MONIKA EIGMÜLLER STEFFEN MAU (HRSG.) GESELLSCHAFTSTHEORIE UND EUROPAPOLITIK
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MONIKA EIGMÜLLER STEFFEN MAU (HRSG.) GESELLSCHAFTSTHEORIE UND EUROPAPOLITIK
NEUE BIBLIOTHEK DER SOZIALWISSENSCHAFTEN Die Neue Bibliothek der Sozialwissenschaften versammelt Beiträge zur sozialwissenschaftlichen Theoriebildung und zur Gesellschaftsdiagnose sowie paradigmatische empirische Untersuchungen. Die Edition versteht sich als Arbeit an der Nachhaltigkeit sozialwissenschaftlichen Wissens in der Gesellschaft. Ihr Ziel ist es, die sozialwissenschaftlichen Wissensbestände zugleich zu konsolidieren und fortzuentwickeln. Dazu bietet die Neue Bibliothek sowohl etablierten als auch vielversprechenden neuen Perspektiven, Inhalten und Darstellungsformen ein Forum. Jenseits der kurzen Aufmerksamkeitszyklen und Themenmoden präsentiert die Neue Bibliothek der Sozialwissenschaften Texte von Dauer.
DIE HERAUSGEBER Jörg Rössel ist Professor für Soziologie an der Universität Zürich. Uwe Schimank ist Professor für Soziologie an der Universität Bremen. Georg Vobruba ist Professor für Soziologie an der Universität Leipzig. Redaktion: Frank Engelhardt
MONIKA EIGMÜLLER STEFFEN MAU (HRSG.) GESELLSCHAFTSTHEORIE UND EUROPAPOLITIK SOZIALWISSENSCHAFTLICHE ANSÄTZE ZUR EUROPAFORSCHUNG
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010 Lektorat: Frank Engelhardt VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Ten Brink, Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-16280-5
Inhalt
Gesellschaftstheorie und Europapolitik. Eine Einleitung Monika Eigmüller und Steffen Mau
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I Gesellschaftstheorie: Anschlussmöglichkeiten der Europaforschung Die Rationalität des Regierens im europäischen Mehrebenensystem Richard Münch Demokratietheorie und Europäische Integration. Zur Dekonstruktion des Demos Günter Dux Die EU als entstehender Kommunikationsraum. Zum Theoriedefizit der soziologischen Europaforschung und ein Vorschlag, dieses zu verringern Klaus Eder Die europäische Gesellschaft als Ausdruck einer Fortentwicklung der Moderne? Hans-Peter Müller
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II Die territoriale Zuschreibung von Gesellschaft Räume und Grenzen in Europa. Der Mehrwert soziologischer Grenz- und Raumforschung für die Europasoziologie Monika Eigmüller
133
Raumdimensionen der Europaforschung. Skalierungen zwischen Welt, Staat und Stadt Martina Löw
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Die Konstitution von Räumen und Grenzbildung in Europa. Von verhandlungsresistenten zu verhandlungsabhängigen Grenzen Maurizio Bach
153
III EU-Integration als Sozialintegration Soziale Integration (in) der Europäischen Union Peter A. Berger
181
Die osterweiterte Europäische Union – ein optimaler Integrationsraum? Jan Delhey
194
Transnationales linguistisches Kapital der Bürger und der Prozess der Europäischen Integration Jürgen Gerhards
213
Einkommensungleichheiten in der Europäischen Union. Ihre innerund zwischenstaatliche Dynamik und ihre subjektive Bewertung Martin Heidenreich und Marco Härpfer
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Horizontale Europäisierung und Europäische Integration Sebastian Büttner und Steffen Mau
6
274
IV Institutionelle Entwicklung der Europäischen Union & europäische Sozialpolitik Der „Wohlfahrtsstaat Europa“ zwischen Wunsch und Wirklichkeit Stephan Lessenich Soziale Sicherheit durch die EU? Staatstheoretische und europasoziologische Perspektiven Heiner Ganßmann Vom Nationalstaat lernen? Möglichkeiten und Grenzen von Analogiebildungen zwischen nationaler und europäischer Sozialpolitikentwicklung Monika Eigmüller Europäische Flexicurity, eine Leitidee im Fokus einer Theorie gesellschaftlichen Wandels – Ein Essay Olaf Struck Die Interessen an der gemeinsamen europäischen Währung Peter Spahn
321
329
353
379 411
V Gesellschaftstheorie und Europapolitik Gesellschaftstheoretische Grundlagen der Europasoziologie. Die soziologische Beobachtung der Gesellschaft in der Europäischen Integration Georg Vobruba Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
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471
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Gesellschaftstheorie und Europapolitik. Eine Einleitung Monika Eigmüller und Steffen Mau
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Europa als sozialwissenschaftlicher Gegenstand
Der Prozess der Europäischen Integration stellt die Soziologie vor keine geringe Herausforderung – immerhin gilt es, ihren bis dato nationalstaatlich gefassten Gesellschaftsbegriff in seiner Geltung zu hinterfragen und Vorschläge zu seiner Revision zu unterbreiten. Lange Zeit nahm die Soziologie diese Herausforderung nicht an, wurde der Prozess der Europäischen Integration als ein bloß politischer wahrgenommen und wurden gesellschaftliche Wandlungsprozesse, die sich aus dieser zunächst politischen Integration ergaben, von der Soziologie weitgehend ignoriert. Dies lag zunächst in der Geschichte des Fachs selbst begründet. Die Soziologie ist ein Kind des Nationalstaats und begleitete seine Entstehung mit ihrer Analyse des Zusammengehens moderner Staatlichkeit und gesellschaftlicher Integration. Dabei arbeiteten zentrale Theorieansätze mit den Prämissen, dass es sich bei einer Nationalgesellschaft um ein integriertes Ganzes handelt, dass eine Gesellschaft Mitglieder hat und dass es zwischen den gesellschaftlichen Gruppen geregelte soziale Beziehungen gibt. Diese Welt der europäischen Nationalstaaten ist nun durch Prozesse der Europäischen Integration, Globalisierung und Internationalisierung in Bewegung geraten. Mit der bisherigen Fokussierung auf die Nationalgesellschaft ist die Soziologie nicht in der Lage, diese Prozesse analytisch zu erfassen (Chernilo 2008). Der Soziologie ist deshalb auch ein „methodologischer Nationalismus“ vorgehalten worden (Bayer et al. 2008; Beck 1991; Berger/Weiß 2008; Giddens 1985; Wallerstein 1983), da sie oft unhinterfragt von einer Kongruenz territorialer, politischer, kultureller, ökonomischer und gesell-
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schaftlicher Grenzen ausging und damit die Ausdehnung der Gesellschaft weitgehend mit dem staatlichen Territorium gleichsetzte (Beck 1997).1 In Reaktion darauf sind Europa, Europäisierung und Europäische Integration in der jüngsten Vergangenheit verstärkt Themen soziologischer Auseinandersetzung geworden – Jahre beziehungsweise Jahrzehnte nachdem Nachbardisziplinen wie die Politikwissenschaften oder die Rechtswissenschaften schon zentrale Paradigmen der Europaforschung entwickelt und etabliert haben. Diese ist bisher stark empirisch ausgerichtet und orientiert sich deutlich an den Theorieperspektiven vor allem der Politikwissenschaften. Deren Ansätze zur Erklärung europäischer Integration beziehen sich allerdings vor allem auf den Gegenstand der politischen und das heißt in allererster Linie der institutionellen Integration Europas (für einen Überblick vgl. Bieling/Lerch 2006). Als Akteure werden in diesen Theorieangeboten vor allem politische und administrative Eliten vorgestellt. Dies hatte seine Berechtigung, solange das Projekt Europa die Gesellschaften selbst kaum betraf beziehungsweise Europa von den Bevölkerungen als Adressat sozialer und auch politischer Ansprüche kaum wahrgenommen wurde. Im Zuge des fortschreitenden Integrationsprozesses ändert sich aber genau dies – und so muss in einer aktualisierten Theorie der Europäischen Integration auch die Analyseperspektive erweitert werden. Genau dies kann eine soziologische Perspektive bieten, indem sie den Fundus sozialwissenschaftlicher Gesellschaftstheorie öffnet und die Möglichkeiten (und auch Grenzen) der Nutzung dieser Theorieangebote für den Gegenstand der Europäischen Integration prüft. Allerdings wird der Gegenstand der Europäischen Integration von der Gesellschaftstheorie bislang nur zögerlich thematisiert und in seinem Anregungs- und auch Irritationspotential kaum erkannt. Eine umfassende soziologische Beschreibung der gesamtgesellschaftlichen Wirkungszusammenhänge, das heißt, wie der wirtschaftliche, politische und soziale Einigungsprozess hinsichtlich einer europäischen Gesellschaftsbildung wirkt, ist immer noch ein „Desiderat der Forschung“ (Bach 2000a: 14). Ansinnen dieses Bandes ist es daher, soziologische Gesellschaftstheorie mit empirischer Europaforschung zu verknüpfen und nach den Möglichkeiten einer hieraus entstehenden Soziologie der Europäischen Integration zu fragen. Umstritten ist dabei allerdings nach wie vor, ob sich Europa als Ganzes überhaupt die Attribute einer Gesellschaft zuschreiben lassen kann. So 1
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Dieses Modell des territorial wie sozial abgeschlossenen Nationalstaats ist auch als „Container-Modell“ bezeichnet worden (Agnew/Corbridge 1995).
