiser Yung-lo. Aus dem Bild eines unbekannten Malers. New York, Ralph M. Chait Galleries
Während der Ming-Zeit entstanden die ersten Kontakte zwischen China und dem Abendland. Es hat nicht viel gefehlt, und die Chinesen hätten den Seeweg um Afrika herum entdeckt. Unter dem Kommando des Eunuchen Cheng-ho schickte Kaiser Yung-lo große Flotten nach Hinterindien und an die Küste Arabiens. Aber die neuen Handelsverbindungen waren weder eng noch regelmäßig; und da die Expeditionen sehr Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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kostspielig waren, wurden sie nach kurzer Zeit eingestellt. Daß der kaiserliche Hof seine Leute zu Einkäufen ins Ausland schickte, wird durch die erhaltenen exotischen Importwaren bestätigt. So wissen wir von einem Giraffen-Import, der wie alle anderen Einfuhren als Tributleistung für den Herrscher des Reiches der Mitte angesehen werden muß. Die Identifizierung dieser Giraffen mit den Ch'i-lin (natürlichen Lebewesen während der Regierungszeit idealer Herrscher) ist ein Fingerzeig dafür, daß solche Transaktionen nicht den Zweck hatten, dem Herrscher zu schmeicheln. – Die ersten europäischen Missionare in China waren Mitglieder des von Ignatius von Loyola gegründeten und 1540 bestätigten Jesuitenordens. Als erster traf Matteo Ricci in China ein. 1582 kam er nach Macao; hier widmete er sich dem Studium der chinesischen Sprache. Der brillante Astronom reiste 1601, seine Tonsur durch einen Mandarinhut getarnt, nach Peking, wo er mit großem Erfolg zu missionieren begann. Die Jesuiten kannten das Interesse der Chinesen für eine genaue Bestimmung der Zeit; sie konnten ihm dank ihrer astronomischen Kenntnisse entgegenkommen und sich bald eine Schlüsselposition im Amt für Sternkunde in Peking sichern. Riccis Nachfolger war Johann Adam Schall von Bell. Er traf 1619 in Macao ein und führte dann jahrzehntelang die Mission in Peking. Hier blieb er auch, als die Stadt von den Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Manchus erobert wurde. Obwohl er mit dem ersten Manchu-Kaiser gute Beziehungen unterhielt, wurde er 1664, als die Mission verfolgt wurde, ins Gefängnis geworfen und sogar zum Tode verurteilt. Kurz nach seiner Begnadigung starb er. ¤ 49 Marktflecken in Südostchina. Aus einer Handrolle von Wu Pin, Ming-Zeit, 1600. Cleveland/Ohio, Museum of Art
»Die Macht der Ch'ing begründet und eine unangefochtene Herrschaft in China und in Zentralasien aufgebaut zu haben, ist zum großen Teil das Verdienst des Kaisers K'ang-hsi... Während seiner langen Regierungszeit (1661-1722) förderte er die Wissenschaft, unterstützte die Künste, machte Reisen durch sein Reich, um die Verhältnisse zu prüfen; alles in allem entsprach er auf großartige Weise den Vorstellungen von einem weisen Kaiser. Er bemühte sich, den Chinesen die konfuzianischen Ideale von Bildung und Weisheit vorzuleben. Seinem Manchu-Volk zeigte er sich als ein Vorbild für Mut und Tapferkeit.« (F. W. Mote) Die Ziele der Ming aufnehmend, ließ er die Große Mauer ausbauen. Sie ist Symbol einer ausschließlich kontinental orientierten Außenpolitik. Beim Aufbau Pekings wurden monumentale Wirkungen erreicht. Ausländer, Kaufleute und Gesandte, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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denen es gelang, bis nach Peking vorzudringen, waren von der majestätischen Größe der kaiserlichen Stadt tief beeindruckt. Die Paläste der »Verbotenen Stadt« lagen im Zentrum Pekings, die Gebäude der staatlichen Prüfungsbehörden standen in den Hauptstädten der Provinzen. Die Manchus, die ihre Sozialstruktur aufrechterhielten, wohnten in eigenen Stadtvierteln außerhalb der eigentlichen Hauptstädte. ¤ 50 Die Große Mauer nördlich von Peking. Blick auf kleinen Abschnitt des Schutzwalls aus der MingZeit, 15./16. Jahrhundert ¤ 51 Das Zentrum von Ch'eng-tu, der Hauptstadt der Provinz Ssu-ch'uan im Westen Chinas ¤ 52 K'uei-hsing, der Gott der chinesischen Literatur. Malerei auf einem Pinselbehälter aus Porzellan, Ch'ing-Dynastie, K'ang-hsi-Zeit. Leeuwarden, Museum Princessehof ¤ 53 Studio in einem Garten. Schnitzerei auf einem Pinselbehälter aus Bambus, Ming-Zeit, 16. Jahrhundert. Taichung/Taiwan, National Palace and Central Museums ¤ 54 Das Duplikat einer Rechnung über eine in Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Kanton aufgenommene Fracht chinesischer Handelswaren für das Haus Peers in London, 10. Dezember 1731. London, British Museum ¤ 55 Holländische Schiffe an der chinesischen Küste. Lackmalerei auf einem sogenannten Koromandel-Schirm, Ch'ing-Dynastie, K'ang-hsi-Zeit. Amsterdam, Rijksmuseum ¤ 56 Chinesische Schauspielszene. Bemalte Porzellangruppe, Ch'ing-Dynastie, K'ang-hsi-Zeit. Amsterdam, Rijksmuseum ¤ 57 Chinesische Schauspielszene. Bemalte Porzellangruppe, Ch'ing-Dynastie, K'ang-hsi-Zeit. Amsterdam, Rijksmuseum
Von den chinesischen Erzeugnissen, die nach Europa gelangten, sind die Porzellane am bekanntesten. Die große Porzellanfabrik in Ching-te-chen war während der Kriegshandlungen am Ende der Ming-Zeit fast völlig zerstört worden. Nun versuchten die ausländischen Handelscompagnien, in Japan Ersatz zu finden. Sie kehrten jedoch gern zur chinesischen Ware zurück, als unter der Regierung von K'ang-hsi die Ofen von Ching-te-chen wieder arbeiteten. Eine gut durchdachte betriebliche Organisation sorgte dafür, daß die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Erzeugnisse nicht nur qualitativ sondern auch quantitativ zum Unikum in der ganzen Welt wurden. Aus Europa, wo die Porzellanmanufaktur noch in den Kinderschuhen steckte, kam als erster Besucher der französische Jesuitenpater d'Entrecolles. In zwei Briefen (1712 und 1722) schildert er begeistert den Großbetrieb in allen Einzelheiten. Die Entwicklung der geschäftlichen Beziehungen zwischen Produzenten und englischen sowie holländischen Handelshäusern sind bemerkenswert, weil man sie in der allgemeinen Literatur der Zeit nicht antrifft. In der konfuzianischen Ideologie war der Handel etwas Minderwertiges, jedenfalls nichts »Fundamentales«; lukrativer Auslandshandel – und es ist keinem Zweifel unterlegen, daß der Porzellanhandel für alle Beteiligten äußerst gewinnbringend war – war offiziell etwas Unvorstellbares. In den wirtschaftlichen Beziehungen zum Ausland galten noch während des neunzehnten Jahrhunderts sämtliche Ausländer entweder als Tributbringer oder gar als Schiffbrüchige, denen der Kaiser voller Erbarmen Rhabarber zur Heilung des Skorbuts schenkte. ¤ 58 Vornehme Damen beim Zitherspiel. Malerei auf einer Pozellanvase, Ch'ing-Dynastie. K'ang-hsi-Zeit. Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Staatliche Museen, Ostasiatische Kunstabt. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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¤ 59 Vornehme Damen auf der Schmetterlingsjagd. Malerei auf einer Pozellanvase, Ch'ing-Dynastie. K'ang-hsi-Zeit. Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Staatliche Museen, Ostasiatische Kunstabt. ¤ 60 Vornehme Damen beim Brettspiel. Malerei auf einer Pozellanvase, Ch'ing-Dynastie. K'ang-hsi-Zeit. Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Staatliche Museen, Ostasiatische Kunstabt. ¤ 61 Beispiel der Historienmalerei auf Porzellanvasen der K'ang-hsi-Zeit: Kaiser Ming-huang der T'ang mit Gefolge. Leewarden, Museum Princessehof ¤ 62 Beispiel der Historienmalerei auf Porzellanvasen der K'ang-hsi-Zeit: eine Schlacht auf dem Yangtzu-Fluß. Leewarden, Museum Princessehof ¤ 63 Beispiel der Historienmalerei auf Porzellanvasen der K'ang-hsi-Zeit: Geselligkeit in einem Gartenschloß. Leewarden, Museum Princessehof ¤ 64 Kaiser Ch'ien-lung mit seinem Gefolge auf dem Weg zum Audienzzelt. Aus einem Aquarell von William Alexander, 1793. Birmingham, City Museum and Art Gallery
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Obwohl zahlreiche fremde Besucher entweder von den Chinesen als tributbringende Gesandte angesehen wurden oder sich selbst für offizielle Vertreter ihrer Heimat ausgaben, kamen auch ganz offizielle, von einer Regierung oder Handelscompagnie entsandte Ausländer nach Peking. Die ablehnende Haltung gegenüber dem Außenhandel trug dazu bei, daß die meisten erfolglos blieben. Von den englischen Gesandtschaften (1793 und 1816) scheiterte eine an der Weigerung des britischen Botschafters, sich protokollgemäß vor dem Kaiser zu verbeugen. In dieser Hinsicht waren die calvinistischen Holländer weniger empfindlich, aber ihre Anpassungsfähigkeit hat auch ihnen kaum Vorteile gebracht. Die Engländer, die vor allem Tee und Seide kauften, hatten den Wunsch, ihre Handelsware mit Gewinn in China abzusetzen. Dafür war Opium besonders geeignet. Es wurde im frühen neunzehnten Jahrhundert von den Engländern in immer größeren Mengen aus Indien nach China exportiert und löste schließlich den ersten Krieg zwischen China und einem europäischen Staat aus. Von den nicht geschäftlich interessierten Europäern, die in China tätig waren, verdient besonders der italienische Geistliche Giuseppe Castiglione (1688-1768) erwähnt zu werden. Der nicht sonderlich talentierte Künstler wurde nach seiner Ankunft in Peking im Jahr 1715 als Hofmaler von Ch'ien-lung angestellt. Nachdem er in den Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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traditionellen chinesischen Maltechniken unterrichtet worden war, schuf er einen eigenen Stil von bemerkenswert »hybridischem Charakter«. Die Chinesen nannten ihn Lang Shih-ning und schätzten ihn besonders als Pferdemaler. ¤ 65 Ein auf der Flucht vor den chinesischen Verfolgern vom Pfeil des Generals Ma-ch'ang getroffener Mongole. Malerei des italienischen Jesuiten Lang Shih-ning auf der Handrolle »Die Strafexpedition unter Fu-te nach Chinesisch-Turkestan im Jahr 1759«, Ch'ing-Dynastie, Ch'ien-lung-Zeit, 1759. Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Staatliche Museen, Ostasiatische Kunstabt.
Die drei großen Kaiser der Ch'ing-Dynastie waren K'ang-hsi, Yung-cheng (1722-1735) und Ch'ien-lung (1736-1796). »Ch'ien-lung scheint von einem heimlichen Drang besessen gewesen zu sein, seinen Großvater in allem zu übertreffen und als der größte Herrscher aller Zeiten in die Geschichte einzugehen. Seine Vorstellung von den Zielen der Regierung hat den Charakter jener Epoche wesentlich mitbestimmt.« (F. W. Mote) ¤ 66 I-ho-yüan, der Sommerpalast auf dem Berg Wan-schou-shan in der Nähe von Peking. Blick auf Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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die nach der Zerstörung durch englische Truppen im Jahr 1860 unter der Kaiserin Tz'u-hsi um 1898 wiederaufgebaute Anlage ¤ 67 Wu-t'a-ssu, der Tempel der fünf Pagoden bei Peking, ein 1437 nach dem Vorbild des MahâbodhiTempels in Bodh-gayâ errichteter Bau ¤ 68 Die Halle der Jahresgebete in der großräumigen Anlage des 1896 wiederaufgebauten Himmelstempels von Pekings, Ch'ing-Zeit
»Während der Regierungszeit des Kaisers Ch'ien-lung wuchs die Bevölkerung seines Reiches von etwa zweihundertfünfzig Millionen auf rund vierhundert Millionen, Die gut verwalteten Einkünfte schienen, dank der sorgfältigen Aufsicht seines Vaters über die Staatsgeschäfte, auszureichen, um selbst den übertriebensten Anforderungen zu genügen. Seine militärischen Siege in Zentralasien waren glänzende Erfolge, wenn sie in der Überlieferung vielleicht auch ein wenig übertrieben sind. In den Künsten konnte sich, zumindest quantitativ gesehen, keine Ära mit seiner Regierungszeit messen. Des Kaisers eigene Lyriksammlung enthält mehr als zweiundvierzigtausend Gedichte, die ihn, falls er sie alle selbst verfaßt hat, zum fleißigsten Poeten der Geschichte machen. Doch Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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am Ende seines langen Lebens befand sich China am Rande einer Katastrophe. Ch'ien-lung starb, ohne auch nur eine der Verfallserscheinungen bemerkt zu haben. Mit dem Rückblick auf die weitere Entwicklung mögen ein großer Teil der Verantwortung für den Zerfall der Ch'ing-Macht und die wiederholten Demütigungen Chinas während des ganzen neunzehnten Jahrhunderts ihm zur Last gelegt werden.« (F. W. Mote) Nicht nur für die Chinesen, sondern auch für die Ausländer wußten die Behörden noch lange eine imposante Fassade kaiserlicher Größe aufrechtzuerhalten. Noch am Ende des neunzehnten Jahrhunderts, kurz vor dem Boxeraufstand, wurden der Sommerpalast und die Halle der Jahresgebete des Pekinger Himmelstempels aufs Großartigste neu aufgebaut. Die wirklichen Verhältnisse aber offenbart die Tatsache, daß die Balken für die Halle der Jahresgebete aus Oregon importiert wurden.
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VII. Indien ¤ 0 Karte [Fundorte und historische Stätten] ¤ 1 Befehl des Kaisers Ashoka an Mönche und Nonnen und seine Warnung vor Verstößen gegen die Einheit der Religion. Bruchstück eines Säulenschaftes in Sarnath, 3. Jahrhundert v. Chr.
Die Geschichte des indischen Raumes beginnt in der weiten Tiefebene des Indus zu der gleichen Zeit, in der sieh die Frühformen einer Hochkultur in Mesopotamien abzeichnen. Aus jungsteinzeitlichen Dorfgemeinschaften des beluchistanischen Berglandes war während des dritten Jahrtausends v. Chr. eine städtische Hochkultur erblüht, deren Siedlungsgebiet sich entlang dem Indus und, über dessen Niederungen hinaus, von Rupar im Nordwesten des Punjab bis an die Küste Gujarats erstreckte. Ihre Hauptstädte bildeten Harappa im Montgomery-Bezirk des Punjab und Mohenjo-daro in Sindh. Nach der ersteren, der nördlichen Metropole, wird heute diese Kultur genannt, nachdem immer neue Funde gezeigt hatten, daß ihr Verbreitungsgebiet nicht auf das Tal des Indus begrenzt war. »Die Gesellschaft von Harappa und Mohenjo-daro Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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hatte wesentlich städtischen Charakter, ihr Wirtschaftsleben beruhte auf dem Flußhandel und dem Ackerbau der umliegenden Gebiete... Ihre Kunst ist durch ihre Steinskulpturen und Siegel gekennzeichnet, von denen einige Stücke ein hohes künstlerisches Niveau haben... Einige Aspekte des religiösen Lebens weisen bereits auf die spätere Hindu-Religion hin: so der heilige Stier und das schon erwähnte Urbild des Shiva. Andere indessen erinnern an Babylonien, mit dem ein intensiver Seehandel über Dilmun (die Bahrein-Inseln) betrieben wurde. Auf Grund dieser Tatsache hat man die Chronologie der Harappa-Kultur annähernd fixieren können... Zu den Haupteigentümlichkeiten dieser Kultur gehört einerseits ihr schneller Anfangserfolg, der sie schlagartig ihren Höhepunkt erreichen läßt, und andererseits ihre verhältnismäßige Unbeweglichkeit und das Fehlen einer eigentlichen Entwicklung... Die Gründe für das Ende der HarappaKultur und ihre näheren Umstände sind in Geheimnis gehüllt. Zweifellos sind Zeichen des Stillstands, einer allgemeinen Stagnation und eines technischen und wirtschaftlichen Verfalls schon vor ihrem plötzlichen und in manchen Fällen gewaltsamen Ende zu erkennen... Nach der Theorie von Wheeler ist der Untergang der großen Städte das Werk der Arya; danach wären die Zitadellen von Harappa (vielleicht das Hariyupiya des Rigveda?) und von Mohenjodaro die von Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Indra, dem höchsten Gott der Arya und dem Symbol ihrer Stärke, zerstörten Festungen der Ureinwohner.« (L. Petech) »Wenn unsere Kenntnisse von der Harappa-Kultur unter dem Fehlen jeglicher literarischen Quellen leiden, so ist uns die folgende Periode durch die Spärlichkeit und Unsicherheit des archäologischen Materials nur wenig bekannt. Die städtische Harappa-Kultur wird von einer auf Viehzucht und – anfangs nur in zweiter Linie – auf Ackerbau fußenden Kultur abgelöst; ihre Träger sind die Arya. Dieser Name (wörtlich ›edel‹) bezeichnete ursprünglich eine soziale Schicht und zugleich ein Volk und wurde erst später als linguistische Bezeichnung gebraucht. Eine enge sprachliche Verwandtschaft macht deutlich, daß diese Völkerschaften mit den Bewohnern Irans (Airya) identisch oder wenigstens nahe verwandt waren. Daraus läßt sich fast mit Sicherheit schließen, daß sie über die Grenzpässe nach Indien eingewandert sind. Aus ihren Überlieferungen, wie sie in den heiligen Veden bewahrt werden, ist freilich jede Erinnerung an eine ursprüngliche Heimat außerhalb Indiens und eine Völkerwanderung verschwunden... Wie schon angedeutet, beruhen alle unsere Kenntnisse von der AryaKultur wesentlich auf den vier Veden, dem typischen Erzeugnis einer Priesterschicht, im Sinne einer Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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beschränkten und teilweise künstlichen Kaste.« (L. Petech) Sie ermöglichen es uns, die Geschichte der vedischen Periode in ihren Grundzügen zu rekonstruieren: das Vordringen der Arya aus dem Punjab, dem Saptasindhu (Siebenstromland) der Texte, in den Westteil des Gangesbeckens und die damit verbundenen kriegerischen Auseinandersetzungen. »Etwas besser bekannt als ihre Geschichte ist die politisch-soziale Gliederung der Arya, Die politische Grundeinheit ist der Stamm. Er wird von einem König (rajan) regiert, der zwar beträchtliche Autorität besitzt, aber kein absoluter Monarch ist, da ihm zwei kollegiale Organe zur Seite stehen... Die Grundeinheit der AryaGesellschaft war die streng patriarchalisch organisierte Familie. Sie war in ein biegsames Geflecht sozialer Beziehungen eingebettet, aus denen erst später das Kastensystem entstand. Es handelte sich um eine Klassifizierung nach Berufen, der indessen noch der später entscheidende Faktor der Erblichkeit des Berufs und der sozialen Stellung fehlte.« Erst in der spätvedischen Zeit ist »die Struktur der Arya-Gesellschaft vor allem durch die Entstehung und Entwicklung des Kastenwesens (vurna) gekennzeichnet. Da es in anderen indogermanischen Gebieten nicht entstanden ist, darf es nicht als eine arische Schöpfung gelten, sondern als Anpassung an die neuen Verhältnisse, die auf bereits vorhandenen und schon in der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Struktur der Indusstädte angelegten sozialen Gegebenheiten beruhten.« (L. Petech) ¤ 2 Sudarshana, die »Schöne«. Steinrelief einer Yakshi (Nymphe) von einem Stupazaun aus Bharhut, 2./1. Jahrhundert v. Chr. Calcutta, Indian Museum ¤ 3 Baumgöttin mit reichem Schmuck. Steinrelief aus Bharhut, 2./1. Jahrhundert v. Chr. Calcutta, Indian Museum ¤ 4 Der Große Stupa in Sañchi mit dem im 1. Jahrhundert v. Chr. skulptierten Nordtor ¤ 5 »Wunschranke« mit ihrem Träger, mit Vögeln und Früchten. Fragment eines Paneels vom Westtor des Großen Stupa in Sañchi, um Christi Geburt. Sañchi, Archaeological Museum ¤ 6 Buddha. Steinskulptur der Mathura-Schule, 2. Jahrhundert. Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Staatliche Museen, Indische Kunstabteilung ¤ 7 Rishyashringa, eine nach der Legende mit einem Horn auf dem Haupt geborene Gestalt aus dem Sagenkreis des Rama. Relief von einem Zaunpfeiler aus Mathura, 2. Jahrhundert. Mathura, Archaeological Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Museum Um die Mitte des ersten Jahrtausends v. Chr. erlebte Indien, »parallel zum gleichzeitigen Geschehen in Griechenland und China, einen erstaunlichen Frühling des philosophischen und spekulativen Denkens. Vor allem im Gangestal, insbesondere in seinem östlichen Teil, entwickelte sich dieses hochgespannte geistige Leben; Buddha und Mahavira lebten und predigten beide im heutigen Bihar und in den östlichen Distrikten von Uttar Pradesh. Das Gravitationszentrum der Welt der Arya hatte sich endgültig nach Osten verlagert, und die alten Reiche im Industal waren zu Randzonen von geringer Bedeutung abgesunken... Während Magadha sich schrittweise zur bedeutendsten Macht des Nordens entwickelte, begannen iranische Großmächte mit jenen Vorstößen ins Industal, die – wenngleich nur in langen Abständen wiederholt – schließlich das spätere Pakistan doch gänzlich der übrigen Halbinsel entfremdeten... Als das Achaimenidenreich unter dem Ansturm der von Alexander dem Großen angeführten makedonischen und griechischen Truppen zusammenbrach, war die Lage an der Ostgrenze des Reiches einigermaßen verworren... Der abenteuerliche Feldzug Alexanders war zu rasch über den Nordwesten Indiens hinweggegangen, um bleibende Spuren zu hinterlassen. Seine Herrschaft Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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überdauerte seinen Tod nur um wenige Jahre, und die von ihm gegründeten Städte verschwanden bald; auch seine Gestalt selbst fand praktisch keinerlei Beachtung und keinen Platz in der indischen Überlieferung, wie das sonst für so viele Länder Vorderasiens der Fall war.« (L. Petech) »Gleichwohl ist das Kindringen des Makedoniers mit dem Aufstieg des Begründers des ersten indischen Großreiches eng verbunden.« (L. Petech) Chandragupta Maurya vermochte die Herrschaft über Magadha zu erlangen und im Kampf gegen Seleukos im Jahre 304 v. Chr. weite Teile Nordwestindiens zu unterwerfen. Die Regierung seines Enkels Ashoka (etwa 272-236 v. Chr.) »bedeutet einen der Gipfelpunkte der indischen Geschichte. Vor allem beruht zum erstenmal die Chronologie nicht mehr auf Hypothesen, sondern schwankt nur innerhalb sehr enger Grenzen, da es möglich ist, sie an Hand der Erwähnung gleichzeitig regierender hellenistischer Herrscher auf den Inschriften zu kontrollieren... Mit Ashoka beginnt die indische Epigraphik. Seine Inschriften sind zahlreich und werden noch ständig in verschiedenen Gegenden der Halbinsel zutage gefördert.« Sie verteilen sich auf »vierzehn Felsedikte, von denen uns acht mehr oder weniger vollständig erhalten sind, zwei kleine Felsedikte und schließlich sieben Säulenedikte, die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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vollständig nur auf einer, ursprünglich in Topra, heute aber in Delhi befindlichen Säule erhalten sind... Die Sprache der Inschriften ist normalerweise eine Form des Prakrit; ihr Alphabet ist, mit Ausnahme der westlich des Indus gefundenen Inschriften, die in Kharoshthi aufgezeichnet sind, das Brahmi-Alphabet... Die Inschriften von Ashoka erlauben uns einerseits eine Rekonstruktion seiner Verwaltung und geben uns andererseits eine Vorstellung von seinen religiösen Anschauungen und seinen ethischen Propagandataten... Nach der buddhistischen Überlieferung wurde Ashoka vom Mönch Ugagupta zum Buddhismus bekehrt... Aber die Lehre oder das Gesetz (dhamma), die Ashoka in seinen Edikten predigte, hat nichts Theologisches oder Doktrinäres an sich und bietet nur vage Analogien zum kanonischen Buddhismus. Sie nähert sich allenfalls einem Volksbuddhismus, das heißt einer Religion, die sich nur mit den Fragen der praktischen Moral beschäftigt und die theoretischen Aspekte vollständig beiseite läßt... Das unter den Nachfolgern Ashokas zerfallende Maurya-Reich überlebte in seinem eigentlichen Kern, dem wirtschaftlich starken Königreich Magadha, das dem Usurpator Pushyamitra zugefallen war (rund 185-149 v. Chr.). Pushyamitra begründete die Shunga-Dynastie, die wir fast nur aus den Purana und anderen literarischen Quellen kennen, da keiner ihrer Könige eine Inschrift Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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hinterlassen hat.« (L. Petech) Der Westprovinzen des Reiches hatten sich die baktrischen Griechen unter Demetrios I. (etwa 200-182 v. Chr.) bemächtigt und sie unter wechselvollen Geschicken bis zur Zeit der Eroberungszüge der Yüeh-chih (um 129 v. Chr.) in Besitz halten können. Im Süden Indiens erhält nach »einer Periode völliger Dunkelheit der Dekhan zum erstenmal eine eigene, aus den Inschriften und nicht nur aus den puranischen Listen bekannte Dynastie, deren politische Bedeutung über die Grenzen eines einfachen Regionalstaates hinausgeht. Auf Inschriften und Münzen lautet ihr Name – der (nach Przyluski) vielleicht von Munda-Herkunft ist – Shatavahana oder Satakarni; in den Purana dagegen heißt sie Andhra oder Andhrabhritya.« (L. Petech) In den Jahrhunderten vor der Zeitwende hatten sich die Glaubensbewegungen des Buddhismus und des Jainismus unter vielfacher fürstlicher Förderung über große Teile Indiens zu verbreiten vermocht. Noch im Todesjahr des Buddha war, wie die Quellen übereinstimmend berichten, »ein Konzil abgehalten worden, um das Gesetz (dharma) und die Disziplin (vinaya) zusammenzufassen und kanonisch festzulegen. Ein zweites Konzil soll hundert Jahre nach dem Tod des Meisters in Vaishali abgehalten worden sein, vor allem um über einige Punkte der mönchischen Disziplin zu entscheiden, Nicht ausgeschlossen ist, daß im Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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ersten Jahrhundert nach dem Hinscheiden des Meisters Gruppen seiner Schüler versucht haben, sein Wort zu kodifizieren; aber weiter scheint man in der Bewertung der nicht miteinander übereinstimmenden und im ganzen späten Überlieferungen über die buddhistischen Konzilien nicht gehen zu dürfen. Jedenfalls war die Festlegung des Kanons das Werk vieler Generationen und beschäftigte sicher viele Jahrhunderte... Durch das Fehlen einer dogmatischen Autorität und einer obersten Disziplinargewalt entstanden in der Gemeinde zwei Hauptströmungen, die später zur Bildung regelrechter Schulen führten. Auf der einen Seite standen die Sthavira, die dem monastischen Ideal eines strengen Lebens in Heiligkeit treu geblieben waren, auf der anderen die Mahasanghika, die den Wünschen der Laien mehr entgegenkamen und in gewissem Umfang demokratischeren Glaubensvorstellungen huldigten. Selbst wenn die Konzilien, deren Historizität außerordentlich zweifelhaft ist, tatsächlich abgehalten worden sind, ist ihre Wirkung in Zeit und Raum nur sehr beschränkt gewesen. So nahmen an dem Dritten Konzil, von dem die Pali-Quellen behaupten, es sei zur Regierungszeit Ashokas in Pataliputra abgehalten worden – wenn es überhaupt stattfand –, lediglich die Sekte der Sthavira oder, wie sie in Ceylon heißen, der Theravadin teil. Der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Buddhismus war von Anfang an eine missionarische Religion, Der Buddha selbst hatte in seiner ersten Predigt seine Jünger aufgefordert, in die Welt hinauszugehen und das Gute Gesetz zum Wohl der Menschen, der Götter und aller Lebewesen zu verkünden. Gleichwohl breitete sich der Buddhismus, der bisher auf das mittlere Gangestal und vielleicht auf einen Teil Zentralindiens beschränkt gewesen war, erst unter Ashoka und teilweise auf seine Veranlassung über fast den ganzen Subkontinent aus. Jetzt erst wurde er eine allindische Religion, ehe er vier Jahrhunderte später eine panasiatische Religion wurde.« (L. Petech) »Es gehört zur Ironie der Geschichte, daß die wichtigsten indischen Kunstdenkmäler in den zwei letzten vorchristlichen Jahrhunderten ausnahmslos buddhistisch sind, sich aber im Herzen des von der Shunga-Dynastie, der Vorkämpferin der brahmanischen Orthodoxie, beherrschten Gebietes befinden. Sie bestehen aus der Ausschmückung der Stupa und der sie umgebenden Balustraden. Der Stupa, das typische Denkmal des Buddhismus, war ursprünglich ein Grabhügel, der die Reliquien heiliger Mönche bedecken sollte; ja, nach der Legende wurden die ersten acht Stupa errichtet, um ebenso viele Teile der Asche des Meisters selbst in sich aufzunehmen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß die Volkstümlichkeit des Stupa wie viele andere Dinge auf Ashoka zurückgeht... Die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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übliche Kultform war die Umwandlung des Zentralbaues nach rechts (pradakshina); der dazu dienende Pfad war von einer Balustrade umgeben, die von monumentalen Toren (torana) durchbrochen war. Einer der bedeutendsten Komplexe aus der Shunga-Epoche befand sich in Bharhut in Zentralindien; er ist zerstört worden, aber bemerkenswerte Überreste seines Skulpturenschmuckes befinden sich im Indian Museum von Calcutta und andernorts. Balustrade und Portale waren – wie die Grotten, von denen später die Rede sein soll – Nachahmungen entsprechender Holzbauten. Ihr ungefähr auf das Jahr 100 v. Chr. datierbares und wahrscheinlich Elfenbeinschnitzereien nachahmendes Dekor besteht aus verschiedenen Motiven westlichen Ursprungs (Palmen, persepolitanische Kapitelle), vor allem aber aus Medaillons und Paneelen, die Figürchen in flachem Relief enthalten. Diese stellen nicht eigentliche Gottheiten, sondern Halbgötter oder Übermenschen (yaksha, weiblich: yakshini) dar, das heißt Erdgeister, die der vorarischen Grundschicht der lokalen Bevölkerung zugehören. Andere Szenen beziehen sich auf die Jataka, die Erzählungen aus dem früheren Leben des Buddha, wieder andere auf das Leben des historischen Buddha; letztere sind freilich nicht sehr zahlreich; offensichtlich bildete man nicht gern Szenen aus dem Leben dessen ab, der schon ins Nirvana eingegangen war und deshalb nicht mehr Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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existierte. Aus dem gleichen Grunde wird der historische Buddha in dieser Zeit niemals in menschlicher Gestalt abgebildet, sondern seine Gegenwart wird durch seine Fußspuren, einen Sonnenschirm, einen kleinen Stupa oder dergleichen symbolisiert... Einen anderen Typus des buddhistischen Kunstdenkmals stellt der Vihara dar: das Kloster, das dem Aufenthalt der Mönche während der Regenzeit diente. Im wesentlichen besteht der Vihara aus einer viereckigen Halle, die oft unter Ausnutzung natürlicher Höhlen aus dein lebenden Fels geschlagen wurde und von Zellen für die Wohnung der einzelnen Mönche umgeben ist... Die ältere indische Plastik erreicht ihren Gipfel in den Reliefs auf dem Stupa Nummer I von Sañchi, der ursprünglich von Ashoka errichtet worden ist und in seiner jetzigen Gestalt auf das zweite und dritte Viertel des ersten vorchristlichen Jahrhunderts datiert werden muß... Schließlich tut in dieser Zeit die indische Malerei ihre ersten Schritte, wovon uns bedauerlicherweise nur wenig erhalten ist. In dem großen Komplex der Ajanta-Grotten in Maharashtra, einer wahren Galerie indischer Kunst aus einem halben Jahrtausend, sind die ältesten Teile die Fresken der Grotte X. die wahrscheinlich auf die zweite Hälfte des ersten vorchristlichen Jahrhunderts zurückgehen. Die Hauptszene stellt den Shaddanta Jataka dar, die Geschichte, wie der Buddha in einer seiner früheren Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Existenzen als Elefant das Opfer seiner sechs Stoßzähne bringt. Auch hier wie in Sañchi ist die Darstellung fließend und geht ohne Unterbrechung von Episode zu Episode weiter.« (L. Petech) »Die alte vedische Religion war jetzt bis zur Unkenntlichkeit verwandelt. Die Ritualschulen, für die es keine praktischen Möglichkeiten mehr gab und die außerhalb der Hauptströmungen des religiösen Lebens geblieben waren, lagen im Sterben. Zu den letzten Texten, die sie hervorbrachten, gehören, in direktem Zusammenhang mit der Brahmana-Literatur, die synthetischen Handbücher (sutra), die ungefähr zwischen 400 und 200 v. Chr. entstanden sind. Insgesamt bilden sie die Vedanga, die sechs ›Körperteile des Veda‹«, mit Abhandlungen über Phonetik, Ritual, Grammatik, Metrik und Astronomie. »Der fortschrittliche Flügel des orthodoxen Denkens, die Upanishaden-Strömung, breitet sich auch weiterhin aus und entwickelt sich, ohne vom Buddhismus beeinflußt zu sein oder Berührungspunkte mit ihm zu haben; dieses Nicht-Wissen voneinander ist so deutlich und auffallend, daß man annehmen muß, daß die beiden Religionen in ganz verschiedenen Kreisen verbreitet waren. Bei einigen der ältesten Upanishaden finden sich schon Züge, die auf den Brahmanismus hindeuten; zu ihnen gehört die Shvetashvatara-Upanishad, die von Schrader zutreffend als ›Eingangstor zum Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Hinduismus‹ bezeichnet worden ist.« (L. Petech) ¤ 8 Vorstellung des Prinzen Rahula vor dem nur symbolisch durch Fußstapfen und einen leeren Thron dargestellten Buddha. Medaillon vom Steinzaun eines Stupa aus Amaravati, 2. Jahrhundert. Amaravati, Archaeological Museum ¤ 9 Buddha. Steinskulptur im klassischen Stil der Gupta-Zeit, 5. Jahrhundert. Sarnath, Archaeological Museum ¤ 10 Prinz und Prinzessin mit Gefolge und Liebesszene in einem Palast. Wand- und Deckengemälde in der Veranda zur Halle 17 in Ajanta, um 500 ¤ 11 Ruine des großen Heiligtums in Nalanda, dem Sitz einer buddhistischen Universität, 6.-9. Jahrhundert ¤ 12 Eingänge der buddhistischen Höhlen 1 bis 2 im Talkessel von Ajanta
»Die Shaka- und Pahlava-Herrschaften in Nordwestindien wurden von einem neuen Einfall fremder Heere fortgefegt, die einen weit mächtigeren und kulturell bedeutenderen, den Kushana-Staat, begründeten. Im Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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ersten vorchristlichen Jahrhundert beherrschten die aus Zentralasien stammenden Yüeh-chih Baktrien. Die chinesischen Texte berichten, sie hätten das Land unter fünf Fürsten mit dem Titel Yabghu aufgeteilt; einer von ihnen herrschte über das Land der Kueishuang, das heißt der Kushana. In anderen Worten: die Kushana waren, ethnisch gesehen, von baktrischer, also ostiranischer Abkunft, aber ihre Elite war, was ihre Institutionen anging, entscheidend von den Yüeh-chih beeinflußt. Ihre Sprache war natürlich die des alten Baktriens; sie wurde in griechischen Buchstaben geschrieben und ist uns jetzt von der großen Inschrift des Kanishka in Surkh Khotal in Nord-Afghanistan bekannt. Von den Yüeh-chih wissen wir nichts weiter, auch nicht, auf welche Weise ihr Reich unterging; spätere chinesische Texte behaupten – wahrscheinlich zu Unrecht –, die Kushana seien mit den Yüeh-chih identisch gewesen.« Die auf chinesische Quellen zurückgehende Datierung der Ära Kanishkas »führt uns zu dem meistumstrittenen Problem der alten indischen Geschichte, dem wegen seiner vielfachen Ausstrahlungen größte Bedeutung zukommt: der Chronologie der Kushana. Es ist hier nicht möglich, auch nur die wichtigsten Seiten dieser vielschichtigen Frage darzulegen. Ihren Angelpunkt stellen die Inschriften Kanishkas und seiner Nachfolger dar, die auf die Jahre zwischen 3 und 98 einer Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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unbekannten Zeitrechnung datiert sind. Die Angaben über die ›Zeitrechnung Kanishkas‹ schwanken zwischen 128/129 (Konow, Marshall) und 144 (Ghirshman)... Die Geschichte der Kushana-Könige ist wenig bekannt; die kurzen, fragmentarischen und schwer zu deutenden Inschriften sind nur von geringem Nutzen; die chinesischen Texte schweigen nach Wima Kadphises... Der größte Kushana-König war zweifellos Kanishka (144-168). Von ihm besitzen wir Gold- und Bronzemünzen und Inschriften in Brahmi und Kharoshthi, aus denen hervorgeht, daß sein Herrschaftsgebiet bis nach Benares reichte, also den größten Teil der Gangesebene umfaßte. Tibetische und chinesischbuddhistische Texte bezeugen sowohl seine Kriege gegen die Könige von Saketa (Ayodhya) und Pataliputra wie seine Ermordung, als er zur Eroberung der nördlichen Länder ansetzte. Kanishka hat in der buddhistischen Überlieferung eine Stellung, die der des Ashoka nur wenig nachsteht. In seiner Regierungszeit soll das sogenannte Vierte Konzil stattgefunden haben, das in Kashmir oder in Jalandhara abgehalten worden ist. Das große Reich zwischen Amu-Darya und Ganges, das unter ihm zu seiner größten Machtentfaltung kam, wurde nach dem nun üblichen Feudalsystem mittels Satrapen und Großsatrapen regiert... Auf Kanishka folgte Vasishka (um 168-172), von dem wir Inschriften, aber keine Münzen haben, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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und auf ihn Huvishka (etwa 172-185), der nur den untergeordneten Titel Devaputra Shahi trug... In Nordindien führte der langsame Zerfall des KushanaReiches nach Kanishka dazu, daß einige Regionalstaaten und insbesondere Adelsrepubliken, die die Vorherrschaft der Fremden hatten anerkennen müssen, wiedererstarkten. Im westlichen Rajasthan gewannen die Malava ihre Freiheit und Unabhängigkeit zeitweise zurück (Inschrift von Nandsa aus dem Jahr 226). Aber die republikanische Staatsform war mittlerweile in vollständigem Zerfall begriffen, und die wenigen die Kushana-Herrschaft überlebenden Republiken sollten in der Gupta-Zeit endgültig erlöschen... Südindien war auch weiterhin zwischen den drei traditionellen Königreichen Chola, Pandya und Chera aufgeteilt. Auch jetzt gibt es hier noch keine Inschriften, aber die ältesten Tamil-Texte aus der ShangamPeriode vermitteln uns die Kenntnis einiger Herrschernamen und gestatten vor allem eine recht getreue Rekonstruktion der glanzvollen Kultur dieser Epoche. Offenbar lag die Vorherrschaft im ersten nachchristlichen Jahrhundert bei den Chola und ging dann auf die Pandya über. Der bedeutendste der alten Chola-Herrscher, Karikala, begann jene Expansionspolitik gegen die Insel Ceylon, die die Geschichte Südindiens für mehr als ein Jahrtausend begleitete.« (L. Petech)
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¤ 13 Portal zur Kulthalle 19 in Ajanta mit Architekturen und Skulpturen der klassischen Zeit, 5. Jahrhundert ¤ 14 Liebesszene. Terrakottarelief, 5. Jahrhundert. Mathura, Archaeological Museum ¤ 15 Wedelträgerin, eine typische Begleitfigur von Göttern und Königen der nachklassischen Zeit. Steinskulptur im Grotte 21 von Ellora, 8. Jahrhundert
»Um das Jahr 300 bestand im Gangestal eine Unzahl von Zwergstaaten. Eine der kleinen lokalen Fürstenfamilien waren die Gupta, die sich in der zweiten Hälfte des dritten Jahrhunderts in der Grenzzone zwischen Bihar und Bengalen festsetzten. Zu Beginn des vierten Jahrhunderts heiratete einer von ihnen, Chandragupta, die Prinzessin Kumaradevi aus der vornehmen Familie der Licchavi, die zu Zeiten des Buddha über Vaishali geherrscht hatte und im fünften Jahrhundert auf dem Thron von Nepal erscheint. Diese Heirat legte den Grund für den Aufstieg der Gupta. Chandragupta I. (etwa 310-335) nahm seinen Wohnsitz in der alten Metropole Pataliputra, die vielleicht zu der Mitgift seiner Frau gehörte, und 320 begründete er zur Erinnerung an seine Hochzeit und Krönung die Gupta-Zeitrechnung, die dann alle seine Nachfolger Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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gebrauchten... Sein Sohn und Nachfolger Samudragupta (etwa 335-375) verwandelte diesen Regionalstaat in ein Reich, das sich über einen guten Teil Nordindiens erstreckte... Auf Samudragupta folgte, vielleicht nicht unmittelbar, Chandragupta II. (um 375-414). Als würdiger Sohn des großen Eroberers setzte er dessen Werk fort, beseitigte zu Beginn des fünften Jahrhunderts das Kshatrapa-Reich in Zentralindien und stieß bis zur Westküste vor. Wie sein Vater war er ein großer Schirmherr der Literatur, und sein Ehrenname Vikramaditya wird mit dem Leben einiger der größten indischen Dichter in Verbindung gebracht. Seine Regierungszeit stellt nicht nur den Höhepunkt der Dynastie, sondern der ganzen klassischen indischen Kultur dar... Kumaragupta I. (414455) erhielt das Reich seiner Väter unversehrt und in Frieden... Aber nach ihm beginnt der Abstieg des Gupta-Reiches. Die Nachfolge war anscheinend umstritten, binnen weniger Jahre folgte eine Anzahl unbekannter Herrscher einander auf dem Thron... In der Gupta-Periode gelangten jene Einwanderung nach Südostasien und die kulturelle Durchdringung, die in den vorangegangenen Jahrhunderten langsam begonnen hatten, auf ihren Höhepunkt. Dieser allmähliche, schlecht zu definierende, vollständig anonyme Prozeß macht im Lauf weniger Jahrhunderte aus dein Westteil der indonesischen Inselwelt und den Küsten Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Südasiens bis nach Kap Varella ein gänzlich von indischer Kultur und indischer Religion durchtränktes Gebiet: eine wahre ›Magna India‹ jenseits des Meeres... Ein teilweise analoger Prozeß spielte sich in den Karawanenstädten des Tarimbeckens, wahren ›Wüstenhäfen‹, ab. Freilich mit dem Unterschied, daß hier der indische Einfluß dem iranischen und chinesischen begegnete und infolgedessen nicht wie in der Magna India zu absoluter Herrschaft kam... In der indischen Religionsgeschichte bedeutet die Gupta-Periode den definitiven Stillstand der Ausbreitung des Buddhismus, ja den Beginn seines Zurückweichens, da die Gunst der Höfe und des Volkes sich allmählich immer mehr der alten Religion zuwendet. Im übrigen bekannten sich in der gesamten indischen Geschichte nur zwei Dynastien von nationaler Bedeutung entschieden zum Buddhismus: die Maurya (und von ihnen nur Ashoka) und die Pala in Bengalen (8.-12. Jahrhundert). Die Gupta selbst waren Vishnuiten, wie der Titel von Chandragupta und seinen Nachfolgern (Parama-Bhagavata) beweist. Im vishnuitischen Glauben tritt in dieser Zeit die Theorie der Inkarnationen (avatara), deren Zahl später auf zehn festgelegt wurde, entschieden in den Vordergrund. Es handelt sich dabei um die Systematisierung von Glaubensüberzeugungen und Legenden, deren Ursprünge auf sehr alte Zeiten zurückgehen... Obwohl nicht von Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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großen Dynastien begünstigt, machte auch der Shivaismus bemerkenswerte Fortschritte, vor allem im Dekhan und später im Süden. Im Vergleich mit den beiden Hauptgöttern traten die übrigen Götter des alten vedischen Pantheons nun in den Schatten und sanken auf die Stufe von sekundären Manifestationen der Gottheit oder geradezu zu deren Gefolgsleuten herab. Nur Surya, der Sonnengott, konnte seine Stellung lange bewahren... Für die Sanskrit-Literatur stellt die Gupta-Dynastie das Augusteische Zeitalter der indischen Kultur dar. Das Sanskrit herrscht souverän, und einige Inschriften sind von beachtlichem literarischem Niveau. Die brahmanische Literatur im engeren Sinn findet ihren Abschluß in der Abfassung der Purana, deren Zahl sich überlieferungsgemäß auf achtzehn beläuft... Aber während die Priesterliteratur sich anschickt, ihren alten tausendjährigen Zyklus glorreich abzuschließen, entfaltet sich in dem großen Kalidasa die schönste Blüte der Sanskrit-Kunstdichtung.« (L. Petech) Ebenso wie für die höfische Dichtung bedeutete die Gupta-Zeit auch für die bildende Kunst die klassische Epoche. »Die Gupta-Plastik stellt – bis auf einige Reminiszenzen im Faltenwurf – eine vollständige Überwindung der Gandhara-Kunst dar. In ihr verschmelzen die Eleganz der AmaravatiKunst und die sinnliche Kraft der Mathura-Kunst zu einem neuen Schönheitsideal, das durch seine Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Vergeistigung der Erscheinungswelt charakterisiert wird.« (L. Petech) »Unter der Gupta-Dynastie hatte Nordindien nach Jahrhunderten der Fremdherrschaft einen großartigen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung genommen, der für den ganzen Subkontinent zum Vorbild geworden ist. Riesenstädte hatten sich entwickelt, weite Dschungelgebiete waren kolonisiert worden, eine überverfeinerte, bewußt nationale Kultur war entstanden, die bisherigen weltmüden Religionen mit ihrer subtilen Philosophie wurden von einem vielgestaltigen positiven Gottesglauben abgelöst. Aber nach kaum mehr als einem Jahrhundert wurde diese Blüte von den Barbareneinfällen der Hunnen und Gurjara und den Kriegen zwischen den ›Soldatenkaisern‹ der Maukhari, Gupta von Malwa, Pushyabhuti und noch anderen gebrochen... Die ›Weißen Hunnen‹, die seit dem späten fünften Jahrhundert unter Toramana und Mihirakula das Gupta-Reich überrannten, waren erst von Vishnuvardhana Yashodharman, der mit Vishnus Inkarnation Kalkin identifiziert wurde, nach Kashmir und Afghanistan zurückgedrängt worden. Von den West-Türken und dem mit ihnen verbündeten Sasaniden-König König Chusro Anoscharwan besiegt, löste sich das Hunnenreich 588 bis 591 in Kleinstaaten auf. Aber die von ihnen in Bewegung gesetzten Stämme der Gurjara und Shulika fielen weiterhin in Indien ein und Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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konnten erst allmählich in der Grenzzone vom Punjab bis nach Gujarat angesiedelt werden oder wurden nach Assam, Orissa und anderswohin deportiert.« (A. K. Majumdar) Noch einmal konnte in dem folgenden Jahrhundert das Land geeint werden unter dem bekanntesten Monarchen der Übergangszeit in Nordindien, Harshavardhana (etwa 606-647) aus der Pushyabhuti-Dynastie (ursprünglich Generäle der Gupta). Seine Hauptstadt war Thanesar (156 Kilometer nördlich von Delhi). Als Erbe seines von Shashanka von Bengalen ermordeten Bruders und als Rächer des letzten Maukhari-Kaisers eroberte er ganz Nordindien, überwand Shashanka, wurde aber von dem Chalukya-König Pulakeshin II. an der Narmada besiegt. Er war ein Freund der Buddhisten und Protektor des chinesischen buddhistischen Pilgers Hiuen Tsang... Im Süden war das Gupta-Erbe, durch die mit den Gupta verschwägerten Vakataka, Kalachuri, Kadamba, Ganga und frühen Pallava vermittelt, von den Chalukya von Vatapi (Badami, südlich von Bijapur) im Dekhan und den Kaiserlichen Pallava von Kanchi (Conjeevaram bei Madras) übernommen worden. Der Aufstieg dieser beiden Dynastien seit dem Ende des sechsten Jahrhunderts fiel mit dem Sieg der hinduistischen Kulte Shivas und Vishnus zusammen... Die Pallava waren eine alte Dynastie in der südindischen Ebene, die schon mit Samudragupta Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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zusammengestoßen war. Aber erst nach dem Sturz der Chola (um Tanjav Cir) gelang es Simhavishnu Potaraja, den Glänz des Hauses zu erneuern. Unter den folgenden Herrschern Mahendravarman, Narasimhavarman und anderen erreichte das Reich sein goldenes Zeitalter, in ständigen Kämpfen vor allem mit den Chalukya dehnte es seine Macht bis Ceylon, seinen wirtschaftlichen und kulturellen Einfluß bis Malaya, Java und Kamboja aus. ¤ 16 Der Kailasanatha-Tempel in Ellora. Monolithbau, 8. Jahrhundert ¤ 17 Gazellen und Schildkröte aus einer figurenreichen Darstellung der Herabkunft des weiblich personifizierten Ganges. Steinrelief im Durga-Tempel in Mahabalipuram, 7. Jahrhundert ¤ 18 Mythischer Schwan (Hamsa). Malerei auf einer Säule vor der Grotte von Sittanavashal, 7./8. Jahrhundert ¤ 19 Vishnus Schlaf auf der Weltschlange Shesha. Relief in der Vorhalle des Durga-Tempels in Mahabalipuram, 7. Jahrhundert ¤ 20 Vishnu auf der Weltschlange. Relief in der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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linken Nische des säulengetragenen Vorraums der Grotte 3 in der hinduistischen Höhlenanlage von Badami, um 600 ¤ 21 Surya, der indische Sonnengott, auf einem von sieben Pferden gezogenen, wagenartigen Sockel. Relief aus Orissa, 11./12. Jahrhundert. New Delhi, National Museum of India ¤ 22 Krishna als Träger des Berges Govardhana. Steinrelief am Keshava-Tempel in Belur (Mysore), Hoysala-Periode, 12. Jahrhundert ¤ 23 Hinduistische Reliefs am Hoysala-Tempel in Halebid (Mysore), 12. Jahrhundert ¤ 24 Räderreliefs der wagenförmigen Basis des Sonnentempels in Konarka (Orissa), 12. Jahrhundert
Eine große, für die ganze spätere Entwicklung des Südens maßgebliche Kunst (Tempel von Mamallapura, Kanchi) und eine bedeutende Literatur in Sanskrit und Tamil entstanden. Nach dem Bürgerkrieg, der zur Thronbesteigung Nandivarmans II. führte, begann es auseinanderzufallen, die Chola gewannen ihre Unabhängigkeit zurück, und 897 stürzte Aditya J. Cola den letzten Pallava Aparajita... Man kann die Mitte des Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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achten Jahrhunderts etwa als den Anlang des eigentlichen Mittelalters in Indien betrachten, insofern als die Völker, die seit dem Niedergang des Gupta-Reiches die früheren Oberschichten mehr und mehr verdrängt hatten, endgültig den Lebensstil bestimmten und eine Kultur schufen, die zwar auf der Gupta-Tradition aufbaute, aber sich zu ihr verhielt wie etwa bei uns die romanische zur römischen. Im Norden war die alte Bevölkerung weitgehend von Barbaren aus den indischen Grenzgebieten (Punjab und Afghanistan) oder von früheren, in der Guptazeit kolonisierten Dschungelstämmen verdrängt worden. Die Kultur der Höfe und Tempel war zu einer künstlich erhaltenen, heiligen Tradition geworden, im Süden setzten sich das dravidische Volkstum, seine Sprachen, seine Religiosität, sein vom nordindischen diametral verschiedenes Stilgefühl mehr und mehr durch... In Bihar und Bengalen dagegen wurde der späte Buddhismus, von shivaitischem Yoga, Zauber und einer sexuellen Symbolik durchsetzt, die herrschende Staatsreligion unter der Pala-Dynastie. Deren Gründer Gopala war nach dem Tode Lalitadityas gewählt worden. Seine Nachfolger Dharmapala und Devapala dehnten ihre Macht in ständigen Kämpfen mit den Gurjara-Pratihara von Rajasthan und den Rashtrakuta des Dekhan zeitweilig bis zum Ost-Punjab aus, mußten sich aber schließlich auf das untere Gangesgebiet beschränken, und im Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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späten zehnten und frühen elften Jahrhundert schienen sie, von Bhoja Pratihara, den Chandella, Kalachuri und sogar den Chola Südindiens bedrängt, dem Untergang geweiht. Zur selben Zeit war aber das Pala-Reich mit seinen großen Universitäten Nalanda, Ottantapuri und Vikramashila zum ›Rom‹ der damaligen buddhistischen Welt geworden, wohin Pilger aus Nepal, Tibet, China, Burma und Java kamen, während Missionare und Künstler in jene Länder auszogen. Es erholte sich jedoch noch einmal und erlebte eine glänzende Nachblüte unter Ramapala (1084-1126). Seine Kultur hatte sich inzwischen weitgehend derjenigen des übrigen Indiens angeglichen, so daß bald danach eines der übermächtig gewordenen Vasallengeschlechter, die aus dem Dekhan eingewanderten Sena, die Macht an sich rissen und dem Hinduismus mit Hilfe von ins Land gerufenen Brahmanen zur Herrschaft verhalfen. Die unterdrückten Buddhisten bekannten sich später zum Islam; ihre Nachkommen bilden heute die Bevölkerung von Ost-Pakistan. Lakshmanasena mußte schließlich vor den eindringenden Muslimen Hals über Kopf flüchten... Das Hindu-Mittelalter hindurch hielt sich das von der brahmanischen Gegenreformation ausgebildete Hoch-Sanskrit als internationale Sprache der Gebildeten, der Brahmanen, Priester, Gelehrten, Fürsten, Fürstinnen und hohen Adligen, etwa Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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wie im europäischen Mittelalter das Latein, Doch zeigen schon die klassischen Dramen, daß es die gewachsenen Volkssprachen nicht hatte verdrängen können. In den frühen Dramen bereits finden wir zahlreiche Dialekte. Dies wird uns auch durch die Kupferplatten-Inschriften bestätigt, die meist nur in ihrer historischen Einleitung Sanskrit verwenden, während der legistische Teil in der Volkssprache, im Norden einer Form von Prakrit, im Süden einer dravidischen Sprache, geschrieben ist, allerdings zumeist stark mit Sanskritwörtern durchsetzt... Im Süden begannen die dravidischen Sprachen schon seit etwa dem siebenten Jahrhundert auch literarisch eine Rolle zu spielen. Tamil hatte ja schon eine bedeutende Tradition seit dem ›Samgam-Zeitalter‹, das seine erste selbständige Kulturblüte mehr oder minder zu einer Zeit erlebte, als die Völker an der Südspitze Indiens dank dem Handel mit dem Römischen Reich und dem China der Han zu Wohlstand gekommen waren. Diese frühe Literatur war, sofern nicht weltlichen Charakters, vor allem von den ›Sangha‹ (Mönchsgemeinden) der Buddhisten und Jaina getragen, woraus die hinduistische Überlieferung samga (Versammlungen, Akademien) gemacht hat. Die Renaissance der Tamil-Literatur war das Werk der Heiligen des Shivaismus und Vishnuismus, die von den Pallavas und später den Cholas begünstigt wurden. Gleichzeitig Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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entwickelte sich unter den Chalukya von Vatapi-Badami das Kanaresische, das aber erst unter den Rashtrakuta eine wirkliche Literatur zu entwickeln begann, und unter den östlichen Chalukya das Telugu, dessen Blüte erst unter den Kaisern von Vijayanagar, der letzten Hindu-Großmacht in der frühen indoislamischen Zeit, kommen sollte... Im Norden setzte die Weiterentwicklung zu den heutigen neuindischen Sprachen schon nach dem Fall der Pratihara-Dynastie ein. In diesem Apabhramsha genannten Stadium hatten die Wörter und ihre Bedeutung schon so ziemlich den ›neuindischen‹ Zustand erreicht; doch fehlte noch das durch Ausgleich und Analogie geschaffene klare grammatikalische und syntaktische Gefüge. Die noch vor der muslimischen Eroberung entstandenen Dichtungen waren daher wesentlich Volksdichtung.« (A. K. Majumdar) »Wie im europäischen Mittelalter spielte auch in Indien in dieser Zeit die Religion eine entscheidende Rolle. In der Gupta-Zeit war eine große Wende eingetreten, die sich allerdings schon in den Jahrhunderten zuvor vorbereitet hatte: der Sieg der brahmanischen Gegenreformation und des Hinduismus. Vom Buddhisinus und Jainismus in den Hintergrund gedrängt, hatte sich die frühere Priesterschicht der alten Arier, die Brahmanen, mehr und mehr auf Kolonisation und Missionierung der großen, bisher noch von Dschungelstämmen bevölkerten Gebiete Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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umgestellt. Dabei wurden die einheimischen Volkskulte langsam und vorsichtig assimiliert, ihre Gottheiten mit den noch lebendigen Gestalten des alten vedischen Pantheons identifiziert und theologisch in den Systemen brahmanischer Philosophie, Upanishaden, Yoga und Mimamsa, verankert. Umgekehrt wurde aber auch das offizielle Ritual und seine Mythologie zunehmend vom Volksglauben und dessen Bräuchen durchsetzt. Dieser Synkretismus setzte sich auch in den Städten durch, in der Gupta-Periode wurde er, in seinen Varianten Shivaismus, Shaktismus und Vishnuismus, die maßgebliche Religion Indiens. Um das siebente/achte Jahrhundert hatte er schon seine wesentliche Gestalt angenommen, und die Schriften, in denen er kodifiziert wurde, waren mehr oder minder abgeschlossen.« (A. K. Majumdar) ¤ 25 Frau und Kind unter Baumzweigen. Relief aus Khajuraho, 11. Jahrhundert. Calcutta, Indian Museum ¤ 26 Sarasvati, die Göttin der Musik und der Wissenschaften. Relief der Pala-Periode aus Bengalen, 11. Jahrhundert. Calcutta, University, Asutosh Museum ¤ 27 Hinduistische Tempelanlage in Bhuvaneshvara (Orissa). Blick auf den Hohen Haupttempel mit der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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vorgelagerten Eingangshalle, um 1000 ¤ 28 Der Lakshmana-Tempel in Khajuraho, 10. Jahrhundert
Der Buddhismus, welcher in der Form des Mahayana (großes Fahrzeug) noch bis zum Ende der Regierungszeit König Harshas eine späte Blüte erlebt hatte, verband sich in jenen Jahrhunderten in zunehmendem Maße mit Volkskulten und Geheimritualen, unter deren Einfluß er eine neue, als Diamantfahrzeug (Vajrayana)bezeichnete Form annahm. Während seine Anhängerzahl in den meisten Provinzen rasch schwand, überlebte dieser späte Buddhismus »in Bihar und Bengalen als Staatskult des Pala-Reiches bis ins zwölfte Jahrhundert; seine dortigen großen Klöster blieben weiterhin Anziehungspunkte für die buddhistische Welt Südost-, Ost- und Zentralasiens, bis sie von den Muslimen zerstört wurden. Der Volkskult, besonders als Verehrung des Dharma-Thakur, wurde mehr und mehr vom Shivaismus absorbiert; die letzten Buddhisten bekehrten sich schließlich zum Vishnuismus (und zwar zur Krishna-Sekte Chaitanyas) oder zum Islam. Auch der Jainismus degenerierte in gewissem Maße, vor allem zur Astrologie und Dämonenbeschwörung. Er hielt sich jedoch als Glaube des gebildeten, nüchternen kaufmännischen Mittelstandes, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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besonders in den Grenzgebieten der indischen Kultur, in Rajasthan, Gujarat und im Süden, wo diese Kreise lange eine unerhörte wirtschaftliche und politische Macht ausübten, so daß die Zahl und Pracht ihrer Tempel in keinem Verhältnis zu der verhältnismäßig kleines Zahl der Gläubigen stand. Im Süden wurde der Jainismus von den Shivaiten und Vishnuiten zeitweilig grausam verfolgt, hielt sich aber im Norden auch in den schwersten Zeiten muslimischer Herrschaft. Der Shivaismus (Shaivismus) hat sich aus dem Volksglauben der vorarischen Urbevölkerung entwickelt, deren zahllose Kulte lokaler Fruchtbarkeitsgötter miteinander verschmolzen... Lange nur als Volksglaube geduldet, setzte er sich in der Gupta-Zeit endgültig durch, wurde aber immer etwas scheel angesehen und erlangte erst im Mittelalter, etwa seit dem achten Jahrhundert, seine führende Stellung... Allmählich verschmolzen die Lehren des Shivaismus mit denen der spätvedischen Upanishaden. Der Mann, der dieser Synthese in seinem berühmten Kommentar zu den Brahmasutra des Badarayana die endgültige, autoritative Formulierung (Adraita Vedanta) gab, war Shamkaracharya (etwa 778-820). Alles ist Gott, die Welt ist nur eine durch Gottes Macht (shakti, der großen Muttergöttin gleichgesetzt) geschaffene Illusion (maya), der Mensch wird erlöst, indem er diese Illusion erkennt und sich damit seiner Identität mit Gott Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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bewußt wird. Shamkaracharya werden noch viele andere Werke zugeschrieben, doch ist es meist schwer zu sagen, was wirklich auf ihn zurückgeht. Er entfaltete in seinem recht kurzen Leben eine intensive Missionstätigkeit, die ihn von Südindien bis nach Nepal und Kashmir führte. Auf ihn gehen mehrere Dynastien shivaitischer ›Päpste‹ zurück, die sich alle ebenfalls Shamkaracharya nennen... Der Vishnuismus (Vaishnavismus), der sich um die Kulte des vedischen Himmelskönigs Vishnu und des mit einem Yaksha (Lokalschutzgott) von Govardhan bei Mathura verschmolzenen Yadava-Heros Krishna-Vasudeva entwickelte, war schon die von den Gupta-Kaisern bevorzugte Religionsrichtung gewesen, In der GuptaPeriode vollendete sich auch die Zehnzahl seiner Epiphanien (avaiara), besonders Varaha (Eber), Nrisimha (Mann-Löwe), Rama (Held des Ramayana, Vorbild guter Herrschaft), Krishna und Kalkin (Heiland der Zukunft). In der Bhagavadita, in das Mahabharata eingefügt, erwuchs eine großartige Synthese aller indischen Philosophien, die in der Liebe (bhakti) des Menschen zu dem einen, liebenden Gotte Krishna gipfelt... Im Süden nahm unter den Pallava der Vishnuismus einen großen Aufschwung, dank der Propaganda der schon erwähnten tamilischen Dichterheiligen, der Alvar, die aus den verschiedensten Kasten stammten, Ihre Werke sind im Nalayir Prabandham Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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gesammelt. Unter den Chola wurde die Vishnu-Verehrung jedoch vom Shivaismus in den Hintergrund gedrängt, zeitweilig sogar verfolgt; nur der große Tempel von Shrirangam und die Varadaraja-Tempel von Kumbhakonam und Kanchipuram wuchsen zu lichterem Glanze... Die Grundlagen der mittelalterlichen Kunst hatte die Gupta-Periode gelegt. Sie hatte eine Reihe von entscheidenden Neuerungen gebracht: eine auf Musik und Tanz basierende Ästhetik, eine bewußte Steinarchitektur an Stelle der bisherigen Bauweise in Holz und Ziegeln oder deren gebrechlichen Nachahmungen in Stein, ein klarer Kanon für Typen, Formen und Proportionen an Stelle der bisherigen, trotz aller Konventionen relativ freien Gestaltung, eine neue und theologisch gründlich systematisierte Ikonographie. Für all dies gab es verbindliche Textbücher (Shilpashastras), die den Anspruch erhoben, von den Göttern und den Heiligen der fernsten Vergangenheit verfaßt zu sein. Es war eine großartige und höchst originelle Leistung, trotz aller Anleihen bei der Volkskunst, der altbuddhistischen, parthischen und römischen Tradition, und sie hatte alles Recht, in der Folgezeit als klassisch zu gelten. Das Mittelalter baute dieses ›heilige‹ Erbe bis zu den Grenzen des Möglichen aus und schuf doch mittels Verschmelzung alter Formen und Anpassung an neue Bedürfnisse durchaus Eigenständiges, In der feudalen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Gesellschaftsordnung waren dies vor allem die Burg, die Tempelstadt und die Tempelkathedrale. Von der alten weltlichen Architektur ist wenig erhalten, obwohl sie nach Angabe der Quellen bedeutend gewesen sein muß. Städte und Paläste sollten gemäß den Textbüchern nach strengen Regeln, in rituell genau festgelegten Rechtecken, Kreisen und Halbkreisen angelegt werden, doch wurden solche Gesichtspunkte weitgehend durch militärische aufgehoben, besonders wenn die Festungen auf oder an den so häufigen Tafelbergen oder Granitkuppen errichtet wurden... Die Haupttempel standen im Mittelpunkt der Stadt oder in dessen Nähe, Klöster lagen meist außerhalb. Die Tempel bestanden aus einem turmartigen Heiligtum auf einer hohen Plattform, an das sich im Laufe der Zeit immer mehr Prozessionskorridore, Kulthallen, Vorhallen, Hallen für die Tempeltänze und die Verteilung der Opferspeisen, Kapellen der Gemahlin, Kinder und himmlischen Diener des Gottes oder kleinere Tempel der anderen Hauptgötter, rituelle Badeteiche, riesige Eingangstore und Hofarkaden anschlössen. Dabei machte es kaum einen Unterschied, welcher Religionsgemeinschaft die Tempel gehörten... Dagegen kann man eine beträchtliche zeitliche und regionale Differenzierung feststellen. Seit dem siebenten bis achten Jahrhundert entwickelten sich fünf regionale Stile: der Pala-Stil in Bengalen und Bihar: Pagoden Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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wie in Nepal, Java, Bali und Ostasien auf Terrassenpyramiden; der Kashmir-Stil: einfache Tempeltürme mit Pyramidendach und Dreipaßbogen inmitten von Säulenhöfen, stark von der hellenistischen Kunst Gandharas (Peshawar, Swat, Kabul) und der spätrömischen beeinflußt; der Nagara-Stil Nord- und Zentralindiens mit seinem hohen Tempelturm von leicht konvexem, einheitlichem Aufriß und mit ihm untergeordneten Kult- und Vorhallen; der Vesara-Stil des Dekhan und Mysores mit dominierenden Kulthallen auf quadratischem oder polygonalem Grundriß und einer oder mehreren sich daran anlehnenden Kapellen mit niederem Dachturm in scharf abgesetzten Stockwerken; und schließlich der Dravida-Stil des tamilischen und Telugu-Südens, gewaltige Tempelstädte, um deren ursprüngliches kleines Allerheiligstes durch Jahrhunderte Nebentempel, Kulthallen, Prozessionskorridore, heilige Seen sich angliederten, von meist mehreren konzentrischen Umfassungsmauern mit immer riesiger werdenden Toren zusammengehalten... Die bedeutendsten Tempelbauten des Nordens sind der Sonnentempel von Martand (8. Jahrhundert) in Kashmir, die buddhistischen Heiligtümer von Bodhgaya, Nalanda und Paharpur (7.-10. Jahrhundert) in Bihar und Bengalen. Nur die großen Staatstempel der Chola-Kaiser wichen von diesem Schema ab; hier erhob sich über dem Allerheiligsten ein steiler, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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vielgeschossiger Pyramidenturm. Hinzu kamen noch regionale Nachläufer (bis ins 10. Jahrhundert) der frühbuddhistischen und klassischen Felsenarchitektur, die wiederum die Freiarchitektur, nun die in Stein anstatt in Holz, nachahmten... Staatstempel der Ghandella-Könige in Khajuraho, heute eines der beliebtesten Touristenziele, in Malwa der große, von den Paramara erbaute Nilkanteshvara-Tempel zu Udaypur, in Gujarat der Sonnentempel von Modhera und die von einer erdrückenden Skulpturenfülle überzogenen Marmortempel der Jaina-Sekte in Delwara (Mt. Abu), Kumbharia, Girnar, Shatrunjaya, in Orissa die shivaitischen Tempel von Bhuvaneshvara (7.-13.Jahrhundert), der ungeheure Sonnentempel von Konarka und der große Jagannatha (Vishnu)-Tempel von Puri. Im Dekhan haben wir vor allem die berühmten Höhlentempel von Elephanta bei Bombay (5.-8. Jahrhundert) und Ellora (7.-10./12. Jahrhundert), darunter den riesigen, aus dem Felsen gemeißelten Kailasa-Tempel, an dessen zentralem Heiligtum und den den Hof umschließenden Kapellen, Tempeln, und Galerien fünf Jahrhunderte gearbeitet haben, und an freistehenden Tempeln besonders die der Shilahara in Ambarnath bei Bombay und in Sinnar, die der Westlichen Chalukya in Lakkundi, Gadag, Ittagi und der Hoysala in Belur, Halebid und Shravana-Belgola. Im südlichen Tiefland liegen die vielen Tempelstädte, an denen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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anderthalb Jahrtausende hindurch gebaut worden ist. Am schönsten sind die aus dem Fels gemeißelten Pallava-Tempel und Felsenreliefs von Mahabalipuram (Mamallapuram), Kanchipuram und Trichinopoly, sowie die riesigen Tempelanlagen aus der CholaZeit.« (A. K. Majumdar) ¤ 29 Turm des Brihadishvara-Tempels in Tanjavur. Bau aus der Zeit Rajarajas des Großen, um 1000 ¤ 30 Gott Shiva in Begleitung der Parvati bei der Ehrung des Candesha. Relief am Tempel in Gangaikondacholapuram, Anfang 11. Jahrhundert ¤ 31 Vidyadevi Vajrasrinkhala, eine jainistische Göttin mit Begleitern. Deckenrelief im Säulenumgang des Dilwara-Tempels auf Mount Abu, 13. Jahrhundert ¤ 32 Der Neminath-Tempel, ein jainistischer Tempel auf Mount Abu. Blick in den Umgang und auf eine Jina-Nische, 12. Jahrhundert ¤ 33 Die Tempelstadt von Palitana mit zahlreichen jainistischen Tempeln, 14. Jahrhundert ¤ 34 Beispiel der frühesten Miniaturmalerei im Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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westlichen Indien: Illustration aus einer im 15. Jahrhundert in Gujarat entstandenen Handschrift des Jinacaritra (»Leben der Jinas«). König Siddhartha vor dem Empfang der Traumdeuter bei der Morgentoilette. Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Staatliche Museen, Indische Kunstabteilung ¤ 35 Beispiel der frühesten Miniaturmalerei im westlichen Indien: Illustration aus einer im 15. Jahrhundert in Gujarat entstandenen Handschrift des Jinacaritra (»Leben der Jinas«). Die Traumdeuter erkennen, das ungeborene Kind werde ein Jina oder Weltherrscher sein. Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Staatliche Museen, Indische Kunstabteilung ¤ 36 Beispiel der frühesten Miniaturmalerei im westlichen Indien: Illustration aus einer im 15. Jahrhundert in Gujarat entstandenen Handschrift des Jinacaritra (»Leben der Jinas«). Königin Trishala vertraut Hofdamen die Sorge an, ihr ungeborenes Kind, der künftige Jila, lebe nicht mehr. Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Staatliche Museen, Indische Kunstabteilung ¤ 37 Beispiel der frühesten Miniaturmalerei im westlichen Indien: Illustration aus einer im 15. Jahrhundert in Gujarat entstandenen Handschrift des Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Jinacaritra (»Leben der Jinas«). Der künftige Jina verteilt vor seiner Weltflucht sein Hab und Gut. Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Staatliche Museen, Indische Kunstabteilung ¤ 38 Der Affenkönig Hanuman. Flachreliefs zwischen Säulen eines Tempels in Vijayanagar, der Hauptstadt des gleichnamigen südindischen Hindureiches, 15. Jahrhundert ¤ 39 Reliefbänder an der Außenmauer des Hazara Rama, Svami-Tempels in Vijayanagar, 16. Jahrhundert
»Bei der Eroberung Indiens durch die Muslime im 12. Jahrhundert ist die mittelalterliche Kunst der Hindu, Jainas und Buddhisten untergegangen. Sie hat aber im fünfzehnten bis achtzehnten Jahrhundert nochmals eine Renaissance erlebt, imposant an Quantität, aber an Qualität mit der ursprünglichen nicht mehr zu vergleichen. Auf sie werden wir noch zurückkommen... Die muslimische Eroberung eröffnete eine neue Phase der indischen Geschichte und Kultur.« (A. K. Majumdar) Der Nordwesten Indiens, in zahlreiche Fürstentümer aufgespalten, lag um die Wende des ersten Jahrtausends dem Zugriff der muslimischen Nachbarn offen. Schon seit zwei Jahrhunderten standen Sindh Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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und ein Teil des Punjab unter arabischem Einfluß, Wiederholte Beutezüge des Sultan Mahmud von Ghazna (998-1030) hatten die an das afghanische Reich angrenzenden indischen Kleinstaaten wirtschaftlich zerrüttet. Fast zweihundert Jahre später entschied sich 1192 Indiens Schicksal in der zweiten Schlacht von Tarain auf dem historischen Kurufeld am westlichen Eingang des Gangesbeckens. Der Ghuride »Mu'izz ad-Din hatte die letzte große Hindu-Allianz unter der Führung des tapferen Chauhan-Königs Prithviraja III. besiegt, Prithviraja gefangengenommen und hingerichtet, 1193 Delhi besetzt und zu seiner indischen Provinzhauptstadt unter seinem General Qutb ad-Din Aibak gemacht, 1197 die Gahadavala von Kanauj gestürzt und Benares geplündert. Während Aibak die Chauhan niederkämpfte, überrannte einer seiner Generäle, Ikhtiyar ad-Din Muhammad Bakhtyar Khilji, 1197 die Gangesebene, zerstörte die letzten buddhistischen Klöster in Bihar, umging ein Sena-Heer und überrumpelte 1202 Lakshmanasena von Bengalen in seiner Hauptstadt... Damit war das erste rein indische Sultanat entstanden. Aibak war der Gründer der türkischen Mamluken-Dynastie von Delhi (1206 bis 1290)... Ihm folgten sein Schwiegersohn Shams ad-Din Iltutmish (1210-1236) und dessen Schwiegersohn Ghiyas ad-Din Balban (12661287). Daneben regierten sieben ihrer Kinder, unter Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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denen nur die Sultanin Raziya (Reziah) herausragt, die sich aber, obwohl tapfer und intelligent, gegen die Vorurteile einer rauhen Kriegergesellschaft, die die Frauen in den Harem verbannte, nur vier Jahre lang halten konnte und ein tragisches Ende nahm. So wie die Zeiten waren, konnten nur harte Kämpfer das junge Reich retten. Die Königreiche Nordindiens waren zwar überrannt, aber noch nicht wirklich unterworfen. Überall kämpfte der Hindu-Adel weiter um seine Besitzungen oder suchte, wenn er endgültig vertrieben war, sich neue zu erwerben. Die tatsächliche Kontrolle der Muslime reichte nicht über den nächsten Unikreis einer Reihe strategischer Zentren hinaus, wie Delhi, Ajmer, Budaon. Hinzu kam eine neue, furchtbare Bedrohung, die Mongolen des größten Welteroberers Tschinghis Khan, die bereits große Teile Asiens fast völlig ausgemordet hatten. Unter Hülägü Khan herrschten sie über Persien, den Irak und Afghanistan und fielen nun auch in den Punjab ein und machten alles der Wüste gleich; schließlich belagerten sie sogar Delhi, Schritt für Schritt eroberten die Muslime mühsam Nordindien bis an die Grenzen von Gujarat und Malwa, während sie gleichzeitig die heidnischen Mongolenhorden abwehren mußten. Dies gelang nur dank äußerster Militarisierung des Sultanats durch die afghanische Khilji (Gilzai)-Dynastie (1290-1320).« (A. K. Majumdar) Ihr Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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bedeutendster Herrscher A'la ad-Din vermochte fast ganz Indien dem Delhi-Sultanat zu unterwerfen. »Freilich war der Süden ebenso wenig fest in Besitz genommen wie ein Jahrhundert zuvor Nordindien... Unter der Tughluq-Dynastie (1320-1398/1412) schließlich kam die Krise, die das ›ausländische‹ Sultanat von Delhi durch im wesentlichen indische Sultanate ersetzte... In all den endlosen Kämpfen war erst die türkische Erobererschicht gefallen oder hingemordet worden; die Überlebenden waren durch Mischheirat weitgehend indisiert oder stammten von bekehrten Hindu ab. Obwohl auch weiterhin Türken, Perser, Araber, sogar Neger aus dem Westen einwanderten, war die muslimische Herrenschicht einheimisch geworden, und eine Unterschicht muslimischer Handwerker und Bauern war entstanden, Der Lebensstil von Hindu und Muslimen hatte sich angeglichen; trotz gelegentlichen fanatischen Ausbrüchen auf beiden Seiten entwickelte sich ein gewisses gegenseitiges Verstehen... Noch unter Muhammad ihn Tughiuqs Regierung hatte sich der Hindu-Süden in dem Reiche von Vijayanagar zu einer Großmacht zusammengeschlossen. Vijayanagar erneuerte unter vier Dynastien nochmals den Glanz des Hindu-Mittelalters. Es umfaßte alles Land von Nordceylon bis zur Tungabhadra und Krishna und reichte zeitweilig bis Orissa; so konnte es den Muslimen eine ungeheure Übermacht Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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entgegenstellen. Trotzdem wurden seine Armeen wegen ihrer altmodischen Bewaffnung häufig besiegt, bis Devaraya II. (1422-1446) schließlich eine zahlreiche, mit arabischen und türkischen Pferden ausgerüstete Reiterei und ein großes muslimisches Söldnerkorps aufstellte. Die riesige Hauptstadt Vijayanagar, von der Tungabhadra, Sümpfen, Granitklippen und von drei Granitmauern geschützt und flankiert von drei Felsenburgen und unübersichtlichen Bergen, widerstand vielen Belagerungen durch die Sultane des Dekhan... Unter dem großen Krishna Deva Raya (1509 bis 1530) und seinen Nachfolgern machte Vijayanagar sogar die Sultanate des Dekhan tributpflichtig, die sich daraufhin verbündeten und Rama II., dem Regenten für den entmachteten Sadashiva, 1565 bei Talikota eine vernichtende Niederlage beibrachten. Der Staat erholte sich wieder, aber die Hauptstadt wurde nacheinander nach Penukonda, Chandragiri und schließlich nach Vellore verlegt, die großen Nayaks (Statthalter) rissen die Macht an sich, und der letzte Kaiser starb als hilfloser Flüchtling in Mysore.« (A. K. Majumdar) ¤ 40 Qutb-Minar, das Minarett einer von Qutb-adDin begonnenen und unter seinen Nachfolgern vollendeten Moschee in Delhi
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¤ 41 Sturm auf die Festung Chitorgarh durch die Truppen Kaiser Akbars im Jahr 1568. Miniatur in einer Lebensbeschreibung des Kaisers, um 1600. London, Victoria & Albert Museum ¤ 42 Empfang eines europäischen Gesandten am Mogulhof. Miniatur, Ende 17. Jahrhundert. Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, staatliche Museen, Indische Kunstabteilung ¤ 43 Grabmal des Mogulkaisers Humayun in Delhi, um 1565 ¤ 44 Mausoleum des Ibrahim, I. 'Adilshahi in Bijapur, vor 1627 ¤ 45 Die Göttin Sarasvati beim Spiel auf der Vina. Skulptur in der tausendsäuligen Halle in Madura, 17. Jahrhundert ¤ 46 Skulpturen am Eingang zum Tempelbezirk in Shrirangam bei Tanjavur, 17. Jahrhundert ¤ 47 Mittagsmahl im Hof eines islamischen Palastes. Mogul-Miniatur, Anfang 18. Jahrhundert. Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Staatliche Museen, Indische Kunstabteilung Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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»Nach der Katastrophe der muslimischen Eroberung erholte sich die Hindu-Kultur erst allmählich wieder. Die Großreiche des Mittelalters waren zwar alle zerschmettert worden, aber abseits der großen Heerstraßen hielt sich die lokale Aristokratie; die Tempel, kleinen Städte und das offene Land, besonders in schwer zugänglichen Gegenden, blieben unbelästigt, wenn sie keine Aufmerksamkeit erregten. Solange die erbeuteten ungeheuren Königs- und Tempelschätze Delhi überfluteten, waren sie sogar als Tribut- und Steuerzahler uninteressant. Aber der Kampf zwischen den alten Landbesitzern und den bewaffneten Flüchtlingen auf der Suche nach neuen Herrschaftsgebieten hielt das Land in Atem, allgemein herrschten Chaos und Armut, ganz zu schweigen von der ständigen Gefahr muslimischer Raubzüge. Die Tempel verfielen. Kunst und Wissenschaft siechten mangels Unterstützung dahin, die Tempelpriester rezitierten zwar noch ihre Gebete und Hymnen, verstanden sie aber nicht mehr. Nur hier und da hielten Einzelne, oft unter großen Entbehrungen, die alten Traditionen lebendig... Am wenigsten hatte noch der Süden gelitten, Malabar, das westliche Kanara und Maharashtra, fast ganz Andhradesha, Orissa waren so gut wie ohne Schaden davongekommen, Mysore nur kurz überrannt gewesen. Schon nach einem halben Jahrhundert setzte in den Küstenebenen, in Mysore und dem südlichen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Dekhan eine neue Blütezeit von etwa dreihundert Jahren ein... in Nordindien wurde nicht die Kultur der Oberschicht popularisiert, sondern es erwuchs aus der Volkstradition eine neue Hochkultur... Die vishnuistische Bhakti-Religion lehrte eine all-liebende Gottheit – sei es in der Gestalt des göttlichen Hirten Krishna, sei es in Vishnus anderer Menschwerdung, dem Helden Rama –, in der der Fromme durch hingebende Liebe, vom bescheidenen Dienst bis zur Ekstase der unio mystica, Frieden und Seligkeit findet... Das Hohelied des leidenschaftlichen Krishna-Kultes wurde Jayadevas Gitagovinda, das des gemäßigteren Rama-Kultes das Ramayana. Jenes besang die bräutliche Gottesliebe, dieses die Liebe zu Gott Im Gleichnis der Gattin, des Bruders, des Freundes und Dieners. Lange nur eine Art freisinniger Opposition, erhielt die Bewegung seit dem fünfzehnten Jahrhundert dank der Tätigkeit mehrerer Heiliger und Dichter feste Gestalt... Schließlich versuchte der Weber Kabir (um 1440-1518) die Gegensätze zwischen Hindu und Muslimen zu überbrücken. Er lehrte in einfachen, aber treffenden Hindi-Versen, daß es völlig gleichgültig sei, ob man Gott Rama oder Allah nenne, ob man im Tempel oder in der Moschee bete, ob man die Riten der Hindu oder der Muslimen vollziehe, es komme allein auf die Reinheit des Herzens und einen ethischen Lebenswandel in der Liebe zu Gott an. Er Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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wurde von hinduistischen wie muslimischen Frommen gleichermaßen verehrt, und als er starb, wollten beide ihn nach ihren Gebräuchen beisetzen. Ähnliches predigte auch Guru Nanak (1469 bis 1538) im Punjab. Es ist eine der Ironien der Weltgeschichte, daß sich aus seinen pazifistischen Jüngern im Laufe der nächsten Jahrhunderte die kriegerische Nation der Sikh entwickelte, die in den Muslimen ihren Erbfeind sahen.« (A. K. Majumdar) »Die sich befehdenden Staaten zu einem Großreich zusammenzufassen und aus all den nebeneinanderherlebenden Kulturen eine Reichskultur zu schaffen, war die Leistung des Großmogul-Reiches... Dieses Reich war die Schöpfung zweier genialer Männer, der Kaiser Babur und Akbar, oder richtiger dreier, nämlich auch des Gegenkaisers Sher Shah, des Gründers der kurzlebigen Sur-Dynastie. Babur legte die militärischen Grundlagen, Sher Shah die administrativen, Akbar die politischen und kulturellen, ohne die die beiden anderen nicht aufrechtzuerhalten waren. Alle drei hatten eine schwere Jugend gehabt, hatten sich durch eigene Tüchtigkeit unter oft verzweifelten Umständen durchgesetzt, waren harte Arbeiter und hochgebildete Autodidakten geworden; aber nur Akbar, den Ideen seiner Zeit weit voraus, hatte die Vision eines indischen Universalstaates, einer gesamtindischen Kultur. Zahir ad-Din Muhammad Babur war Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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1483 in Ferghana (Turkistan) geboren, einem der Teilfürstentümer, in die das Reich des großen Eroberers Timur Leng nach 1469 zerfallen war... Als Baburs Vater 1494 starb, wurde Babur, erst elfjährig, bereits in die Kämpfe um den Kaiserthron von Samarkand, sowohl mit seinen Vettern als auch mit den Ozbegen-Nomaden der Steppe, verwickelt. Zweimal Herr von Timurs Hauptstadt, mußte er 1504 vor den Ozbegen nach Kabul flüchten und schuf sich ein neues Reich in Afghanistan.« (A. K. Majumdar) Die natürliche Einfallspforte nach Indien lag damit in seiner Hand. Und wie fast alle Beherrscher des Gebirgslandes vor ihm, folgte auch Babur der sich ihm bietenden Möglichkeit, die fruchtbaren Tiefebenen seinem Besitz anzugliedern, zumal der Nordwesten Indiens »seit der Einnahme von Delhi 1398 zum Reich seines Vorfahren Timur gehört hatte. Nachdem er sich 1519 die Bergpässe und 1582 seine Flanke durch die Eroberung Kaiidahars gesichert hatte, unterstützte er 1524 Daulat Khan in dessen Kampf gegen Ibrahim Lodi, vertrieb im nächsten Jahre Daulat Khan, besiegte 1526 Sultan Ibrahim bei Panipat, 1527 bei Khanua Maharana Sangram von Chitorgarh, der seine Flanke bedrohte, nahm 1528 Chanderi und 1529 Bihar und besiegte noch im selben Jahr an der Gogra Sultan Nusrat Shah von Bengalen, der den Lodi zu Hilfe gekommen war... Er verlor die Eroberungen an Sher Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Khan Sur, der nach der Vertreibung Humayuns als Sher Shah regierte (1540-1545)... Bald gab es vier Sur-Sultanate, die sich gegenseitig bekriegten; so konnten die Moguln eines nach dem anderen besiegen.« Nach Humayuns Tod führte für dessen dreizehnjährigen Sohn Akbar (1556-1605) zunächst Bairam Khan die Regierung; 1562 trat Akbar selbst die Herrschaft an. »In diesen Krisen zeigte sich schon seine zukünftige Größe, sein kaltblütiges, die Gegner entwaffnendes Handeln und die Mischung von Brutalität und versöhnender Großzügigkeit... Akbar begann die Unterwerfung der Rajputen mit der Heirat der Tochter Bharamalls, des Rajas von Amber (des späteren Jaipur), der er den Titel Maryam az-Zamani (›die Madonna ihres Zeitalters‹ gab. Aber die anderen Rajputen-Fürsten weigerten sich, ihre Töchter in den Harem des türkischen ›Barbaren‹ zu senden, und mußten mit Gewalt dazu gezwungen werden, wobei Akbar die schwächeren Staaten gegen die früheren Führermächte Jodhpur und Chitorgarh hochzuspielen suchte. Mit dem furchtbaren Untergang von Chitorgarh 1568 war der Kampf endgültig entschieden, aber erst 1583 unterwarf sich Jodhpur, und erst 1614 kapitulierten die Maharanas von Mewar. Als Blutsverwandte des Kaiserhauses waren die Rajputen von da an die loyalsten und tapfersten Untertanen, mit deren Hilfe die Großmoguln ihre muslimischen Großen in Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Schach halten konnten. Dazu trug freilich bei, daß Akbar seit 1564 den Hindu die gleichen Rechte wie den Muslimen gewährte, alle Beschränkungen in der Ausübung ihrer Religion und im Tempelbau aufhob, die Hindu zu den höchsten Ämtern zuließ, RajputenFürsten zu Generälen und Provinzstatthaltern ernannte, einen gemischt hindu-muslimischen Lebens- und Kunststil einführte und 1582 eine synkretistische Religion, Din i-Ilahi (der ›Göttliche Glaube‹), gründete... Seine späteren Jahre widmete Akbar der Organisation dieses Riesenreiches. Er führte die Reformen Sher Shahs weiter, entwickelte eine gewaltige Bautätigkeit – die Stadt Fathpur Sikri, die Hofburgen von Agra, Lahore und Allahabad, zahlreiche andere Festungen und Paläste sind sein Werk –, förderte Maler, Dichter und Gelehrte und ermutigte die Großen, das gleiche zu tun... Akbars ältester Sohn und Nachfolger Jahangir (Salim, 1605-1627) war hochgebildet, neigte aber zu Müßiggang, überließ die Regierung seinen Ministern und beschäftigte sich lieber mit Reisen, Jagd, Kunst und Wissenschaft. Er baute die von Akbar begonnenen Hofburgen weiter aus, errichtete seinem Vater ein großartiges Grabmal zu Sikandra, machte Kashmir zur Sommerresidenz der Kaiser und legte dort die meisten der berühmten Mogul-Gärten an... Unter Shahjahan (Shihab ad-Din Khurram, 1628-1658) setzte sich die von Shaikh Ahmad Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Sarhindi gepredigte muslimische Orthodoxie durch. Gerade weil er von der Seite seiner Mutter und Großmutter Rajpute war, betonte der Kaiser seine Abstammung von Timur und sein gutes Muslimtum, dies um so mehr, als er nach dem Tode seiner heißgeliebten Gemahlin Mumtaz Mahal, 1631, zur Bigotterie neigte... Als der betagte Shahjahan 1657 schwer krank wurde, kam es zwischen seinen Söhnen sofort zu einem Bürgerkrieg, den Aurangzeb als der tüchtigste gewann. Während Dara Shukoh seine Truppen zersplitterte, um den Vormarsch Shujas, des Vizekönigs von Bengalen, aufzuhalten, verbündete sich Aurangzeb mit Murad-Bakhsh, dem Vizekönig von Gujarat. Gemeinsam besiegten sie Dara Shukoh bei Samugarli (in der Nähe von Agra). Murad-Bakhsh wurde bei der Siegesfeier als ›Ketzer‹ verhaftet und hingerichtet, Dara Shukoh durch den Punjab, Rajasthan und Sindh verfolgt, verraten und unter demselben Vorwand geköpft, Shahjahan war inzwischen genesen, wurde aber bis zu seinem Tode, 1666, im Harem der Burg von Agra gefangengehalten... Aurangzeb (Muhi adDin'Alamgir I., 1658-1707) hatte viel Ähnlichkeit mit Philipp II. von Spanien. Tapfer und hochgebildet, gewissenhaft und subjektiv gerecht, von asketisch-einfacher Lebensweise und ein harter Arbeiter, ein tüchtiger General und raffinierter Diplomat, fehlten ihm dennoch die Qualitäten Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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eines großen Staatsmannes. Seine Strenge und sein Mißtrauen schufen um ihn eine Atmosphäre des Kriechertums und der Heuchelei, seine Bigotterie trieb ihn zu offener Unterdrückung der Hindu... Außenpolitisch schien das Mogul-Reich unter Aurangzeb seinen Höhepunkt zu erreichen... Im Dekhan fielen nacheinander Bijapur (1686) und Golkonda (1687). 1697 wurde die starke Festung Jinji (Ginjee, südwestlich von Madras) von Zu'l-fiqar Khan genommen, und Mogul-Truppen streiften fast bis zur Südspitxe des Landes. Aber gerade im Dekhan sollte sich das Schicksal des Reiches erfüllen. In den Bergen der West-Ghats stieß Aurangzeb auf einen Gegner, der, so klein er auch im Vergleich zu der Riesenmacht des Mogul-Reiches schien, doch alles besaß, was jenem seit Akbars Tagen fehlte: Kühnheit, Zähigkeit, Beweglichkeit, eine anfeuernde nationale Idee und einen Führer, der sein Volk begeistern konnte. Dies alles traf auf die Marathen unter Shivaji zu.« (A. K. Majumdar) Seit der Flucht Shivajis aus seinem Gewahrsam in Delhi, 1666, »gab es nur noch unerbittlichen Krieg zwischen den Marathen und den Moguln. Es war ein Krieg ohne Ende, wobei das schwerfällige Mogul-Heer, schließlich von Aurangzeb selber geführt. Festung um Festung belagerte und einnahm, während in ihrem Rücken die Marathen den Dekhan verheerten... Als Aurangzeb um 1707 hochbetagt Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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starb, war sein Zweitältester Sohn und Nachfolger Balladur Shah (Shah 'Alam I., 1707-1712) ein schon über siebzigjähriger Mann, der ganz von seinen Großen beherrscht war... Mit seinem Tode bei Lahore setzte endgültig die Auflösung ein. Die noch lebenden Mitglieder des Kaiserhauses waren mehr oder weniger als Gefangene aufgewachsen, ohne jede militärische und administrative Erfahrung... In dem folgenden Jahrhundert wurden von den muslimischen Staaten der Carnatic, Haidarabad, Mysore und Bengalen die Opfer der Machtkämpfe zwischen Engländern und Franzosen, während Oudh erst gegen die letzten Moguln ausgespielt und schließlich, durch Mißwirtschaft zerrüttet, 1856 annektiert wurde.« (A. K. Majumdar) ¤ 48 Islamisch-indisches Kunsthandwerk: Dreiteilige Gewürzdose und Deckelgefäß mit eingelegten Goldfäden und Steinen. Jadearbeiten, 18. und 17. Jahrhundert. Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Staatliche Museen, Indische Kunstabteilung ¤ 49 Islamisch-indisches Kunsthandwerk: Sarpech (Turbanschmuck). Jadearbeit mit eingelegten Goldfäden und Steinen aus Delhi (?), 18. Jahrhundert. Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Staatliche Museen, Indische Kunstabteilung
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¤ 50 Islamisch-indisches Kunsthandwerk: Wasserkanne und Deckeldose. Schwarzmetall mit Silbereinlage, sog. bidri-Arbeit aus den Werkstätten von Bidar/Haidarabad, 18. Jahrhundert. Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Staatliche Museen, Indische Kunstabteilung ¤ 51 Islamisch-indisches Kunsthandwerk: Schreibzeugkasten mit Reliefschnitzerei. Elfenbeinarbeit aus Agra, 17. Jahrh. Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Staatliche Museen, Indische Kunstabteilung ¤ 52 Verlockung der Frauen zum Tanz durch Krishna. Indische Miniatur aus Janamu, um 1800. Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Staatliche Museen, Indische Kunstabteilung ¤ 53 Verehrerinnen Krishnas. Fries auf einer Stoffmalerei aus Marwar/Jodhpur, Ende 18. Jahrhundert. Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Staatliche Museen, Indische Kunstabteilung
»Unter den Großmogul-Kaisern hatte sich die letzte große Synthese der indischen Kultur vollzogen... Das Mogul-Reich konnte sich nur mittels einer Verständigung mit den Hindu konsolidieren: Shahjahans islamisch-timuridische Politik stieß auf die Feindschaft Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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und den Hohn jener muslimischen Nachbarn, die er einst als Vorbild betrachtet hatte; die Folgen von Aurangzebs Unterdrückung der Hindu führten zu einem Chaos, in dein die Kultur des zerfallenden Reiches als Ausdruck der Ebenbürtigkeit mit dem Kaiserhofe auch von den Hindu weitgehend übernommen wurde... Bis in die frühen Regierungsjahre Akbars hinein war die Kultur der Moguln das Erbe des späten Timuriden-Reiches von Saniarkand und Herat, später des Safawiden-Hofes von Persien. Aber schon unter Humayun begann die Verschmelzung mit der gleichzeitigen Kultur der indischen Muslime, die in den ersten fünfzehn Jahren Akbars ihren Abschluß fand... Unter Aurangzeb bestimmten eher die Muslime der eroberten Sultanate des Dekhan den kulturellen Stil. Seit etwa 1562-1570 hatte aber die Verschmelzung mit der Kultur der Rajputen eingesetzt, die jedoch in Jahangirs letzten Jahren (seitdem Nurjahan mitregierte) ein Ende fand. Statt dessen begann die immer intensivere Übernahme der Mogul-Hochkultur an den Rajputen-Höfen, und sie wurde allgemein seit etwa 1690-1720.« (A. K. Majumdar) Nach einer Blütezeit der Miniaturmalerei unter Jahangir folgte unter Shahjahan eine Periode hoher Leistungen im Kunstgewerbe; Brokate und für den Sommer hauchdünne Musseline mit Goldstickerei, Geschirr aus Porzellan, Bergkristall mit Edelsteinen eingelegt, reichtauschierte Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Waffen zeugen davon.« (A. K. Majumdar) Im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert lebten die einst hochentwickelten Zweige der Kunst noch großenteils in handwerklicher Fertigkeit fort. Als einzige Kunstformen standen noch Musik und Tanz in voller Blüte. »Faßt man alle diese Züge zusammen, so war um 1800 Indien nicht nur wirtschaftlich und politisch, sondern auch kulturell am Ende angelangt. Dies allein erklärt die Leichtigkeit, mit der die Engländer Indien eroberten.« (A. K. Majumdar) In einer wechselvollen dreitausendjährigen Geschichte hat Indien immer erneut vermocht, fremde Völker und Kulturen in seine Lebensformen einzubeziehen und zu assimilieren. Heute scheint sich, nach dem Einbruch westlicher Vorstellungen, wiederum die Möglichkeit abzuzeichnen, daß das Land die Geburtswehen einer neuen Kultur durchlebt. ¤ 54 Die vishnuitische Gottheit Mohini. Holzfrei aus Südindien, Anfang 19. Jahrhundert. Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, staatliche Museen, Indische Kunstabteilung ¤ 55 Tanzendes Paar. Relief von einem Elfenbeinkästchen, 18. Jahrhundert. Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Staatliche Museen, Indische Kunstabteilung Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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VIII. Der Islam ¤ 1 Szenen aus dem Alltagsleben. Steinstelle aus Südarabien, 1. Jahrhundert. Paris, Louvre ¤ 2 Kopf aus Südarabien. Kalksteinskulptur, 1. Jahrtausend v. Chr. Wien, Kunsthistorisches Museum ¤ 3 Kopf aus Südarabien. Kalksteinskulptur, 1. Jahrtausend v. Chr. Wien, Kunsthistorisches Museum ¤ 4 Steinerne Hochhäuser in Schibam in Südarabien ¤ 5 Reste der Südschleuse des Staudamms von Ma'rib, 5./6. Jahrhundert
»Der Islam entstand als eine städtische Religion. Er wurde in der Handelsstadt Mekka konzipiert und in der Oase Medina geboren, deren Bewohner vorn Dattel- und Getreidebau lebten.« (M. Watt) »Im Empfinden der neuen islamischen Gemeinschaft erscheint die Heidenzeit als eine der Barbarei naheliegende Periode. Von diesem Urteil ist Südarabien (die Arabia felix der Alten) mit seinen Stadtstaaten und den von den oft priesterlichen Königen in Zaum gehaltenen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Nomaden ausgeschlossen. Seit Jahrhunderten in die Weltpolitik eingeschaltet, Handelsstützpunkt für den Landverkehr wie für die Schiffahrt im Roten Meer und im Indischen Ozean und Ausgangszentrum der Karawanenstraße nach Syrien und Ägypten, mit Nahrung versorgt durch eine von kühnen Bewässerungsanlagen erhaltene Landwirtschaft, waren die Reiche des Jemen von der übrigen Halbinsel geistig und politisch, bis zu einem gewissen Grad auch sprachlich, abgeschlossen. Doch ist es nicht der Jemen, mit dem sich das vorislamische Arabertum eins gefühlt hat. Ungeachtet gewisser Gleichläufigkeiten oder Einflüsse vom Süden her ist der Islam eine Schöpfung Mittel- und Westarabiens. Wenn im Süden die Stadt die Führung in Händen hat, so liegt auf der übrigen Halbinsel das Heft in der Hand der Nomaden... Man darf wohl annehmen, daß diese Araber, ein Name, der sich etwa mit ›Passanten‹, ›Nomaden‹, übersetzen ließe, die Halbinsel in nicht allzu weit zurückliegender Zeit erschlossen haben, Als Kleinvieh- und (später?) Eselnomaden waren die Stämme an den Steppenrand gebunden; die Lebensform des Kamelbeduinen, die nach alter Tradition in unvordenklichen Zeiten entstanden sein soll, ist in Wirklichkeit verhältnismäßig jung und mit Sicherheit erst etwa im elften Jahrhundert v. Chr. nachzuweisen. Erst das Kamel machte die Wüste passierbar und ermöglichte die Wanderungen der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Stämme wie auch ihre Ausbrüche aus der Wüste... Das südarabische Königtum scheint nach dem ersten Jahrhundert langsam abgesunken zu sein und seine Macht mehr und mehr mit den lokalen ›Feudalherren‹ geteilt zu haben.« (v. Grunebaum) Dem Königtum der Nabatäer, 106 dem Römischen Reich eingegliedert, und dem Stadtstaat von Palmyra (Höhepunkt um 260, Ende 273) folgen im vierten und fünften Jahrhundert beduinische Pufferstaaten unter den Ghassaniden, den Lachmiden und den Kinda. Keines dieser Staatswesen vertrat eine Idee, die angetan gewesen wäre, die Beduinen ihrer anarchischen Neigungen zu entwöhnen. Bezeichnend für den im sechsten Jahrhundert folgenden allgemeinen politischen Verfall ist es daß der dritte Bruch des außerordentlich wichtigen, sagenumwobenen Staudamms von Ma'rib nicht mehr durch Zusammenarbeit der Stämme gemeistert werden konnte, so daß »die Katastrophe mit einem einschneidenden Verlust an Fruchtland endete. Die Rebeduinisierung weiter Landstriche scheint dem ausgehenden sechsten Jahrhundert zumindest im Süden das Gepräge gegeben zu haben, wodurch natürlich ein Element der Unruhe in das Leben der ganzen Halbinsel getragen wurde... Obzwar schon von Ptolemaeus genannt und dank der bei ihm angeführten Namensform als südarabische Gründung um ein Heiligtum identifizierbar, hat Mekka als Marktort und religiös-geistiges Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Pilgerzentrum wohl nicht lange vor 500 die ihm traditionell zugeschriebene Bedeutung erlangt, nachdem der Stamm der Koraisch sich seiner bemächtigt hatte. An der Kreuzung des südnördlichen Handelsweges mit der das Rote Meer mit dem heutigen Irak verbindenden Straße, in einem heißen, unfruchtbaren, von unwirtlichen Bergen umsäumten Talgrund, war Mekkas Existenz ursprünglich nur durch den Wasservorrat des später den Muslimen heiligen Zemzem-Brunnens möglich geworden... Baudenkmäler, deren Reste Rückschlüsse gestatteten, gab es nicht; das vermutlich einzige aus Stein errichtete Heiligtum, die Ka'ba (›Würfel‹) von Mekka, wurde vom Islam übernommen... Es erscheint durchaus vertretbar, daß die Ka'ba schon vor Muhammad in erster Linie das Heiligtum Allahs war. Umwandlung (tawaf), verehrendes Stehen (wuquf), unblutige und blutige Opfer waren die wesentlichen Elemente des Kultus... Der Islam kehrte nun, recht besehen, zu der unversehrten Uroffenbarung zurück, als deren kultischen Mittelpunkt Muhammad Mekka erkannte. Dort hatte Abraham mit Hilfe seines Sohnes Isma'il die erste Ka'ba erbaut und die reine Religion geübt. Nichts selbstverständlicher, als daß die Gebete fortan nach Mekka gerichtet wurden... Der haddsch (Pilgerfahrt) ist in seiner endgültigen Gestalt im Jahre 632 eingeführt worden. Die Riten haben durch die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Sanktionierung alten Sakralguts wie des Küssens des Schwarzen Steins, der Umläufe um die Ka'ba, der ›Steinigung der Satane‹ zu Mina und der dort dargebrachten Tieropfer den Übergang zur neuen Religion erleichtert; diese archaische Religiosität hat zusammen mit der Verpflichtung, den haddsch mindestens einmal im Leben zu unternehmen, dem Islam ein geistig-zeremonielles Zentrum gegeben, dessen funktionelle Bedeutung als Integrationspunkt um so wichtiger wurde, je weiter sich der Kreis der Gläubigen über die arabische Welt hinaus ausdehnte.« (v. Grunebaum) ¤ 6 Wüstenlandschaft in der Umgebung von Mekka ¤ 7 Gläubige vor der Ka'ba in Mekka ¤ 8 Plan der Ka'ba und ihrer Umgebung. Zierkachel, um 1666. London, Victoria & Albert Museum ¤ 9 Koranständer aus der Fatimidenzeit, 11. Jahrhundert. Sinai, Moschee des Katharinenklosters ¤ 10 Prunkschlüssel für die Ka'ba. Ein Geschenk des türkischen Sultans Bajazet II. (1481-1512), mit eingelegter goldener Inschrift. Istanbul, Topkapi-Museum Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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¤ 11 Hof der Umajjaden-Mosche in Damaskus, 705 ¤ 12 Das innere der 'Umar-Moschee, des sogenannten Felsendoms, in Jerusalem, 691 ¤ 13 Kalif Hischam. Stuckplastik aus dem Wüstenschloß Khirbat al-Mafjar, 8. Jahrhundert. Jerusalem, Palestine Archaeological Museum ¤ 14 Syrische Moscheelampe aus der Zeit der ägyptischen Mamluken mit Koran- und Gedenkinschrift, 1313. London, Victoria & Albert Museum ¤ 15 Das Wüstenschloß Ukhaidir bei Karbala' im Irak, zweite Hälfte 8. Jahrhundert ¤ 16 Badende Frauen. Wandmalerei im Wüstenschloß Qusair Amra, erste Hälfte 8. Jahrhundert ¤ 17 Frühislamische Münzen: Dirhams der Umajjaden-Dynastie, 722 und 725. New York, The American Numismatic Society ¤ 18 Frühislamische Münzen: Vorder- und Rückseite eines Dinars des Abbasiden-Kalifen al-Wathiq (842-847), Gepräge aus San'a, 843. New York, The American Numismatic Society Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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¤ 19 Frühislamische Münzen: Vorder- und Rückseite eines Dirham des Abbasiden-Kalifen al-Muqtadir (908-932). New York, The American Numismatic Society ¤ 20 Frühislamische Münzen: Vorder- und Rückseite eines Medaillons des Abbasiden-Kalifen al-Muqtadir (908-932). New York, The American Numismatic Society ¤ 21 Frühislamische Münzen: Vorder- und Rückseite eines Dinars des spanischen Umajjaden-Kalifen Hischam II. (976-1009), Gepräge aus dem Jahr 989. New York, The American Numismatic Society ¤ 22 Frühislamische Münzen: Vorder- und Rückseite eines Dirham des Ajjubiden-Kalifen Salah ad-Din (Saladin) (1169-1193), Gepräge aus dem Jahr 1190. New York, The American Numismatic Society
Ein Werk, das von Gott dem Muhammad offenbarte Wort, der Koran, bildete das ganze literarische Erbe, als sich die Araber in religiösem Eifer und aus Eroberungsfreude anschickten, ein Reich zu erobern. Als Folge der Aufnahme von Gebieten mit höherer Bildung entfaltete sich nun eine homogene »islamische Kultur«. Nach den vier auf Muhammad folgenden Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Kalifen aus seiner Urgemeinde »läßt sich die Zeit der Umajjaden (661-750) zusammenfassend bezeichnen als die mediterrane Epoche des Kalifats, die zweite große Expansion der dar al-islam« (v. Grunebaum) Das Auftreten eines schiitischen Gegen-Kalifen in Mekka veranlaßte »'Abd al-Malik, sich um die religiöse Autarkie Syriens zu bemühen, indem er mit Hilfe der Künstler des byzantinischen Hofes die Moschee, den Felsendom zu Jerusalem, ausbaute und die Wallfahrt dorthin als Ersatz für den haddsch nach Mekka förderte... Wie der byzantinische Kaiser dem Umajjaden 'Abd al-Malik aller Feindseligkeit ungeachtet Handwerker und Künstler zum Bau des Felsendoms in Jerusalem zur Verfügung gestellt hatte (691), so war auch Byzanz den Arabern bei der Sammlung griechischer Manuskripte behilflich... Der letzte Staatsmann unter den Umajjaden von Damaskus, Hischam (724-743), scheint – nach der veränderten Symbolsprache der Hofkunst zu urteilen – die Idee, der Kalif werde das Erbe des Kaisers antreten, aufgegeben und begonnen zu haben, persische Herrschaftstraditionen neu zu beleben. Der Einfluß der Kalifen hatte sich zu dieser Zeit schon über das eigentliche Iran hinaus ausgebreitet... Das Kalifat hatte zu Anfang eine Doppelwährung: Goldstandard im byzantinischen Westen, Silberstandard im sasanidischen Osten... Nur gelegentlich wurde den persischen und Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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byzantinischen Herrscherfiguren und den christlichen Symbolen eine koranische Wendung zugestempelt... Erst im zweiten und dritten Jahrhundert der Hidschra (achtes und neuntes Jahrhundert) wurden die Namen der verantwortlichen Kalifen oder Statthalter beigefügt.« (v. Grunebaum) »Mit der Machtergreifung der Abbasiden trat 750 die religiöse Grundlage des Kalifats stärker hervor.« (M. Watt) »Die ›Thronrede‹ des Abu 'l-'Abbas begründete den Herrschaftsanspruch der Abbasiden aus dem Koran... In der Erinnerung der Gemeinde bildete fortan die Regierung Harun ar-Raschids (786-809) den Höhepunkt des Kalifats. Das Kalifat, bislang vorwiegend auf das Mittelmeer ausgerichtet, hatte seinen politischen Schwerpunkt nach Zentralirak verlegt und stellte sich damit auf den asiatischen Norden und Osten um... Kurden, Dailamiten, christliche Armenier, vor allem aber zentralasiatische Türken stellten die Kalifenarmee. Das Ergebnis war ein erstaunlich rasches Überhandnehmen türkischen Einflusses bei Hofe. In der Folge verlegte al-Mu'tasim 838 den Regierungssitz aus Bagdad nach Samarra, das nach außerordentlich großzügigen Plänen aufgebaut wurde.« (v. Grunebaum) Trotz politischer Machtkämpfe, der Fortdauer der Umajjaden-Herrschaft in Spanien, der selbständigen Statthalterschaft des türkischen Generals Ibn Tulun in Kairo gilt für das neunte Jahrhundert das Wort »Wenn wir die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Leute von Sidschistan, der Dschazira, vom Jemen, dem Maghrib und 'Uman, den Azraqi, den Nadschdi, den Ibadi und den Sufri, Maulá und Araber, Perser und Nomaden, Sklaven und Frauen, Weber und Bauern, trotz ihrer unterschiedlichen Abkunft und der Verschiedenheit ihrer Heimatländer auf derselben Seite kämpfen sehen, so begreifen wir, daß es die Religion ist, die diesen Ausgleich zwischen ihnen schafft und die Gegensätze miteinander versöhnt.« (v. Grunebaum) ¤ 23 Arabischer Reiter, Federzeichnung auf Papier, 10. Jahrhundert. Wien, Österreichische Nationalbibliothek ¤ 24 Emir auf einem Elefanten. Arabische Elfenbeinarbeit, nach indischem Vorbild, 8./9. Jahrhundert. Paris, Bibliothèque Nationale ¤ 25 Polospieler. Silbereinlegearbeit auf einer Bronzeschlüssel des as-Salih Ajjub, Sultans von Ägypten und Syrien. Syrisches Kunsthandwerk, 1239-49. Washington, Smithsonian Institution, Freer Gallery of Art ¤ 26 Das Minarett der großen Moschee von Samarra, Mitte 9. Jahrhundert Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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¤ 27 Schiffsszene. Miniatur zur 39. Maqame in der Schwanksammlung des al-Hariri. Handschrift der Schule von Bagdad, um 1230. ¤ 28 Szene beim Kadi. Miniatur zur 8. Maqame des al-Hairi. Handschrift aus Ägypten (?), 1334. Wien, Österreichische Nationalbibliothek
»Die Bildungsformen zeigten die arabisch-grammatische Richtung, die sich mit dem Studium der Schrift, aber auch mit der Beduinentradition befaßte, und die persisch (oder perso-indisch) inspirierte Richtung, die vor allem aus der iranischen Geschichtslegende schöpfte und sich in der Neugestaltung von sentimental-›platonisierendem‹ Gepräge gefiel... Beide Parteien hielten sich im Rahmen des Islams und bedienten sich des Arabischen.« (v. Grunebaum) »Während der ersten drei Jahrhunderte entwickelten sich auch die islamischen Wissenschaften und brachten ein System höherer Bildung hervor... Aus Problemen der Grammatik und Lexikographie folgte, daß beide Fächer sich zu speziellen ›Wissenschaften‹ entwickelten... Die ersten Geschichtsschreiber befaßten sich auch mit Jurisprudenz, der Tradition und mit Koranexegese, die Theologie wurde häufig als ein Zweig der Rechtswissenschaft angesehen... So entstand eine ganze Reihe geisteswissenschaftlicher Disziplinen, die eng Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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miteinander verbunden waren und zusammen ein vollständiges Bildungssystem ausmachten.« (M. Watt) »Aufnahme und Weiterbildung der antiken Wissenschaft gingen voran: Optik, Botanik, Pharmakologie; auch empirische Medizin ist der islamischen Forschung tief verpflichtet. Der begriffliche Rahmen spätantiken Denkens, aber auch galenische Anatomie und hellenistische Sterndeutung blieben unberührt selbst da, wo einzelne Einsichten über sie hinauswiesen... Im elften Jahrhundert sah al-Beruni seine islamische Welt zwischen Inder und Griechen gestellt, doch den Griechen näher und vom Geist des Arabischen zusammengehalten.« (v. Grunebaum) ¤ 29 Seitenansicht der Mustansirijja, einer der alten Universitäten von Bagdad. Bau aus der Zeit des Kalifen al-Mustansir (1226-42). Restauriert 1962 ¤ 30 Arabischer Arzt bei der Zubereitung einer Medizin. Arabische Miniatur, 13. Jahrhundert. Wien, Österreichische Nationalbibliothek ¤ 31 Portal der Mustansirijja, einer der alten Universitäten von Bagdad. Bau aus der Zeit des Kalifen alMustansir (1226-42). Restauriert 1962
»Im Irak war das Verdienst der Bujiden, die nun den Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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mittelpersischen Titel eines schahanschah führten, beträchtlich... Sie entfalteten sowohl in Bagdad wie auf iranischem Boden eine kulturfördernde Tätigkeit. Krankenhäuser wurden in Bagdad und Schiraz eingerichtet, eine Sternwarte in Bagdad gebaut, dafür Bibliotheken in Schiraz, Rajj und Isfahan gegründet, die indischen Ziffern wurden im arabischen Sprachgebiet heimisch gemacht... Ein verhältnismäßig stabiler innerer Friede, Neuanlagen oder die Wiederherstellung verfallener Bewässerungsanlagen, Brücken und Straßen brachten Wohlstand und Währungsstabilisierung, die dem Fernhandel zugute kamen. Der Sicherung des Seewegs nach Indien dienten die Annexionen der Küste von 'Uman und der ständige Kleinkrieg gegen die Qarmaten in Bahrain. Die vielfach den Städten gewährte größere Freiheit zeigte im Grunde schon die Schwäche der bujidischen Macht, wurde aber, wo sie bedrohlich erschien, mit blutigem Eingriff unterdrückt. So erlebte das elfte Jahrhundert sowohl auf bujidischem Gebiet wie in Syrien und Spanien ein bemerkenswertes Aufblühen städtischer Kräfte... Jedoch die in Ägypten herrschenden Fatimiden drohten sich in Syrien festzusetzen, und die zentralasiatischen Türken drangen, nachdem sie erst in die islamische Gemeinschaft eingegliedert waren, ungehindert in die iranisch-arabische Welt vor... Bis in die Mitte des elften Jahrhunderts schien die fatimidische Macht Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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ungebrochen und von einer Woge wirtschaftlichen Wohlstands getragen... Der steile Aufschwung des ägyptischen Europahandels, der durch Flottenbau zielbewußt gefördert wurde, machte Ägypten zum Mittelpunkt und Umschlagplatz des internationalen Seehandels.« (v. Grunebaum) Im elften Jahrhundert jedoch scheitern imperialistische Unternehmen der Fatimiden an der Realität der Seldschukenmacht. Wie die ersten achtzig Jahre fatimidischer Herrschaft in Ägypten und das frühabbasidische Bagdad vordem, gehört die »Blüte Córdobas unter 'Abd arRahman III. bis zum Sturz der 'Amiriden zu den goldenen Zeitaltern islamischer Kultur.« (v. Grunebaum) »Im maurischen oder islamischen Spanien zeigte sich in einer völlig anders gearteten Landschaft die Ausstrahlungskraft der arabischen Geisteshaltung. Hier gab es unter den muslimischen Eindringlingen nur relativ wenige Araber, in der Mehrzahl waren sie Berber. Doch die Kultur der Araber zog auch die Einheimischen in ihren Bann, die männliche Jugend war fasziniert, vor allem von der arabischen Dichtung... Anfangs im Grunde eine arabische Kultur, waren ihre maßgeblichen Träger die aus Berbern und sakaliba (Slawen) gemischten Arabo-Andalusier.« (M. Watt) »Bis gegen Ende des zehnten Jahrhunderts und darüber hinaus ist Spanien kulturell als eine Art Kolonialgebiet anzusprechen. Seine beträchtliche Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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künstlerische Eigenleistung wurde in der Architektur gar nicht, in der Dichtung erst in der zweiten Hälfte des zwölften Jahrhunderts vom Osten rezipiert... 'Abd ar-Rahman III, sah die materielle Bestätigung der errungenen Selbständigkeit (Annahme des Kalifentitels 929) in dem Ruhm, den die spanisch-arabische Kultur in Europa genoß, in der blendenden Anziehungskraft Córdobas mit seiner großartigen Moschee und der von ihm errichteten, Versailles ähnlichen Residenzstadt Medina azzahra vor seinen Toren... Ihre wirkliche Selbständigkeit gewinnt die spanisch-islamische Kultur im elften Jahrhundert.« (v. Grunebaum) Granada, bald vereint mit Malaga, war nach dem Untergang des Kalifats das wichtigste berberische Königtum. In der Kunst geht es »um verfeinernde Ausschöpfung des Überkommenen, freilich immer unverkennbarer mit einer ›andalusischen‹ Note, die sich deutlich von der orientalisch-arabischen Tradition abhebt.« (v. Grunebaum) Im dreizehnten Jahrhundert schließlich vermochte die Vielzahl kleiner Fürstentümer den erneut vordrängenden Christen kaum noch Widerstand zu bieten. Als letzte Zuflucht des Islam besetzten die Nasriden Granada und vermochten diese Enklave bis 1492 zu halten. ¤ 32 Friedhof aus der Fatimiden-Zeit in Gebel Adde in Nubien, 11. Jahrhundert Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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¤ 33 Die Gesamtanlage der Alhambra in Granada, 13./14. Jahrhundert ¤ 34 Der Mirador (Erker) de Daraxa in der Alhambra in Granada ¤ 35 Federbüchse aus der Zeit des Chwarezmschah 'Ala' ad-Din Muhammed aus Merv in Ostiran, 1210. Washington, Smithsonian Institution, Freer Gallery of Art ¤ 36 Timur Leng (Tamerlan) zu Pferde in den Straßen von Samarkand. Persische Miniatur, um 1434. Washington, Smithsonian Institution, Freer Gallery of Art ¤ 37 Beutestücke des »Türken-Louis«, des Markgrafen Ludwig Wilhelm v. Baden, des Siegers über die osmanische Streimacht bei Belgrad im Jahr 1691: Scheide mit drei Wurfspießen. Türkische Prunkwaffen, Ende 17. Jahrhundert. Karlsruhe, Badisches Landesmuseum ¤ 38 Beutestücke des »Türken-Louis«, des Markgrafen Ludwig Wilhelm v. Baden, des Siegers über die osmanische Streimacht bei Belgrad im Jahr 1691: Streitbeil. Türkische Prunkwaffe, Ende 17. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Jahrhundert. Karlsruhe, Badisches Landesmuseum ¤ 39 Çinili Kösk in Konstantinopel, ein dreizehn Jahre nach der Eroberung (1453) erbauter osmanischer Palast
Als sonderbare Parallele zu der Entwicklung im Westen bildet das elfte Jahrhundert für den iranischen Osten gleichermaßen »eine Zäsur im Werdegang der islamischen Welt. Die iranischen Akteure treten ab, die Türkisierung ist unwiderruflich geworden: Türken führen die neue große Welle muslimischer Expansion, die sich vor allem nach Osten wendet und dem Islam Afghanistan und das Industal erschließt. Obwohl sie als kulturelle Vertreter Irans auftreten, bedeuten sie als Völkerbewegung ein Vordringen des asiatischen Nomadentums... Wo die Ghaznawiden den Islam gen Osten getragen hatten, breiteten die Seldschuken die Lehre nach Westen aus... Unter Alp Arslan, dem zweiten Seldschukenherrscher in Bagdad, durchbrachen die Türken 1071 die byzantinische Befestigungslinie im östlichen Kleinasien, und damit begann die Türkisierung Kleinasiens, dessen größere Hälfte als ein faktisch selbständiger seldschukischer (Teil-)Staat zusammengefaßt wurde... Im Unterschied zu den Ländern arabischer Zunge, in denen sich die türkischen Einwanderer-Herrscher niemals zu Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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assimilieren wußten, wurden sie in Kleinasien heimisch und bereicherten sowohl die Baukunst wie die Literatur des Islam, dessen persische Ausdrucksform sie sich zu eigen machten... Die Stadtoasen Zentralasiens und Ägypten entzogen sich zunächst der Seldschukenmacht.« Aber schließlich wurde bis 1517 die staatliche Macht in Ägypten und Syrien von turkvölkischen Militärdynastien, den Mamluken, getragen. Als Vormacht im Iran folgten den Seldschuken 1194 die Chwarezm-Schahs. »Der Sieg der Mongolen über die Chwarezmier erfolgte im Jahre 1220.« Unter einem Enkel Tschinghis Khans, Hülägü, »drang das Mongolenheer am 17. Januar 1258 in Bagdad ein. Die Stadt wurde verschont, der Kalif gefangengenommen und nach einigen Tagen hingerichtet.« (v. Grunebaum) Auf den endgültigen Untergang des abbasidischen Kalifats folgte im Norden eine Periode mongolischer Herrschaften, der Ilchane, und unter Timur wurde Samarkand zur neuen Weltstadt. Nach seinem Tod waren es die osmanischen Türken, die von Kleinasien aus zur politischen, religiösen und völkischen Expansion ansetzten. »Die osmanischen Sultane beanspruchten nach der Eroberung von Byzanz, Mekka, Medina und Kairo Titel und Amt des Kalifen mit der Begründung, das Kalifat sei ihnen von dem letzten einer Reihe von Abbasiden-Kalifen übertragen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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worden, die nach 1258 in Kairo residierten... Der Titel verlieh den Osmanen jedoch keinerlei Macht oder Autorität, die sie nicht als Sultane ohnehin schon besaßen.« (M. Watt) »Mit dem gleichzeitigen Aufstieg der Safawiden und Großmogulen im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert findet der Zerfall in Kleinstaaten sein Ende.« (v. Grunebaum) Wenn die Hauptstadt des osmanischen Imperiums nun auf europäischem Boden lag, »so war auch die islamische Welt vom sechzehnten Jahrhundert an mehr und mehr den Einflüssen Europas ausgesetzt.« (M. Watt) Parallel mit der Eroberung von Byzanz (1453), der Austreibung der Muslime aus Spanien (1492), beginnen »die ersten Einflüsse Europas auf die islamische Welt mit der Entdeckung des Seeweges nach Indien durch die Portugiesen im Jahr 1498. Die unmittelbare Folge davon war, daß der Überseehandel der muslimischen Kaufleute so gut wie völlig aufhörte. Statt dessen konzentrierte sich der Handel auf neue Güter und auf neue Wege, und die Muslime, seit je eine Gemeinschaft von Kaufleuten, wurden von dem Feld verdrängt, auf dem sie erfolgreich begonnen hatten.« (M. Watt) Durch diese Ausweitung des europäischen Handels bis Indien kam es zu einem neuen Kontakt mit diesem östlichsten und äußersten Einflußgebiet muslimischer Expansion. Im elften Jahrhundert zuerst hatte der turkomanische Herrscher Mahmud von Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Ghazna den muslimischen Machtbereich nach Indien hinein ausgedehnt, im zwölften Jahrhundert erweiterten die Ghuriden (Sultane von Ghor) die Herrschaft bis nach Gujarat und Bengalen aus. Damit war die Grundlage für das Sultanat von Delhi (1211 bis 1236) gewonnen, »und man kann sagen, daß dort die muslimische Macht unter den Mogul-Kaisern am Ende des siebzehnten Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreichte.« (M. Watt) »Das Großmogul-Reich war die Schöpfung zweier genialer Männer, der Kaiser Babur und Akbar. Babur legte die militärischen Grundlagen, Akbar die politischen und kulturellen... Aber nur Akbar, den Ideen seiner Zeit weit voraus, hatte die Vision eines indischen Universalstaates, einer gesamtindischen Kultur... Die Mogul-Kaiser sprachen und schrieben ursprünglich Türkisch... Aber bald wurde Persisch die Hofsprache, für die Verwaltung ebenso wie in der Literatur. Und natürlich wurden die Themen der klassischen persischen Literatur nachgeahmt und variiert... In der wissenschaftlichen Literatur, vor allem der Theologie, war Arabisch üblich.« (A. K. Majumdar) »Akbar begann die Unterwerfung der Rajputen 1562 mit der Heirat der Tochter des Rajaas von Amber... Die Rajputen waren von da an die loyalsten und tapfersten Untertanen... Dazu trug freilich bei, daß Akbar seit 1564 den Hindu gleiche Rechte Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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gewährte, einen gemischt hindumuslimischen Lebensund Kunststil einführte... So hat die Große Moschee in Fathpur Sikri, südwestlich von Agra, zwar persische Formen, aber Hindu-Säulen wie die frühesten Moscheen Indiens. Die Paläste der Rajput-Kaiserinnen sind fast rein Hindu im Stil, der Pavillon der ›Türkischen Sultanin‹ aber ist zwar eine Rajput-Konstruktion, jedoch mit reichen Blumenmustern in der Mode von Buchara überzogen. Akbar errichtete die Palastburgen von Agra, Allahabad und Labore, doch wurden ihre Paläste erst von Jahangir ausgebaut.« (A. K. Majumdar) »In diese Zeit fallen auch die ersten Kontakte mit den Europäern und der europäischen Kultur, besonders mit Jesuitenmissionaren aus Goa... Die kulturelle Synthese fand zwar nach Akbars Tod ihre Fortsetzung, jedoch das Weltreich brach über dem alten Gegensatz zwischen Hindu und Muslimen wieder auseinander... Als die Engländer als Stellvertreter der letzten Mogul-Kaiser sich anschickten, Indien zu erobern, war die Zeit reif für die Auseinandersetzung mit dem über alle Weltmeere vorstoßenden Abendland.« (A. K. Majumdar) Als im neunzehnten Jahrhundert durch die Erfindung des Dampfschiffes und der Eisenbahn der Kontakt der islamischen Welt zu Europa enger wurde und durch die industrielle Revolution sich grundlegende Veränderungen anbahnten, hatte sich seit dem russischen Sieg über die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Osmanen, Napoleons Feldzug nach Ägypten und dem Vordringen Europas in die arabischen Länder der südlichen Mittelmeerküste der Eindruck verbreitet, der Islam in seinen Kernländern sei erstarrt. »Doch zu Beginn unseres Jahrhunderts zeigte es sich, daß solche Diagnosen auf den Islam als Ganzes nicht zutreffen. Trotz aller politischen Zwietracht und Schwäche war die islamische Kultur in ihren Verästelungen zu Beginn unseres Jahrhunderts im wesentlichen noch intakt... Islamische Zielsetzungen und Konzeptionen waren es, die nun hinreichend geschlossene politische Grundlagen konstituieren sollten, um einiges von der alten Lebensweise gegen die europäischen Eingriffe zu bewahren. Im zweiten Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts entwickelte sich damit ein ›weltlich-islamischer‹ Nationalismus, und das Bewußtsein eines gemeinsamen Erbes islamischer Kultur und Geschichte verband sich mit dem Verlangen nach Unabhängigkeit von nichtmuslimischer Herrschaft.« (M. Watt) ¤ 40 Rumeli Hissar, die bereits zwei Jahre von der Eroberung Konstantinopels durch Mehmed II. errichtete Festungsanlage auf der europäischen Seite des Bosporus ¤ 41 Die Moschee Selims II. in Edirne (Adrianopel). Bau des türkischen Architekten Sinan, 1566-74 Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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¤ 42 Die Alabastermoschee im Roten Fort von Agra. Bau des Mogul-Kaisers Shahjahan, um 1640 ¤ 43 Münze des Mogul-Kaisers Jahangir (Regierungszeit 1605-1627): Mohur (Goldmünze) mit der Büste des Kaisers vor einer Strahlengloriole (Vorderseite) und liegendem Löwen mit Sonne, 1611/12. Berlin, Staatliche Museen, Islamisches Museum ¤ 44 Sultan im Diwan-Khass. Indische Miniatur, Anfang 18. Jahrhundert. Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Staatliche Museen, Indische Kunstabteilung ¤ 45 Händler und Käufer im Basar von Damaskus. Stahlstich, 19. Jahrhundert
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IX. Die Entstehung Europas ¤ 1 Ein mit seinen Beigaben im Grab ruhender Franke. Vorderseite eines Grabsteins aus Niederdollendorf bei Bonn, Ende 7. Jahrhundert. Bonn, Rheinisches Landesmuseum ¤ 2 Christus als Himmelskönig. Rückseite eines Grabsteins aus Niederdollendorf bei Bonn, Ende 7. Jahrhundert. Bonn, Rheinisches Landesmuseum
Im Verlauf des füniten Jahrhunderts hatten die Germanen, die von den Römern als Föderaten aufgenommen worden waren, auf weströmischem Boden selbständige Staaten gegründet. Die Vandalen saßen in Nordafrika, die Westgoten in Spanien und Südfrankreich, die Ostgoten in Italien, Burgunder und Franken hatten ihre Herrschaft in den nördlichen Teilen des alten Galliens errichtet. Die Germanen übernahmen sehr bald die christliche Lehre. »Die meisten richteten sich jedoch – im Unterschied zu den Reichsbewohnern – nach den Lehren des Arius. Nur die Franken unter ihrem König Chlodwig hatten sich von vornherein für das römische Bekenntnis entschieden, das das Verhältnis zwischen Gottvater und Gottsohn in Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Übereinstimmung mit Athanasius definierte. Und diese Franken entwickelten im achten Jahrhundert unter den Karolingern die spezifisch mittelalterlichen Herrschaftsforiiien.«(A. Nitschke) Die Darstellungen auf diesem germanischen Grabstein beweisen herkömmliches, aber auch schon christliches Empfinden. Das Kämmen des Haares ist ein Symbol für das Fortwirken der Lebenskraft des Toten. Die ihn umgebenden Schlangen nehmen als Tiere der dunklen Erdentiefe den Verstorbenen in ihr Reich auf. Die Rückseite des Steins zeigt das früheste uns bekannte Christusbild aus dem germanischen Raum: Christus in der strahlendurchbrochenen Aureole mit dem Speer in seiner Rechten über schlangenartigen Dämonen. Dank der germanischen Sitte, die Toten mit ihren Beigaben zu bestatten, besitzen wir Funde, die ein Licht auf die soziale Struktur der Franken der Merowingerzeit werfen, Wir kennen Gräber adliger, halbund unfreier Franken, Wir wissen von Freien, »die nur ein kleines, an den ärmeren Grabbeigaben erkennbares Gefolge ihr eigen nannten und einen Teil der Feldarbeit wohl mit eigener Hand ausführten. Diese Freien besaßen entweder, gleich den Adligen, einen eigenen Hof oder hatten auch nur von einem adligen Herrn ein Gehöft zu Lehen.« (K. Böhner) Das Treueverhältnis des Kriegers zu seinem Herrn war das Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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menschliche Vorbild für das Verhältnis des Germanen zu Christus, dem König des Himmels. Dieses Christus-Verständnis ging vom König und seinem Gefolge aus und wirkte ins Volk. Die große Rolle, die dem Adel bei der Christianisierung zukam, erkennen wir noch heute an den von ihm geschaffenen Eigenkirchen; sie gehörten ihren Gründern. Vom sechsten bis zum achten Jahrhundert verschmolz Römisch-Antikes mit Germanischem; es war die unruhige Zeit eines kulturellen Umbruchs. ¤ 3 Der freigelegte Grundriß eines Hallenholzbaues im Weiler eines freien Franken bei Gladbach im Kreis Neuwied, 7. Jahrhundert ¤ 4 Fränkischer Spangenhelm. Vergoldete Bronzeund Eisenarbeit aus dem Fürstengrab von Morken/ Erft, um 600. Bonn, Rheinisches Landesmuseum ¤ 5 Griff eines vollständig erhaltenen Ringknaufschwertes. Vergoldete Bronze- und Eisenarbeit aus dem Grab eines heidnischen Sachsenfürsten in Beckum/Westfalen, nach 600. Münster/Westf., Landesmuseum für Vor- und Frühgeschichte ¤ 6 Die Fundamente einer Eigenkirche aus der Zeit der Besetzung Ostfalens durch die Franken. Blick von Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Südosten auf den Grundriß der Hohe-Schanze-Kirche bei Winzenburg im Kreis Alfeld/Leine »Die Geschichte der Merowinger ist eine Folge von Heimtücke und Grausamkeiten: durch Gift, List und im offenen Kampf brachte sich die Familie Chlodwigs um. Schlimm waren die Männer, schlimmer die Frauen. Die Damen des Nibelungenliedes spiegeln die Rachsucht dieser Königinnen wider... Nach Chlodwigs Tod im Jahr 511 wurde die Herrschaft unter vier Söhne geteilt. Spätere Teilungen brachten für die Zukunft die maßgebliche Gliederung des Frankenreiches: im Osten Austrien mit Reims und Metz, im Westen Neustrien mit Paris und Soissons, und dann Burgund, das eine eigene alte Tradition besaß. Die Abgrenzungen in den einzelnen Reichsteilen wurden nach dem Besitz der königlichen Familie vorgenommen, auf völkische Unterschiede nahm man nicht weiter Rücksicht.« Die Teilungen waren rein dynastisch; die Bevölkerung wurde davon kaum berührt. »Während die Könige stritten, breiteten sich die Franken auf ehemaligem Fiskalbesitz oder auf herrenlos gewordenem Gut aus. Nur im Norden siedelten sie dichter, und selbst dort, nördlich der Seine, betrug der germanische Anteil der Bevölkerung kaum mehr als fünfzehn bis dreißig Prozent, Im Süden, in Aquitanien und im Rhônetal, wo die Franken noch die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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spätrömische Ständeordnung mit einer bedeutenden Senatorenschicht vorfanden, änderten sie wenig. Die Senatoren besetzten nach wie vor die führenden Stellen in der Verwaltung – wahrscheinlich waren sie dem fränkischen Adel in ihren Rechten gleichgestellt... Die ständigen Auseinandersetzungen innerhalb des Königshauses ließen den Adel immer mächtiger werden, vor allem die Hausmeier, die an Stelle der Könige für Ordnung in den einzelnen Reichen zu sorgen hatten.« (A. Nitschke) ¤ 7 Die Übertragung der Marktzölle von St. Denis und Paris einschließlich des vom Hausmeister Grimoald beanspruchten Anteils an die Abtei von St. Denis durch König Childebert III. Pergamenturkunde vom 13. Dezember 710. Paris, Archives Nationales.
Die Teilreiche hatten ihre eigenen Hausmeier. »Im Osten unter König Dagobert war es Pippin. Er unterstützte zusammen mit dem Bischof Arnulf von Metz die königliche Politik. Sein Sohn Grimoald hingegen suchte sich von der merowingischen Königsfamilie zu lösen, ein Versuch, der auf heftigen Widerstand im Adel stieß: Grimoald wurde in Paris zum Tode verurteilt... Demselben Geschlecht entstammte ein anderer Pippin; er war mit Arnulf von Metz verwandt. Auch Pippin der Mittlere errang die Hausmeierwürde in Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Austrien, In der Schlacht bei Tertry siegte er über das Heer der Neustrier, und ein Jahr später, 688, führte er auch für Neustrien den Titel eines Hausmeiers. So wurde Neustrien von Austrien besiegt, dem Gebiet, das am weitesten von den alten Kulturzentren entfernt lag.« Childebert III., der bis zum Jahr 711 in die Fehden der Großen Austriens verwickelt war, übertrug der Abtei von St. Denis, der Grablege der Merowinger, die gesamten Zölle ihres Marktes, deren Hälfte sein Hausmeier Grimoald, ein Sohn Pippins, beansprucht hatte. Pippins anderer Sohn, Karl Martell, konnte sich nur durch eine Offensivpolitik in der väterlichen Stellung behaupten. Jahr für Jahr mußte er kämpfen, um die rechtsrheinischen Stämme der fränkischen Hoheit wieder zu unterwerfen. Sein großes Verdienst ist es, den sieggewohnten Arabern, die inzwischen das Westgotenreich vernichtet hatten, Einhalt geboten zu haben. Karl Martell gab das Frankenreich wie ein Erbreich seinen Söhnen Karlmann und Pippin. »Beide Söhne waren auf eine Weise erzogen worden, daß sie, aufgeschlossen für die neue Religiosität, sich den Gedanken der Angelsachsen zuneigten. Sie setzten damit fort, was ihr Großvater Pippin zaghaft begonnen hatte... Als der Hausmeier Pippin nach dem Verzicht seines Bruders Karlmann der mächtigste Mann im Reich geworden war, suchte er seine Stellung zu legitimieren.« Mit ausdrücklicher Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Zustimmung des Papstes Zacharias, der ihn zum Freund und zum Beschützer gegen die Langobarden gewinnen wollte, ließ sich Pippin der Jüngere in Soissons von den Franken zum König wählen und – vielleicht von Bonifatius selbst – salben. »Repräsentant der neuen lebendigen Religiosität, wird Pippin wie die Angelsachsen überzeugt gewesen sein, in seinen Handlungen unter der Wirkung des Heiligen Geistes zu stehen.« (A. Nitschke) ¤ 8 Der Evangelist Matthäus. Miniatur im Evangeliar des irischen Mönches Cadmug, einem Codex aus der Privatbibliothek des angelsächsischen Missionars Bonifatius, Anfang 8. Jahrhundert. Fulda, Landesbibliothek, Leihgabe aus dem Domschatz ¤ 9 Das fränkische Volksrecht. Der Prolog zur »Lex Salica« in der Handschrift des Vandalgarius, eines Kanonikers der Kirche St. Paul in Besançon, 793. St. Gallen, Stiftsbibliothek
Neue Formen religiösen Lebens hatten sich, abseits am Rande Europas, bei den Iren herausgebildet. »Die iroschottischen Geistlichen und Mönche waren zwar stolz darauf, Rom, den dort begrabenen heiligen Petrus und seinen Nachfolger innig zu verehren, aber in wichtigen Einzelheiten wichen sie von den römischen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Sitten ab.« (A. Nitschke) »Sie waren struppige Berserker des Christenglaubens, die sich selber aus der heimischen Sippe und ihrer krausen Sagenwelt hinaustrieben, nicht nur ins Kloster, sondern in die Fremde; dort setzten sie sich allen Unbilden aus, um Buße zu tun, bald auch, um die Umwelt zu bekehren. Sie taten es mit dem Ungestüm Columbans; wütend zerbrach er fränkischen Königen kostbares Tafelgeschirr, weil sie nicht christlich lebten. Die Iren besaßen Bildung, aber seltsam versponnen wie das Rankenwerk ihrer Handschriften, mit exotischen, orientalischen Arabesken geschmückt, sammelnd, abschreibend und vergleichend, mit antiken und patristischen, lateinischen und keltischen Überlieferungen experimentierend, jedoch ohne römische Nüchternheit, eher ekstatischem Überschwang zugetan, Überschwang beherrschte auch das religiöse Leben dieser Mönche, die, unersättlich in ihren Bußübungen, die Ohrenbeichte übten – die Mönche zweimal, die Nonnen dreimal täglich. Zehn Geißelhiebe für jeden, der in Golumbans Kloster beim Chorgebet falsch sang; und doch drängten sich die Adligen zu den irischen Klöstern, die zwischen England und Oberitalien entstanden... Zum erstenmal seit der Völkerwanderung schloß die Wanderung der irischen Mönche den Kontinent Europa zu einer geistlichen Einheit zusammen.« (A. Borst) Mit anderen Mitteln versuchten die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Angelsachsen besonders ihre Stammesbrüder auf dem Festland zu missionieren. Sehr bekannt wurde Winfrid (Bonifatius), der vom Papst und von Karl Martell geförderte Organisator der Reichskirche. Eine Generation später wurden gelehrte Angelsachsen im Reich tätig, Männer wie Alkuin. ¤ 10 San Salvatore in Brescia. Blick in die von Desiderius, dem letzten König der Langobarden, gestiftete Säulenbasilika, drittes Viertel 8. Jahrhundert ¤ 11 Der northumbrische Mönch Alkuin, Lehrer und Freund Karls des Großen und Organisator des karolingischen Bildungswesens. Medaillonbildnis des Abtes von St. Martin in Tours in einer in dem Nachbarkloster Marmoutier entstandenen Abschrift der von Alkuin korrigierten Bibel, 834-843. Bamberg, Staatliche Bibliothek ¤ 12 Karl der Große. Silbermünze, sog. Reichsdenar, 804. Berlin, Staatliche Museen, Münzkabinett
»Auf Pippins Veranlassung war das Reich zwischen seinen beiden Söhnen, Karl und Karlmann, geteilt worden. Das Verhältnis zwischen den Brüdern war jedoch nicht gut. Karl suchte aufs neue die Freundschaft der Langobarden: er heiratete eine Tochter des Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Langobardenkönigs Desiderius. Die Langobarden ihrerseits übten wieder einen Druck auf Rom aus, und Karlmann ergriff die Partei des Papstes. Als er aber 771 starb, änderte Karl seine Politik, verstieß die langobardische Frau und übernahm die Herrschaft auch in Karlmanns Gebieten; das ganze väterliche Reich war wieder vereinigt. Da Desiderius vor dem Papst – seit 772 Hadrian I. – die Rechte von Karlmanns Kindern vertrat, wurde Karl dazu gedrängt, mit dem Papst zusammen gegen die Langobarden vorzugehen. Er ließ sich zum König der Langobarden wählen. Im Jahr 774, noch während der Belagerung Pavias, war Karl schon einmal in Rom gewesen; endgültig regelte er seine Beziehungen zum Papst aber erst 781. Die dem Papst unterstellten Gebiete wurden genau festgelegt. Der Papst seinerseits salbte Pippin, Karls unmündigen Sohn, zum König, den Karl im italienischen Gebiet als Unterkönig einsetzte. Im Umgang mit dem Papst wurde es immer mehr üblich, daß er Karl die Rechte zukommen ließ, die er in früheren Zeiten dem byzantinischen Kaiser zugestanden hatte. Diese Entwicklung wurde wohl von Hadrian I., der ebenfalls mit Karl einen Freundschaftsbund geschlossen hatte, systematisch gefördert. Sein Nachfolger, Papst Leo III., tat dann nur den letzten Schritt, als er Weihnachten 800 in der Peterskirche Karl als Kaiser huldigen ließ.« (A. Nitschke) Das in den fränkischen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Staatsverband eingegliederte Bayern wurde durch einen Sieg über die Awaren nach Südosten gesichert. Bei der Unterwerfung und Mission der Sachsen wandte Karl der Große Methoden an, die schon die Zeitgenossen ablehnten. Dennoch bleibt es sein Verdienst, die Verschmelzung dieses Stammes mit den anderen Germanenstämmen zum deutschen Volk begonnen zu haben. ¤ 13 Karolingische Pfeilerbasilika in Steinbach bei Michelstadt/Odenwald. Blick in das Schiff der von Einhard, dem Biographen Karls des Großen, und Berater Ludwigs des Frommen, im Jahr 815 für die Märtyrer Marcellinus und Petrus begonnenen Gedächtniskirche ¤ 14 Die Kaiserloge im 873 erbauten Westwerk der Benediktinerabtei Corvey an der Weser. Ein 822 von Wala, einem Vetter Karls des Großen, fränkischen Staatsmann und Mönch in Corbie, gegründetes Zentrum für Mission und Bildung im Sachsenland. Blick auf die wiederhergestellte Bauform ¤ 15 Hrabanus Maurus, Abt von Fulda, beim Überreichen seines Bildgedichtes »Lob des Heiligen Kreuzes« an Papst Gregor IV. Miniatur in dem in Fulda entstandenen Werk von Hrabanus, um 840. Città del Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Vaticano, Bibliotheca Vaticana ¤ 16 König Karl der Kahle von Westfranken mit seinem Palastgefolge bei der Entgegennahme der Heiligen Schrift aus den Händen des Grafen Vivianus, des Laienabtes von Marmoutier. Dedikationsminiatur in der vermutlich in diesem Nachbarkloster von St. Martin in Tours geschriebenen Bibel, um 850. Paris, Bibliothèque Nationale
Nach dem Tod Karls des Großen trug sein letzter Sohn, Ludwig, »den die Deutschen später den Frommen nannten«, die kaiserliche Krone. »Das Leben am Hof wurde sittenstreng.« Der immer zweifelnde Herrscher umgab sich mit Männern, die »Gott, nicht einem Heiligen, dienen wollten« und die für ihre Idee heftig eintraten. Um die schöne und kluge junge Kaiserin Judith aus dem Geschlecht der Welfen scharten sich die beweglichen Geister; auch der gelehrte Abt von Fulda, Hrabanus Maurus, der das Unterrichtswesen stark förderte, huldigte ihr voller Bewunderung. »Kaum war Ludwig der Fromme tot, kehrte sein ältester Sohn, Lothar, aus Italien zurück. Er versuchte, im Sinne der Reichsordnung von 817, Kaiser des ganzen Reiches zu werden.« Seine Brüder vereitelten dieses Vorhaben, und es kam 843 zu dem Vertrag von Verdun. Durch ihn wurde das Reich in drei Teile Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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gegliedert, nur ideell und nominell blieb die Einheit gewahrt. »Lothar wählte den mittleren Teil, den Streifen, der sich von der Nordsee bis ans Mittelmeer zog, Aachen und Rom umfaßte, im Osten vom Rhein, im Westen von Scheide, Maas und Rhône begrenzt war. Ludwig der Deutsche erhielt den östlichen Teil und links des Rheins die Diözesen Mainz, Worms und Speyer. Karl II., der Kahle genannt, nahm den Westen. Die Sprachgrenzen wurden bei dieser Teilung nicht berücksichtigt. Nach dem Tod Lothars, im Jahr 855, zerfiel das Mittelreich in zwei Teile, im Norden bildete sich ein Reich unter Lothar II., der ihm den Namen gab, im Süden eins unter Ludwig II., der die Kaiserwürde übernahm. Auch die Söhne Ludwigs des Deutschen hatten eigene Herrschaften: Bayern, Schwaben und Sachsen. Einem dieser Söhne, Karl dem Dicken, fiel später noch einmal, als alle seine Verwandten gestorben waren, mit dem Kaisertitel das ganze Reich Karls des Großen zu, aber es war keine ruhmvolle Zeit. Die Normannen standen vor Paris, die Sarazenen plünderten Italien und Südfrankreich.« (A. Nitschke) ¤ 17 Beichte. Miniatur in einem Sakramentar der Fuldaer Schule, um 975. Göttingen, Universitätsbibliothek
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»Ludwig der Fromme wollte mit seinem Helfer Benedikt von Aniane die alte stille Ordnung der Klöster wiedererrichten, ja, die Weltgeistlichen auf das mönchische Ideal verpflichten, schließlich selber Kaiser und Mönch zugleich sein. Aber auch diese Reform konnte sich vor der Welt nur bewahren, indem sie an die Stelle der politisch-kulturellen Verflechtungen die theokratische Zentralisation der Klöster setzte; Benedikt von Aniane brach die Autonomie der Einzelklöster und schuf als Generalabt eigentlich erst den Benediktinerorden, dem er die ritualistische Askese als Aufgabe zuwies. Ähnlich vollzog der Erzieher und Seelsorger Hrabanus Maurus die Rückkehr zu der altbenediktinischen Ordnung, durch schlichten Dienst an der Wahrheit der Bücher, durch einheitliche geistliche Bildung in der vergänglichen, gefährdeten Zeit, und kam doch von der karolingischen Weltnähe seines Lehrers Alkuin zeitlebens nicht los.« (A. Borst) Karl der Große hatte mit der relativ bescheidenen Formulierung seines Kaisertitels »Romanum gubernans Imperium« Rücksicht auf die Macht einer Tradition genommen, auf den alleinigen Träger der altrömischen Überlieferung: das neue Rom am Bosporus. Es handelte sich damals um zwei gleichrangige Imperien, so daß alle diplomatischen Beschönigungsversuche von vornherein zu zweifelhaftem Erfolg verurteilt waren. Das Verhältnis zwischen den beiden Mächten Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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war dann auch von einem wechselvollen Schicksal beherrscht; die jeweilige Stimmung war am besten in Rom zu spüren, wo man sich zwangsläufig immer wieder traf. Nördlich der Alpen konnte man sich der Kultur Roms und Konstantinopels nicht verschließen. Kosmas Indikopleustes, der Indienfahrer, wollte mit dieser Schrift die für seine Begriffe falsche und heidnische Lehre von der sphärischen Gestalt der Welt widerlegen und statt dessen eine Darstellung der Erde nach der Heiligen Schrift geben. Abgesehen von diesem Versuch ist das Werk eine wertvolle Quelle für die Naturwissenschaften jener Zeit. ¤ 18 Krankenölung. Miniatur in einem Sakramentar der Fuldaer Schule, um 975. Göttingen, Universitätsbibliothek ¤ 19 Der thronende David mit seinem Sohn Salomon inmitten von Sängerchören und Tänzerinnen unter dem Schutz Samuels. Miniatur in einer aus dem 9. Jahrhundert stammenden byzantinischen Handschrift der dreihundert Jahre älteren »Topographia christiana«, einer an der Bibel orientierten physikalischen Geographie des Kosmas, eines seefahrenden Kaufmanns und späteren Sinai-Mönches. Città del Vaticano, Biblioteca Vaticana
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¤ 20 Der deutsche König Heinrich I. Bildnis des Herrschers aus dem sächsischen Stamm. Münze auf einer Mantelspange, nach 919. Berlin, Staatliche Museen, Münzkabinett
»Anfang des zehnten Jahrhunderts schienen alle Kräfte zu erlahmen. In inneren Zwistigkeiten erschöpfte sich die Macht des fränkischen Adels. Normannen, Sarazenen und Ungarn verheerten in Plünderzügen, von denen kein Gebiet verschont blieb, jedes Jahr aufs neue das Land. Klöster und alte Bischofssitze wurden ausgeraubt; die Bildung schien zu erlöschen... Die Könige versagten überall: in Frankreich Karl der Einfältige, in Deutschland Ludwig das Kind, in Italien Ludwig von der Provence... Dauerhaften Schutz vermochten diese Herren niemandem zu geben.« Das Ostreich ordnete sich neu in seinen Stämmen. »Bei der Teilung von 806 galten noch die alten, im Merowingerreich üblichen Bezeichnungen Austrien und Neustrien. Der Osten allerdings wurde auch nach verschiedenen Stämmen geschieden, die in den folgenden Jahrzehnten an Bedeutung gewannen. Vor allem werden die Bezirke der Friesen, Sachsen, Thüringer, der ripuarischen Franken, der Hessen, Alemannen und Bayern genannt. Der lothringische Bereich gliederte sich – etwa 870 – nach Bistümern, Abteien und Grafschaften. Im Westen und Süden des Frankenreiches Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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bildeten sich neue Bezirke... In Sachsen herrschte das mächtige Geschlecht der Liudolfinger. Zu dieser Familie gehörte Brun, der 880 im Kampf gegen die Normannen fiel.« Seine Nachfolger sollten die Krone des Reiches tragen. »Im Jahr 911 starb Ludwig das Kind. Niemand in Ostfranken dachte daran, Karl den Einfältigen, den allein noch lebenden Nachkommen des karolingischen Geschlechts, zum König auszurufen. Als erste ergriffen die Adligen Sachsens und Frankens die Initiative; sie trafen sich in Forchheim. Dort soll die Krone Otto dem Erlauchten, dem Herzog von Sachsen, angeboten worden sein. Er aber lehnte ab. Dann einigte man sich, Konrad aus dem Geschlecht der Konradiner zum König zu wählen... Unter Konrad I. war das neu entstandene Reich noch schwach, doch seine Nachfolger, Heinrich I. und Otto der Große, machten es zur größten Macht in Europa. Otto erlangte sogar die Kaiserkrone.« (A. Nitschke) ¤ 21 Kaiser Otto I. mit dem Modell des Magdeburger Domes, vor dem thronenden Christus. Elfenbeinschnitzerei auf einer Tafel eines für Magdeburg bestimmten Antependiums. Reichenauer (?) Arbeit, um 970. New York, Metropolitan Museum of Art ¤ 22 Verteidigung einer von der Ungarn angegriffenen Stadt. Zeichnung im Buch der Makkabäer aus der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Schule von St. Gallen, um 924. Leiden, Bibliothek der Rijksuniversiteit »Während die Normannen den Westen und Norden verheerten und im Süden die Sarazenen von ihren Felsennestern aus plündernd das Land durchzogen, drohten im Osten neue Gefahren. Nachdem Anfang der achtziger Jahre ein mährischer Herrscher seine Macht errichtet und die Ostmark verwüstet hatte, fielen die Ungarn 800 in Italien ein. In den nächsten Jahren tauchten sie in der Ostmark auf, 906 zerstörten sie Siedlungen im sächsischen Raum, 907 schlugen sie den bayerischen Heerbann vernichtend; Liutpold, der Markgraf von Bayern, fiel in der Schlacht bei Preßburg. Im Ostfrankenreich regierte nach dem Tod Arnulfs von Kärnten dessen Sohn Ludwig, das Kind genannt. Er wurde 910 von den Ungarn bei Augsburg besiegt... Es ist kein Wunder, daß in diesen Notzeiten die Sehnsucht nach einem machtvollen Fürsten wuchs.« (A. Nitschke) Heinrich I. suchte für das gesamte Reich der Ungarngefahr zu begegnen. Er erkaufte einen Waffenstillstand, legte in dieser Zeit Burgen zur Verteidigung an und stellte ein gepanzertes Reiterheer auf, mit dem er 933 den Sieg bei Riade errang, zweiundzwanzig Jahre später mußte Otto I., der entschlossen die Politik seines Vaters fortgesetzt hatte, erneut gegen die Ungarn kämpfen. Nach seinem Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Erfolg in der Schlacht auf dem Lechfeld stellten die Ungarn ihre Züge nach dem Westen ein. Bereits die nächste Generation erlebte, daß Ungarn vom Westen her christianisiert wurde. Otto I. konnte den Kurs der Karolinger über die Alpen wieder einschlagen. Wie sein Vater verfolgte er aufmerksam die Vorgänge in Italien. Er hatte die Verbindung mit dem Papst gepflegt, bevor er selbst nach Italien zog. Eine dauernde Herrschaft konnte Otto durch seinen zweiten Zug über die Alpen begründen, durch den er Rom und das Kaisertum gewann. Von Rom her kamen Tendenzen eines neuen Geschichtsbewußtseins nach dem Norden. Es war in hohem Maße pragmatisches Denken, das Geschichte und Gegenwart zu verbinden und Lehren aus der Vergangenheit abzuleiten begann. Ein längst bekanntes, von den höfischen Rittern später geradezu zu einer Geisteshaltung erhobenes Thema, die Taten Alexanders des Großen, wurden jetzt zu Ermahnungen herangezogen. ¤ 23 Der legendäre Adlerflug Alexanders des Großen. Würzburger (?) Seidenstickerei aus dem Domschatz, 10. Jahrhundert. Würzburg, Mainfränkisches Museum ¤ 24 Kaiser Otto II.: Huldigung der Reichsteile. Miniatur in einem Bruchstück des »Registrum Gregorii« Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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aus der Schreibschule in Trier, um 983. Chantilly, Musée Condé ¤ 25 Die Bestätigung neuer Rechte für das Kapitel von Notre-Dame auf Grund bischöflicher Einwilligung durch König Lothar III. von Westfranken und Ludwig V., den Sohn und Mitregenten. Schluß der Pergamenturkunde, vor 986. Paris, Archives Nationales
Die Autorität Ottos II. wurde durch seine Herzöge ebenso auf die Probe gestellt wie die seines Vaters, als er den Thron bestiegen hatte. Aber nicht nur der Bayernherzog Heinrich der Zänker. Abraham von Freising und der Herzog von Kärnten widersetzten sich ihm, »sondern auch fremde Fürsten und Könige«; die Dänen, die in das Grenzgebiet eingefallen waren, und die Böhmen »versuchten die Kraft des neuen Herrschers. Im Osten unterstützte Otto II. die Missionsbistümer. In Prag wurde Thietmar Bischof; um die Ungarnmission stritten Friedrich von Salzburg und Pilgrim von Passau.« (A. Nitschke) Die Schutzherrschaft über das Westfrankenreich, die Otto I. errichtet hatte, konnte Otto II. nicht aufrechterhalten. Nach langen Wirren erstarkte das französische Königtum dann langsam unter den Kapetingern. Die Absonderung vom Ostreich, dem deutschen Reich, war endgültig. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Otto II. wurde durch die Angriffe der Araber und durch die Spannungen mit Byzanz zum Eingreifen in Italien gezwungen; hier mußte er eine große Niederlage hinnehmen. Er starb dann während der Vorbereitungen zu einem Rachefeldzug. Die Zukunft des Reiches lag in den Händen eines Kindes, Ottos III.; sie war ganz ungewiß. Es regierten Adelheid und Theophano, nach 985 Theophano allein. Viel verdankte ihr das Kloster Gandersheim. ¤ 26 Beichtgebet der missionierten Slowenen. Altslawischer Text in einer lateinischen Handschrift aus der Zeit des Freisinger Bischofs und Missionars Abraham, Ende 10. Jahrhundert. München, Bayerische Staatsbibliothek ¤ 27 Maria als Kanonisse der Hrotsvit-Zeit im Chorgestühl der Stiftskirche von Gandersheim/Niedersachsen. Elfenbeinschnitzerei auf einem Gandersheimer Reliquienbehälter, zweite Hälfte 10. Jahrhundert. Braunschweig, Herzog-Anton-Ulrich-Museum ¤ 28 Gesangsschola bei einer Bischofsmesse. Elfenbeinschnitzerei vom Deckel eines Reichenauer Antiphonars, letztes Drittel 10. Jahrhundert. Frankfurt a. M., Stadt- und Universitätsbibliothek
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¤ 29 Der thronende Kaiser Otto III. mit Szepter und Reichsapfel. Elfenbeinrelief auf einem achtseitigen rheinischen Weihwassergefäß, um 1000. Aachen, Domschatz
Die Verhältnisse im Reich stabilisierten sich erst im Jahr 995. »Otto III. wurde fünfzehn Jahre alt und forderte die Selbständigkeit. Der junge König klärte erst die Beziehung zu Heinrich dem Zänker, der eigens dafür nach Magdeburg kam; er starb aber kurz darauf. Dessen Sohn, ebenfalls ein Heinrich, wurde in Bayern zum Herzog gewählt und von Otto anerkannt; Kärnten schied damit endgültig aus dem bayerischen Verband aus. Die Weihnachtstage verbrachte der König in Köln. Bereits im Winter zog er über die Alpen. Ostern feierte er in Pavia. Dann folgte er« seinem Vetter Brun, den er zum Papst ernannt hatte, nach Rom und »ließ sich von ihm zum Kaiser krönen«. Seitdem betrieb er seine Politik von Italien aus. Er kämpfte für Brun, den jungen Papst Gregor V., gegen die byzantinische Opposition und unter dem Nachfolger auf dem Stuhl Petri, dem großen Mathematiker Silvester II., gegen den rebellierenden römischen Stadtadel. »Er richtete in der Ewigen Stadt seine Herrschaft auf« und kümmerte sich von hier aus um die Mission der Preußen, die mit polnischer Unterstützung erfolgte. Ottos weitere Pläne wurden durch Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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seinen zu frühen Tod zerstört. »Papst Silvester starb kurz nach dem jungen Kaiser, und von nun an wählten die Römer wieder den Papst aus ihren mächtigen Adelsgeschlechtern. In Deutschland stritten mehrere Herren um die Nachfolge Ottos III.« Des Zänkers Sohn, Heinrich II., trat sie an. »Er war bescheidener, in seiner Religiosität allerdings von ähnlicher Sicherheit... Mit den verschiedenen Mönchsorden hielt er enge Beziehungen.« (A. Nitschke) Unter Heinrich II. ging es um die Reform der Kirchen, unter Heinrich III. um die der Reichskirche. ¤ 30 Bestätigung des von Kaiser Heinrich II. mit Zustimmung der zu Pfingsten 1007 in Mainz anwesenden Bischöfe gegründeten Bistums Bamberg durch die Synode zu Frankfurt nach erfolgter Genehmigung auf der Synode in St. Peter unter Papst Johannes XVIII. Anfang der Pergamenturkunde vom 1. November 1007. München, Bayerisches Hauptstaatsarchiv
Auf diesem einzigen erhaltenen Origlnalprotokoll einer Reichssynode im elften Jahrhundert stimmen die fünfunddreißig Bischöfe der Gründung durch Einzeichnen des Kreuzes zu. Das Bistum Bamberg verdankt seine Gründung der ganz persönlichen Initiative des Kaisers.