konstatiert etwa Maurizio Bach (2008: 11f.) vor dem Hintergrund einer stark politisch-bürokratisch vorangetriebenen Europäisierung: „Mit Bezug auf Europa erscheint es (…) wenig sinnvoll, noch von Gesellschaft im Sinne eines politisch integrierten, die innergesellschaftliche Konfliktaustragung gewährleistenden und auf gemeinsam geteilten Werten basierenden Gebildes zu sprechen.“ Zentrale Leistungen der gesellschaftlichen Binnenintegration werden immer noch durch die Mitgliedstaaten und ihre Institutionen erbracht. Die Analogie zwischen der Nationalstaatsbildung und der Europäisierung im Sinne einer Staatswerdung Europas ist oft überstrapaziert worden. Nicht von ungefähr gibt es eine Lagerbildung zwischen denen, die Europa die gesellschaftlichen Qualitäten absprechen, und denen, die diese schon zu erkennen glauben. Die Skeptiker führen an, dass in Europa weiterhin vor allem nationale Identitäten, Egoismen und Schließungen vorherrschend sein werden. Es sei kein kollektives Subjekt erkennbar, welches auch nur annähernd die Rede von einem europäischen Volk oder einer europäischen Gesellschaft rechtfertigen würde (Kielmansegg 1996; Dewandre/Lenoble 1994; Reese-Schäfer 1999; Stråth 2000). Die Schwierigkeiten einer weitergehenden Integration ließen sich vor allem auch auf den „Erfolg“ der Nationalstaaten zurückführen. Die Nationalstaaten besäßen eine starke Selbstbehauptungsfähigkeit und könnten konkurrierende Ansprüche auf die Ausübung politischer Funktionen abwehren. In zentralen Bereichen, so der Außenpolitik, der Sozialpolitik und der Bildungspolitik, sei der Nationalstaat die wichtigste Instanz geblieben. Zu stark seien die Beharrungskräfte der nationalen Traditionen und institutionellen Bestände (Offe 2001, 2003). Mehr noch, eine Europäische Union, welche weitere Kompetenzen an sich zieht, stehe in der Gefahr, ein abgekoppeltes und technokratisches Gebilde zu werden, welches über keine entsprechende soziale Basis verfüge. Damit sei ein Missverhältnis zwischen Eliten, die auf Integration setzen, und den breiten Schichten der Bevölkerung vorprogrammiert (Haller 2008). Die Optimisten sind dagegen der Ansicht, dass wir in Europa, ähnlich wie bei der Herausbildung der Nationalstaaten, eine der politischen Integration nachgeordnete soziale Integration beobachten können. Hier wird nicht selten im Sinne neofunktionalistischer Integrationstheorien argumentiert, wonach die Integration im politischen und wirtschaftlichen Bereich auch Integrationsschritte in anderen Bereichen nach sich ziehe, es also Spill-overEffekte auch in Richtung gesellschaftlicher Vergemeinschaftung gäbe (Haas 1968; Keohane/Nye 1975). Auch die Nationalstaaten hätten nicht auf einem 11
vorpolitischen Gemeinschaftsgefühl aufgebaut, sondern nationale Identität und Gefühle der Zugehörigkeit hätten sich erst infolge der politisch initiierten Nationalstaatenbildung entwickelt (vgl. Anderson 1998; Wagner/Zimmermann 2003). Politische Zentralisierung, die Schaffung nationaler Institutionen, demokratische Teilhabe, nationale Symbole, ein eigenständiger Bildungskanon, territoriale Abgrenzung und Integrität – dies alles seien Entwicklungen gewesen, die erst dazu geführt haben, dass sich nationale Gesellschaften mit den ihnen eigenen Sozialstrukturen und Formen der Binnenkommunikation entwickelt haben. Daher hänge die Frage nach der europäischen Gesellschaft eng mit der Entwicklung des europäischen Institutionensystems und den weiteren Schritten der Integration zusammen. Gemäß dieser Perspektive wäre ein „Europe-building“ analog zum „Nation-building“ zumindest nicht ausgeschlossen (Lepsius 2003, 1999). So ließen sich parallele Entwicklungen mit der Gründung der USA feststellen, etwa die sukzessive Erweiterung und die Modalitäten des Beitritts, die Rolle der Markthomogenisierung nach innen, die gemeinsame Währung und die Rolle der Gerichte (vgl. Le Galès/Zagrodzki 2008). Wenn sich die Europäische Union auf dem Weg hin zu einem föderalen Staat befände, so ließe sich annehmen, würden sich auch die Orientierungen und Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger langfristig verschieben. 2
Europäische Gesellschaftsbildung in komparativer Perspektive?
Problematisch an dieser Diskussion ist zum einen ihr stark politisch-normativer Impetus, zum anderen die Tatsache, dass zumeist mit Projektionen eines zukünftigen Europas argumentiert wird. Dem kann und sollte die Soziologie einen stärker analytischen Zugang entgegenstellen. Zwei unterschiedliche Paradigmen können derzeit in der soziologischen Europaforschung identifiziert werden: Das erste nimmt eine komparative Perspektive ein und zielt auf den Vergleich unterschiedlicher europäischer Nationalgesellschaften, das zweite Paradigma hingegen fokussiert auf Europa als eine Formation „sui generis“ und interessiert sich im Sinne der oben aufgeworfenen Fragen für die gesellschaftlichen Qualitäten Europas insgesamt (vgl. Trenz 2008). Das komparative Paradigma beantwortet die Frage nach einer europäischen Gesellschaft mit Verweis auf die Gemeinsamkeiten der europäischen Nationalgesellschaften (für einen Überblick vgl. Kaelble 2005). Darauf 12
gründet sich etwa die Rede von der europäischen Industriegesellschaft, vom europäischen Sozialmodell oder von der spezifisch europäischen Moderne (vgl. Crouch 1999; Therborn 1995; Flora 2008; Mau/Verwiebe 2009). Trotz aller Unterschiedlichkeit wird den europäischen Gesellschaften im Hinblick auf ihre Basisinstitutionen, ihre Sozialstrukturen und ihre grundlegenden Werte eine „Wahlverwandtschaft“ unterstellt, wenn man zum Beispiel auf Familienstrukturen, Arbeitsmärkte, Staat-Markt-Beziehungen oder Wertvorstellungen schaut (vgl. Kaelble 1997, 2005). Vor dem Hintergrund dieser historischen Gemeinsamkeiten wird gefragt, ob im Zuge des Europäisierungsprozesses diese Gemeinsamkeiten in den vergangenen Jahrzehnten zunehmen oder ob die Unterschiede zwischen den europäischen Nationalgesellschaften infolge der politischen und wirtschaftlichen Integration Europas zunehmend nivelliert werden (vgl. Bach 2006; Kaelble 2005: 302ff.). Denn einerseits wurden direkt Vereinheitlichungen unterschiedlicher Institutionen und Ordnungen durchgesetzt (etwa im Hochschulbereich die Angleichung von Ausbildungswegen und Abschlüssen, auf dem Arbeitsmarkt die Angleichung von Schutzstandards oder ganz allgemein die Angleichung nationaler Verwaltungsstrukturen) und andererseits kann die durch den freien Binnenmarkt etablierte Konkurrenz zwischen den Mitgliedstaaten zu einer quasi automatischen Abschwächung von Unterschieden führen. Die grundlegende Frage dieser Perspektive ist, ob wir im Hinblick auf zentrale gesellschaftliche Dimensionen Prozesse der Konvergenz oder der Divergenz beobachten können (Mau 2004). Die Abmilderung innereuropäischer Unterschiede wird dabei oft implizit (und manchmal auch explizit) als Voraussetzung für die Herausbildung von Gesellschaft angenommen. Aus dieser Perspektive lassen sich auch die Unterschiede dieser europäischen Gesellschaft gegenüber anderen, nicht-europäischen Gesellschaften untersuchen und darüber Ableitungen über den Grad der Vereinheitlichung im Innern der Union treffen. Göran Therborn (1997) hat einmal pointiert gefragt, ob „Europa als das Skandinavien der Welt“ bezeichnet werden kann und meint damit, ob Europa im Vergleich zu anderen Regionen und Gesellschaften eine ähnliche Stellung bekäme wie Skandinavien für Europa – mit spezifischen Institutionen, einer spezifischen Sozialstruktur und spezifischen politischen Leitbildern. Er argumentiert, dass es kaum wahrscheinlich ist, dass Europa sich als militärisch-politische oder als wirtschaftliche Weltmacht profilieren kann. Allerdings beschreibt er das Europäische Modell als bis heute einzigartig, was die Kombination aus wirtschaftlichem Erfolg und 13
durch sozialpolitische Innovation gewährleistete soziale Integration angeht. Sowohl die USA als auch die asiatischen Wachstumsländer wie China und Indien sind bisher nicht in der Lage gewesen, ihre eingeschlagenen Wachstumspfade mit einer ausgeglichenen sozialen Entwicklung zusammenzubringen. Die Vergrößerung der sozialen Ungleichheit und die Zunahme sozialer Spannungen sind vor allem deshalb zu beobachten, weil die Breite der Bevölkerung oft nicht am Wachstum beteiligt wird und erprobte Institutionen des sozialen Ausgleichs fehlen. Auf dieser Linie kann Europa anderen Regionen der Welt durchaus etwas anbieten. Das „Skandinavische“ an Europa wäre ein interventionistischer Wohlfahrtsstaat und ein effektives System der Umverteilung und des sozialen Ausgleichs (vgl. Kaelble/Schmid 2004; Giddens 2007). Die europäischen Gesellschaften zeichnen sich weiterhin dadurch aus, dass sie organisiert und intern hochgradig integriert sind, was sich beispielsweise in den Beziehungen zwischen der Sozialstruktur und dem politischen System, in den Arbeitsbeziehungen und dem Kollektivvertragssystem, der Rolle sozialer und religiöser Verbände oder der Organisation sozialer Großkollektive spiegelt. Europa verfügt über eine „strukturierte Diversität“ (Crouch 1999), also über eine geordnete und begrenzte Vielfalt von kulturellen Traditionen, Werten, Ordnungsmodellen, institutionellen Architekturen und sozialen Strukturen (Müller 2007). Im Gegensatz dazu wird etwa die Gesellschaft der USA in ihrer Struktur als komplexer, heterogener und unstrukturierter beschrieben (vgl. etwa Martinelli 2008). Weiterhin wird in der Literatur der Aspekt der spezifisch europäischen Werte hervorgehoben, wie etwa die Orientierung auf universalistische und überstaatliche Normen. Demnach sind Europäer statt auf Unilateralismus stärker an einer multilateralen Politik interessiert und sehen die Notwendigkeit globaler Verantwortungsübernahme. Auch bei anderen Werteeinstellungen können die Europäer – zumindest in modernisierungstheoretischer Perspektive – als Vorreiter angesehen werden, so beim Wandel der Geschlechterrollen, Toleranz gegenüber Homosexuellen und den positiven Einstellungen zum Umweltschutz (Inglehart 1998). In einem prominent platzierten Artikel haben Jürgen Habermas und Jacques Derrida (2003) spezifisch europäische Werte im Kontrast zur politischen Theologie des Islamismus und des christlichen Fundamentalismus, wie er in den USA Gewicht gewonnen hat, definiert. Sie begreifen die aus leidvollen Erfahrungen erwachsene Säkularisierung, die Domestizierung staatlicher Gewaltaus14
übung, die Rolle von Recht und Demokratie und die Verpflichtung auf soziale Gerechtigkeit gegen ein individualistisches Ethos der Leistungsgerechtigkeit als zentrale Bestandteile des europäischen Wertehaushalts. Als weitere typisch europäische Werte werden individuelle Freiheit, Toleranz, Innerlichkeit und Selbstverwirklichung genannt (vgl. Müller in diesem Band; Joas/Wiegand 2005). 3
Europa als Gebilde „sui generis“?