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¤ 31 Herrschaftssegen für Heinrich II. Miniatur in einem in Regensburg (?) geschriebenen Sakramentar für den Kaiser aus der Bibliothek des Doms in Bamberg, 1002-1014. München, Bayerische Staatsbibliothek ¤ 32 Der deutsche König Heinrich III. und seine Frau Agnes von Poitou vor der thronenden Gottesmutter. Miniatur in einem Evangeliar der Echternacher Schule aus der Bibliothek des Doms in Speyer, 1043-1046. Escorial, Bibliotheca del Monasterio ¤ 33 Das sogenannte Astrolabium des Wilhelm von Hirsau, Seite eines steinernen astronomischen Lehrgeräts, um 1060. Regensburg, Museum ¤ 34 Das sogenannte Astrolabium des Wilhelm von Hirsau, Seite eines steinernen astronomischen Lehrgeräts, um 1060. Regensburg, Museum
Diese deutsche romanische Plastik aus der Zeit, als Wilhelm von Hirsau Prior im Kloster St. Emmeram war, zeigt auf der Vorderseite den jungen griechischen Astronomen Aratos, auf der Rückseite die Gradeinteilung der Scheibe, die Horizontlinie, durch deren Mitte die Polachse läuft, und senkrecht zu dieser die zwei Polarkreise mit den Wendekreisen. Die Säule war so Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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aufgestellt, daß der Jüngling nach Süden blickte und man nachts die Lage des Nordpols und der Hauptkreise des Himmels ermitteln konnte. ¤ 35 Die Kirche S. Elia, eine dreischiffige Säulenbasilika aus dem 11. Jahrhundert in dem zwischen Klippen gelegenen gleichnamigen Kastell bei Nepi in der Provinz Viterbo
Sant'Elia ist ein Denkmal schlichten Geistes ländlicher Mönchsgemeinschaften, entstanden in einem Jahrhundert, in dem aus der rein religiösen Reform der Cluniazenser die Forderung nach einer Erneuerung der Gesamtkirche erwachsen war, d. h., die Kampfansage gegen die nicht mehr seltene Priesterehe und gegen die Übertragung geistlicher Würden und Ämter, wenn dafür gezahlt wurde. »Nicht die Flucht vor der Welt, sondern die Bekehrung der Welt, nicht Kontemplation, sondern Aktivität waren das Ziel.« (A. Borst) Die Zeitgenossen, die so dachten, erlebten den Investiturstreit, aber auch das Wirken der Männer, die der Scholastik den Weg bereitet haben. Und sie mußten zusehen, wie neue Stände sich herausbildeten und neue Völker sich gruppierten, wie besonders ein Volk Land und Macht gewann: die Normannen. »Als in Europa noch die Karolinger herrschten, waren die Normannen aus Dänemark und Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Südschweden gekommen. Seit Mitte des neunten Jahrhunderts tauchten sie fast Jahr für Jahr in Frankreich auf, fuhren auf den Flüssen weit ins Land hinein, überfielen und plünderten Städte und Klöster, verschleppten Frauen und Kinder in die Sklaverei. Normannen fuhren mit ihren Schiffen durch die Straße von Gibraltar ins Mittelmeer und erschienen in Italien. Über die Ostsee kommend, fielen sie in russisches Gebiet ein; ein Normanne war Rurik, der dort ein Fürstentum gründete, dessen Namen die ›Russen‹ übernahmen. In Polen haben Normannen gesiedelt, im Süden dienten sie dem byzantinischen Kaiser... Die normannischen Herren suchten nicht den Ruhm des Stammes, sondern strebten danach, ihre Stellung in jeder Weise zu stärken und zu erhöhen. Sie bemühten sich um Steuern und schufen eine zentrale, auf den Herrscher hingeordnete Verwaltung. In diesem Sinne regierten die Herzöge die Normandie, seit 1066 Könige in England. Demselben Ziel strebten in Süditalien die begabten Söhne Tancreds von Hauteville nach, von denen einer nach dem anderen nach Süditalien kam.« (A. Nitschke) ¤ 36 König Wilhelm I. von England. Aus dem im Auftrag des Bischofs Odo von Bayeux mehrfarbig gestickten Wollteppich, einem »Bildprotokoll« der normannischen Invasion in England, Ende 11. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Jahrhundert. Bayeux, Kathedrale ¤ 37 Wrack eines normannischen Seeschiffes aus Kiefernholz am Fundort bei Skuldelev im RoskildeFjord. Das größte der vor dem Jahr 1000 gebauten, zur Zeit Harald Blauzahns versenkten und 1962 von den Dänen ausgegrabenen fünf Handelsfahrzeuge ¤ 38 Christlicher Ritter. Relief von den Chorschranken (?) der Mauritius-Kirche in Münster, um 1070. Münster/Westf., Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte ¤ 39 Bischofsthron »mit den die Last tragenden Sarazenen als Gefangenen des nur leicht stützenden Siegers« in der Kirche S. Nicola in Bari/Apulien, zweite Hälfte 11. Jahrhundert
»In allen Ländern des Westens bildete die weltliche Aristokratie zusammen mit der hohen Geistlichkeit und den Mitgliedern einiger mönchischer Gemeinschaften und Kapitel die obere Schicht der Gesellschaft... Der Erbadel, oft eine Anzahl von Geschlechtern freier Ritter, unterschied sich vom Adel im engeren Sinne, und als drittes gab es im Deutschland jener Zeit noch eine Ritterschicht, deren Mitglieder keine vollständige Freiheit genossen, die ›Ministerialen‹. Im Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Laufe des dreizehnten Jahrhunderts nahm dann der Adel auch die freie Ritterschaft und die Ministerialen in sich auf. Trotz dieser juristischen Unterschiede konnte aber die weltliche Aristokratie des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts in weiten Teilen Westeuropas als eine einzige soziale Schicht gelten... Im elften Jahrhundert stellte sie die Streitkräfte für die normannische Eroberung Süditaliens, Siziliens und Englands, für die spanische ›Reconquista‹ und besonders für den Ersten Kreuzzug. Normannen aus Frankreich und England zogen noch in der ersten Hälfte des zwölften Jahrhunderts, wenn auch weniger zahlreich, nach Süditalien und Sizilien. Französische Ritter kämpften in Spanien gegen die Mauren und setzten sich dort fest, namentlich bis gegen 1130. Die Kreuzzüge führten im zwölften Jahrhundert zahlreiche Ritter nach dem Orient; viele ließen sich in Syrien oder Palästina nieder. Diese Umsiedlungen wurden dann allmählich seltener und verloren schließlich den Charakter von Massenbewegungen. Eine der Ursachen dafür ist wahrscheinlich« der durch Kämpfe erworbene Grundbesitz. (F. L. Ganshof) Ein paar Jahre vor der Eroberung Englands durch Willhelm I., der Sohn Herzog Roberts I. von der Normandie, begann der jüngste der Söhne Tancreds von Hauteville, Roger, von Süditalien aus die Insel Sizilien in Besitz zu nehmen. »Als ›Heidenkrieg‹ war der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Kampf religiös begründet. Roger I. ging es aber nicht, wie Leo IX., darum, die Christenheit zu befreien, sondern er hielt – so erzählt wenigstens Gaufried Malaterra – die Heiden für Rebellen gegen Gott; sie erkannten voll Undankbarkeit in Gott nicht ihren Schöpfer. Die Heiden waren also im Unrecht und die Normannen ›Rächer des Unrechts‹, so hatten sie schon in früheren Jahrhunderten das Recht verstanden. Auf Sizilien aber umkleideten sie den Kampf mit religiösen Formen. Vor der Schlacht bekannten sie ihre Sünden und empfingen von Priestern die Absolution. Auch um Unterstützung des Papstes sorgte sich Roger, er sandte Alexander vier den Sarazenen abgenommene Kamele, und der Papst überließ ihm eine geweihte Petersfahne. Während Roger auf Sizilien kämpfte, nahm Robert Guiscard 1071 die letzte große griechische Festung auf dem Festland: Bari. Dann half er seinem Bruder auf der Insel. Wohl noch im selben Jahr gelang es den Normannen, Palermo zu erobern.« (A. Nitschke) Damit war die Herrschaft der Byzantiner in Unteritalien, aber auch die der Araber auf Sizilien vernichtet. Roger II. vereinigte die Insel mit Kalabrien und Apulien. Als dann Heinrich VI. die Tochter Rogers II. heiratete, fiel ihm das mächtig gewordene Normannenreich als Erbe zu. »Das Königreich Sizilien war ein Land mit vielfältiger Mischbevölkerung, die Normannen bildeten nur eine Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Minderheit, eine Aristokratie von Kriegern. In Sizilien war die Bevölkerung teilweise hellenisiert, enthielt aber auch arabische Elemente. In Apulien und Kalabrien lebte die zum Teil ebenfalls hellenisierte Bevölkerung noch nach byzantinischen Traditionen: der Norden bewahrte lombardische Überlieferungen; in den Häfen mischten sich Lateinisches und Byzantinisches in Lebensart und Sitte. Im allgemeinen zeigten sich die Herrscher verständnisvoll: die Verwaltung und namentlich die Kanzlei der Könige benutzten Latein ebenso wie Griechisch und Arabisch; die lateinischen Kirchen standen neben den Kirchen und Klöstern des griechischen Ritus; in Sizilien begegnete man sogar den Moscheen. Auch die Kunst spiegelt das bunte Völkergemisch, wenngleich die byzantinische Kunst mit der ganzen Pracht des Zeitalters der Komnenen bei weitem überwiegt.« (F. L. Ganshof) ¤ 40 Der Krönungsmantel Rogers II. von Sizilien und der nachfolgenden staufischen Kaiser. Ein von sarazenischen Künstlern in Palermo für Roger II. gearbeitetes Prunkgewand, 1133/34. Wien, Schatzkammer ¤ 41 Die letzte Stunde des Ritters Roland nach dem Kampf gegen die Sarazenen. Miniatur in dem vom Pfaffen Konrad verfaßten deutschen Rolandslied, um Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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1170. Tübingen, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Staatsbibliothek ¤ 42 Jerusalem, die »Stammburg« Christi. Federzeichnung der Prüfeninger Malschule in einer 1158 entstandenen Abschrift des Glossarium Salomonis. München, Bayerische Staatsbibliothek
»Otto III. hatte sich durch apostelgleiche Mission und als Diener der römischen Apostel hervorgetan, Heinrich II. durch großzügige Schenkungen an die Kirchen. Heinrich III. zeichnete sich durch Bußgesinnung und Friedensbereitschaft aus«, und zu Lebzeiten seines Nachfolgers, Heinrichs IV., kam »niemand auf den Gedanken, den neuen Kaiser für einen Vertreter des Staates im Kampf gegen die Kirche zu halten; denn Heinrich selbst verstand sich von Gott her und seine Herrschaft wie die des Papstes als gottunmittelbar«. Auch Heinrich V. wollte – auf seine Weise – christlicher Herrscher in dieser Tradition sein; »die neuen Herrschaftsformen, auf die er nach dem Vorbild seines Vaters hinstrebte, ließen sich damals nur erahnen.« (A. Nitschke) Mindestens seit Heinrich II. wollten auch die Laien »des Christenglaubens und des himmlischen Jerusalem durch die fromme Tat habhaft werden... Mit Papst Gregor VII., der diese Bewegung schon zuvor unterstützt hatte, eroberte sie 1073 die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Leitung der Kirche selbst; sie war der Impuls dessen, was man allzu eng den Investiturstreit nennt. Denn die Investitur geistlicher Würdenträger, ihre Einsetzung durch weltliche Herrscher und nach politischen Richtlinien, war nur ein Teil der feudalen, archaischen Weltverflechtung. Zu ihrer Überwindung gehörte vieles andere auch: die Forderung nach Freiheit und Reinheit der Kirche, die Unterscheidung der Geister, die Besinnung auf das autonome Kirchenrecht, die Absage an das Priesterkönigtum der Ottonen und Byzantiner, vor allem aber die Forderung, der Priester der christlichen Kirche dürfe sich nicht auf Weihe und Amt allein berufen, sondern müsse sich durch persönliches Verdienst und tätige Leistung bewähren; für die Laien sollte er Vorbild sein, nicht Machthaber. Gregor VII. wandte seine ganze Kraft an diese Ziele, an die Durchsetzung des Priesterzölibats und des Zusammenlebens der Weltkleriker, an die Reinigung des Episkopats, an die Förderung eines christlichen Rittertums, an die Vorbereitung eines Kreuzzugs der Getreuen Petri gegen die Ungläubigen. Gregor VII. sorgte für alle, doch gleichzeitig erneuerte er die Scheidung zwischen allen, zwischen Geistlichen und Laien, auch die Stufung zwischen Eremiten, Mönchen und Regularklerikern. Die kirchliche Freiheit sollte zu päpstlicher Ordnung werden, damit die ganze Welt von Christus ergriffen werde; aber die Gregorianische Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Reform trägt zwar mit Recht den Namen des Papstes, der sie, nach seiner Weise einseitig, in der Kirche durchsetzte, sie war jedoch älter und reichte weiter, als dem Papst lieb sein konnte; sie war keine Revolution von oben. Und wenn sie dazu gemacht wurde, war damit nicht aufs neue wie in Cluny, wenn auch mit anderen, weiteren Zielen, eine Theokratie errichtet, die gerade die von der Reform geforderte Freiheit der Kirche bedrohte? War das nicht eine neue Politisierung des Geistlichen? In der Tat mußten die Päpste nach 1085 ihren Frieden mit den bestehenden Mächten der Erde schließen, zögernd und widerwillig immerhin, aber am Ende, im Wormser Konkordat, stand 1122 nicht der Sieg der Reform, sondern die Krise des Reformpapsttums. Noch war es 1095 dem Papst Urban II. gelungen, die gestauten Kräfte der Laien in eine neue Richtung zu lenken. Der schon von Gregor VII. erwogene Kreuzzug ins Heilige Land fand begeisterten Widerhall, besonders bei den Adligen Frankreichs, die, vom kirchlichen Gottesfrieden halb gezähmt, vom Königtum noch nicht gebändigt, um so mehr auf den ritterlichen Heiligen Krieg brannten, damit es nicht mit Verneinung und Enthaltung sein Bewenden habe. Aber das große Ziel der kriegerischen Wallfahrt, das, wie es schien, Gott selber wollte, war nach wirren Anfängen 1099 mit der Eroberung von Christi ›Stammburg‹ Jerusalem erreicht. Was Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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nach Blutrausch und Bußprozession zu tun blieb, das sah man am Johanniter-Orden, der nun in Jerusalem ein älteres, von italienischen Kaufleuten gegründetes Hospital übernahm und im benediktinischen Geist dort Pilger betreute und Kranke pflegte... Bei den Besten schlug die Gregorianische Reform, die die Welt zum Geistlichen hatte bekehren wollen, um in die Flucht der Geistlichen vor dieser Welt.« (A. Borst) ¤ 43 Reste der Kreuzritterburg in Byblos. Blick am Bergfried vorbei auf Kellerräume und Zisternen des aus den Steinen antiker Ruinen gebauten christlichen Bollwerks, vor 1127 ¤ 44 Die Ruine der Burg von Gisors in der Normandie. Blick auf den Wehrturm der nach den Plänen der Templer unter König Heinrich II. aus dem englischen Herrscherhaus Platagenet 1184 vollendeten Anlage ¤ 45 Triumph der Tugenden über die Laster. Kapitellplastik im Chor der Kirche Notre-Dame-du-Port in Clermont-Ferrand, erste Hälfte 12. Jahrhundert
»Die Streiter Gottes schützen die Kirche und ihre Güter, hielten ihre Hände über die Schwachen, Witwen und Waisen, bekämpften die Ungläubigen« und alle Laster »und errichteten selbstlos Gottes Ordnung Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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auf Erden. Bernhard von Clairvaux, Johann von Salisbury und andere predigten dieses Ideal, das dem höfischen Treiben, den adligen Würfelspielen und Jagdvergnügen steuern sollte.« Zu dem »karitativen Verband der Johanniter, der erst um 1155 Ordenscharakter annahm«, kam eine »neue Gemeinschaft, die nicht dem eigenen Willen folgen wollte und deshalb dem Patriarchen von Jerusalem die Mönchsgelübde der Armut, der Keuschheit und des Gehorsams ablegte. Nach ihrem Hauptstützpunkt in Jerusalem, beim Tempel Salomons, nannte man diese ›armen Ritter Christi‹ auch ›Templer‹... Doch verkörperten auch die Ritterorden die christlichen Ideen nicht rein, schon nicht in ihrem Grundgedanken, daß um Gottes Willen das Töten geboten sei, erst recht nicht in ihrer historischen Entfaltung. Auch der Orden der Templer entsagte durchaus nicht dem Willen zu Macht und Besitz; später ließ er sich von der internationalen Geldwirtschaft faszinieren und sammelte ein eigenes Territorium.« (A. Borst) ¤ 46 Markgräfin Mathilde von Tuszien, eine Gegnerin des Kaisers im Investiturstreit, bei der Entgegennahme ihrer Biographie aus den Händen des Verfassers Donizo. Miniatur in der »Vita Mathildis«, um 1114. Città del Vaticano, Biblioteca Vaticana
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Für die um die Investitur streitenden beiden Parteien war es von großem Interesse, Oberitalien zu besitzen. Hier lag das größte Herrschaftsgebiet in der Hand der Markgräfin Mathilde. Nach anfänglich vermittelnder Haltung – so 1077 auf ihrer Burg Canossa – schlug sie sich ganz auf die Seite des Papstes, von dem sie ihren Eigenbesitz zu Lehen nahm. Über ein Jahrhundert ging dann zwischen Kaisern und Päpsten der Streit um die Mathildeschen Güter. Um die wichtigen Gebiete zu retten, nahm es Lothar III. sogar auf sich, sie vom Papst als Lehen zu empfangen. Später jedoch fielen sie an die Kurie. ¤ 47 Figuren eines Schachspiels. Aus den Grabungen (des Amtes für Denkmalpflege Tübingen, unter Leitung von Dr. Wein) in der um 1050 bis um 1150 bewohnten Burg bei Gammertingen/Württ. ¤ 48 Die Ruine der Kaiserpfalz Gelnhausen. Blick auf Torhalle und Palas einer vor 1180 begonnenen Wohnstätte Kaiser Friedrichs I. ¤ 49 Der Kreuzgang längs der Südflanke von S. Maria la Nuova in Monreale, des von König Wilhelm II. von Sizilien als Grabeskirche 1174 begonnenen Domes auf einer Anhöhe südlich von Palermo, vor 1200 Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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»Friedrich I., dem die Italiener den Beinamen Barbarossa gaben, war ohne Schwierigkeiten gewählt, gekrönt und gesalbt worden. In Deutschland aber fand er die königliche Macht geschwächt vor. Nicht nur war im Investiturstreit ein gut Teil der Macht über die Reichskirche verlorengegangen, sondern auch die Herzöge, Markgrafen und Grafen strebten, ohne ganz den Charakter von Hoheitsträgern des Königs zu verlieren, mehr und mehr nach größerer Autonomie. Blutige Unruhen entstanden aus der Rivalität zwischen dem Welfenhaus, das das Herzogtum Sachsen besaß und dem auch Lothar III. angehört hatte, und dem Haus Babenberg mit der Markgrafschaft Österreich, dem Konrad III. das Herzogtum Bayern gegeben hatte... Die ersten Jahre widmete Friedrich I. vor allem Deutschland. Er machte zunächst dem Streit zwischen den Welfen und den Babenbergern – vorübergehend – ein Ende, indem er dem Haupt des Welfenhauses, seinem Vetter Heinrich dem Löwen, zu seinem Herzogtum Sachsen noch das Herzogtum Bayern verlieh und zugunsten Jasomirgotts aus dem Hause Babenberg Österreich zum Herzogtum erhob und es mit besonderen Vorrechten ausstattete. Er nutzte konsequent die ihm im Wormser Konkordat verbliebenen Prärogativen. So gelang es ihm, mehrere Bistümer an ihm ergebene Bischöfe zu verleihen und in weitem Maße seine Autorität über die Reichskirche Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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wiederherzustellen. Andererseits suchte er in Süddeutschland eine Art ›Krongut‹ zu bilden, indem er Grafschaften und Lehnsherrschaften zusammenschloß. Der Reichsgedanke nahm im Denken Friedrich Barbarossas eine zentrale Stellung ein. Auf Grund von Wahl, Krönung und Salbung zum ›römischen‹ (also deutschen) König glaubte er, ein Anrecht auf die kaiserliche Würde mit allen Attributen zu haben. Von dieser Würde hatte er eine besonders hohe Vorstellung. Dem Kaiser komme absolute und universale Macht zu. Er beanspruchte zwar keineswegs die wirkliehe Macht über die anderen Könige, sondern forderte eine Vorrangstellung, eine auctoritas. Der englische König Heinrich II. erkannte diese auctoritas im Jahr 1157, wenn auch nur für kurze Zeit, an, während dies der König von Frankreich stets verweigerte.« (F. L. Ganshof) ¤ 50 Ein arabischer Arzt und ein arabischer Astrologe am Krankenbett Wilhelms II. von Sizilien und die trauernde Bevölkerung von Palermo nach dem Tod des Königs im November 1189. Miniatur in der Hangschrift des Petrus de Ebulo, 1197. Bern, Burgerbibliothek ¤ 51 Kaiser Friedrich I. Babarossa an der Spitze des gesamtabendländischen Dritten Kreuzzuges; sein Tod Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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im Kalykadnos in Kleinasien am 10. Juni 1190; der Sohn Barbarossas, Kaiser Heinrich VI., bei seinem Einzug in das eroberte Königreich Sizilien im Dezember 1194. Miniatur in der Handschrift des Petrus de Ebulo, 1197. Bern, Burgerbibliothek »Das Papsttum, einst der erbitterte Feind der letzten salischen Kaiser, halte im allgemeinen gute Beziehungen zu Lothar III. und Konrad III. unterhalten. Seine eigene Macht war gewachsen, und seine Justiz hatte gegen 1140 eine wirksame Grundlage erhalten. In Rom selbst aber verlor der Papst an Boden.« Durch das Zutun Barbarossas verschlechterte sich das Verhältnis zur Kurie; es begann damit sogar eine Periode heftigster Kämpfe, die Italien siebzehn Jahre lang erschütterten und Ungarn. Aragon, Kastilien, den lateinischen Orient, Norwegen, Frankreich und England wenigstens beunruhigten. »Der einzige unbestreitbar positive Aspekt der politischen Geschichte Deutschlands unter Friedrichs Herrschaft war die Ausdehnung nach dem Osten: aber ihr stand Barbarossa völlig fremd gegenüber. Sie war das Werk zweier Männer: vor allem Heinrichs des Löwen, der mit seinen Eroberungen nordöstlich der Elbe bis zur Oder und mit seinen Städtegründungen, unter anderen Lübecks, die Tätigkeit Kaiser Lothars fortsetzte, und Albrechts des Bären, seit 1150 Herr des Havelgebiets, der späteren Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Mark Brandenburg. Diese Eroberungen bildeten den Rahmen einer deutschen Siedelbewegung und der Mission der deutschen Kirche. Die Beziehungen des Reiches zu Sizilien nahmen in den letzten Regierungsjahren Friedrichs eine neue Wendung. Im Jahr 1186 vermählte sich Heinrich VI. mit Konstanze von Sizilien, der Tochter Rogers II. und Tante König Wilhelms II. Da dieser keine Kinder hatte, galt Konstanze als die Erbin des Königreiches. Das eröffnete ungeahnte Perspektiven. Friedrich Barbarossa starb ganz unerwartet 1190 auf dem Dritten Kreuzzug. Seiner Regierung hatte es nicht an Größe gefehlt; aber wie die seines byzantinischen Rivalen, Manuels I. Komnenos, endete sie mit einem Mißerfolg. Beide Kaiser hatten sich zu hohe Ziele gesteckt.« (F. L. Ganshof) ¤ 52 Die Verdammten. Relief am Westportal der Kathedrale St.-Trophime in Arles, Ende 12. Jahrhundert ¤ 53 Pilgerlied mit Neumen für die Wallfahrt zum Schrein des Apostels Jakobus in Compostela. Der Anfang einer Seite in der um 1172 entstandenen Abschrift eines Buches im »Liber Sancti Jacobi«, dem sogenannten Codex Calixtinus, Santiago de Compostela, Museo Diocesano
Im späten zwölften Jahrhundert wurden zwei geistige Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Haltungen deutlich: die eine, die allen das Verderben in der Knechtschaft des Teufels vorhielt, die andere, die die Erlösung durch apostelgleiches Tun – Glauben und christliches Wirken – erwartete. ¤ 54 König Ferdinand III. von Kastilien. Reiterbildnis des Herrschers auf dem Siegel einer Urkunde, 1230 (?). Madrid, Archivo Histórico Nacional ¤ 55 König Alfons der Keusche von Aragon und Katalonien bei der Entgegennahme eines Verzeichnisses aller Privilegien, Rechte und Besitztümer des Herrscherhauses. Dedikationsminiatur im »Libro grande de los Feudos« von Ramón de Caldes, dem Dekan der Kathedrale von Barcelona, 1162-1196. Barcelona, Archivo de la Corona de Aragón ¤ 56 Schwert und Sporen eines kastilischen Königs der Reconquista-Zeit, erste Hälfte 13. Jahrhundert. Madrid, Museo de la Real Armenía ¤ 57 Verbannung Tristans und Isoldes durch König Marke, Auffindung des schlafenden Paares in der Minnegrotte und die Schuldbewußten vor dem König. Miniatur in einer vermutlich in Straßburg vor 1250 entstandenen Handschrift des Versepos »Tristan und Isolde« von Gottfried von Straßburg mit der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Fortsetzung des Ulrich von Türheim. München, Bayerische Staatsbibliothek ¤ 58 Abschied des Heiden Rennewart von der geliebten Königstochter. Miniatur aus einer nach 1250 entstandenen Handschrift des unvollendeten »Willehalm« von Wolfram von Eschenbach. München, Bayerische Staatsbibliothek
Der Ausgang des Zweiten Kreuzzuges glich dem Ende eines traurigen Schauspiels. Und »eines blieb davon in weiten Teilen des Abendlandes zurück: ein glühender Haß gegen Byzanz. Trotz aller Erfahrungen begriff man weniger denn je, daß das Kaiserreich im Osten den einzigen Wall gegen den Islam bildete. Der Kampf gegen ihn wurde am anderen Ende der mediterranen Welt fortgesetzt: in Spanien. Erfolgreiche Phasen wechselten mit weniger glücklichen, in denen die Christen sich darauf beschränken mußten, so gut, wie es eben ging, zu verteidigen, was sie den ›Ungläubigen‹ entrissen hatten. Diese Reconquista beherrscht fast die ganze mittelalterliche Geschichte Spaniens... Seine Königreiche« – voran Aragon und Kastilien – »sahen sich in ihrem Kampf gegen den Islam bis gegen 1130 von einer französischen Ritterschaft unterstützt, die vom Kreuzzugsideal und von Abenteuerlust erfüllt war. Hinzu kamen französische Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Vasallen und Verbündete der Könige und die Johanniter und Templer, die sich in Spanien niedergelassen hatten. In der zweiten Hälfte des zwölften Jahrhunderts wurden spanische Ritterorden gegründet. Sie leisteten den Königen von Kastilien bei der Verteidigung ihrer bedrohten Stellung gute Dienste... Dank dem Bevölkerungsüberschuß konnten nach der Eroberung die verwüsteten Gebiete gleich wieder besiedelt werden... Im ausgehenden dreizehnten Jahrhundert erreichten Kastilien, Portugal und Aragon ungefähr die Grenzen, die sie bis zum Ende des Mittelalters halten sollten. Die Muslime waren in den äußersten Süden Spaniens zurückgedrängt worden, auf das von Kastilien landwärts umschlossene nasridische Königreich Granada.« (F. L. Ganshof) ¤ 59 Rüstungsschmiede. Miniatur in einer nach 1200 entstandenen Handschrift der »Eneit« von Heinrich von Veldeke. Tübingen, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Staatsbibliothek
»Die Ritterideale waren keine bloßen Gedankenexperimente: Der junge Knappe mußte sich an fremden Höfen jahrelang bewähren, im Krieg, auf der Jagd und in der höfischen Bedienung des Herrn und der Gäste. Dann empfing er das Schwert, das Lehen und die Frau. Die freie Zeit auf der Burg füllte er mit, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Jagd, Tanz und Spiel. Das Spiel war nicht nur Zeitvertreib, sondern fast ein zweites Leben über dem wirklichen, eingefriedet durch Regeln und Haltungen. Auch Mahlzeiten und Mode ordneten sich, zwischen Reiz und Reserve die Mitte haltend, den Spielregeln ein, Damen und Gäste wurden sittsam geehrt. Die Burg, Mittelpunkt adligen Lebens, war Festung und Festraum zugleich, der Ort für die Geselligkeit einer Elite. Stolz zeigte sich der Ritter im Glanz seiner Rüstung und der bunten Wappenfarben, er verschmähte die Tarnung und alle Fernwaffen. Auch der Krieg war ihm ein geregeltes Spiel, Nahkampf und Zweikampf, ohne Hinterhalt und ohne Massenheere... Die ritterliche Grundtugend der Ausgeglichenheit – Produkt und Symptom einer Übergangssituation zwischen Adelswillkür und Staatsmacht, zwischen Brutalität und Spiritualität – war das Leitbild der deutschen Epiker.« Das gilt für Heinrich von Veldeke ebenso wie für Wolfram von Eschenbach, dessen Ideal zur Duldsamkeit emporgehoben ist, wenn er den Tugenden der Heiden im »Willehalm« gerecht wird und auf jeden Glaubenshaß verzichtet; er übte das Christentum als Religion der Liebe und Menschlichkeit. »Die politische Dichtung Walthers von der Vogelweide hielt der Wirklichkeit des zerrissenen und ohnmächtigen Deutschen Reiches eine monumentale Vision von Frieden und Recht entgegen: sein Minnesang ist Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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realistischer.« Noch lebensnaher dichtete Gottfried von Straßburg. »Sein artistisch gefeiltes, unvollendetes Epos von Tristan und Isolde zeichnete um 1210 ein neues Bild der Minne, die sinnenhaft und unfromm, aber mystisch, dämonisch, tödlich ist. Man braucht Mut, um sich zu dieser Welt zu bekennen, die gesund und verderblich ist, schöne Form und tragische Verwirrung zugleich; man muß ihr Scheitern auf sich nehmen und sie skeptisch sehen, so wie sie ist, nicht auf die Weise Wolframs subliinieren.« (A. Borst) ¤ 60 Befestigte Höhlenwohnung der Katharer in den Pyrenäen. Ein Unterschlupf für die Anhänger dieser christlich-manichäischen Sekte während des sogenannten Albigenserkrieges
Zur Zeit, als Westeuropa »von außen durch byzantinische und islamische Einflüsse gefährdet und von unten durch das Murren der Volksmassen bedroht« wurde, bildeten sich neue »Sekten, in denen sich Glauben und Wirken völlig deckten. Die erste und größte Sekte dieser Art, die bedeutendste des Mittelalters überhaupt, waren die Katharer, nach denen die deutsche Sprache bis heute alle ›Ketzer‹ benennt. Von den byzantinischen und balkanischen Bogomilen angeregt, seit 1143 im Abendland nachweisbar, führten Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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die Katharer ein apostolisches Leben in Wandern, Fasten, Arbeiten und in strengster Armut... Erst seit 1165 wurde allmählich deutlich, daß hinter der evangelischen Praxis eine dualistische Dogmatik stand; 1167 setzte sie sich in der Sekte durch, als ein Bogomile aus Konstantinopel die Katharergemeinden Italiens und Frankreichs zu Bistümern organisierte. Denn er begründete gleichzeitig die Weltenthaltung durch den Lehrsatz, daß Satan, der Gott des Alten Testaments, diese Erde geschaffen habe und regiere... Besonders im Südfrankreich der Trobadors konnte die katharische Gruppe der Albigenser Boden gewinnen... Es war alarmierend, daß den Ketzern vorübergehend gelang, was der Kirche fehlschlug: der Gleichklang und Einklang von Aktivität und Kontemplation, von Leben und Lehre.« (A. Borst) 1209 rief Papst Innozenz III, zum Kreuzzug gegen die Albigenser auf. Der zwanzigjährige Krieg artete in fanatisches Morden aus. ¤ 61 Kreuzfahrer. Mosaik aus einer Folge von Darstellung des Vierten Kreuzzuges in der Kirche S. Giovanni Evangelista in Ravenna, 1213 ¤ 62 Franz von Assisi. Wandgemälde in der Kapelle S. Gregorio im Kloster S. Benedetto von Subiaco östlich von Rom, 1220 Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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¤ 63 Die Fahne des heiligen Kilian, eine am 8. August 1266 in der Schlacht am Mühlberg bei Kitzingen von den siegreichen Rittern unter Berthold von Sternberg auf einem Wagen mitgeführte Standarte. Würzburg, Mainfränkisches Museum
»Der wirksamste Widerstand gegen die Katharer erwuchs aus einer neuen Ketzerei«, die nach Valdes aus Lyon benannt ist: der Sekte der Waldenser. Es war ihr »Programm, Glauben, Armut und die Werke der Apostel zu üben... Die kleinen Gruppen bekehrter Ketzer, die ihren Lebensstil in Gemeinschaftshäusern« mit päpstlicher Erlaubnis »beibehalten durften, waren kein mitreißendes Beispiel für alle. Das wurde erst Franziskus... Um 1205 1205 tat er was Valdes getan hatte, er verkaufte alles, was er hatte, gab es den Armen und folgte Christus nach... Er ging nicht in die Wälder, um sich zu geißeln, sondern in die umbrischen Bergstädtchen, um als Laie vor Laien zu predigen, eindringlich und ungelehrt wie Valdes, doch weniger selbstbezogen. Wer in der Nachfolge Christi, in fröhlicher Armut durch die Welt wandert, soll den Mitmenschen helfen und dienen. Kranke und Aussätzige pflegen in tätiger Nächstenliebe... Obwohl seit 1206 ein Häuflein Gleichgesinnter mit ihm zog, wollte Franz nichts organisieren; Seelen wollte er gewinnen, aber nicht Seelsorge treiben oder einen Orden Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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gründen... 1221 wurde die Bewegung dann doch ein Orden, weil die Kurie darauf bestand und bestehen mußte; es kam zu einem Kompromiß, der Franzens Idee durch Abschwächung realisierbar machte. Es mußte Aufnahmebedingungen geben, Gelübde auf Lebenszeit, Ordensobere, feste städtische Konvente, die sich versorgen konnten; denn die Brüder sollten Zeit für Kontemplation und Studium haben; nur dann konnten sie predigen, und das wollten sie doch. Die Kette war konsequent, nur nicht in Franzens Sinn. Ihm wurde aber zugestanden, was bisher kein Orden durfte: Wanderpredigt und Armenfürsorge draußen in der Welt. Erst dieser Kompromiß befähigte den Orden zu seiner gewaltigen geschichtlichen Wirkung... Nachdem der Weg in die Welt nicht mehr der seine war, wurde Franz Eremit.«(A. Borst) Die Verluste, über die wir gut unterrichtet sind, beweisen, daß das lokale Ereignis am Mühlberg bei Kitzingen, eine Fehde um den Bischofsstuhl, eine der größten Ritterschlachten des dreizehnten Jahrhunderts in Franken war. Man zog mit den Reliquien des Heiligen der Mutterkirche aus; Standarten und Fahnenwagen, die wir aus der Literatur jener Zeit auch von anderen Kampfplätzen kennen, wurden mitgeführt. ¤ 64 Verleihung der Reichsunmittelbarkeit an die Stadt Nürnberg durch Kaiser Friedrich II. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Pergamenturkunde vom 8. November 1219. München, Bayerisches Hauptstaatsarchiv ¤ 65 Das Eherecht. Eine Seite in einer in Bologna (?) entstandenen Handschrift der Dekretalensammlung Gregors IX. mit dem Kommentar des Bernardus Botto von Parma, nach Mitte 13. Jahrhundert. München, Bayerische Staatsbibliothek
Die Menschen des dreizehnten Jahrhunderts erlebten neben den Kriegen zwischen den westeuropäischen Nationen, neben Pilgerzügen. Ritterfahrten und Handelsreisen die Entfaltung des städtischen Lebens, lohnende Arbeitsmöglichkeiten und die Privilegien, die die Städter im allgemeinen genossen, zogen einen beträchtlichen Teil des ländlichen Bevölkerungsüberschusses an und förderten damit das normale Wachstum der Stadt. Natürlich waren die mittelalterlichen Städte, die eine Hauptrolle im wirtschaftlichen, sozialen und politischen Leben ihrer Zeit spielten, nach heutigen Begriffen Kleinstädte.« (F. L. Ganshof) Besonderen Reichtum verschafften sich anfangs die Städte, die unter dem Schutz des Kaisers standen und vor dem Schicksal anderer Orte, einem Landesherrn unterstellt zu sein, bewahrt blieben. Ein kaiserlicher Freiheitsbrief gab einer Stadt »für ihr Gebiet die freie Ausübung ehemals fürstlicher Hoheitsrechte, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Verwaltung, Gericht, Polizeigewalt und Heereswesen; ferner die Berechtigung zur Teilnahme an den Reichstagen. Dafür übernahm sie den Huldigungseid, die Teilnahme an den Heereszügen und die Zahlung der Reichssteuern.« (L. Weinrich) Einer von den städtefreundlichen Kaisern war der Hohenstaufer Friedrich II., jener Herrscher, der das politische Antlitz Europas entscheidend formte. Er lernte Deutschland erst mit achtzehn Jahren kennen; seine Heimat, in der er Wurzeln geschlagen hatte und der er sich zugehörig fühlte, war der Süden, Hier, auf Sizilien und in Apulien, in den Burgen und Schlössern, die er sich hatte bauen lassen, residierte er unter dem Einfluß des zu neuer Geltung erwachten römischen Rechts. Sein großer Gegner war Papst Gregor IX., der die Inquisition organisierte und das erste päpstliche, mit dem Jahr 1234 für die gesamte Kirche vorgeschriebene Gesetzbuch zusammenstellen ließ. ¤ 66 Der sogenannte Thronsaal im Castel del Monte in Apulien. Blick in eine Fensternische im Obergeschoß des oktogonalen Wehrbaus Friedrichs II., vor 1240 ¤ 67 Die Ruine der Tintern Abbey, eines von den Zisterziensern ab 1269 erbauten Gotteshauses im Süden von Wales Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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¤ 68 Die Ruine eines wehrhaften Schlosses der englischen Herrscher aus dem Haus Anjou-Plantagenet bei Cardiff in Wales, 13. Jahrhundert
»Wenn Friedrich II. wie Barbarossa die kaiserliche Macht für universal hielt, so ließ er aus Klugheit davon wenig verlauten. Seine Reichsidee war zudem höchst verschieden von der seines Großvaters. Barbarossa war Deutscher gewesen«, sein Enkel aber war so sehr Sizilianer, daß er es seinem Großvater mütterlicherseits, Roger II., gleichtat, wenn er z. B. »muslimische Soldaten gegen Christen einsetzte. Deutschland trat ganz in den Hintergrund«, denn Friedrich II. wollte Italien einigen. Das trug ihm die erbitterte Feindschaft der Päpste und der lombardischen Städte ein und führte zu schweren Kämpfen mit ihnen. »Der Tod des Kaisers am 13. Dezember 1250 beendete den letzten ernsthaften Versuch, dem Reich politische Realität zu verleihen. Das Papsttum hatte zwar Friedrich II. daran gehindert, seine Ziele zu verwirklichen, aber es war auch selbst geschwächt aus dem Kampf hervorgegangen; in der Folgezeit war eine theokratische Herrschaft über die Christenheit ausgeschlossen... Deutschland war nur wenig in die politischen Aktionen Friedrichs II. verwickelt gewesen. Während das Heer Barbarossas, mit dem er einst seine Erfolge in Italien davongetragen hatte, hauptsächlich von Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Deutschland aufgebracht worden war, waren in dem Heer seines Enkels kaum noch Deutsche zu finden. Die Staufer hatten das Land nicht mehr in der Hand... Die Zwistigkeiten unter den Fürsten und die Räubereien des Adels hatten freien Lauf... Die Interessenkonflikte unter den Fürsten, denen besonders die Ernennung des Königs zukam, und die Unsicherheit über deren Identität führten zu dem traurigen Ergebnis« eines Interregnums. Durch die erste und die dritte Frau Friedrichs II. bestanden Verbindungen zu Spanien und zu England. 1257 wurde dann aus diesen Ländern je ein König gewählt: Alfons X. und Richard von Cornwall. »Alfons kam niemals in sein angebliches Königreich; Richard ließ sich in Deutschland krönen und salben und hielt sich auch einige Male dort auf, aber er übte nur im Rheingebiet die Macht aus, und da auch nur eine Scheinmacht. Die fast souveränen deutschen Fürsten dachten nur daran; ihre Begierden und Haßgefühle zu befriedigen; allgemein herrschte eine sich immer weiter verschärfende Anarchie. Es war die Zeit der ›Raubritter‹.« Diesem Zustand wurde ein Ende bereitet, als 1273 sieben deutsche Kurfürsten Rudolf von Habsburg zum König wählten. »Rudolf und seine Nachfolger, Adolf von Nassau und Albrecht I. von Österreich, waren vor allem anderen bestrebt, wo es die von den Fürsten erworbene Selbständigkeit noch zuließ, die königliche Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Autorität wieder aufzurichten und Frieden zu schaffen.« (F. L. Ganshof) ¤ Der Mainzer Reichslandfriede Friedrichs II. von 1235. Die deutsche Fassung des Gesetzes in der Dresdener Bilderhandschrift des Sachsenspiegels. Dresden, Sächsische Landesbibliothek ¤ [Rückseite] Lange Zeit galt dieser Landfriede als das erste Reichsgesetz in deutscher Sprache. Wenn diese Auffassung vor der Forschung auch nicht ganz bestehen konnte, so bleibt das Gesetz doch in Inhalt und Wirkung von besonderem Interesse. Die kaiserlichen Landfriedensgesetze hatten schon 1235 eine lange Tradition. In der Karolingerzeit waren die verschiedenen Volksrechet durch Reichsgesetze, die man in den Kapitularien-Sammlungen zusammenfaßte, ergänzt worden. Später hatte die mit Zustimmung der Stände geübte königliche Gesetzgebung darunter gelitten, daß man sie nicht kodifizierte; sie beschränkte sich auch zumeist auf das Lehnrecht. Allenthalben hatte sich ein Gewohnheitsrecht herausgebildet, das unterschiedlich und mannigfaltig war und somit die territoriale und soziale Gliederung des Reiches gut widerspiegelt. Der einheitlichen königlichen Gesetzgebung kam dann eine europäische Bewegung Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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zu Hilfe: Der vom Kloster Cluny beeinflußte Gedanke vom Gottesfrieden erfaßte am Ende des elften Jahrhunderts das Rheinland, bald darauf die übrigen Teile des Reiches. Zunächst versuchte die kirchliche Gewalt besonders gegen die drohende Anarchie durch das Fehdewesen vorzugehen. Weil sich aber bei Fehde und Blutrache eine alte Sippenstruktur erhalten hatte, die neben der staatlichen Ordnung bestand, ließ sich die Fehde nicht radikal beseitigen. So beschränkte man sich darauf, wenigstens bestimmte Personen – Geistliche, Frauen und Kinder – und Orte – Kirchen und Friedhöfe – sowie bestimmte Zeiten des Kirchenjahres, etwa die Fastenzeit, zu »befrieden«. Dieser von der Kirche und den niederen Volksschichten getragene Gottesfriede wurde von den Königen übernommen und erweitert. Kaiser Heinrich IV. stellte sich 1085 mit seinem Gottesfrieden gegen den hohen Adel und bestätigte diesen Erlaß 1103 als Reichslandfrieden. Seither sind verschiedene Landfriedensgesetze verkündet worden. Im Jahr 1235 brauchte der Kaiser keinen Kompromiß mit den Fürsten auszuhandeln; vielmehr entsprach der im August als großes Reichsfest gestaltete Reichstag in Mainz der wiedergewonnenen Macht Friedrichs II. Die wohl zuerst verabschiedeten Artikel des Gesetzes spiegeln noch die zuvor Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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erlebten Streitigkeiten. Friedrichs Sohn Heinrich (VII.) hatte sich als deutscher König gegen die Politik des Kaisers aufgelehnt, sich sogar mit Reichsfeinden verbündet, und war vom Vater zur Unterwerfung gezwungen worden. Das Mainzer Gesetz gab Friedrich die Möglichkeit, seinen Sohn und dessen Anhänger gerichtlich zu verfolgen. Der Mainzer Reichslandfriede ist kein umfassendes Gesetz, sondern betont nur die Fälle, die nicht, wie Mord, Raub, Brand und andere Verbrechen, schon durch die voraufgegangenen Gesetze unter Strafe gestellt waren. Das Gesetz besteht in seinem strafrechtlichen Teil neben den Bestimmungen im Falle einer Empörung eines Sohnes gegen den Vater und der Zeugenfähigkeit aus solchen über Acht und Bann und über Hehlerei. Bei dem eigentlichen Landfrieden stehen neben den hier wiedergegebenen Artikeln – Bruch des Handfriedens, Notwehr und Fehdeansage – andere über geistliche Gerichtsbarkeit, Kirchenvögte, Zölle, Burgenbau, Märkte, Straßen, Geleitrecht und sogenannte Pfalbürger und Muntmannen. Den Abschluß bildet die Einsetzung eines Reichshofrichters, der in der Abwesenheit des Kaisers Recht sprechen sollte. Friedrich plante also eine seinem sizilischen Staat entsprechende Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Institution. Wegen der andersartigen Interessen der Fürsten und der späteren Schwäche des Königtums erlangte dieser kaiserliche Richter keine Bedeutung im Reich. Der Text des Gesetzes wurde wohl in zweisprachigen Verhandlungen festgelegt und vor der endgültigen kaiserlichen Inkraftsetzung auch in deutscher Sprache veröffentlicht. Das lateinische Original ging verloren und ist nur in späteren Abschriften erhalten. König Rudolf von Habsburg aber erneuerte später den Landfrieden in deutscher Sprache. Nunmehr galt die deutsche Fassung des Mainzer Landfriedens als offizielles Gesetz. Die ältesten erhaltenen Fassungen stammen aus Passau und aus Meißen. Bei der Meißener Version handelt es sich um eine unvollständige Abschrift auf dem ersten Blatt einer vor 1375 entstandenen kostbaren Handschrift des »Sachsenspiegels«. Der Band vereinigt also ein Reichsgesetz mit der privaten niederdeutschen Rechtssammlung des Eike von Repgow aus dem Anfang des dreizehnten Jahrhunderts. Das hier um 1/5 verkleinerte Blatt enthält lediglich das erste Drittel des Gesetzestextes; am Schluß steht nur noch die Überschrift des nächsten Artikels. Auf der Miniatur ist der thronende Kaiser wie auf dem Reichssiegel dargestellt. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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[Transkription] Dys recht satzte · der keyser zcu / mentze myt der vorsten wyllekor / Wir sezzen vnd gebiten rnit vnser keiser/lichen gewalt vnd mit andern des / riches getruwin mannen swel/ch svn sinen uatir von sinen burgen oder von an/deren sinem gute vorstozet oder vorburnet / oder roubit oder zu sines vatir viendin sichert / mit truwen oder mit eiden das · uf sines vater / ere get oder uf sine vorterpnisse bezuget in / des sin vater zu den heiligen vor sime richtere / mit zwen seintbaren mannen · di nimant mit / rechte vorwerfin mag der sun sal sin vor/teilt · egenes vnd lenes vnd varndis gutes · / vnd werlichen alles gutes des he von vatir odir von mutir erbin solde eweclichen also das / im wedir richter noch vatir nimmer widir gehelfin mag · das he kein recht zu dem sel/bin gute ymmer gewinnen muge · swelch svn an sins vatir lip retet oder vreuelichen an/grift mit wndin odir mit geuencnisse oder inkeiner hande slachte bant legit das geveng/nisse heisit wirt he des vor sime richtere vorzuget · also hy vor gescribin ist · der selbe ist / elos vnd rechtelos ewiclichen das he nimmer wider kumen mag zu sime rechte · alle dy Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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der / vatir nennet zu gezuge vor dem richtere uber alle di sache · di hi vor geschriben sint di / suln des nicht vberig werdin durch ma(g)schaft noch durch keiner hande ding · si en gesten / dem vatere der warheit · der des nicht tun enwil den sal der richter dar twingen · is en si das / he zu den heiligen swere vor dem richtere das he dar vmme nicht en wisse · hat der vatir / dinstman oder eigene lute von der rate · odir helfe dirre dinge dicheins tut der svn wider sinen / vater alse hi vor gescriben ist · bezuget en des sin vatir vor sinem richtere selbe dritte zu den / heiligen · di selbin sint erlos vnd rechtelos eweclichen das si nymmer wider kumen mugen zu / irme rechte · der vatir mag aber uf di lute · si sin dinst oder eigen nicht beredin mit disen / dingen so das si erlos vnde rechtelos sin · he enhabe is er uf den sun brocht aller slachte / andir lute di des vatir dinstman oder eigen nicht sin mit der rate oder helfe der sun wider / sinen vatir dirre ding irkein tut di hi uor gescriben sint · bezugit si des der vatir alse / hi vor geschriben is der richter in des gerichte das gesehen is sal di selbin lute in di ach/te tun · vnd sal si nimmer dar us gelasin si engeldin dem vatir seinen schadin zwiualt den / he von en odir von irre helfe genomen hat / vnde dem richter sin recht · hat der selbin dich / ein len von dem vatere · das selbe len sal dem / vatere ledig sin · zu hant · Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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so hant so he en vber / windet · vnd sal is im nimmer wider geli/en odir liet hes im wider · so sal he dem ri/chtere sins eigens odir sins lenes also vil / in sine gewalt lien odir brengin · hat he / der keins nicht · so sal he im also vil silbers / gebin also tuyre so das len ist · an allen / disen Sachen di hye vor geschribin sint / Mag ein iclich seinbare vriman der sin / recht hat · dem vatir es si vorste odir sus / ein hoch vriman helfin das bezugen swen/ne hez vor war weiz · ein dinstman mag / is ouch bezugen mit andern dinstmannen / ein eigen man mit sinen genosin · ein ge/bur mit sinen genossin · ein idich vri man / hilfet des ouch wol einem dinstmanne ab / hez weis · ein dinstman hilfet ouch wol / deme der sin vndirgenoz · Di nideren en / mugens den hogern nicht gehelfin · Ist / abir das der vatir von gevencnisse oder / von suche · odir von andirre ehafter not / das recht nicht gevordern mag so sal / is siner mage einer tvn · vnde sal der mac / beredin zu den heiligen das den vater ehafte / not nicht lest das he dar kumen mag · vnd / sal di not benennen · vn swen hez bere/dit so sal man im richten vbir di sache al / so ab der vatir selbe da were · / Dys recht ys do von das sych / nymant selbe reche /
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Wir sezzin vnd gebiten swas schadin yman/de an keiner slachte dinge gesche das / hez selbe nicht reche · he enclage alrest deme / richtere · vnd volge siner clage zu ende alse recht / is · iz ensi also verre das he sinen lip da vnd / sin gut notwerende si · Swer sich andirs richt / den hi geschriben ist · swas schadin he da / inne tut den sal he zwiualt geldin vnd swaz / schadin im geschiet · der sal vorlorn sin vnd / en sal nimmer keine clage da noch gewin/nen · swer aber sine dage richtit als da vor ge/schriben stet · wirt im nicht gerichtet so mus / he durch di not seinen viendin wider sagin / das sal he tun bi tage · vnd von dem tage al/se he im wider sait hat · denne bis an den vier/din tag · sal he im keinen schadin tun · weder / an libe noch an gute · so hat he dri ganze ta/ge vride · der selbe dem da wider sagit wirt / sal ouch wedir an libe noch an gute bis an / den vierdin tag deme der im da wider sait / hat · keinen schadin tvn · vnde an welcherme / dis gesezze gebrochin wirt · der sal vor seinen / richter varn · vnd sal en beclagin der im getan hat · dem sal der richter selber vorgebiten / odir sin bote · Mag sich der selbe der da ange/sprochin ist · nicht vnschuldigen zu den hei/ligen mit siben seintbaren luten vor deme / richtere so si he erlos vnd rechtelos ewecli/chen · so das he nimmer wider kvmen mag / zu sime rechte · Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Dys ys von den zcollen Übersetzung Dieses Recht setzte der Kaiser zu Mainz mit Zustimmung der Fürsten. Wir setzen und gebieten kraft Unserer kaiserlichen Gewalt und mit dem Rat der anderen Getreuen des Reiches: Der Sohn, der seinen Vater von dessen Burgen oder von anderen Besitzungen verstößt oder mit Raub und Brand angreift oder sich mit Feinden seines Vaters verbündet mit Eid und Treuegelöbnis, das gegen die Ehre seines Vaters geht oder zu dessen Verderben, wenn ihn sein Vater dessen anklagt – mit einem Schwur bei den Heiligen, vor seinem Richter, mit zwei sendbaren Männern, die niemand rechtens zurückweisen kann, – der Sohn soll Eigentum, Lehen und fahrende Habe sowie all das Gut, das er von Vater und Mutter erben sollte, für immer und ewig verlieren, so daß ihm weder Richter noch Vater jemals wieder helfen können, irgendein Recht an diesem Gute zu erlangen. Der Sohn, der wider seines Vaters Leib und Leben Anschläge ersinnt, oder ihn freventlich mit Wunden oder mit Gefangenschaft angreift oder Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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ihn in Bande legt, was man Gefängnis nennt, – wenn er dessen vor seinem Richter überführt wird, wie oben aufgeführt, so soll er für immer und ewig friedlos und rechtlos sein, so daß er niemals wieder zu seinem Recht kommen kann. Alle, die der Vater in all diesen hier beschriebenen Fällen vor dem Richter als Zeugen benennt, dürfen es nicht wegen ihrer Verwandtschaft oder wegen irgendwelcher Dinge sonst ablehnen, dem Vater der Wahrheit zu zeugen. Wer das nicht tun will, den soll der Richter dazu zwingen, es sei denn, daß er vor dem Richter bei den Heiligen schwört, er wisse nichts davon. Hat der Vater Dienstmannen oder Eigenleute, mit deren Rat oder Hilfe der Sohn derlei Dinge gegen seinen Vater tut, wie sie oben beschrieben sind, und bezeugt das der Vater selbdritt vor seinem Richter (mit einem Schwur) bei den Heiligen, so sollen sie für immer und ewig ehrlos und rechtlos sein, so daß sie niemals auf irgendeine Weise wieder zu ihrem Recht kommen können. Der Vater aber darf gegen diese Leute, Dienstmannen oder Eigenleute, in diesen Dingen nicht klagen, daß sie ehrlos und rechtlos werden, es sei denn, er hätte zuvor gegen den Sohn geklagt. Alle anderen Leute, die nicht Dienstmannen oder Eigenleute des Vaters sind, mit deren Hilfe Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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der Sohn eines der Dinge, die hier geschrieben sind, wider den Vater tut, soll, wenn der Vater sie des Zuvorgenannten überführt, der Richter, in dessen Gerichtsbezirk dies geschehen ist, in die Acht tun; und er soll sie niemals daraus lösen, es sei denn, sie erstatteten dem Vater seinen Schaden zweifach, den er durch sie oder durch ihre Hilfe erlitten hat, und dem Richter die Geldbuße. Hat einer von ihnen ein Lehen von dem Vater, so soll das Lehen zu Händen des Vaters zurückfallen, falls der ihn überführt; und er soll es ihm niemals wieder verleihen. Doch verleiht er es ihm wieder, so soll er dem Richter von seinem Eigentum oder seinem Lehen soviel geben, wie er besitzt, hat er aber nichts, so soll er ihm soviel Silber geben, wie das Lehen wert ist. In all diesen hier aufgezeichneten Sachen darf jeder sendbare Freie, der in ordentlichen Rechtsverhältnissen steht, dem Vater – er sei Fürst oder sonst ein Edelfreier – helfen, das zu bezeugen, was er weiß. Ein Dienstmann darf es auch bei anderen Dienstmannen bezeugen, ein Eigenmann bei seinen Standesgenossen, ein Bauer bei seinen Standesgenossen. Jeder Freie darf auch einem Dienstmann helfen, wenn er etwas weiß. Ein Dienstmann darf auch einem Tiefergestellten helfen. Die Niederen können nicht den Höheren Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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helfen. Ist es aber so, daß der Vater durch Gefängnis, Krankheit oder ein anderes rechtsgültiges Hindernis dieses Recht nicht einklagen kann, so soll es einer seiner Verwandten tun; und dieser Verwandte soll bei den Heiligen erklären, daß ein rechtmäßiges Hindernis nicht zuläßt, daß der Vater kommt, und er soll das Hindernis nennen. Und wenn er das erklärt, so soll man ihm in dieser Sache Recht verschaffen, als ob der Vater selbst anwesend wäre. Diese Rechtsbestimmung ist dazu da, daß sich niemand selbst räche. Wir setzen und gebieten, daß niemand den Schaden in irgendeiner Sache, der ihm widerfährt, selbst rächen darf, es sei denn, er hätte es zuvor dem Richter geklagt und seine Klage bis zu dem, was recht ist, zuende verfolgt, ausgenommen daß er seinen Leib und sein Gut in Notwehr habe. Wer sich anders Recht verschafft, als hier geschrieben steht, der soll den Schaden, den er dabei (seinem Gegner) antut, ihm zweifach vergelten, und der Schaden, den er (dabei) erlitten hat, soll verloren sein, und eine Klage deswegen soll er niemals gewinnen. Wer aber seine Klage, wie hier geschrieben Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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steht, durchführt und keine Genugtuung erhält, muß notgedrungen seinen Feinden die Fehde ansagen; und zwar soll er das bei Tage tun. Und von dem Tage an, da er ihm die Fehde angesagt hat, bis zum vierten Tag soll er ihm keinen Schaden tun, weder an Leib noch Gut. So hat er drei volle Tage Frieden. Auch soll der, dem die Fehde angesagt wird, bis zum vierten Tag dem, der ihm die Fehde angesagt hat, weder an Leib noch Gut irgendeinen Schaden tun. Und der, an dem dieses Gesetz gebrochen wird, soll vor seinen Richter treten und soll den anklagen, der ihm dies angetan hat. Den soll der Richter selbst oder sein Bote vorladen. Falls der, der da angeklagt ist, nicht (durch einen Schwur) bei den Heiligen mit sieben sendbaren Männern vor dem Richter seine Unschuld darlegt, sei er ehrlos und rechtlos für immer und ewig, so daß er niemals wieder zu seinem Recht kommen kann. Dieses handelt von den Zöllen. ¤ 69 »Clericis laicos«. Eine Ausfertigung der Bulle des Papstes Bonifatius VIII. vom 25. Februar 1296. München, Bayerisches Hauptstaatsarchiv
Bonifatius VIII. erließ die Bulle »Clericis laicos«, die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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bei Strafe der Exkommunikation den Geistlichen verbietet, Abgaben an Laien zu entrichten, den Laien wiederum, Steuern von Geistlichen zu fordern, gegen Philipp den Schönen von Frankreich und dessen Praktiken. ¤ 70 Ilkhan Ghazan, der Mongolenherrscher über Persien, an Papst Bonifatius VIII. Klage über die erkalteten Beziehungen des Vatikans und des französischen Hofes zum Mongolenstaat in Persien. Aus einem Schreiben in uigurisch-mongolischer Schrift, 1302. Città del Vaticano, Archivio Segreto Vat. ¤ 71 König Eduard I. von England im Gespräch mit einem Erzbischof. Ein Blatt aus einer Miniaturenfolge eines unbekannten Buchmalers zur Geschichte Englands von Eduard dem Bekenner bis Eduard I., um 1300. London, British Museum ¤ 72 Der Italienzug Kaiser Heinrichs VII.: Aufstieg auf den Mont-Cenis am 13. Oktober 1310 und Abstieg bei Susa am 23. Oktober 1310. Miniatur in dem Codex Balduineus, Anfang 14. Jahrhundert. Koblenz, Staatsbibliothek
England wurde in das vierzehnte Jahrhundert hinein von einem großen König regiert, von Eduard I. Er Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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»zeigte Sinn für Ordnung und System, und was Rechtsordnung und Organisation anging, wurde seine Regierungszeit zu einem Meilenstein... Dem Gedenken der Menschen prägte er sich als bedeutender Herrscher ein, auch wenn man über seine autokratische Art klagte; keinem Nachfolger konnte es leichtfallen, ihm nachzueifern«, schon gar nicht seinem besonders schwachen Sohn, dessen Regierung »binnen ein paar Wochen zusammenbrach. Als Fünfzehnjähriger kam dann Eduard III. auf den Thron... Eduard I. hatte noch erlebt, daß Clemens V. der Kurie befahl, ihm über die Alpen nach Avignon zu folgen. Der Papst hatte für diesen Entschluß triftige Gründe: Philipp der Schöne drohte noch nachträglich Schritte gegen den verstorbenen Papst Bonifatius VIII. an, und man mußte dem König aus nächster Nähe auf die Finger sehen; Kaiser Heinrich VII. war gerade dabei, in Italien einzurücken; Kriege hatten die päpstlichen Staaten zerrüttet und der Armut preisgegeben.« Diese Schwäche nutzten Könige, Fürsten und Kaufleute. »Der Bildungsanstieg der städtischen Bevölkerung ermöglichte organisatorische Verbesserungen, namentlich in den höher entwickelten städtischen Geschäftszentren. Für die Aufgaben der Geschäftsführung und -aufsicht leisteten schriftliche Instruktionen, Briefe und Geschäftsbücher gute Dienste. Handelskompanien wurden gegründet, die auch Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Kreditgeschäfte und sonstige finanzielle Transaktionen besorgten.« (A. R. Myers) ¤ 73 Die Anerkennung der von König Philipp dem Schönen zugebilligten Rechte für die mit Frankreich Handel treibenden Diester Kaufleute durch die trabantische Stadt Diest. Pergamenturkunde vom 15. August 1304. Paris, Archives Nationales ¤ 74 Das Handelsbuch der Holzschuher mit Eintragungen über den Verkauf von zumeist flandrischen Tuchen, 1304-1307. Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum ¤ 75 Vertreibung der Armen aus Siena während der Hungersnot im Jahr 1328 und ihre Aufnahme in Florenz, der schärfsten Rivalin dieser ghibellinischen Stadt. Miniatur im »Registro dei prezzi delle granaglie detto il Biadaiolo«, 14. Jahrhundert. Florenz. Biblioteca Medicea Laurenziana ¤ 76 Der Prozeß gegen Robert III. von Artois, einen auf Englands Seite stehenden führenden französischen Rebellen, unter Vorsitz Philipps VI. von Valois in Anwesenheit Karls des Bösen und Johanns des Blinden, der Könige von Navarra und Böhmen, im Jahr 1332. Miniatur in der Prozeßchronik. Paris, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Bibliothèque Nationale ¤ 77 Die Ratifikation des Friedensvertrages von Brétigny zwischen England und Frankreich durch Eduard III. in Calais. Pergamenturkunde vom 24. Oktober 1360. Paris, Archives Nationales
»In den größeren Städten wuchs die Unzufriedenheit, namentlich in Flandern und Norditalien, wo die Unterschiede in der Lebenshaltung exorbitant geworden waren.« An vielen Orten wurde die Bevölkerung durch Hungersnot und Seuchen heimgesucht, »In Frankreich litten die Bauern« unter den »Raubzügen der Söldnerscharen« und den Invasionen der Engländer, »Der alte Streit um die Gascogne hatte sich verschärft; in Flandern, das für« die beiden Mächte lebenswichtig war, waren Eduard III. und Philipp VI. heftig aneinandergeraten; Eduard hatte Robert von Artois Asyl gewährt; Philipp hatte die Schotten zu einem Zeitpunkt unterstützt, da Eduard den schottischen Widerstand schon gebrochen zu haben glaubte. Im November 1337 begannen die Feindseligkeiten« des Hundertjährigen Krieges. (A. R. Myers) Im Deutschen Reich lag die Macht bei den Landesfürsten. Die Habsburger scheiterten bei dem Versuch, die Schweiz ihrer Hausmacht einzugliedern. Karl IV., unter dem Böhmen ein geistiges Zentrum des Reiches war, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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besaß nur wegen seines reichen Besitzes größeren Einfluß. ¤ 78 Kaiser Karl IV. Wandgemälde aus dem Hansasaal des Kölner Rathauses, um 1370. Köln, WallrafRichartz-Museum ¤ 79 Der in der Schlacht von Sempach am 9. Juli 1386 gegen die Schweizer gefallene Graf Hanns von Fürstenberg. Eine Seite in »Wappen und Conterfeyen«, der mit Herzog Leopold III. von Österreich bei Sempach Gefallenen. Wien, Haus-, Hof- und Staatsarchiv ¤ 80 Papst Johannes XXIII. und der deutsche König Sigismund in Lodi bei Vorverhandlungen für das Konstanzer Konzil. Kolorierter Holzschnitt in der Chronik des Konstanzer Konzils von Ulrich Richenthal, 1482. Basel, Universitätsbibliothek ¤ 81 Papst Johannes XXIII. und der deutsche König Sigismund in Lodi bei Vorverhandlungen für das Konstanzer Konzil. Kolorierter Holzschnitt in der Chronik des Konstanzer Konzils von Ulrich Richenthal, 1482. Basel, Universitätsbibliothek
»Als das stürmische vierzehnte Jahrhundert versank Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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und das fünfzehnte Jahrhundert eingeläutet wurde, lag das Papsttum und mit ihm die Kirche in konfliktgeladener Spannung und Krise. Noch lastete das unheilvolle abendländische Schisma auf der Christenheit, regierte ein Papst im französischen Exil zu Avignon, ein anderer in der Ewigen Stadt.« (F. Merzbacher) Seit 1409 gab es sogar eine verfluchte Dreiheit. Der Pisaner Johannes XXIII. »hatte sich seine ersten Lorbeeren als Seeräuber verdient; an Fähigkeiten konnte er sich gerade noch mit den kleinen italienischen Tyrannen seiner Zeit messen; die meisten übertraf er allerdings an Schläue und Verderbtheit«. (A. R. Myers) Der deutsche König Sigismund wurde der eigentliche Initiator des Unionskonzils in Konstanz, »obschon sich der Hauptteil des französischen Episkopats und die Universität Paris für das Konzil aufgeschlossen zeigten, verhielt sich das französische Königtum äußerst reserviert. Gregor XII. und Benedikt XIII. beharrten in den Verhandlungen auf ihren ablehnenden Standpunkten. Schließlich hatte das Pisanum die Abdankung aller drei Päpste gefordert. Auch der persönlich erschienene Johannes XXIII. wurde von den Konzilsnationen zum Rücktritt genötigt. König Sigismund unterband die nun drohende Auflösung des Konzils. Am 6. April 1415 wurde die konziliare Theorie, die Lehre von der Konzilssuperiorität, zum Synodalbeschluß erhoben.« Im nächsten Monat Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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»dankte der Römer Gregor XII. freiwillig ab. Aber die Bemühungen um einen Rücktritt des Spaniers Benedikt XIII. gestalteten sich ungeheuer kompliziert. Am 4. November 1416 eröffnete das Konstanzer Konzil in Gegenwart der fünften Nation, der Spanier, gegen ihn den Prozeß, der zu seiner Absetzung als eidbrüchiger Schismatiker und notorischer Ketzer führte. Mit dieser Verurteilung hatte das Konzil die Causa unionis gelöst, das Schisma beigelegt und die Einheit von Kirche und Papsttum wiederhergestellt.« (F. Merzbacher) Die »Reformation der Kirche an Haupt und Gliedern«, die von den Pariser Professoren Pierre d'Ailly und Jean Gerson gefordert worden war, kennzeichnet die ganze erste Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts. Am Ende standen nicht nur die Beseitigung des Schismas und die Entstehung von Nationalkirchen, sondern auch der Machtzuwachs eines verweltlichten Papsttums. Die neuen Regenten des Kirchenstaates fühlten sich als Fürsten, Künstler und Gelehrte. ¤ 82 Die Krönung Friedrichs III. zum Kaiser am 19. März 1452, die letzte Kaiserkrönung in Rom. Aus einem Gemälde eines französischen Meisters, 15. Jahrhundert. Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum
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»Ketzerfrage und Hussitentum, Romzug, Reichsexekution gegen Herzog Philipp von Burgund, Sicherung des Handels mit Venedig« – das waren die »Hauptziele der Regierung König Sigismunds. Während der kurzen Herrschaft Albrechts II., der im März 1438 in Frankfurt gewählt worden war, wurden der Schlesische Feldzug und der Krieg gegen Polen geführt. Der nächste Herrscher. Friedrich III. von Steiermark (1440-1493), ließ dem Territorialisierungsprozeß im Innern des Reiches freien Lauf und strebte vor allem nach staatlicher Festigung seiner Hausmacht. Schließlich gelang es ihm, Böhmen und Ungarn politisch auszuschalten und Burgund für Habsburg zu erwerben, Friedrich III. legte sich in dem Konflikt zwischen Papst und Basler Konzil zunächst Zurückhaltung auf und verhandelte mit beiden Parteien. Die endgültige Lösung der Kirchenfrage sollte ein Konzil in Konstanz oder Augsburg finden... Im Innern wurde das Reich vornehmlich von den beiden großen Dynastien der Hohenzollern und der Wittelsbacher großräumig gegliedert. Die Bedrohung durch seinen westlichen Nachbarn, den jungen burgundischen Staat, legte den Keim eines neuen Nationalbewußtseins, das sich als wirkungsvolles Mittel der Verteidigung gegen äußere Machtansprüche erwies. Die in Europa, namentlich in den westlichen Großstaaten, erkennbare Staatsbildung und Zentralisation hat auch Deutschland nicht Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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ausgenommen, aber die im Reich erzielten Ergebnisse entsprachen keineswegs dem in den anderen Ländern Europas Erreichten. Die deutsche Verfassungsgeschichte dieser Periode löste sich mehr und mehr von dem mittelalterlichen Gedanken der religiös-politischen Einheit des Sacrum Imperium; der Einfluß der römisch-christlichen Reichsidee, also die Verbindung des Reiches mit der von sakralem Glanz umgebenen Kaiserwürde, spielte kaum noch eine praktische Rolle... Das Kaisertum war nicht mehr überstaatliches Sinnbild des christlichen Abendlandes.« (F. Merzbacher) Nachdem die italienischen Staaten selbständig geworden waren und Frankreich sich den Arelat, das alte Königreich Burgund, einverleibt hatte, verengte sich das Imperium zum »Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation«. »Manche Gebiete zählten überhaupt nur noch dem Namen, dem Rechtstitel nach zum Heiligen Römischen Reich. Burgunci hatte die Niederlande weitgehend aus dem Reichsverband herausgeschält. Ebenso hatte die Eidgenossenschaft de facto bereits ihre Unabhängigkeit erreicht. Immerhin lag zwischen Frankreich und Deutschland eine politisch nicht eindeutig festgelegte Zone – das Herzogtum Lothringen, die Freigrafschaft Burgund und auch das Herzogtum Savoyen –, deren Haltung manche politischen Gestaltungsmöglichkeiten offenließ. In Frankreich und Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Spanien deckten sich im späten fünfzehnten Jahrhundert Staat und Nationalität weitgehend, wogegen in Deutschland und auch in Italien trotz der noch lebendigen Tradition des alten Kaisertums Nationalidee und Staat keineswegs einander fanden oder miteinander verschmolzen... Ein Machtstreit der Dynastien und der verstärkte Ausbau der Landesherrschaften erfüllte das Reich, dem trotz ernster Reformbestrebungen kein Umbau seines veralteten, längst überholten Grundgefüges, geschweige denn eine fruchtbare Zentralisierung der zentrifugalen Kräfte nach westlichem Modell gelang.« Überall zeigte sich ein geistiger Umbruch. »Freie Argumentation und Kritik verdrängten immer mehr eine blinde Autoritätsgläubigkeit. Die Schwerpunktbildung der Wissenschaft in wenigen überragenden Metropolen wich einer ungeheuren Verbreiterung der Gelehrsamkeit durch zahlreiche nationale Universitäts- und Akademiegründungen. Vielfalt, nicht mehr Einheitlichkeit bestimmte fortan die Kulturpflege. Ein neues, von mittelalterlichen Einheitsvorstellungen befreites Weltbild begann sich zu bilden. Eine wahre Hochblüte der Kunst und Wissenschaft überschüttete Deutschland und Italien mit ihren Früchten. Humanismus und Geschichtsschreibung entfalteten sich in reicher Fülle. Aber erst die Erfindung der Buchdruckerkunst durch den Mainzer Goldschmied Johann Gutenberg förderte und erleichterte Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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seit 1447 in gewaltigem Ausmaß die Verbreitung der neuen Ideen und der literarischen Schöpfungen, die zuvor in mühseliger Schreibertätigkeit mit dem Federkiel vervielfältigt werden mußten.« Ein Wandel der Wirtschaftsstruktur löste soziale Spannungen aus. »Die Unzufriedenheit des Bauerntums, dessen wirtschaftlicher und sozialer Wert durch die Ausbildung der Geldwirtschaft in den Städten herabgedrückt wurde, mündete in radikale Aufstände, die sich gegen die kapitalistischen Kräfte und die Entartungserscheinungen der Grundherrschaft wandten und eine soziale Besserstellung der Landbevölkerung forderten. Im fünfzehnten Jahrhundert verschlechterte sich die Lage der niederen Klassen wie auch des Landadels ganz erheblich. Gleichzeitig überwand diese Epoche das Zunftsystem der patriarchalischen Stufe. Seit der zweiten Hälfte des Jahrhunderts entwickelte sich aus dem Frühkapitalismus des vorausgegangenen Säkulums der Kapitalismus durch Kapitalbildung, Fernhandel und Großbetriebe, vornehmlich im Bergbau. Die Weltwirtschaft bevorzugte bestimmte Gebiete wegen ihrer geographischen Lage und handelspolitischen Bedeutung, während sie andere wiederum, wie etwa Deutschland, einem ökonomischen Schrumpfungs- und Isolierungsprozeß aussetzte. Großkapital sammelte sich bei führenden Unternehmerfamilien wie den Welsern und Fuggern, die den Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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zeitgenössischen Kapitalmarkt beherrschten und das Montangewerbe finanzierten... In Florenz war seit Beginn des Jahrhunderts das Bankiergeschlecht der Medici zu fürstlichem Rang aufgestiegen. Herzog Cosimo I. (1389 bis 1464) lenkte dreißig Jahre lang die Geschicke des Stadtstaates, in dem dank einer intakten Rechtspflege politische Verbrechen weitgehend ausgeschlossen waren. Er versammelte um sich bedeutende Künstler.« Nach dem Tod des Cosimo-Sohnes Pietro »übernahm der jugendliche Lorenzo il Magnifico (1449-1492), geradezu der klassische Renaissancefürst und ein begabter Gelehrter, Dichter und Kunstmäzen, das Herzogtum.« Im christlichen Osten wurde »die Wende vom Mittelalter zur Neuzeit durch eine Katastrophe weltgeschichtlichen Ausmaßes ausgelöst: durch den Fall von Konstantinopel am 29. Mai 1453... Hatte sich am Aufgang des fünfzehnten Jahrhunderts das Osmanische Reich auf das vordere Kleinasien und einen Landstreifen auf dem Balkan südlich von Serbien und Bulgarien beschränkt, so umfaßte es am Ausgang des Säkulums dank den Eroberungen Mehmeds II. die ganze Balkanhalbinsel mit Serbien, Bosnien und Albanien, zahlreiche Inseln in der Agäis, die Krim, Südrußland, Kleinasien, das östliche Mittelmeer und das Schwarze Meer. Es war zur militärischen Großmacht aufgestiegen und hatte sich wirksam in Europa festgesetzt. Im kommenden Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Jahrhundert sollte es seine Herrschaft immer weiter in den Westen vortreiben und sie gleichzeitig auch in Afrika aufrichten.« (F. Merzbacher) ¤ 83 Privileg für den Aufenthalt der Genuesen in der von Mehmed II. eroberten Stadt Konstantinopel sowie die Gewährung besonderer Rechte für die genuesischen Kaufleute durch den Sultan der Osmanen. Griechische Urkunde mit der Sultanstugra, 1. Juni 1453. London, British Museum ¤ 84 Antonio Pucci, Lorenzo de'Medici und Francesco Sassetti mit seinem Sohn. Aus dem Wandgemälde »Die Bestätigung des Ordens der Franziskaner durch Papst Honorius III. im Jahr 1223« von Domenico Ghirlandaio in S. Trinità in Florenz, 1483 ¤ 85 Eine Seite in der »Imago mundi«, dem um 1410 entstandenen kosmographischen Werk des französischen Kardinals Pierre d'Ailly in einem Druck von 1483 mit Handschriften Bemerkungen von Christoph Kolumbus. Sevilla, Biblioteca Capitular Colombina ¤ 86 Christoph Kolumbus. Medaillon von Guido Mazzoni. Neckarsteinach, Sammlung Dr. R. Gaettens