Allerdings ist das alleinige Verschwinden von Unterschieden beziehungsweise die Besinnung auf Gemeinsamkeiten zwischen verschiedenen nationalen Gesellschaften noch kein Beleg für die Herausbildung einer europäischen Gesellschaft. Die „sui generis“-Perspektive geht über den Vergleich hinaus und schreibt Europa eine eigenständige Gesellschaftsqualität zu beziehungsweise fragt danach, ob Europa diese besitzt oder besitzen kann. Dabei wird der von der Europäischen Integration ausgehende Integrationssog in den Mittelpunkt gestellt und es wird gefragt, welche Verbindungen sich zwischen den Nationalgesellschaften und den europäischen Institutionen (vertikale Integration) oder zwischen den unterschiedlichen Nationalgesellschaften (horizontale Integration) ergeben (Beck/Grande 2004). Die bisherigen Forschungen sind stark von den politikwissenschaftlichen Arbeiten zur Integration inspiriert, vor allem von den neofunktionalistischen Arbeiten von Ernst B. Haas (1968), der die politische und ökonomische Integration als zentrale Antriebskräfte auch einer gesellschaftlichen Integration ansah. Grundannahme ist die langfristige Transformation nationalgesellschaftlicher Strukturen in Richtung europäischer Vergesellschaftung als Folge der politischen und ökonomischen Vergemeinschaftung, wobei hier allerdings das Gesellschaftliche vor allem als Funktion des Politischen dargestellt wird, was aus soziologischer Perspektive unbefriedigend erscheinen muss. Der „blind spot“ (Trenz 2008: 3) der bisherigen Integration Studies besteht in der Tat darin, dass stark auf die institutionell-politische Dynamik der Integration abgehoben wird, weniger auf die soziale Dynamik. Genau hier können soziologische Ansätze eigenständige Sichtweisen zur gesellschaftlichen Dynamik und zum Zusammenspiel von nationaler Desintegration und europäischer Integration einbringen (vgl. Münch 2001). Differenzierung und gesellschaftliche Arbeitsteilung sowie der Aufstieg des modernen Individualismus 15
sind beispielsweise in der Durkheim’schen Theorie zentrale Erklärungen der gesellschaftlichen Entwicklung, die auch im europäischen Kontext an Gewicht gewinnen können. Wenngleich die Frage, was Europa eigentlich ist, nach wie vor als eine offene gelten muss, so zeigt sich doch zunehmend deutlich, dass durch den politischen Prozess der Europäischen Integration auch ein neuer Raum der Vergesellschaftung geschaffen wird, der bisher nationalstaatlich besetzte Handlungsbereiche neu definiert. Die Europäisierung ist somit etwas grundlegend anderes als die Globalisierung. Europa, oder spezieller die Europäische Union, tritt als neue Aggregationsebene in Erscheinung, die zwar die Nationalstaaten nicht ablöst, aber neue Formen der vertikalen und horizontalen Verflechtung hervorbringt (vgl. Müller 2007; Müller in diesem Band). Dabei liegt Europa zwischen der mit Begriffen wie Globalisierung und Weltgesellschaft umschriebenen „globalen“ Ebene und der Nationalgesellschaft beziehungsweise dem Nationalstaat. Während ein Teil der Globalisierungsforschung davon ausgeht, dass sich die Möglichkeiten, durch Regierungshandeln auf die Verteilung von Wohlstand und Lebenschancen Einfluss zu nehmen, drastisch verkleinern, interessiert sich die Europäisierungsforschung für eine neue Gestaltungsebene zwischen Nationalstaat und Weltgesellschaft (Bach et al. 2006; Beck/Grande 2004; Outhwaite 2008; Rumford 2008). Die EU ist heute nicht nur ein intergouvernementales Arrangement zur Harmonisierung von Marktordnungen, sondern ein „Herrschaftsverband eigener Prägung“ (Lepsius 2000b: 201) mit starken sozialen Folgewirkungen für die Lebens- und Wohlfahrtschancen der Menschen in den Mitgliedsländern. Im Europäisierungsprozess treten einstmals tendenziell voneinander isolierte Bevölkerungen miteinander in Kontakt, Grenzen werden deinstitutionalisiert, Waren, Dienstleistungen, Kapital und in zunehmendem Maße auch Personen können frei zirkulieren, Arbeitsmärkte „europäisieren“ sich, Bildungsinstitutionen werden vereinheitlicht und die Europäische Union entwickelt sowohl regulative als auch redistributive Interventionsformen. Europäische Integration bedeutet darüber hinaus nicht nur supranationale Institutionenbildung, sondern auch und in Folge davon „Verflechtung, gegenseitige (…) Abhängigkeit, Gemeinschaftsbildung und Solidarität“ (Immerfall 2000: 487). Deshalb ist auch von der „Europäisierung nationaler Gesellschaften“ (Bach 2000b) gesprochen worden.
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Perspektiven der Europasoziologie
Nimmt man diese Beobachtungen ernst, dann kann es der soziologischen Bestimmung Europas nicht ausschließlich um die Frage Konvergenz versus Divergenz und die Besonderheiten der europäischen Gesellschaften im Vergleich zu anderen Ländern und Regionen gehen. Will man die gesellschaftlichen Qualitäten Europas bestimmen, muss man darüber hinausgehen und den Blick auf die Integration selbst und ihre gesellschaftlichen Folgen richten. Allerdings steht der soziologische Beobachter nun vor der Frage, welche gesellschaftlichen Qualitäten von Relevanz sind, und wie sie letztlich bestimmbar sind. In der bisherigen Diskussion um Gesellschaftskonzeptionen jenseits von Nationalgesellschaften wird nicht selten mit einem Gesellschaftsbegriff operiert, der von bestimmten Inhalten geprägt ist und zur Formulierung von Zielvorstellungen herangezogen wird, die anschließend mit den vorfindbaren Realitäten abgeglichen werden. Gesellschaft ist hierbei nicht selten eine normativ aufgeladene Beziehungskonstellation, umschrieben mit Begriffen wie Vertrauen, Solidarität, Homogenität, Abwesenheit von Konflikten etc. (vgl. beispielsweise Offe 2001). Das an die Suche nach diesen Kategorien anknüpfende, wenig überraschende Urteil, wonach es keine europäische Gesellschaft gäbe, ist nun allerdings in Hinblick auf das Ziel der Theoriebildung wenig weiterführend (vgl. Vobruba in diesem Band). Für eine Soziologie der Europäischen Integration steht die Aufgabe, sich von der herkömmlichen Vorstellung zu lösen, in sich kongruente Räume und Mitgliedschaften müssten die Grundlage für Gesellschaft bilden. Die wirkliche Herausforderung besteht also darin, den Prozess der gesellschaftlichen Europäisierung zu erfassen und abzubilden, obwohl Europa sich im Hinblick auf die politische Struktur und die räumliche und soziale Ordnung von den nationalen Gesellschaften grundlegend unterscheidet. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang erstens die nach wie vor bestehende Variabilität der Außengrenzen Europas (Bach in diesem Band; Bös/Zimmer 2006; Zielonka 2002), also die noch immer offene Frage, wer zu Europa gehört und wo Europa endet (Beck/Grande 2004). Auch zukünftig ist nicht zu erwarten, dass sich die EU zu einem eindeutig definierten, sozio-politischen Herrschaftsverband mit klar demarkierten territorialen, politischen, sozialen und ökonomischen Grenzen entwickeln wird. Vielmehr werden aufgrund der besonderen politischen und sozialen Konfiguration der Europäischen Union ihre Außengrenzen unschärfer sein als die 17
des klassischen Nationalstaats. Deutlich wird dies vor allem durch die „konzentrischen Grenzstrukturen“ (Bös 2000: 438), hervorgebracht durch unterschiedliche Integrationsgrade im Innern und spezifische Assoziationsformen mit Ländern außerhalb der Europäischen Union. Die EU stellt sich so als ein soziales Gebilde dar, das neben allen Befestigungstendenzen an seinen Rändern „ausfranst“ und sich hinsichtlich seiner Grenzen flexibel zeigt. Somit ist davon auszugehen, dass für diese soziale Formation nicht das westfälische Modell einer straffen Föderation zum Tragen kommt, welches auf einer scharfen Trennung zwischen Innen und Außen aufbaut. Vielmehr entwickelt sich eine neo-mittelalterliche Struktur, welche sich weniger durch zementierte Außengrenzen, Zentralisierung und hierarchische Organisation auszeichnet, sondern durch überlappende Autoritäten, geteilte Souveränitäten und unscharfe Grenzen (vgl. Wæver 1997; Zielonka 2001). Dies bedeutet im Vergleich zu nationalstaatlichen Grenzen ein Mehr an Variabilität und weniger Einheit und Homogenität (Bach 2003). Und daran zeigt sich, dass die Frage der finalité eine sehr viel weiter reichende ist, als nur die nach einer Ausweitung des europäischen Integrations- und Mitgliedschaftsraums; die Frage der Grenzziehung ist vielmehr die Frage, für welche Union man sich entscheidet, von welcher Gestalt diese Europäische Union ist (Habermas 2008: 85; Kocka 2005: 275). Damit in bedeutsamem Zusammenhang stehend ist zweitens der Mehrebenenbezug politischer und sozialer Loyalitäten, Zugehörigkeiten und Identitäten innerhalb des gesellschaftlichen Europas: War der Nationalstaat in der Lage, eindeutige Inklusionen und Exklusionen vorzunehmen, so ist dies im europäischen Raum nicht möglich. Europa tritt einerseits als ergänzender Inklusionsraum zum schon vorhandenen nationalstaatlichen Mitgliedschaftsraum in Erscheinung, andererseits ist die politische Ordnung selbst auf die Verteilung von Handlungskompetenzen auf verschiedenen Ebenen angelegt. Das politische System der Europäischen Union organisiert sich durch die Aufteilung und Verschachtelung unterschiedlicher Handlungsebenen, so der europäischen, der nationalstaatlichen und der subnationalen Ebene (Hooghe/Marks 2001). Auf der gesellschaftlichen Ebene findet dies seine Entsprechung im Hinblick auf Gefühle von Verbundenheit und Solidarität oder Fragen der Identitätszuordnung, die deutlich weniger exklusiv ausgerichtet sind und unterschiedliche Bezugskollektive und Reichweiten miteinander verbinden müssen.
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Europa ist damit insgesamt weitaus unübersichtlicher und verschachtelter als nationalstaatliche Gesellschaften. Die Implikationen für den Gesellschaftsbegriff sind enorm, da Diversität und Variabilität als die zentralen Eigenschaften des europäischen Gebildes ausgemacht werden können. Es braucht also einen Begriff des Sozialen, der diese Qualitäten aufnehmen kann und nicht zu stark auf normative Zielgrößen wie Homogenität, Binnenintegration und Kongruenz politischer, sozialer und territorialer Räume bezogen ist. Ein solcher Begriff muss offen sein für unterschiedliche Konstellationen und Kontexte, in denen Gesellschaft hergestellt wird. Konkret geht es um Fragen der Wechselwirkungen zwischen den nationalen Gesellschaften, wie etwa neue Konflikt- und Spaltungslinien, welche durch einen ausschließlich nationalstaatlichen Bezug zur Zurechnungseinheit Nationalstaat nicht mehr verstanden werden können; die Herausbildung von formellen und informellen Organisationen und kollektiven Akteuren unterhalb der Ebene der europäischen Institutionen; die Verdichtung der grenzüberschreitenden Austauschbeziehungen zwischen den Menschen und schließlich die zunehmende Rolle von Europa in den Köpfen der Menschen, was auch als „subjektive Europäisierung“ bezeichnet werden kann (vgl. hierzu Bach 2000a; Heidenreich 2006; Heidenreich/Härpfer in diesem Band, 2008; Beck/Grande 2004; Delhey 2005; Gerhards 2008; Gerhards/Lengfeld 2008; Haller 1988, 2008; Immerfall 2006; Mau 2005; Mau/Verwiebe 2009; Münch 2001, 2008; Outhwaite 2008; Rumford 2008; Vobruba 2001, 2005). Eine Soziologie der Europäisierung kann prinzipiell an drei Ebenen ansetzen: der Makro-, der Meso- und der Mikroebene (vgl. Trenz 2008: 9/10). Alle drei Ebenen sind letztlich auf neue Formen von Wechselwirkung und Verflechtung zwischen den europäischen Nationalgesellschaften ausgerichtet. Auf der ersten Ebene sind die tief greifenden Veränderungen vor allem mit Blick auf die zentralen makrogesellschaftlichen Strukturkomponenten analysiert worden, wie etwa Fragen der europäischen beziehungsweise internationalen Arbeitsteilung, der Veränderung des politischen Systems, der Rolle des Rechts oder des Entstehens neuer Spaltungslinien und Disparitäten (zum Beispiel Münch/Büttner 2006; Münch 2008; Bach 2008; Heidenreich/ Härpfer in diesem Band). Auf der Mesoebene kommen Fragen der Entstehung transnationaler zivilgesellschaftlicher Strukturen, einer europäischen Öffentlichkeit oder neuer zivilgesellschaftlicher, administrativer und politischer Netzwerkstrukturen in den Blick (vgl. etwa Eder 2004; Trenz 2002; Imig/Tarrow 2001). Auf der Mikroebene lässt sich Europäisierung als Ent19
stehung eines europäischen Erfahrungsraums und die Zunahme an transnationalen Interaktionen verstehen (Kaelble 1987, 2005; Favell/Recchi 2009; Gerhards 2008; Mau/Verwiebe 2009; Büttner/Mau in diesem Band). Zudem sollte thematisiert werden, inwieweit Europa von den Menschen selbst als relevanter Raum sozialer Zugehörigkeit und Vergesellschaftung wahrgenommen wird (Vobruba 2009). Im Zusammenspiel dieser unterschiedlichen Ebenen ist es schließlich möglich, die Konturen eines gesellschaftlichen Europas genauer zu umreißen und auch zu fragen, ob es in Europa zu Formen einer Integration ohne Gesellschaft (Bach 2008) oder genauer gesagt zu einer systemischen Integration ohne Sozialintegration kommt, oder wie und wo Europa sich auch als Sozial- und Handlungsraum konstituiert. Das schließt durchaus mit ein, dass sich unterschiedliche Teilbereiche und Bevölkerungssegmente sehr unterschiedlich darstellen, so durch die Vergemeinschaftung einiger institutioneller Bereiche und die nach wie vor nationalstaatliche Gestaltung anderer oder durch die Orientierung einkommens- und bildungsstarker Schichten auf Europa und eine nach wie vor lokale oder nationale Fixierung von bildungsund einkommensschwachen Gruppen und Menschen aus besonders strukturschwachen Regionen (Lahusen 2008). Solche Divergenzen und Spannungen sind letztlich der Gegenstand eines empirischen Forschungsprogramms, welches sich für die gesellschaftliche Dynamik der Europäisierung interessiert. Integration tritt neben Desintegration, Solidarität neben Konflikt. Die Verwendung eines hinreichend offenen und normativ nicht überhöhten Gesellschaftsbegriffs ist für ein solches Unterfangen ein zentraler Ausgangspunkt, um überhaupt Entdeckungen von Gesellschaftsbildung jenseits des Nationalstaats zuzulassen. 5
Aufbau des Bandes
Der vorliegende Band geht auf eine Tagung aus Anlass des 60. Geburtstags von Georg Vobruba zurück, die gemeinsam vom Institut für Soziologie der Universität Leipzig und der Bremen International Graduate School of Social Sciences (BIGSSS) der Universität Bremen und der Jacobs University veranstaltet wurde. Georg Vobruba hat der soziologischen Europaforschung mit Pioniergeist und intellektuellem Gespür neue Türen geöffnet, was auch
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durch die Beiträge in diesem Band dokumentiert wird. Der Band ist in vier größere Teile gegliedert, die sich spezifischen Schwerpunkten widmen. Er beginnt mit einer Verknüpfung unterschiedlicher Theorieperspektiven mit dem Gegenstand Europa und Fragen der angemessenen Konzeptionalisierung europäischer Formen der Vergesellschaftung. Im ersten Beitrag geht Günter Dux der Diskussion um das vielerorts konstatierte europäische Demokratiedefizit nach und argumentiert, dass die Debatte hauptsächlich an einem falschen Verständnis des Bedingungsverhältnisses von Demokratie und Demos krankt. Ausgehend hiervon diskutiert Dux die Notwendigkeit der Unterscheidung von Gesellschaft und Gemeinschaft und den Gewinn, der nicht nur der Europaforschung aus einem trennscharfen Gesellschaftsbegriff erwächst. Insbesondere der vielfach beschworene Zusammenhang von Nation, kollektiver Identität und gelebter Solidarität als sichtbarer Widerspruch zu jeder Möglichkeit von Europäisierung wird von ihm mit Verweis auf die legitimatorischen Grundlagen politischer Entscheidungen jenseits solcher Identitätsprinzipien hinterfragt. Klaus Eder diskutiert in seinem Beitrag die Frage nach einer entstehenden europäischen Öffentlichkeit, beziehungsweise nach einem entstehenden europäischen Kommunikationsraum, und verweist auf die Möglichkeiten, die auch jenseits einer „narrativen Hegemonisierung“, wie wir sie aus dem Nationalstaat kennen, in der Herausbildung gemeinsamer europäischer Narrative, wie sie in Europa zu beobachten sind, liegen. Hans-Peter Müller schließlich beschreibt in seinem Beitrag die entstehende europäische Gesellschaft als ein Gebilde sui generis, eine sich in strukturierter Diversität, also in geordneter, aber begrenzter Vielfalt entfaltende Realität. Befördert vom politischen Integrationsprozess entsteht jenseits von nationalen Gesellschaften und der Weltgesellschaft eine europäische Gesellschaft. Genau um dieses Spannungsverhältnis geht es auch im zweiten Teil des Bandes, in dem nach der territorialen Zuschreibung von Gesellschaft gefragt wird. Der Prozess der Europäischen Integration hat vor Augen geführt, dass für die soziologische Beschreibung von Gesellschaften die Perspektiven des Raums und der Territorialität von Gesellschaft ganz entscheidend sind. Das vielfach bemühte Containermodell der Gesellschaft hat diese oft nicht thematisiert, da die räumliche Ausdehnung von Gesellschaft als gegeben hingenommen wurde. Martina Löw verweist auf diese Raumdimension der Europaforschung, die insbesondere zwei Raumfiguren kennt: den vernetzten Raum der Staaten einerseits und den territorialen Raum als Container der 21
Staaten andererseits. Dass dies für die Erforschung sich entwickelnder europäischer Gesellschaftsräume unbefriedigend ist und nach neuen Formeln verlangt, ist offenkundig. Maurizio Bach beschäftigt sich mit der Grenzbildung in Europa und fragt danach wie sich das europäische Raum- und Grenzensystem transformiert. In Europa finden wir ein komplexes, multidimensionales und asymmetrisches territorial-politisches Gefüge vor, welches sich vom dominierenden Schließungsmodell des Nationalstaates unterscheidet. Da die EU-Grenzen geographisch unterbestimmt und verhandlungsabhängig sind, eignet sich das Territorialprinzip auch nicht als Grundlage für die Ausbildung einer supranationalen oder transnationalen kollektiven Identität. Der dritte Teil betrachtet die Europäische Integration unter der Maßgabe von Sozialintegration. Findet diese innerhalb Europas statt und ersetzt sie bereits verschiedene nationale Integrationsmuster? Jan Delhey stellt hier zunächst die Frage nach dem optimalen Integrationsraum. Was ist denn die optimale geographische Ausdehnung der EU? Ist es tatsächlich die osterweiterte Union? Dem widerspricht die Tatsache, dass das Integrationsniveau der EU nach der Osterweiterung insgesamt rückläufig ist. Die grundsätzliche Frage ist hier, ob Systemintegration tatsächlich notwendigerweise auf Sozialintegration angewiesen ist. Jürgen Gerhards greift diese Frage schließlich auf, wenn er in seiner Studie darauf verweist, dass schon aufgrund eines Mangels an Fremdsprachenkenntnissen ein Großteil der Bürgerinnen und Bürger Europas vom Europäisierungsprozess ausgeschlossen ist. Ist die EU also doch nur ein Elitenprojekt? Martin Heidenreich und Marco Härpfer stellen in ihrem Beitrag die Frage nach der transnationalen Strukturierung sozialer Ungleichheit und zeigen, dass infolge der Europäischen Integration auch die Ungleichheiten zwischen den einzelnen Nationalstaaten zurückgehen, also auch in diesem Bereich eine Homogenisierung des europäischen Felds stattfindet. Auf der Ebene der Wahrnehmungen durch die Bürgerinnen und Bürger Europas ist zudem zu beobachten, dass der europäische Rahmen inzwischen zur entscheidenden Bezugsgröße von (Un-)Gleichheitsmustern wird. Dies fördert einmal mehr zutage, dass es immer weniger sinnvoll wird, Sozialstrukturen im nationalen Rahmen zu untersuchen. Vielmehr müssen viele verschiedene soziale Räume in die Analyse einbezogen werden, muss ein multipler Raumbezug die Untersuchungen leiten.