Das fünfzehnte Jahrhundert brachte »eine neue Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Epoche der Menschheitsgeschichte. Europäer kamen in Übersee mit exotischen Ländern und fremdartigen Menschen in Berührung, bemächtigten sich der Naturschätze und agrarischen und gewerblichen Erzeugnisse jener fernen Räume, unterwarfen sie ihrer Herrschaft und durchdrangen sie mit den Gestaltungen ihres Kulturlebens... Im Jahr 1460 starb Heinrich der Seefahrer, der die Erforschung der afrikanischen Atlantikküste und die Erkundung und Besiedlung der Atlantikinseln organisiert hatte. Zehn Jahre später erreichten die Portugiesen die Guineaküste und begannen, sich der Reichtümer jener afrikanischen Gegenden an Gold, Elfenbein und Pfeffer zu bemächtigen und das lukrative Geschäft des Handels mit Negersklaven zu betreiben. Die Umsegelung des Kaps der Guten Hoffnung durch Bartolomeu Dias im Jahr 1488 öffnete den Weg in den Indischen Ozean und ermöglichte es den Schiffen Vasco da Gamas, im Jahr 1498 Indien zu erreichen. Die Überquerung des Atlantischen Ozeans durch Christoph Kolumbus im Jahr 1492 führte zur Entdeckung Amerikas... Die epochemachende Bedeutung der überseeischen Entdeckungen wurde bereits von den Zeitgenossen empfunden: Erstaunen ergriff die Europäer bei der Kunde von der ungeahnten Mannigfaltigkeit der tropischen Naturlandschaften, von den Seltsamkeiten ihrer Tier- und Pflanzenwelt, von der Beschaffenheit und Lebensart Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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der Menschen jener entfernten Zonen. Die Wißbegier des erkennenden Geistes empfand beglückende Befriedigung in der Erfahrung so vieler neuer Dinge. Man lernte die gesamte bewohnbare Erde als Schauplatz irdischen Lebens begreifen... Das sensationelle Aufsehen, das die großen überseeischen Entdeckungen bei den Zeitgenossen erregten, mochte sich wohl bald legen, und die Vorgänge jenseits der Meere konnten bei den nicht unmittelbar beteiligten Europäern in Vergessenheit geraten. Aber der Fortgang der geschichtlichen Ereignisse sollte Größe und Bedeutung des Entdeckungszeitalters immer stärker zum Bewußtsein bringen.« (R. Konetzke) ¤ 87 Allegorie der Geometrie. Eins der zehn Felder mit den sinnbildhaften Gestalten der Wissenschaften und Künste am Grabmal des Papstes Sixtus IV. in den Vatikanischen Grotten, vor 1493. Bronzerelief von Antonio del Pollaiuolo ¤ 88 Zollstelle am Hafen, ein Treffpunkt für die Kaufleute und Seefahrer. Miniatur zum »Schiffsgericht« in dem 1497 ausgezeichneten Stadtrecht der Hansestadt Hamburg. Hamburg, Staatsarchiv ¤ 89 Das Halsgericht. Miniatur in dem Rechtshandbuch des Rats der Stadt Volkach am Main, 1504. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Volkach, Stadtarchiv Die Unterschiede von Land zu Stadt waren wohl am stärksten im Recht ausgeprägt. Durch königliche Privilegien hatte schon früh das Marktrecht mit seinen Freiheiten die Stelle des Landrechtes eingenommen. Das Marktrecht wurde dann entsprechend den Notwendigkeiten von Wandel und Handel weiter ausgebildet. Einzelne Stadtrechte, etwa das von Lübeck, von Halle und von Magdeburg, breiteten sich weit nach Osten aus. Während von Ort zu Ort und von Fall zu Fall ein anderes Recht bestand, gab es hier ein gemeinsames Recht. Eine Veränderung der Rechtsvorstellung trat im späten Mittelalter ein: der Übergang vom überlieferten zum geschriebenen Recht. »In der Jurisprudenz brach eine Ära an, die den Typ des Rechtsgelehrten formte, den Vielbelesenheit schier erdrückte und dem die königliche Würde des selbständigen Urteils mehr und mehr entglitt. Mit beißendem Spott und unverhüllter Geringschätzung bedachte der italienische Humanistenjurist Francesco Guicciardini diese rezeptiven Vertreter ihres Berufes: ›Die wertvolle Zeit, die sie eigentlich zum Überlegen benützen sollten, vertun sie auf diese Weise beim Nachblättern in Büchern und ermüden damit ihren Körper und Geist, so daß ihre Tätigkeit schließlich mehr einem Handlangerdienst denn einer Wissenschaft gleicht.‹« Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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(F. Merzbacher) ¤ 90 Ein Adliger, ein Bauer und ein Bürger als Lehnsempfänger vor den Mitgliedern der Eichstätter Kurie, dem Fürstbischof Gabriel von Eyb, Dr. Kilian Münch, dem greisen Kanzler Wibolt Fischl und dem Hofmeister des Bischofs, Hieronymus von Rosenberg. Miniatur von Ulrich Taler im Buch der Lehen des Hochstifts Eichstätt, 1497-1503. Nürnberg, Staatsarchiv
Von einem Ort zum andern verschieden waren auch die Berufe, zu denen man freien Zutritt hatte; denn vor dem sechzehnten Jahrhundert war den einzelnen Berufsgruppen noch nicht die Starrheit eigen, die sich dann durch Bestimmungen der Landesherren bildete. Im französischen Beauvais zum Beispiel mußten sich die Handwerker verschiedenen Pflichten unterziehen. Sie zahlten Steuern nicht nur an den Bischof, sondern auch an einige seiner Vasallen, die das Recht, gewisse Abgaben zu erheben, zu Lehen erhalten hatten. Ein Vasall besaß nicht alle Rechte auf ein Stück Land, sein Lehen bestand nicht, zwangsläufig und ausschließlich in Ländereien, sondern in dem Recht, verschiedene Dienstleistungen verlangen und diverse Abgaben erheben zu können. So mußten die Schmiede von Beauvais an den Weihnachtstagen einem der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Vasallen des Bischofs, der mit dem Besitz von Morlaines belehnt war, ein Messer im Wert von vier Denaren abliefern. Im Austausch gegen eine Rente von zwei Scheffeln Getreide, das von den bischöflichen Mühlen zu nehmen war, mußte der Goldschmied seinem Lehnsherrn jedes Jahr, ebenfalls zum Weihnachtsfest, ein Stück aus Gold abliefern und ihm seine Gold- und Silbergegenstände ausbessern. Das sind nur zwei Beispiele, die wir aus den Gerichtsakten einer Stadt kennen, deren Titularabt, Antoine du Bois, den Auftrag für ein Chorgestühl gab, auf dem das Handwerk gewürdigt wird; aber sie sind charakteristisch für das ganze Mittelalter. ¤ 91 Abwiegen eines Handelsgutes auf der Stadtwaage zu Nürnberg. Steinrelief von Adam Kraft, 1497. Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum ¤ 92 Schmied bei der Arbeit. Schnitzerei an den Misericordiasitzen des Chorgestühls aus der ehemaligen Benediktinerabtei Saint-Lucien bei Beauvais, um 1494. Paris, Musée de Cluny ¤ 93 Tischler bei der Arbeit. Schnitzerei an den Misericordiasitzen des Chorgestühls aus der ehemaligen Benediktinerabtei Saint-Lucien bei Beauvais, um 1494. Paris, Musée de Cluny Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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¤ 94 Goldschmied bei der Arbeit. Schnitzerei an den Misericordiasitzen des Chorgestühls aus der ehemaligen Benediktinerabtei Saint-Lucien bei Beauvais, um 1494. Paris, Musée de Cluny ¤ 95 Bildschnitzer bei der Arbeit. Schnitzerei an den Misericordiasitzen des Chorgestühls aus der ehemaligen Benediktinerabtei Saint-Lucien bei Beauvais, um 1494. Paris, Musée de Cluny ¤ 96 Schuhmacher bei der Arbeit. Schnitzerei an den Misericordiasitzen des Chorgestühls aus der ehemaligen Benediktinerabtei Saint-Lucien bei Beauvais, um 1494. Paris, Musée de Cluny ¤ 97 Gerber bei der Arbeit. Schnitzerei an den Misericordiasitzen des Chorgestühls aus der ehemaligen Benediktinerabtei Saint-Lucien bei Beauvais, um 1494. Paris, Musée de Cluny ¤ 98 Die territorialen Mächte des Heiligen Römischen Reiches. Holzschnitt von Hans Burgkmair, 1510. Nürnberg, Staatsarchiv
»Als der neunundsiebrigjährige Friedrich III. am 19. August 1493 die Augen für immer schloß, hatte sich sein Haus die österreichischen Erblande und Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Burgund, aber ebenso die Anwartschaft auf die Kronen Böhmens und Ungarns gesichert. Der neue vierunddreißigjährige Kaiser Maximilian I. trat als glänzende Herrschergestalt – der ›letzte Ritter‹, aber auch ›der ewige Wanderer zwischen Wirklichkeit und Traum‹ (Will Winker) – die Nachfolge des wenig tatkräftigen Vaters an. Geschützwesen, Landsknechte und Kriegskunst beschäftigten ihn ebenso, wie ihn die Künste fesselten. Indes galt sein politisches Hauptinteresse unverkennbar der planvollen Mehrung der Macht seiner Dynastie. Ohnmächtig mußte allerdings auch er zusehen, wie das Heilige Römische Reich in einen nicht mehr zu hemmenden Verfallsprozeß geriet und an die Reichsstände überging.« (F. Merzbacher) ¤ 99 Kaiser Maximilian I. im Jahr seines Todes, 1519. Aus einem Gemälde von Albrecht Dürer. Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum
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X. Europa im Zeitalter der Glaubenskämpfe ¤ 1 »Niemen ist siner Sachen gewüß«. Einblattdruck aus Zürich, 1514/15. Zürich, Zentralbibliothek. Der Holzschnitt und das politische Gedicht verspotten die Vertreter der europäischen Mächte, die um die Weltherrschaft spielen. ¤ 2 Ritterliches Turnier unter dem Patronat Kaiser Maximilians. Wandgemälde von Hans Schäufelein in der Burg Tratzberg in Tirol, um 1510
»Der Weg, den Europa im sechzehnten Jahrhundert zu durchmessen hatte, führte rasch und unaufhaltsam von den politischen und religiösen Lebensformen des Mittelalters fort... Die überlieferte Gemeinsamkeit des kirchlich-religiösen Lebens weicht einem vielgestaltigen Ringen um die wahre Erkenntnis und den rechten Dienst Gottes... Die Reinheit des religiösen Aktes und die Freiheit der personalen Glaubensentscheidung haben in dieser Krise der traditionellen christlichen Einheitskultur geringe Chancen, den Wirkungen und den Versuchungen der politischen Zwangsgewalt zu entgehen. Andererseits gewinnt der Werdeprozeß der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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staatlichen Organismen und das Selbstbewußtsein der Völker aus ihrer Verflochtenheit in das Ringen überstaatlicher Mächte und Ideen formende Impulse... Die Anfänge Karls V. wurzeln in dem Werdeprozeß des nachmittelalterlichen Europa und spiegeln diesen wider. Eine neue Generation von jungen Königen trat damals in Frankreich und England, in Polen und Ungarn, in Spanien und im Reich die Herrschaft an. Während ihrer Regierung mußte es sich entscheiden, wie das Zusammenleben der europäischen Völker in einem Zeltalter aussehen werde, dem die neuen Techniken im Finanz-, Transport-, Kriegs- und Nachrichtenwesen eine Mobilisierung staatlicher Macht und eine Weiträumigkeit politischen Handelns erlaubten, wie es das Abendland noch nie gekannt hatte. Diese jungen Könige hatten von der vorhergehenden Generation vor allem zwei Probleme übernommen, von deren Lösung die Zukunft der europäischen Politik abhing: die burgundische Frage und den Kampf um Italien. Der zukünftige Kaiser wurde am 24. Februar 1500 in Gent geboren, als Sohn des Habsburgers Philipp des Schönen und der Johanna von Kastilien und Aragon, als Enkel Kaiser Maximilians und des spanischen Königspaares Ferdinand und Isabella.« (H. Lutz) ¤ 3 Der junge Kaiser Karl V. Gemälde von Bernart Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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van Orley. Budapest, Magyar Nemzeti Múseum ¤ 4 Papst Julius II. (1503-1515). Kupfermünze. Città del Vaticano, Biblioteca Vaticana, Gabinetto Numismatico
»Italien war seit dem Ende des fünfzehnten Jahrhunderts zum Kampfplatz der großen Mächte geworden. Frankreich erhob Ansprüche auf das Herzogtum Mailand wie auf die Königreiche Neapel und Sizilien. Seine Könige kämpften mit wechselndem Glück auf dem italienischen Boden, dessen Besitz ihnen die europäische Suprematie sichern sollte. Auf der Gegenseite standen Spanien und das Reich. In Spanien, das eben erst durch die Ehe der Herrscher von Kastilien und Aragon zur staatlichen Einheit gefunden hatte, gab es zwei verschiedene Richtungen. Die aragonesische Politik war auf Italien gerichtet und antifranzösisch; ihr gelang im ersten Jahrzehnt des sechzehnten Jahrhunderts die Sicherung Unteritaliens gegen die französischen Angriffe. Kastilien war von alters her profranzösisch. Dies komplizierte System wurde noch bereichert durch die schwankende Politik Maximilians, der die alten Reichsrechte in Oberitalien einmal gegen Venedig und einmal gegen Frankreich zu verteidigen suchte. Ein gewisses Gleichgewicht schien eingetreten, seit einerseits der junge französische Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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König Franz I. 1515 Mailand erobert hatte und andererseits Heinrich VIII. von England als nördlicher Partner von Frankreichs Gegnern in Erscheinung trat... Erasmus von Rotterdam erwies sich als ein sublimer Kenner der politischen Tendenzen der Zeit, wenn er damals mit einem großangelegten Programm europäischer Föderation und Grenzgarantien gegen die Idee einer Monarchia Universalis auftrat und die Pluralität der abendländischen Staatenwelt verteidigte... Aber nicht die brüderliche, sich selbst begrenzende Übereinstimmung der christlichen Fürsten, sondern die unerbittliche Rivalität im Kampf um die europäische Vorherrschaft wurde zum Signum der folgenden Jahrzehnte.« (H. Lutz) »Anfang 1519 starb Karls Großvater, Maximilian, der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches. Er hatte vor seinem Tode die Wahl Karls zu seinem Nachfolger vorbereitet. Aber nun trat als stärkster Kandidat für die Krone des Reiches der französische König auf. Franz I. fand die Unterstützung des Papstes... Im Jahr 1518 hatte Mercurino Gattinara, der piemontesische Staatsmann, das Amt des Großkanzlers übernommen... Im Grunde war dieser italienische Jurist der einzige, der dem Herrscher ein vorwärtsgewandtes Programm der Zusammenfassung und Sinnerfüllung einer ungeheuren, aber weit verstreuten politischen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Erbmasse unterbreitete. Dieses Programm war einfach: Karl ist zur Weltherrschaft berufen, ›um die ganze Welt unter einem Hirten zu vereinigen‹. Der Schlüssel zur Weltherrschaft aber liegt – so mahnte Gattinara den Herrscher – in der Kaiserwürde und im Besitz Italiens... Als sich die deutschen Kurfürsten im Juni 1519 zu Frankfurt am Main versammelten, um dem Reich ein neues Oberhaupt zu bestimmen, zeigte sich rasch, daß habsburgische Finanzkraft und deutscher Reichspatriotismus imstande waren, Karl einen einstimmigen Wahlsieg zu sichern... Jetzt begann sich die Vielfalt europäischer Machtkombinationen immer ausschließlicher um den Pol der habsburgisch-französischen Rivalität zu orientieren. Die nun beginnende Geschichtsepoche der europäischen Staaten und Völker ist reich an anderen Problemen... Aber alle diese Fragen und Entwicklungen, so fundamental und eigenständig sie sein mochten, gerieten irgendwann unter den Einfluß des oben genannten Zentralproblems. Es gab nur einen Bereich des menschlichen Lebens, dessen Geschichtsmächtigkeit sich mit elementarer Kraft gegen und über dieses politische Problem hinweg geltend machte. Es war die intimste und in ihrem Kern weltfernste Sphäre – die Sphäre des religiösen Gewissens, wo der Mensch nach nichts anderem fragte als nach seinem gnädigen Gott.« (H. Lutz) Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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¤ 5 König Franz I. von Frankreich mit seinen Söhnen bei der Vorlesung aus dem Diodor durch den Übersetzer Antoine Macault. Miniatur, um 1532. Chantilly, Musée Condré ¤ 6 Treffen Kaiser Maximilians und König Heinrichs VIII. von England im Jahr 1513. Aus dem Gemälde eines unbekannten Malers. Hampton Court Palace ¤ 7 »Sermon von dem Ablaß und Gnade«. Erste Textseite der Luther-Schrift, 1518. Tübingen, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Staatsbibliothek ¤ 8 »Sermon von dem Ablaß und Gnade«. Letzte Textseite der Luther-Schrift, 1518. Tübingen, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Staatsbibliothek ¤ 9 »Inhalt zweierley Predig«. Einblattdruck mit Versen von Hans Sachs und Holzschnitt von Georg Pencz, 1529. Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Kupferstichkabinett
Nach dem Verzicht auf eine juristische Laufbahn trat Luther in den Augustinerorden ein, wurde 1507 zum Priester geweiht und erhielt 1512 als Doctor Theologiae den Lehrstuhl für Altes und Neues Testament in Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Wittenberg. In den nächsten Jahren erlebte Luther eine innere Wandlung durch den Drang, den Paulus des Römerbriefes zu verstehen. Darüber sagte er 1545: »Da begann ich, die Gerechtigkeit Gottes als eine solche zu verstehen, kraft welcher der Gerechte als ein von Gott Beschenkter lebt, nämlich aus dem Glauben. Und ich verstand, daß dies gemeint sei: es wird durch das Evangelium jene Gerechtigkeit Gottes enthüllt, durch die uns der gnädige Gott Rechtfertigung zuteil werden läßt auf dem Wege des Glaubens.« »Schon in der Römerbrief-Vorlesung von 1515/16 wurden die weitreichenden Folgen der neuen innertheologischen Positionen für die Gesamtheit der kirchlichen und weltlichen Gegenwartsbezüge angedeutet... Die Gedanken wurden zum öffentlichen Ereignis und zum leidenschaftlich diskutierten Politikum, seit Luther im Herbst 1517 gegen die Ablaßpredigt auftrat.« (H. Lutz) ¤ 10 Martin Luther mit dem Doktorbarett. Kupferstich von Lucas Cranach d. Ä., 1521 ¤ 11 Kurfürst Friedrich der Weise von Sachsen, Luthers Landesfürst. Kupferstich von Albrecht Dürer, 1524 ¤ 12 Die Schlacht von Pavia am 24. Februar 1525. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Gemälde eines Unbekannten Künstlers. Hampton Court Palace Rechts die kaiserlichen Truppen, links das Herr Franz' I. ¤ 13 Papst Leo X. Aus einem Gemälde von Raffael, um 1518. Florenz, Uffizien
Die religiöse Krise gipfelte im Wormser Reichstag, auf dem am 18. April 1521 der von Papst Leo X. gebannte Luther seine große Verteidigungsrede mit der Ablehnung des Widerrufs und den Worten »Gott helfe mir, Amen!« schloß. Das Wormser Edikt sprach Luthers Achtung aus. Der Machtkampf zwischen Habsburg und Frankreich führte 1523 zu einem Bündnis zwischen Karl V., Heinrich VIII., Ferdinand von Österreich und italienischen Städten gegen Franz I., der im Jahr 1525 vor Pavia besiegt und gefangengenommen wurde. Die in Deutschland sich erhebenden Bauern, die in ihren »12 Artikeln« gemäßigte Forderungen gestellt hatten, wurden im gleichen Jahr von den einzelnen Landesfürsten niedergeworfen. ¤ 14 Totentanzbild: »Der Bapst«. Memento mori im 16. Jahrhundert. Holzschnitt nach der um 1524 entstandenen Vorzeichnung von Hans Holbein d. J. Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Kupferstichkabinett ¤ 15 Totentanzbild: »Gebeyn aller menschen«. Memento mori im 16. Jahrhundert. Holzschnitt nach der um 1524 entstandenen Vorzeichnung von Hans Holbein d. J. Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Kupferstichkabinett ¤ 16 Totentanzbild: »Der Keyser«. Memento mori im 16. Jahrhundert. Holzschnitt nach der um 1524 entstandenen Vorzeichnung von Hans Holbein d. J. Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Kupferstichkabinett ¤ 17 Totentanzbild: »Der Kauffman«. Memento mori im 16. Jahrhundert. Holzschnitt nach der um 1524 entstandenen Vorzeichnung von Hans Holbein d. J. Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Kupferstichkabinett ¤ 18 Totentanzbild: »Der Richter«. Memento mori im 16. Jahrhundert. Holzschnitt nach der um 1524 entstandenen Vorzeichnung von Hans Holbein d. J. Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Kupferstichkabinett ¤ 19 Totentanzbild: »Der Ritter«. Memento mori im Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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16. Jahrhundert. Holzschnitt nach der um 1524 entstandenen Vorzeichnung von Hans Holbein d. J. Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Kupferstichkabinett Franz I. erklärte nach seiner Freilassung alle Verträge für nichtig und schloß eine Liga mit Papst Clemens VII. und italienischen Städten gegen Karl V. Der Kampf um Italien setzte erneut ein. Meuternde kaiserliche Soldaten durchbrachen am 6. Mai 1527 die römischen Mauern und plünderten und zerstörten die Ewige Stadt, »Der Sacco di Roma bedeutete kulturgeschichtlich das Ende der glänzenden RenaissanceEpoche des päpstlichen Rom. In der Beurteilung des Sacco als eines göttlichen Strafgerichtes, das verdientermaßen über ein verweltlichtes Papsttum hereingebrochen sei, stimmten die Gegner Roms in Deutschland mit der humanistischen Rom-Kritik, die am Hofe des Kaisers verbreitet war, überein. Aber auch in manchen römischen Kreisen, die der Kurie nahestanden, wurde die Katastrophe als ein Mahnruf zur Reinigung und zur Reform der Kirche verstanden.« (H. Lutz) Ein Jahr zuvor war Sultan Suleiman II. unaufhaltsam auf dem Balkan vorgerückt. In der Schlacht von Mohácz brach das Königreich Ungarn zusammen, und die osmanische Gefahr konnte erst 1529 vor Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Wien abgewehrt werden. Der kaiserlichen Diplomatie gelang es, den MediciPapst Clemens VII. durch die Rückführung der Medici in ihre Heimatstadt Florenz auf die Seite des Kaisers zu ziehen. Die letzte Kaiserkrönung fand am 24. Februar 1530 in Bologna statt. Der Reichstag in Speyer von 1529 wandte sich in scharfer Form gegen das protestantische Kirchenwesen. Sachsen, Hessen, Brandenburg, Braunschweig, Anhalt und viele Reichsstädte protestierten und erklärten, in Glaubensfragen keine Mehrheitsbeschlüsse anerkennen zu können. »Während die protestierenden Stände unmittelbar nach dem Reichstag ein erstes politisch-militärisches Bündnis abschlössen und durch das Marburger Religionsgespräch einen Ausgleich der theologischen Differenzen zwischen Zwingli und Luther versuchten, rüstete sich der Kaiserhof, auf dem Augsburger Reichstag 1530 die Glaubensfrage aus seiner Sicht in die Hand zu nehmen. Das Bedeutsame war, daß der Kaiser nicht an das Wormser Edikt anknüpfte, sondern einen Neuansatz im Sinne einer Verständigung mit den gemäßigten Gruppen der Gegenseite versuchte. Aus dieser versöhnlichen Verhandlungsatmosphäre erklärt sich das Verhalten der evangelischen Theologen um Melanchthon. Ihr in Augsburg dem Kaiser überreichtes Glaubensbekenntnis, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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die Confossio Augustana, verstanden sie als einen Beitrag zur Wahrung der Einheit und nicht als eine scharfe Abgrenzung.« (H. Lutz) Der Reichstag endete ergebnislos, und die Lage der Protestanten verschlechterte sich, zumal Karl das kaiserliche Nachfolgerecht seines Bruders Ferdinand durchgesetzt hatte. Die Antwort der Protestanten war die Gründung des Schmalkaldischen Bundes. »Am 27. Februar 1531 wurde in Schmalkalden als abschließendes Ergebnis früherer Verhandlungen jener Bund evangelischer Fürsten und Städte geschlossen... Hier war zum erstenmal das evangelische Bekenntnis ausdrücklich unter den Schutz der Waffen gestellt worden... Die entscheidenden Jahre für Zwingli und für den Weg der Schweizer Reformation liegen nach dem Wormser Reichstag. 1522/23 gewann er mit seinen Anhängern in Zürich die Oberhand. Die städtische Obrigkeit begann in seinem Sinne die Neugestaltung des kirchlichen Lebens in Angriff zu nehmen. In den nächsten Jahren verfolgte Zwingli mit stets wachsender Autorität das Ziel, die Stadt Zürich in ein Modell totaler Verchristlichung aller Lebensbereiche zu verwandeln.« (H. Lutz) ¤ 20 Philipp Melanchthon. Gemälde v. Hans Holbein d. J., 1532 (?). Hannover, Niedersächsische Landesgalerie Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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¤ 21 Huldrych Zwingli. Medaille von Jakob Stampfer. Zürich, Schweizerisches Landesmuseum ¤ 22 Die zwölf Artikel der Bauernschaft. Titelseite des 1525 erschienen Manifests aller aufständisches Bauern mit einem gemäßigten Programm politischer und sozialer Emanzipation ¤ 23 Die zwölf Artikel der Bauernschaft. Artikel 1 und 2 des 1525 erschienen Manifests aller aufständisches Bauern mit einem gemäßigten Programm politischer und sozialer Emanzipation ¤ 24 Titelseite eines Kommentars von Zwingli über das christliche Lehrsystem. 1525. Zürich, Zentralbibliothek ¤ Die Türken in Ungarn. Hilferuf König Ludwigs II. an Erzherzog Ferdinand von Österreich. Brief vom 15. Juli 1526. Wien, Haus-, Hof- und Staatsarchiv ¤ [Rückseite] Der rasche Vormarsch der Türken unter Sultan Suleiman II. – wenn auch seit langem erwartet – hatte den ungarischen Hof aufgeschreckt. Der junge König wußte, daß man bei der inneren Zerrissenheit des Landes keinen wirksamen Widerstand leisten könnte. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Der hier wiedergegebene Hilferuf an Ferdinand, dem Ludwig durch doppelte Verschwägerung eng verbunden war, zeugt von der großen Bedrängnis der Stunde. Entgegen dem bisherigen Kanzleigebrauch geht die Anrede Ferdinands dem Titel des Königs vorauf. Ferdinand sah klar, daß der drohende Zusammenbruch Ungarns auch Österreich schwer gefährdete, doch durch die Wirren der Reformation und Aufstände im eigenen Land waren ihm weitgehend die Hände gebunden. Ein dringendes Schreiben Ferdinands an seinen Bruder Kaiser Karl V. brauchte fünf Wochen, bis es ihn im fernen Granada erreichte. Karl mußte jede Hilfe ablehnen, weil er wegen des neu entbrannten Streites mit Franz I. von Frankreich selbst in Not war. Erst lange nach der Katastrophe in Ungarn erhielt Ferdinand die Antwort, daß eigentlich der Papst »als guter Hirte der Christenheit« zu einem Kreuzzug gegen die Türken aufrufen sollte. Aber in einer Zeit, in der Franz I., der »allerchristlichste König«, mit den Türken paktierte, war ein gemeinsames Vorgehen der Christenheit gegen die Ungläubigen unmöglich. Auf der Flucht nach der mörderischen Schlacht von Mohács (29.8.1526) kam Ludwig II. elend im Sumpf um. Sein Tod ermöglichte es den Habsburgern, Könige von Ungarn zu werden. Fast das Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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ganze Land jedoch blieb rund zweihundert Jahre in der Hand der Türken. [Transkription] Adresse auf der Rückseite Serenissimo principi, domino Ferdmando, infanti Hispaniarum, / archiduci Austrie, duci Burgundie etc., fratri et sororio nostro charissimo. Archivnotizen Mohacs 29. VIII 1526 Hungarica f. 2 15.Juli 1526 Serenissimo principi, domino Ferdinande, infanti Hispaniarum, archiduci Austrie, duci Burgundie etc., fratri et sororio / nostro charissimo, Ludouicus dei gracia rex Hungarie et Bohemie etc. salutem et prosperorum successuum continuum / incrementum. Serenissime princeps, frater et sororie noster charissime: Significavimus serenitati vestre sepius per / literas, et etiam secretarium nostrum, qui etiam nunc apud serenitatem vestram agit, adventum Cesaris Thurcorum / et pericula, que nobis et huic regno nostro immineant. Nunc autem res Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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nostre in extremo discrimine sunt / posite. Nam Cesar Thurcorum cum omnibus viribus suis in regno nostro est, existimamusque iam ab illo / Varadinum Petri oppugnari. Qua arce expugnata, recta huc Budam et contra personam nostram / venire conatur. Rogamus itaque serenitatem vestram enixe, velit pro deo iamtandem rebus nostris afflictis / et in extremo periculo existentibus quam celerrime subvenire. Causas autem, que serenitatem vestram ad / succurrendum nobis inducere deberent, satis abunde per dictum secretarium nostrum serenitati vestre declaravimus. / Si quid enim, quod deus avertat, periculi huic regno nostro contigerit, ilico regna quoque serenitatis vestre in / eodem discrimine erunt. Rogamus etiam serenitatem vestram, velit quam celerrime hec Cesaree Maiestati significare / suamque Maiestatem hortari, ut rebus nostris quam primum subveniat, sedatisque dissidiis, que rursus excitata / inter principes christianos intelligimus, arma in communem nominis christiani hostem convertant. Et miramur / et vehementissime ingemiscimus, tali etiam ac tam difficili tempore nostro ac totius reipublice christiane / non cessari ab intestinis bellis et a sanguine civili. Rogamus per amorem dei vestram serenitatem, ut / agat pro abiectione armorum civilium, agat pro defensione reipublice christiane, que in tanto / discrimine est, ut in Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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maiori nunquam fuerit. Vestram serenitatem felicissime valere optamus. Datum / Bude, XV. iulii, anno domini M.D.XX.VI. Ludovicus Rex manu propria Übersetzung Adresse auf der Rückseite An den gnädigsten Fürsten, Herrn Ferdinand, Infanten von Spanien, Erzherzog von Österreich, Herzog von Burgund usw., Unseren hochgeliebten Bruder und Schwager. Dem gnädigsten Fürsten, Herrn Ferdinand, Infanten von Spanien, Erzherzog von Österreich, Herzog von Burgund usw., unserem hochgeliebten Bruder und Schwager, Ludwig, von Gottes Gnaden König von Ungarn und Böhmen usw., Gruß und beständiges Wachsen glücklicher Erfolge. Gnädigster Fürst, unser hochgeliebter Bruder und Schwager: Wir haben Ew. Gnaden des öfteren in Briefen und auch durch unseren Vertrauensmann, der auch jetzt bei Ew. Gnaden tätig ist, die Ankunft des Türkensultans und die Gefahren Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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gemeldet, die uns und diesem unserem Reiche drohen. Jetzt aber ist unsere Sache in äußerster Bedrängnis. Denn der Türkensultan steht mit all seinen Streitkräften in unserem Königreich, und wir nehmen an, daß Peterwardein von ihm belagert wird. Wenn diese Festung erobert ist, versucht er geradeswegs nach Ofen und gegen uns selbst zu kommen. Wir bitten daher inständig, Ew. Gnaden möge um Gottes willen nun endlich unserer Sache, die darniederliegt und in äußerster Gefahr schwebt, möglichst rasch zu Hilfe kommen. Die Gründe aber, die Ew. Gnaden veranlassen sollten, uns zu helfen, haben wir Ew. Gnaden genügend ausführlich durch unseren erwähnten Vertrauensmann klargelegt. Wenn nämlich – was Gott verhüten möge – diesem Reich etwas Gefährliches zustoßen sollte, so werden sofort auch die Reiche von Ew. Gnaden in derselben Gefährdung stehen. Wir bitten Ew. Gnaden auch, dieses schnellstens der Kaiserlichen Majestät mitzuteilen und Ihre Majestät zu ersuchen, unserer Sache möglichst bald zu Hilfe zu kommen, und nach Schlichtung der Zerwürfnisse, die, wie wir hören, erneut unter den christlichen Fürsten aufgeflammt sind, sollen diese die Waffen gegen den gemeinsamen Feind des christlichen Namens wenden. Wir sind verwundert und beklagen es Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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zutiefst, daß man auch in so schlimmen und für uns und die ganze Christenheit schwierigen Zeiten nicht aufhört mit dem inneren Zwist und Blutvergießen an Mitbürgern. Wir bitten Ew. Gnaden bei der Liebe Gottes, tätig zu sein für das Niederlegen der Waffen gegen Mitbürger, tätig zu sein für die Verteidigung der Christenheit, die in einer Gefahr schwebt, wie sie bisher nie größer war. Wir wünschen, Ew. Gnaden möge es mit bestem Erfolg wohl ergehen. Gegeben zu Ofen am 15. Juli im Jahre des Herrn 1526. König Ludwig eigenhändig ¤ 25 Erste Seite aus Luthers vollständiger Bibelübersetzung. Wittenberg, 1534 ¤ 26 König Heinrich VIII. von England mit seinem Hofnarren Will Sommers. Miniatur aus einem Psalter. London, British Museum
»Heinrich VIII. von England verkörperte den Weg des Inselreiches zu einer führenden Macht im europäischen Kräftespiel. Der wirtschaftliche Aufstieg des Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Mittelstandes hatte die Stellung des Königtums gegenüber dem hohen Adel und dem Episkopat gestärkt. In der Gestalt des Kardinals Wolsey verkörperte sich die neue Form der Tudormonarchie: Wolsey war königlicher Kanzler und päpstlicher Legat für den Gesamtbereich der englischen Kirche. So bedeutete die Tätigkeit dieses Diplomaten und Staatsmannes eine Konzentration politischer und kirchlicher Macht zu Händen des Königs, die schon ganz unmittelalterlichen Charakter hatte... Außenpolitisch gesehen konnte England in wechselnden Allianzen die Rolle des begehrten Bundesgenossen, des ›Züngleins an der Waage‹ spielen... Als Luthers Predigt über die Grenzen Deutschlands hinauszudringen begann, traf sie in England auf einen weitverbreiteten Antiklerikalismus in den Mittelschichten... Aber die große Wendung der Humanisten zu Luther blieb in England aus... Die Krise im Verhältnis zur Papstkirche kam auf einer ganz anderen Ebene zum Durchbruch als in Deutschland. Das Schisma Englands wurde durch die Frage der Ehescheidung des Königs herbeigeführt.« Von den Kindern seiner ersten Gemahlin, Katharina von Aragon, lebte nur Maria, die spätere Königin. »Die Hoffnung auf einen männlichen Thronerben schwand. Seit 1525 erfaßte den König eine Leidenschaft zu einer sehr schönen, jungen Gesellschafterin seiner Frau mit Namen Anne Boleyn, deren Familie den Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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offenkundigen Sachverhalt zu höheren Zwecken auszunützen beabsichtigte... Der einfachste Ausweg bot sich in einer kirchenrechtlich zu begründenden Annullierung der Ehe mit Katharina... Während der König ungeduldig wurde, zog die Affäre immer weitere Kreise. Heinrich VIII. zögerte durchaus, den Bruch mit der Autorität des Papstes zu wagen... Gleichzeitig wurde das Parlament zur Einschüchterung des einheimischen Episkopats und des Papstes aktiviert... Auf die geheime Trauung mit dem König im Januar 1533 folgten rasch die öffentlichen Entscheidungen: Parlamentsbeschluß gegen jeden Appell an den Papst, Urteil des Erzbischofs als des höchsten kirchlichen Richters in England: Die erste Ehe des Königs sei ungültig, die zweite gültig; feierliche Krönung der neuen Königin und wenige Monate später die Geburt der Prinzessin Elisabeth.« Die Suprematsakte von 1534 machte den König und seine Nachfolger zum Haupt der englischen Kirche. »Eine entschiedene Entwicklung im Sinne der protestantischen Lehre setzte aber erst nach dem Tode Heinrichs VIII. ein, als für den minderjährigen Eduard VI. eine Vormundschaftsregierung amtierte, die dem neuen Glauben zuneigte... Englands Kirche ging weiter ihren eigenen Weg. Selbst die vorübergehende Wiedervereinigung mit Rom in den Jahren 1554/59 unter Maria hat die Eigengesetzlichkeit dieses Weges nicht abgeschwächt, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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sondern eher akzentuiert.« (H. Lutz) ¤ 27 Anne Boleyn, die zweite Gemahlin Heinrichs VIII. Gemälde eines unbekanntes Malers. London, National Portrait, Gallery ¤ 28 Der Neubau der Peterskirche in Rom nach dem Entwurf von Bramante mit den Resten der alten Kirche. Zeichnung von Marten van Heemskerk, um 1534. Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Kupferstichkabinett ¤ 29 Das Kapitol in Rom mit dem Senatorenpalast (Mitte), dem Palazzo Nuovo, dem Konservatorenpalast und dem Reiterstandbild des Mark Aurel nach dem Entwurf von Michelangelo ¤ 30 Eine Seite aus dem »Tagebuch« des Iñigo de Loyola, 1544. Rom, Archiv der Gesellschaft Jesu ¤ 31 Die Totenmaske des Iñigo de Loyola († 1556). Rom, Kurie des Ordensgenerals
»Aus der Unmittelbarkeit der religiösen Erfahrung, die Loyola von Anfang an auszeichnete, formte er im Laufe der Jahre eine überindividuelle Ordnung: Sie wendet das introvertierte, mittelalterliche Motiv der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Verachtung der Welt und des Sieges über das Irdische um Gottes willen in ein Pathos der gottgewollten, extravertierten Aktivität. Die Grundzüge wie die psychologischen und soziologischen Wege dieser Ordnung sind in dem Exerzitienbuch und in der Ordensregel enthalten... Forderung wie Führung entspringt aus versenkender Selbstanalyse und aus der Hingabe an die im Befehl des Oberen vernehmbare göttliche Stimme.« (H. Lutz) Der im Jahr 1534 gewählte Papst Paul III. »regierte die Kirche fünfzehn Jahre lang und sicherte die Grundlagen für jene innere Erneuerung, die in den folgenden Jahrzehnten das Gesicht der katholischen Welt kraftvoll prägen sollte... Für Paul III. standen die einzelnen Aspekte der innerkatholischen Reformbewegung von Anfang an in engster Verbindung mit dem zentralen Problem seines Pontifikats, mit der Veranstaltung des seit Luthers erstem Auftreten geforderten Generalkonzils... Das Konzil konnte nur gelingen, wenn die beiden katholischen Großmächte sich aussöhnten und dem Papst zur Seite standen... Der Papst suchte zu vermitteln; er versuchte im April 1536 in einem Zusammentreffen mit dem von Tunis über Sizilien nach Rom gekommenen Kaiser den Frieden der Christenheit zu retten und damit das Zustandekommen des Konzils zu sichern... Der Krieg griff, trotz fortgesetzter Ausgleichsversuche, immer weiter Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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um sich.« Da keine Einigung über den Konzilsbeginn zu erzielen war, »hatte der Kaiser inzwischen einen anderen Weg beschritten, um die Wiedervereinigung herbeizuführen. Mit Duldung und Unterstützung der Kurie begann der Kaiserhof das Experiment einer außerkonziliaren Verständigung mit den Anhängern Luthers... Das Jahrzehnt, das auf die Übergabe der Confessio Augustana folgte, hatte in den Staaten des nördlichen Europa und in Deutschland der Reformation große Fortschritte gebracht. Der Schmalkaldische Bund wurde stärker.« Im Jahr 1543 begann erneut der Krieg mit Frankreich. »Es kam darauf an, ob die Reichsstände dem Kaiser gegen Frankreich helfen würden. Das war der Inhalt der Verhandlungen auf dem Speyerer Reichstag. Die evangelischen Fürsten und Städte stellten Gegenforderungen, Sie verlangten Parität ›beider Religionen‹ Karl kam den evangelischen Forderungen weit entgegen.« (H. Lutz) ¤ 32 Die Schrift des Kopernikus »De revolutionibus orbium coelestium«. Nürnberg, 1543 ¤ 33 Die Schrift des Kopernikus »De revolutionibus orbium coelestium«. Nürnberg, 1543 ¤ 34 Papst Paul III. Aus einem Gemälde von Tizian, 1543. Neapel, Gallerie Nazionali di Capodimonte Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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¤ 35 Die Unterwerfung der protestantischen Städte unter Karl V. nach der Schlacht von Mühlberg im Jahr 1547. Holzrelief, 1560-1570. Wien, Kunsthistorisches Museum ¤ 36 Siegel Karls V. nach seinem Sieg über den Schmalkaldischen Bund bei Mühlberg im Jahr 1547. Düsseldorf, C. G. Boerner
Nach seinem Sieg über Frankreich (Friede von Crépy 1544) war Karl V. zur Wiederherstellung der religiösen Einheit mit allen Mitteln entschlossen. Paul III. half mit Geld und Truppen. »Nach dem Verlust Süddeutschlands bildete im Frühjahr 1547 Kursachsen den Kern des Widerstandes. Unter der persönlichen Führung des Kaisers griffen seine Truppen den sächsischen Kurfürsten an der Elbe an. Am 24. April wurde Johann Friedrich bei Mühlberg geschlagen und gefangengenommen... Die Häupter der protestantischen Partei befanden sich wehrlos in der Hand des Kaisers... Karl strebte eine vorgängige Beratung und Beschlußfassung zur Kirchenreform an; die militärisch unterworfenen Protestanten sollten durch die Teilnahme an einem Reformkonzil für die kirchliche Einheit zurückgewonnen werden.« (H. Lutz) Trotz seines Sieges sah Karl seine Pläne für die Nachfolge in den einzelnen Ländern der Monarchie schwinden, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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ebenso die Lösung der Religionsfrage. Der Augsburger Reichstag endete mit einem »immerwährenden« Religionsfrieden, Karl dankte ab, die Aufteilung des Weltreiches war bei seinem Tod im Jahr 1558 vollzogen. Sein Bruder Ferdinand erhielt die Kaiserwürde mit den österreichischen Erblanden, sein Sohn Philipp die Niederlande, Spanien, die Freigrafschaft Burgund, die italienischen Besitzungen und das Kolonialreich in Amerika. ¤ 37 Antonio de Mendoza, der erste Vizekönig von Neuspanien (Mexiko) beim Empfang eines Mönches. Miniatur in einer Beschreibung von Yukatán, 16. Jahrhundert. Escorial, Biblioteca del Monasterio ¤ 38 Philipp (II.) als König von England und Infant von Spanien. Goldsiegel. Città del Vaticano, Archivio Segreto Vaticano ¤ 39 Indien, Hinterindien und der indonesische Archipel. Karte in einem Portolan von Diego Homem, 1558. London, British Museum
»Die Siege des Herzogs von Alba vor den Toren Roms und des Herzogs von Savoyen bei St. Quentin und Gravelingen setzten dem jahrzehntelangen Kampf um Italien und um die burgundische Erbschaft ein Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Ende. Heinrich II. von Frankreich und Philipp II. einigten sich unter dem Zwang der finanziellen Erschöpfung im Frieden von Cateau-Cambrésis (1559). Frankreich verzichtete auf seine Positionen und Ansprüche in Italien, das nun ganz dem spanischen Machtbereich zugehörte und Spaniens Vorherrschaft in Süd- und Westeuropa sicherte. Dafür stabilisierte Heinrich II. seine Ost- und Nordgrenze... Philipp II. hatte von Karl V. den festen und unverbrüchlichen Anspruch geerbt, daß seine Politik ausschließlich dem Gemeinwohl der katholischen Christenheit diene... Aus der im Ödland neu geschaffenen Hauptstadt Madrid drängte es den König fort zu einer noch ausschließlicheren Darstellung seiner Staatskonzeption. Am Südhang der Sierra de Guadarrama ließ er seit 1561/63 in Erfüllung eines Gelübdes, das auf den Sieg von St. Quentin zurückging, ein ungewöhnliches Bauwerk errichten... In der monumentalen Zusammenfassung von Leben und Tod, Macht und Andacht, Weltflucht und Herrscherstolz ist der Escorial bis heute das sprechendste Zeugnis dessen, was Philipp II. war und wollte... Ohne Zweifel hat die Regierung Philipps II. und seine gegenreformatorische Politik Spaniens Wirtschaft und Sozialstruktur in krisenhafter Weise beeinflußt. Der starke Zufluß an Edelmetallen aus den amerikanischen Gruben führte nicht zu einer Gesundung der Finanzlage des Staates... Die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Verfolgung und Bedrückung der maurischen Restbevölkerung in Südspanien, die 1609 mit ihrer Austreibung nach Afrika abgeschlossen wurde, wirkte ebenfalls als Element des wirtschaftlichen Niedergangs... Ganz anders wird das Bild des spanischen Lebens, wenn man nach der kulturellen und religiösen Entfaltung jener Zeit fragt. Die mitreißende Kraft des politischen Engagements in Europa und Übersee spiegelte sich auf mannigfaltige Art in einem hochgespannten Sendungs- und Selbstbewußtsein. Der offenbare Kontrast zwischen Sein und Sollen, zwischen Anspruch und Gelingen wurde zum Hintergrund einer ebenso kraftvollen wie eigengeprägten Literatur. Die religiöse Mystik der Teresa von Avila, die Gemälde eines El Greco, die dramatische und epische Gestaltungskraft eines Calderón oder Cervantes sind zeitlos gültige Zeugnisse der menschlichen und künstlerischen Möglichkeiten innerhalb der Monarchia Hispanica.«(H. Lutz) ¤ 40 Der Escorial. Kloster, Palast und Grabstätte der spanischen Könige, 1563-1584 ¤ 41 Kaiser Karl V. Gemälde von Tizian, 1548. München, Bayerische Staatsgemäldesammlung ¤ 42 Deutsche Spielkarte nach einem Holzschnitt Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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von Hans Leonhard Schäufelein, um 1530. Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Kupferstichkabinett ¤ 43 Deutsche Spielkarte nach einem Holzschnitt von Hans Leonhard Schäufelein, um 1530. Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Kupferstichkabinett ¤ 44 Deutsche Spielkarte nach einem Holzschnitt von Hans Leonhard Schäufelein, um 1530. Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Kupferstichkabinett ¤ 45 Deutsche Spielkarte nach einem Holzschnitt von Peter Flötner, um 1545. Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Kupferstichkabinett ¤ 46 Deutsche Spielkarte nach einem Holzschnitt von Peter Flötner, um 1545. Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Kupferstichkabinett ¤ 47 Deutsche Spielkarte nach einem Holzschnitt von Peter Flötner, um 1545. Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Kupferstichkabinett ¤ 48 Deutsche Spielkarte nach einem Stich von Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Virgil Solis, 1544. Bielefeld, Deutsches Spielkartenmuseum ¤ 49 Deutsche Spielkarte nach einem Stich von Virgil Solis, 1544. Bielefeld, Deutsches Spielkartenmuseum ¤ 50 Deutsche Spielkarte nach einem Stich von Virgil Solis, 1544. Bielefeld, Deutsches Spielkartenmuseum
Nach der zweiten Sitzungsperiode des Konzils von Trient (1551/52) hatten sich die Verhältnisse in Europa verändert. »Seitdem hatten die reichsrechtliche Sicherung der deutschen evangelischen Landeskirchen, die Neubegründung der anglikanischen Kirche durch Königin Elisabeth und das erfolgreiche Auftreten der Hugenotten in Frankreich neue Züge in die europäische Konfessionskarte gebracht. Aber nicht nur die Ausdehnung des Protestantismus, sondern vor allem seine resolute und durchgehende Absage an die päpstlichen Konzilswerbungen 1560/61 bezeichneten die neue Lage der verschärften Abgrenzung. Es gab auch jetzt noch Gruppen, die den edlen ›Traum der Verständigung‹ nicht aufgeben wollten. Aber die kirchliche Wirklichkeit war von schärferen Tendenzen bestimmt: Konzentration und Mobilisierung der Kräfte, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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dogmatische Klärung, Überwindung hemmender Mißstände war das Gebot der Stunde... So konnte das Konzil am 4. Dezember 1563 in Übereinstimmung zwischen der Kurie und den katholischen Mächten geschlossen werden. Sein Werk war die Erneuerung und Festigung der katholischen Kirche... Die religiösen Formkräfte, die von Trient ausgingen, wirkten auf Rom und von dort aus auf die Welt. Die tiefe Veränderung, die das Angesicht der Ewigen Stadt in den folgenden Jahrzehnten erfuhr, war ein sichtbares Zeichen eines sehr viel allgemeineren Vorganges... Die Solidarität der christlichen Mächte gegenüber dem Islam war seit dem 15. Jahrhundert ein Ziel, das die päpstliche Politik um so weniger aus dem Auge verlor, je unmittelbarer auch die Küsten Italiens von der türkischen Expansion im Mittelmeerraum bedroht waren... Im Sommer 1571 vereinigten sich die Seestreitkräfte Spaniens, Venedigs und des Papstes in Messina unter dem Oberbefehl des Don Juan d'Austria. Am 7. Oktober traf die christliche Flotte mit der Kreuzesfahne am Mast in der Bucht von Lepanto auf die zahlenmäßig überlegenen türkischen Seestreitkräfte. Die größte Seeschlacht des sechzehnten Jahrhunderts endete mit einem entschiedenen Sieg der christlichen Waffen.« (H. Lutz) ¤ 51 Predigt des päpstlichen Nuntius vor Kaiser Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Ferdinand I. in der Wiener Augustinerkirche im Jahr 1560. Gemälde von Jakob Seisenegger, 1561. Wien, Graf Harrach'sche Gemäldegalerie ¤ 52 Einberufung der dritten Sitzungsperiode des Konzils von Trient durch Papst Pius IV. vom 29. November 1560. Città del Vaticano, Archivio Segreto Vaticano ¤ 53 Turnier im Bevedere-Hof des Vatikans am 5. März 1565. Aus einem Gemälde eines unbekannten Malers. Rom, Museo di Roma ¤ 54 Johannes Calvin. Zeichnung des Studenten Bourgouin in Genf, um 1564. Genf, Bibliothèque Publique et Universitaire
»Calvins theologisches Denken wie sein organisatorisches Wirken beruhten auf einer entschlossenen Folgerichtigkeit in der Auswertung dessen, was er an Erfolgen und Mißerfolgen der vorausgegangenen Generation von Reformatoren beobachtet halte. ›Wir sind berufen – nicht gemäß unseren Tugenden, sondern gemäß der Wahl und der Gnade Gottes‹... Die Eindeutigkeit der göttlichen Berufung wird für Calvin zum Schlüssel für eine Sicherheit im Aufbau und in der verantwortlichen Leitung der Gemeinden, wie sie Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Luther nie gekannt hat... Schon in den letzten Jahren der Regierung Heinrichs II., mit Katharina von Medici vermählt, hatte der französische Protestantismus große Fortschritte gemacht... Am königlichen Hof gab es zwei Parteien, auf der einen Seite stand die streng katholische Gruppe der Prinzen aus dem Hause Lothringen-Guise... Ihnen stand gegenüber die Gruppe der ›Prinzen von Geblüt‹ aus dem Hause Bourbon, einer Seitenlinie der Valois... In enger Verbindung mit ihnen standen die Brüder Châtillon, einer von ihnen, der Admiral Gaspard de Coligny, bekannte sich früh und offen zu Calvin... Der Verlauf der drei Hugenottenkriege, die Frankreich zwischen 1562 und 1570 verwüsteten, ist gekennzeichnet durch den fortschreitenden Verfall der Zentralgewalt, durch das immer stärkere Hereinwirken der außerfranzösischen Kräfte und durch die Fanatisierung und Verhärtung des Kampfes. Ein gewisser Haltepunkt schien 1570 erreicht, als es Coligny gelang, in dem königlichen Edikt von St. Germain weitgehende kirchliche und politische Zugeständnisse für seine Glaubensgenossen zu erhalten... Die neue Politik und Position Colignys wurde von Katharina als bedrohlich empfunden... Am 22. August 1572 ließ die Königinmutter das Attentat auf Coligny ausführen, der aber nur verwundet wurde... Katharina aber ließ sich angesichts der Gefahr völliger Entmachtung zum äußersten hinreißen. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Sie gewann ihren Sohn, König Karl IX., dafür, alles auf eine Karte zu setzen – auf die Karte des Massenmordes. In der Bartholomäusnacht (vom 23. zum 24. August) wurden zunächst fast alle in Paris anwesenden Hugenottenführer – auch Coligny – ermordet. Darauf folgte die organisierte Hetzjagd eines fanatisierten Pöbels auf die Ketzer, der in Paris etwa dreitausend, in den Provinzen etwa zehntausend Menschen zum Opfer fielen... Es zeigte sich rasch, daß das Blutbad vom August 1572 nicht den Zusammenbruch, sondern einen neuen Aufschwung des französischen Protestantismus zur Folge hatte... Karl IX. starb 1574. Ihm folgte sein Bruder Heinrich III., auch dieser kränklich und degeneriert wie alle Söhne der Katharina von Medici; der nächste Erbberechtigte war Heinrich von Navarra, ein Bourbone und der führende Kopf der Hugenotten.« Die schwankende Haltung Heinrichs III. stärkte Navarras Stellung. »Zuletzt ließ der König – im Wahn, seine Handlungsfreiheit dadurch zurückgewinnen zu können – den Herzog von Guise und dessen Bruder, den Kardinal Louis von Guise, heimtückisch ermorden. Der Kardinal von Bourbon wurde gefangengesetzt. In diesem wechselvollen Ablauf spiegelte sich deutlich der Umschwung der öffentlichen Meinung zur positiven Reaktion auf die englisch-protestantische Selbstbehauptung.« (H. Lutz) Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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¤ 55 Die Gründung der Liga gegen die Türken durch Papst Pius V. am 20. Mai 1571. Gemälde auf dem Rechnungsbuch (Biccherna) der Stadt Siena für das Jahr 1571. Siena, Archivio di Stato ¤ 56 Die Seeschlacht von Lepanto, 1571. Malerei in einer Handschrift des Augsburger Landsknechtsführers Sebastian Schertlin, 1570-77. Erlangen, Universitätsbibliothek ¤ 57 »Der Sturz des großen Topfes«. Französisches, antikatholisches Flugblatt, 1585. Paris, Bibliothèque Nationale ¤ 58 Admiral Gaspard de Coligny. Gemälde eines italienisches Künstlers. Dresden, Staatliche Kunstsammlungen, Gemäldegalerie ¤ 59 Die auf Befehl Heinrichs III. ermordeten Brüder Henri und Louis von Guise. Kolorierter Holzschnitt. Paris, Bibliothèque Nationale ¤ 60 Lamoral, Graf von Egmont. Zeitgenössischer Kupferstich. Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Kupferstichkabinett ¤ 61 Wilhelm I. von Oranien. Aus einem Gemälde Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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von Antonis Mor, 1555. Kassel, Staatliche Gemäldesammlung ¤ 62 Vertreibung der Spanier aus einer niederländischen Zitadelle. Bleiplakette, vor 1600. Oldenburg, Landesmuseum für Kunst- und Kulturgeschichte
Nach der Machtübernahme durch Philipp II. in den Niederlanden suchte Madrid, die Provinzen durch eine straffe Regierungsform zusammenzufassen. Die Gouverneure opponierten, »Hoorne und Egmont waren keine Protestanten, sie wandten sich jedoch gegen die zunehmende Schärfe der Ketzerverfolgung... Im Sommer 1566 entlud sich die aufgestaute Spannung in wilden Tumulten, die mit Bildersturm und Plünderung das Land aufstörten... Philipp II. griff seinerseits zu radikalen Mitteln und ließ im Sommer 1567 seinen besten General, den Herzog von Alba, in die Niederlande rücken... Der Weg, den Alba einschlug, kannte kein Zurück. Seiner blutigen Strafjustiz fielen Tausende zum Opfer; Hoorne und Egmont ließ er öffentlich enthaupten.« In Wilhelm von Oranien erwuchs dem Lande der Freiheitskämpfer. »Sein eigentliches Programm überkonfessioneller Sammlungspolitik gab Oranien nie auf; es war die bleibende Voraussetzung seines Zieles, die Gesamtheit der Niederlande – und nicht nur ihren nördlichen Teil – zur Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Freiheit zu führen... Der Fortgang des Kampfes in den achtziger Jahren zeigte immer deutlicher, daß sich – unabhängig von den Einzelergebnissen des militärischen Ringens – in den Niederlanden zwei Kraftzentren gebildet hatten, deren Gegensatz sowohl kirchlich wie politisch und sozial bedingt war. Der Süden stand unter dem Einfluß der katholischen Reform und der aristokratischen Gesellschaftskultur der alten Welt. Die gegen Spanien kämpfenden Provinzen boten das Bild eines Gemeinwesens, das sich nach entgegengesetzten Prinzipien entwickelte... So eng diese Entwicklungen hier mit der katholischen und dort mit der calvinistischen Gläubigkeit der führenden Schichten verbunden waren, so unentschieden mußte um die Mitte der achtziger Jahre das zukünftige Verhältnis der beiden Teile des Landes zueinander erscheinen. Wilhelm von Oranien wurde am 10. Juli 1584 zum Opfer eines politischen Mordes... Das von Königin Elisabeth entsandte Expeditionskorps unter Graf Leicester brachte nur wenig Entlastung... Nicht auf niederländischem Boden, sondern in Frankreich und an den Küsten Englands fielen die Würfel über das zukünftige Verhältnis der spanischen Macht und des katholischen Glaubens zur protestantischen Welt.« (H. Lutz) ¤ 63 Beschluß eines Kriegsrates der englischen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Befehlshaber gegen die spanische Armada vom 1. August 1588. London, British Museum ¤ 64 Königin Elisabeth I. von England. Medaillon, 1589. London, British Museum
»Der englische Staat hatte als insulare Vormacht des Protestantismus an der Neugestaltung der europäischen Staatenwelt bedeutenden Anteil.« Elisabeth, seit 1558 Königin von England, »hatte aus dem Fiasko ihrer Vorgängerin (Maria) gelernt, vor allem aus dem Haß, den die spanische Ehe und die gewaltsame Religionspolitik erzeugt hatten... Elisabeth war persönlich wenig an den theologischen und kirchlichen Streitfragen der Zeit interessiert... Wenn sie nun einen mittleren Weg einschlug, so bedeutete dies zunächst den Bruch mit Rom... Ihr erstes Parlament beschloß im Frühjahr 1559 die ›Suprematsakte‹ und die ›Uniformitätsakte‹: Die Königin wurde als ›oberster Leiter in allen geistlichen und kirchlichen Dingen‹ bezeichnet; Klerus und Beamtenschaft wurden zur Eidesleistung auf die Suprematsakte verpflichtet.« In Schottland regierte seit 1561 Maria Stuart. Durch persönliche Schuldverstrickung geriet sie in die Gefangenschaft des Adels, floh nach England und wurde 1587 hingerichtet. »Ohne Philipp II. zu Rate zu ziehen, erließ Papst Pius V. 1570 die Bulle Regnans in Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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excelsis: Elisabeth, die ›angemaßte Königin von England und ihr ketzerischer Anhang‹ sei der Strafe der Exkommunikation verfallen. Das bedeutete gleichzeitig den Verlust der Thronrechte und die Exkommunikation für alle Untertanen, die Elisabeth weiterhin als Königin anerkannten... Für die englischen Katholiken begann nun die Zeit der Verfolgung und der Blutopfer... Die Veränderungen im staatlichen und gesellschaftlichen Leben Englands waren so tief, daß sich auch die katholische Minderheit dem allgemeinen Prozeß der Umformung nicht entziehen konnte... Im Gegensatz zu den Tendenzen des festländischen Absolutismus handhabte die Königin die Kronrechte zwar in energischer Form; aber sie betrachtete das Parlament nicht als Hindernis, sondern als Instrument einer starken monarchischen Gewalt... Die Ausfahrt der spanischen Armada zur Niederwerfung der ketzerischen Königin Englands erfolgte im Sommer 1588... Unter dem Kommando des Herzogs von Medina Sidonia segelte die ›unbesiegbare Flotte‹ der englischen Südküste entgegen, wo sich innerhalb weniger Tage ihr Schicksal entschied. Bessere Ortskenntnis, Segeltechnik und artilleristische Ausrüstung sicherten den englischen Seestreitkräften die Überlegenheit... In Paris und Rom waren Siegesnachrichten verbreitet worden. Desto nachhaltiger war nun die Wirkung der Niederlage.« (H. Lutz) Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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¤ 65 Das Religionsgespräch von 1601 zu Regensburg zwischen jesuitischen und protestantischen Theologen. Miniatur. Regensburg, Museum ¤ 66 Guy Fawkes und die katholischen Teilnehmer an der Pulververschwörung in London im Jahr 1605. Kupferstich von C. van de Passe, 1605
Die letzten Jahrzehnte des sechzehnten Jahrhunderts waren erfüllt von dem Ringen um den Sieg des katholischen Glaubens in Frankreich über die Hugenotten. In steigendem Maße griff Philipp II. in diesen Kampf auf Seiten der katholischen Liga ein, während England die Protestanten unterstützte. Nach dem Tode zweier französischer Könige nahm Heinrich III. eine versöhnliche Haltung gegen die Hugenotten ein, er wurde, nachdem er sich mit Heinrich von Navarra, dem Thronanwärter, gegen die katholische Liga verbündet hatte, ermordet (1589). In dem diplomatischen Ringen zwischen Philipp II., der Kurie und der französischen Liga, in dem Spanien eine katholische Hegemonie in Europa anstrebte, entschied sich Sixtus V. für Heinrich von Navarra, der nach Siegen über die Liga 1593 zum katholischen Glauben übertrat. »Seine Motive waren politisch; nur auf diesem Wege konnte die staatliche Einheit Frankreichs gerettet werden, 1594 wurde der König zum Rex christianissimus Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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gesalbt. Er konnte in das bis dahin von spanischen Truppen besetzte Paris einziehen. 1595 folgte die feierliche Absolution durch Papst Clemens VIII. Der Niederlage Philipps II. in Frankreich folgte mit unerbittlicher Logik der Gegenangriff Heinrichs IV., der sich bedenkenlos mit England und den Niederländern gegen Spanien verbündete... Die neue Monarchie Heinrichs IV. durchbrach auch in der europäischen Politik sogleich das konfessionelle Prinzip und kämpfte unter rein politischen Vorzeichen gegen das katholische Spanien... Der französische König gewährte im Edikt von Nantes (13.4.1598) den Hugenotten eine gesicherte Rechtsstellung und weitgehende Freiheit des protestantischen Gottesdienstes. Auf der Basis konfessioneller Duldung begann ein wirtschaftliches und administratives Aufbauwerk großen Stils, das von dem starken und planenden Willen des Königs durchpulst war. Die Krongewalt allein war imstande, die fürchterlichen Wunden der Bürgerkriegszeit zu heilen. Die Katholiken – Laien und Klerus – wirkten in diesem Neuaufbau loyal und bereitwillig mit den Protestanten und der Krone zusammen.« (H. Lutz) In England hatte nach Elisabeths Tod (1603) mit Jakob I. das Haus Stuart den Thron bestiegen. »Jakob I. und sein Sohn mußten die schmerzliche Erfahrung machen, daß sich hinter dem äußeren Glanz der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Tudormacht eine sehr viel weniger erbauliche Realität verbarg.« (I. Roots) Der neue König war bemüht, die Freundschaft mit Spanien zu pflegen. ¤ 67 Die Ermordung Heinrichs IV. von Frankreich durch Ravaillac und die Hinrichtung des Mörders im Jahr 1610. Volkstümlicher Stich. Paris, Musée Carnavalet
»Das sechzehnte Jahrhundert hatte zwei große Friedensschlüsse zwischen den streitenden Konfessionen erlebt: den von Augsburg, 1555, und das Edikt von Nantes, 1598. Dieses ging weiter auf dem Weg der Toleranz als der deutsche Kompromiß, beruhte aber, wie jener, mehr auf einer praktischen Auseinandersetzung als auf einem geistigen Prinzip... Heinrich IV., der ehemalige Protestant, dem religiöser Fanatismus fremd war, machte keinen Hehl daraus, daß er die ungeheure Konzession als ein für den endlich errungenen inneren Frieden notwendiges Übel ansah, welches er, wenn er könnte, wieder abschaffen würde... Die Quelle aller Ordnung in Frankreich, sagte er, sei die Autorität des Fürsten. Daher die militärische, die finanzielle Macht, die er so emsig aufgebaut und die ihn, nach ihm seinen Sohn, absolut machen müsse. Daher auch dürfte es im Land auf die Dauer nur eine Religion geben, welche, so wie die Dinge einmal Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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lagen, nur die katholische sein konnte. Er nehme Protestanten wie Katholiken in seinen Dienst, er lasse ihnen alle Gerechtigkeit widerfahren, aber er hoffe sie friedlich und Schritt für Schritt zur alten Religion zurückzubringen... Sechs Monate später machte der Mord seinem Leben ein Ende. Damals war er im Begriff gewesen, den Krieg gegen Habsburg zu erneuern, nicht nach Süden hin, sondern durch eine großartig geplante Intervention in den Erbstreit, der in Deutschland um das Herzogtum Jülich-Berg entbrannt war... Die Witwe Heinrichs IV., die für den Königsknaben Ludwig XIII. die Regentschaft führte, Maria von Medici, war landfremd, schwach und töricht; ihre von italienischen Ratgebern ausgeheckte Politik sollte nur-katholisch sein, also rom- und spanienfreundlich... Im Jahr 1614 wurden die Generalstände des Königreichs nach Paris gerufen, Klerus, Adel, Bürgerstand, zum letztenmal für sehr, sehr lange Zeit... Die Erklärung, daß der König seine Krone von Gott allein habe und für sein irdisches Tun keiner geistlichen Macht, keinem Papst verantwortlich sei – die Proklamierung des absoluten Staates – wurde verlangt, von der Regentin aber vermieden... Der junge Bischof von Luçon, Richelieu, ist den Debatten gefolgt und hat gelegentlich in sie eingegriffen, wobei er durch die kühle Eleganz seiner Rede wie durch seine scharfe Bestimmung der überparteilichen, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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unbestechlichen, schlagkräftigen, rationalen Autorität des Staates auffiel... Die von Maria von Medici lange ersehnte spanisch-französische Doppelhochzeit fand im Herbst 1615 in Bordeaux statt, gegen einen düsteren Hintergrund; Rebellen-Regimenter des Prinzen von Condé, mit dem später ein regelrechter Friedensvertrag geschlossen werden mußte, zogen plündernd durch das Land, und gegen die neue Spanienpolitik des Hofes waren nicht nur die Hugenotten... Unter den Ständen des Reiches war die Mehrzahl noch immer in ihrer Wesensart von ihm abhängig, weil sie ohne den Schutz, den es gewährte, nicht existieren konnten, dürftig und unsicher wie dieser Schutz auch war: kleine Reichsstädte, Reichsgrafen, Reichsabteien. Die wenigen größeren Gebilde waren in einer anderen Situation; ihr Bestreben, bewußt oder unbewußt, war längst dahin gegangen, eigentliche Staaten zu werden. Eine Vielzahl von Stilen des Lebens und der Repräsentation hat so die deutschen Lande geprägt, denn jeder größere Potentat wirkte emsig für die Erziehung seiner Untertanen wie für die Pracht seiner Residenzen. Andererseits gab die Identifizierung jeder dieser Herrschaftsgebilde mit einer der Konfessionen dem Religionsstreit in Deutschland eine einzigartige Gefährlichkeit... Die schwächliche Rolle, welche die Habsburger in den beiden ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts spielten, war die Folge tiefer Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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innerer Unruhen m den ›Erblanden‹; die Monarchie wurde der ständischen Bewegung, des adligen und städtischen politischen Eigenwillens nicht Herr... Das war anders in Bayern. Hier hatte die Dynastie der Wittelsbacher ein Gemeinwesen aufgebaut, in dem die geistigen Kräfte der Gegenreformation den Bestrebungen des Absolutismus zu Hilfe kamen, Herzog Maximilian, Regent seit 1597, gab ihr Macht über die Seelen, aber nicht über den Staat, und fühlte sich auf Erden niemandem Untertan... Der religiöse Glaube, der in Bayern einen katholisch gesitteten, nach Rom und auch nach Madrid orientierten, von Herrschaft und Gehorsam durchwalteten Polizeistaat schuf, konnte in protestantischen Gegenden in eine bürgerlich-freiere, aber nicht weniger ernste und kaum tolerantere Gestaltung staatlicher, kirchlicher, bürgerlicher Existenz eingehen... Deutsches Zentrum des Calvinismus war die Pfalz... Ein junger Edelmann herrschte dort: Kurfürst Friedrich V., französisch erzogen, niederländisch verwandt, englisch verheiratet... Der Calvinismus war international; das Luthertum, trotz Skandinavien, wesentlich deutsch; und sein weltliches deutsches Haupt, der in Dresden residierende Kurfürst Johann Georg von Sachsen, der konservativste unter den Fürsten des Reiches... Brandenburg, das dritte Kurfürstentum, stand zu Sachsen ungefähr wie Bayern zu Habsburg, indem es geneigt war, der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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sächsischen Politik zu folgen, und sie gleichzeitig beargwöhnte.« (G. Mann) ¤ 68 Paris um 1615. Aus einem Vogelschauplan der Stadt mit dem Seine-Lauf, den Seine-Inseln (NotreDame) und dem Louvre (links). Aus einem Stich im »Theatrum Europaeum« von Matthäus Merian d. Ä. ¤ 69 Die Seelenfischerei. Gemälde von A. P. van de Venne, 1614. Amsterdam, Rijksmuseum