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Zu diesem Ergebnis kommen schließlich auch Steffen Mau und Sebastian Büttner, die als wesentlichen Indikator europäischer Integration die horizontale Verflechtung Europas identifizieren. Sie untersuchen daher in ihrer Studie das Ausmaß einer solchen horizontalen Europäisierung im gesellschaftlichen Alltagsleben und diskutieren mögliche Folgen auf der Ebene sozialer Wahrnehmungen und Einstellungen. Die Frage nach dem Verhältnis von Systemintegration und Sozialintegration behandeln schließlich auch die Beiträge des vierten Teils des Bandes, in dem die europäischen Institutionenbildungen und insbesondere die sozialpolitischen Implikationen der Europäisierung im Vordergrund des Interesses stehen. Die Frage nach den Möglichkeiten einer Europäisierung von Sozialpolitik beschäftigt die ersten beiden Beiträge des Abschnitts: Während Heiner Ganßmann in seinem Beitrag zu der These kommt, dass die EU in sozialpolitischer Hinsicht auch zukünftig nicht mehr leisten wird, als ursprünglich in der EWU angelegt war, die EU somit zwar ein Sicherheitsprojekt ist, aber eben keines der sozialen Sicherheit – und sie dies auch nicht werden wird, schließt Monika Eigmüller eine solche Entwicklung in ihrem Beitrag nicht aus. Mit Verweis auf das Potential historisch-soziologischer Forschung für die Analyse des europäischen Integrationsprozesses verweist sie darauf, dass die Frage nach den Möglichkeiten einer Europäisierung von Sozialpolitik durchaus noch offen ist. Olaf Struck widmet sich schließlich ganz konkret einem wesentlichen Feld europäischer Sozialpolitik und versucht, den europäischen Flexicurity-Ansatz gesellschaftstheoretisch zu verorten, indem er auf das Potential dieser Politik von Flexibilität und Sicherheit für den gesellschaftlichen Integrationsprozess verweist. Und schließlich fragt Peter Spahn nach den Interessen an einer gemeinsamen europäischen Währung und stellt fest, dass das mangelnde europapolitische Bewusstsein einer Verbesserung der ökonomischen Funktionsweise der EWU im Wege steht – ergo auch die institutionelle Entwicklung Europas letztlich auf eine politische und auch gesellschaftliche Integration angewiesen ist. Abschließend nimmt Georg Vobruba die grundsätzliche Frage nach der europäischen Gesellschaftsbildung wieder auf. Er nimmt die Europäische Integration zum Anlass, eine genuin soziologische Gesellschaftstheorie zu entwickeln. Dies, so Vobruba, ist allerdings nur dann möglich und fruchtbar, wenn die Soziologie zunächst ihren Gesellschaftsbegriff und dessen Verwendung in der Forschungspraxis überdenkt und ihn insbesondere von kategorialen Präjudizen befreit. Vobruba schlägt vor, den Integrationspro23
zess aus der Perspektive der Beobachtung des Integrationsprozesses durch die in der EU lebenden und durch den Integrationsprozess auf unterschiedliche Weise mittelbar und unmittelbar betroffenen Menschen zu analysieren. Schließlich vermag es erst eine soziologische Annäherung an den Gegenstand der Europäischen Integration, die mit der Entwicklung einer neuen Perspektive auf Gesellschaft einhergeht, das Anregungs- und auch Irritationspotential, das die Europäische Integration für die soziologische Gesellschaftstheorie bietet, erfolgreich zu nutzen. Um den kommunikativen Charakter der Tagung zu erhalten, haben wir die Diskutanten der Tagung gebeten, in Reaktion auf die Vorträge und Diskussionen eigenständige kleinere Beiträge zu verfassen, die in die jeweiligen Abschnitte einführen, sie einordnen und mit eigenen Perspektiven bereichern. Richard Münch führt in den Teil der Gesellschaftstheorie ein, Monika Eigmüller in die Diskussion um die territorialen Strukturen der Union, Peter A. Berger in den Bereich der Sozialintegration und Stephan Lessenich schließlich in die Diskussion um Institutionen- und Sozialpolitikentwicklung. Wir danken Nancy Scharpff für ihr großes Engagement bei der Erstellung des Buches und Susanna Kowalik für ihren kritischen Blick auf das Endmanuskript. Literatur Abromeit, Heidrun, 2001: Wie demokratisch ist die EU – wie ist sie demokratisierbar? S. 263282 in: Ingeborg Tömmel (Hg.): Europäische Integration als Prozess von Angleichung und Differenzierung. Opladen: Leske + Budrich. Agnew, John A. und Stuart Corbridge, 1995: Mastering space: hegemony, territory and international political economy. London: Routledge. Anderson, Benedict, 1998: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Berlin: Ullstein. Aust, Andreas, Sigrid Leitner und Stephan Lessenich, 2002: Konjunktur und Krise des Europäischen Sozialmodells. Ein Beitrag zur politischen Präexplantationsdiagnostik, Politische Vierteljahresschrift 43 (2): 272-301. Bach, Maurizio, 2000a: Die Europäisierung der nationalen Gesellschaft? Problemstellungen und Perspektiven einer Soziologie der europäischen Integration. S. 11-38 in: Ders. 2000b. Ders. (Hg.), 2000b: Die Europäisierung nationaler Gesellschaften. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 40, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.
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I Gesellschaftstheorie: Anschlussmöglichkeiten der Europaforschung
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Die Rationalität des Regierens im europäischen Mehrebenensystem Richard Münch
Die Europäische Integration ist aus soziologischer Perspektive nicht nur der Zusammenschluss von Nationalstaaten zum Zweck der Friedenssicherung und der Steigerung des Wohlstands in Europa. Es ist ein umfassender und tief greifender Prozess der Restrukturierung des Regierens im europäischen Mehrebenensystem. Ein maßgeblicher Motor dieser Restrukturierung ist die europäische Erweiterungsdynamik, die Georg Vobruba (2005) eingehend untersucht hat. Die Beiträge von Günter Dux, Klaus Eder und Hans-Peter Müller beleuchten unterschiedliche Facetten dieses Restrukturierungsprozesses. Müller stellt die Konturen der europäischen Gesellschaft in den weltgeschichtlichen Kontext unterschiedlicher Varianten der Moderne. Dux diskutiert das zentrale Problem des Verhältnisses zwischen Wirtschaft und Demokratie im Kontext der Europäischen Integration, Eder die kommunikative Konstruktion Europas durch die Verknüpfung dreier maßgeblicher Stories, der Marktstory, der Staatsbürgerschaftsstory und der Story der kulturellen Besonderheit. Ich greife im Folgenden jeweils den Faden der drei Beiträge auf, um sie auf die Frage der Restrukturierung des Regierens im europäischen Mehrebenensystem zu beziehen. Dabei stelle ich die Restrukturierung des Verhältnisses zwischen Marktwirtschaft und Demokratie in den Mittelpunkt der Analyse. Andere Aspekte der Restrukturierung von Gewicht müssen dabei ausgeblendet bleiben (vgl. Münch 1993, 2008). Ich beginne mit der weltgeschichtlichen Perspektive Müllers, um dann nacheinander die Analysen von Dux und Eder aufzugreifen und zu diskutieren.