»Der Grundsatz, wonach der Fürst die Religion seiner Untertanen bestimmen durfte, hatte Wirklichkeit nur da, wo, wie in Bayern, glaubensbegeisterte, energische Fürsten an der Spitze standen. In Österreich, den habsburgischen Erblanden, gingen in den Zeiten der Kaiser Maximilian II., Rudolf II., Matthias (1612 bis 1619) Adlige und Bürger in hellen Haufen zum Luthertum über... Ein Reichstag, der über die Restituierung geistlicher Besitztümer verhandeln soll, scheitert 1608... Darauf vereinigen sich vorwiegend süddeutsche protestantische Stände zu einer ›Union‹... 1609 gründet Herzog Maximilian die ›Liga‹, eine Vereinigung süddeutscher und rheinischer geistlicher Herrschaften unter der Führung des Bayern... Die Liga ist besser organisiert, unterhält ein gemeinsames Heer, an dessen Spitze Tilly tritt... Die Krise konnte Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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kommen, wenn der alte Kaiser Matthias starb und der militante Ferdinand aus Steiermark sein Nachfolger wurde. Sie konnte kommen, wenn Union und Liga aneinandergerieten.« (G. Mann) ¤ 70 Predigt vor der königlichen Familie von England in St. Paul's Cross in London. Tafel von einem Triptychon, 1616. London, Society of Antiquaries. Das Gemälde zeigt die alte Pauls-Kathedrale vor dem Neubau von Christopher Wren, der nach dem großen Brand von London (1666) in den Jahren 1675-1710 errichtet wurde. ¤ 71 Besuch Kaiser Ferdinands II. in Augsburg im Jahr 1619. Holzschnitt von Daniel Döringk. Berlin, Kunsthandel ¤ 72 Augsburger Flugschrift über die in der Schlacht am Weißen Berg bei Prag am 8. November 1620 verübten Grausamkeiten. Wien, Haus-, Hof- und Staatsarchiv
Die den Krieg auslösende Krise kam in Böhmen, wo Ferdinand von Steiermark schon 1617 zum König designiert war, zum Ausbruch. Dort beruhte der Friede auf dem »Majestätsbrief« Rudolfs II., einem Konkordat, das den evangelischen Ständen die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Religionsfreiheit zubilligte. Die beginnende katholische Reaktion (Zensurgesetz) führte zum Aufruhr des Adels, der 1618 beim Fenstersturz der katholischen Statthalter ausbrach. Als 1619 Ferdinand (II.) Kaiser wurde, setzten die liberalen Stände ihn ab und wählten den Pfalzgrafen Friedrich V. zu ihrem König. Der bedrängte Kaiser hatte zu dieser Zeit mit Maximilian von Bayern einen Vertrag abgeschlossen, der ihm das »Direktorium über das Verfassungs- und Defensivswesen« übertrug. Als Lohn winkte die pfälzische Kurfürstenwürde. »Ende Juli 1620 marschierten die Bayern und Ligisten unter Maximilian und seinem General Tilly in Oberösterreich ein, Es war die Idee Maximilians, daß erst die österreichischen Stände zur Räson gebracht, ihre Verbindungen mit Böhmen zerschnitten werden müßten. In Linz nahm er die Huldigung der gedemütigten Rebellen entgegen... Weiter ging es im Spätherbst nach Böhmen... Die böhmische Hauptarmee wurde am 8. November vor den Toren Prags, am Weißen Berg, gestellt, aufgerieben, in die Flucht gejagt. Prag ergab sich am nächsten Tag. König und Königin entflohen nach Breslau... Den ›Majestätsbrief‹ zerschnitt Ferdinand... Calvinistische Prediger verjagte man sofort; demnächst auch die Pfarrer des Böhmischen Bekenntnisses und die reinen Lutheraner... Die Katholisierung der Bürger wurde nach steierischem Vorbild betrieben. Später, 1627, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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erklärte eine vom Kaiser-König dekretierte ›erneuerte Landesordnung‹ das Königreich zur erblichen Monarchie, die katholische Religion zur einzigen, den Klerus zum ersten Stande.« (G. Mann) Die pfälzische Kurfürstenwürde wurde 1623 an Bayern übertragen. In den folgenden Jahren wurden Politik und Krieg von neuen Männern bestimmt, dem Herzog von Olivares, Minister Philipps IV. von Spanien, von Richelieu in Frankreich und von Albrecht von Wallenstein in Österreich. »Richelieu setzte sich zum Zweck die Einheit des Staates... Einheit des Staates bedeutete die Ausschaltung der Hugenotten als politische Macht, die Reduzierung des rebellischen Hochadels, die Unterwerfung des Landes unter den einen königlichen Willen... Wenn es je eine Inkarnation des seit dem sechzehnten Jahrhundert um Verwirklichung ringenden Prinzipes Staatsräson gab, er war es... Die Einheit des Staates und königlichen Willens in Frankreich wurde nicht so sehr durch die drei Stände, durch die Parlamente, den Adel, wie durch die verbriefte Sonderexistenz der Protestanten gelähmt... Im Jahr 1627 trieben sie unter ihrem Führer Heinrich von Rohan die Sache auf die Spitze. Ihre starke Festung und Hafenstadt La Rochelle verband sich mit den Engländern... Die Bedingungen, die Richelieu schließlich gewährte, scheinen liberal, wenn man sie mit dem Schicksal der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Tschechen vergleicht: Die Bürger von La Rochelle sollten Leben, Vermögens- und Gewissensfreiheit erhalten... Auch nach La Rochelle hat er Protestanten in hohen Staatsämtern verwendet; sein ruhmreichster General, Turenne, ist einer gewesen.« (G. Mann) In den Jahren 1622 und 1623 siegte Tilly über die protestantischen Bundesgenossen des unglücklichen Böhmenkönigs. Von Norden hatte Christian IV. von Dänemark in den Krieg eingegriffen. »Albrecht von Wallenstein hatte längst eine große Stellung inne, als er sich, Frühjahr 1625, den Auftrag erwarb, ein eigenes kaiserliches Heer aufzustellen... Wallensteins im nordöstlichen Böhmen und Mähren gelegenen mehr als fünfzig Grundherrschaften hatte er zu einem Fürstentum Friedland konsolidiert; einem Staat im Staate, der durch die schöpferische Wirtschaftlichkeit seiner Verwaltung von den übrigen habsburgischen Landen auf das günstigste abstach.« (G. Mann) Wallenstein schlug 1626 bei Dessau Ernst von Mansfeld, vertrieb Christian IV. aus Deutschland und wurde zwei Jahre später vom Kaiser mit dem eroberten Herzogtum Mecklenburg belehnt. Stralsund belagerte er vergeblich, Gustav Adolf schickt Oxenstierna in die Stadt mit einem Allianzvertrag. Nach dem für ihn günstigen Vertrag von Lübeck (1629) zog sich Christian IV, von der protestantischen Sache zurück, Kaiser Ferdinand fühlte sich so stark, daß er Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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im »Restitutionsedikt« von 1629 die Herausgabe aller seit 1552 von den Protestanten eingezogenen geistlichen Territorien verlangen konnte. Wallenstein sah die kriegerischen Folgen dieses Edikts für das Reich voraus, »Was er mehr zu tun bekommen wird, weiß Wallenstein, wird ihm Schweden zu tun geben... Längst hat Wallenstein den König von Schweden im Auge. Längst hat er ihn durch Unterstützung Polens von einem Großangriff gegen Deutschland abzuhalten versucht... So gibt es nur ein Ziel, auf das beide Kurfürstenparteien sich noch einigen können und sich längst geeinigt haben: Wallensteins Entlassung.« (G. Mann) Auf dem Kurfürstentreffen in Regensburg 1630 kapitulierte der Kaiser vor dieser Forderung. ¤ 73 König Ludwig XIII. von Frankreich. Bronzebrüste von Jean Warin. Paris, Louvre ¤ 74 Richelieu. Medaille von Jean Warin. Paris, Musée Carnavalet ¤ 75 Michelangelos Kuppel der Peterkirche in Rom mit dem Baldachin über dem Papstaltar von Lorenzo Bernini ¤ 76 Die Übergabe von Breda. Gemälde von Diego Velazquez, um 1635. Madrid, Prado Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Michelangelo, der die Bauleitung 1547 übernahm, hielt sich an Braniantes Entwurf des Zentralbaus und konnte bis zu seinem Tod (1564) nur den Tanibour der Kuppel vollenden. Seine Nachfolger Vignola, della Porta, Fontana und Maderna, der das einer veränderten geistigen Haltung der Kirche folgende Langhaus schuf, vollendeten die Gesamtanlage. Papst Urban VIII. weihte am 18. November 1626 den Bau. Den Baldachin über dem Papstaltar, der sich über dem Grab Petri erhebt, vollendete Bernini im Jahr 1633. Die Belagerung der brabantischen Stadt Breda 1624/25 galt als eines der Meisterwerke der Belagerungsstrategie der Zeit und zugleich als Krönung der kriegerischen Laufbahn des spanischen Heerführers Ambrogio Spinola. Seit 1629 hatte Schweden die Invasion vorbereitet. Da die deutschen Kurfürsten einem Kontaktversuch Gustav Adolfs ausgewichen waren, besaß er keine Verbündeten. Das Unheil zog sich nun über der Elbfestung Magdeburg zusammen, dem Erzstift, über dem die Drohung des Restitutionsediktes schwebte. Man hoffte auf Gustav Adolf, während Tilly im April 1631 die Belagerung ernsthaft begann. »Gustav Adolf hätte zur Elbe vordringen und, sein königliches Versprechen erfüllend, die belagerte Stadt entsetzen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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können, wenn er der Brandenburger und Sachsen sicher gewesen wäre... Zwei Parteien beteuerten hier vor Welt und Nachwelt ihre Unschuld: Der König, indem er den beiden Kurfürsten schrieb, er könnte Magdeburg nicht retten, solange sie in Unentschiedenheit verblieben: Tilly, indem, er wieder und wieder den Magdeburgern sagen ließ, sie sollten doch die Gnade des Kaisers annehmen.« (G. Mann) Am 20. Mai 1631 wurde Magdeburg im Sturm genommen, die gesamte Einwohnerschaft niedergemetzelt, die Stadt verbrannt, Nun endlich verbündete sich Johann Georg von Sachsen mit den Schweden, eroberte Prag, und Gustav Adolf siegte bei Breitenfeld überlegen über die Kaiserlichen unter Tilly, Der Schwedenkönig war Herr über Nord- und Mitteldeutschland und trat seinen Siegeszug durch Deutschland bis nach München an. »Nur Wallenstein konnte dem Kaiser wieder ein Heer schaffen, das etwas Besseres war als die Heerestrümmer, die Tilly in Deutschland noch einmal zusammengefügt hatte; nur er konnte es führen... Die Eroberung Münchens ist der Kulminationspunkt von Gustavs Siegeszug. Er konnte sich Herr über Deutschland von der Ostsee bis zu den Alpen fühlen. Maximilians Liga teilte nun das Schicksal ihrer blassen Schwester, der Union; sie hatte zu existieren aufgehört.« (G. Mann) Inzwischen hatte Wallenstein ein neues Heer aufgestellt. Die Schlacht bei Lützen am Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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16. November 1632 brachte keiner Seite den echten Sieg, Gustav Adolf fiel. »Wallensteins Macht beruhte nicht, wie die eines Erbmonarchen, auf geheiligten Titeln. Seine persönliche Energie hatte Fürstentümer und Industrien, Armeen, Investitionen, Kredit und Ruhm zusammengezaubert; dies Reich mußte desintegrieren, sobald der Wille des Schöpfers erlahmte. Nun ist kein Zweifel, daß er im Lauf des Jahres 1633 zu den Rand physischen und geistigen Zusammenbruchs geriet... Der Ausgang des Feldzugs von 1632 bestätigte ihm, was er schon längst vermutete: daß Österreich sich zwar leidlich aus dieser Affäre ziehen, daß aber die österreichisch-spanische Gegenreformation ihr großes Ziel in Deutschland und den Niederlanden nie würde erreichen können.« (G. Mann) Schließlich brach Wallenstein 1634 nach Schlesien auf und nahm die dort stehende schwedische Armee gefangen. Unterdessen gelang Bernhard von Weimar die Einnahme der Stadt Regensburg. Wallensteins Rettungsversuch kam zu spät, und er führte seine Truppen ins Quartier in Böhmen. ¤ 77 Wallenstein. Taler der Münzstätte Gitschin, 1627. Berlin, Staatliche Museen, Münzkabinett ¤ 78 Die Belagerung der Stadt Magdeburg durch Tilly in Jahr 1631. Stich aus dem »Theatrum Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Europaeum« von Matthäus Merian d. Ä. ¤ Galileo Galilei an Bocchineri. Brief vom 5. März 1633 während des gegen Galilei gerichteten Inquisitionsprozesses. London, British Museum ¤ [Rückseite] Im Jahre 1616 hatte die Indexkongregation in Rom das heliozentrische System des Kopernikus verurteilt und dem damals schon berühmten Naturforscher Galilei verboten, diese Lehre weiter zu publizieren. Nach der Herausgabe eines neuen Werkes zu diesem Thema, dem »Dialogo«, wurde Galilei im Herbst 1632 vor das Gericht der Inquisitionskongregation nach Rom geladen. Der hier abgedruckte Brief zeugt von den eifrigen Bemühungen der Verwandten und Freunde, durch Vermittlung hochgestellter Persönlichkeiten dem Prozeß gegen den Siebzigjährigen zu einem guten Ende zu verhelfen. Ein Überblick über die vielen im Brief genannten Namen ermöglicht ein besseres Verständnis der Situation: Adressat des Briefes ist Geri Bocchineri, der eifrig tätige Schwiegervater von Galileis Bruder. Alessandro Bocchineri, ein Bruder des Geri B., und sein Freund Pietro Lagi legen Fürsprache beim Kardinal Carlo Medici ein. Dieser verwendet sich Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Ende Januar 1633 für Galilei beim Pater General der Kapuziner Montecuccoli und dessen Begleiter. Graf Orso d'Elci und besonders Andrea Cioli, Erster Sekretär Ferdinands II. Medici, des Großherzogs von Toskana, halten die Verbindung zu Galileis hochherzigem Gönner. Dieser »Erlauchte Gebieter« betont Ende Februar 1633 in Briefen an den Dominikaner-Kardinal Scaglia sowie an Kardinal Bentivoglio, den Leiter der Inquisition, Galileis Aufrichtigkeit und Kirchentreue. Durch den Kavalier Buonamici, der gute Beziehungen zu geistlichen Stellen in Rom hat, werden die Briefe des Großherzogs überreicht. Galileis beide Töchter im Kloster S. Matteo glaubten damals wie er selbst an einen guten Ausgang. Die Hoffnung gründete sich auf die Erwartung, daß es zu einer sachlichen Erörterung von Galileis astronomischen Anschauungen käme. Statt dessen beschränkte sich das Tribunal auf den formaljuristischen Tatbestand, Galilei habe das Schweigegebot verletzt. Obwohl Kardinal Bentivoglio seinen früheren Astronomielehrer hochschätzte, unterschrieb er doch am 22. Juni 1633 die Verurteilung Galileis, der der kopernikanischen Lehre abschwören mußte. – Die Kirche selbst hat Galilei im Jahr 1734 in Sta.Croce in Florenz ein Monument mit Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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der Inschrift setzen lassen: GALILEUS GALILEI GEOMETRIAE ASTRONOMIAE PHILOSOPHIAE MAXIMUS RESTITUTOR NULLI AETATIS SUAE COMPARANDUS. [Transkription] Molto Illustre Signore e Padrone Colendissimo Ricevei con la gratissima di V. S. quella del Serenissimo Padrone per l'Eminentissimo S. Cardinale Bentivoglio, / ehe ai presentò subito; la quale se frutterà (come spero) conforme all'altra / per il S. Cardinale Scaglia, il guadagno sarà grandissimo, mostrandosi questo così bene / affetto verso la persona mia, che più non si può desiderare. Quanto poi / al resto del mio negozio si và continuando con quella medesima taciturnità / de i primi giorni. Verò è che quel poco che si può andar penetrando và / continuamente scoprendo le imputazioni andarsi diminuendo, et alcune / ancor esser del tutto svanite, per la troppo evidente loro vanità, il che / si può credere, che arrechi alleggerimento all'altre che sussistono ancora in piede; onde spero che queste ancora / siano per terminarsi nel me / desimo modo. Ne altrimenti convien credere, se la verità deve finalmente re/star superiore alla falsità. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Con questa viene una del Padre Vicario Generale dei/Cappuccini in risposta di quella dell'Eminentissimo S. Cardinale Medici. Io non hò potuto vedere il detto / Padre Generale, et il S. Cavaliere Buonamici presentò essò la detta lettera insieme con l'altra / per il compagno, ne esso per ancora ha potuto penetrare cosa veruna, ancor ehe non /resti per sua estrema benignità d'invigilare con ogni sollecitudine ne miei affari, / obbligandomi ogni giorni più. Come anco resto con molt'obbligo al S. Lagi per l'in/tercessione del S. Alessandro il quale V. S. saluterà in mio nome scusandomi se per non havere / à replicar l'istesse cose più volte non gli scrivo in proprio. Alli Illustrissimi Signori Cont'/ Orso, e Balì Cioli mi ricordi Servitore devotissimo baciandogli con ogni affetto le mani, e supplican/ dogli à far penetrare alla mente del Serenissimo Padrone come io resto infinitamente ob/bligato alla somma sua benignità, e come non potendo con altro mezo compensar le / tante grazie che continuamente mi concede fo che le mie Figliuole Monache si occupano / in continue orazioni per ogni sua maggior felicità. Con che à V. S. bacio le mani. Di Roma li 5 di Marzo 1633. Di V.S. molto Illustre Obbligatissimo Servitore e Parente Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Galileo Galilei Übersetzung Sehr erlauchter Herr und ehrwürdiger Gebieter! Ich bekam mit dem hochwillkommenen Brief von Ew. Gnaden den Brief des Erlauchten Gebieters für Seine Eminenz, den Herrn Kardinal Bentivoglio, den man zugestellt hat; und wenn dieser Brief sich auszahlen wird – wie ich hoffe – entsprechend dem anderen für den Herrn Kardinal Scaglia, dann wird der Gewinn überaus groß sein, da sich dieser gegenüber meiner Person so wohl gesonnen zeigt, daß man nicht mehr wünschen kann. Was dann noch meine Verhandlung anlangt, so geht es weiter mit derselben Schweigsamkeit der ersten Tage. Wahr ist, daß das wenige, was man erforschen kann, zeigt, daß die Anklagen fortwährend an Gewicht verlieren und daß einige völlig verschwunden sind wegen ihrer allzu deutlichen Nichtigkeit; und man kann glauben, daß das Erleichterung bringt für die anderen, die noch bestehen; und daher hoffe ich, daß auch diese letzten Anklagen auf dieselbe Art verschwinden werden. Man darf keinen anderen Glauben haben, wenn die Wahrheit endlich über das Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Falsche siegen soll. Mit diesem Brief kommt auch ein Brief des Pater Generalministers der Kapuziner als Antwort auf den Brief Seiner Eminenz des Herrn Kardinals Medici. Ich habe noch nicht den genannten Pater General sehen können, und der Herr Cavaliere Buonamici hat selbst den genannten Brief überreicht, zusammen mit dem anderen für seinen Begleiter; und er hat bis jetzt noch nicht in die Sache eindringen können – und das, obwohl er in seiner außerordentlichen Güte nicht aufhört, in allem Fleiß über meine Angelegenheiten zu wachen, wodurch er mich von Tag zu Tag ihm mehr verpflichtet. Und ich bleibe auch Herrn Lagi verpflichtet wegen der Fürsprache des Herrn Alessandro; diesen wird Ew. Gnaden in meinem Namen grüßen und mich entschuldigen, daß ich ihm nicht persönlich schreibe, um zu vermeiden, daß ich dieselben Dinge öfter wiederhole. Grüßen Sie bitte die Herren Graf Orso und Balì Cioli von mir als ergebenstem Diener, der mit aller Zuneigung ihre Hände küßt, und ich bitte sie untertänig, in das Herz des Erlauchten Gebieters einzudringen; wie ich seiner höchsten Güte unendlich verpflichtet bleibe und wie ich, da ich nicht mit anderen Mitteln all die Gunsterweisungen ausgleichen kann, die er mir ununterbrochen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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zukommen läßt, so lasse ich meine lieben Töchter, die Nonnen, sich in unaufhörlichen Gebeten für all sein größtes Glück einsetzen. – Womit ich Ew. Gnaden die Hand küsse. Rom, den 5. März 1633 Ew. sehr erlauchten Gnaden ganz ergebenster Diener und Verwandter Galileo Galilei ¤ 79 König Gustav Adolf von Schweden. Bronzebüste von Georg Petel, 1632. Stockholm. Kungl. Husgerådskammaren ¤ 80 Papst Urban VIII. Bronzebüste von Lorenzo Bernini, um 1640. Paris, Louvre
Geschürt durch Verleumdungen brach in Wien eine Panik aus. Ein Rätekollegium kam »zu dem Schluß, daß der Herzog und seine nächsten Anhänger Verräter und daß sie daher gefangenzunehmen seien, zu töten jedoch, wenn Gefangennahme nicht möglich wäre«. Am 25. Februar 1634 wurde Wallenstein in Eger ermordet. »Die moralischen Urheber des Mordes, wie auch der Kaiser selbst, fanden sich in einer gewissen Verlegenheit. Die versprochenen Beweise für Wallensteins Schuld konnten nicht aufgetrieben werden.« (G. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Mann) Noch im Jahr 1634 schlug ein kaiserlich-spanisches Heer die schwedisch-sächsischen Truppen unter Bernhard von Weimar vernichtend bei Nördlingen. »Über Württemberg und Baden ergoß sich die spanisch-kaiserliche Soldateska mit einer Furie, die selbst in diesem Krieg noch nicht erfahren worden war... Richelieu erkannte die Bedeutung der Nördlinger Schlacht sofort; die indirekten, die verschleierten Mittel würden nun nicht mehr ausreichen, die Stunde der offenen französischen Intervention war gekommen, wenn nicht die Gefahr von 1629, das habsburgische Dominat über Mitteleuropa, sich wiederholen und festigen sollte... Dem folgte ein offenes Bündnis zwischen Frankreich und den Niederlanden; am 5. Mai 1635 die feierliche französische Kriegserklärung gegen Spanien.« (G. Mann) In dieser Lage schloß Kaiser Ferdinand im gleichen Jahr mit Sachsen zu Prag einen Frieden, dem viele Reichsstände beitraten, »Die Bestimmungen des Vertrages waren weder unklug noch illiberal. In einer entscheidenden Frage gaben sie den Manen Wallensteins recht: Das Restitutionsedikt wurde, wenn nicht ausdrücklich kassiert – so doch für vierzig Jahre außer Kraft gesetzt... Indem die Stunde versäumt wurde, Deutschland von Spanien zu trennen und Schweden zu befriedigen, verwandelte der deutsche Bürgerkrieg sich endgültig in einen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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europäischen; die deutschen Stände, die in Prag den Frieden zu erhäschen geglaubt hatten, vollzogen im Resultat nichts als eine Umkehrung der Allianzen. Sie traten dem österreichisch-spanischen Lager bei und hatten fortan Schweden und Franzosen zu Feinden... Wenige, die den großen Krieg hatten beginnen und führen helfen, erlebten sein Ende: 1637 starb Kaiser Ferdinand II... 1642 zu Paris der große Kardinal den offiziellen, den Staatstod, der seiner würdig war, bis zuletzt Herr der Verschwörungen gegen ihn und den Staat, die nicht aufhörten... Der König Ludwig XIII. folgte ihm im nächsten Jahr und wieder ein Jahr später der Frankreichfreundliche Papst Urban VIII... Der Generationswechsel in Frankreich ging ohne Wirren vor sich. Richelieu hatte solide gebaut. Die Regentschaft für den Königsknaben, Ludwig XIV., lag in den Händen der verwitweten Königin Anna von Österreich und eines Kronrates; dem Ministerium präsidierte der für das Amt längst vorbereitete italienische Kleriker Kardinal Mazarin... Im Jahr 1640 erschien nach dem Tode seines Vaters Georg Wilhelm ein blutjunger Mann: Friedrich Wilhelm von Brandenburg, klug wie der Tag, hart, gesund, ruchlos. Es war der Brandenburger, der sich auf dem Reichstag von 1640 gegen den Kaiser auflehnte: Es müsse endlich Friede werden; und der dann, unbekümmert um Kaiser und Reich, auf eigene Faust sich mit den Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Schweden arrangierte, um mit gewaltiger Energie an den Wiederaufbau seines verwüsteten Landes zu gehen. Später sollte er der ›Große Kurfürst‹ heißen... In Spanien rebellierten 1640 die Katalanen... Sie wählten den König von Frankreich zu ihrem Grafen... Noch im selben Jahr folgten die Portugiesen dem katalanischen Beispiel... Madrid, durch die katalanische Rebellion gebunden, mußte die Loslösung Portugals geschehen lassen; den Thron zu Lissabon bestieg ein Nachkomme der alten Könige, Johann von Braganza. 1639 wurde die stärkste Flotte, die Spanien seit der ›Armada‹ zusammengebracht hatte, von den Niederländern gestellt und in den Grund gebohrt... Das Ende der Landmacht kam 1643, in der Schlacht bei Rocroy, auf französischem Boden nahe der belgischen Grenze... Der Friedenskongreß sollte von allen deutschen Ständen, mit Stimmrecht, beschickt werden und die Verbindung eines Reichstages mit einer internationalen Friedenskonferenz sein. Für den Ort dieses großen Treffens hatten Frankreich, Schweden und der Kaiser im Jahre 1641 die westfälischen Städte Münster und Osnabrück bestimmt, jene als Residenz der Katholiken, diese der Protestanten... Der Kongreß sollte 1642 beginnen. Aber der Streit über den Status der deutschen Fürsten schob das offizielle Datum bis 1643, den wirklichen Beginn der Verhandlungen bis zum Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Dezember 1644 hinaus.« (G. Mann) Frankreich behielt auf dem linken Rheinufer von Basel bis Koblenz, was es schon annektiert hatte. Die Niederlande erhielten die Anerkennung ihrer Selbständigkeit, Auch die Eidgenossenschaft schied endgültig aus dem Reichsverband aus. »Der Preisgabe des Elsaß folgte die Preisgabe Pommerns, das längst das eingestandene Kriegsziel der Schweden und der Lohn gewesen war, den sie für ihre den Protestanten erwiesenen Wohltaten forderten, Hier leistete Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg erbitterten Widerstand... Im Resultat einigte man sich auf Teilung: Vorpommern samt der Hauptstadt Stettin für Schweden, Hinterpommern für Brandenburg, dazu Entschädigungen anderwärts, Halberstadt, Magdeburg... Die pfälzische Frage wurde so gelöst, daß der Herzog von Bayern die pfälzische Kurwürde und die Territorien der Oberpfalz behielt, für den Sohn des verstorbenen Pfalzgrafen, Karl Ludwig, aber eine achte Kur kreiert und die Rheinpfalz ihm restituiert wurde... Worauf es den Protestanten vor allem ankam, war völlige Gleichberechtigung; sie wollten nicht mehr eine Minderheit sein, der man Ausnahmebestimmungen oder zeitlich befristete Besitzesrechte einräumte, sondern eine der beiden Religionsparteien, die sich in Deutschland teilten... Diese Forderung wurde ihnen erfüllt... Am 24. Oktober 1648 wurden die Verträge zwischen dem Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Deutschen Reich, Frankreich und Schweden, die Verträge von Münster und Osnabrück, unterzeichnet.« (G. Mann) ¤ 81 »Pax optima rerum«. Friedenstaler auf den Abschluß des Westfälischen Friedens. Gepräge des Münzmeisters Ketteler aus Münster, 1648. Münster/ Westf., Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte ¤ 82 »Pax optima rerum«. Friedenstaler auf den Abschluß des Westfälischen Friedens. Gepräge des Münzmeisters Ketteler aus Münster, 1648. Münster/ Westf., Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte
In England regierte Karl I. absolutistisch und geriet in Dauerkonflikte mit dem Parlament, das seine Günstlingswirtschaft und seine Geldforderungen ablehnte. Von 1629 bis 1640 regierte der König ohne Parlament. Dann standen sich zwei Heere gegenüber, ein königliches und ein Parlamentsheer. Im Jahr 1642 mißlang der Versuch, die Führer der Unterhausopposition zu verhaften. Mit der Flucht des Königs nach Norden brach der Bürgerkrieg los. Ein Jahr später konnten die Truppen Karls I. unter dem Prinzen Ruprecht von der Pfalz, dem Sohn des unglücklichen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Königs von Böhmen, den Südwesten Englands gegen das Parlamentsheer erobern. Aber ab 1644 siegte Oliver Cromwell mit dem Parlamentsheer in großen Schlachten (Marston Moor, Naseby und Preston) entscheidend. Der König floh nach Schottland, das ihn 1647 dem englischen Parlament auslieferte. Nach seiner Verurteilung wurde Karl I. am 30. Januar 1649 in London hingerichtet. England wurde Republik (Commonwealth). Karls Sohn wurde von Schottland und Irland anerkannt, im Jahr 1651 aber von Cromwell geschlagen. Er floh ins Exil nach Frankreich. Cromwell löste 1653 das Parlament auf und ließ sich zum Lordprotektor von England, Schottland und Irland ernennen. Die Opposition im Lande gegen seine Militärdiktatur konnte er nicht unterdrücken. Außenpolitisch schuf er eine kampftüchtige Flotte, die erfolgreich gegen den niederländischen Handelsrivalen und gegen Spanien eingesetzt wurde. Nach seinem Tod 1658 konnte sich sein Sohn Richard nicht behaupten. Das Parlament rief Karl II. zurück, mit dem 1660 das Haus Stuart erneut den Thron bestieg. ¤ 83 König Karl I. von England als Angeklagter in Westminster Hall. Gemälde von Edward Bower, um 1649. Windsor Castle, Royal Collection ¤ 84 Oliver Cromwell. Gemälde von Robert Walker, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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1649. London, National Portrait Gallery ¤ 85 Fest im Hof des Palazzo Barberini in Rom zu Ehren der Königin Christine von Schweden am 28. Februar 1656. Aus einem Gemälde von Filippo Lauri und Filippo Gagliardi. Rom, Museo di Roma ¤ 86 König Karl II. von England mit seiner Schwester Maria von Oranien auf einem Ballfest in Den Haag am Vorabend seiner Rückkehr nach England im Jahr 1660. Gemälde von Hieronymus Janssens, Windsor Castle, Royal Collection. Unter den Zuschauern befinden sich der Duke of York, der spätere König Jakob II., und Marias Sohn Wilhelm, der spätere König Wilhelm III.
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XI. Europa im Zeitalter des Absolutismus
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XI. Europa im Zeitalter des Absolutismus ¤ 1 Der Abschluß des Pyrenäen-Friedens im Jahr 1659. Die Begegnung von Ludwig XIV. und Philipp IV. an der französisch-spanischen Grenze. Medaille. Paris, Bibliothèque Nationale, Cabinet des Médailles ¤ 2 Der Abschluß des Pyrenäen-Friedens im Jahr 1659. Das Treffen der beiden Monarchen, rechts die Infantin Maria Theresia, die Braut Ludwigs XIV. Gobelin nach dem Entwurf von Charles Lebrun. Versailles, Musée
»Frankreich hat unter Ludwig XIV. eine Periode unübertroffenen Ansehens und gewaltiger politischer Machtentfaltung erlebt. Voltaire bezeichnete die Zeit von 1661 bis 1715, als der König selbst die Regierung führte, kurzerhand als ›das Jahrhundert Ludwigs XIV,‹ und prägte damit einen besonderen Begriff zu dessen Ruhm... Die Verhältnisse im damaligen Frankreich, die der Politik große Möglichkeiten boten und ihr zugleich die Grenzen setzten, waren in Wirklichkeit keineswegs nur vom Willen Ludwigs XIV. und seiner Minister abhängig. Die Regierung konnte Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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höchstens hemmend oder fördernd eingreifen. Sie verfügte jedoch vor allem über einen Sinn für Realpolitik und traf ihre Entscheidungen nur unter dem Gesichtspunkt der Nützlichkeit für ihre eigenen Ziele, ohne sich darum zu kümmern, ob im übrigen Europa andere Verhältnisse herrschten. Diese Epoche des siebzehnten Jahrhunderts, die so lange für eine Zeit des Gleichgewichts und der beispielhaften Harmonie gegolten hat, enthüllt bei eingehenderer Betrachtung ihre Unvollkommenheiten und verborgenen Schwächen, Sie stellt sich schließlich als eine Periode wirtschaftlicher Spannungen, dauernder Schwierigkeiten in Produktion und Handel und allgemeinen Mißbehagens dar, in der Frankreich dennoch seine Politik durchsetzen und seine Macht befestigen konnte... Meist nimmt man an, die persönliche Regierung Ludwigs XIV. habe mit dem Tod des Kardinals Mazarin am 9. März 1661 begonnen. Tatsächlich erklärte der junge König an diesem Tage zur Überraschung vieler, er habe die Absicht, selbst die Leitung der Regierungsgeschäfte zu übernehmen und niemanden mehr mit den Obliegenheiten eines Premierministers zu betrauen. Ludwig XIV. hatte diesen Entschluß zu Lebzeiten des Kardinals zurückgestellt... Die Freude über den wiederhergestellten Frieden verklärte das ganze Fest, denn der Pyrenäen-Friede von 1659 hatte mit der Heirat des Königs die Versöhnung der Kronen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Frankreichs und Spaniens besiegelt, die von Natur aus Feinde gewesen zu sein schienen. Auch im Norden war durch eine geschickte Politik der Friede gesichert worden, und damit hatte die neue Regierung sogar das Werk Heinrichs IV., des Friedensfürsten par excellence, übertroffen... Seit dem Westfälischen Frieden herrschte der König von Frankreich an Stelle des Hauses Habsburg auch im Elsaß, ohne daß vorerst dessen Bindungen an das Heilige Römische Reich durchschnitten worden wären. Bald (1662) sollten vorteilhafte Verhandlungen mit König Karl II. von England Dünkirchen unter französische Herrschaft bringen, weil sich dort die Möglichkeit bot, als strategische Ausgangsbasis für den Handel auf den nördlichen Meeren einen guten Hafen anzulegen, Frankreich hatte damit zwar in keinem Falle natürliche Grenzen gewonnen, dafür aber zahlreiche feste Plätze, die die Zugangsstraßen zum Königreich beherrschten und dieses gegen militärische Überfälle aus den Niederlanden oder von Osten her schützen konnten. Der König legte großen Wert darauf, Garnisonen in Breisach und in Pignerol, also jenseits des Rheins und jenseits der Alpen, zu unterhalten. Das Wort Eroberung bot keinen Schrecken: Nur wer zu erobern verstand, wurde im Ausland respektiert. Die günstigen Ergebnisse waren hauptsächlich durch die hartnäckigen Aktionen der vom König unterhaltenen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Armeen erreicht worden, die ihm während der Fronde treu geblieben waren. Außerdem waren sie aber auch den politischen Fähigkeiten der Diplomaten zu verdanken, die sich bei den Friedensverhandlungen außerordentlich geschickt und tüchtig gezeigt hatten. Sie hatten sich dabei auf die große Erfahrung Mazarins stützen können, eines hervorragenden Kenners der europäischen Verhältnisse in seiner Zeit. Mazarin hatte es verstanden, ergebene Mitarbeiter zu gewinnen und zahlreiche geeignete Persönlichkeiten aufzuspüren, die, zwar manchmal von niederer Herkunft und bescheidenem sozialem Rang, den neu erworbenen Gebieten doch den Stempel Frankreichs aufzudrücken vermochten. Von einem einheitlichen Frankreich, das sich bewußt dem König unterworfen hatte, konnte allerdings noch nicht die Rede sein. Andererseits war dieses Königreich viel mehr als nur eine Ansammlung benachbarter Territorien, In Paris und den zentralen Provinzen gab es eine Elite, für die das Königreich, seine Traditionen, die Treue zur Dynastie und das Staatswohl eindeutige Begriffe waren. Wo derartige Vorstellungen noch nicht in das allgemeine Bewußtsein eingedrungen waren, wurde das Land von Gouverneuren, Administratoren, Kommissaren oder Agenten im Zaum gehalten, die durch Drohung, Gewalt oder Überredung den Gehorsam gegenüber dem König von Frankreich gewährleisteten.« (V. L. Tapié) Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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¤ 3 Ludwig XIV. auf dem Weg zum Tedeum am 27. August 1660 nach seinem Einzug in Paris. Aus einem Gemälde von A. F. van der Meulen. Grenoble, Musée de Peinture et de Sculpture ¤ 4 Gruppe aus dem Festzug aus Anlaß der Geburt des Dauphin, 1662. Blatt in einem Stichwerk von François Chauveau. Paris, Bibliothèque Nationale. ¤ 5 »Ordo et Felicitas«. Erinnerungsmedaille auf den Regierungsantritt Ludwig XIV. im Jahr 1661. Paris, Bibliothèque Nationale, Cabinet des Médailles ¤ 6 Ludwig XIV. Gemälde von Jean Garnier, 1672. Versailles, Musée
»Der König war die höchste Autorität im Staate. Die Gelehrten und Juristen des sechzehnten Jahrhunderts vertraten die Meinung, daß die Macht des Königs unbeschränkt und unmittelbar von Gott gegeben sei. Der König von Frankreich erkannte keinerlei Lehnsherren an, nicht den Papst und nicht den Kaiser. Daher war die Absetzung des Königs durch den Papst oder durch seine Untertanen unmöglich und wäre als illegale und gotteslästerliche Tat angesehen worden, woran die Generalstände 1614 durch einen Antrag des Dritten Standes erinnert hatten. Als jedoch Theologen über Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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das Recht des Papstes diskutierten, die Untertanen vom Gehorsam gegenüber einem ketzerischen König zu entbinden, schrieben die Männer der Gallikanischen Kirche der Macht der Bischöfe den gleichen göttlichen Ursprung zu wie der Macht des Königs von Frankreich... Welch ein Ruf der französischen Macht verbreitete sich auf diese Weise in ganz Europa! Bossuet forderte in seiner ›Politik nach den Worten der heiligen Schrift‹ die Könige auf, kühn ihre Macht zu gebrauchen, die göttlichen Ursprungs sei und für die Menschheit ein Segen. ›Aber übt sie in Demut, sie ist Euch von oben verliehen und ändert nichts an Eurer Schwäche. Ihr bleibt dennoch Sünder und traget vor Gott die Last der größeren Verantwortung.‹ Bossuet sprach auch von einem Zauber, der von der Person des Königs ausgeht, und er hatte für das Empfinden seiner Zeit recht damit. Die Könige wurden geliebt. In den Revolten gegen ihre Macht wurden eher die Minister und ihre Anmaßung der königlichen Funktion bekämpft... Recht, Geschichte, Tradition, Religion und Familiensinn wirkten zusammen, um aus der französischen Monarchie mehr als eine politische Einrichtung zu machen. Sie wurde in allgemeiner Übereinstimmung als selbstverständlicher Wert empfunden. Im Jahr 1661 erschien sie außerordentlich lebenskräftig, männlich und verführerisch verkörpert in der Person eines jungen Mannes von Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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dreiundzwanzig Jahren, der nach einer Periode innerer Wirren und äußerer Kriege im Augenblick der Wiederkehr des Friedens und der Hoffnung zur Macht kam. Der König regierte mit Hilfe eines Kanzlers, unterstützt von Staatssekretären, die ihr Amt nur auf seine Veranlassung kaufen konnten, und von Räten, die ihren Auftrag von ihm selbst erhielten. Es gab nur einen Conseil d'Etat, einen Staats-Rat, der je nach Bedarf verschiedene Aufgaben erfüllte. Er war gleichzeitig Kabinett, Verwaltungsspitze, Verordnungsinstanz, von der die inneren Angelegenheiten des Königreiches gelenkt wurden, und seit 1661 auch Finanzdirektion, deren Leitung 1665 Colbert mit dem Titel eines ›Controleur général der Finanzen‹ übertragen wurde. Der König nahm selten an den Sitzungen des Rates oder seiner Unterabteilungen für Finanzen, Verwaltung und innere Angelegenheiten teil, bei denen der Kanzler den Vorsitz führte. Die hohen Würdenträger des Königreiches und die Mitglieder der königlichen Familie und der fürstlichen Häuser waren sozusagen von Natur aus zu Regierungsämtern berufen. Ludwig XIV. beschloß schon zu Beginn seiner Regierungszeit, niemandem das Amt eines Premierministers anzuvertrauen. Schon der Titel erschreckte ihn, da er anzudeuten schien, daß der König nicht allein der Herr sei. Er entfernte die Mitglieder seiner Familie aus dem Rat und gewährte keinem Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Kardinal Zutritt. Die Entscheidungen über die allgemeine Politik wurden jetzt in einem Staatsrat (Conseil d'en haut) von ganz wenigen Personen getroffen, die das persönliche Vertrauen des Königs besaßen. Mit der Zugehörigkeit zum Conseil d'en haut war das Recht auf den Titel Staatsminister und auf eine Pension verbunden. Zur Zeit Ludwigs XIV. waren Staatssekretäre und Ressortminister stets Mitglieder dieses Conseil d'en haut... In seiner Regierungsmethode bewies Ludwig XIV. erstaunliche Beständigkeit. Er ließ sich Bericht erstatten, konsultierte seine Berater und behielt sich selbst die Entscheidungen vor, bis er alles in Ruhe überlegt hatte. Als unmittelbare Mitarbeiter hatte er nur die wenigen hohen Beamten, die alle aus dem Bürgertum stammten und bedeutende Männer waren, die über gründliche Erfahrungen verfügten. Keiner von ihnen war ein Favorit, jeder dagegen eine erprobte Stütze. Alle wurden mit der Zeit durch Geschenke und Pensionen reiche Leute und blieben dennoch verläßliche Mitarbeiter des Königs. Der hohe Adel wurde auf diese Weise endgültig von der Macht ferngehalten. Er kritisierte zwar diese ›Regierung der gewöhnlichen Bourgeoisie (Saint Simon), sah sich aber genötigt, sich mit ihr abzufinden. Das Parlement de Paris betrachtete sich als Abteilung des StaatsRats und beanspruchte für seine Mitglieder den Vorrang vor dessen anderen Mitgliedern, da diese nicht Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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im gleichen Sinne Beamte waren. Aber es mußte sein Einspruchsrecht aufgeben und fand sich überdies in seinen Befugnissen – Gerichtsbarkeit und Registrierung der königlichen Edikte – beschränkt.« (V. L. Tapié) ¤ 7 Krankenpflege durch Nonnen im Hôtel-Dieu in Paris. Kupferstich ¤ 8 Krankenpflege durch Nonnen im Hôtel-Dieu in Paris. Kupferstich ¤ 9 Die Seineufer in Paris, um 1685. Vorn der Louvre, im Hintergrund die Sainte Chapelle und Notre Dame. Gemälde eines unbekannten Malers. Paris, Musée Carnavalet ¤ 10 Ludwig XIV. Entwurf von Lorenzo Bernini für ein Reiterstandbild, Terracottamodell, um 1678. Rom, Galleria Borghese
»Der Ruhm eines Königs bemaß sich damals nach der Größe der Bauwerke, die er der Nachwelt hinterließ. Ein bedeutender Herrscher brauchte vor allem eine entsprechende Residenz. Colbert betrieb daher die Fertigstellung des Louvre. Bernini hatte den Auftrag erhalten, Pläne für einen Palast zu entwerfen. Er kam Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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nach Frankreich und wurde wie ein König der Künste empfangen, Alsbald legte er ein herrliches Projekt vor, das dem König gefiel, dessen Ausführung sich aber dann als zu kostspielig und zu langwierig erwies. Aus diesen Gründen unterblieb der Bau.« (V. L. Tapié) ¤ 11 Marschall Henri de Turenne. Gemälde von Philippe de Champaigne. München, Bayerische Staatsgemäldesammlung ¤ 12 Jean-Baptiste Colbert. Marmorbüste von Antoine Coysevox. Paris, Louvre ¤ 13 Charles Lebrun, Hofmaler Ludwigs XIV. Selbstbildnis. Florenz, Uffizien ¤ 14 Badende Nymphen. Bleiplastik vom Bain de Diane von François Girardon, 1675. Versailles, Park
»Versailles war ursprünglich nur ein kleines Jagdschloß, nicht zu vergleichen mit den schönen Schlössern von Saint Germain und Fontainebleau, wo der Hof den Herbst verbrachte. Es war hübsch gelegen, und seine Umgebung eignete sich vorzüglich als Schauplatz für glanzvolle Feste. Der König ließ die Gebäude vergrößern, ausbessern und umbauen, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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zunächst das Neue Schloß von Le Vau (1669), dann den Bau von Hardouin-Mansart. Nach und nach entstand ein Palast, wie ihn kein anderer Souverän besaß. Unermeßlich und harmonisch zugleich, öffnete er sich auf die Gärten, die Le Nôtre wie ein Werk der Architektur mit Sorgfalt und Grazie entworfen halte. Ludwig XIV. erwählte Versailles schließlich doch zu seiner königlichen Residenz, Mit seinen symbolischen Darstellungen war Versailles zugleich ein architektonischer Hymnus auf Ruhm und Größe des Königs. An der Decke der ›Spiegelgalerie‹, die den ›Salon des Krieges‹ mit dem ›Salon des Friedens‹ verband, verherrlichten die Malereien von Lebrun besonders ausgeprägt die Siege des Königs.« (V. L. Tapié) ¤ 15 Die Spiegelgalerie im Schloß von Versailles. Blick in den von Jules Hardouin-Mansart 1675 bis 1683 errichteten Festsaal mit Deckengemälden von Lebrun ¤ 16 Karte des südlichen Sternhimmels von Edmund Halley. Huldigungsblatt für Karl II. von England mit dem nach ihm benannten, neu entdeckten Sternbild »Robur Carolinum«, 1678. London, British Museum ¤ 17 Karl II. von England. Frontispiz und Titelseite eines Religionsbuches für Kinder, 1679. London, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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British Museum ¤ 18 Heckdekoration des durch de Ruyter 1667 bei Chatham erbeuteten englischen Flaggsschiffes »Royal Oak«. Amsterdam, Rijksmuseum
Mit Karl II. kehrten im Jahr 1660 die Stuarts auf den englischen Thron zurück. Seine Gemahlin, eine portugiesische Prinzessin, brachte Bombay als Heiratsgut ein; die Übertragung souveräner Rechte an die Ostindische Kompanie bildete die Grundlage für die Besitzergreifung großer Teile Indiens im folgenden Jahrhundert. Karls heimliches Einverständnis mit Ludwig XIV. und die unglücklich verlaufenen Seekriege gegen den Handelsrivalen, die Niederlande, führten zu Zerwürfnissen mit dem Parlament. Die katholischen Tendenzen seines Bruders und Nachfolgers Jakobs II. endeten 1688 mit der »glorreichen Revolution«. Die Parteien (Whigs und Tones) riefen den Statthalter der Niederlande, Wilhelm III. von Oranien, und seine Gemahlin Maria, eine Tochter Jakobs II., ins Land. England trat nun in die europäische Koalition gegen Ludwig XIV. ein. ¤ 19 Wilhelm III. von Oranien. Elfenbeinrelief, um 1686. Amsterdam, Rijksmuseum
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¤ 20 Der Philosoph John Locke. Zeichnung von Sylvester Brownover. London, National Portrait Gallery
»Im Jahr 1690 war in England ein Buch erschienen, das den Anspruch der absoluten Monarchie systematisch widerlegte und die uralte Kontrakt-Theorie neu und modern begründete: die ›Abhandlungen über die Regierung‹ von John Locke... In dem ›Versuch über den menschlichen Verstand‹ (1600) wurde Locke zum Gründer der modernen Erkenntnistheorie; jener Tradition, die in Deutschland über Leibniz zum Kritizismus Immanuel Kants, in England über den Idealismus Berkeleys zum Skeptizismus Humes fortschreiten sollte.« (G. Mann) ¤ 21 Die Rückführung der österreichischen Erblande zum christlichen Glauben durch Kaiser Leopold I. nach der Befreiung vom Türkenjoch. Bronzemedaille von Giovanni Vismara, 1686. Hamburg, Kunsthalle ¤ 22 Der Friede von Nimwegen 1678/79 zwischen Frankreich und den Niederlanden. Gemälde von Charles Lebrun. Budapest, Magyar Nemzeti Múzeum
»In den ersten Jahren nach 1661 herrschte Frieden... Der Tod des Königs von Spanien im Jahr 1665 bot Gelegenheit, Ansprüche zu erheben. Auf Grund des Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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›Devolutionsrechts‹ beanspruchte Ludwig XIV. eine Anzahl Städte in den Niederlanden, die er im Sommer 1667 eroberte. Zu Beginn des Jahres 1668 griff er die Franche Comté an, nachdem er sich der Neutralität des Kaisers versichert hatte. England und die Vereinigten Niederlande, seit dem Vertrag von Breda (1667) miteinander versöhnt, und Schweden fanden sich nun bereit, zugunsten Spaniens einzugreifen. Ludwig XIV. schloß daraufhin mit Spanien Frieden... Trotz eines Bündnisses schien die Rivalität mit den Vereinigten Provinzen der Niederlande nur in einem Krieg enden zu können. Als er schließlich im Jahr 1672 ausbrach, errang der König so rasch aufsehenerregende Siege, daß ihm die Regierung der Niederlande zu erstaunlichen Bedingungen den Frieden anbot. Anstatt sich damit zufriedenzugeben, stellte Ludwig XIV. so hohe Ansprüche, daß den Niederländern nichts anderes blieb, als den Krieg fortzusetzen. Im August wurde die bürgerliche Regierung Jan de Witt gestürzt, und die Militärpartei ernannte Wilhelm III, von Oranien zu ihrem Statthalter. Der Kaiser, das Reich und der König von Spanien erklärten Frankreich den Krieg. An allen Fronten erwiesen sich die französischen Streitkräfte jedoch als überlegen. Weitere niederländische Städte wurden genommen, die Franche Comté zum zweitenmal besetzt. Turenne vertrieb die Kaiserlichen aus dem Elsaß. Als Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Gegenschlag wurden im Osten die Heere des mit Frankreich verbündeten Königs von Schweden 1673 bei Fehrbellin von Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg besiegt... Ludwig XIV. hatte gute Gründe für einen Friedensschluß... Tatsächlich war der Friede von Nimwegen, 1679, für Frankreich äußerst vorteilhaft... Frankreich erhob nun auch Ansprüche auf Gebiete außerhalb der neuerworbenen Länder. Dazu wurden besondere Gerichtshöfe, die ›Reunionskammern‹, errichtet mit dem Auftrag, nach alten Grundbüchern Besitzungen zu ermitteln, die einmal zu den von Frankreich neu erworbenen Gebieten gehört hatten. Die Kammern sollten sie zu Bestandteilen des Königreiches erklären... Nichts rechtfertigte jedoch die gewaltsame Besetzung von Straßburg im Jahr 1681... Inzwischen bedrohten die Türken abermals die Grenzen des Reiches. Die europäischen Fürsten, mit Ausnahme des französischen Königs, erstrebten eine Union aller Christen. Ludwig XIV. indessen kannte nur ein Ziel: die Anerkennung seiner Annexionen durch den Kaiser und ganz Europa. Als Wien im Jahr 1683 von den Türken bedroht und belagert wurde, dachte er nicht daran einzugreifen. Truppen unter dem Herzog von Lothringen und dem König von Polen, Johann III. Sobieski, vertrieben die Türken in einer überraschenden Offensive und bewahrten das Reich vor einer Invasion... Ludwig XIV. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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gab sich mit der 1684 erreichten Anerkennung seiner Auslegung des Friedensvertrags von Nimwegen nicht zufrieden. Er verlangte für seinen Bruder, den Herzog von Orléans, der in zweiter Ehe die Prinzessin Liselotte von der Pfalz geheiratet hatte, einen Teil der Erbschaft von dem Kurfürsten von der Pfalz. Auch hier fehlte der juristische Vorwand nicht. Als sich nun aber der Kaiser und die deutschen Fürsten in einer Liga gegen Frankreich zusammenschlossen, verkannte Ludwig die moralische Kraft der Koalition, die er selbst veranlaßt hatte... Auch der Widerruf des Edikts von Nantes im Jahr 1685 hatte Ludwig XIV. das Vertrauen der europäischen Katholiken nicht zurückgeben können, es hatte ihn aber seinen Verbündeten unter den protestantischen Mächten entfremdet... In dieser Periode innerer Unruhe und äußerer Schwierigkeiten erließ Ludwig XIV. das Manifest vom September 1688 über die provisorische Besetzung der Pfalz unter dem Vorwand, ein Glacis schaffen zu müssen.« (V. L. Tapié) Im gleichen Jahr begann die Besetzung der Pfalz, die auf ausdrücklichen Befehl von Louvois in eine systematische Verwüstung ausartete. Eine Welle von Mordgier und Plünderei brach über das unglückliche Land herein und endete mit der Zerstörung Heidelbergs und seines Schlosses, Zum erstenmal erhob sich der Volkshaß gegen Frankreich. »Der Koalitionskrieg von 1688-1697 war für Frankreich eine Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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harte Kraftprobe... Spät paßte Ludwig XIV. seine Politik den veränderten Umständen an. Er hörte auf die Ratschläge Pomponnes, der gewisse Ansprüche der Reunionspolitik unhaltbar fand... Auf dem Kongreß von Ryswijk (1697) gingen die französischen Diplomaten vernünftig vor. Sie verzichteten auf die rechtsrheinischen Annexionen. Ihr großer Erfolg aber war die Bestätigung des Besitzes Straßburgs und des Elsaß.« (V. L. Tapié) ¤ 23 Feuerwerk zu Ehren des von Krankheit genesenen Ludwigs XIV. auf der Piazza di Spagna in Rom im Jahr 1687. Kupferstich ¤ 24 Ländliche Rekrutenaushebung durch das Los. Zeichnung, 1688. Paris, Bibliothèque Nationale ¤ 25 Molières Heiratskontrakt mit Armande Béjard. Zweite Seite mit den Unterschriften, 1662. Paris, Archives Nationales ¤ 26 Molière. Gemälde von Hyacinthe Rigaud. Chantilly, Musée Condré ¤ 27 »Die Schule der Frauen« von Molière. Titelseite der ersten Buchausgabe, 1663
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»Der Beginn der persönlichen Regierung Ludwigs XIV. fiel mit der Blüte einer Literatur zusammen, die mehr und mehr nach Harmonie und vollendeten Formen strebte und sich deutlich von der Literatur der vorhergehenden Periode unterschied. Wegen ihrer Fülle an Phantasie und Unabhängigkeit – oder auch Unregelmäßigkeit – wird sie ›Barock‹ genannt... Der gute Geschmack verhinderte alle Übertreibungen und Trivialitäten und ließ Bilder entstehen, die Verstand wie Gefühl erfreuten. Dieser Geschmack findet sich bei Racine, dessen Tragödie Andromaque, im Jahr 1667, ein voller Erfolg wurde. Er findet sich auch bei Molière, der seiner schier unerschöpflichen Phantasie in Possen, Komödien, Sitten- und Charakterstücken und Balletten freien Lauf ließ. Die erstaunliche Lebensechtheit seiner Figuren und die Wahrscheinlichkeit der Situationen, in denen sich Interesse und Gefühl durchkreuzen, die Feinheit der Anspielungen und ihre überraschende Aktualität rissen das Publikum zu Stürmen der Begeisterung oder der Entrüstung hin... Derselbe Geschmack herrschte bei La Fontaine in der zarten Anmut und verborgenen Weisheit seiner Fabeln. Jede einzelne ist ein klar aufgebautes kleines Drama, das mit seiner einfachen Sprache jedem verständlich ist. Sie konnten daher, was in der Geschichte der Völker selten war, allen Franzosen zu einem geistigen Erbe werden, dessen erzieherische Kraft Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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auch seitdem nicht nachgelassen hat... Seit 1666 gab es die Académie des Sciences. Ihre Mitglieder korrespondierten mit ausländischen Gelehrten, von denen viele, etwa Huyghens, vom König eine Pension erhielten. Sie bemühten sich um besseres Verständnis der wissenschaftlichen Probleme, um fortschreitende theoretische Erkenntnis und deren praktische Anwendung. Die sogenannte Petite Académie hatte ein weniger umfangreiches Tätigkeitsfeld, das aber als notwendig angesehen wurde, um den Ruhm des Königs in den Augen von In- und Ausländern zu festigen. Ihr oblag die Formulierung von Inschriften, die für die Fassaden von Triumphbogen und öffentlichen Bauwerken bestimmt waren oder auf Münzen geprägt werden sollten. Seit 1663 bestand eine Akademie für Malerei und Bildhauerei, acht Jahre später kam eine Akademie für Architektur dazu, beiden wurde ebenfalls die Aufgabe gestellt, die richtigen Methoden zu lehren und aus der Summe der Werke die unveränderlichen Grundregeln herauszuziehen. Auf dem Gebiet der schönen Künste war dies ein besonders heikles Unterfangen... In Rom wurde 1666 eine französische Akademie gegründet, an der sich junge französische Künstler an der römischen Kunst weiterbilden sollten, um nach ihrer Rückkehr über Erfahrung und sicheren, raffiniertesten Geschmack zu verfügen.« (V. L. Tapié)
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¤ 28 Jean de La Fontaine. Gemälde von Nicolaus de Largillière, 1694. Privatbesitz ¤ 29 Jean Racine. Zeichnung seines älteren Sohnes. Paris, Bibliothèque Nationale ¤ Der Streit um die Entdeckung der Integralrechnung. Gottfried Wilhelm Leibniz an Dr. Hans Sloane. Brief vom 4. März 1711. London, British Museum ¤ [Innenseite] Der jahrelange Streit um die Anerkennung als Entdecker der Differential- und Integralrechnung hat das Verhältnis der beiden großen Forscher Newton und Leibniz sehr belastet. Während sich Leibniz als Philosoph auch mit mathematischen Forschungen beschäftigte, war die Mathematik das eigentliche Arbeitsgebiet des Naturforschers Newton. Dieser hatte seine Fluxionenrechnung zwar 1665, ein Jahrzehnt vor Leibniz' umfassenderer Methode, gefunden, doch sie erst 1695 in der »Algebra« des John Wallis veröffentlicht. Um seine Priorität zu beweisen, hatte er Auszüge aus einem kurzen, 1676 geführten Briefwechsel mit Leibniz hinzugefügt, der jedoch nur dunkle Andeutungen enthielt. Daraufhin bezeichnete 1699 der Schweizer Fatio, ein Parteigänger Newtons, Leibniz' Abhandlungen über die Infinitesimalrechnung (1684 und 1686) Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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als Plagiat. Der vorliegende energische Beschwerdebrief wurde geschrieben, als 1708 der Schotte John Keill in der Zeitschrift der Royal Society, deren Mitglied Leibniz war, diesen Vorwurf erneuerte. Im Jahr 1712 hat dann die Gesellschaft – anders als 1699, wie dieser Brief zeigt – auf Grund unvollständigen Materials die Meinung publiziert, Newton müsse die Priorität zuerkannt werden, Leibniz aber habe sich Methoden anderer Mathematiker angeeignet. Die mathematische Wissenschaft der Folgezeit jedoch hielt sich mehr an Leibniz' Methode und an seine Symbole. [Transkription] Adresse: A Monsieur Monsieur Hans Sloane, Medecin celebre et Secretaire de la Societé Royale Londres Text: Viro celeberrimo Dn. Hans Sloane / Medico insigni Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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et Societatis Regiae Londinensis / Secretario Godefridus Guilielmus Leibnitius S.P.D. Gratias ago quod novissimum volumen praeclari / operis Transactionum Philosophicarum ad me misisti;/ quamvis nunc demum mihi Berolinum excurrenti / redditum sit, itaque excusabis quod pro munere superio/ris anni nunc demum gratiae dudum debitae / redduntur. Vellem inspectio operis me non cogeret / nunc secunda vice ad vos querelam deferre. / Olim Nicolaus Fatius Duillerius me pupugerat in / publico scripto tanquam alienum inventum mihi / attribuissem. Ego eum in Actis Eruditorum / Lipsiensibus meliora docui; et Vos ipsi, ut ex literis / à Secretario Societatis vestrae inclytae (id est quantum/ memini à Te ipso) scriptis didici hoc improbastis. / Improbavit Newtonus ipse vir excellentissimus / (quantum intellexi) praeposterum quorundam hac in / re, erga vestram gentem et se studium. Et tamen/ Dn.Keillius in hoc ipso volumine mense Sept.-octob./ 1708 pag. 185 renovare ineptissimam accusationem / visus est, cum scripsit: ›Fluxionum Arithmeticam/ à Newtono inventam mutato nomine et notationis / modo à me editam fuisse‹. Quae qui legit, et credit,/ non potest non suspicari alterius inventum à me laruatum / subdititiis nominibus characteribusque fuisse protrusum./ Id equidem Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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quàm falsum sit, nemo melius ipso Dn./ Newtono novit. Certè ego nec nomen Calculi Fluxionum/ fando audivi, nec characteres quos ahibuit Dn.Newtonus / his oculi(s) vidi, antequam in Wallisianis operibus prodiere./ Rem etiam me habuisse multis antè annis quàm / edidi, ipsae literae apud Wallisium editae demonstrant./ Quomodo ergo aliena mutata edidi quae ignorabam. Etsi autem Dn.Keillium (à quo magis prae/cipiti judicio, quàm malo animo peccatum puto) pro / calumniatore non habeam; non possum tamen non / ipsam accusationem in me inju(st)am/ pro calumnia habere. Et quia verendum est, / ne saepe vel ab improbis vel ab imprudentibus / repetatur, cogor remedium ab inclyta vestra / Societate Regia petere. Nempe aequum / esse Vos ipsi credo judicabitis, ut Dn.Keillius testetur / publicè, non fuisse sibi animum imputandi mihi / quod verba insinuare videntur, quasi ab alio / hoc quidquid est inventi didicerim, et mihi attribuerim. / Ita ille et mihi laeso satisfaciet, et calumniandi / animum à se alienum esse ostendet, et aliis alias / similia aliquando jactaturis frenum mjicietur. – / Quod superest vale et fave. Dabam Berolini / 4 Martii 1711.
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Übersetzung An den hochberühmten Herrn, Herrn Hans Sloane, den hervorragenden Arzt und Sekretär der Royal Society zu London, Gottfried Wilhelm Leibniz mit besten Grüßen. Ich danke dafür, daß Sie mir den jüngsten Band der vortrefflichen Zeitschrift Philosophical Transactions geschickt haben; obwohl er mit erst jetzt bei meinem Besuch in Berlin ausgehändigt worden ist. Daher werden Sie entschuldigen, daß erst jetzt für ein Geschenk des vergangenen Jahres der längst fällige Dank abgestattet wird. Ich wollte, die Prüfung der Zeitschrift zwänge mich nicht, nun zum zweiten Male Euch meine Klage vorzubringen. Vor längerer Zeit hatte mir Nicolaus Fatio von Duilliers in einem Pamphlet vorgeworfen, ich hätte mir sozusagen eine fremde Entdeckung zugeschrieben. In den Acta Eruditorum zu Leipzig habe ich ihn eines besseren belehrt; und auch Ihr selbst habt das mißbilligt, wie ich aus einem Brief erfahren habe, der von dem Sekretär Eurer erlauchten Gesellschaft – d.h. soweit ich weiß, von ihnen selbst – geschrieben worden ist. Auch Newton selbst, dieser hervorragende Mann, mißbilligt – soviel ich weiß – den in Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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dieser Sache Eurem Volk und ihm gegenüber unangebrachten Eifer gewisser Leute. Und dennoch schien es Herrn Keill gut, in diesem Bande vom Sept. 1 Okt. 1708, Seite 185, die höchst törichte Beschuldigung zu erneuern, wenn er schreibt: ›die Rechenmethode der Fluxionen, von Newton erfunden, sei von mir unter Änderung des Namens und der Art der Bezeichnungen herausgegeben worden‹. Wer das liest und glaubt, kann nicht anders als argwöhnen, die Erfindung eines anderen sei von mir mit untergeschobenen Namen und Schriftzeichen maskiert herausgegeben worden. Wie falsch dies allerdings ist, weiß niemand besser als Herr Newton selbst. Ich habe doch weder den Ausdruck Fluxionenrechnung vom Hörensagen gekannt noch die Zeichen, die Herr Newton anwendet, mit eigenen Augen gesehen, bevor sie in den Werken des Waltis erschienen. Daß auch ich die Sache selbst schon viele Jahre gewußt habe, bevor ich sie veröffentlichte, zeigen die bei Wallis herausgegebenen Briefe. Wie kann ich also Fremdes abgeändert herausgegeben haben, das ich nicht kannte? Wenn ich aber auch Herrn Keill – von dem ich glaube, daß er mehr aus vorschnellem Urteil als in schlechter Absicht einen Fehler begangen hat – nicht für einen Verleumder halte, so kann ich Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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doch nicht umhin, diese ungerechte Anklage gegen mich für eine Verleumdung zu halten. Und weil zu fürchten ist, daß sie häufig von böswilligen oder auch unklugen Leuten wiederholt wird, bin ich gezwungen, von Eurer erlauchten Royal Society Abhilfe zu erbitten. Auch Ihr werdet, glaub' ich, meinen, es sei recht und billig, daß Herr Keill öffentlich erklärt, es sei nicht seine Absicht gewesen, mir das zuzuschreiben, was seine Worte nahezulegen scheinen – sozusagen als hätte ich von jemand anderem das ganze, was zu dieser Erfindung gehört, gelernt und es mir zugeschrieben. So wird er mir, den er verletzt hat, Genugtuung leisten und auch zeigen, daß ihm die Absicht zu verleumden ferngelegen hat, zugleich werden anderen, die irgendwann an anderer Stelle ähnliches Gerede vorbringen wollen, Zügel angelegt. – Im übrigen: leben Sie wohl und bleiben Sie mir gewogen. Gegeben zu Berlin, am 4. März 1711. ¤ 30 Titelseite des Dictionnaire historique et critique von Pierre Bayle, 1695-97
»Bayles Hauptwerk ist sein Dictionnaire historique et critique, ein Ein-Mann-Lexikon und einsamer Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Vorläufer der Enzyklopädie; mit dem Unterschied, daß, wenn die Enzyklopädisten den Aberglauben bekämpfen wollten durch die Verbreitung positiven Wissens, Bayle die Geschichte der menschlichen Irrtümer, der Verbrechen der Könige und Priester, zu einem Hauptgegenstand machte. Warum, fragt er hier einmal, die Beschreibung aller dieser ›furchtbaren Verirrungen‹, dieser Religionskriege, dieser unsagbaren Barbareien? Wäre es nicht besser, sie zu vergessen? Er bestreitet es. ›Wie alle Sachen zwei Seiten haben, so kann man aus sehr guten Gründen wünschen, daß die Erinnerung an diese furchtbaren Verirrungen sorgfältig aufbewahrt bleibe.‹ Aus der Nacht ans Licht; kennt, versteht man die dunkle Vergangenheit, so wird man es in Zukunft besser machen... Es ist schon die Position Voltaires; ohne allzu große Achtung für die Menschheit, aber nicht ohne Hoffnung, nicht ohne helfenden Willen. – Ein Freund der Könige, wie Voltaire, war Bayle nicht. Er triumphierte noch nicht; er mußte kämpfen, sich verbergen, mitunter zu seiner Verteidigung taktisch ausweichen. Aber gelesen wurde er; und wenn seinesgleichen hundert Jahre früher auf dem Scheiterhaufen gestorben wäre, so vollendete er sein Leben in Freiheit, obgleich im Exil.« (G. Mann) »Bossuet war ein selbstsicherer Sprecher der katholischen Monarchie, ein pomphafter Hofprediger des Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Königs, der den Königinnen, Prinzen, Marschällen die Grabrede hielt, als tönender Anwalt der Vorsehung, an die er unerschütterlich glaubte. Ein Seelenkenner übrigens, der in seinen Predigten Betrachtungen einflocht, wie sie in der Tradition der französischen Psychologie lagen. Diener der Kirche, war er auch einer des Königs; aber er scheute sich nicht, ihm und dem Thronfolger, um dessen Erziehung er sich zehn Jahre lang vergeblich bemühte, heilsame Wahrheiten zu sagen. ›Sie haben zu bedenken, Sire, daß Ihr Thron Gott gehört, daß Sie an seiner Stelle stehen, daß Sie nach seinen Gesetzen regieren müssen. Die Gesetze, die er Ihnen gab, wollen, daß Ihre Macht nur den Schlechten unter Ihren Untertanen furchtbar sei und daß die Übrigen in Sicherheit und Frieden leben können, indem sie Ihnen gehorchen... Aber der Krieg, der Eure Majestät zu so großen Ausgaben verpflichtet, verpflichtet Sie auch, nicht das Volk zu verderben, durch das allein Sie den Krieg führen können.‹« (G. Mann) ¤ 31 Jacques-Bénigne Bossuet. Gemälde von Hyacinthe Rigaud, 1698-1705. Paris, Louvre ¤ 32 Der gebratene Ochse und Weinfontänen bei der Krönungsfeier Friedrichs I. von Preußen in Königberg am 18. Januar 1701. Zeichnung von Johann Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Friedrich Wentzel. Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Kunstbibliothek ¤ 33 Die Residenzstadt Berlin. Federzeichnung von Christian L. Caulitz, vor 1710. Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum ¤ 34 Peter der Große von Rußland. Gesichtsmaske aus seinem letzten Lebensjahr, 1725
»Wirtschaftliche und religiöse Kräfte förderten den Aufstieg des Hauses Brandenburg, dessen Haupt, Friedrich I., der Sohn des Großen Kurfürsten, 1701 die Würde eines Königs in Preußen erlangte. Es ist erstaunlich, daß dieser Staat aus unzusammenhängenden Provinzen einen derartigen Erfolg erringen und durch emsiges Streben auf die Dauer seine Macht behaupten konnte. Arbeitsam und geduldig bemüht, blieb er trotz der pietistischen Strömung der lutherischen Religion treu.« »Zar Peter I. von Rußland wuchs zusammen mit seinem Bruder Iwan V. unter der Regentschaft seiner älteren Schwester Sophie heran. Als Autodidakt, der für die ihm kaum bekannten russischen Traditionen nur Abscheu und Verachtung übrig hatte, ging er daran, sein Land zu reformieren und dort westeuropäische Einrichtungen einzuführen... Sein Wunsch Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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nach raschen Fortschritten drängte ihn dazu, Fabriken zu gründen, eine Flotte zu bauen, die Eisenerzlager im Ural zu erschließen, deren Ausbeute er als Konkurrenz für die schwedischen Erze an England zu verkaufen gedachte, und staatliche Manufakturen zu gründen und zwang einem Rußland, dessen Züge von der Vergangenheit und ihren Mängeln geprägt waren, die äußeren Formen eines westlichen Staates auf; er verließ Moskau, die natürliche Hauptstadt und gründete die neue Hauptstadt, St. Petersburg, dem Land gegenüber, dem es zu trotzen galt: Schweden.« (V. L. Tapié) Um die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts machte die Eroberung Sibiriens stürmische Fortschritte. Bereits 1644 war ein Kosak bis zur Kolyma am Nördlichen Eismeer vorgedrungen, und im Jahr 1648 entdeckte Semjon Deschnew die Bering-Straße. Als Wladimir Atlassow um 1700 die Halbinsel Kamtschatka erobert hatte, erwachte Peters Interesse. Sein Befehl lautete, den Seeweg über das Eismeer nach China zu finden. Mit dieser Aufgabe betraute er den Dänen Vitus Bering. Erst lange nach Peters Tod fand die große Expedition statt, die unter furchtbaren Entbehrungen entlang den Aleuten nach Alaska führte. Auf der Rückfahrt starb Bering am 8. Dezember 1741 auf der nach ihm benannten Insel.