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1
Europa im weltgeschichtlichen Kontext
Hans-Peter Müller stellt die europäische Gesellschaft in den großen weltgesellschaftlichen Zusammenhang (vgl. auch Müller 2007). In Europa sind die gesellschaftlichen Strukturen, Institutionen und kulturellen Ideen besonderer Art entstanden, die lange Zeit prägend für den Westen und die Moderne waren. Inzwischen unterscheidet man innerhalb des Westens das europäische vom angloamerikanischen Sozialmodell, wobei eher an Kontinentaleuropa gedacht wird als an ein Europa, zu dem auch Großbritannien gehört. Und statt von der westlich definierten Moderne spricht man mit Eisenstadt (2002) von multiplen Modernen. Man könnte sagen, dass gerade diese Differenzen innerhalb des Westens und innerhalb der Moderne eine Chance bieten, dass Europa in Abgrenzung zu anderen Konzepten des Westens und der Moderne zu sich selbst findet und sich auf seine eigenen Traditionen besinnt. In der Tat ist das der Gegenstand des intellektuellen Diskurses über Europa, auf den sich Müller vorzugsweise bezieht. In diesem Diskurs geht es zunächst überhaupt um die begriffliche Konstruktion Europas, weiterhin um eine europäische Wertegemeinschaft, strukturierte Diversität als gesellschaftliches Gestaltungsprinzip und die Herausbildung eines europäischen Erfahrungsraums. Zur strukturellen Diversität gehört insbesondere die Kunst des Trennens, so zum Beispiel zwischen Religion und Politik, Kirchenrecht und profanem Recht, Religion und Wissenschaften. Die Integrationsleistung der Europäischen Union und die Entwicklung eines europäischen Mehrebenensystems ist in Müllers Perspektive die jüngste Stufe der „europäischen Moderne“, die als ähnlich einzigartig gelten kann wie die Strukturen, Institutionen und kulturellen Ideen, die den Ursprung der europäischen Moderne ausgemacht haben. Alles zusammen bildet die Konturen der „europäischen Gesellschaft“. Müller verortet auf diese Weise den intellektuellen Europadiskurs im soziologischen Diskurs über die multiple Moderne. Es wird deutlich, was die (kontinental-)europäische Moderne im großen weltgeschichtlichen Zusammenhang ausmacht und von anderen westlichen und nicht-westlichen Modernen unterscheidet. Durch diesen Vergleichshorizont gerät das Bild der „europäischen Gesellschaft“ sehr großflächig. Zur europäischen Gesellschaft gehören sowohl Strukturen der europäischen nationalen Gesellschaften als auch Strukturen der sich herausbildenden europäischen Gesellschaft jenseits der Nationen, wobei Ersteren in der Analyse weit mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird als Letzterer. Dadurch wird nicht deutlich, wie sich zum Bei34
spiel die nationale gesellschaftliche Organisation von struktureller Diversität durch die Europäisierung nationaler Gesellschaften im europäischen Mehrebenensystem maßgeblich durch den Sinngehalt der europäischen Verträge, durch europäische Rechtssetzung und Rechtsprechung verändert. Das gilt in besonderem Maße für die Trennung zwischen Wirtschaft und Politik beziehungsweise Marktwirtschaft und Demokratie. Der europäische Binnenmarkt als materielle Kraft und das strukturell dazu passende europäische Wettbewerbsparadigma als Sinn gebende Instanz setzen politischen Interventionen in die Wirtschaft engere Grenzen und gestalten damit das Verhältnis zwischen Wirtschaft und Politik um. 2
Demokratie und Ökonomie: die Herausforderung der Europäischen Union
Genau um das Verhältnis zwischen Wirtschaft und Politik im Kontext der Europäischen Integration geht es Günter Dux (vgl. auch Dux 2004, 2008, 2009). Dux bricht mit den substanzlogischen Prämissen der klassischen Demokratietheorie, den Annahmen der Einheit des Volks, der Einheit von Volk und Repräsentanten beziehungsweise Regierenden, der Einheit eines Allgemeinwillens, der sich von den vielen Einzelwillen unterscheiden lässt. Soweit, wie sich die Klage über das europäische Demokratiedefizit auf solche Prämissen stützt, ist sie in Dux’ Augen sinn- und zwecklos. Dux findet dagegen in der Idee der Selbstbestimmung als Selbstverwirklichung des Subjekts einen unter modernen Bedingungen bis heute unhintergehbaren, normativ gültigen wie auch faktisch bindenden Maßstab der Demokratie. Sie soll die Voraussetzungen für ein selbstbestimmtes, der Selbstverwirklichung des Subjekts dienendes Leben schaffen. In der Moderne ist die Marktgesellschaft die materielle Grundlage, auf der sich diese Selbstverwirklichung des Subjekts vollzieht. De facto bietet aber die Marktgesellschaft nicht für alle die gleichen Chancen der Selbstverwirklichung. Hier gerät die Demokratie in den Widerstreit mit der Ökonomie. Sie ist in der Pflicht, die Ökonomie so zu gestalten, dass sie für alle gleiche Chancen der Selbstverwirklichung bereithält. Im europäischen Nationalstaat war die Wohlfahrtsdemokratie das Arrangement einer erfolgreichen demokratischen Gestaltung der Ökonomie im Interesse der Selbstverwirklichung des Subjekts. Die globale Ökonomie hat die Fesseln dieses Arrangements gesprengt. Der Verlierer ist die Demo35
kratie. Bei allen Schwierigkeiten einer legitimen und effektiven Demokratisierung und aller Ungewissheit über den einzuschlagenden Weg sieht Dux die Europäische Union sowohl normativ als auch faktisch im Sinne der fordernden Bürger in der Pflicht, ein neues Arrangement der Verknüpfung von Demokratie und Ökonomie zu finden. Dux’ Argumentation ist zwingend, gleichwohl bleibt offen, welche Gestalt dieses Arrangement von Demokratie und Ökonomie unter den strukturellen Vorgaben des europäischen Mehrebenensystems und der globalisierten Ökonomie überhaupt annehmen kann. Im Kontext der nationalstaatlichen Demokratie hat die Zusammenarbeit von Parteien, Verbänden und Experten für eine starke Überlagerung der Ökonomie durch politisch-administrative und wohlfahrtsstaatliche Strukturierung gesorgt (Streeck 1999). Die nationale Wohlfahrtsdemokratie war das hegemoniale Projekt. Die Wirtschaft war die Dienerin der Wohlfahrtsdemokratie. Alle wirtschaftliche Aktivität hatte das Ziel, die nationale Wohlfahrt zu steigern. Jede wirtschaftspolitische Maßnahme musste sich an diesem Maßstab messen lassen. In diesem Sinne ist die Wirtschaft der Politik untergeordnet und man kann die Demokratie wie Dux als Gegenstruktur zur Wirtschaft begreifen, in der die Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung des Subjekts jenseits der naturalistischen Marktdynamik als Maßstab des Handelns dient. Die Wohlfahrtsdemokratie war die nationalstaatliche historische Konkretisierung dieser Idee der Politik. Das europäische Integrationsprojekt war lange Zeit von dem Glauben begleitet worden, dass es darum gehe, das hegemoniale Projekt der Wohlfahrtsdemokratie auf einer höheren Stufe der Vergesellschaftung fortzusetzen. Erst heute, insbesondere seit der großen Erweiterung nach Mittelosteuropa im Mai 2004, beginnt sich eine Ernüchterung durchzusetzen, die den Abschied von dem alten hegemonialen Projekt einleitet. Die Europäische Integration ist nämlich in ihrer Strukturlogik als ein ökonomisches Liberalisierungsprogramm angelegt, das inzwischen zu einem neuen hegemonialen Projekt geworden ist. Dessen Ziel ist ein Verständnis der individuellen Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung, das die Befreiung aus gemeinschaftlichen, insbesondere nationalen Zwängen in den Vordergrund stellt und deshalb auf Empowerment und auf das unternehmerische Selbst in jedem Individuum setzt (Pongratz/Voss 1998; Bröckling 2007). Dieses hegemoniale Projekt hat auch die Politik weitgehend erfasst, so dass demokratische Politik gar nicht mehr als Gegenstruktur zur Ökonomie fungiert, viel36
mehr mit aller Macht am Programm der Liberalisierung, Deregulierung, Privatisierung und Vermarktlichung aller Lebensbereiche arbeitet. Eine weiter gehende Demokratisierung der europäischen Entscheidungsprozesse ist nicht mehr als ein weiterer Schritt auf diesem Wege, weil dann die traditionellen Vetospieler und die Trägheit von Traditionen auf der nationalen Ebene umso weniger Gewicht haben. Meines Erachtens trägt Dux’ Konzept von Demokratie als Gegenstruktur zur Ökonomie diesem paradigmatischen Wandel der Politik nicht genug Rechnung. Es ist bei allem Realismus immer noch zu wenig realistisch. Demokratie im postnationalen Zeitalter ist nur im liberalen Sinn denk- und legitimierbar, als ein System von Checks and Balances. In diesem System ist es gerade zweckmäßig, dass die Macht zwischen den europäischen und den nationalen Instanzen geteilt ist und erhebliche Teile der Politik nicht europäisiert sind, wenngleich dieser Spielraum zunehmend kleiner wird. Der Maßstab dieser liberalen Idee der Demokratie ist die Zahl der Hürden, die von der Gesetzgebung übersprungen werden müssen, und die Zahl der Einspruchsmöglichkeiten, die sich interessierten und betroffenen Akteuren bieten. Es ist ein System von Vetospielern und ein dezentralisiertes System, das Selbstregierung nur im Kleinen ermöglicht. Ein Gegengewicht gegen die Ökonomie ist es nur so weit, als die noch vorhandenen Traditionen des alten hegemonialen Projekts der Wohlfahrtsdemokratie in ihrer Trägheit als natürliches Hindernis des sozialen Wandels wirken. 3
Der Kommunikationsraum europäischer Erzählungen
Klaus Eders Plädoyer, das europäische Integrationsprojekt als die Herausbildung eines gemeinsamen Kommunikationsraums der inzwischen 27 EUMitgliedstaaten zu begreifen, in dem sich die europäische Gesellschaft als ein Ensemble emergenter narrativer Netzwerke bildet, sensibilisiert für die Offenheit, Vielfalt und Wandlungsfähigkeit der Gesellschaft, die sich als europäische herausbildet und sich sehr weit reichend von allen Strukturen unterscheidet, die nationale Gesellschaften bislang ausgezeichnet haben (vgl. auch Eder 2006, 2007). Es soll der Fehler vermieden werden, die europäische Vergesellschaftung mit normativen Finalitätsvorstellungen zu belasten, die nur enttäuscht werden können. Ebenso wenig hilft in Eders Augen der komparative Blick auf die europäischen Gesellschaften, um zu begreifen, welche Vergesellschaftung sich über ihre Grenzen hinweg im emergenten 37
europäischen Kommunikationsraum vollzieht. Welche Konturen die emergente europäische Gesellschaft zeigt, ist für Eder eine Sache von Narrationen im Plural. Losgelöst von den Festlegungen und Pfaden nationaler Traditionen ist die Konstruktion der europäischen Gesellschaft gewiss alles andere als homogen. Das möchte ich im Folgenden anhand unterschiedlicher nationaler Narrationen der Europäischen Union skizzieren (vgl. Jachtenfuchs 2002). Aus der dominanten britischen Sicht des Wirtschaftsliberalismus ist die europäische Gesellschaft nicht mehr als eine Marktvergesellschaftung mit einer gemeinsamen Marktordnung und ein willkommenes Instrument der europaweiten Liberalisierung der Märkte gegen die kontinentaleuropäischen Traditionen der Industriepolitik und der politischen Verzerrung des Wettbewerbs (vgl. Milfull 1999; Kremer 2004; Gamble 2006). Dass die EU ein Projekt der negativen Integration ist, erscheint in dieser Narration als vollkommen richtig und keineswegs ergänzungsbedürftig, indem die positive Integration vorangetrieben und damit zwangsläufig die politischen Kompetenzen der EU erweitert und die Demokratie in Europa weiter ausgehöhlt wird, die aus britischer Sicht allein auf der nationalstaatlichen Ebene einen festen Platz hat. Die britische Narration impliziert dementsprechend ein höchst ambivalentes Verhältnis zur Europäischen Union. Auf der einen Seite wird sie gern als europäische Freihandelszone genutzt, auf der anderen Seite als ein Herrschaftsapparat gefürchtet, der dem Heiligtum des britischen Verständnisses von Demokratie den Boden demokratischer Machtausübung entzieht, das heißt dem souveränen britischen Parlament. Die dominante französische Narration des europäischen Projekts ist eine ganz andere. Sie geht inzwischen davon aus, dass der Nationalstaat nicht mehr über die Macht verfügt, die Gesellschaft nach republikanischem Ideal im Sinne des von den Staatsbürgern gebildeten, de facto von der politischadministrativen Elite repräsentierten Allgemeinwillens zu gestalten (vgl. Ferry 2000; Sapir 2006). Auch die französische Narration beinhaltet ein höchst ambivalentes Verhältnis zur EU, allerdings von der diametral entgegengesetzten Seite. Für den französischen Republikanismus ist die EU inzwischen zu einem maßgeblichen Träger des Wirtschaftsliberalismus geworden, der den Mitgliedstaaten die Hände in der Gestaltung der Gesellschaft bindet, ohne im Entferntesten auf der europäischen Ebene jene Qualität der politischen Gestaltung im Sinne eines Allgemeinwillens der europäischen Bürger zu erreichen, die für die souveränen Nationalstaaten möglich war. 38
Die in Deutschland dominante Narration sieht in der EU in erster Linie die Chance der Verwirklichung einer der Bundesrepublik nachgebildeten Föderation, die allerdings bei weitem noch nicht die Konturen gebildet hat, die dem Idealbild entsprechen (vgl. Grimm 1995; Habermas 1996; von Bogdandy 1999). Deshalb enthält auch die dominante deutsche Narration ein ambivalentes Verhältnis zur EU. Einerseits wird in sie die Hoffnung einer föderalen Ordnung gesetzt, die den Widerspruch zwischen nationalen und supranationalen Interessen aufhebt. Andererseits hat die EU diese Hoffnungen bislang enttäuscht, weshalb den nationalen Parlamenten eine demokratische Kontrollfunktion in der europäischen Rechtssetzung zugedacht wird, die sie in der Praxis der quasi automatisierten Zustimmung zur europäischen Legislation de facto gar nicht erfüllen können, ohne das ganze europäische Projekt der rechtlichen Integration infrage zu stellen. Die Ambivalenz aller drei Narrationen hat zur Folge, dass es zur dominanten Narration immer auch eine abweichende Gegen-Narration gibt, die der Schattenseite der dominanten Narration besondere Aufmerksamkeit widmet und daraus andere Konsequenzen als die dominante Narration zieht. In Frankreich bedeutet das heftigen Widerstand gegen weitere Machtverlagerungen auf die Ebene der Union und gegen die Zersplitterung der Macht in einer europäischen Föderation. Im Referendum zum europäischen Verfassungsvertrag im Mai 2005 hat diese Gegen-Narration sogar die Mehrheit gewonnen. In Großbritannien ist es genau umgekehrt. Dort steht die Gegen-Narration auf der Seite Europas. Sie sieht, dass die europäische Wirtschaftsintegration längst die Qualität einer Freihandelszone hinter sich gelassen hat und auch nicht auf diesen Status zurückgeführt werden kann und de facto die nationalen Institutionen der demokratischen Willensbildung aushöhlt. Deshalb besteht aus dieser Sicht ein Bedarf der Beseitigung des europäischen Demokratiedefizits, der aber im britischen Verständnis in der Abkehr von Mehrheitsentscheidungen auf europäischer Ebene besteht und die Rückkehr zur Konsens- und Kompromissbildung zwischen souveränen, ihrem nationalen Parlament verantwortlichen Regierungen verlangt. In Deutschland wird die Gegen-Narration vom Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichtes repräsentiert, das die demokratische Legitimität des europäischen Rechts an die Zustimmung der nationalen Parlamente bindet, solange es keinen europäischen Demos, keine europäische Willensbildung und keine demokratisch kontrollierte europäische Regierung gibt.
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Allein diese drei Narrationen und Gegen-Narrationen zeigen, wie vielgestaltig sich die europäische Gesellschaft auf dieser Ebene der semantischen Konstruktion darstellt und wie offen sich die weitere Entwicklung gestaltet. Der Vorteil der von Eder propagierten Fokussierung der narrativen Konstruktion der europäischen Gesellschaft besteht darin, dass sie dieser Offenheit Rechnung trägt und der sich herausbildenden europäischen Gesellschaft weder ein normatives Ideal überstülpt, das nur unerfüllbare Hoffnungen weckt, noch ihrer besonderen Gestalt gar nicht gewahr wird, weil die auf die Nationalstaaten gerichtete komparative Vorgehensweise den Blick trübt. Trotzdem möchte ich infrage stellen, ob der europäische Integrationsprozess so vielgestaltig und offen abläuft, wie man mit dem Blick auf die Narrationen des Marktes, der Staatsbürgerschaft und der kulturellen Besonderheit als freischwebende intellektuelle Konstrukte annehmen möchte. Schließlich impliziert der Prozess handfeste Veränderungen des Wirtschaftsverkehrs, der Wirtschaftsordnung und in ihrem Gefolge der Gesellschaftsordnung, wie immer das durch Narrationen verarbeitet und mitgestaltet werden mag. Gewissermaßen verändern sich die Produktivkräfte – nämlich die fortschreitende, in sich verdichtete europäische Arbeitsteilung – und die Produktionsverhältnisse – nämlich die Wirtschaftsordnung. Diese Ordnung folgt einem Liberalisierungsprogramm. Sie ist im Vertrag von Rom angelegt und wurde programmatisch ausgebaut von der Europäischen Kommission als Agent des Vertrags und forciert vom Europäischen Gerichtshof (EuGH). Das hat weit reichende Konsequenzen für die nationalen Rechtstraditionen und Gesellschaftsordnungen. 4
Regieren im europäischen Mehrebenensystem
Man kann den Vertrag von Rom und seine Erweiterungen als eine Metanarration begreifen, die einer spezifischen Leitidee folgt, deren Verwirklichung maßgeblich in den Händen der Europäischen Kommission mit der Rechtssetzung und des EuGH mit der Rechtsprechung liegt. Beide wirken als Agenten einer Wirtschaftsordnung, deren Sinngehalt im europäischen Vertragswerk enthalten ist und auf dem Wege der europäischen Rechtssetzung und Rechtsprechung ins Werk gesetzt wird. Die europäische Metanarration bildet eine Legitimationsgrundlage für die tatsächliche Gestaltung der europäischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung und für die entsprechende 40
Umgestaltung der nationalen Ordnungen, deren Legitimität aus eigener Tradition der Boden entzogen wird. Der Prozess der Legitimation der sich herausbildenden europäischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung und der Delegitimation der nationalen Ordnungen wird durch eine grundlegende Machtverschiebung forciert, in der die von Parteien und Verbänden beherrschten nationalen Politikfelder von europäischen Politikfeldern überlagert werden. In der europäischen Politik haben die Wissenselite der Experten und die Wirtschaftselite der Manager die dominante Position inne; in den nationalen Politikfeldern hatten sie noch die dominierte Position eingenommen. Die Experten repräsentieren globale Rationalitätsmodelle, die mit wissenschaftlicher Autorität auftreten und darin ihren Legitimitätsvorsprung gegenüber nationalen Traditionen haben (Meyer 2005). In der Hand der Europäischen Kommission, der Komitologie und des EuGH ist die europäische Marktliberalisierung zu einem hegemonialen Projekt geworden (Gramsci 1971; Laclau/Mouffe 2001), das die an sich gegebenen Ambivalenzen und Widersprüche zwischen Narrationen und Gegen-Narrationen eindämmt und einem gemeinsamen Denken in Kategorien der Offenheit, des Wettbewerbs, der Nicht-Diskriminierung, der Chancengleichheit im Markteintritt und der unternehmerischen Aktivierung des Individuums unterwirft (Frerichs 2008; Höpner 2008; Münch 2008). Das sind Kategorien einer Governance im Mehrebenensystem jenseits staatlicher Territorialherrschaft und Disziplinarmacht, der es darum geht, maximale Freiheit bei Erhaltung wechselseitiger Berechenbarkeit des Handelns zu gewährleisten. Dabei dienen die Jurisdiktion im Sinne der Rechte des Individuums und die Veridiktion durch die Gesetze des Marktes als Eckpfeiler des Regierens. Die Beseitigung von Handelshemmnissen (Markt) und von Diskriminierung (Recht) jeglicher Art geschieht zum allseitigen Nutzen der einzelnen Individuen und legitimiert sich dadurch von selbst (Foucault 2006: 85-91, 405-430). Die europäische Integration ist diesen Weg nicht ohne Opposition gegangen. War sie in ihren Anfängen vom Denken des deutschen Ordoliberalismus geprägt (Manow et al. 2004), sind in den 1970er und 1980er Jahren, nachdrücklich durch den Präsidenten der Europäischen Kommission Jacques Delors vorangetrieben, erhebliche Versuche unternommen worden, die Wirtschaftsunion durch eine Sozialunion zu ergänzen. Dieser Versuch ist jedoch gescheitert, maßgeblich aus drei Gründen: (1) Es fehlt dafür auf der europäischen Ebene das auf der nationalen Ebene dominante politische 41