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¤ 35 Verrostete Kanonen am Ufer der Bering-Insel vom Flaggschiff ihres Entdeckers Vitus Bering ¤ 36 Der Spanische Erbfolgekrieg. Friedensvertrag von Rastatt zwischen Kaiser Karl VI. und König Ludwig XIV., 17. Schlußseite mit den Unterschriften des Prinzen Eugen und des Herzogs von Villars. Wien, Haus- und Staatsarchiv ¤ 37 Prinz Eugen von Savoyen mit den Ehrengaben des Papstes Clemens XI. Gemälde, nach 1716. Wien, Heeresgeschichtliches Museum
Mit dem Tod König Karls II. im Jahr 1700 starb die spanische Linie des Hauses Habsburg aus. »Auf dem Höhepunkt seines Ruhmes hatte Ludwig XIV. die Thronfolge für den Dauphin, den Sohn der ältesten Schwester Karls II., gefordert, hatte aber später einer Teilung zugestimmt. Doch weder der König von Spanien noch der Kaiser erkannten diese Teilungsverträge an. Karl II. beabsichtigte vielmehr, die Monarchie ungeteilt einem Erben seiner Wahl zu übertragen, und Kaiser Leopold hoffte, daß sein zweiter Sohn, Erzherzog Karl, der Auserwählte sein würde. Aber als Karl II. im November 1700 starb, bestimmte sein Testament den Herzog Philipp von Anjou, einen Enkel Ludwigs XIV., zum Alleinerben seiner Besitzungen... Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Der Spanische Erbfolgekrieg von 1701-1713 brachte Ludwig XIV. ein letztes Mal in eine ernste Krise; nach mehreren« Schlachten, die der Prinz Eugen und der Herzog von Marlborough getrennt und vereint in Deutschland, Italien und in den Niederlanden schlugen, »schien es, als habe die französische Armee trotz ihrer hervorragenden Heerführer ihren alten Ruf endgültig verspielt... Da kamen Ludwig XIV. veränderte Umstände zu Hilfe. Erzherzog Karl, ein intelligenter Fürst, mußte nach dem vorzeitigen Tod seines älteren Bruders, des Kaisers Joseph, im Jahre 1711 das Erbe in den österreichischen Ländern antreten... Unter diesen Umständen konnten in Utrecht und Rastatt 1713 und 1714 Friedensverhandlungen eröffnet werden... Spanien und das amerikanische Kolonialreich wurden nun Philipp V. zugesprochen, Karl, inzwischen Kaiser Karl VI., erhielt die Niederlande, Neapel und Mailand; Sizilien ging mit dem Königstitel an den Herzog von Savoyen, und Frankreich behielt Straßburg und das Elsaß... Die herausfordernde Außenpolitik in der Zeit der Erfolge hatte schließlich den Widerstand ganz Europas hervorgerufen. In den Koalitionskriegen und im Spanischen Erbfolgekrieg mußte sich Frankreich zum Kampfe stellen. Die schweren Belastungen, denen die französische Politik ausgesetzt war, waren jedoch großenteils selbst verschuldet. Daß das Schlimmste verhütet wurde, ist ein Beweis für die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Lebenskraft des Volkes und des Regimes. Im Jahr 1715 aber war nicht mehr von einer europäischen Hegemonie Frankreichs die Rede.« (V. L. Tapié) ¤ 38 Ludwig XIV. mit seinem ältesten Sohn, dem Grand Dauphin, seinem ältesten Enkel und ältesten Urenkel. Gemälde von Nicolas de Largillière. London, Wallace Collection ¤ 39 Todesanzeige Ludwigs XIV. († 1. September 1715). Paris, Archives Nationales
»Bis in seine allerletzten Tage übte der König die Macht aus und hielt an der Rolle fest, zu der ihn seine kraftvolle Gesundheit befähigt hatte. Unzweifelhaft war das monarchische System, dessen Mechanismus er seit 1661 ausgebildet und beherrscht hatte, in hohem Maße von seiner Person abhängig. Indem er wesentliche Merkmale des Regierungsstils seiner Vorgänger weiterentwickelte, aber auch durch das Regieren ohne Premierminister, hatte er ein Regime geschaffen, in dem die Macht des Königs keine Grenzen kannte.« (V. L. Tapié) ¤ 40 Feierliche Parlamentssitzung (Lit de justice) unter dem Vorsitz Ludwigs XV. im Jahr 1723. Gemälde von Nicolas Lancret. Paris, Louvre Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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»Ludwig XIV. überlebte den Sohn und den Enkel, und Erbe der Krone wurde ein Kind, der erst fünfjährige Urenkel des Sonnenkönigs, für den Philipp von Orléans, der Neffe Ludwigs XIV. und Sohn der Liselotte von der Pfalz, die Regentschaft führte. Nun drängten fast alle in den letzten Jahrzehnten mühsam zurückgestauten Gewalten mit neuer Kraft hervor. Das zeigte sich bereits bei der Anerkennung der Regentschaft des Orléans: der höchste Gerichtshof des Landes, das Parlement de Paris, gewann das Recht zurück, gegen königliche Verordnungen zu remonstrieren und damit zu verhindern, daß sie Gesetzeskraft erlangten. Wohl war der Regent als Staatsmann gewiß besser als sein Ruf, obwohl er in militärischer Hinsicht durch die Niederlage von Turin im Jahr 1706, in moralischer durch eigene Ausschweifungen in den Augen von Mit- und Nachwelt hoffnungslos kompromittiert erscheint. Doch verdient festgehalten zu werden, daß er in der Außenpolitik eine Annäherung an England anbahnte... Nach dem Tode des Regenten, im Jahr 1723, übernahm der Herzog Louis Henri de Bourbon die Leitung der französischen Politik. Kurzsichtige persönliche Motive haben ihn zu dem einzigen geschichtlich folgenschweren Schritt veranlaßt, der aus den drei Jahren der Regierung dieses unbedeutenden Mannes zu vermerken ist: zur Auflösung der Verlobung Ludwigs XV. mit der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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spanischen Infantin Maria und zur Vermählung des erst fünfzehnjährigen Herrschers mit Maria Leszczynska, der Tochter des vertriebenen polnischen Königs von Karls XII, Gnaden, der als französischer Pensionär ein armseliges Leben fristete. Erst der Gegner und Nachfolger des Herzogs von Bourbon, der Kardinal Fleury, hat dann diese ›erstaunlichste Mesalliance der französischen Geschichte‹ (G. P. Gooch) mit dazu verwendet, um die schon im siebzehnten Jahrhundert immer wieder erstrebte, bisher aber stets gescheiterte Erwerbung des Herzogtums Lothringen für Frankreich vorzubereiten. In dem der Vermählung Ludwigs XV. folgenden Jahr 1726 wurde der unfähige Herzog von Bourbon von dem bisherigen Erzieher des jungen Herrschers, dem damals bereits dreiundsiebzigjährigen Kardinal André Hercule de Fleury, gestürzt, der nun durch anderthalb Jahrzehnte Frankreichs Geschicke leitete. Wie sein Zeitgenosse Walpole in England zwar nicht nominell, aber tatsächlich Premierminister, war er wie jener ein grundsätzlicher Freund des Friedens und bestrebt, dem Lande eine Atempause nach den Kriegen und Krisen der vergangenen Jahrzehnte zu verschaffen. Der Friedensliebe nach außen entsprach eine aufgeklärte, wohlwollende, zugleich sparsame und tolerante Regierung im Innern, wobei sich Fleury auf die Mitarbeit tüchtiger Minister stützen konnte. Im Polnischen Thronfolgekrieg hat der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Kardinal mit einem Minimum an militärischer Anstrengung ein Maximum an politischem Erfolg erzielt. Erst in den letzten Jahren seines Lebens sind die Zügel der Regierung den schwächer werdenden Händen des fast neunzigjährigen Greises entglitten, und – wiederum wie Walpole - ist auch er wider Willen von einer inneren Opposition in den neuerlichen Krieg mit England geradezu hineingezwungen worden.« (A. Wandruszka) »Die Bemühungen um die Sanierung der Staatsfinanzen führten zu dem Versuch des Schotten John Law, durch Übernahme und Ausweitung des vor allem in Holland und England entwickelten Bank- und Kreditwesens, durch die Ausgabe von Papiergeld und Aktien der den Handel mit Louisiana betreibenden privilegierten Mississippi-Kompanie die Staatsschuld zu verringern. Ähnlich wie im Falle der Südseegesellschaft (South Sea Bubble) in England trieb auch in Frankreich das Spekulationsfieber die Aktien in schwindelhafte Höhen. Die von der merkantilistischen Wirtschaftspolitik Colberts begründete Konzentrierung und Zentralisierung des französischen Wirtschaftslebens aber führte, zusammen mit der Tatsache, daß der Regent dem schottischen Abenteurer die Leitung der gesamten Staatsfinanzen übertrug, zu dem auch hier unvermeidlichen und bald Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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eingetretenen Staatsbankrott, der nicht nur wie in England den Ruin zahlreicher Existenzen zur Folge hatte, sondern auch das Ansehen des Staates selbst schwer schädigte und ein tiefes Mißtrauen in die staatliche Wirtschafts- und Finanzpolitik hinterließ. Daß der Regent gegen den vielleicht zu hohen Preis der Vernichtung zahlloser Existenzen und der Erschütterung des Vertrauens das ursprüngliche Ziel des gewagten Unternehmens, die Verringerung der Staatsschuld, schließlich doch erreichte, sollte bei der Beurteilung nicht übersehen werden.« (A. Wandruszka) ¤ 41 Banknote der von John Law gegründeten Banque Royale über 10 Livres, 1719. Paris, Bibliothèque Nationale ¤ 42 Karikatur auf den finanziellen Zusammenbruch der Südseegesellschaft (South Sea Bubble) im Jahr 1720. Kupferstich von William Hogarth, 1721 ¤ 43 Die Rue Quinquempoix in Paris mit der JohnLaw-Bank. Kupferstich in einem Kalender auf das Jahr 1719 ¤ 44 Belehnung des Herzogs Franz Stephan von Lothringen mit dem Großherzogtum Toskana durch Kaiser Karl VI. im Jahr 1737. Schlußseite der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Urkunde. Wien, Haus-, Hof- und Staatsarchiv »Kaiser Karl VI. hat bald nach dem Antritt der Herrschaft in Österreich jenes staatsrechtliche Band geschaffen, das alle Länder und Herrschaften des Hauses Österreich ›unteilbar und untrennbar vereinigen sollte und das die Grundlage bildete für die spätere staatliche Entwicklung der Donaumonarchie bis zu ihrer Auflösung im zwanzigsten Jahrhundert: die ›Pragmatische Sanktion‹ die Erb- und Thronfolgeordnung, die 1713, im Jahr des Utrechter Friedens, erlassen wurde... Fragen der Etikette und des höfischen Vorrangs zwischen den Töchtern des verstorbenen Kaisers Joseph I. und deren Tanten, den Töchtern Leopolds I., machten es dann notwendig, rasch jene Rangfolge festzulegen, die der künftigen männlichen, bei Fehlen einer solchen aber auch der weiblichen Nachkommenschaft des derzeitigen Herrschers den Vorrang sichern sollte... Der Kampf um die Anerkennung der Pragmatischen Sanktion ist daher in den beiden letzten Jahrzehnten der Regierung Karls VI. ein beherrschendes Motiv seiner Innen- und Außenpolitik geworden. In langwierigen Verhandlungen mit den Ständen der einzelnen Länder wurden diese zur Annahme der Pragmatischen Sanktion veranlaßt... Weit schwieriger als die Zustimmung der Landtage war naturgemäß die der europäischen Mächte zu erlangen. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Hier hat Karl VI. schwere Opfer bringen müssen... In dem englisch-österreichischen Geheimvertrag vom 16. März 1731 war bestimmt worden, daß die Garantie Großbritanniens und der Generalstaaten für die Pragmatische Sanktion nur dann Geltung behalten sollte, wenn die Erbin der österreichischen Monarchie einen Prinzen von so geringer eigener Macht heiraten würde, daß dies keine Störung des europäischen Gleichgewichts bedeute. Dieser Bestimmung entsprach durchaus die Absicht des Kaisers, seine Tochter mit dem am Wiener Hof aufgewachsenen jungen Herzog Franz Stephan von Lothringen zu vermählen, und daß die Erzherzogin Maria Theresia selbst von inniger Zuneigung zu ihrem Jugendgespielen erfüllt war, konnte als ein bei den politisch-dynastischen Verbindungen der Zeit äußerst seltener Glücksfall gelten. Für die französische Politik aber mußte die Vereinigung des Herzogtums Lothringen mit der österreichischen Monarchie untragbar erscheinen. Selbst das Friedensbedürfnis Fleurys ging nicht so weit, daß er eine solche Lösung widerspruchslos hingenommen hätte.« (A. Wandruszka) ¤ 45 König Friedrich II. von Preußen. Gemälde von Johann Heinrich Franke, 1764. Berlin, Verwaltung der Ehem. Staatl. Schlösser u. Gärten, Schloß Charlottenburg Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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¤ 46 Kaiser Franz I. Gemälde von Martin van Meytens d. J., um 1747. Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum ¤ 47 Kaiserin Maria Theresia. Gemälde von Martin van Meytens d. J., 1744. Wien, Historisches Museum der Stadt
»Spanien hatte sich längst wieder von Österreich abund Frankreich zugewandt... Mit dem Rückhalt an Frankreich nahm Spanien wieder seinen ursprünglichen Plan auf, das große süditalienische Königreich zu gewinnen, Den Anlaß zur Verwirklichung ihrer Absichten bot den bourbonischen Höfen der Tod Augusts II., des ›Starken‹, des ersten polnischen Königs aus dem sächsischen Hause, am 1. Februar 1733. Die Erklärung des Wiener Hofes, eine Rückkehr des Stanislaus Leszczynski – jetzt der Schwiegervater des französischen Königs – auf den polnischen Thron auf keinen Fall zuzulassen, verletzte das polnische Selbstbewußtsein und förderte ungewollt die Wahl Leszczynskis, der am 12. September mit großer Mehrheit gewählt wurde. Das Einrücken russischer Truppen zwang den gewählten König zum Verlassen des Landes, und unter dem Druck der verbündeten Mächte Österreich, Preußen und Rußland wurde der Sohn Augusts des Starken, der sächsische Kurfürst Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Friedrich August, als August III. zum König von Polen ausgerufen. Obwohl österreichische Truppen polnischen Boden gar nicht betreten hatten, war nun mit dieser Stellungnahme Wiens für die bourbonischen Höfe ein Kriegsgrund gegen Österreich gegeben. Der Hauptschlag gegen die habsburgische Macht sollte in Italien erfolgen... Die Österreicher erlitten am 25. Mai 1734 auf dem süditalienischen Kriegsschauplatz bei Bitonto in Apulien, am 29. Juni im Norden bei Parma gegen Franzosen und Sarden die kriegsentscheidenden Niederlagen... So kam es schon am 3. Oktober 1735 zum Abschluß der Präliminarien des Wiener Friedens zwischen dem Kaiser und Frankreich. Stanislaus Leszczynski, der Schwiegervater des französischen Königs, erhielt die bisher dem künftigen Schwiegersohn des Kaisers, Franz Stephan von Lothringen, gehörenden Länder, die Herzogtümer Lothringen und Bar, das ein Lehen der Krone Frankreichs war. Nach dem Tode des ›guten Königs Stanislaus‹ sollten die Herzogtümer mit Frankreich vereinigt werden; damit hatte Fleury ein altes Ziel der französischen Politik erreicht und konnte der Heirat Franz Stephans mit Maria Theresia ebenso wie der Pragmatischen Sanktion zustimmen. Franz Stephan sollte nach dem Aussterben der Medici das Großherzogtum Toskana erhalten... Bereits im Februar 1736 fand die Vermählung Franz Stephans mit Maria Theresia statt; Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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im Jahr 1737 starb der letzte Großherzog aus dem Hause Medici, und der Lothringer kam in den Besitz der Toskana.« (A. Wandruszka) ¤ 48 Friedrich II. von Preußen mit seinen Generälen. Zeichnung, um 1750. Berlin, Galerie Gerda Bassenge
»Nach der Regierung seines Vaters Friedrich I., der mit der Annahme der Königskrone ein für die preußische Staatswerdung wesentliches Symbol geschaffen hatte, war Friedrich Wilhelm I. vor allem bemüht, die innere Verwaltung der ererbten Länder zu straffen und zu zentralisieren, die erschöpften Finanzen zu sanieren und mit den neuen Geldmitteln ein schlagkräftiges, gut ausgerüstetes Heer aufzubauen... Friedrich Wilhelm I. konnte dieses von ihm geschaffene militärische Machtinstrument und den von ihm gesammelten Kriegsschatz allerdings nicht mehr selbst für die Erweiterung und Abrundung seines Staates einsetzen... Im Jahr 1740 folgte ihm sein Sohn Friedrich. Der tiefe Gegensatz zwischen Vater und Sohn hatte die Jugend des Kronprinzen überschattet und seinen Charakter geprägt. Früh strebte er nach heiterem, kultiviertem, ja raffiniertem Lebensgenuß... Schon in den letzten Jahren seiner Kronprinzenzeit trat Friedrich in brieflichen Kontakt mit den führenden Geistern seiner Zeit, voran dem Fürsten der europäischen Aufklärung: Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Voltaire... Im Jahr 1740 starb Kaiser Karl VI. Nun wechselte Friedrich in schneller Erfassung der Chancen die Richtung seiner außenpolitischen Aspirationen. An die Stelle einer stärkeren preußischen Position am Niederrhein trat ein weit lohnenderes Ziel: Schlesien... Entscheidend war für ihn die Gunst der Stunde; der Gegensatz der Großmächte im Westen, der nach Karls VI. unglücklichem Türkenkrieg und dem Frieden von Belgrad offenkundig gewordene Machtverfall Österreichs... zu allen diesen Elementen der Unruhe kam nun noch die durch den Tod des letzten männlichen Habsburgers aufgeworfene Frage der Nachfolge im Kaisertum hinzu. Sollte der Gemahl der Erbin der österreichischen Monarchie Römischer Kaiser werden oder der Kurfürst von Bayern?... Am 16. Dezember 1740 brach Friedrich ohne Kriegserklärung mit seiner Armee in Schlesien ein. Die Besetzung des Landes bot keine Schwierigkeiten. Im Frühjahr des folgenden Jahres konnten viel zu schwache österreichische Verbände den Versuch unternehmen, Schlesien zurückzugewinnen. Sie unterlagen am 10. April 1741 bei Mollwitz der Überlegenheit der preußischen Grenadiere.« Auch ein zweiter »Schlesischer Krieg« endete mit der österreichischen Niederlage bei Hohenfriedberg 1745. »Für Maria Theresia war es ein glücklicher Umstand, daß der wittelsbachische Kurfürst Karl Albrecht nach Böhmen abbog... Am 14. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Januar 1742 wurde er in Frankfurt zum Kaiser gewählt.« (A. Wandruszka) ¤ 49 Schloß Schönbrunn in Wien. Gemälde von Bernardo Bellotto, 1759. Wien, Kunsthistorisches Museum ¤ 50 Katharina II. von Rußland als Beschützerin der Künste. Kupferstich eines unbekannten Künstlers ¤ 51 William Pitt, Earl of Chatham. Gemälde aus der Werkstatt von R. Brompton. London, National Portrait Gallery
Unter den schwachen Nachfolgern Peters des Großen lag die Regierung in den Händen von schnell wechselnden Ausländern. Im Jahr 1741 gelangte Peters Tochter Elisabeth auf den Thron. »Der stärkste Nutznießer der inneren Konsolidierung war der Adel, der jetzt erst den Höhepunkt seiner Privilegierung und der unumschränkten Herrschaft über die ›leibeigenen‹ Bauern erreichte... Dem Abbruch der russischen Beziehungen zu Frankreich, im Jahr 1748, folgte 1750 der Bruch mit Preußen, Die Zarin stand nun fest an der Seite Österreichs und trat als Verbündete Maria Theresias auch in den Siebenjährigen Krieg ein.« Noch im Jahr seines Regierungsantritts, 1762, wurde Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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ihr Nachfolger Peter III. ermordet. »Der blutige Schatten dieser Tragödie am Beginn ihrer Regierung hat die deutsche Prinzessin, die als Zarin Katharina II. auch im russischen Riesenreich das Ideal der Zeit, eine aufgeklärte ›philosophische‹ Monarchie, verwirklichen wollte, zeitlebens nicht verlassen... Sie mußte alles tun, um die Empfindlichkeit der altmoskowitischen Traditionen und des erwachenden russischen Nationalgefühls zu schonen und selbst als echte Russin zu erscheinen. Auf der anderen Seite aber war sie ehrlich bemüht, den Abstand zwischen Rußland und dem Westen zu verringern. Aus dem unüberbrückbaren Gegensatz zwischen den Ideen der westlichen ›Philosophen‹ und Enzyklopädisten, mit denen Katharina korrespondierte, die sie zu gewinnen suchte, und den geschichtlichen, sozialen, religiösen Verhältnissen und Überlieferungen in Rußland ergab sich eine Spannung, die mit dem Schlagwort von den ›Potemkinschen Dörfern‹ wieder nur sehr oberflächlich erfaßt wird.« (A. Wandruszka) Der achtjährige Krieg um das österreichische Erbe hatte mit dem Frieden von Aachen, 1748, geendet. Während der wechselnden Koalitionen der nächsten Jahre verlagerten sich die kriegerischen Ereignisse vornehmlich in die Kolonien. »Der Siebenjährige Krieg begann für England keineswegs günstig... Erst mit der Berufung des dann zum Earl of Chatham erhobenen William Pitt (des Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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›Älteren‹) wandte sich das Schicksal: er setzte beträchtliche Subsidienzahlungen an Preußen durch und intensivierte den Seekrieg. Im ›wunderbaren Jahr‹ 1759 gelangen zwei entscheidende Schläge zur See: der Sieg über die französische Mittelmeerflotte bei Lagos und der Sieg über die französische Atlantikflotte in der Bucht von Quiberon... Im gleichen Jahr kam es auch in Nordamerika zum entscheidenden britischen Sieg von Quebec... Ein Jahr später fiel Montreal... Ähnlich wirkte sich die englische Überlegenheit zur See auch in Indien aus, wo Robert Clive erfolgreich gegen die Franzosen und die mit ihnen verbündeten indischen Fürsten operierte. Durch den Sieg am 23. Juni 1757 bei Plassey geriet der reichste Teil Indiens unter britischen Einfluß... Im Frieden von Paris, 1763, erhielt England von Frankreich Kanada und Cape Breton, von Spanien Florida. In Westindien verlor Frankreich an England die Inseln St. Vincent, Dominica und Tobago, in Afrika Senegal. In Indien blieben von dem französischen Besitz nur fünf Hafenplätze in französischer Hand. Das seit Colbert und Ludwig XIV. errichtete erste Kolonialreich Frankreichs war damit fastganzvernichtet.« (A. Wandruszka) ¤ 52 Marquise de Pompadour. Pastell von Maurice Quentin de La Tour, 1756. Paris, Louvre, Cabinet des Dessins Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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¤ 53 Damenkarussell in Anwesenheit der Kaiserin Maria Theresia in der Wiener Reitschule im Jahr 1743. Gemälde aus der van-Meytens-Schule. Wien, Schloß Schönbrunn
»Friedrich hatte gerade das herbeigeführt, was er hatte verhindern wollen: das Zustandekommen einer großen europäischen Koalition gegen Preußen... Zunächst aber schien der ›Wechsel der Allianzen‹ zum Schaden Preußens einen erheblichen Gewinn für Österreich zu bringen, und so wird es verständlich, daß Friedrich sein Heil in der ›Flucht nach vorn‹ suchte... Dank einer Reihe von Siegen, wie dem der preußischen Reiterei unter dem General von Seydlitz 1757 bei Roßbach über die Franzosen und die Reichsarmee, dem von Leuthen, im Dezember 1757, und dem bei Zorndorf über die Russen, 1758, vermochte Friedrich die Initiative an sich zu reißen. Aber die Niederlage, die ihm Daun bei Hochkirch im Oktober 1758 beibrachte, und erst recht der Sieg der vereinigten Österreicher und Russen unter Laudon bei Kunersdorf am 12. August 1759 schienen das Ende der preußischen Machtstellung, ja das Ende Preußens zu bringen. Nach Hochkirch und nach Kunersdorf stand Friedrich am Rande der Verzweiflung... Die Rettung für den preußischen König brachten dann einmal die Kriegsmüdigkeit und Erschöpfung auch der Gegner, vor Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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allem aber der Tod der Zarin Elisabeth im Januar 1762. Ihr Nachfolger Peter III. aus dem Hause Holstein beeilte sich, im Mai 1762 einen Frieden, dann sogar ein Bündnis mit Friedrich II. zu schließen. Aber Peter wurde bald darauf beseitigt, und seine Gemahlin, Sophie von Anhalt-Zerbst, bestieg als Katharina II. den Zarenthron... Inzwischen waren auch England und Frankreich im November 1762 übereingekommen, den Krieg zu beenden, und hatten am 10. Februar 1763 in Paris Frieden geschlossen; für Deutschland wurde am 15. Februar 1763 in Schloß Hubertusburg bei Oschatz in Sachsen der Friede unterzeichnet: der territoriale Besitzstand blieb unverändert, Maria Theresia mußte sich endgültig mit dem Verlust Schlesiens und der Großmachtstellung Preußens abfinden... So paradox es erscheinen mag, das Prestige beider Mächte in Deutschland wie in Europa ging gestärkt aus dem Kampf hervor. Vor allem die Tatsache, daß Friedrich sich gegenüber einer so großen und mächtigen Koalition hatte behaupten können, hinterließ bei Zeitgenossen und Nachwelt einen tiefen Eindruck... Das Verlangen nach Heldenverehrung fand in der großen einsamen Gestalt Friedrichs ein ideales Objekt, wie es uns die zeitgenössische Literatur ebenso zeigt wie Goethes rückblickende Erinnerung.« (A. Wandruszka)
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¤ 54 »Candide« von Voltaire. Textbeginn der Erstausgabe, 1759. Paris, Bibliothèque Nationale ¤ 55 Der alte Voltaire. Zeichnung von Jean Huber. Château de Vincy, Collection de Lessert
»Geschichte als Geschichte des Geistes, als Kulturgeschichte, nicht als eine Häufung von Tatsachen, von denen jede die andere auslöscht, Geschichte nicht als Heroen- und Herrscherkult – das war das Ziel Voltaires. Eine Wendung trat ein durcli die vielen historischen Werke, die ihn berühmt gemacht haben: vor allem durch die ›Geschichte Karls XII.‹ (1731), das ›Zeitalter Ludwigs XIV. ‹ (1751), die ›Geschichte Rußlands unter Peter dem Großen‹ (1759) und den großen Essay über den ›Geist der Nationen (17561775). Voltaire schöpfte aus Quellen, aus kritisch verarbeiteten Einzelstudien – ebenso wichtig waren ihm die Berührungen mit Menschen, die Augenzeugen von Ereignissen waren, die er schilderte... Diderot und D'Alembert verbanden sich als Herausgeber der ›Encyclopédie‹ mit einer société des gens de lettres, wodurch die zur geistigen und sozialen Wandlung zusammenwirkenden Richtungen, die Unabhängigkeit von Hof, Adel und Kirche, scharf zum Ausdruck kamen: Die Schriftsteller ergreifen nun die Möglichkeit zur Führerschaft und wenden sich nicht an einen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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bestimmten Leser, nicht an ein begrenztes Publikum, sondern an die ›öffentliche Meinung‹. Wenn auf dem Titelblatt die Künste und Gewerbe, aber auch die Schriftsteller genannt sind, so kommt darin die Gesamtansicht der Enzyklopädie zum Ausdruck, die eine Synthese von Wissenschaft und Literatur sein wollte.« (F. Schalk) ¤ 56 Aufnahmediplom Diderots in die Preußische Akademie zu Berlin vom 4. März 1751 mit der Unterschrift des Präsidenten Maupertuis. Paris, Bibliothèque Nationale ¤ 57 Goethe und Corona Schröter als Orest und Iphigenie in Goethes »Iphigenie« in der Aufführung im Redoutensaal in Weimar, 1779. Gemälde von Georg Melchior Kraus. Weimar, Goethe-Nationalmuseum ¤ 58 Gotthold Ephraim Lessing. Gemälde von Anton Graff. Leipzig, Universitätsbibliothek
»Dem ganz in der französischen Geistigkeit des ablaufenden Zeitalters wurzelnden Friedrich II. hat man sein geringes Verständnis für die eben aufblühende deutsche Literatur und für die neuentdeckte deutsche Dichtung des Mittelalters zum Vorwurf gemacht; Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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doch hat er 1780 in seiner Schrift De la littérature allemande die kommende Blüte der deutschen Literatur prophezeit und sich selbst mit Moses verglichen, der das gelobte Land wohl sehen, aber nicht mehr betreten werde. Preußen und Österreich waren auf dem Wege zur Ausbildung des modernen Staates den anderen deutschen Ländern zunächst weit vorausgegangen und hatten in Friedrich und Maria Theresia weithin leuchtende Leitbilder geschaffen. In dieser letzten Phase des Zeitalters jedoch wurden sie auf manchen Gebieten von den mittleren und kleinen Staaten eingeholt, teilweise sogar überholt, die meist ohne außenpolitische Sorgen und Belastungen den ›Werken des Friedens‹ ihre ganze Kraft widmen konnten. Sehr deutlich wird dies etwa bei Bayern, wo nach dem Verzicht auf den wittelsbachischen Kaisertraum unter Max Joseph eine Blütezeit der Aufklärung einsetzte, die ihren sichtbaren Ausdruck in der Gründung der Bayerischen Akademie der Wissenschaften im Jahr 1759 fand. Den westlichen Ideen, vor allem denen der Physiokraten, hat sich unter den deutschen Fürsten jener Zeit am stärksten der in Karlsruhe regierende Markgraf Carl Friedrich von Baden zugewandt... Der Herzog Carl Eugen von Württemberg, für den einst Friedrich der Große einen ›Fürstenspiegel‹ verfaßt hatte, erfüllte zwar nicht alle Hoffnungen, die man in seine Regierung gesetzt hatte, aber durch die von ihm Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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begründete Karlsschule förderte er doch die Verbreitung der Ideen der Aufklärung. In Franken wurde das kleine Erlangen sowohl durch die 1743 zur Universität erhobene markgräfliche Akademie wie auch durch die bald weitberühmte ›Erlanger Zeitung‹ des Johann Friedrich Groß zu einem neuen geistigen Zentrum; dazu trug auch die Markgräfin Wilhelmine von Ansbach-Bayreuth, die Schwester Friedrichs des Großen, entscheidend bei, die wie ihr Bruder ganz in der Welt der französischen Aufklärung lebte. Im Kurfürstentum Hannover gelangte die 1737 gegründete Universität Göttingen, die dank der dynastischen Verbindung des Landes mit England zu einem Einfallstor des englischen Einflusses in Deutschland wurde, in der zweiten Jahrhunderthälfte zu hoher Blüte, und auch im benachbarten Braunschweig förderte Herzog Carl Wilhelm Ferdinand, der wie Carl Friedrich von Baden den französischen Physiokraten nahestand, das Bildungswesen in jeder Weise. Die Verdienste aller dieser deutschen Fürsten des Aufklärungszeitalters aber wurden überstrahlt durch das Wirken der HerzoginWitwe Anna Amalia von Sachsen-Weimar-Eisenach und ihres Sohnes Carl August, die durch die Berufung Wielands, Herders, Goethes und Schillers ihre Residenz Weimar und die Universität Jena zum Mittelpunkt der deutschen Klassik machten. Gewiß fehlten auch nicht die dunklen Schatten in dem Bild, das die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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deutschen Höfe und Fürstentümer in den letzten Jahrzehnten vor der großen Zeitwende boten. Der Soldatenhandel des Landgrafen Friedrich II. von HessenKassel, der den Engländern zwölftausend Mann für den Kampf gegen die aufständischen Kolonisten in Nordamerika vermietete, erregte heftige Kritik, die auch in der Literatur – so in Schillers ›Kabale und Liebe‹ – ihren Niederschlag gefunden hat.« (A. Wandruszka) »Waren so viele neue Formen ins Licht gerückt, so heißt das nicht, daß der Geist der alten erloschen war. Aber da Paris und London die Sammelpunkte der Schriftsteller waren, die die Neigung zum Neuen im Publikum entfachten, so sammelte man unter der Fahne von Briefen, Dialogen, Maximen, Satiren, Komödien, Romanen die meisten Leser. Und es waren noch nicht viele: Dreitausend gens de goût vermutete Voltaire in Paris, und eine in Europa verbreitete Zeitschrift wie der Mercure de France erschien nur in einer Auflage von siebentausend Exemplaren. Um so mehr bemühte man sich durch neue Formen, die Literatur, in der der Geist der Aufklärung sich regte, lesbar zu machen und die Verhältnisse des Lebens, der Politik, der Wissenschaft einem größer werdenden Leserkreis zu erklären, den Neigungen des bürgerlichen Publikums entgegenzukommen. Selbst Kant will in vielen seiner Schriften ›populär‹ sein, und er macht Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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nur eine Ausnahme: Als formelle Metaphysik dürfe die Philosophie niemals populär werden. Als Garve ihm den Vorwurf der Undeutlichkeit macht, bittet ihn Kant in der Vorrede zur Metaphysik der Sitten, doch an die Natur dieser Wissenschaft zu denken: ›Der weise Mann fordert mit Recht, eine jede philosophische Lehre müsse... zur Popularität gebracht werden können. Ich räume das gerne ein, nur mit der Ausnahme des Systems einer Kritik des Vernunftvermögens. Dieses kann nie populär werden sowie überhaupt keine formelle Metaphysik, obgleich ihre Resultate für die gesunde Vernunft ganz einleuchtend gemacht werden können...‹ Hier ist an keine Popularität (Volkssprache) zu denken, sondern es muß auf scholastische Pünktlichkeit gedrungen werden (denn es ist Schulsprache), weil dadurch allein die voreilige Vernunft dahin gebracht werden kann, von ihren dogmatischen Behauptungen erst sich selbst zu verstehen... Überblickt man die verschiedenen Motive und Formen der Aufklärung, so wird man zwar sehen, daß die Nationen sich oft so deutlich wie Individualitäten voneinander abgrenzen. Aber die Einheit und der Zusammenhang zwischen ihnen treten gleichwohl immer wieder in Erscheinung: Jede Literatur wird stets auf eine andere zurückgeführt, die Anlehnung, aber auch die Ablehnung – wie die der Hamburgischen Dramaturgie – setzt Kräfte in Bewegung, die das Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Mißverständnis der französischen Tragödie doch durch die Entdeckung Shakespeares, die Anerkennung von Voltaires Geschichtsschreibung, die Bewunderung für Rousseau kompensieren.« (F. Schalk) ¤ 59 »Die Räuber« von Friedrich Schiller. August Wilhelm Iffland als Franz in der Mannheimer Uraufführung am 13. Januar 1782. Gemälde von Heinrich Anton Melchior, um 1790. Mannheim, Städtisches Reiss-Museum ¤ 60 Immanuel Kant. Büste von Emanuel Bardou. Ehemals Berlin, Deutsches Museum
»Mit Unterstützung Friedrichs II. gelang es Katharina, die Wahl ihres früheren Liebhabers, Stanislaus Poniatowski, zum König von Polen durchzusetzen. Der wachsende Druck Rußlands auf Polen führte zur Auflehnung von Teilen des polnischen Adels gegen die russische Bevormundung... Im Frühjahr 1768 bildete sich die Konföderation von Bar‹, die den Kampf gegen die ins Land eingerückten russischen Truppen aufnahm. Die Unruhen und Kämpfe veranlaßten nun aber auch Österreich und die Türkei zum Eingreifen. Im Einvernehmen mit dem den Kämpfen machtlos gegenüberstehenden König Stanislaus besetzten die Österreicher 1760 die Städte der Zips am Fuße der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Tatra. Schon vorher, im Jahr 1768, aber hatten die Türken Katharina den Krieg erklärt, da sie Rußland für die Verletzung bessarabischen Gebiets im Laufe der polnischen Unruhen verantwortlich machten. Damit bot sich für die Zarin die Möglichkeit, auch den Kampf gegen die Türkei mit weiterreichenden Zielen aufzunehmen. Von der russischen Flotte, die unter Aleksej Orlow aus der Ostsee ins Mittelmeer und die Ägäis entsandt wurde, sollte die christliche Bevölkerung der Balkanhalbinsel zum Kampf gegen die türkische Herrschaft ermuntert werden. Die Vernichtung der türkischen Flotte in der Bucht von Tschesme durch Orlow im Juni 1770 schien die Verwirklichung des kühnen Planes einzuleiten; aber die Hoffnung auf eine Erhebung der Balkanvölker erfüllte sich nicht, und der russische Vormarsch in den Donaufürstentümern erweckte die Besorgnisse vor allem Österreichs, aber auch Preußens. Eine vorübergehende Annäherung der beiden deutschen Großmächte war die Folge. Sie fand ihren Ausdruck in den Begegnungen des alten Königs und des jungen Kaisers Josephs II. in Neisse 1769 und ein Jahr später in Mährisch-Neustadt... Zu einem gemeinsamen Vorgehen Österreichs und Preußens gegenüber Rußland ist es nicht gekommen. Wohl dachte der junge Joseph II., der seit dem plötzlichen Tod seines Vaters, im August 1765, Römischer Kaiser und Mitregent seiner Mutter Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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in der Österreichischen Monarchie war, zeitweise an ein Eingreifen in den russisch-türkischen Krieg... Die russisch-österreichische Rivalität auf dem Balkan begann sich zum erstenmal klar abzuzeichnen. Maria Theresia wünschte keinen neuen Krieg, und als man erkannte, daß Friedrich und Katharina im Begriff standen, sich über eine Aufteilung polnischer Gebiete zur Abrundung ihrer Staaten zu einigen, beeilten sich Kaunitz und Joseph II., eine Teilnahme Österreichs zu erreichen... Der Teilungsvertrag vom 5. August l 772 brachte Preußen zwar mit Ermland und Westpreußen ohne Danzig und Thorn bei weitem den geringsten Anteil, aber doch ein Gebiet, dessen Erwerbung Friedrich seit seiner Kronprinzenzeit ersehnt hatte und das nun die Verbindung zwischen Ostpreußen und dem brandenburgisch-pommerschen, dem zentralen Herrschaftskomplex des Hohenzollernstaates, herstellte. Österreich erhielt die südlichen Gebiete Polens, die als ›Galizien und Lodomerien‹ dem österreichischen Länderverband einverleibt wurden... Solange die polnische Frage nicht gelöst war und auch noch die Gefahr eines österreichischen Eingreifens in den russisch-türkischen Krieg bestand, suchte Katharina sich durch Friedensverhandlungen mit der Türkei eine zeitweise Entlastung an dieser Front zu verschaffen. Nach der polnischen Teilung errangen die russischen Truppen im Vorstoß bis über das Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Balkangebirge hinaus eine so günstige Position, daß sich die Türkei zum Abschluß eines für sie ungünstigen Friedens bereit fand... Der am 21. Juli 1774 abgeschlossene Frieden von Kütschük-Kainardsche brachte Rußland beträchtlichen territorialen Gewinn. Die Unabhängigkeit der Krim bereitete die dann neun Jahre später von Katharina tatsächlich vorgenommene Annexion der Halbinsel durch Rußland vor... Der neuerlich ausbrechende Konflikt zwischen Preußen und Österreich, der in der Gründung des deutschen Fürstenbundes gipfelte, bot ihr die willkommene Gelegenheit, Joseph II. fest an sich zu binden. Wenn der gemeinsame Türkenkrieg Österreichs und Rußlands von 1787-1791 auch nicht zu dem von Katharina erhofften Erfolg führte, so lag dies vor allem aber daran, daß nach dem Tod Josephs II. sein Bruder und Nachfolger Leopold II. den Frieden von Sistowa schloß.« (A. Wandruszka) ¤ 61 Der Römer in Frankfurt am Main während der Lustbarkeiten zur Feier der Krönung Josephs II. am 3. April 1764. Gemälde aus der van-Meytens-Werkstatt. Wien, Schloß Schönbrunn ¤ 62 Der kleine Mozart als Virtuose in einer Teegesellschaft beim Prinzen Conti in Paris. Gemälde von Michel-Barthélemy Ollivier, 1766. Paris, Louvre Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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¤ 63 Die Krönung König Gustavs III. von Schweden in Stockholm. Aus einem Gemälde von Carl Gustav Pilo, 1782-1793. Stockholm, Nationalmuseum
»Schweden erlebte nach dem Tode Karls XII, und dem Zusammenbruch seines absolutistischen Regierungssystems während des größten Teils des achtzehnten Jahrhunderts die lange ›Freiheitszeit‹ (17181772), die Epoche der ständischen Adelsherrschaft der einander bekämpfenden, von Rußland und Frankreich als Werkzeug der Einmischung in die schwedische Politik verwendeten Adelsparteien der ›Mützen‹ und der ›Hüte‹, des schwedischen Gegenstücks zu den englischen ›Whigs‹ und ›Tories‹. Wie in England Georg II. versuchte in Schweden Gustav III., nach gescheiterten Versuchen seiner Vorgänger, die absolutistische Entwicklung der übrigen europäischen Staaten nachzuholen, nachdem er 1772 in einem unblutigen Staatsstreich die Adelsherrschaft beseitigt hatte. Auch Gustav III. bekannte sich in der Wirtschaftspolitik zu den Grundsätzen der Physiokraten, so daß nun neben Florenz und Karlsruhe Stockholm ein Zentrum der neuen Lehre wurde. Nach einem kurzen Krieg mit Rußland und Dänemark im Zusammenhang mit dem russisch-österreichischen Krieg gegen die Türken hat Gustav III. mit Unterstützung der Bauern und Bürger im Epochenjahr 1789 in einem neuen Staatsstreich Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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die Privilegien des Adels weiter eingeschränkt. Eine Adelsverschwörung brachte ihm dann 1792 während eines Maskenballs den Tod... In den Ländern der dänischen Monarchie, zu der außer Dänemark noch Norwegen, Island, die Faröer-Inseln, Schleswig und Holstein und bis 1773 auch die deutschen Grafschaften Oldenburg und Delmenhorst gehörten, war die Reformpolitik des aufgeklärten Absolutismus unter den Königen aus dem Hause Oldenburg von meist nicht aus dem dänischen Kernland stammenden Ministern getragen, unter denen die beiden Bernstorffs, Johann Hartwig Ernst und Andreas Peter, Oheim und Neffe, hervorragen, Gleichfalls deutscher Abstammung war der Arzt Johannes Friedrich Struensee, ein Pfarrerssohn aus Halle, der unter dem schwachsinnigen König Christian VII. für kurze Zeit zum allmächtigen Minister aufstieg, dann aber an dem Widerstand des dänischen Adels gegen seine allzu überstürzten Reformen scheiterte, wobei das Liebesverhältnis des zum Grafen erhobenen Emporkömmlings zur Königin Caroline Mathilde seinen Gegnern die Waffe zu seiner Vernichtung in die Hand gab. Nach Struensees Sturz erfolgte als Reaktion auf seine physiokratische Wirtschaftspolitik eine Rückkehr zu den merkantilistischen Prinzipien der früheren Zeit.« (A. Wandruszka)
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¤ 64 Die »Ölzweig«-Petition vom 8. Juli 1775. Schlußseite mit den Unterschriften der Delegierten von zwölf der dreizehn Gründungsstaaten der USA (ohne Georgia), ein Versuch der gütlichen Einigung mit dem Mutterland. London, Public Record Office
»Viele Engländer waren der Meinung, der Siebenjährige Krieg sei eigentlich im Interesse der Kolonien geführt worden. War es dann nicht recht und billig, die Kolonien zu bitten, zum Ausgleich eines Staatshaushalts beizutragen?... In diesem Sinne beschloß das Parlament 1764 das meistens ›Zuckerakte‹ genannte Gesetz, das die Zollsätze auf verschiedene Einfuhrartikel der Kolonien abänderte und schärfere Erhebungsmethoden für die Eintreibung der Zölle einführte... Im nächsten Jahr ließ Schatzkanzler George Grenville, der Vater der Zuckerakte, eine weitere Maßnahme folgen: die ›Stempelakte‹. Eine in Gebührenmarken zu entrichtende Stempelgebühr, nicht in allen Fällen ganz niedrig, traf Rechtsurkunden aller Art und dazu Zeitungen, Kalender und Bücher, ja faktisch fast alle Papiererzeugnisse überhaupt. Die Reaktion der Kolonien auf diese Maßnahmen war heftig und allgemein... Mehrere Kolonien protestierten dagegen, daß sich ein Parlament, in das sie keine Vertreter entsandten, das Recht herausnahm, Steuern zu verhängen... Nun kamen Kaufleute überein, bis zum Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Widerruf des Gesetzes keine Waren mehr aus England einzuführen... Das war Widerstand gegen die Staatsgewalt und konnte leicht zur Folge haben, daß alle Machtmittel des englischen Staates zur Unterdrückung der werdenden Rebellion eingesetzt werden würden... Was allen Amerikanern von Neuengland bis Georgia selbstverständlich war, machte auf das Parlament in London keinen Eindruck; Eindruck dagegen machte die Tatsache, daß die Amerikaner die englische Ausfuhr nach den Kolonien abdrosselten. Englische Kaufleute, die ihre Kunden in den Kolonien verloren, überschütteten das Haus der Gemeinen mit Petitionen. Unter ihrem Druck setzte das Parlament die Stempelakte ein Jahr nach ihrer Verabschiedung außer Kraft... Die Amerikaner waren stolz auf die Enthaltsamkeit, Genügsamkeit und Arbeitsmühe der Menschen von einem Ende des Kontinents zum andern, die den Boykott wirksam gemacht hatten... Etwas über ein Jahr nach der Aufhebung der Stempelakte, 1767, brachte der neue Schatzkanzler Charles Townshend eine neue Vorlage zur Besteuerung der Amerikaner ein: diesmal sollten in den Kolonien Zölle auf die Einfuhr von Blei, Farben, Papier, Glas und Tee aus England gelegt werden... Samuel Adams, ein Bostoner Politiker, der sich für die Tugendlehre der strengen Einfachheit nach dem Vorbild seiner puritanischen Vorfahren begeisterte, sah in den neuen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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englischen Zöllen eine Bedrohung der ›klaren und offensichtlichen Regel der Billigkeit, wonach der fleißige Mensch ein Anrecht auf die Früchte seines Fleißes hat‹... Die englische Regierung war töricht genug, Truppen zu schicken, und im März 1770 feuerte eine Wachmannschaft vor dem Zollhaus in die Menge. Fünf Amerikaner kamen ums Leben. Auf dem ganzen Kontinent gingen ob des ›Massakers von Boston‹ die Wogen der Entrüstung hoch... Dann kam eine Entspannung mit der Nachricht, das Parlament habe die Townshend-Zölle aufgehoben und nur den Teezoll beibehalten... In allen Kolonien wurde der allgemeine Boykott aufgegeben; weiterhin boykottiert wurde der englische Tee, von nun an zum Inbegriff sündigen Luxus' erklärt... Als Schiffe mit Teeladungen eintrafen, taten sich die entschlossenen Bürger zusammen und brachten den Tee in Lagerhäuser oder sie sandten die Schiffe mit voller Fracht zurück. In Boston ordnete der englische Gouverneur an, daß nur Schiffe, die ihre Ladung gelöscht hatten, den Hafen verlassen dürften. Kurzerhand luden die Bostoner Bürger den Tee selbst aus und warfen ihn ins Meer... Vertreter aller Kolonien wurden zum September 1774 zu einem Kongreß nach Philadelphia zusammengerufen... Im Mai 1775 zu einem Kontinentalkongreß von neuem zusammen. Mit der Abfassung des Entwurfs einer gemeinsamen Absage an das Londoner Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Parlament betraute er Thomas Jefferson, einen jungen Abgeordneten von Virginia... Die Londoner Regierung hatte den Vollzug der ›unerträglichen Gesetze‹ dem General Thomas Gage, Oberbefehlshaber der britischen Streitkräfte in Amerika, übertragen und ihn zu diesem Zweck zum Gouverneur von Massachusetts ernannt, und die englischen Truppen waren, dreitausend Mann stark, nach Boston zurückgekehrt... In der Nacht vom 18. April 1775 beorderte Gage eine Abteilung von siebenhundert Mann nach Concord, um einige Waffenlager auszuheben... Als sie marode und ramponiert in Boston anlangten, hatten sie ihr Selbstbewußtsein und zweihundertdreiundsiebzig Mann verloren.« Nach der siegreichen Schlacht von Bunker Hill übernahm George Washington, ein Tabakpflanzer aus Virginia, das Kommando der Amerikaner. »Und am 2. Juli beschloß der Kongreß, ›daß diese Vereinigten Kolonien freie und unabhängige Staaten sind und von Rechts wegen bleiben müssen‹. Zwei Tage später kam es zu der berühmten Unabhängigkeitserklärung, die diesen Beschluß erklärte und begründete. Die Erklärung hatte ein Ausschuß ausgearbeitet, in dem sich Thomas Jefferson als das eigentlich federführende Mitglied betätigte.« (E. S. Morgan) ¤ 65 Die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika. Anfang des handschriftlichen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Entwurfs von Thomas Jefferson, Juni 1776. Washington, Department of State ¤ 66 »Figaros Hochzeit« von Pierre-Augustin Caron de Beaumarchais. Kupferstich von Jean-Baptiste Lienard, 1785, mit einer Szene aus dem 1. Akt ¤ 67 »Figaros Hochzeit« von Pierre-Augustin Caron de Beaumarchais. Kupferstich von Jean-Baptiste Lienard, 1785, mit einer Szene aus dem 5. Akt ¤ 68 Königin Marie Antoinette mit ihren Kindern. Gemälde von Adolf Wertmüller, 1785. Stockholm, Nationalmuseum
»Frankreich und Paris blieben weiterhin das geistige Zentrum und Vorbild des Kontinents; aber die Ideen, die dort entwickelt oder zumindest von den französischen Schriftstellern in eine für das übrige Europa verbindliche und wirksame Form gekleidet wurden, sind meist außerhalb Frankreichs zu größerer Wirkung gekommen. Auf wirtschaftlichem Gebiet hatte die ›europäische Partei‹ der ›Ökonomisten‹ oder, wie sie später genannt wurden, der ›Physiokraten‹ ihr Hauptquartier in Paris, wo ihre brillantesten Federn die Programmschriften der neuen Heilslehre verfaßten, während man sich in der Toskana, in Baden, in Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Schweden und – wenngleich in abgewandelter Form – auch in Österreich, Preußen und Rußland um die praktische Anwendung und Erprobung der neuen volkswirtschaftlichen Erkenntnisse bemühte... Allgemein läßt sich sagen, daß die Verbindung von Theorie und Praxis sich im übrigen Europa leichter und harmonischer ergab als im französischen Zentrum der großen Bewegung der Aufklärung. Damit hängt auch die Tatsache zusammen, daß in Frankreich die führenden Geister weiterhin meist Literaten und Schriftsteller waren, ohne öffentliche Verantwortung und Praxis, während in anderen Ländern – besonders etwa in Italien – die führenden Theoretiker und Schriftsteller oft gleichzeitig als ›Reformer‹ in hohen bürokratischen Funktionen wirkten. Das eine große französische Gegenbeispiel ist der Reformminister Ludwigs XVI., Anne Robert Turgot, dessen amtliche Tätigkeit aber zu kurz war, um die von ihm erstrebten grundlegenden Reformen zu verwirklichen. Mit Entschiedenheit wendete sich die spätere Aufklärung praktischen Reformen zu, der Verbesserung der menschlichen Lebensbedingungen und der Pflege der ›nützlichen Wissenschaftern, wie sie in den großen französischen Unternehmungen der Encyclopédie und der Cahiers des arts et des métiers zum Ausdruck kamen. So standen in dem sich zwischen den führenden Geistern der verschiedenen Nationen entwickelnden Gespräch Fragen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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der wirtschaftlichen, sozialen und rechtlichen Ordnung im Vordergrund.« (A. Wandruszka) »In Frankreich hatte der wohlmeinende, aber schwächliche Ludwig XVI., der mit erst zwanzig Jahren 1774 seinem Großvater, dem fünfzehnten französischen König dieses Namens, auf den Thron gefolgt war, die längst fälligen inneren Reformen durchzuführen gesucht. Der zum Generalkontrolleur der Finanzen berufene fähige Turgot scheiterte aber nach zwei Jahren an der Gegnerschaft des Hofes und des Adels gegen seine von seiner physiokratischen Gesinnung getragenen Reformen, aber auch, weil er sich dem Eintritt in den Krieg gegen England an der Seite der nordamerikanischen Kolonisten widersetzte. Turgots Nachfolger wurde der wendige Genfer Bankier Jacques Necker. Um die öffentliche Meinung zu gewinnen – er scheint der erste gewesen zu sein, der das Wort opinion publique gebrauchte – hat er 1781 seinen berühmten ›Rechenschaftsbericht‹, eine zu propagandistischen Zwecken zusammengestellte Übersicht über den Staatshaushalt, veröffentlicht. Obwohl der Krieg gegen England erfolgreich zu Ende ging und Frankreich im Frieden von Versailles vom 3. September 1783 einige der vor zwei Jahrzehnten nach dem Siebenjährigen Krieg verlorengegangenen Kolonialgebiete zurückerhielt, verschlechterte sich die Situation der Staatsfinanzen weiterhin, Zudem litt das Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Ansehen der Krone und der königlichen Familie wegen einiger Ungeschicklichkeiten, wie die von den Gegnern hemmungslos ausgeschlachtete ›Halsbandaffäre‹. Mit der Einberufung von Notabelnversammlungen in den Jahren 1786 und 1788 wurde der Weg des Nachgebens gegenüber den Wortführern der Unzufriedenen beschritten, bis dann 1788 die Einberufung der seit 1614 nicht mehr zusammengerufenen Generalstände für das folgende Jahr versprochen wurde. Der Beginn der Revolution ist überall in Europa von den Aufklärern und Reformern aufrichtig begrüßt worden, da man hoffte, daß die große französische Nation nun auch selbst jene vielfach aus Frankreich stammenden Ideen verwirklichen werde, die sich im übrigen Europa in den Fürstenstaaten des aufgeklärten Absolutismus schon so segensreich ausgewirkt hatten. Nur wenige Zeitgenossen ahnten die ganze Tragweite der in Frankreich anlaufenden Entwicklung, mit der, nach Goethes berühmten prophetischem Wort am Tag der Kanonade von Valmy, ›eine neue Epoche der Weltgeschichte‹ anhob.« (A. Wandruszka) ¤ 69 Aufstieg der ersten Montgolfière in Versailles am 19. September 1783. Zeichnung eines unbekannten Künstlers. Paris, Musée Carnavalet
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¤ 70 Die Bastille in Paris vor der Zerstörung. Zeichnung von Jean-Baptiste Lallemand, um 1770. Paris, Bibliohèque Nationale
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XII. Das 19. Jahrhundert ¤ 1 Marsch der Frauen von Paris nach Versailles am 5. Oktober 1789. Zeichnung. Paris, Musée Carnavalet
»Es war gewiß kein Zufall, daß es gerade in Frankreich zur Revolution kam; von den französischen Literaten wurde ›la belle révolution‹ mit Inbrunst und Entzücken erhofft und erwartet. Das hieß für Voltaire und das gebildete Bürgertum die Eroberung des Königtums durch die Aufklärung und Kampf gegen den auf religiöser Grundlage beruhenden Absolutismus... Die hoffnungslose Finanzlage des Staates nötigte zu immer neuen, aber unzulänglichen Aushilfen, Die Autorität der Krone wurde zusehends ausgehöhlt; der Kredit der königlichen Finanzpolitik schwand dahin... Der König entschloß sich am 8. August 1788, die Generalstände auf den 1. Mai 1789 einzuberufen... In diesen Monaten organisierte sich der Dritte Stand als Partei der Reformer... Noch bedrohlicher wurde die Situation durch Versorgungskrisen im Frühjahr 1789... Tausendeinhundertfünfundsechzig Vertreter der Stände, ungefähr sechshundert für den Dritten Stand und etwa je dreihundert für Klerus und Adel erschienen Anfang Mai zur Eröffnung der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Ständeversammlung in Versailles... Einer der großen Tage der Revolution war der 17. Juni 1789, als der Abbé Sieyès beantragte, endlich die von ihm bereits formulierten Konsequenzen zu ziehen und den Dritten Stand allein zum Repräsentanten der Nation zu erklären. Darauf konstituierte sich die Versammlung zur ›Assemblée nationale‹, zur Nationalversammlung... Von nun an repräsentierte die Nationalversammlung die gesamte Nation gegenüber dem König... Der nächste Schritt der Nationalversammlung war die ›Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte‹ am 26. August 1789... Die Prinzipien von 1789 haben ungeahnte Kräfte freigesetzt und wandelten die Gesellschaft in höchst wirksamer Weise; ohne diese Befreiung wären die ungeheuren technischen, wirtschaftlichen und sozialen Umwälzungen des 19. Jahrhunderts meist unmöglich gewesen.« Unter dem Druck des Volkes wurde der König durch eine Schar Pariser Marktfrauen von Versailles nach Paris geholt. »Ein Bündnis zwischen Königtum und Revolution wurde nach Mirabeaus Tod immer problematischer. Gegen den Rat des Verstorbenen suchte Ludwig XVI. die Hilfe der Gegenrevolution zu gewinnen; er versuchte im Jahr 1791 in das Lager der Konterrevolution zu fliehen. Nach der demütigenden Rückkehr nach Paris mußte der König nun die Verfassung der Nationalversammlung annehmen, die am 14. September 1791 in Kraft Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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trat.« (R. Nürnberger) ¤ 2 Verhaftung König Ludwig XVI. in Varennes am 22. Juni 1791. Zeichnung von Jean Louis Prieur. Paris, Musée Carnavalet ¤ 3 Jean Paul Marat. Gemälde von Jean Boze. Paris, Musée Carnavalet ¤ 4 Georges Danton. Zeichnung. Paris, Musée Carnavalet ¤ 5 Maximilien de Robespierre. Gemälde eines unbekannten Künstlers. Paris, Musée Carnavalet
»Zu der neuen Lage gehörte auch die wachsende Bedeutung der revolutionären Gruppen und Klubs... Der berühmteste Kreis war der Jakobinerklub... Das Schwergewicht hatte sich eindeutig nach links verlagert, die Mitglieder des Jakobinerklubs wurden immer wichtiger... Damals brach die große Zeit der ›Girondisten‹ an... Ihren Höhepunkt erreichten die Auseinandersetzungen schließlich mit dem Entschluß zur Kriegserklärung an das alte Europa Ende Dezember 1791 mit dem ›internationalen Manifest der Revolution‹.« Die Reaktion Österreichs und Preußens, die zunächst mehr mit Polen (zweite Teilung 1793) Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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beschäftigt waren, war ziemlich lau. Die endgültige Kriegserklärung (April 1792) richtete sich erst einmal nur an Österreich, nicht an das »Reich«. »Der Vormarsch zeigte die Unzulänglichkeit der militärischen Führung; die militärische Niederlage schien nach wenigen Wochen besiegelt zu sein, und eine neue Wirtschaftskrise vermehrte die innere Auflösung. Entscheidend wurde, daß in diesen kritischen Tagen keine Katastrophe eintrat, sondern gerade die Gefahr die Rettung des revolutionären Frankreich zur Folge hatte. Hier lag der Ursprung der ›Zweiten Revolution‹. In der Krise des Sommers 1792 legitimierte sich die radikale Revolution als Retterin.« Die radikale Revolution wurde vom Angsttraum vor Verrätern getrieben, und Danton erklärte, »das Volk« werde sich selbst »sein Recht« verschaffen, wenn die Gerichte versagten. Die »Septembermorde« begannen. »Nicht nur Wendepunkt des Feldzuges, sondern ein Epochenereignis war dann die Begegnung der feindlichen Heere auf dem Schlachtfeld bei Valmy: der Gegenangriff Frankreichs auf Europa, gipfelnd in der Revolutionierung der bestehenden Ordnung in Mittel- und Südeuropa, Die Revolutionsarmee floh nicht, sondern hielt stand... Diese Erfahrung führte die preußische Politik auf den Weg zum Sonderfrieden mit dem revolutionären Frankreich in Basel 1795. Goethe gehörte zu denen, die sich damals sofort des Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Epocheereignisses bewußt geworden sind.« (R. Nürnberger) ¤ 6 Messe der Königlichen Familie in den Tuilerien am 9. August 1792. Gemälde von Hubert Robert ¤ 7 Der Temple in Paris mit der gefangenen Königsfamilie. Zeichnung. Paris, Bibliothèque Nationale ¤ 8 Eine Nummer der Revolutionszeitschrift »L'Ami du Peuple« mit den Blutflecken des von Charlotte Corday 1793 ermordeten Marat. Paris, Bibliothèque Nationale, Collection Vinck
»Als König war Ludwig XVI. Feind des Volkes... Die Abstimmung im Konvent wurde namentlich vorgenommen, während eine enorme Erregung Paris ergriffen hatte, bis die Entscheidung für die Todesstrafe fiel. Am Tag darauf, am 21. Januar 1793, wurde das Urteil vollzogen... Im Sommer 1793 drohte zunächst durch die Verbündeten wie durch die Aufstände im Innern die Katastrophe hereinzubrechen. Die schwierige Lage rettete vor allem Lazare Carnot, der ›Organisator des Sieges‹ durch die Neuorganisation des französischen Heeres... In dieser Schule ist der General Bonaparte zum Meister der neuen Strategie und Taktik geworden... Nach den militärischen Erfolgen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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seit dem Spätherbst 1793 entspannte sich im Sommer 1794 allmählich die äußere Lage Frankreichs... Sogleich erhob sich im Innern gegen die gesetzliche Verankerung des Terrors (Juni 1794) Widerspruch, Robespierre wurde isoliert... Die folgenden Tage brachten das Ende seiner Herrschaft und seines Lebens... Der Anklage folgte am 27. Juli im Konvent seine Verhaftung... Die Pariser Stadtverwaltung aber hob die Verhaftung wieder auf... In diesen kritischen Stunden machte aber die Bevölkerung nicht mehr mit... Ohne Schwierigkeiten wurde Robespierre erneut verhaftet und am folgenden Abend mit Saint-Just und anderen Anhängern hingerichtet.« (R. Nürnberger) ¤ 9 Die Hinrichtung Robespierres und seiner Genossen am 28. Juli 1794. Kolorierter Stich. Paris, Bibliothèque Nationale ¤ 10 Der siegreiche General Bonaparte während seines Italien-Feldzuges auf der Brücke von Arcole. Gemälde von Antoine Jean Gros. Paris, Louvre
»Um den Unsicherheiten im Inneren zu begegnen und um der Selbstbehauptung nach außen willen, wurde ein neuer Versuch mit der sogenannten Direktorialverfassung im Jahr 1795 gemacht... Der sogenannte ›Rat der Fünfhundert‹ erhielt die Gesetzesinitiative, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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die Sanktionierung der Gesetze lag dagegen bei dem ›Rat der Alten‹, die Exekutive wurde einem Direktorium von fünf Männern übertragen... Der Friedensschluß mit Preußen am 5. April 1795 in Basel wurde damals als Verrat am ›Reich‹ angegriffen... Für die Franzosen war er ein großer Erfolg auf dem Wege zu den ›natürlichen Grenzen‹. Die militärische Aktivität der Franzosen richtete sich danach auf England als dem Hauptgegner... Die Entscheidung fiel aber im Kampf zwischen Frankreich und Österreich in Oberitalien. Berühmt geworden ist der italienische Feldzug von 1796 vor allem durch das meteorhafte Aufleuchten des Generals Napoleon Bonaparte, der die Situation beherrschte und die Österreicher zum Waffenstillstand zwang... Der Frieden, der im Oktober 1797 zwischen Frankreich und Österreich in Campo Formio zustande kam, klammerte die Forderungen nach der ›natürlichen Grenze‹ aus den diplomatischen Verhandlungen aus. Im Mittelpunkt stand die Frage der Kompensation für die Abtretung Belgiens und der Lombardei durch Österreich... Das war der erste Friedensschluß Napoleons... Es war auf jeden Fall nur ein Anfang expansiver Politik. Nach der Gründung der italienischen Republiken im Schatten der französischen Herrschaft kam es zur Einverleibung Belgiens und des linken Rheinufers, zur Gründung der Helvetischen Republik (1798), der Batavischen Republik, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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schließlich der Römischen Republik (1798) und zur Vorbereitung des Reichsfriedens auf dem Rastatter Kongreß (1797/99)... Das militärische Abenteuer der ägyptischen Expedition Bonapartes war auch dazu bestimmt, die englische Mittelmeerstellung zu treffen... Am 1. Juli 1798 betrat Bonaparte mit seinen Truppen ägyptischen Boden. Alle militärischen Anfangserfolge in Ägypten und Syrien konnten nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, daß seit dem Sieg Nelsons über die französische Transportflotte vor Abukir im August 1798 die Franzosen abgeschnitten waren. Dieser Sieg hat die englische Mittelmeerherrschaft für das ganze neunzehnte Jahrhundert begründet. Im Juli 1799 hat sich dann Bonaparte entschlossen, sein Heer im Stich zu lassen und nach Frankreich zurückzukehren... Die Armee, das heißt Bonaparte, bestimmte, was zu geschehen hatte... Die Notwendigkeit der Verfassungsreform war seit dem royalistischen Aufstandsversuch im Jahr 1797 akut... Drei Konsuln, jetzt Bonaparte, Canibacérès und Lebrun, standen nun an der Spitze des Staates. Die Verfassung wurde durch Plebiszit von den Franzosen nahezu einstimmig angenommen und am 25. Dezember 1799 in Kraft gesetzt. Der Erste Konsul erklärte, die Revolution sei zu Ende... Die große Aufgabe, die Napoleon sich stellte, war die ›reconstruction sociale‹ nach der Anarchie... Das denkwürdigste Dokument dieser Arbeit an der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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neuen rechtlichen Ordnung für die revolutionäre Gesellschaft war der Code civil von 1804, das Rechtsbuch der neuen bürgerlichen Gesellschaft... Der politisch kluge Ausgleich mit der römischen Kirche im Konkordat von 1801 sollte die gefährlichste Opposition, den Hort der Konterrevolution, treffen... Bonaparte wurde zum Kaiser, gesalbt von der Hand des Papstes.« (R. Nürnberger) ¤ 11 Das Triumvirat der Konsuln: Cambacérès, Lebrun und Napoleon. Englische Karikatur, 1800. Paris, Bibliothèque Nationale ¤ 12 Die Kaiserin Josephine im Krönungsornat. Gemälde von François Gérard. Versailles, Musée
Der Friede von Lunéville (1801) beendete die französischen Revolutionskriege. »Er bestätigte den Franzosen nicht nur die Eroberungen, auf denen der Frieden von Campo Formio beruhte, sondern verschärfte vielmehr noch die damaligen geheimen Abmachungen: ›Im Namen des Reiches‹ wurde jetzt das linke Rheinufer von den Österreichern aufgegeben... Die französisch-englischen Verhandlungen haben sich nur mühsam entwickelt, bis es in Amiens zum Abschluß eines französisch-englischen Friedens kam (27. März 1802)... Der Friede von Amiens bildete eine der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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großen Zäsuren in der Auseinandersetzung zwischen dem neuen Frankreich und Europa; er war kein Separatfriede, sondern der allgemeine Frieden, der Abschluß eines Jahrzehntes Krieg... Der Mißerfolg ultimativer Forderungen Englands an Frankreich, zu denen die Räumung der Niederlande gehörte, führte dann im Frühsommer 1803 zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen... Für die Engländer war mit dem Krieg die Wiederaufnahme der Koalitionspolitik verbunden, jetzt in der sogenannten ›Dritten Koalition‹. Noch einmal übernahm Pitt die Leitung der englischen Politik (April 1804). Der Weg, der nach Trafalgar und Austerlitz führen sollte, war begonnen. Napoleon antwortete mit der ›Kontinentalsperre‹ gegen England durch das Berliner Dekret vom 21. November 1806... Mit den Engländern verbunden, trat der Zar Alexander zum erstenmal mit dem hochgespannten Anspruch des ›Befreiers Europas‹ vor dem Despotismus des neuen Imperators hervor.« Im April 1804 brachen die Russen die Beziehungen zu Frankreich ab. »Trotz aller Werbungen der Alliierten blieb Preußen neutral, dagegen trat Österreich im August 1803 der englisch-russischen Allianz bei... Napoleon sah sich aufs neue wieder den großen kontinentalen Mächten Österreich und Rußland gegenüber. Die Niederlage bei Trafalgar am 21. Oktober 1805 und der Sieg bei Austerlitz am 2. Dezember haben die neue Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Lage hell beleuchtet. Trafalgar sicherte England die unbestrittene Seeherrschaft, während der Sieg Napoleons über die Österreicher und die Russen bei Austerlitz die Österreicher niederwarf und die kontinentale Vorherrschaft für Napoleon erbrachte.« (R. Nürnberger) ¤ 13 Horatio Nelson. Gemälde von Lemuel Francis Abbot. London, National Portrait Gallery ¤ 14 Karl Freiherr vom Stein. Zeichnung von Friedrich Olivier, 1821. Ehem. Berlin, Privatbesitz ¤ 15 »Der König hat eine Bataille verlohren«. Flugzettel nach der Niederlage bei Jena, 1806. Berlin, Landesarchiv
»Der Separatfrieden von Preßburg (26. Dezember 1803) sprengte die Koalition endgültig... Sie versagte, weil sich Preußen beiseite hielt... Für Deutschland ergab sich aus der Napoleonischen Politik der ›Rheinbund‹... Die Mitgliedschaft, die von sechzehn Staaten erworben wurde, setzte voraus, daß sie vorher aus dem alten Reichsverband ausschieden... Kaiser Franz II. legte die Krone des Römischen Reiches Deutscher Nation nieder. Das Heilige Reich hatte aufgehört... Preußen mußte sich (Februar 1806) verpflichten, den Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Engländern alle seine Häfen zu verschließen. Diese Maßnahmen führten am 11. Juni 1806 zum Kriegszustand zwischen England und Preußen... Die Vertreter einer aktiven preußischen Politik erkannten in der Gründung des Rheinbundes und der Auflösung des Reiches die Chance für einen norddeutschen Bund unter preußischer Führung. Hardenberg hat damals mit Rußland verhandelt und eine preußisch-russische Verständigung zustande gebracht... In diese Verhandlungen platzte das preußische Ultimatum vom 26. September 1806 an Frankreich. Mit einem Schlage war Napoleon aus der sich steigernden Nervosität unbefriedigender diplomatischer Sondierungen durch den für die Preußen vernichtenden Doppelsieg bei Jena und Auerstedt am 14. Oktober befreit... Am 23. April 1807 gelang es Hardenberg, in Bartenstein einen preußisch-russischen Vertrag zustande zu bringen... Die Schlacht bei Friedland (14. Juni 1807) brach den militärischen Widerstand der Preußen und vor allem des Zaren endgültig... Preußen mußte den Preis für die Vereinbarung des Friedens zwischen den Russen und den Franzosen zahlen, der am 7. und 9. Juli in Tilsit zwischen Frankreich und Preußen abgeschlossen wurde. Preußen blieben nach dem Diktat Napoleons nur seine Gebiete ostwärts der Elbe. Die westlich der Elbe gelegenen Länder wurden zum Königreich Westfalen zusammengefaßt... Nach Tilsit Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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begann mit Steins Ministerium 1807/08 die praktische Reformarbeit, die in den wenigen Jahren bis 1814/15 dem preußischen Staat eine neue Form geben sollte... Wenige Tage nach seiner Ernennung konnte am 9. Oktober 1807 das berühmte sogenannte ›Oktoberedikt‹ (Bauernbefreiung) publiziert werden... Die Reorganisation der Armee enthielt mit dem Offiziersreglement vom 6. August 1808 nicht weniger einschneidende Veränderungen der Gesellschaft... Von der Einführung der Selbstverwaltung ist nur die vielgenannte Städteordnung fertig geworden... Mit der Gründung der Berliner Universität durch Wilhelm von Humboldt wurde eine neue Epoche der deutschen Bildungsgeschichte eröffnet (1810/11).« (R. Nürnberger) ¤ 16 Durchblick zum Arbeitszimmer von Wilhelm vom Humboldt im Schloß Tegel bei Berlin ¤ 17 »Zierde des Soldatenstand und dessen Entehrung«. Gemälde von J. N. Hoechle (?), um 1815. Wien, Historisches Museum der Stadt ¤ 18 »Zierde des Soldatenstand und dessen Entehrung«. Gemälde von J. N. Hoechle (?), um 1815. Wien, Historisches Museum der Stadt
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»Der Erhebung der Spanier im Jahr 1808, die Napoleon selbst provoziert hat, konnte er nicht mehr Herr werden... Ohne den dringend notwendigen Sieg sah sich der Kaiser vorzeitig gezwungen, Anfang Januar 1809 bereits wieder Spanien zu verlassen.« (R. Nürnberger) ¤ 19 Napoleon vor der spanischen Stadt Astorga im Jahr 1808. Gemälde von Hippolyte Lecomte. Versailles, Musée ¤ 20 »Der korsische Phoenix«. Karikatur von James Gillray auf die Mißerfolge Napoleons. Kolorierter Stich. Düsseldorf, Kunsthandel ¤ 21 Soldaten des bürgerlichen Corps in Wien. Probedruck für einen Kalender auf das Jahr 1806 mit Korrektur des Verlegers Hieronymus Löschenkohl. Wien, Historisches Museum der Stadt ¤ 22 Tagesbefehl Napoleons an die französischen Soldaten in Wien vom 13. Mai 1809. Wien, Archiv der Stadt
»Die spanische Katastrophe hatte den Widerstand gegen die Napoleonische Herrschaft gestärkt und im Frühjahr 1809 dem Willen zum Widerstand in Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Österreich zum Durchbruch verholten... Die Seele der österreichischen Politik in dieser Zeit zwischen 1805 und 1809 war der Außenminister Grat von Stadion. Mitte Mai gelang Napoleon die Besetzung Wiens, aber der Übergang über die Donau bei Aspern (21./ 22. Mai 1809) mißglückte: die Österreicher hatten unter Erzherzog Karl zum erstenmal im offenen Felde einen militärischen Erfolg über Napoleon errungen. Aber Napoleons Sieg über die Österreicher bei Wagram am 5./6. Juli schnitt sämtliche Hoffnungen der Patrioten ab... Im Oktober 1809 kam der Friede in Wien zustande: Kriegsentschädigungen für Frankreich, Verringerung der österreichischen Armee, und nicht zuletzt wurden Österreich auch umfangreiche Gebietsabtretungen aufgezwungen. Graf Stadion mußte aus dem Staatsdienst ausscheiden, an seiner Stelle wurde Metternich von Kaiser Franz mit der Leitung der Außenpolitik beauftragt. Nach der Katastrophe des Sommers empfahl Metternich, sich an Frankreich anzuschließen. Im Dienste dieser Politik standen die österreichisch-französischen Verhandlungen über eine Heirat der Erzherzogin Marie Louise mit dem französischen Kaiser nach seiner Scheidung von Josephine Beauharnais Ende 1809... Die Entscheidung gegen Napoleon hat nicht England gefällt, sondern Rußland. Die Katastrophe der »Großen Armee« im Jahr 1812 hat Rußlands europäische Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Großmachtstellung begründet... Dem Zaren gelang es zunächst, seine Stellung Napoleon gegenüber durch ein Bündnis mit Schweden zu stärken. Der Kaiser zwang in dieser Lage Preußen und Österreich zum Bündnis mit Frankreich... Mit der riesigen Heeresmacht von mehr als siebenhunderttausend Mann überschritt Napoleon die russische Grenze. Er sah sich aber gezwungen, bis nach Moskau vorzustoßen, weil die Russen nicht offensiv wurden. Das Schicksal der »Großen Armee«, der Feldzug und die Katastrophe der Napoleonischen Rußlandpolitik waren entschieden, als der Kaiser sich zum Rückzug aus dem von den Russen in Brand gesteckten Moskau gezwungen sah... Zwischen den Preußen und den Russen kam es Anfang März 1813 zu einer vertraglichen Einigung. Mit diesem Vertrag ist für die Verbindung Preußens mit Rußland bis zum Ende des 19. Jahrhunderts der Grund gelegt worden.« (R. Nürnberger) ¤ 23 Die Völkerschlacht bei Leipzig: Reiterangriff der Verbündeten am Nachmittag des 18. Oktober 1813. Aquarell eines Kriegsteilnehmers. Berlin, Galerie Gerda Bassenge
»Erst am 16. März hatten die Preußen Napoleon offiziell den Krieg erklärt. Am 17. wurde der berühmte Aufruf Friedrich Wilhelms III. ›An mein Volk‹ in Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Breslau, dem Zentrum der allgemeinen Erhebung, veröffentlicht. Ende April eilte Napoleon vom Main her nach Nordosten und warf die nach Sachsen vorgerückten preußisch-russischen Heere zunächst zurück. Am 12. August erklärte Österreich Frankreich offiziell den Krieg. Die Entscheidung Österreichs zugunsten der großen Koalition gegen Napoleon war damit gefallen. Mit starken Heeren standen sich die Alliierten und Napoleon zwischen Leipzig und Bautzen gegenüber. Die Schlacht bei Leipzig begann am 16. Oktober für die Franzosen trotz schwerer Verluste erfolgreich; aber am Morgen des 17. wurde Napoleon von lähmender Mut- und Entschlußlosigkeit befallen, er ließ den Kaiser von Österreich um Waffenstillstand bitten. Am Abend des 18. waren die Franzosen auf Leipzig zurückgeworfen. Daraufhin gab Napoleon noch am Abend den Befehl zum Rückzug der Reste seiner Armee. Das Napoleonische Deutschland war zusammengebrochen, die Rheinbundfürsten suchten sich den siegreichen Alliierten anzuschließen, um ihre neuen Besitztitel zu retten... Am 6. April 1814 dankte Napoleon in Fontainebleau ab. Die weitere Entwicklung wurde nun von der jetzt einsetzenden diplomatischen Aktivität der Engländer beeinflußt. Lord Castlereagh lehnte jetzt jeden Kompromiß ab und brachte zwischen Österreich, Preußen, Rußland und England ein Verteidigungsbündnis für zwanzig Jahre zustande. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Der militärische Sieg Wellingtons über den Marschall Soult bei Toulouse am 10. April machte dem Kampf praktisch ein Ende. Zuvor waren die Verbündeten in Paris eingezogen (31. März 1814). Am 2. April gab der französische Senat die Absetzung des Kaisers bekannt, am 6. berief er den Bruder Ludwigs XVI. als Ludwig XVIII. aus dem Exil in England auf den französischen Königsthron. Talleyrand hatte es im Einverständnis mit den Engländern verstanden, die Bourbonen zurückzuführen. Als Außenminister der restaurierten Monarchie hat er am 30. Mai den Friedensvertrag in Paris unterzeichnet, der Frankreich die Grenzen beließ, die beim Ausbruch der Revolutionskriege bestanden hatten. Am 6. April 1814 hatte Napoleon in Fontainebleau bedingungslos abgedankt, er erhielt die Insel Elba und eine jährliche Dotation.« (R. Nürnberger) ¤ 24 Russischer Militärstab vor Nürnberg. Gemälde von Johann Adam Klein, 1815. Nürnberg, Altstadtmuseum ¤ 25 Der Wiener Kongreß 1814/15: Potentaten und Vertreter der Länder. Die drei Alliierten: Kaiser Franz I., Zar Alexander I. und König Friedrich Wilhelm III. Medaille von Leopold Heuberger. Wien, Kunsthistorisches Museum Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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¤ 26 Der Wiener Kongreß 1814/15: Potentaten und Vertreter der Länder. Fürst von Hardenberg (Preußen). Medaille von Leopold Heuberger. Wien, Kunsthistorisches Museum ¤ 27 Der Wiener Kongreß 1814/15: Potentaten und Vertreter der Länder. Freiherr vom Stein (Preußen). Medaille von Leopold Heuberger. Wien, Kunsthistorisches Museum ¤ 28 Der Wiener Kongreß 1814/15: Potentaten und Vertreter der Länder. Fürst Talleyrand (Frankreich). Medaille von Leopold Heuberger. Wien, Kunsthistorisches Museum ¤ 29 Der Wiener Kongreß 1814/15: Potentaten und Vertreter der Länder. Lord Castlereagh (England). Medaille von Leopold Heuberger. Wien, Kunsthistorisches Museum ¤ 30 Der Wiener Kongreß 1814/15: Potentaten und Vertreter der Länder. Herzog von Wellington (England). Medaille von Leopold Heuberger. Wien, Kunsthistorisches Museum ¤ 31 Klemens Fürst von Metternich. Terrakottamodell einer Büste von Bertel Thorvaldsen, um 1820. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Kopenhagen, Thorvaldsen Museum »Mitte September 1814 trafen die Delegationen der europäischen großen und kleinen Herren zu den Beratungen in Wien ein, deren Ergebnis Europas neuen Friedenszustand garantieren und den Krater der Revolution schließen sollte. Anfang Oktober 1814 waren die Vorbereitungen so weit gediehen, daß der Kongreß im Zeichen der Quadrupelallianz des letzten Krieges (England, Österreich, Rußland, Preußen) offiziell eröffnet werden konnte... Am 7. März 1815 erreichte Wien die Nachricht, daß Napoleon von Elba geflohen und auf dem Wege nach Paris sei. Während der Hundert Tage des Epilogs des Napoleonischen Kaisertums ist die Kongreßarbeit nicht unterbrochen worden. Bevor der große Sieg bei Waterloo Napoleons Stellung endgültig vernichtete, waren die Verhandlungen mit der Unterzeichnung der Wiener Kongreßakte am 9. Juni 1815 zum Abschluß gekommen. Fünf Monate später war Napoleon nach St. Helena verbannt, die Bourbonen zum zweitenmal nach Paris zurückgekehrt und der Zweite Pariser Friede geschlossen. Die territorialen Besitztitel, Verschiebungen, Vertauschungen, Vergrößerungen und Entschädigungen, die auf frühere Ansprüche freilich immer wieder bezogen wurden, waren von der Politik der ›Wiederherstellung‹ bestimmt, der Restauration des Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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europäischen Gleichgewichts zwischen den großen Mächten... An Stelle des alten Reiches und auch des napoleonischen Rheinbundes trat jetzt ein Bund von achtunddreißig souveränen Staaten, dessen ›Bundestag‹ unter Österreichs Vorsitz stehen sollte. Der ›Deutsche Bund‹, der mit der deutschen Bundesakte geschaffen wurde, war ein Staatenbund mit internationalem Charakter. Einziges Bundesorgan war die Bundesversammlung oder der ›Bundestag‹ in Frankfurt am Main als ständiger Gesandtenkongreß der deutschen Staaten. Das Präsidium erhielt als geschäftsführende Macht Österreich... Metternich selbst hatte den ›geheimsten Gedanken‹, ›daß das alte Europa am Anfang seines Endes‹ stehe. Das neue Europa sei andererseits noch nicht im Werden; ›zwischen Ende und Anfang wird es ein Chaos geben‹.« (R. Nürnberger) ¤ 32 Ankunft Napoleons auf St. Helena am 11. August 1815. Stich. Wien, Heeresgeschichtliches Museum ¤ 33 Das Gemetzel von Chios. Gemälde von Eugène Delacroix, 1824. Paris, Louvre
»Die große Bewegung Westeuropas erreichte die Balkanhalbinsel von Rußland, von Österreich, von Italien her. Schon hatten die Serben sich ein Maß von Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Unabhängigkeit erkämpft. Vor den Völkern Serbiens, der Moldau, der Walachei hatten die Griechen zwei Dinge voraus: die Magie ihres Namens und die strategische Mittelmeerposition. Alexandres Ypsilanti, Grieche von Geburt, behauptete, als er in die Moldau einfiel, im Einverständnis mit einer Großmacht zu handeln. Der Zar wies den Gedanken einer Hilfe für den Rebellen weit von sich. Noch während Ypsilanti in Rumänien sein Glück suchte, begann der Aufstand auf der Peloponnes; von da an, April 1821, datiert der griechische Unabhängigkeitskrieg... Freiwillige aus aller Herren Länder strömten nach Griechenland, Anleihen wurden organisiert. Unter den Freunden der Rebellen war der eindrucksvollste Lord Byron. Sein frühes Sterben vor Missolonghi (April 1824) war das Beste, was er für die Rebellen leisten konnte. Es bewegte Europa, wie seit den Heldentaten des jungen Bonaparte nichts es bewegt hatte. Von alters her war Österreich Europas Vorkämpfer gegen den Türken. Rußland nicht an die Donau und über die Donau zu lassen, war seit 1813 das defensive Ziel der österreichischen Politik; hier bereitete sich ein Konflikt vor, der so lange währen sollte, wie beide Monarchien, die zu Wien und die zu St, Petersburg, währten. Im Dezember 1825 starb Zar Alexander. Sein Bruder und Nachfolger, Nikolaus I., war aus anderem Holz geschnitzt; ein Despot auch er, die Inkarnation und Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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klassische Selbstdarstellung des Despotismus, aber klaren, trockenen Geistes. Seit 1825 hatten die Rebellen es nicht mehr nur mit dem Sultan, sondern mit dessen kriegsmächtigstem Vasallen, Mehemed Ali, Pascha von Ägypten, und dessen Sohn, Ibrahim, zu tun, dessen wohlgedrillte Truppen die Peloponnes verwüsteten. Es kam der Moment, da Athen fiel und nur noch die Akropolis Widerstand leistete (1826/ 27)... Im Hafen von Navarino wurde die türkischägyptische Flotte durch ein englisch-französisches Geschwader zerstört. Es folgte ein regelrechter Kontinentalkrieg zwischen Türken und Russen. Im Friedensvertrag von Adrianopel (September 1829) bestätigte der Sultan den Donaufürstentümern einen an Unabhängigkeit grenzenden Status und anerkannte die russische Besitzergreifung der Gebiete zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer, Der neue griechische Staat sollte seine Existenz durchaus nicht nur Rußland verdanken. Es fand also etwas wie ein Wettbewerb zugunsten der Griechen statt. Schließlich folgte die Erhebung zum Königreich. Die drei Großmächte besorgten auch den König, den Prinzen Otto von Bayern.« (G. Mann) »Merkwürdig war der Kompromiß zwischen Altem und Neuem: die konstitutionelle Monarchie. König Ludwig XVIII. datierte seine Regierungszeit vom traurigen Tode Ludwigs XVI. oder XVII., bestritt Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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also die staatsrechtliche Wirklichkeit alles dessen, was zwischen 1792 und 1814 geschehen war. Der Aufbau des Staates von den Munizipalitäten bis zu den Ministerien in Paris, das Werk der Jakobiner und Bonapartes, blieb bestehen. Seine Gültigkeit behielt der Code Napoleon. Die katholische Kirche behielt die Verfassung, welche die Revolution ihr gegeben und nachmals der Papst bestätigt hatte. Drei Gesinnungsgruppen agitierten gegeneinander. Die Ultras, adelige Landbesitzer oder solche, die ihren verlorenen Besitz noch wiederzugewinnen hofften, Prinzen des königlichen Hauses, ehemalige Emigranten, wünschten die Revolution ungeschehen zu machen, Einein praktischer gesinnten Großbürgertum war der gegenwärtige Stand der Dinge lieb, wie er war: die Errungenschaften der Revolution, die persönlichen Freiheiten und Rechtsgleichheiten, die Verbreiterung des Besitzes, geschützt durch die alte Monarchie. Die Liberalen gingen weiter als die Konstitutionellen ins Doktrinäre. Sie verteidigten wenn nicht die ganze Revolution, so doch die Revolution in ihrer Frühzeit. Die Monarchie, die ihnen vorschwebte, wäre, um einen späteren Ausdruck zu gebrauchen, der parlamentarischen nahegekommen. König Ludwig XVIII. starb im Jahre 1824. Ihm folgte auf den Thron Frankreichs sein Bruder, Karl X., seit langem die Hoffnung der ›Ultras‹, ein vornehmer Mann von gradlinigen, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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einfachen Gesinnungen. Was das Land, die Hauptstadt, die Jugend der wiederhergestellten Monarchie nicht verziehen, war dies, daß sie identisch war mit der Niederlage von 1815, daß sie auf Seiten der Sieger von Waterloo hatte stehen müssen. Ludwig XVIII, gelang es leidlich, dies Gefühl zu neutralisieren, wobei ihm die zeitliche Nähe zu Hilfe kam, 1830 gab es praktisch keine Alliierten mehr; Karl X. war beschränkter, nobler und frömmer als sein Bruder und unwiderstehlich angezogen von dem Gedanken einer Wiederherstellung des ancien régime. So kam es denn zu dem Pariser Umsturz der letzten Julitage des Jahres 1830. Die ›Juli-Revolution‹ – der gepriesene Prototyp der europäischen Revolutionen des 19. Jahrhunderts.« (G. Mann) ¤ 34 Der Parthenon auf der Akropolis in Athen mit der tükischen Moschee. Zeichnung aus dem Reisealbum des Grafen Karl von Rechberg, 1804. Berlin, Deutsches Archäologisches Institut ¤ 35 Schlüsselübergabe bei der Kapitulation der Stadt Varna in Bulgarien an Kaiser Nikolaus I. von Rußland. Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Kunstbibliothek ¤ 36 König Karl X. von Frankreich im Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Krönungsornat. Gemälde von Jean-Auguste Ingres, 1829. Bayonne, Musée Bonnet ¤ 37 Das Thronangebot der Pairskammer an den Herzog von Orléans, Louis Philippe, im Jahr 1830. Aus einem Gemälde von François Joseph Heim. Versailles, Musée
»Nicht die Liberalen der Kammer machten Revolution. Als der König durch eine Reihe von staatsstreichartigen ›Ordonnanzen‹ das Parlament auflöste, das Wahlrecht zugunsten des Großbesitzes modifizierte, die Zeitungen der strengsten Zensur unterwarf, erhob sich, wie im Jahr 1789, die Stadt Paris: Arbeiter, Studenten, Kleinbürger, ein spontaner Akt des Masseninstinktes, des Enthusiasmus, des Trotzes und Hasses. Merkwürdig war die Methode, die dann für die Kämpfe zwischen alter und neuer Ordnung in den nächsten Jahrzehnten bezeichnend werden sollte: die Barrikaden. Der neue Monarch war schnell gefunden, er war im Grunde seit 1815 immer da und wohlbekannt gewesen; Louis Philippe von Orléans, Chef des jüngeren Zweiges des Hauses Bourbon. Ihn überredete Thiers, aus seiner Sommerresidenz nach Paris zu eilen. Am 9. August beschwor er die Charta, umgeben von denselben Marschällen, die fünf Jahre früher das Salbungsfest Karls X. geziert hatten, den Marschällen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Napoleons, den Soldaten Robespierres. Interessant, wie das Juliereignis, ist auch die Staatsform, die auf ihm gründete. Der neue König sollte es nicht mehr von Gottes Gnaden sein, sondern durch eine Art von Kontrakt, Nicht König von Frankreich, sondern König der Franzosen war fortan der Titel.« (G. Mann) ¤ 38 »Die Verdauung des Budgets«. Karikatur auf die Mißwirtschaft unter dem Bürgerkönig Louis Philippe. Lithographie ¤ 39 Der erste Ministerrat der Königin Victoria im Jahr 1837. Kolorierte Federzeichnung von David Wilkie. Windsor, Royal Collection
»Die britische Monarchie war unter den Engländern verachtet bis zum Regierungsantritt Königin Victorias und war auch in der ersten Zeit der Königin nichts weniger als beliebt... In den ersten Jahren ließ sie sich gern von dem Whig-Premier, dem erfahrenen alten Lord Melbourne, leiten. Das änderte sich nach der Heirat mit ihrem Vetter, Albert von Coburg. Coburg war der strebsamste, gewissenhafteste Mentor, den je eine Königin besaß; mit deutschem Ernst dem Gedanken des Fortschritts ergeben, der Förderung der Wissenschaft und Industrie, des Weltverkehrs, des Weltfriedens. Dazu kam das moralische Beispiel, das Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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die Königsfamilie der Nation gab. Das von Lord Melbourne geführte Whig-Kabinett mußte 1842 zurücktreten. Neuwahlen brachten den Konservativen eine ausreichende Mehrheit; an die Spitze der Regierung trat Sir Robert Peel. Der Übergang Englands von einem überwiegend agrarischen in das industrielle Zeitalter war schwierig. So gab es die ›Anti-CornLaw-League‹ unter der Führung Richard Cobdens, die gewaltige Anstrengungen machte, um die öffentliche Meinung von den Vorteilen einer freien Getreideeinfuhr zu überzeugen; so gab es noch immer die radikaldemokratische Bewegung des Chartismus und, neuerdings, die Agitation für eine Beschränkung der Arbeitszeit auf zehn Stunden, Robert Peel glaubte, sehr im Gegensatz zu seinem Vorgänger Melbourne, daß Regierungen da seien, um etwas zu tun; die seine tat viel und er am meisten. Eigentlich stand er dem industriellen Interesse näher als dem agrarischen... Peel setzte eine starke Reduzierung der Zölle durch, und, trotz des Protestes der Freihändler, eine Einkommenssteuer. Beide Maßnahmen erwiesen sich als wohltätig für den Staatssäckel; das Defizit verwandelte sich in einen Überschuß. Peel war, als er die Regierung übernahm, grundsätzlich schon für die Freihandelslehre gewonnen. Dann kam, im Jahr 1845, die Nachricht von einer bevorstehenden Kartoffelmißernte in Irland, während gleichzeitig ein anhaltender Regen die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Weizenfelder Englands heimsuchte. Jetzt waren die psychologischen Bedingungen gegeben: Im Juni 1846 wurde Peels Freihandels-Vorschlag endgültig zum Gesetz.« (G. Mann) ¤ 40 »Oliver Twist«. Roman von Charles Dickens. Umschlag einer Ausgabe in Heften mit Holzschnitten von George Cruikshank, 1846 ¤ 41 Picknick im Wald von Eu zu Ehren der Königin Victoria, 1843. Gemälde von Charles Girardet. Versailles, Musée ¤ 42 Kaiser Franz Joseph I. und seine Gemahlin Elisabeth. Lithographie nach einem Gemälde von Eduard Kaiser
»Louis Philippe eignete sich für die ihm zugedachte Rolle. Phantasie und Würde, die Magie echter Könige, besaß Louis Philippe nicht... Stärker als Frankreich selber reagierte Europa. Im August erhoben sich die Belgier gegen die Bürokratie des Königs der Niederlande; im November die Polen gegen die russische Herrschaft; im nächsten Februar die Römer. Indem Europa sich der Veränderung in Frankreich anbequemte, fand es auch Mittel und Wege, die Brande zu ersticken, welche sich hier und dort entzündet hatten. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Einer, der belgische, wurde durch das ›Konzert der Mächte‹ kunstvoll gelöscht; die anderen, der polnische, der italienische, durch die Gewalt russischer und österreichischer Truppen ausgetreten. Nachdem der neue Staat Belgien endlich geschaffen war, galt es, ihm einen König zu finden. Schließlich einigten sich die Mächte auf einen anglisierten deutschen Fürsten, Leopold von Coburg. Im November 1831 war das Werk getan, das neue Königreich von den fünf Großmächten anerkannt... In Polen siegte die russische Gewalt. Europa gewährte ihm keine Hilfe. Preußen trug im Gegenteil dafür Sorge, daß der Aufstand nicht in seine eigenen polnischen Gebiete übergreife. In Frankreich, in der Schweiz, auch im liberalen Deutschland flammte die Polenbegeisterung in Comites, Liedern und Empfängen auf, Heine charakterisierte die französische Innenpolitik: ›Eine solche Verkleinlichung aller Größe und radikale Vernichtung des Heroismus verdankt man aber ganz besonders jener Bourgeoisie, jenem Bürgerstand, der durch den Sturz der Geburtsaristokratie hier in Frankreich zur Herrschaft gelangte und seinen engen, nüchternen Krämergesinnungen in jeder Sphäre des Lebens den Sieg verschafft. Der Ausdruck ›Justemilieu‹, mit dem dieses System bezeichnet wurde, stammte von dem redseligen König selber. Weder Absolutismus noch Demokratie: der goldene Mittelweg von Fortschritt Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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und Ordnung. Nach Attentaten auf den König kam es zu Erhebungen: Lyon 1831, Paris 1834. In Lyon meldete eine Klasse sich an: die Arbeiterschaft. 1831 ging es um die Herabsetzung der Löhne, 1834 noch dazu um das Recht der Arbeiter, sich zu organisieren. Es waren Vorboten der Katastrophe des Juni 1848. Die Bourgeoisie verstand keinen Spaß, wenn die Ordnung bedroht war. Zur Klassenherrschaft gehörte der Klassenkampf. In den vierziger Jahren haben zwei anmaßende deutsche Jünglinge diese Theorien in einer von der deutschen Philosophie gelieferten Form zusammengefaßt, und so ist der ›Marxismus‹ entstanden.« (G. Mann) »Das ›legale Land‹ war ohne Ideal, es war bei dem illegalen Land und den gegnerischen Gruppen: den Legitimisten, bei den Republikanern, den Sozialisten. Auch bei den Bonapartisten, die unter Louis Philippe entschieden aufblühten. Aus der Geschichte des wirklichen Napoleon übernahmen sie den Ruhm, die Energie und Intensität. Ruhmvolle Existenz der Nation unter anderen Nationen, gegen feige Passivität, so lautete jetzt die imperiale Botschaft, zu deren einfallsreichstem Verkünder sich der selbsternannte Chef des Hauses machte: Louis Bonaparte. Sohn von Napoleons Bruder Ludwig. Der Schriftsteller, der am meisten für die Napoleon-Legende tat, war zugleich ein Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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führender Politiker des Julikönigstums: Adolphe Thiers. Seit 1834 war Deutschland, ohne Österreich und ohne einige kleine nach dem Meer und nach England orientierte Staaten, eine wirtschaftliche Einheit, ein einziges Zollgebiet. Der von Preußen gegründete und vornehmlich verwaltete ›Zollverein‹ war bei weitem die positivste deutsche Schöpfung der dreißiger Jahre. Die Absichten des Zollvereins waren wirtschaftlich, sein Prophet der ideenreiche Schriftsteller, der Nationalökonom Friedrich List, der in Amerika die Vorzüge eines innerlich freien, nach außen aber geschützten Wirtschaftslebens studiert hatte. Verglichen mit dem Zollverein mutet der politische Betrieb in Deutschland geringfügig an. Friedrich Wilhelm IV. war ein über Durchschnitt begabter Erbmonarch, geistreich, gebildet, aber ohne Kraft zu konsequentem Handeln, in Krisenzeiten verlor er völlig den Kopf. Die Vorstellungen Friedrich Wilhelms waren die eines stark idealisierten Mittelalters. Zu den nüchternen Forderungen einer bürgerlichen Klassengesellschaft paßte dies schöne Bild nicht. Eine Amnestie entließ die politischen Strafgefangenen, die Zeitungen, die Provinzial-Landtage genossen größere Freiheit. Es waren Jahre des Bauens, die vierziger Jahre, des Eisenbahnbaues vor allem, Jahre der industriellen und finanziellen Gründungen. Im Jahr 1844 kam es in Schlesien zu Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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einem verzweifelten Aufstand der armen Leineweber. Untersuchungen deckten die entsetzlichen Bedingungen auf, unter denen sie lebten. Erst 1847 entschloß sich Friedrich Wilhelm zu einem Schritt in der seit seinem Regierungsantritt schwelenden Verfassungsfrage. Er berief Vertreter der Nation zusammen. Die Mehrheit präzisierte die klassischen Forderungen des Liberalismus: sie seien noch gar nicht die eigentlichen Reichsstände, die der verstorbene König versprochen. Der Landtag wurde durch allerhöchsten Bescheid ungnädig nach Hause geschickt, aber er beschleunigte das Tempo der öffentlichen Meinung.« (G. Mann) ¤ 43 Ankunft des Dampfers »Washington«, des ersten Postschiffs der Amerika-Linie, in Bremerhaven, 1847. Kolorierte Lithographie. Bremen, Focke-Museum ¤ 44 Die Mühlen auf dem Montmartre in Paris. Zeichnung von Auguste Grolleau, 1843. Paris, Musée Carnavalet ¤ 45 Errichtung des Befreiungsbaumes vor dem Hôtel de Ville in Paris. Gemälde von Jean-Jaques Champin, 1848. Paris, Musée Carnavalet
»Am 24. Februar 1848 unterschrieb Louis Philippe Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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seine Abdankung. Dann floh der letzte König von Frankreich. Am Abend des 24. Februar trat eine ›provisorische Regierung‹ die Nachfolge an. Sie proklamierte die Republik. Das war der Anfang der europäischen Revolution. Wenn es je eine europäische Revolution gab, so war es die von 1848. Das Adlerauge des revolutionärsten Theoretikers, den es je gab, Karl Marx, des Apostels, des scharfsinnigen Fetischisten der Revolution, wachte über dem Geschehen. Das war seine Revolution. Europa wollte die lange erträumte Regierungsform: die Republik, mit oder ohne König, den Staat Immanuel Kants, in dem keine anderen Gesetze sein sollten als die, welchen seine Bürger zugestimmt hätten. Die Regierung, von der Hauptstadt kreiert, war durchweg republikanisch, auch wohl sozialistisch. Wahlen zur konstituierenden Nationalversammlung gab es im April, sie brachten den Rückschlag des Landes gegen den Radikalismus der Hauptstadt. Die Arbeiter von Paris, jammervoll enttäuscht durch die Wirklichkeit ihrer Lebensbedingungen, wollten ihre scheinbare Macht über die Hauptstadt nicht kampflos preisgeben. Zuverlässige Truppen wurden zusammengezogen. Ihr Kommandant, General Cavaignac, kannte sein Ziel, ›den Feind zu zerschmettern‹. Die ›Junischlacht‹ (23. bis 26. Juni) dauerte vier Tage. Am Ende lagen ganze Stadtviertel in Asche, die Toten hat niemand gezählt. Unter dem Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Schutz General Cavaignacs schritt die konstituierende Versammlung zur Vollendung ihres Werkes. Es war eine Republik zugleich radikalen und kräftigen Charakters: das allgemeine und gleiche Wahlrecht, eine einzige Kammer, ihr gegenüber ein von der Nation für vier Jahre zu wählender Präsident. Louis Napoleon Bonaparte, Neffe des Kaisers, wurde gewählt. Er bekannte sich zur Republik und zur Notwendigkeit einer starken Regierung. Nur wenige Wochen nach der Wahl bewies der veränderte Lebensstil von Paris, daß die Reichen keine Angst vor den Armen mehr hatten... Die ›Märzrevolution‹ in Deutschland war überwiegend friedlich. Was die dynastischstaatlichen Bürokratien jahrzehntelang verweigert hatten, wurde nun, unter dem Eindruck der Pariser Ereignisse, plötzlich bewilligt: Presse- und Versammlungsfreiheit, Geschworenengerichte, ›Bürgerwehr‹, Reform des Wahlrechtes, wo es eines gab, die Ernennung populärer Minister. In den beiden großen, von stärkerem Leben durchpulsten Hauptstädten des Landes, Wien und Berlin, ging es nicht wesentlich anders zu. Auch in Wien wurde ›alles bewilligt, die Entlassung Metternichs zuerst, dann die ›Konstitution‹. Berlin folgte fünf Tage später. Daß es hier dennoch zu einer argen Schießerei zwischen Truppe und Bürgerschaft kam, bewies nur Nervosität und Mißverständnis. Auch in Preußen sollte eine Staatsverfassung zwischen der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Krone und einer Nationalversammlung ›vereinbart‹ werden. ›Die Vergangenheit ist begraben‹, erklärte ein junger Deputierter, von Bismarck, in der letzten Sitzung des Vereinigten Landtages, ›und ich bedaure schmerzlicher als viele von Ihnen, daß keine menschliche Macht imstande ist, sie wieder zu erwecken‹.« (G. Mann) ¤ 46 Straßenkampf in Paris am Faubourg du Temple. Lithographie, 1848 ¤ 47 Pariser Straßenjunge in den Tuilerien. Lithographie in der Zeitschrift »Charivari« vom 4. März 1848 ¤ 48 »Das merkwürdige Jahr 1848«. Kolorierter Neuruppiner Bilderbogen auf die Revolution in Berlin ¤ 49 Amnestie Friedrich Wilhelms IV. für »Pressevergehen« am 20. März 1848. Plakatanschlag ¤ 50 »Die Worte des Königs am 15. Oktober 1848«. Plakat mit Worten Friedrich Wilhelms IV. an die Stadtverordneten, die Bürgerwehr und die Deputierten der Nationalversammlung ¤ 51 Treffen des Feldmarschalls Radetzky mit König Victor Emanuel II. in Vignale nach der Schlacht von Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Novara im Jahr 1849. Lithographie nach einer Zeichnung von Eugen Adam »Von Haus aus kämpferischer gesinnt als die Deutschen, überdies von einer eigentlichen Fremdherrschaft belästigt, handelten die Italiener mit größerer Energie. Zwei Wochen nach dem Sturz Metternichs erhoben sich die Mailänder; der österreichische Kommandant, Radetzky, mußte seine Truppen in das Festungsviereck im Zentrum der Po-Ebene zurücknehmen. In Venedig wurde eine Republik ausgerufen. Der König von Sardinien-Pieinont, Karl Albert, schickte den aufständischen Lombarden sein Heer zu Hilfe, So tat das päpstliche Rom, so Neapel; eine kurze Zeit war ganz Italien revolutionär und lag im Kriegszustand gegen Habsburg. Die Piemontesen, bei Custozza vernichtend geschlagen, mußten Ende Juli sich zu einem Waffenstillstand bequemen. Gegen Ende des Jahres kam es in Italien zu einer zweiten Bewegung, sie ging aus von Rom, wo die Demokratie dem liberalisierenden Papst über den Kopf wuchs. Die Bürger der Hauptstadt proklamierten eine römische Republik (Februar 1849); und es war, um ihr zu Hilfe zu kommen, getrieben von dem panitalienischen, nationaldemokratischen Impetus, daß Piemont sich noch einmal ins Getümmel wagte und den Waffenstillstand mit Österreich kündigte. Vergebens. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Nach der Niederlage bei Novara (23. März) dankte König Karl Albert ab; sein Sohn, Victor Emanuel, schloß Frieden mit dem noch übermächtigen Nachbarn. Dies ließ Rom allein; unter einem Triumvirat, dem Mazzini vorstand. Ein anderer Volksführer, Träger eines großen Namens der Zukunft, schlug damals zuerst das Volk von Rom in seinen Bann: Giuseppe Garibaldi. Damals kam er zu früh, hielt sich aber bereit, um zehn Jahre später zur rechten Zeit wiederzukommen. In Frankreich hatte Napoleon III., Dezember 1851, Blut vergießen lassen, um sich die Macht zu sichern. Seine Gegner vergaßen es nicht. Die Regierung Louis Napoleons war eine mit scheinrepräsentativen Einrichtungen verbrämte Diktatur bis etwa 1860. Immerhin tat der Staat für die Wirtschaft, was in Westeuropa im 19. Jahrhundert möglich war. Er gab enorme Aufträge. Eine der ersten, bezeichnenden Handlungen war (1852) die Konfiskation des Riesenvermögens der Orléans; der Innenminister gab es aus für den Bau von Arbeiterwohnungen und andere soziale Leistungen. 1864 wurde gegen den Widerstand der Industrie das alte Streikverbot aufgehoben.« (G. Mann) ¤ 52 Beschießung von Venedig mit Luftballonfallbomben durch die österreichische Artillerie, 1849. Lithographie Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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¤ 53 Blockade von Sewastopol durch die französisch-englisch-türkische Flotte in Oktober 1854. Holzschnitt
»Die Entstehung des ›Krimkrieges‹ war verworren und langwierig. Es ging um die Integrität der Türkei, Konstantinopel, ein britisches Hauptinteresse im Nahen Osten, bedroht von Rußland. In dem Moment, in dem England und Frankreich den Krieg gegen Rußland erklärten (28. März 1854), war es keine fünf Jahre her, daß Zar Nikolaus die Revolution in Ungarn blutig erstickt hatte. Seitdem, wenn nicht seit 1815, galt das europäische Gleichgewicht als von Rußland her bedroht; England führte Krieg, um Rußlands Einfluß einzudämmen, um das Gleichgewicht wiederherzustellen, und nie ist ein Krieg bei den Engländern so populär gewesen. Andererseits waren die Revolutionäre von 1848, zumal die französischen, begierig nach einem ›Volkskrieg‹ gegen den russischen Despotismus. Dieses Motivs war Napoleon sich bewußt. Seine eigene Situation war falsch, und er spielte falsch, suchte das Bündnis mit Österreich gegen Rußland und während er daran dachte, ›etwas für Italien zu tun‹, schielte er schon nach der Allianz mit Rußland. Im Frühling des Jahres 1853 stellte Rußland weitreichende Forderungen an die Türkei. Sie wurden abgelehnt. Zar Nikolaus ließ die Donaufürstentümer, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Moldau und Walachei, besetzen, ein klassischer Akt der Bedrohung des Gleichgewichts. Österreich suchte zu vermitteln. Die Vermittlung mißlang. Oktober 1853 erklärten die Türken den Krieg gegen Rußland, im November erlitten sie eine Niederlage zur See. Englische und französische Flotten drangen ins Schwarze Meer ein. Im Februar forderten die Westmächte die Räumung der Donaufürstentümer durch die Russen, erhielten keine Antwort und erklärten den Krieg Ende März 1854. Ein anderer Staat hatte den Krieg benutzt, um sich in Westeuropa einen guten Namen zu machen: Piemont-Sardinien. Das kleine Königreich hatte keine Interessen im Nahen Osten, hatte Rußland nichts vorzuwerfen; oder allenfalls nur dies, daß Rußland 1848/49 die Vertreterin par excellence des Absolutismus war, dem es bei Novara erlag. Mit den Piemontesen kämpfte Italien auf der Seite des Westens ›gegen den Koloß des Nordens‹. Der Krieg hatte seinen Schauplatz im Schwarzen Meer und auf der Krim, wo der Kampf um die Festung Sewastopol nahezu ein Jahr dauerte. (Oktober 1854 bis September 1855.) Der Winter dort war furchtbar. Die Toten wurden auf insgesamt eine halbe Million geschätzt. Der Fall Sewastopols, dazu die österreichische Interventionsdrohung erzwangen das Ende. Der Machtprobe folgte ein Diplomatenkongreß, der prachtvollste seit dem Wiener, und zwar in Paris. Louis Napoleon Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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erhoffte von dem Kongreß eine großartige Rekonstruktion Europas, die Erlösung Italiens, die Wiederherstellung Polens; aber weder England noch Österreich befreundeten sich mit solchen Ideen. Die Türkei versprach innere Reformen, bürgerliche Gleichberechtigung der Christen und wurde in das ›Konzert der Mächte‹ aufgenommen. Das Schwarze Meer sollte fortan ›neutralisiert‹ sein, so daß weder Türken noch Russen dort Befestigungen und Kriegsschiffe unterhalten durften; eine Bestimmung, die genauso lange in Kraft blieb, wie Rußland sich zu schwach fühlte, sie umzustoßen.« (G. Mann) »In Italien ging der Widerstand der Unterdrückten weiter, trotz der Niederlage von 1849. Das Neue in der Entwicklung war das Entstehen einer Partei, welche die Lösung im monarchischen Einheitsstaat unter dem Haus Savoyen fand. Der schnell sich ausbreitende Erfolg einer ›italienischen Nationalgesellschaft‹ beruhte auf der Anziehungskraft der Leistungen des piemontesischen Ministers Camillo Benso di Gavour. Daß der moderne italienische Staat als von Piemont her bestimmte Verfassungsmonarchie den Schauplatz betrat, war dem Minister Cavour und dem König Victor Emanuel zuzuschreiben. Unter der festen Hand Gavours, seit 1852 Ministerpräsident, wurde Piemont zum modernen Verfassungsstaat.« (G. Mann)
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¤ 54 Anbiederungsversuch an die »Republik«. Karikatur auf Napoleon III. Lithographie von Honoré Daumier, 1851. Berlin, Galerie G. Bassenge ¤ 55 Kurznachricht Cavours über die von der Lombardei her anrückenden österreichischen Truppen, 1859. Turin, Museo Nazionale del Risorgimento
Schon seit 1855 bestand eine Verbindung zwischen Cavour und Napoleon, die sich nach dem Attentat Orsinis 1858 gegen den Kaiser zu einem Abkommen verdichtete. »Wenn es Piemont gelänge, die Österreicher zum Krieg zu provozieren und man Österreich die Schuld daran zuschieben könnte, so würde Frankreich eingreifen. Gepeinigt von einer Kette liebevoll geplanter Herausforderungen verloren die österreichischen Diplomaten die Geduld. Am 23. April kamen sie mit einem die Abrüstung binnen drei Tagen fordernden Ultimatum heraus, dem die Kriegserklärung folgte. Nun war Österreich der Angreifer. In der Lombardei stießen die österreichischen, französischen und piemontesischen Armeen noch einmal gegeneinander in den blutigen Schlachten von Magenta und Solferino. Der Anblick der letzteren hat den Genfer Kaufmann Henry Dunant zur Gründung des ›Roten Kreuzes‹ angeregt. Wie Dunant, der Zivilist, war Louis Napoleon von den Greueln des Schlachtfeldes Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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beeindruckt. Zwei Wochen später ließ er dem Kaiser Franz Joseph einen Waffenstillstand anbieten. Franz Joseph und Napoleon trafen sich in Villafranca. Österreich trat die Lombardei an Frankreich ab, welches sie an Piemont übergab. Cavour legte in Wut und Schmerz seine Ämter nieder. Im Januar trat Cavour noch einmal an die Spitze der Geschäfte, versöhnt mit Villafranca. Am 5. Mai 1860 schiffte Garibaldi sich mit tausend Anhängern in Genua nach Sizilien ein und eroberte am 25. Palermo. Im August überschritt er die Meerenge von Messina, im September war er in Neapel. Garibaldis Triumph war einer Reihe wunderbar zusammenspielender Faktoren zuzuschreiben. Cavour erklärte, ›die Dynastie Savoyen darf nicht erlauben, daß ein gewöhnlicher Condottiere das Werk des Risorgimento vollendet. Sie muß selber erobern, bis nach Neapel vordringen und so Garibaldi auf den Platz stellen, der allein ihm zukommt, den eines heroischen Abenteurers...‹ Gemeinsam hielten Victor Emanuel und Garibaldi triumphalen Einzug in Neapel. Die Bewohner Siziliens, Neapels, der Marken und Umbriens stimmten für Anschluß an Piemont. Im März (1861) trat in Turin das erste Parlament Italiens zusammen, England und Frankreich beeilten sich, den neuen Staat anzuerkennen.« (G. Mann) ¤ Königin Victoria an Kaiser Franz Joseph I. Brief Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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vom 21. Februar 1835 zur Entsendung von Lord John Russell zu den Wiener Friedenskonferenzen im Jahr 1855. Wien, Haus-, Hof- und Staatsarchiv ¤ [Rückseite] Österreichs Haltung im Krimkrieg zeigte Widersprüche und Inkonsequenzen, und dies dürfte auch der Grund dafür gewesen sein, daß Österreich keineswegs die von seinem Minister des Äußeren Buol angestrebte Rolle eines Schiedsrichters Europas spielen konnte. Die Tatsache, daß sich Österreich am 2. Dezember 1854 mit den Westmächten in einem Defensivbündnis zusammenschloß, stand in eklatantem Gegensatz zur Erklärung Kaiser Franz Josephs vom Oktober 1853 anläßlich des Einrückens russischer Truppen in die Donaufürstentümer, Österreich werde treu am Bündnis mit Rußland festhalten und sich niemals mit den Westmächten verbünden. Die Unterzeichnung des Vertrages vom 2. Dezember 1854 konnte daher mit Recht von Zeitgenossen und Historikern als Grabschrift der Heiligen Allianz betrachtet werden. Sie bedeutete einen Sieg der Anhänger des russenfeindlichen Kurses in Osterreich über die russenfreundlichen Kräfte im konservativen Lager. Der Minister des Äußeren Graf Karl F. von Buol-Schauenstein faßte schon Anfang Januar 1854 die Möglichkeit eines Anschlusses Österreichs an die Westmächte Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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ins Auge; die Ministerkonferenz im März 1854, die sich mit dieser Frage befaßte, lehnte Buols Politik ab. Der Sommer 1854 brachte Verhandlungen des österreichischen Vertreters in Paris Joseph Alexander Freiherrn von Hübner, eines Anhängers der Verständigung mit Frankreich und England, mit den Westmächten über den Abschluß einer Tripelallianz mit Österreich. Am 8. August 1854, am gleichen Tag, an dem Rußland die Donaufürstentümer auf Verlangen Österreichs räumte, traf Österreich eine Abmachung mit den Westmächten über die Festsetzung gemeinsamer Grundsätze zur Wiederherstellung des Friedens zwischen Rußland und der Türkei. Preußens Versuche, Österreich am Übertritt in das Lager der Westmächte zu hindern, schlugen fehl. Der Widerwille der österreichischen Militärkreise gegen einen Krieg mit Rußland hielt Buol von einem Bruch mit Rußland ab, auf den er hinarbeitete. Zur Unterzeichnung des Vertrages vom 2. Dezember 1854 mit den Westmächten entschloß sich Franz Joseph I. erst unter dem Eindruck eines Schreibens Napoleons III. vom 18. November, das ihn vor die Alternative Unterzeichnung des Bündnisses mit den Westmächten oder Bruch mit ihnen stellte. Rußland sollte durch diesen Vertrag zur Annahme der von Buol formulierten Friedensbedingungen gezwungen werden. Der Vertrag Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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enthielt die Zusage einer bewaffneten Intervention Österreichs, wenn es nicht gelänge, mit Rußland auf diplomatischem Wege zu einem Übereinkommen zu gelangen. Das Einlenken Rußlands am 7. Januar 1855 machte den Weg zu Friedenskonferenzen in Wien frei, die vom 15. März bis 24. April stattfanden, jedoch ergebnislos verliefen. Als erster Sondergesandter zu den Wiener Konferenzen traf der englische Vertreter Lord John Russell (1792-1878) in Wien ein und wurde von Kaiser Franz Joseph I. am 6. März in Audienz empfangen. Russell, Staatssekretär für Auswärtige Angelegenheiten, Parlamentsmitglied und Geheimer Rat der Königin von England, erfreute sich in konservativen Kreisen Österreichs als Exponent der liberalen Partei nicht des besten Rufes. Seine Nennung für die Spezialmission in Wien veranlaßte den Generaladjutanten des Kaisers, den Grafen von Grünne, den Polizeiminister Kempen von Fichtenstamm um Sammlung der grellsten Stellen aus Lord Russells Parlamentsreden gegen Österreich zu ersuchen, da man ihn mit Rücksicht auf seine Abneigung gegen Osterreich behandeln müsse. Königin Viktoria hatte Russell als englischen Sondergesandten zu den Wiener Konferenzen am 14. Februar 1855 beglaubigt. Dem offiziellen Beglaubigungsschreiben folgte am 21. Februar der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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in deutscher Sprache abgefaßte Brief an Kaiser Franz Joseph I., in dem Königin Viktoria die Hoffnung aussprach, der Allmächtige werde die gemeinsamen Bemühungen, jetzt Frieden zu schließen oder ihn künftig zu erkämpfen, mit seinem Beistand segnen. Russell gewann von Kaiser Franz Joseph den Eindruck eines Mannes, der sich nicht sofort als befähigt zeigte, das Steuer in den Händen zu halten und das Schiff durch gefährliche Klippen zu führen, er besitze aber eine Intelligenz und Festigkeit in den Absichten, die ihn befähigen könnten, dieses große Kaiserreich mit Geschicklichkeit und Erfolg zu beherrschen. Nicht die ergebnislosen Wiener Friedenskonferenzen, sondern der Fall von Sebastopol am 8. September 1855 brachte die Wende im Krimkrieg und machten Rußland zur Annahme der Friedensbedingungen der Westmächte bereit. Trotz Formulierung der Friedensbedingungen von österreichischer Seite und trotz Abschluß des Waffenstillstandes in Wien am 16. Februar 1856 war die Führung der Verhandlungen mit Rußland Österreich entglitten. Frankreich hatte sich mit Erfolg eingeschaltet und geheime Fäden zu Rußland gesponnen. Die Verhandlungen, die zum Abschluß des Friedens führten, begannen am 25. Februar 1856 in Paris und nicht in Wien. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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¤ 56 Zeichnungsschein einer in London 1851 aufgelegten Anleihe für die Befreiung Italiens. Turin, Museo Nazionale del Risorgimento ¤ 57 Giuseppe Mazzini. Gemälde von Luigi Zuccoli, 1865 ¤ 58 König Victor Emanuel II. Gemälde eines unbekanntes Malers, um 1850. Turin, Museo Nazionale del Risorgimento ¤ 59 Italienische Gefangene. Aquarell von Wilhelm Richter, 1859. Wien, Heeresgeschichtliches Museum ¤ 60 »Auf nach Kalifornien!« Karikatur auf den Run zu den Goldvorkommen in Kalifornien, 1849. New York, The New York Historical Society ¤ 61 Vollendung der Pacific-Bahn. Begegnung der Lokomotiven der Union Pacific- und der Central Pacific-Railroad bei Promontory/Utah am 10. Mai 1869
»In Amerika war die politische Stellung der südlichen Pflanzeraristokratie stark. Sie regierte durch das Instrument der Demokratischen Partei. Seit den dreißiger Jahren schon waren die ›Abolitionisten‹, die die sofortige ganze Abschaffung der Sklaverei forderten, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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am Werk. Der Roman der Harriet Beecher Stowe, ›Onkel Toms Hütte‹, erschien 1852; das wirksamste Propagandabuch, das es je gab. Abraham Lincoln, Rechtsanwalt aus Illinois, war ein unbeugsamer Gegner der Sklaverei, ein strenger Anhänger von Gesetzlichkeit und Ordnung. Bei den Novemberwahlen gewannen die Republikaner die meisten von allen Wahlstimmen, eine Pluralität. Sie genügte, um Lincoln zum Präsidenten zu machen. Als Lincoln sein Amt antrat, hatten schon sieben Staaten die Union verlassen und sich zu den ›Konföderierten Staaten von Amerika‹ zusammengeschlossen. Von da an kannte Lincoln nur eine Pflicht: die Union zu retten. Lincoln griff nicht die Sklaverei an, er verteidigte die Union. Die Südstaaten verteidigten ihre Existenz, die auf Trennung von der Union beruhte. Es war der erste moderne Krieg, in seiner Jahr für Jahr sich steigernden Intensität, seiner aufwühlenden, tief verändernden Wirkung im Moralischen, Sozialen und Wirtschaftlichen. In einer Kette von Schlachten im Napoleonstil war der Süden lange Zeit erfolgreich. Das Verhängnis kam vom Westen. Sommer 1863 war hier das Ziel der Union erreicht, das ganze Tal des Mississippi unter seiner Kontrolle, das Gebiet der Konföderierten in zwei Teile gespalten. Wieder und wieder drang Lee, der Fähigste unter den Anführern des Südens, zuletzt Oberbefehlshaber aller südlichen Armeen, gegen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Norden vor; die berühmten Schlachten des Krieges, Antietam. Gettysburg (Juli 1863), zwangen ihn zum Rückzug. Am 9. April 1865 ergab sich Lee dem nördlichen Oberbefehlshaber, General Grant. Fünf Tage nach der Schlacht von Antietam proklamierte Präsident Lincoln für den 1. Januar 1863 die Befreiung aller Sklaven im Gebiet der im Kampf gegen die Union liegenden Staaten. Fünf Tage nach der Kapitulation von Appomattox, am 14. April 1865, wurde Lincoln in Washington von Pistolenschüssen tödlich verwundet.« (G. Mann) ¤ 62 Präsident Lincoln im Gespräch mit dem General der Unionstruppen McClellan am 2. Oktober 1862. ¤ 63 »Behandeln Sie die Sache mit Nachdruck!« Aufforderung Lincolns an General Grant vom 11. April 1865 zum Sieg über General Lee. Chicago, Historical Society ¤ 64 Königin Victoria mit dem Premierminister Benjamin Disraeli. Farbige Lithographie von Tom Merry
»Disraeli, Premier 1868 und 1874 bis 1880, war der Überzeugung, daß der Staat etwas für Leib und Seele des gemeinen Mannes tun müsse, daß Krone, Adel Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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und Volk einander nicht feind seien, sondern zusammengehörten. Die Sozialgesetzgebung seines großen Ministeriums war imposant genug; sein improvisierter Kauf von vierundvierzig Prozent der Suezkanalaktien schuf die Grundlage der englischen Herrschaft über Ägypten; der Titel einer Kaiserin von Indien, den er für seine Königin erdachte, gab dem Lande etwas von orientalischem Märchenglanz. Gladstones öffentliches Leben begann zur Zeit der ersten Reformbill, und sein letztes Ministerium endete 1894. Er war der britische Großbürger seiner Zeit, stark und gesund, Holzfäller und Homer-Übersetzer, Theologe und Finanzspezialist, sparsam nüchterner Ökonom und gewiegter Parteipolitiker. Ebenso war er fähig, für das als gerecht und notwendig Erkannte zu kämpfen und es durchzusetzen gegen schwere Widerstände: die irische Landgesetzgebung von 1870 und 1881, die Trennung von Staat und Anglikanischer Kirche in Irland. Wie Disraeli besaß er die höchsten Ideen von England und Englands Platz in der Welt.« (G. Mann) ¤ 65 William Ewart Gladstone. Aus einem Gemälde von John McLure Hamilton. Paris, Musée du Luxemburg ¤ 66 »Anatomievorlesung«. Karikatur von Honoré Daumier auf die Unterdrückung der Verfassung, 1869 Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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»Die fünfziger Jahre waren in Deutschland von der Tendenz beherrscht, die man ›die große europäische Reaktion‹ nannte. Das Wahlrecht in Preußen, das die Bevölkerung nach der Steuerleistung in drei Klassen teilte, sicherte konservativer Wohlhabenheit eine Mehrheit im unteren Hause des Parlamentes um so verläßlicher, als die liberale Opposition dazu neigte, die Wahlen zu sabotieren: das Oberhaus war ein Monopol des Adels und von der Krone ernannter Würdenträger. Von unheilbarer Geisteskrankheit getroffen, trat Friedrich Wilhelm IV. von Preußen 1858 von der politischen Bühne ab. Sein Bruder und Nachfolger, Wilhelm I., war ein Mann von anderem Schlage; beschränkten, aber festen und klaren Geistes, nüchtern, soldatisch und ehrenhaft. Der Konflikt, in den der König von Preußen mit seinem Parlament geriet, hatte eine Heeresreform zum Gegenstand. Das Parlament gestand die für die Heeresreform notwendigen Gelder nur unter Bedingungen zu. Der König löste es auf. Neuwahlen, mit beispielloser Beteiligung durchgeführt, brachten der im Vorjahr gegründeten Fortschrittspartei einen durchschlagenden Erfolg, den Konservativen eine vernichtende Niederlage. Zögernd geriet der König in die Lage des Verfassungsbrechers. Eine Abdankungsurkunde wurde entworfen. Ehe sie vollzogen war, erschien der preußische Gesandte in Paris, von Bismarck, in Berlin und bot sich an, den Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Kampf gegen das Parlament zum siegreichen Ende durchzuführen. Während der nächsten neun Jahre, 1862 bis 1871, ist die politische Geschichte Deutschlands die Geschichte Bismarcks. Er setzte auf Armee, Bürokratie, Justiz, der gesamte Staatsapparat gehörte dem König, nicht dem Parlament. Franz Joseph meldete Österreichs deutschen Führungsanspruch noch einmal an, indem er den versammelten deutschen Fürsten in Frankfurt den Plan zu einer Reform des Deutschen Bundes vorlegte. 1864 begann die deutsche Krise sich zu ›erhitzen‹.« Nach den beiden kurzen Kriegen mit Dänemark (1864) und Österreich-Ungarn (1866) »war der Deutsche Bund aufgelöst, Österreich praktisch von Deutschland getrennt. Nördlich des Mains durfte Preußen einen ›Norddeutschen Bund‹ errichten. Die Verfassung des neuen ›Norddeutschen Bundes‹ beruhte auf einem überraschend großzügigen Kompromiß zwischen der preußischen Königstradition und dem liberalen Programm. Das hastig entworfene Dokument stammte von Bismarck. Die Verfassung des Norddeutschen Bundes ist von weltgeschichtlichem Gewicht, weil sie die Verfassung des neuen Deutschen Reiches bis 1918 blieb. Nach der törichten Logik des Machtspieles war seit 1866 ein letzter Wettkampf zu erwarten, und zwar zwischen Preußen-Deutschland und Frankreich.« (G. Mann)
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¤ 67 Bismarcks Entwurf für die Verfassung des Norddeutschen Bundes mit eigenhändigen Korrekturen, 1866. Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Geheimes Staatsarchiv ¤ 68 Die Kapitulation von Sedan am 2. September 1870. Kriegsdepesche Wilhelm I. an die Kaiserin. Berlin, Landesarchiv ¤ 69 Die Ratifizierung des Friedens am 2. März 1871. Kriegsdepesche Wilhelm I. an die Kaiserin. Berlin, Landesarchiv ¤ 70 Sturm auf die Spicherer Höhen, 1870. Gemälde von Walter Zweigle, 1884. Stuttgart, Staatsgalerie
»Der Gegenstand der diplomatischen Krise, die, Juli 1870, zum Krieg zwischen Preußen und Frankreich führte, war ungewöhnlich töricht.« Es ging um die Kandidatur eines Hohenzollern für den spanischen Thron, die König Wilhelm nicht unterstützte. Auf ein Ränkespiel der französischen Diplomatie antwortete Bismarck mit der »Emser Depesche«, worauf Frankreich am ig. Juli den Krieg erklärte. »Der Krieg dauerte zehn Monate, vom Juli bis Mai. Die Deutschen stürmten mit drei Armeen nach Frankreich hinein. In der Festung Sedan eingeschlossen, ergab eine Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Hauptarmee sich samt dem Kaiser. Daß er jetzt in fürstliche Gefangenschaft abgeführt wurde, war das Beste, was ihm begegnen konnte. Zwei Tage nach der Kapitulation von Sedan wiederholten sich in Paris die Szenen des Juli 1830 und des Februar 1848: Forderung des Parlaments durch das Volk der Straße, Ausrufung der Republik, Errichtung einer provisorischen Regierung ›der nationalen Verteidigung‹. Die neue Regierung, in der der junge Advokat Léon Gambetta die stärkste Figur war, ging mit Mut an ihre hoffnungslose Aufgabe... Die süddeutschen Staaten schlossen sich nun dem Norddeutschen Bund an. Die resignierte Neutralität Österreichs, der Sturz Frankreichs ließen Süddeutschland allein mit dem preußischen Freunde. Der Name des Bundes wich dem des ›Reiches‹, und da zum Reich ein Kaiser gehörte, so nahm der Präsident des Bundes, der König von Preußen, diesen Titel an. Der deutsche Kaiser wurde, zehn Tage vor der Übergabe von Paris, im Schlosse von Versailles proklamiert. Im Frieden von Frankfurt (Mai 1871) hatte Frankreich als Kriegsentschädigung die Summe von fünf Milliarden Francs zu bezahlen und zwei Gebiete abzutreten: Elsaß und einen Teil von Lothringen. Aus ihnen wurde kein deutscher Staat, sondern ein, praktisch von Preußen verwaltetes, ›Reichsland‹ Elsaß-Lothringen gemacht.« (G. Mann)
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¤ 71 Hissung der roten Fahne auf dem Pantheon in Paris durch die Kommunarden im Jahr 1871. Zeichnung von Daniel Vierge. Paris, Musée Carnavalet ¤ 72 Flucht Léon Gambettas aus dem belagerten Paris am 8. Oktober 1870. Aus einem Gemälde von Jacques Guiaud. Paris, Musée Carnavalet ¤ 73 Inneres des Kaufhauses »Bon Marché« in Paris. Zeitgenössischer Holzschnitt, 1872 ¤ 74 Aufzeichnungen Kaiser Wilhelms II. zur Arbeiterfrage für einen sozialpolitischen Erlaß, 21. Januar 1890. Zwei Seiten des Dokuments mit Randbemerkungen von Bismarck. Ehem. Berlin, Reichskanzlei ¤ 75 Die Belagerung von Paris, 1870/71. Skizze von Ernest Meissonier. Paris, Louvre
»Die Niederlage Frankreichs und die Proklamation des Deutschen Kaiserreichs im Spiegelsaal von Versailles am 18. Januar 1871 bezeichneten das Ende des französischen Vorrangs auf dem europäischen Festland und leiteten eine neue Phase des seit Beginn der neuzeitlichen Geschichte nie aufhörenden Ringens um die Herrschaft über Europa ein. Wenn wir den Blick in die Ferne richten, erkennen wir, daß auch anderswo Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Wandlungen vor sich gingen, die letztlich ebenso schicksalsschwer für die Zukunft wurden. Jenseits des Atlantischen Ozeans hatte man durch den Abschluß des Amerikanischen Bürgerkrieges, 1865, gewissermaßen Klardeck gemacht für das mächtige Wachstum der Industrie, das die soziale Struktur Nordamerikas umwandeln sollte. Jenseits des Stillen Ozeans, in Japan, vollzog sich eine ähnliche Entwicklung. Nach der Ablösung des Shôgunats durch die Meiji-Herrschaft, der Abschaffung des Feudalismus, 1871, und der darauffolgenden ›Verwestlichung‹ erschien auf der politischen Erdkarte ein Land, das 1880 ebenso viele Bewohner hatte wie Großbritannien. Weiter westlich hatte Rußland durch Verträge mit China, 1858 und 1860, Positionen am Stillen Ozean besetzt. Nachdem es durch Eroberungen ein großes Stück von Mittelasien unter seine Herrschaft gebracht hatte, war die Szene für die große russische Kolonisation in Asien vorbereitet, die mit dem Baubeginn an der Transsibirischen Eisenbahn, 1891, in Gang kam. So war neben der Alten eine Neue Welt im Entstehen... Der Streit um China bezeichnet den Höhepunkt des Imperialismus der Europäer. Die Gebiete vor seinen Grenzen waren bereits zur Beute der europäischen Eroberer geworden. Die Franzosen machten 1883 Annam zum Protektorat. Die Briten hatten 1886 Burma annektiert. Die Russen hatten, dem Lauf des Amur folgend, ihr Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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sibirisches ›Küstengebiet‹ schon eine Generation früher eingerichtet. So waren diese drei Nationen in der Lage, in China ihre Wünsche durchzusetzen, und das zerfallende Chinesische Großreich lag als lockende Beute vor ihnen. Durch die Reformen des Kaisers von China im Jahre 1898 wurden viele antiquierte Einrichtungen abgeschafft. Bedeutsamer war, auf lange Sicht, das Erwachen ›patriotischer Gefühle im kleinen Mann‹, das zum Boxeraufstand von 1900 führte und später die nationalistische Bewegung Kuomintang unter Sun Yat-sen inspirierte. Noch vor der Jahrhundertwende begann der Nationalismus in den ausgebeuteten Ländern, die auf eine eigene alte Kultur zurückgreifen konnten, zu erwachen. Die Deutschen, so eifrig sie auch die Russen in Asien zum Vorgehen anstachelten, in der Hoffnung, Rußland mit England zu entzweien, waren immerhin vorsichtig darauf bedacht, sich an keine der beiden Parteien zu binden. Aber die britischen Versuche, die Beziehungen zu Deutschland zu verbessern, 1898 sowie 1899 und nochmals 1901, blieben erfolglos, und als Deutschland 1898 ein neues Flottenprogramm begann, änderte sich die Situation gründlich, Rußland trachtete weiter nach Verwirklichung seiner ehrgeizigen Pläne in Ostasien, bis es sie, nach der Niederlage im Krieg gegen Japan, 1905, aufgeben mußte. Was aber den einander mißtrauisch beobachtenden Staatsmännern Kopfschmerzen machte, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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war vielmehr – nach den Worten des deutschen Kanzlers Fürst Hohenlohe (1895) – die Möglichkeit, daß Veränderungen im Kräftegleichgewicht der europäischen Mächte im Fernen Osten ihren gegenseitigen Status benachteiligen könnten. Obgleich Europa in den letzten Dezennien des 19. Jahrhunderts die Welt eroberte, lag die Ära der Weltpolitik noch in der Zukunft, und wenn auch die Menschen in den neunziger Jahren das Wort ›Weltpolitik‹ oft hörten, so war es doch in jenem Stadium kaum mehr als ein Synonym für die Expansionsfreudigkeit der Großmächte.« (G. Barraclough) ¤ 76 Bismarcks Bericht an Kaiser Franz Joseph vom 26. März 1890 über seine Entlassung. Schlußseite. Wien, Haus-, Hof- und Staatsarchiv ¤ 77 »Reichtum und Armut«. Gemälde von W. P. Frith, 1880. London, M. Newman Ltd. ¤ 78 Der Umzug des Chemikers R. W. Bunsen von Kassel nach Marburg aus Anlaß seiner Ernennung zum Extraordinarius an der Universität Marburg im Jahr 1839. Karikatur seines Freundes Arnoldi. Heidelberg, Universität, Chemisches Institut ¤ 79 Der Umzug des Chemikers R. W. Bunsen von Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Kassel nach Marburg aus Anlaß seiner Ernennung zum Extraordinarius an der Universität Marburg im Jahr 1839. Karikatur seines Freundes Arnoldi. Heidelberg, Universität, Chemisches Institut ¤ 80 Der Umzug des Chemikers R. W. Bunsen von Kassel nach Marburg aus Anlaß seiner Ernennung zum Extraordinarius an der Universität Marburg im Jahr 1839. Karikatur seines Freundes Arnoldi. Heidelberg, Universität, Chemisches Institut ¤ 81 Die Erfindung des Telephons durch Alexander Graham Bell im Jahr 1876. Titelseite der Zeitschrift »Scientific American« vom 6. Oktober 1877 ¤ 82 Apparat für Projektion kinetoskopischer Bilder. Titelseite der Zeitschrift »Scientific American« vom 31. Oktober 1896 ¤ 83 Die Freiheitsstatue für den Hafen von New York. Plastik von F. A. Bartholdi, 1884. Holzschnitt »Journal Illustré«, 1884. Die Statue, ein Geschenk Frankreichs an die USA, wurde in Paris in Kupfer getrieben und am 28. Oktober 1886 eingeweiht.
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XIII. Das 20. Jahrhundert bis zum Ausgang des zweiten Weltkrieges ¤ 1 Die Weltausstellung in Paris im Jahr 1900. Blick auf dem Eiffelturm und den Vergnügungspack im Hintergrund
»Im Rückblick erscheinen die Jahre von 1898 bis 1902 als die Zeit der besten, unwiederbringlichen Gelegenheiten für die deutsche Diplomatie. England sondierte unter mehreren Rivalen nach Möglichkeiten freundschaftlicher Unterstützung. Aber im Gegensatz zu Delcassé weigerte sich Wilhelm II., auch nur ein einziges Prestige-Symbol des Imperialismus zu opfern, Tirpitz bemühte sich um eine Flotte und erreichte damit, daß England fortan auf jede Veränderung des deutschen Flottenstandes besonders empfindlich reagierte... Im Jahr 1901 starb Königin Victoria. Ihr Nachfolger, Eduard VII., gab der englischen Politik eine neue Note. Viel mehr als zu den Deutschen zog es ihn zu den Franzosen. Aus Staatsbesuchen zwischen London und Paris entstand 1904 die englischfranzösische Entente. Delcassé ging daran, Marokko für Frankreich zu sichern. Der Kaiser machte einen demonstrativen Besuch in Tanger, und das Berliner Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Auswärtige Amt verlangte den Rücktritt Delcassés. Der nächste Schritt war der Vertrag von Björkö, mit dem der Zar auf einen deutschfreundlichen Kurs festgelegt werden sollte. Doch weigerte sich Rußland, seine Bindung an Frankreich zu lockern. Dann traten die Mächte Anfang 1906 in Algeciras zu einer Konferenz zusammen, um die Marokko-Krise aus der Welt zu schaffen. Hier erlitt Deutschland eine empfindliche Niederlage. Die junge englisch-französische Entente erwies sich als ebenso wetterfest wie das russischfranzösische Bündnis.« (H. C. Meyer) ¤ 2 Treffen zwischen Kaiser Franz Joseph und Zar Nikolaus II. in Mürzsteg im Jahr 1903 zur Beratung über die Erhaltung des status quo auf dem Balkan ¤ 3 Telegramm Kaiser Wilhelms II. an den Reichskanzler v. Bülow vom 21. März 1905 über seinen Besuch in Tanger ¤ 4 Georges Clemenceau. Gemälde von Edouard Manet, 1879/80. Paris, Louvre ¤ 5 Wilhelm II. und König Eduard VII. bei einem Besuch des Römerkastells Saalburg im Jahr 1906 ¤ 6 Das »Daily Telegraph Interview« Wilhelms II. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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vom 28. Oktober 1908 mit dem Ausdruck der Erwartung englischer Dankbarkeit für die deutsche Haltung während des Burenkriegs ¤ 7 Besuch König Haakons VII. von Norwegen bei Kaiser Wilhelm II. in Potsdam im Jahr 1906 ¤ 8 Kongreß der »Oktobristen«, der monarchisch-liberalen Partei, in St. Petersburg
Nach dem katastrophalen Ausgang des russisch-japanischen Krieges wurde im Frieden von Portsmouth 1905 die Stellung Japans als Großmacht begründet. Zu Beginn dieses Jahres brach in St. Petersburg die Revolution aus. Kaiserliche Versprechungen – kein Gesetz ohne Reichsduma – wurden gebrochen. Nach 1906 waren die Agrarreformen des Ministerpräsidenten Stolypin darauf angelegt, ein wirtschaftlich selbständiges Besitzbauerntum zu schaffen, das sich politisch als konservativer Faktor bewähren sollte. Sieht man von den politischen Gebrechen des russischen Staates ab, so kann man sagen, daß sich das russische Volk um 1914 eines Wohlstands zu erfreuen begann, den es so bald nicht wiedersehen sollte. Die letzten Vorkriegsjahre waren ein verwirrendes Durcheinander von Kolonialkonflikten, Kleinkriegen und wenigen ernsthaften Bemühungen, die Spannungen zwischen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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den Großmächten zu mildern. Die zweite MarokkoKrise von 1911 betraf keine entscheidenden nationalen oder strategischen Interessen. Der Ausgang der Krise war: Frankreich ganz fest im Sattel in Marokko, Deutschland von Paris mit einem mageren Kolonialtrinkgeld abgefunden, das englisch-deutsche Verhältnis aufs äußerste gereizt und gespannt.« (H. G. Meyer) ¤ 9 Leo Tolstoj mit Bauernkindern auf seinem Gut Jasnaja Poljana im Jahr 1909 ¤ 10 Bericht des Fürsten Lichnowsky, des deutschen Botschafters in London, vom 3. Dezember 1912, über sein Gespräch mit Lord Haldane zur politischen Lage mit Randbemerkungen Wilhelm II. ¤ 11 Tirpitz und das Flottenprogramm. Zeichnung von Th. Th. Heine für eine Karikatur im »Simplicissimus«. München, Städtische Galerie
»Die Ergebnislosigkeit der weiteren Bemühungen um deutsch-englische Flottenabrüstungsvereinbarungen ließ die Entente enger zusammenrücken. Der erste Balkankrieg von 1312/13 schlug die Türkei zu Boden, schob Bulgarien bis an die Dardanellen vor, verdoppelte das serbische Staatsgebiet und brachte, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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als Belgrad über Albanien bis zum Adriatischen Meer vorzustoßen versuchte, einen ernsten Konflikt zwischen Serbien und Österreich zum Durchbruch.« (H. C. Meyer) ¤ 12 Serbische Artillerieabteilung auf dem Marsch während des Balkankrieges 1912/13 ¤ 13 Präsident Woodrow Wilson auf der Fahrt durch Washington bei seinem Amtsantritt 1913 mit seinem Vorgänger William H. Taft
»Energische Unterstützung durch die ›progressive‹ Bewegung hatte Woodrow Wilson zur Macht emporgetragen. Das hinterließ deutliche Spuren in seinem Programm der ›Neuen Freiheit, und diese idealistische Haltung bestimmte seine Außenpolitik: er kämpfte für eine Diplomatie, die auf das Wohl der Menschheit ausgerichtet sein sollte, statt auf eigennützige nationale Interessen. Sein Außenminister William Jennings Bryan betrieb den Abschluß von Schlichtungs- und Schiedsverträgen mit dreißig Staaten.« (H. C. Meyer) ¤ 14 Die Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand und seiner Gemahlin in Sarajewo am 28. Juni 1914. Extrablatt der »Vossischen Zeitung« Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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¤ 15 Handschriftlicher Entwurf der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien vom 28. Juli 1914. Wien, Haus-, Hof- und Staatsarchiv ¤ 16 Das deutsche Ultimatum an Rußland. Entwurf des Reichskanzlers v. Bethmann-Hollweg für den deutschen Botschafter von Pourtalès in St. Petersburg vom 31. Juli 1914. Bonn, Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes ¤ 17 Die von Kaiser Wilhelm II. gezeichnete Mobilmachungsorder vom 1. August 1914. Ehemals Berlin, Reichsarchiv
»Der Kriegsbeginn im Jahr 1914 ist nicht erst nachträglich als Konsequenz weltpolitischer und europäischer Gegensätze seit der Jahrhundertwende wie als plötzlicher Ausbruch überraschender und vergewaltigender Kräfte empfunden worden. Die Schüsse südslawischer Attentäter, die den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand und seine Gemahlin in Sarajewo niederstreckten, haben die Julikrise ausgelöst. Indem die österreichisch-ungarische Monarchie den Entschluß zum Krieg nur mit der Rückendeckung ihres deutschen Verbündeten zu fassen wagte, setzte sie den Mechanismus von Allianzen ins Spiel, die, seit 1879 und 1894, aus Sicherheitsgründen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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geschlossen, Europa in zwei große Mächteblöcke gespalten hatten. Die theoretische Souveränität der einzelnen Staaten, obwohl im Gefecht der Diplomatie eifersüchtig gewahrt, war bereits zur Fiktion und so das Gleichgewicht der Mächte statt zum Friedensinstrument zur dauernden Gefährdung des Friedens in Europa geworden.« (H. Herzfeld) 1914: Der schnelle deutsche Vormarsch führte zur Bedrohung von Paris, aber bereits nach der MarneSchlacht (September) begann die Erstarrung der Front. Im Osten konnte bei Tannenberg die unmittelbare russische Gefahr abgewendet werden. Auch hier endete das Jahr mit starren Fronten. 1915: Alliierte Durchbruchsversuche in Frankreich (Champagne, Ypern, Arras) blieben erfolglos, ebenso der erste Einsatz von Giftgas. Im Osten endeten bedeutende Offensivgewinne mit einem Stillstand. Neue Kriegsschauplätze zwangen Deutschland zum Eingreifen auf dem Balkan (Serbien) und in der Türkei, wo die Alliierten den Kampf um die Dardanellen erfolglos abbrachen. Der U-Boot-Krieg verschlechterte nach der Versenkung der »Lusitania« das Verhältnis zu den USA. 1916: Die deutsche Offensive gegen Verdun blieb erfolglos, ebenso die alliierten Versuche, in den Schlachten an der Somme Bewegung in die Front zu Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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bringen. Im Osten konnten die Brussilow-Offensiven abgefangen werden. Auf dem Balkan gelang die schnelle Besetzung Rumäniens, das den Mittelmächten den Krieg erklärt hatte. Im Seekrieg endete die Skagerrak-Schlacht ohne einen kriegsentscheidenden Erfolg. 1917: Die deutsche Erklärung des uneingeschränkten U-Boot-Krieges löste die Kriegserklärung der USA aus. Im März brach in Rußland die Revolution aus, Nikolaus II. dankte ab, und Lenin forderte die sozialistische Weltrevolution. In Frankreich zogen sich die deutschen Truppen auf die »Siegfriedstellung« zurück. Offensiven der Alliierten blieben erfolglos. Dagegen brachte an der russischen Front eine deutsche Offensive beträchtliche Erfolge. In Italien gelang den Mittelmächten nach den großen Isonzo-Schlachten der Durchbruch bis zum Piave. Im November brach die bolschewistische Revolution nach Rückkehr Lenins aus. 1918: Im Januar verkündete Wilson sein Programm der »14 Punkte«. Im März erzwang Deutschland den Abschluß des Friedensvertrags von Brest-Litowsk, in dem Rußland auf die Ostsee-Randstaaten und Polen verzichten mußte. Nach dem britischen Tankangriff (August) verlangten Hindenburg und Ludendorff die Aufnahme von Waffenstillstandsverhandlungen (29. September). Die Unterzeichnung Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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erfolgte unter drückenden Bedingungen am 11. November. ¤ 18 »Der Untergang«. Zeichnung von Hans Baluschek zur Katastrophe der russischen Armeen in der Winterschlacht in Masuren im Jahr 1915 ¤ 19 Fliegerkampf über der Westfront im Jahr 1916 ¤ 20 Erbeuteter englischer Tank auf dem Schlachtfeld von Albert ¤ 21 Gasangriff an der flandrischen Front im Jahr 1917 ¤ 22 Blick in eine Deutsche Torpedowerkstatt während des Ersten Weltkrieges ¤ 23 Das zerstörte Reims. Blick auf die Kathedrale ¤ 24 »Auferstehung«. Unvollendetes Gemälde von Max Beckmann, begonnen im Jahr 1916. Stuttgart, Staatsgalerie ¤ 25 Telegramm des österreichischen Botschafters in Stockholm vom 8. November 1917 mit der Nachricht vom Ausbruch der russischen Revolution. Wien, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Haus-, Hof- und Staatsarchiv ¤ 26 Ansprache Lenins im November 1917 in Moskau ¤ 27 »Die erste Million«. Über der Westfront im Herbst 1918 abgeworfenes amerikanisches Flugblatt ¤ 28 Das Waffenstillstandsabkommen zwischen der Entente und Deutschland vom 11. November 1918. Letzte Seite mit den Unterschriften von Foch und Erzberger. Bonn, Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes ¤ 29 Die Abdankung Wilhelms II. Extrablatt des »Vorwärts« vom 9. November 1918 mit dem Erlaß des Reichskanzlers Prinz Max von Baden. Berlin, Landesarchiv ¤ 30 »Das Leichenbegräbnis«. Widmungsbild von George Grosz an den toten Dichter Oskar Panizza, 1917/18. Stuttgart, Staatsgalerie ¤ 31 Ansprache des ersten Reichspräsidenten, Friedrich Ebert, vom Balkon des Weimarer Nationaltheaters, 6. Februar 1919
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¤ 32 Die Mitglieder des Völkerbundkomités in Genf im Jahr 1920 ¤ 33 Rede des Kommunisten Levien vor dem Schiller-Denkmal in München nach dem Sturz der ersten Räteregierung in Bayern am 10. April 1919. Zeichnung von Eduard Thöny. München, Staatliche Graphische Sammlung
»Die alliierten Politiker hatten unter der Führung des Präsidenten Wilson während der Friedensverhandlungen die übernationale Institution des Völkerbundes geschaffen. Hier war eine Neuschöpfung in der europäischen Geschichte entstanden, ein Parlament der Nationen, in dessen Gremium nationale und internationale Probleme auf dem Verhandlungswege gelöst werden sollten. Als die erste Vollversammlung des Völkerbundes am 15. November 1920 in Genf zusammentrat, fehlten nicht nur Deutschland und Rußland, sondern auch die Vereinigten Staaten.« (H. W. Gatzke) »Der in Versailles am 28. Juni 1919 von Deutschland unterzeichnete Vertrag beruhte auf Diktat und Ultimatum der Sieger. Er ist in Deutschland stets einmütig abgelehnt und immer wieder als genügende Ursache und Rechtfertigung auch der gewaltsamen Auflehnung betrachtet worden... Wie aber der Weltkrieg unter der Voraussetzung ausgefochten war, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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daß sein Ende eine bündige Entscheidung der Geschichte sein müsse, so betrachteten jetzt vor allem Frankreich und Deutschland, im Grunde gleichmäßig, die Lösung des Friedensvertrages als endgültig.« (H. Herzfeld) »Die Abneigung oder die Gleichgültigkeit, die viele Deutsche dem neuen Staate entgegenbrachten, beruhte zum Teil darauf, daß sie die Republik und ihre Führer für den Verlust des Krieges wie für das Versailler ›Diktat‹ verantwortlich machten. Mit Schlagworten suchten nicht nur verantwortungslose Demagogen vom Schlage Hitlers die nationalen Leidenschaften gegen die gemäßigte Politik der Mittelund Linksparteien aufzustacheln. Zu den Umsturzversuchen der Kommunisten gesellten sich in der Zeit vor 1924 eine Reihe von Putschversuchen rechtsradikaler Kreise, unter denen vor allem der Kapp-Putsch von 1920 und der Hitler-Putsch im November 1923 zu erwähnen sind. Trotz fortgesetzter Angriffe von rechts und links gelang es der Weimarer Republik, die kritischen Nachkriegsjahre zu überstellen. Die Mehrheit des deutschen Volkes distanzierte sich von den Gewalttaten der radikalen Rechten.« (H. W. Gatzke) ¤ 34 Aufforderung der Regierung zum Generalstreik während des Kapp-Putsches, 13. bis 17. März 1920
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¤ 35 »Verordnung« des »Reichskanzlers« Kapp vom 16. März 1920 ¤ 36 Mussolini bei einer Demonstration auf der Piazza del Popolo in Rom im Jahr 1921 ¤ 37 Rede eines Hitler-Anhängers vor dem Rathaus in München am Morgen des Hitler-Putsches am 9. November 1923
»Die Machtergreifung Mussolinis erfolgte im Oktober 1922, als eine schwache Regierung der faschistischen Drohung mit dem ›Marsch auf Rom‹ gewichen war und König Victor Emanuel Mussolini mit der Bildung eines Kabinetts beauftragte. Die endgültige Errichtung der faschistischen Diktatur dauerte jedoch mehrere Jahre. Durch brutale Gewalttätigkeiten, durch Knebelung der Presse und Beschränkung der demokratischen Wahlordnung gewann die faschistische Partei allmählich die Oberhand und wurde 1925 als alleiniger Träger der Macht anerkannt. Die faschistische Gleichschaltung Italiens durch Mussolini, genau wie die nationalsozialistische unter Hitler, erfaßte nach und nach das gesamte politische, wirtschaftliche und kulturelle Leben. Verglichen mit Deutschland vollzog sie sich jedoch langsamer und in gemäßigteren Formen. Aus der Tatsache, daß es sich beim Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Faschismus um ein neues und in seinen Folgen anfänglich nicht übersehbares Regierungssystem handelte, erklärt sich die milde und manchmal sogar wohlwollende Kritik, die dem faschistischen Regime im Ausland zuteil wurde. Die Tatsache, daß der Duce die Diktatur von rechts sozusagen salonfähig gemacht hatte, sollte dem ›Führer‹ seine Arbeit nach 1933 um vieles erleichtern.« (H. W. Gatzke) »Der Versuch Deutschlands, die Verpflichtungen aus dem Londoner Abkommen von 1921 zu erfüllen und die benötigten Summen nicht nur im Inland aufzubringen, sondern auch zu transferieren, ließ die deutsche Währung völlig zusammenbrechen. Als Ende 1922 weitere Zahlungen nicht mehr transferiert und Sachlieferungen nicht mehr geleistet werden konnten, besetzten die Franzosen am 11. Januar 1923 das Ruhrgebiet. Die Bevölkerung reagierte mit ›passivem Widerstand‹ im besetzten Gebiet... Bei der Stabilisierung wurde eine Billion Mark gleich einer Rentenmark, 4,2 Bill-Mark gleich einem Dollar gleich 4,20 alte Goldmark von 1914 bewertet. Im September 1923 hatte der damalige deutschnationale Reichstagsabgeordnete Helfferich einen Vorschlag zur Stabilisierung veröffentlicht. Aus diesem ersten Währungsprojekt entstand die deutsche Rentenmark auf Grund der Verordnung über die Errichtung der Deutschen Rentenbank vom 15. Oktober 1923. Es gelang durch Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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rigorose Beschränkung der Geldschöpfung, die deutsche Währung vorläufig zu stabilisieren.« (R. Nöll von der Nahmer) ¤ 38 Die Gründung der Deutschen Rentenbank. Bekanntmachung mit der Unterschrift von Reichskanzler Gustav Stresemann vom 18. November 1923 ¤ 39 Die Besetzung des Ruhrgebietes durch die Franzosen am 11. Januar 1923. Französischer Truppen im Gelsenkirchen ¤ 40 Massenkundgebung gegen die Besetzung des Ruhrgebietes auf dem Platz der Republik in Berlin ¤ 41 »Das Rendezvous der Freunde«. Die Begründer und Vertreter des Surrealismus in Literatur und Bildenden Künsten. Gemälde von Max Ernst, 1922. Hamburg, Sammlung Dr. Lydia Bau ¤ 42 Sitzung der Sektion für Dichtkunst der Akademie der Künste in Berlin, 1929 (Thomas Mann, Ricarda Huch, Bernhard Kellermann, Hermann Stehr, Alfred Mombert, Eduard Stucken)
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Geschichte und Politik im Spiegel der Briefmarke ¤ B1 Jubiläum des Weltpostvereins am 1. Juli 1900 Am Anfang des Jahrhunderts erinnerte die Schweiz mit einer Gedenkausgabe an das fünfundzwanzigjährige Bestehen des auf Anregung des deutschen General-Postmeisters Heinrich von Stephan mit dem Abschluß des Allgemeinen Postvereinsvertrags am 9. Oktober 1874 in Bern geschaffenen Weltpostvereins; der Vertrag trat am 1. Juli 1875 in Kraft. ¤ B2 Ermordung des französischen Sozialistenführers Jean Jaurès am 31. Juli 1914 Am Vorabend des Ersten Weltkrieges wurde der französische Sozialistenführer Jean Jaurès, ein erklärter Verfechter des Friedens, von einem nationalistischen Fanatiker in Paris auf offener Straße erschossen; zu seinem 22. Todestag, 1936, erschien eine französische Gedenkausgabe. ¤ B3 Das Flugzeug als neue Waffe im Ersten Weltkrieg Auf einer Marke einer österreichischen Kriegs-Wohltätigkeitsausgabe (1. Mai 1915) ist das Militärflugzeug Lohner »Pfeil« abgebildet. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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¤ B4 Honvéd in einer befestigten Stellung Eine Marke einer ungarischen Kriegshilfe-Ausgabe (1916) stellt einen ungarischen Soldaten im Kampf dar. ¤ B5 Kriegsgefangene hinter Stacheldraht An das Los der Kriegsgefangenen erinnert eine Marke einer ungarischen Wohltätigkeitsausgabe (10. März 1920) zugunsten der noch nicht heimgekehrten Gefangenen. ¤ B6 »Oktoberrevolution« in Rußland am 7./18. November 1917 In Rußland entstand mit der »Oktoberrevolution« (7./8. November 1917 = 25./26. Oktober a.St.) der neue Sowjetstaat; eine spätere Aushilfsausgabe (1922/23) zeigt die Symbole des neuen Staates als Überdruck auf Marken der Zarenzeit. ¤ B7 Das letzte Kriegsjahr 1918: Geschütz in Feuerstellung Eine türkische Aushilfsausgabe (1918), mit Aufdruck des neuen Wertes, zeigt Artilleristen im Einsatz. ¤ B8 Neue Staatenbildungen im Gefolge des Ersten Weltkriegs
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¤ B9 Neue Staatenbildungen im Gefolge des Ersten Weltkriegs Lettland, das am 18. November 1918 seine Unabhängigkeit erlangt hatte, feierte den ersten Jahrestag mit einer Gedenkausgabe (B8) – Einige der Marken sind auf der noch unbedruckten Rückseite unfertig gebliebener 5-Rubel-Scheine des Arbeiter- und Soldatenrats Riga gedruckt (B9). ¤ B10 Friedensschluß, 1919 Die neutral gebliebene Schweiz feierte den Abschluß des Friedensvertrags (1919) mit einer Gedenkausgabe, die das Ende der Kampfhandlungen symbolisch darstellt. ¤ B11 Loslösung des Saargebiets von Deutschland, 1919 Unter dem Versailler Vertrag wurde 1919 der westliche Teil der bayerischen Pfalz und der südwestliche Teil der preußischen Rheinprovinz – ein Gebiet, auf das Frankreich Anspruch erhob – aus dem Deutschen Reich ausgegliedert und auf fünfzehn Jahre der Treuhandschaft des Völkerbundes unterstellt; die erste Briefmarkenausgabe des neuen Saargebiets zeigt den französischen Überdruck »Sarre« auf deutschen Marken.
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¤ B12 Danzig als »Freie Stadt« Danzig wurde entsprechend dem Versailler Vertrag Freistaat unter dem Schutz des Völkerbundes (Verfassung vom 11. August 1920); als erste Markenausgabe wurden deutsche Marken mit Überdruck verwendet) deren 5-Mark-Wert Kaiser Wilhelm II. bei der Reichsgründungsfeier im Berliner Schloß darstellt. ¤ B13 Deutsche Nationalversammlung in Weimar In Weimar trat am 6. Februar 1919 die deutsche Nationalversammlung zusammen, sie nahm am 31. Juli die neue Verfassung des Deutschen Reiches an; eine Gedenkausgabe mit symbolischen Darstellungen erinnert daran. ¤ B14 Volksabstimmung in Kärnten am 10. Oktober 1920 In Kärnten fand gemäß den Beschlüssen der Pariser Friedenskonferenz am 10. Oktober 1920 eine Volksabstimmung statt, die den Verbleib des größten Teils des Landes bei Österreich sicherte; Österreich gedachte der Abstimmung mit einer Aufdruckausgabe (16. September 1920). ¤ B15 Errichtung des Völkerbunds Die Satzung des neugeschaffenen Völkerbunds trat am 10. Januar 1920 in Kraft; als Dienstmarken Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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verwendete der Völkerbund (seit 1922) Marken der Schweiz mit Aufdruck. ¤ B16 Mussolinis »Marsch auf Rom« am 28. Oktober 1922 In Italien trat mit dem »Marsch auf Rom« der Faschismus unter Mussolini die Herrschaft an; eine Marke einer Gedenkausgabe zum ersten Jahrestag (1923) zeigt das Symbol des Faschismus, das antike Liktorenbündel. ¤ B17 Besetzung des Ruhrgebiets am 11. Januar 1923 Französische Truppen rückten ins Ruhrgebiet ein, um mit der Inbesitznahme dieses »produktiven Pfandes« die Erfüllung der Reparationsleistungen zu erzwingen; die Reichsregierung unter Cuno ordnete den passiven Widerstand an, und mit Zuschlagmarken wurden der Rhein-Ruhr-Hilfe Geldspenden zugeführt – im Porto wie in dem Spendenzuschlag drückt sich bereits die wachsende Inflation aus. ¤ B18 Begründung des neuen Vatikanstaats am 7. Juni 1929 Der Vatikanstaat wurde im Jahr 1929 durch einen Vertrag mit der italienischen Regierung neu gegründet, seine ersten Briefmarken (1. August) zeigen das Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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apostolische Wappen. ¤ B19 Räumung des Rheinlands am 30. Juni 1930 Am 30. Juni 1930 verließen die letzten Besatzungstruppen das Rheinland; eine Gedenkausgabe mit Aufdruck des Datums auf Marken der laufenden Serie mit dem Porträt des Reichspräsidenten von Hindenburg erinnert an den Tag der endgültigen Räumung. ¤ B20 Umsturz in Argentinien am 6. September 1930 In Argentinien führte am 6. September 1930 die Revolution der Konservativen und der Radikalen im Bunde mit dem Militär zum Sturz der autoritären Regierung des Präsidenten Irigoyen; eine Gedenkmarke zeigt den Zug der Freiheitskämpfer. ¤ B21 Abrüstungskonferenz in Genf In Genf wurde am 2. Februar 1932 die neue Abrüstungskonferenz eröffnet; die Schweiz gab aus diesem Anlaß eine Gedenkmarke heraus. ¤ B22 Krieg um den Gran Chaco, 1932-1935 ¤ B23 Krieg um den Gran Chaco, 1932-1935 ¤ B24 Krieg um den Gran Chaco, 1932-1935 In Südamerika entbrannte 1932 der Krieg zwischen Bolivien und Paraguay um das umstrittene Gebiet des Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Gran Chaco, der nach mörderischen Kämpfen mit einem Waffenstillstand (12. Juni 1935) endete und schließlich am 21. Juli 1938 durch den Friedensschluß beigelegt wurde. Eine Flugpostmarke von Bolivien (1. Februar 1932) zeigt auf einer Landkarte Boliviens in der Südostecke das Gebiet des »Chaco boliviano« (B22). Eine Gedenkmarke von Paraguay (25. August 1932), die die Zugehörigkeit des umstrittenen ChacoGebiets (»Chaco boreal«) zu Paraguay feiert, zeigt das Gebiet als zu Paraguay gehörend (Inschrift: ha sido, es y sera = »wie er war, ist und sein wird«) – der Verlauf des Krieges und der Schiedsspruch des Friedensvertrages brachten Paraguay tatsächlich den größten Teil dieses Gebiets ein (B23). Des am 21. Juli 1938 abgeschlossenen Chaco-Friedens gedachte am ersten Jahrestag Paraguay mit einer Serie (15. November 1939), deren eine Marke Wappen und Flagge der USA – die sich sehr um das Zustandekommen des Friedens bemüht hatten – neben der Flagge Paraguays zeigt (B24). ¤ B25 Rückkehr des Saarlands zu Deutschland am 1. März 1935 Das Saarland kehrte nach der Volksabstimmung vom 13. Januar 1935 – 90,8% der Saarländer stimmten für die Rückkehr – zurück zum Deutschen Reich; eine Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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deutsche Gedenkausgabe (1. März) begrüßte das heimkehrende Land. ¤ B26 Meerengen-Konferenz von Montreux, Sommer 1936 In Montreux trat am 22.Juni 1936 die Konferenz über die Dardanellen-Meerengenfrage zusammen, die durch den Dardanellen-Vertrag am 20. Juli die Souveränität der Türkei über die Meerengen wiederherstellte; eine türkische Gedenkausgabe zeigt den Datumaufdruck »20/7/1936« auf einer Marke mit dem Porträt Mustafa Kemal Paschas. ¤ B27 Bürgerkrieg in Spanien, 1936-1939 In Spanien löste am 17. Juli 1936 die Erhebung des Generals Franco gegen die Volksfront-Regierung den Bürgerkrieg aus; eine Gedenkausgabe erinnert an den zweiten Jahrestag der Erhebung. ¤ B28 Besetzung der Tschechoslowakei am 15. März 1939 Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in die Tschechoslowakei ließ Hitler in Prag am 16. März 1939 den »Erlaß über die Bildung des Protektorats Böhmen und Mähren« verkünden; als erste Aushilfsausgabe wurden tschechische Marken, die das Porträt Masaryks zeigen, mit dem zweisprachigen Aufdruck Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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»Böhmen und Mähren« ausgegeben. ¤ B29 Die Schlacht um Dünkirchen im Zweiten Weltkrieg Während der Kämpfe um Dünkirchen, vom 28. Mai bis zum 3. Juni 1940, sank die Stadt weithin in Trümmer; eine Marke einer französischen Wohltätigkeitsausgabe zugunsten des Wiederaufbaus zerstörter Städte (5. November 1945) zeigt die Ruinen von Dünkirchen. ¤ B30 Der Krieg auf See Den Opfern des Seekriegs sollte eine norwegische Wohltätigkeitsausgabe (20. Mai 1944) helfen; eine der Marken zeigt den Angriff eines Kampfflugzeugs auf den Postdampfer »Sanct Svithun«. ¤ B31 Soldaten im Kriegsgefangenenlager Den Kriegsgefangenen sollten die Zuschläge einer französischen Wohltätigkeitsausgabe (1. Januar 1941) zugute kommen; eine der Marken zeigt Gefangene im Lager. ¤ B32 Befreiung Frankreichs, Sommer 1944 Die alliierten Truppen waren am 6.Juni 1944 in Frankreich gelandet; die ersten neuen Briefmarken für das befreite Frankreich erschienen (9. Oktober 1944) Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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mit der Abbildung des Triumphbogens in Paris und der Inschrift »Liberté, égalité, fraternité«. ¤ B33 Loslösung Österreichs von Deutschland am 27. April 1945 Österreich trennte sich nach dem deutschen Zusammenbruch wieder von Deutschland, am 27. April 1945 verkündete die provisorische Regierung unter Führung des Sozialdemokraten Karl Renner die Unabhängigkeit des Landes; als Aushilfsausgabe (13. Juni 1945) wurden deutsche Marken verwendet, auf denen durch Aufdruck das Porträt Hitlers unkenntlich gemacht ist. ¤ B34 Eroberung von Iwo Jima während der Kämpfe im Pazifik am 21. Februar 1945 Amerikanische Marineinfanterie eroberte vom 19. bis zum 21. Februar 1945 in blutigen Kämpfen Iwo Jima, eine der Vulkaninseln im nördlichen Pazifik, von den Japanern; die Aufnahme von der Aufrichtung der amerikanischen Flagge auf dem heiß umkämpften Mount Suribachi, die der Bildberichterstatter Joe Rosenthal von der Associated Press machte, erschien auf einer amerikanischen Gedenkausgabe (11. Juli 1945) zur Eroberung Iwo Jimas.
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¤ 44 Parade des ersten chinesischen Freiwilligenkorps für die Revolutionsarmee des Generals Chiang Kai-shek in Shanghai, 1926
»Den Siegeszug der von ihm ins Leben gerufenen Bewegung hat Sun Yatsen nicht mehr erlebt. Die revolutionären Truppen wurden als die Befreier der unterdrückten Volksklassen von ihren Bedrückern angekündigt; und tatsächlich unterschied sich als Ergebnis der intensiven Schulung das Verhalten der revolutionären Truppen gegenüber der Bevölkerung weitgehend von dem der Heere der Militärmachthaber. So begann im Sommer 1926 der Feldzug der Revolutionsarmee unter dem Oberkommando von Chiang Kai-shek gegen die Militärmachthaber Mittel- und Nordchinas.« (W. Franke) »Der Zusammenbruch der New Yorker Börse im Oktober 1929 wird heute allgemein als das auslösende Ereignis, wenn auch nicht als Ursache der Weltwirtschaftskrise angesehen. Der Glaube an die ›Ewige Prosperity‹, der die bisherige Aufschwungsperiode getragen hatte, erlitt trotz aller Beruhigungsversuche durch die Börsenkatastrophe einen tödlichen Stoß. Eine zwangsläufige Folge des Kurszusammenbruchs war ein starker Rückgang der Güternachfrage, und zwar sowohl auf dem Markt der Konsum- wie der Investitionsgüter. Millionen amerikanischer Familien Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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hatten sich daran gewöhnt, einen Teil ihrer auf Abzahlungsbasis getätigten Einkäufe mit den regelmäßig erzielten Börsengewinnen zu finanzieren, Diese Einnahmequelle fiel jetzt fort. Hinzu kam, daß nach den Ereignissen des Oktober der Markt für Neuemissionen zunächst kaum aufnahmefähig war... Bei der engen Verflechtung der amerikanischen mit den europäischen Volkswirtschaften und bei dem starken Engagement europäischer Finanzkreise an der New Yorker Börse wirkten sich die New Yorker Ereignisse natürlich auch in der Alten Welt aus. Der breite Strom amerikanischer Auslandsanleihen versiegte im Laufe des Jahres 1930.« (R. Nöll von der Nahmer) ¤ 45 Stalin mit seinen alten Kampfgefährten Molotow, Woroschilow und Kalinin aus dem Revolutionsjahr 1917 während eines Parteikongresses in den zwanziger Jahren ¤ 46 Hungerdemonstration in Philadelphia im Jahr 1929. Die für eine direkte Arbeitslosenunterstützung eintretenden Teilnehmer auf ihrem Marsch zum Kongreß in Washington ¤ 47 »Der schwarze Freitag« am 24. Oktober 1929. Polizeipatrouille vor der Börse in New York
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¤ 48 Arbeitslosenwohnung am Rand des Central Park in New York während der Weltwirtschaftskrise, 1931 ¤ 49 Gipfeltreffen im Hotel Splendid in Lugano im Jahr 1928, eine der Konferenzen über die deutschfranzösische Verständigung: Zaleski, Polen; Adachi, Japan; Chamberlain, Stresemann, Briand, Scialoja (v. l. n. r.)
»Die Bemühungen der Großmächte, Europas Sicherheit zu festigen, fanden ihren Höhepunkt in der Unterzeichnung des Kellogg-Paktes am 27. August 1928 in Paris. Durch Vermittlung des amerikanischen Staatssekretärs Kellogg kam es zu einem Weltfriedenspakt, dem anfangs fünfzehn Nationen beitraten. Die Unterzeichner des Paktes verpflichteten sich, dem Krieg als Mittel ihrer Politik zu entsagen und die Lösung internationaler Konflikte ausschließlich auf dem Schiedswege zu suchen. Ein Abkommen, das nur auf der Erfüllungsbereitschaft seiner Kontrahenten beruhte und das keinerlei Zwangsmittel gegen Vertragsverletzungen vorsah, sollte sich als ein noch schwächeres Mittel der Friedenssicherung erweisen als der Völkerbund... Ende Januar 1927 stellte die interalliierte Kontrollkommission ihre Tätigkeit ein. Die einzige Einschränkung der deutschen Souveränität bestand Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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fortan in der Besetzung des Rheinlandes. Die erste Besatzungszone war bereits kurz nach Locarno geräumt worden, und die beiden anderen Zonen wurden Anfang 1930, fünf Jahre vor dem festgesetzten Termin, evakuiert.« (H. W. Gatzke) ¤ 50 Rheinland-Fahrt des Reichspräsidenten v. Hindenburg anläßlich der Befreiung von den Besatzungstruppen im Juli 1930. Hindenburg mit seinem Sohn vor dem Mainzer Dom ¤ Das Diplom des Nobel-Preiskomitees über den Friedenspreis für Gustav Stresemann vom 10. Dezember 1926 ¤ 51 Reichstagssitzung im Jahr 1931 mit den sich leerenden Plätzen der nationalsozialistischen Fraktion vor ihrer Rückkehr im Braunhemd ¤ 52 Die Auflösung des Reichstags. Dekret des Reichspräsidenten v. Hindenburg vom 4. Juni 1932 ¤ 53 Wahlplakat der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands für den Wahlkampf zum neuen Reichstag, 6. November 1932 ¤ 54 Russische Karikatur gegen die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Expansionsgelüste Hitlers in der spanischen Zeitung »El Sol« vom 27. Oktober 1933. ¤ 55 Bücherverbrennung durch Nationalsozialisten am 10. Mai 1933 auf dem Opernplatz in Berlin
»Die Machtergreifung des Nationalsozialismus, beginnend mit Hitlers Berufung zum Reichskanzler am 30. Januar 1933, besiegelt mit der Alleinherrschaft der siegreichen Partei seit Juli 1933, vollendet mit der Selbstbestätigung Hitlers als Alleinherrscher nach Hindenburgs Tod im August 1934, ist durch diese doppelte Verursachung gekennzeichnet. Sie kam durch die dramatische Zuspitzung der innenpolitischen Entwicklung seit 1930 zustande. Aber ihre Stoßkraft bezog sie aus dem Revisionsanspruch nach außen, auf den die radikale Rechte ihre gesamte Auseinandersetzung mit der Weimarer Demokratie abgestellt hatte. Die republikanische Führung hat ihr dies um so leichter gemacht, als auch sie unter dem Eindruck der Krise auf die Lösung von außen wartete, bis sie schließlich zwischen dem politischen Radikalismus und der Unfähigkeit der internationalen Diplomatie, mit dem Dilemma der Nachkriegsordnung rechtzeitig fertig zu werden, zerrieben wurde. Der triumphale Aufstieg des Nationalsozialismus vor dem Hintergrund des Revisionsproblems war freilich nur Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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deshalb auch politisch möglich, weil die innere Zersetzung der Demokratie die verfassungspolitischen und moralischen Hindernisse beseitigte, die dem totalitären Reformprogramm der Hitlerpartei entgegenstanden... Der Durchbruch zur großen Sammelbewegung ist der Partei Hitlers bei den Reichstagswahlen vom September 1930 gelungen; die weitere Verschärfung der wirtschaftlichen Krise und die Hilflosigkeit der auch außenpolitisch nur wenig erfolgreichen Notverordnungs- und Präsidialregierungen hat der NSDAP dann im Sommer 1932 den Zulauf von mehr als einem Drittel (siebenunddreißig Prozent) der deutschen Wähler gebracht. Den Ausschlag für Hitlers Berufung zum Führer einer Koalitionsregierung der ›nationalen Rechten‹ gab das Umschwenken des Reichspräsidenten. Der fünfundachtzigjährige Feldmarschall Paul von Hindenburg hatte, obgleich 1925 als Idol der antirepublikanischen Revisionsbewegung und Kandidat der Rechten ins Amt gelangt, bei seiner Wiederwahl im Frühjahr 1932 mit Hilfe der demokratischen Parteien Hitler klar hinter sich gelassen. Bis zuletzt bestanden Alternativen, und erst Hindenburgs fehlgeleiteter Entschluß zur Entlassung zunächst Brünings, dann auch des letzten Reichskanzlers, Schleicher (28. Januar 1933), im Augenblick einer nationalsozialistischen Parteikrise und einer beginnenden Erholung der Weltwirtschaft hat über das Schicksal der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Republik entschieden.« (K. D. Bracher) ¤ 56 Die erste Pressekonferenz des neugewählten US-Präsidenten Franklin Delano Roosevelt, 1932 ¤ 57 »Vorahnung des spanischen Bürgerkriegs«. Gemälde von Salvador Dali, 1936. Philadelphia, Museum of Art, Louise and Walter Arensberg Collection ¤ 58 Das Ende des spanischen Bürgerkriegs. Dekret des Generalisimo Franco, Burgos 1. April 1939
»Als die Wahlen in Spanien vom Februar 1936 eine starke parlamentarische Überlegenheit und den Regierungsantritt der linksgerichteten Volksfront erbrachten, steigerte sich der innere Dauerkonflikt rasch zu bürgerkriegsmäßigen Auseinandersetzungen, denen die Regierung nicht gewachsen war. Die Ermordung eines Führers der Rechten bot den Anlaß zu einer schon lange geplanten Revolte der Armee, die, von Spanisch-Marokko ausgehend (17. Juli 1936), bald alle Garnisonen erfaßte und sich unter Führung des Generals France zu einem langwierigen Bürgerkrieg ausweitete. Die Bedeutung des fast drei Jahre währenden, blutig-brutalen Ringens lag nicht nur in der Tatsache, daß damit der Umfang der demokratiefeindlichen Bewegung in Europa beträchtlich vermehrt, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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sondern mehr noch darin, daß Spanien zum ersten großen Schlachtfeld der neuen politischen und weltanschaulichen Fronten in Europa wurde.« (K. D. Bracher) ¤ 59 Die Besetzung der Stadt Nanking durch die Japaner im Jahr 1937 nach Ausbruch des japanisch-chinesischen Krieges ¤ 60 Nationalsozialistische Kundgebung im Berliner Olympia-Stadion anläßlich des Staatsbesuchs Mussolinis am 28. September 1937. Auf der Tribüne Hitler, unten links Ciano, Mussolini, Göring, Goebbels ¤ 61 Deutsche Parade auf dem Wenzelsplatz in Prag am 5. April 1939 anläßlich der Amtsübernahme durch den Reichsprotektor für Böhmen und Mähren, Freiherrn von Neurath, nach dem Einmarsch deutscher Truppen in die Tschechoslowakei am 15. März ¤ 62 Neville Chamberlain, der englische Premierminister, mit dem Reichsaußenminister v. Ribbentrop auf der Fahrt zu den Besprechungen mit Hitler in Berchtesgaden (22. bis 24. September 1938) ¤ 63 Der Bündnispakt Berlin-Rom vom 22. Mai 1939. Schlußseite mit den Unterschriften von v. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Ribbentrop und Ciano ¤ 64 »Marching along the Eastern Frontier«. Karikatur auf den deutsch-sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrag von David Low im »London Evening Standard« vom 4. November 1939 ¤ 65 »Juden Zutritt verboten«. Antijüdisches Schild am Eingang einer Bibliothek ¤ 66 Adolf Hitler. Gemälde von Klaus Richter, 1941. Berlin, Galerie S-Ben Wargin ¤ 67 »Gezeichnet«. Deutscher Jude mit den Judenstern ¤ 68 Opfer im Konzentrationslager Nordhausen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs
»Der Beginn des Zweiten Weltkrieges ist so verschieden von dem Ausbruch des Krieges 1914-1918 wie sein Verlauf und sein Ergebnis. Die Masse der deutschen Armeen, unterstützt durch die modernste Luftwaffe, überrannte im September 1939 die polnische Verteidigung. In knapp vier Wochen brach der Widerstand des weit unterlegenen Gegners zusammen, und zum vereinbarten Zeitpunkt (11. September) Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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marschierte die Rote Armee vom Osten ein und versetzte Polen den Todesstoß... Englands überlegene Seestreitkräfte konnten nicht verhindern, daß Hitler am 9. April 1940 Dänemark und Norwegen besetzte... Am 10. Mai 1940 begann die mehrfach verschobene Offensive im Westen. Am 13. Mai war Holland überrannt und kapitulierte. In raschem Durchstoß erreichten die deutschen Panzertruppen den Kanal. Der ›Blitzkrieg‹ erwies sich als unwiderstehlich... Schon am denkwürdigen 10. Mai hatte Winston Churchill die Führung Englands aus den Händen des gebrochenen Chamberlain übernommen. Schon vier Wochen nach Beginn der Offensive gelang der entscheidende Durchbruch auf Paris, das am 14. Juni von deutschen Truppen besetzt wurde.« Am 10. Juni trat Italien in den Krieg ein, Rußland hatte sich unterdessen die baltischen Staaten einverleibt. »Es beleuchtet die neue Situation, daß Hitler schon im Sommer 1940 begann, auch den Angriff auf Rußland in seine Planungen einzubeziehen.« Nach pausenlosen Luftangriffen auf England ließ Hitler den Plan der Invasion Ende 1940 fallen. Italien belastete Hitler durch kriegerische Abenteuer (Griechenland), vor allem in Nordafrika, wo eine neue Front mit einem deutschen Afrika-Korps entstand, September 1940 Abschluß des Dreimächtepaktes Berlin-Rom-Tokyo. Franco lehnte die spanische Beteiligung am Krieg ab, wodurch Gibraltar für Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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die Westmächte offen blieb. In Frankreich begann die Kollaboration mit den Deutschen, während General de Gaulle in England eine Widerstandsbewegung aufbaute. Im April 1941 besetzten deutsche Truppen den Balkan einschließlich Griechenlands und Kretas. Am 22. Juni begann der Krieg gegen Rußland, das sich vorher durch einen Nichtangriffspakt mit Japan (April) gesichert hatte. »Im Spätherbst war die Front schon nahe an Moskau und Leningrad herangerückt, war die Ukraine überrannt und damit ein wesentliches Postulat der ›Lebensraumidee‹ verwirklicht. Der deutsche Angriff auf Rußland war ein erster Wendepunkt nicht nur des europäischen Krieges, sondern der weltpolitischen Entwicklung insgesamt. Er resultierte in einer globalen Ausweitung des Konflikts, der die ›Achse‹ auch mit der Herrschaft über zwei Drittel Europas nicht gewachsen sein konnte. Statt das deutsche Potential entscheidend zu stärken, hatte die am Rassendogma vom Herren- und Untermenschen orientierte Unterdrückungs- und Ausrottungspolitik eine hartnäckige Widerstandshaltung und einen Partisanenkrieg hervorgerufen, während gleichzeitig die ›Endlösung der Judenfrage‹ mit der kalten Vernichtung von vielen Millionen Menschen aus allen besetzten Ländern begann.« In Ostasien hatte Japan die europäische Krise 1938 zum Vordringen in China und nach Südasien genutzt; es fing an, die Verbindungslinien der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Westmächte in diesem Raum zu bedrohen. Die USA hatten bei Kriegsbeginn ihre Neutralität erklärt. Als Roosevelt 1940 zum drittenmal Präsident wurde, begannen die Unterstützungsaktionen (Lend-Lease-Gesetz, März 1941). Eine weltweite Anti-Hitler-Koalition zeichnete sich ab, als Roosevelt und Churchill die »Atlantic Charter« beschlossen (August). Mit dem Überfall auf Pearl Harbour (7. Dezember) trat Japan in den Krieg ein. »Japan überrannte in raschen Seeund Landattacken Hongkong (25. Dezember 1941), die Philippinen, Malaya und Singapore (Februar 1942), es drang in Burma ein und bedrohte Indien, es besetzte Niederländischostindien und stand schon im März 1942 vor den Toren Australiens. Im Sommer 1942 hatte die Hitlersche Kriegsmaschine ihren absoluten Höhepunkt erreicht. Stalingrad und der Kaukasus, Nordafrika bis vor die Tore Alexandrias waren die Glieder einer deutschen Zangenbewegung, die den gesamten Nahen Osten bedrohte. Aber im nämlichen Augenblick wie ihr asiatischer Bundesgenosse erfuhren nun auch die Achsenmächte die Auswirkungen der gewaltigen materiellen Unterstützung Englands und der Sowjetunion durch die USA. Einer neuen russischen Offensive gelangen seit November 1942 große Geländegewinne an der Südfront und dank Hitlers starrer Durchhaltestrategie auch die Einschließung und Vernichtung einer ganzen deutschen Armee in Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Stalingrad (Januar 1943). Zur gleichen Zeit wurde auch der südliche Zangenflügel durch die neuformierten britischen Truppen bei El Alamein zerbrochen (Oktober 1942). Die Doppelkatastrophe von Rußland und Afrika hat die Angreifer seit der Jahreswende 1942/43 endgültig in die Verteidigung gedrängt. Stalingrad und Tunis waren die untrüglichen Zeichen des Niedergangs, der zunächst das faschistische Regime, dann auch das ›Dritte Reich‹ unaufhaltsam seinem Ende entgegentrieb... Die nationalsozialistische Führung hat auf die schweren Rückschläge mit einer Verschärfung des inneren Terrors und einer Strategie des blinden Einsatzes um jeden Preis geantwortet. Der ›totale Krieg‹, Endstadium des totalen Staates, bedeutete rücksichtslose Mobilisierung aller Kräfte und zugleich die bedenkenlose Vernichtung aller andersdenkenden oder mißliebigen Menschen. Mit den ersten deutschen Rückschlägen begann sich auch die Stimmung und die taktische Lage Frankreichs zu ändern. Die Aktivierung innerfranzösischen Widerstandes ging mit einer Verschärfung des deutschen Besatzungskurses einher. Die Sowjetunion fiel jetzt wieder auf ihr altes Mißtrauen zurück und verdächtigte die Partner, sie verzögerten absichtlich die Errichtung einer zweiten Front in Europa‹. Das war jetzt in der Tal das zentrale Problem der weiteren Kriegführung. Während die englisch-amerikanischen Truppen von Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Afrika aus in raschem Zugriff Sizilien eroberten (Juli 1943), gingen die Meinungen über den Einsatzpunkt dieser zweiten Front auseinander. Churchill plädierte für eine Invasion des Balkan, die ein Gegengewicht gegen Rußland verbürgen würde.« Alliierte Konferenzen über die Neuordnung Europas folgten in Moskau (Oktober 1943) und in Teheran (Dezember 1943) mit der Entscheidung für die Invasion in Frankreich. Für Italien war nun der Krieg aussichtslos geworden. Nach der Auflösung der Faschistischen Partei und der Verhaftung Mussolinis verkündete am 8. September General Eisenhower den Waffenstillstand, aber Italien blieb bis zum Kriegsende Kriegsschauplatz. »So waren nun Hitler und Deutschland das zentrale Problem, dem sich die Konferenz von Teheran gegenübersah. Durch eine neue sowjetische Offensive war die internationale Position Stalins erheblich gefestigt worden; der ›große vaterländische Krieg‹ hat zum wirkungsvollen Primat des nationalen über das internationale Profil der Sowjetunion geführt. Im Juni 1944 waren die russischen Truppen vor Warschau angelangt. Land für Land fiel nun dem sowjetischen Zugriff und Moskaus Grenzdiktat anheim. Im August/ September 1944 Finnland und Rumänien, dann auch Bulgarien. Unter dem Kommando General Eisenhowers war die lange erwartete und doch überraschend geführte Invasion der angloamerikanischen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Truppen in die Normandie geglückt (6. Juni 1944). Schon drei Monate später überschritten amerikanische Truppen die deutsche Grenze. Der Ausgang des Krieges konnte nun auch für die nationalsozialistische Führung nicht mehr zweifelhaft sein. Die zerstörerische Dynamik des nationalsozialistischen Terrorsystems fiel nun mit aller Erbitterung und Zerstörung auf Deutschland selbst zurück. Auch der verzweifelte Versuch der allzu lange unterschätzten Widerstandsbewegung in Deutschland, den Umsturz mit einem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 auszulösen und den Krieg zu beenden, schlug fehl. Das Endstadium des totalen Krieges mit der Mobilisierung des ›Volkssturms‹ und der Hitlerjugend kostete schwerere Verluste als der ganze bisherige Krieg. Die Konferenz von Jalta (4. bis 11. Februar 1945) fand die Verbündeten an der Schwelle des militärischen Sieges an allen Fronten des Weltkrieges. Westeuropa war befreit, alliierte Truppen standen in Westdeutschland, die Sowjetunion hatte Osteuropa besetzt, und im Pazifik war das japanische Mutterland selbst bedroht. Hitler hatte der Sowjetunion die Tür nach Europa geöffnet, 1939 zuerst und dann 1941 erneut, er hatte die Westmächte in das Kriegsbündnis mit der Sowjetunion hineingezwungen. Am 20. April 1945 hatte die russische Eroberung Berlins begonnen: fünf Tage später trafen sich westliche und sowjetische Truppen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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erstmals an der Elbe. Am 7. Mai beendete die bedingungslose Kapitulation der von Hitler eingesetzten Regierung Dönitz, die einen Tag später unter russischer Beteiligung in Berlin wiederholt wurde, den europäischen Krieg. Am 6. August löste ein amerikanisches Flugzeug die Explosion der ersten Atombombe über Hiroshima aus. Eine neue Ära der Menschheitsgeschichte hatte begonnen.« (K. D. Bracher) ¤ 69 Einrücken deutscher Panzer in ein brennendes Dorf an der Ostfront. Blick durch den Sehschlitz ¤ 70 Vorgehen deutscher Infanterie an der Westfront ¤ 71 Vorgehen deutscher Infanterie an der Westfront ¤ 72 Fallende Bomben ¤ 73 Churchill in dem von deutschen Bomben zerstörten Sitzungssaal des englischen Parlaments, Mai 1941 ¤ 74 Verkündung des amerikanischen Verteidigungsprogramms durch Präsident Roosevelt im Jahr 1941 ¤ 75 Russische Kriegsgefangene Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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¤ 76 Der japanische Überfall auf Pearl Harbour am 7. Dezember 1941. Die brennenden Schlachtschiffe »West Virginia« und »Tennessee« ¤ 77 Deutsche Gefangene nach dem Fall von Stalingrad am 2. Februar 1943 ¤ 78 Die Konferenz von Jalta, 4. bis 11. Februar 1945, die letzte Kriegskonferenz der »großen Drei« ¤ 79 Fernschreiben des Generals Fromm in Berlin an alle Dienststellen am 21. Juli 1944 nach dem mißglückten Attentat auf Hitler und der Niederschlagung des Putsches vom 20. Juli 1944 ¤ 80 Die Hinrichtungsstätte der am Putsch vom 20. Juli 1944 Beteiligten in Plötzensee/Berlin ¤ 81 Einzug der Russen in Bukarest am 31. August 1944 ¤ 82 Churchill und General de Gaulle im befreiten Paris, 1944 ¤ 83 Grabsteine für die Opfer von Hiroshima auf einem der Friedhöfe innerhalb der am 6. August 1945 durch den ersten Atombombenabwurf zerstörten Stadt Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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¤ 84 Das zerstörte Köln im Jahr 1945 ¤ 85 Der Deutsche zwischen Ost und West. Federzeichnung von A. Paul Weber. Hamburg, Privatbesitz
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XIV. Die Welt nach 1945 ¤ 1 Amtliche Bekanntmachung. Tuschzeichnung von H. Strempel, 1964. Im Besitz des Künstlers ¤ 2 Die Potsdamer Konferenz, 17. Juli bis 2. August 1945. Churchill, Stalin, Truman, die Außenminister und führenden Militärs der drei Siegermächte am runden Tisch im Schloß Cäcilienhof ¤ 3 Wache vor der Zelle Görings während der Nürnberger Prozesse gegen die Hauptkriegsverbrecher, November 1945 bis Oktober 1946
In den dreizehn Sitzungen im Schloß Cäcilienhof wurden die weitere Behandlung Deutschlands, die Einrichtung des Alliierten Kontrollrats in Berlin, die Reparationsansprüche und die Demontagen festgelegt. Für Königsberg und das nördliche Ostpreußen erkannten die Westmächte die sowjetische Verwaltung an und sagten ihre Unterstützung für eine endgültige Abtretung im Friedensvertrag zu. Für das übrige Gebiet östlich der Oder-(Lausitzer) Neiße wurde bis zu einer Friedensregelung die polnische Verwaltung anerkannt. Die Ausweisung der deutschen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Bevölkerung aus Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei wurde unter der Voraussetzung gebilligt, daß sie »in geregelter und humaner Form« erfolgt. Das Potsdamer Abkommen sah ferner die Bildung eines um Frankreich und China erweiterten Rates der Außenminister mit Sitz in London vor; dieser Fünfmächterat sollte zunächst den Friedensvertrag mit Italien, dann die übrigen ausarbeiten. Der Friedensvertrag mit Deutschland wurde bis zur Einsetzung einer deutschen Zentralregierung vertagt. – Entsprechend den Potsdamer Protokollen unterzeichneten die Siegermächte in London ein Abkommen über die Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher. »Wir haben uns an die Welt gewöhnt, die in dem gärenden Chaos von 1945 bis 1946 geboren wurde. Eine Geburt war es, mehr als eine bewußte Schöpfung menschlichen Willens. Das, was geplant war, wurde nicht ausgeführt. Das, was kam, hat niemand geplant... Von allen Regionen, in denen Amerikaner und Russen feindlich aufeinandertrafen, war Deutschland die energiereichste, zentralste. Folglich entbrannte hier ihr Gegensatz am stärksten, und beide behielten sie ihren Teil, indem sie ihn, jeder auf die für ihn typische Art, gegen den anderen organisierten. Für die Deutschen war dieser Gang der Dinge zugleich sehr schlimm und sehr vorteilhaft. Schlimm, weil er das an sich schon furchtbar verstümmelte Land in zwei Teile Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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spaltete, auf modernere, das hieß schärfere, wirkungsvollere, bösartigere Manier als je in der Vergangenheit, Vorteilhaft, weil eben kraft dieser Entwicklung und Spaltung die Sieger, wenigstens die im Westen, sich aus Eroberern rasch in freundliche Kontrolleure, in Berater und Helfer, zuletzt in förmliche Bundesgenossen verwandelten. So wie Russen und Angelsachsen nur gemeinsam Deutschland hatten besiegen können, so konnten sie nur gemeinsam den Charakter von Siegern behalten, und so lange war ihre deutsche Politik überwiegend negativ: Bestrafung von Hitlers politischen und militärischen Helfern und Werkzeugen, ›Reparationen‹ und ›Demontagen‹, ›Industriepläne‹ zur Niederhaltung und Dezentralisierung der Wirtschaft, Vergangenheitsforschung und Gesinnungsspionage. Von Anfang an schon standen diesen rein negativen Zielen auch positive Maßnahmen widerspruchsvoll gegenüber.« (G. Mann) ¤ 4 Die Selbstauflösung des Völkerbundes. Unterschriftenseite des in diesem Zusammenhang getroffenen Abkommens zur Übertragung bestimmter Rechte an die UN vom 19. Juli 1946. Genf, Bibliothèque Nations Unies ¤ 5 Plakataufruf zum Wiederaufbau der zerstörten deutschen Städte. Berlin, Stiftung Preußischer Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Kulturbesitz, Kunstbibliothek ¤ 6 Plakat zur ersten Exportmesse in Hannover 1948. Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Kunstbibliothek ¤ 7 Auszahlung der Rest-Kopfquote im Anschluß an den in den Westzonen am 20. Juni 1948 begonnenen Umtausch der Reichsmark gegen die Deutsche Mark ¤ 8 Die Verschmelzung der SPD und der KPD in der sowjetischen Zone Deutschlands zur SED am 21. April 1946. Plakat. Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Kunstbibliothek ¤ 9 Verpacktes Demontagegut als Sachleistung Deutschlands an die UdSSR, Schmalkalden 1948 ¤ 10 David Ben Gurion beim Verlesen der von allen israelischen Parteiführern unterschriebenen Unabhängigkeitserklärung am Vorabend der Proklamation des souveränen Staates Israel, 14. Mai 1948 ¤ 11 Niemandsland in Jerusalem kurz nach der Gründung des selbständigen Staates Israel. Blick auf die Prophet-Samuel-Straße unweit des MandelbaumTores, des noch heute einzigen Grenzüberganges (für Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Truppen und Diplomaten der Vereinten Nationen) zwischen Israel und Jordanien Außerstande, »die Araber und Juden Palästinas miteinander zu versöhnen, überließ es Großbritannien 1948 den Vereinten Nationen, eine Lösung zu finden. Aber der Krieg zwischen den Juden und den arabischen Nachbarstaaten erzwang an Ort und Stelle eine andere Lösung.« (R. Aron) ¤ 12 Die Luftbrücke während der Berliner Blockade, Juni 1948 bis Mai 1949
Dieses Bilddokument läßt die Luftversorgung der Westsektoren Berlins optisch erkennen. Die gestrichelten Linien wurden durch die Blinklichter der Maschinen ins Negativ graviert. Der halbrechts sichtbare Lichtstreifen stammt von einem Scheinwerfer, Die gebogenen Linien zeigen den Lauf der Sterne. (Belichtungszeit: sechs Stunden gegen den nördlichen Himmel.) – Die Blockade Berlins war ein Höhepunkt des »Kalten Krieges«. Selbst bei schlechtem Wetter flog alle zwei bis drei Minuten eine Maschine ein; bei gutem Wetter war die Flugdichte noch größer. Durch dieses Unternehmen der Amerikaner und Engländer wurde zuletzt eine Transportmenge von zehntausend Tonnen in die Westsektoren gebracht. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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¤ 13 West-Berlins Regierender Bürgermeister Ernst Reuter vor der Freiheitsglocke der Independence Hall in Philadelphia/Pa., einer Station auf der im Wirken und Werben für die Interessen seiner Stadt angetretenen Reise durch die USA, Frühjahr 1951 ¤ 14 Eine Werbemünze für den Europa-Gedanken. Prägung der Hamburger Münzanstalt, 1952. Berlin, Privatbesitz
Seit 1948 ist die Europa-Frage ein Hauptgespräch auf vielen Konferenzen. Verschiedene Abmachungen dienen vor allem dazu, die westeuropäischen Staaten wirtschaftlich zusammenzuschließen und sie politisch und militärisch gegen Angriffe zu schützen. Im Mal 1948 tagte ein Kongreß für ein Vereinigtes Europa, im August 1949 wurde der Europa-Rat offiziell begründet. Seit 1950 kennen wir die Europäische Zahlungsunion (EZU), seit 1951 den Vertrag über die Montanunion (EGKS), seit 1952 die Abmachung über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG). Am 1. Januar 1958 traten die Verträge von EWG (Europäischer Wirtschaftsgemeinschaft) und EURATOM (Europäischer Gemeinschaft für Atomenergie) in Kraft. »Unmittelbar nach Kriegsende, als es darum ging, die Berge von Schutt und Trümmern abzutragen und die Wirtschaft der europäischen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Länder wieder in Gang zu bringen«, trug die Marshall-Plan-Hilfe viel dazu bei, »Europa vor weiterem Elend und Chaos zu bewahren.« (J. Freymond) Auf der Grundlage des Marshall-Planes wurde von zunächst vierzehn europäischen Staaten gemeinsam ein Wirtschaftsprogramm ausgearbeitet; man nahm Westdeutschland dazu. Die osteuropäischen Staaten aber hielten sich fern. ¤ 15 »Fünf Jahre Marshall-Plan«. Plakat, 1950. Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Kunstbibliothek ¤ 16 Chiang Kai-shek, der erste verfassungsmäßige Präsident, bei einer Rede vor der chinesischen Nationalversammlung am Tag nach seiner Wahl, 20. April 1948 ¤ 17 US-General Douglas MacArthur, der Befehlshaber der UN-Streitkräfte in Korea, bei einer Lagebesprechung während der schweren Kämpfe im Süden der Halbinsel, Februar 1951 ¤ 18 Angehörige einer US-Entsatztruppe an der nordkoreanischen Front, November 1950 ¤ 19 Vormilitärische Ausbildung im Kindergarten Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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der Volkskommune »Sputnik« bei Peking ¤ 20 Chinese beim Lernen des 1957 in der Volksrepublik China eingeführten lateinischen Alphabets ¤ 21 Beendigung des Kriegszustandes zwischen den drei Westmächten und Deutschland: Der Vertrag über die Beziehungen zwischen den Drei Mächten und der Bundesrepublik Deutschland vom 26. Mai 1952. Die Unterschriftenseite der englischen Ratifikationsurkunde. Bonn, Archiv des Auswärtigen Amtes ¤ 22 Beendigung des Kriegszustandes zwischen den drei Westmächten und Deutschland: Der Vertrag über die Beziehungen zwischen den Drei Mächten und der Bundesrepublik Deutschland vom 26. Mai 1952. Die Unterschriftenseite der französischen Ratifikationsurkunde. Bonn, Archiv des Auswärtigen Amtes
Es ist Absicht dieser in Bonn unterzeichneten Verträge, die gemeinsame Freiheit vereint zu fördern und zu verteidigen, die Bundesrepublik auf der Grundlage der Gleichberechtigung in die europäische Gemeinschaft einzubeziehen, ein freies und vereinigtes Deutschland auf friedlichem Wege wiederherzustellen und die im Grundgesetz verankerte freiheitlich demokratische und bundesstaatliche Verfassung zu wahren. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Die drei Fassungen des sogenannten Deutschlandvertrages, den man auch schon als »Generalvertrag« bezeichnet hat, enthalten den oft zitierten Passus: »Die Aufgabe der von den Drei Mächten im Bundesgebiet stationierten Streitkräfte wird die Verteidigung der freien Welt sein, zu der die Bundesrepublik und Berlin gehören.« (Art. 4: 1.) ¤ 23 Deutschlands Wiedergutmachung der den Juden zugefügten Schäden und der an ihnen begangenen Verbrechen: Das Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Israel vom 10. September 1952, die Unterschriftenseite des ratifizierten Vertrages. Bonn, Archiv des Auswärtigen Amtes ¤ 24 »Deutsches Manifest« aus Anlaß der bevorstehenden Ratifizierung der Pariser Verträge in den Sitzungen vom 19. bis 23. Oktober 1954. Berlin, Privatbesitz
Bei den Pariser Verträgen und Kommuniques handelt es sich um die Errichtung der Westeuropäischen Union (WEU), um den Eintritt der Bundesrepublik in die NATO, um Berlin-Erklärungen und um die Beziehungen Deutschlands zum Saargebiet. ¤ 25 Königin Elisabeth II. von England beim Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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feierlichen Auszug aus der Westminster Abbey nach der Krönungszeremonie am 2. Juni 1953 ¤ 26 Abschied des zum Generalsekretär der UN ernannten schwedischen Ministers Dag Hammarskjöld von seinem König, Gustav VI. Adolf von Schweden, nach einer Kabinettsitzung in Stockholm am 8. April 1953 ¤ 27 Der 17. Juni 1953 in Ost-Berlin: Protestmarsch der Arbeiter durch das Brandenburger Tor in den Westsektor der Stadt ¤ 28 Der 17. Juni 1953 in Ost-Berlin: In Brand gesteckter Zeitungskiosk in der Friedrichstraße ¤ 29 Der 17. Juni 1953 in Ost-Berlin: Auffahrt sowjetischer Panzer an den Sektorengrenzen Berlins ¤ 30 SSD-Gefängnis in Berlin-Lichtenberg, eine der durch ein Gesetz vom 8. Februar 1950 »legitimierten« Anstalten für politische Häftlinge in der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands, 1953 ¤ 31 Flüchtlinge mit ihrer letzten Habe auf dem Weg in ein West-Berliner Lager, Februar 1953
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¤ 32 Überfülltes Flüchtlingslager in Berlin-Neukölln, 1953
Streiks der Bauarbeiter in der Berliner Stalinallee für eine Senkung der Arbeitsnormen führten zur Volkserhebung gegen das SED-Regime in Ost-Berlin und Mitteldeutschland. Waffenlose Männer und Frauen streikten, demonstrierten und entfachten schließlich einen offenen Aufruhr, der zweihundertsiebenunddreißig Städte und Gemeinden erfaßte. An einhundertsiebzehn Stellen ging sowjetisches Militär gegen die Demonstranten vor; sie schlugen die Erhebung in oft blutigen Zusammenstößen nieder und verhängten über einige Großstädte den Ausnahmezustand. Es folgten standrechtliche Erschießungen und Massenverhaftungen, die von der Regierung der »DDR« mit der Erklärung gerechtfertigt wurden, die Aufstände seien »von westlichen Eindringlingen« provoziert worden. »In einem Augenblick von leichtsinnigem, undurchdachtem Optimismus haben die Wortführer der Angelsachsen geglaubt oder zu glauben vorgegeben, nach Austilgung des einen europäischen Feindes werde die neue Zeit von der Menschheit als ganzer, geeinigter gestaltet werden. Es war noch einmal die Hoffnung der Revolution des achtzehnten Jahrhunderts, in weitere Dimensionen vorgetragen als je zuvor, wie nie zuvor bekräftigt, scheinbar, durch Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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technische Begebenheiten, Skeptiker, solche, die aus der Geschichte gelernt hatten, konnten leicht vorhersagen, daß sie sich nicht erfüllen würde... Kaum war die innereuropäische Dialektik verschwunden, welche ein paar Jahrhunderte lang das politische Geschick des Planeten vornehmlich gestaltet hatte, so trat eine andere, weltweite an ihre Stelle... ›Atlantische Welt‹, ›kommunistischer Block‹, ›Neutrale Länder‹ – alle diese Benennungen, Schöpfungen, Haltungen stehen in ihrem Zeichen.« (G. Mann) ¤ 33 Explosion einer Wasserstoffbombe auf dem amerikanischen Versuchsgelände, 1953
»Die Weltmächte werden gezwungen sein, durch immer größere, sich gegenseitig wie ein Keil den andern treibende Anstrengungen zu versuchen, das atomare Gleichgewicht sowohl zu ihrem Vorteil aufzuheben, als auch es immer wieder herzustellen, um den Anreiz zum präventiven Atomkrieg zu beseitigen. Da dies Wechselspiel aber seine Gefahren für beide Seiten hat, werden sie auch immer wieder zu neuen Versuchen schreiten müssen, Vereinbarungen über ein Verbot weiterer Herstellung nuklearer Waffen und zur Vernichtung der schon vorhandenen herbeizuführen. Solche Vereinbarungen setzen Kontrolleinrichtungen voraus, die einen radikalen Abbau der bisher Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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allgemein im Schwange befindlichen Vorstellungen über die Souveränitätsrechte der Staaten zur Voraussetzung haben.« (G. Schmid) ¤ 34 Der Völkerbundspalast in Genf, heute eine Zentrale der UN und die Stätte vieler Konferenzen auch über Abrüstungsfragen. Im Vordergrund der von Th. W. Wilson, dem 27. Präsidenten der USA (1913-21), gestiftete Himmelsglobus ¤ 35 »Der Krieger«. Bronzeplastik von Henry Moore, 1953/54. Mannheim, Städtische Kunsthalle ¤ 36 Ankunft der philippinischen Delegierten auf dem Flughafen von Djakarta zur Konferenz der asiatischen und afrikanischen Staaten in Bandung über Fragen der Zusammenarbeit, April 1955 ¤ 37 Die Wiederherstellung Österreichs »als ein souveräner, unabhängiger und demokratischer Staat« am 15. Mai 1955: Die Unterzeichner des Vertrages Pinay, Molotow, Macmillan und Dulles, auf dem Balkon des Wiener Belvedere ¤ 38 Konrad Adenauer bei einem Gang durch den Kreml während seines Aufenthaltes in Moskau als Gast der sowjetischen Regierung, 11. September Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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1955 ¤ 39 Die Außenminister der NATO-Mitgliedstaaten und deren ständige Vertreter in Paris vor einer Tagung am 4. Mai 1956 ¤ 40 Der Juni-Aufstand in Posen 1956, vier Monate vor der Wahl des rehabilitierten Titoisten Gomulka zum Ersten Sekretär der KP: Sowjetische Panzer im Einsatz gegen Demonstranten für bessere wirtschaftliche Verhältnisse und größere politische Freiheit ¤ 41 Die ungarische Revolution 1956, eine politisch-militärische Aktion der industriellen Arbeiterklasse für politische Reformen und gegen die sowjetische Besatzungsmacht: Trümmer nach heftigen Straßenkämpfen in Budapest, Anfang November ¤ 42 Die ungarische Revolution 1956, eine politisch-militärische Aktion der industriellen Arbeiterklasse für politische Reformen und gegen die sowjetische Besatzungsmacht: Befestigung der ungarischen Fahne auf dem zerstörten Stalin-Denkmal ¤ 43 Parade sowjetische Streitkräfte auf dem Roten Platz in Moskau
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¤ 44 Johannes XXIII., der Nachfolger des verstorbenen Papstes Pius XII., am Tag seiner Krönung, dem 4. November 1958
»Zwischen den großen politischen Gebilden des siebzehnten Jahrhunderts – dem Kaiserreich China, dem Reich des Großmoguls, dem Imperium Spaniens in Amerika und den Königreichen Frankreich und England – waren die Verbindungen spärlich, die Austauschgelegenheiten begrenzt. Suchten die Souveräne von Peking, Delhi oder Paris die Kräfte abzuschätzen, auf die sie im Kriegsfall bauen konnten oder die sie im Kriegsfall zu fürchten hatten, so dachte keiner von den dreien an die anderen zwei; damals gehörten Asien und Europa nicht zum selben diplomatischen Feld. Künftighin gehören sie zu einem einzigen Feld, das den Erdball umschließt. In unserem Zeitalter hat die Dimension des Raums nicht mehr ihre alte Bedeutung. Caesar und Napoleon brauchten ungefähr die gleiche Zeit, um von Rom nach Paris zu gelangen. Alexis de Tocqueville brauchte drei Wochen, um den Ozean zu überqueren. Jetzt beansprucht die Überfahrt weniger Stunden als zu Beginn unseres Jahrhunderts Tage. Tôkyô ist heute von San Francisco weniger weit entfernt als Moskau zu Napoleons Zeiten von Paris... Der gesamte Erdball ist in ein einziges diplomatisches Kraftfeld einbezogen... Die Wirkung des Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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diplomatischen Kampfes wird vervielfacht durch den ideologischen Wettstreit zwischen den beiden Riesen, die beide nicht nur Zentren rivalisierender ökonomischer und politischer Systeme sind, sondern auch Modelle besonderer Typen der industriellen Zivilisation darstellen. Während die meisten ›nichtfestgelegten‹ Länder nach der wirksamsten Industrialisierungsmethode Ausschau halten, bemühen sich die beiden Riesen darum, sie in ihrer Botmäßigkeit zu halten oder in ihre Botmäßigkeit zu bringen.« (R. Aron) Darüber kann kein diplomatischer Empfang, kein freundliches Lächeln, kein kräftiger Händedruck hinwegtäuschen. ¤ 45 Dwight D. Eisenhower auf seiner Reise in die NATO-Länder vor dem Gipfelgespräch in Washington: Der Präsident der Vereinigten Staaten mit Theodor Heuss und seinem Nachfolger, Heinrich Lübke, auf der Terrasse der Villa Hammerschmidt in Bonn am 27. August 1959 ¤ 46 Dwight D. Eisenhower auf seiner Reise in die NATO-Länder vor dem Gipfelgespräch in Washington: Eisenhower im Gespräch mit Sir Winston Churchill am vorletzten Tag seines Aufenthaltes in London, dem 1. September 1959 ¤ 47 Dwight D. Eisenhower auf seiner Reise in die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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NATO-Länder vor dem Gipfelgespräch in Washington: Offizieller Empfang des amerikanischen Gastes durch die französische Regierung auf der Place de l'Hôtel de Ville in Paris am 9. September 1959 ¤ 48 Die Regierungschefs der USA und der UdSSR im Weißen Haus in Washington vor dem Gipfelgespräch, 16. September 1950. Nikita S. Chruschtschow beim Überreichen eines Modells der von den Sowjets am 12. September 1959 auf den Mond geschossenen Raketenkapsel an Dwight D. Eisenhower in Anwesenheit von Richard M. Nixon und Andrej A. Gromyko ¤ 49 Russen auf der am 24. Juli 1959 vom US-Vizepräsidenten Nixon in Moskau eröffneten amerikanischen Ausstellung ¤ 50 Nikita S. Chruschtschow in Paris nach einem Gespräch mit Charles de Gaulle am 16. Mai 1960, vor den gescheiterten Verhandlungen einer Gipfelkonferenz der Regierungschefs der USA, Großbritanniens, Frankreichs und der UdSSR
»In einem großen Teil des Erdballs – in Gebieten Südostasiens, des Nahen Ostens und Afrikas – sind infolge des Zerfalls der europäischen Imperien, und Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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weil wirkliche nationale Gemeinwesen noch kaum entstanden sind, staatliche Grenzen und selbst der Bestand staatlicher Souveränität in Frage gestellt. Die Rolle der regulären Heere ist wenigstens zeitweilig reduziert infolge der zunehmenden Wirkungskraft der Atom- und thermonuklearen Waffen an dem einen Pol, der individualisierten Waffen der Partisanen am anderen Pol; dabei lassen die Kernwaffen die einmal geschaffenen Situationen – mögen sie noch so grotesk sein – erstarren, während die Partisanenwaffen den Völkern ohne Industrie ein Mittel an die Hand geben, die von den Eroberern errichtete Ordnung umzuwerfen.« (R. Aron) ¤ 51 Bürgerkrieg in Laos: Gefangennahme der teils kommunistisch, teils nationalistisch beeinflußten Pathet Lao-Anhänger durch Angehörige der pro-westlich orientierten Zentralregierung im Dschungelgebiet an der Nordgrenze, September 1959 ¤ 52 Ein »Reference Book«, die Kontrollkarte für Farbige, aus der Südafrikanischen Republik ¤ 53 Unruhen in Léopoldville vor Bekanntwerden der zugesicherten Unabhängigkeit des belgischen Kongo-Staates, Anfang Januar 1959
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¤ 54 Die Gründung der Republik Kongo-Léopoldville am 30. Juni 1960: Auffahrt des Staatspräsidenten J. Kasavubu zur Parlamentseröffnung in der Hauptstadt ¤ 55 Verfechter der Unabhängigkeit des Nyassalandes im Konzentrationslager bei Blantyre, 1959 ¤ 56 John F. Kennedy bei seiner Antrittsrede nach dem Amtseid als 35. Präsident der USA am 20. Januar 1961. Auf der Terrasse des Kapitols in Washington: die Frau des neuen Präsidenten, sein Vorgänger, Dwight D. Eisenhower, und der Vizepräsident Lyndon B. Johnson ¤ 57 Private Atmosphäre nach den ersten politischen Gesprächen zwischen Chruschtschow und Kennedy in Wien 3./4. Juni 1961 ¤ 58 Private Atmosphäre nach den ersten politischen Gesprächen zwischen Chruschtschow und Kennedy in Wien 3./4. Juni 1961 ¤ 59 »Die Endlösung«. Pinselzeichnung von Manfred Oesterle, 2963, mit der Unterschrift: »Das gesamte Territorium der DDR ist zur Sperrzone erklärt, die Bevölkerung nach China evakuiert worden. Ich Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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verkündige den Zustand der totalen Staatssicherheit.« Die Zusammenarbeit der beiden Großen in Wien blieb ergebnislos. Mit Unbehagen sah man in der ganzen Welt, wie sich die politische Spannung zwischen Ost und West durch die Berlin-Krise, die Errichtung der Mauer und durch den Streit in Laos immer mehr zu verschärfen drohte. In dieser Situation versuchten Nehru, Tito und Nasser, die schon früher immer wieder den Wert einer neutralen Außenpolitik zwischen den Riesen betont hatten, zu vermitteln. Ihre Bemühungen blieben ohne Erfolg. ¤ 60 Die Kuba-Krise: Die Blockade-Erklärung Kennedys mit dem Verbot weiterer Waffenlieferungen an Kuba vom 23. Oktober 1962 ¤ 61 Die Kuba-Krise: Die sowjetische Delegation auf einer Sondersitzung des Sicherheitsrates der UN am 24. Oktober 1962 zur Schlichtung der gegenseitig erhobenen Anklage auf Weltfriedensbruch
»Wenn die amerikanische Außenpolitik sich eines weltweiten Systems von ›Stützpunkten‹ und Pakten bedient, teils realer, teils irrealer, wenn sie sich mit Maßnahmen hilft, die der Gegner als Rechtsbrüche anzusehen Grund hat, so ist sie um dessentwillen Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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nicht weniger auf bloße Verteidigung gerichtet. Jene, die sie führen, fühlen sich zutiefst im Recht und zutiefst bedroht. Ihr Ziel ist ihnen das allerlegitimste, ist buchstäblich der Art, daß es die Mittel heiligt. Weil ihnen die Sphäre des weltpolitischen Kampfes fremd ist, weil sie große Macht zu Zwecken gebrauchen, zu deren ausschließlicher Verfolgung sie bisher nie gebraucht worden ist, gerade darum klingt ihre Sprache oft so ungeschickt und unberaten und drohend.« (G. Mann) ¤ Protokoll des ersten Abkommens über die Ausgabe von Passierscheinen für die Bewohner West-Berlins vom 17. Dezember 1963. Berlin, Archiv des Senats ¤ 62 Der Eröffnungsgottesdienst des Zweiten Vatikanum als des XXI. Ökumenischen Konzils unter Papst Johannes XXIII. in der Peterskirche in Rom am 11. Oktober 1962 ¤ 63 Begegnung zwischen Papst Paul VI. und dem Patriarchen Athenagoras in Jerusalem am 5. Januar 1964 auf der Reise des Papstes ins Heilige Land
»Noch immer will Historie verstehen, wie wir wurden, was wir sind; ›Zeitgeschichte‹, die Geschichte der letzten Jahrzehnte, wurde zu einem ihrer Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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wichtigsten Zweige. Aber sie bewegt die bloß Zuschauenden, passiv Aufnehmenden nicht mehr wie in den Zeiten der großen Emanzipation, in der Zeit der europäischen Nationalstaaten. Daß alles historisch ist, die Religionen und ihre Entstehung nicht ausgenommen, daran haben wir uns längst gewöhnt; so daß die Frage Renans: ›Wovon wird man nach uns leben?‹ wenig Aktualität mehr hat. Das meiste ist hier getan. Wer das Glück des Glaubens hat und behalten will, den werden Neuentdeckungen über zeitgenössische Einflüsse, welche auf Jesus gewirkt haben mögen, nicht mehr in Verwirrung bringen. Die katholische Kirche selbst hat während des Zweiten Vatikanum eine Geschichtsbewußtheit und zeitliche Wandlungswilligkeit bewiesen wie nie zuvor; es ist dort das merkwürdige Wort gefallen und erhört worden, man dürfe den gegenüber Galilei begangenen Irrtum nicht wiederholen.« (G. Mann) ¤ 64 John F. Kennedy mit Willy Brandt, Berlins Regierendem Bürgermeister, und Konrad Adenauer auf der Fahrt durch West-Berlin am 26. Juni 1963 während seines Deutschland-Besuchs
»Die Amerikaner haben ihr revolutionäres Versprechen nicht ganz erfüllt; weder bei sich zu Hause, wo neben leichtem Glück und bequemer Freundlichkeit Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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viel Leid, Haß, Brutalität und gierige Korruption nisten; nicht außerhalb ihrer Grenze, wo ihr Staat – und zwar in ›modernen‹ Dimensionen – Verbrechen beging, wie alle Staaten sie noch immer begehen... Dennoch haben die Amerikaner ihr revolutionäres Versprechen zu einem guten Teil erfüllt, zu einem besseren als die Franzosen von 1791 oder die russischen Kommunisten. Die Entstehung der Weltmacht Amerika selber gehört dazu. Der allgemeine Wohlstand in Amerika gehört dazu; und nun der Wohlstand in Europa, der, sei es durch Nachahmung, sei es kraft einer parallelen Entwicklung, erst dann möglich wurde, als man dort im Politischen und Sozialen den früher von den Amerikanern eingeschlagenen Weg ging. Der heute von den Amerikanern am stärksten getragene Fortschritt der abendländischen, planetar gewordenen Wissenschaft gehört dazu. Der im achtzehnten Jahrhundert zuerst verkündete, nun auch allgemein offenbar gewordene ›Abschied von der bisherigen Geschichte‹ gehört dazu; die Veränderung des Lebens, die so intensiv und explosiv wurde, daß alle Vergangenheit, aus der wir gleichwohl kommen, uns fremd und blaß erscheint. Der gesicherte Weltfriede gehört nicht dazu, denn ihn haben wir nicht.« (G. Mann) Auch der Friede in Amerika selbst ist Störungen ausgesetzt; denn einem wirksamen Eingreifen der Bundesregierung oder des Obersten Gerichts gegen die Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Rassendiskriminierungen sind durch die Selbständigkeit der Einzelstaaten in der Praxis Grenzen gesetzt. ¤ 65 Zweihunderttausend Demonstranten gegen Rassendiskriminierung und für die Gleichberechtigung der Farbigen am Ziel ihres Friedensmarsches auf die Bundeshauptstadt der USA, dem Obelisken des Washington-Monuments, 31. August 1963 ¤ 66 Nathania, eine neue Stadt im Wüstensand Israels, zwanzig Kilometer nördlich von Tel Aviv, April/ Mai 1965 ¤ 67 Der geplante Eastgore-Kanal in Jordanien, eine zum Jordan parallel laufend gedachte Wasserstraße, April/Mai 1965
»Mit der Auswanderung in die bisher von ihr noch nicht erschlossenen Räume wird die industrielle Technik ›wahrhaft universal‹. Nach dem Gesetz der Expansion bieten sich in den riesigen Gebieten größere Chancen, als sie der begrenzte europäische Raum je zu eröffnen vermochte. Die Industrialisierung wirkt daher dort anders als einst in Europa, wo sie zunächst eine in sich geschlossene Welt zu zerstören hatte.« (C. Schmid) »Der Bann der Zweiteilung, die in den Begriffen westlich und östlich zum Ausdruck kommt, Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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liegt als das wohl wichtigste Resultat zweier Weltkriege über der gegenwärtigen Erde. Was die Neuländer und die Altkulturen, die erst jüngst von der industriellen Bewegung ergriffen worden sind, aus ihr machen werden, und was sie von ihren je eigenen Voraussetzungen und Traditionen in die Neubildungen einbringen werden, ist noch keineswegs abzusehen.« (H. Freyer) ¤ 68 Beginn der Olympischen Sommerspiele in Tôkyô, 1964. Der Träger des Olympischen Feuers beim Eintreffen im Stadion ¤ 69 Der Amtseid des Kennedy-Nachfolgers Lyndon B. Johnson im Flugzeug des amerikanischen Präsidenten am 23. November 1963, unmittelbar nach der Ermordung John F. Kennedys in Dallas/Texas ¤ 70 Gespräche über die Kriegslage in Südvietnam zwischen Lyndon B. Johnson, seinem Verteidigungsminister MacNamara (nach dessen Rückkehr aus Vietnam), dem US-Außenminister Dean Rusk und General M. Taylor, dem Vorsitzendem des Generalstabes, im Weißen Haus in Washington vor Beginn der Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates der USA am 13. März 1964
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»Die Vereinigten Staaten sind seit den Zeiten des Zweiten Weltkriegs, der endgültig ihr und aller Völker letzter Krieg hatte sein sollen, in eine Reihe überaus blutiger Machtkämpfe verwickelt worden. Dabei ging es immer um die Freiheit der Völker von der Herrschaft ›kommunistischer Aggressoren‹; so in Korea, so in Vietnam. Aber jedermann wußte, daß es auch um etwas anderes ging: um die Erhaltung des Mächtegleichgewichts auf Erden; um das Auftrumpfen eigener Macht in gefährlicher Umwelt, um die Erhaltung von Prestige.« (G. Mann) ¤ 71 Das Ende der Ära Chruschtschows. Leitartikel in der »DDR«-Tageszeitung »Neues Deutschland« vom 16. Oktober 1964, zwei Tage nach dem Sturz des sowjetischen Ministerpräsidenten ¤ 72 Verzweifelte türkische Frauen und Kinder auf Cypern, der monatelang von Kämpfen zwischen griechischen und türkischen Cyprioten heimgesuchten Mittelmeerinsel, 1964 ¤ 73 Eingreifen sowjetischer Polizei zur Wiederherstellung der Ordnung nach einer handgreiflichen Aktion chinesischen, vietnamesischer und koreanischer Studenten als Protest gegen die militärischen Unternehmungen der Amerikaner in Nordvietnam vor der Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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Botschaft der USA in Moskau am 4. März 1965 ¤ 74 Der Guerillakrieg in Vietnam: Gefangennahme eines im US-Hubschrauber entdeckten Rebellen (?)
»Die größten Mächte, durch ihre Verantwortung zur Vorsicht erzogen, werden weiter Mühe haben, die Torheit der Kleinen und Kleinsten in Schach zu halten, doppelte Mühe, weil sie nicht darauf verzichten mögen, die gleiche Torheit für ihre eigenen Zwecke zu benutzen; sie werden, wenn es gut geht, unter sich das Minimum von Abmachungen treffen, das notwendig ist, um den Zusammenbruch ihrer Zivilisationen zu verhüten... Die Leistungen der Wissenschaft werden weiterhin zu einem größeren Stück an Machtkreise gebannt und zu deren Ruhm sein; nur zu einem kleineren wahrhaft menschheitlich. So auch das große Abenteuer der Kosmonautik... Wir kennen die Bedeutung des im Jahr 1957 begonnenen ›kosmonautischen‹ Abenteuers noch nicht. Wir wissen nicht, wohin es führen wird... Bisher hat, was als technisches Spiel und Abenteuer begann, noch meistens zu gewaltigen Veränderungen der Masse des Lebens geführt; so die großen ›Entdeckungen‹, so der Bau des ersten Flugzeugs, der erste Flug über den Atlantik. Die Trennung des Menschen von dem Stern, an den er gebunden war, würde in der Tat eine Epoche Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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bedeuten, einschneidender als je eine war. Wieder ist unbekannt, wie eine solche Trennung sich auf den Geist des Menschen auswirken würde. Vielleicht im Sinne eines völligen Erlöschens von Religion und religiösem Bedürfnis, so daß Krieg und Religion dann ungefähr gleichzeitig verschwunden wären; vielleicht ganz anders.« (G. Mann) – »Alles, was wir wollen, auch wenn es das kühnste Wollen ist, muß in die Gegenwart eingepflanzt werden, es kann nur in sie eingepflanzt werden, darum ist die entschlossene Annahme der Gegenwart der erste sittliche Akt und die Voraussetzung alles verantwortlichen Tuns. Daß wir damit beständig in einen offenen Prozeß hineinhandeln, der uns unsere Intentionen früher oder später aus der Hand nimmt und sie zu immer neuen Anforderungen konkretisiert, ist gleichfalls gewiß und mit der gleichen Entschlossenheit zu akzeptieren. In diesem Sinne ist es wahr, daß nicht das Ewige unseren Dienst verlangt, sondern das Zeitliche.« (H. Freyer) ¤ 75 Sputnik I. Modell des am 4. Oktober 1957 von den Sowjets gestarteten ersten künstlicher Erdsatelliten ¤ 76 Das sowjetische Raumschiff Lunik IV auf seinem Weg zum Mond, 2. April 1963
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¤ 77 Neunzehn Kontrollpulte für die Überwachung der Gemini-Flüge im Befehlsraum, von NASAs Mission Control Center auf Cape Kennedy
Am 8. April 1964 begannen die Vereinigten Staaten mit dem Abschuß einer unbemannten Gemini-Kapsel eine neue Versuchsreihe zur Erforschung des Weltraumes. Nebenher liefen die Vorbereitungen zu weiteren, komplizierteren Astronauten-Flügen. Das wissenschaftliche Flugprogramm für das Raumschiff Gemini V. das vom 20. bis 29. August 1965 mit den Astronauten Cooper und Gonrad die Erde einhundertundzwanzigmal umkreiste, umfaßte siebzehn Experimente. ¤ 78 Astronauten beim Training in der für diesen Zweck geneigten Gemini-Kapsel, 1964 ¤ 79 Der erste Astronaut, Major Edward White, beim freien Flug im Weltraum nach Verlassen der Kapsel Gemini IV auf ihrer dritten Umlaufbahn über dem Golf von Mexico am 3. Juni 1965
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Anhang
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Vorbemerkung Dieses Literaturverzeichnis hat den Zweck, dem Leser die Möglichkeit zu geben, sich mit besonderen Themen der Weltgeschichte in selbständigem Studium eingehender vertraut zu machen. Gelegentlich ist deshalb auch zu seiner besseren Orientierung der eine oder andere Titel mit erklärenden Zusätzen versehen worden. Es sollte betont werden, daß es nicht angestrebt war, eine fachwissenschaftliche Bibliographie, also etwa die für die einzelnen Beiträge der Propyläen-Weltgeschichte benutzte Literatur, zusammenzustellen. So sind auch nur hin und wieder Quellen oder spezielle Fachuntersuchungen berücksichtigt worden: Dieses Literaturverzeichnis hat seine Grenzen an der historischen Einzelforschung. Die Gliederung folgt der Propyläen-Weltgeschichte nach Bänden und Beiträgen. In einzelnen Fällen wurde die Literatur verschiedener Beiträge zum selben Thema in einem Abschnitt zusammengefaßt. Es ist versucht worden, die Angaben im wesentlichen auf Literatur in den Sprachen zu beschränken, deren Kenntnis heute allgemein vorausgesetzt werden kann. Nachschlagewerke und Handbücher kehren gelegentlich in verschiedenen Abschnitten wieder, sofern sie dem maßgebenden Literaturbestand zu dem Thema Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen-Weltgeschichte
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zuzurechnen sind. Die Literatur wurde zum größten Teil von den Verfassern der einzelnen Beiträge in der Propyläen-Weltgeschichte selbst zusammengestellt, in wenigen Fällen hat dies in engem Kontakt mit den Verfassern der Verlag übernommen. Er möchte an dieser Stelle den Herren Jürgen Horlemann, Berlin, Dr. Günter Kahle, Köln, Dr. Klaus Meyer, Berlin, Dr. Horst Reimann, Heidelberg, und Ferdinand Schwenkner, Berlin, für ihre sorgfältige Mitarbeit danken. Dem Wunsch einiger Autoren entsprechend wurden die Abschnitte gelegentlich weiter untergliedert. Die Redaktion lag in den Händen von Dr. Georg Meerwein. Der Verlag
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Vorgeschichte. Frühe Hochkulturen Conditio humana ALSBERG, P.: Das Menschheitsrätsel. Dresden, 1922 BINSWANGER, L.: Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins. 2. Aufl. Zürich, 1953 BRANDENSTEIN, B. von: Der Mensch und seine Stellung im All. Einsiedeln/Köln, 1947 CASSIRER, E.: An essay on man. An introduction