Kapital der sozialpolitischen Koalition von Parteien, Verbänden und Staat; stattdessen ist das Wissenskapital der ökonomischen Experten auf der europäischen Ebene dominant; (2) auf der europäischen Ebene werden die Chancen auf nationenübergreifende Solidarität durch die alte segmentäre Differenzierung in Nationen und durch die neue Individualisierung der Inklusion in die Mehrebenengesellschaft beschränkt; (3) sozialpolitische Maßnahmen müssen sich auf der europäischen Ebene in einem weiteren Horizont der Gerechtigkeit rechtfertigen, in dem die Rechte der bislang ausgegrenzten, in weniger entwickelten Mitgliedstaaten lebenden Unionsbürger auf einen Arbeitsplatz den Rechten der bisher besser gestellten Unionsbürger in den hoch entwickelten Wohlfahrtsstaaten auf ein hohes Niveau von Wohlstand und sozialer Sicherheit Grenzen setzen. Die auf der Regierungskonferenz 2000 beschlossene Lissabon-Strategie, die Union zum wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt unter gleichzeitig erreichter hoher sozialer Kohäsion zu machen, hat den Antagonismus von Wirtschafts- und Sozialunion durch ein einheitliches Wettbewerbsparadigma abgelöst, das Sozialpolitik nicht mehr als Korrektiv, sondern als Teil der Mobilisierung der Marktkräfte versteht. Dementsprechend rückt die Aktivierung des unternehmerischen Selbst im einzelnen Individuum durch lebenslanges Lernen ins Zentrum der Sozialpolitik (Bernhard 2008). Jenseits der Debatte über das Demokratiedefizit der EU vollzieht sich im Prozess der Europäischen Integration ein Wandel weg von demokratisch legitimiertem Regieren und hin zu einer rational begründeten Governance, die sich aus der sachlichen Autorität von Ökonomie und Jurisprudenz speist. Es handelt sich dabei um eine Art von „Output-Legitimität“ (Scharpf 1999), bei der die Experten in einem selbstreferenziellen Prozess zunächst definieren, was das Problem ist, um dann zu sagen, worin die beste Lösung besteht (Majone 1996). Treten dabei nicht-intendierte Folgen auf, dann müssen wiederum die Experten bestimmen, worin das Problem besteht und welche Lösung angemessen ist. Was immer die Wähler als Interessen, Probleme oder Stimmungen artikulieren mögen, es bildet sich daraus kein „Wählerwille“, den eine Regierung in Entscheidungen umsetzt, vielmehr handelt es sich dabei um Problemartikulationen, die im Prozess der europäischen Governance von der Codierung in Machtbegriffen in eine Codierung in Begriffen von Recht und Wahrheit übersetzt werden und in diesen Begriffen einer Entscheidung zugeführt werden (Gehring 2002). Die Rückübersetzung in die Begriffe der Macht erfolgt auf der europäischen Ebene über so lange 42
Ereignisketten, dass kaum noch eine Beziehung zwischen europäischer Rechtssetzung und der Artikulation von Wählerstimmen identifiziert werden kann. Was bleibt, ist ein unspezifisches Unbehagen, das zu keinem direkten Protest führt, allenfalls vereinzelt und indirekt bei Referenden über einen europäischen Verfassungsvertrag zum Ausdruck gebracht wird. Das heißt, dass in der europäischen Komitologie relativ unberührt von Parteipolitik regiert werden kann, was allerdings einem in sachliche Argumente verpackten Lobbyismus Tür und Tor öffnet (Lahusen/Jauß 2001). Das ist eine Legitimation durch Verfahren (Luhmann 1983), bei der schwer zu bewältigende Machtfragen in beantwortbare Fragen der Wahrheit und des Rechts übersetzt werden und dabei eine Lösung erhalten. Auf diesem Wege werden vollendete Tatsachen geschaffen, an denen dann in Machtbegriffen kaum noch gerüttelt werden kann. Es wird lautlos jenseits großer Debatten regiert. Die Veränderung der Gesellschaft durch dieses lautlose Regieren geschieht schleichend und wird erst bemerkbar, wenn schon alles gelaufen ist. Aus der Sicht des Paradigmas einer europäischen Marktgesellschaft stellen historisch gewachsene nationale Strukturen der staatlichen Verantwortung für Infrastrukturen, der professionellen Dienstleistung (Ärzte, Anwälte, Notare), der handwerklichen Ordnung, der Wohlfahrtspflege im öffentlichen Auftrag oder der Versicherung von Berufsrisiken in Berufsgenossenschaften nichts anderes als Monopole dar, die es im Interesse des freien Wettbewerbs durch Deregulierung, Privatisierung, Liberalisierung und Vermarktlichung zu beseitigen gilt. Der verschärfte Wettbewerb prämiert diejenigen Anbieter, die aufgrund von Größe, Allianzen, Skaleneffekten, geringeren Lohnkosten und dergleichen Wettbewerbsvorteile haben, und drängt diejenigen Anbieter aus dem Markt, die sich aufgrund ihrer Angepasstheit an ihr traditionelles Umfeld nicht auf den neuen Wettbewerb einstellen können. Durch Firmenzusammenschlüsse und -aufkäufe ergeben sich neue Marktschließungsprozesse, die der ursprünglichen Idee des offenen Wettbewerbs zuwiderlaufen. Angesichts des globalen Wettbewerbs sind dem Wettbewerbskommissar der EU oft die Hände gebunden, um dagegen einzuschreiten. Um Europa im globalen Wettbewerb zu positionieren, werden sogar „europäische Champions“ gefördert, die innerhalb Europas eine marktbeherrschende, wettbewerbsbeschränkende Position innehaben. Das europäische Liberalisierungsprojekt schreitet demnach in dem Widerspruch voran, durch die Leitidee der Marktöffnung und des Wettbewerbs legitimiert zu sein, gleichwohl aber Strategien von Unternehmen zu fördern, die auf eine Marktschließung hinauslaufen. 43
Derselbe Widerspruch haftet zum Beispiel auch der europäischen Forschungsförderung an. Sie eröffnet auf der einen Seite neue Chancen der Forschungskooperation jenseits nationaler Netzwerke, auf der anderen Seite verstetigt sie die herausgebildeten europäischen Forschungsnetzwerke zu Forschungskartellen, die einen Großteil der europäischen und nationalen Forschungsgelder monopolisieren und in die zirkuläre Akkumulation von monetärem und symbolischem Kapital umsetzen. So werden Konkurrenten dauerhaft in die europäische Peripherie verbannt. Rückt man also die im europäischen Vertragswerk enthaltene Metanarration ins Blickfeld, dann erscheint die Konstruktion der europäischen Gesellschaft weit weniger vielgestaltig und offen, als dies in Eders narrativem, auf eine Erfassung des diskursiven Feldes, seiner Konturen, Positionen, Akteure und Spielregeln verzichtenden Forschungsansatz zum Vorschein kommt. Man erkennt nicht das hegemoniale Liberalisierungsprojekt, das Narrationen und Gegen-Narrationen, Spieler und Gegenspieler, Privilegierte und Benachteiligte dazu zwingt, ihre Argumente in der herrschenden Sprache zu formulieren. Wer eine Position verteidigen will, muss sich der Sprache des offenen Wettbewerbs bedienen, wer sie erobern will, muss dies ebenso tun. Traditionen sind delegitimiert, soweit sie nicht dem Wettbewerbsparadigma entsprechen. Das Neue ist legitim, soweit es als Marktöffnung erscheint, wenn auch neue Prozesse der Marktschließung als zwangsläufige Folge eintreten. Die kleine berufsgenossenschaftliche Unfallversicherung kann sich nicht mehr auf die Solidargemeinschaft der Berufsgenossen berufen. Sie muss sich vielmehr der Konkurrenz der großen Versicherungskonzerne stellen, gegebenenfalls ihnen das Feld überlassen, gleichviel ob das den Berufsgenossen einen besseren Schutz gewährt oder nicht. Das alte Spiel ist aus. Dessen Begriffe haben ihre Unschuld verloren. Die Solidargemeinschaft der Berufsgenossen hat keine eigene Berechtigung mehr. Was zählt, ist die auf dem Markt gehandelte Unfallversicherung des einzelnen Erwerbstätigen. Sie allein ist jetzt legitim, weil das Denken in Begriffen des Marktwettbewerbs hegemonialen Charakter angenommen hat. Entscheidend für die Legitimität der Unfallversicherung der Erwerbstätigen ist wegen dieses hegemonialen Charakters der Marktphilosophie nicht die Erhaltung der Solidargemeinschaft von Berufsgenossen, sondern allein die Konformität zum Marktparadigma. Diese unangefochtene Stellung als Maßstab für die Beurteilung beliebiger Formen der Leistungserbringung macht das europäische Marktparadigma zu einem hegemonialen Projekt, von dem die 44
Gewinner profitieren, dem sich aber auch die Verlierer nicht entziehen können, weil sie sich seiner Sprache bedienen müssen, um ihre Interessen definieren, legitimieren und wahrnehmen zu können. Wie Lepsius (1995: 401) feststellt, bedeutet die europäische Governance in Begriffen von Recht und Wahrheit, orientiert an der Leitidee der Herstellung des europäischen Binnenmarkts zwecks Wohlfahrtssteigerung und deren Konkretisierung in den vier Freiheiten des Verkehrs von Gütern, Dienstleistungen, Kapital und Personen, dass zum Beispiel die sozialen Folgen dieses Programms auf die Mitgliedstaaten externalisiert werden. Infolgedessen ist dort das Interesse an der Vergemeinschaftung der Sozialpolitik gewachsen. Je mehr Politikfelder vergemeinschaftet werden sollen, umso mehr wird die EU jedoch von einem wirtschaftlichen Zweckverband zu einem Herrschaftsverband, der sich mit legitimen Erwartungen der Demokratisierung als Leitidee konfrontiert sieht. Weil dafür allerdings die Voraussetzungen eines vergemeinschafteten Parteien- und Verbandssystems und einer europäischen Öffentlichkeit fehlen, steckt die EU in einem in absehbarer Zeit nicht auflösbaren Dilemma der Ausübung von nicht-legitimer Herrschaft, wenn die im Nationalstaat geltenden Maßstäbe der Demokratie angelegt werden. Das Dilemma entsteht allerdings gerade auch deshalb, weil Erwartungen an demokratisches Regieren an die EU-Entscheidungsprozesse gerichtet werden, die von der EU mangels Voraussetzungen nicht beziehungsweise nur unzureichend erfüllt werden können. Der europäische Binnenmarkt wie auch der Weltmarkt können auch als eine Ausdifferenzierung der Wirtschaft aus nationalstaatlicher Umklammerung interpretiert werden, deren externe Effekte in der Politik jeweils dort so verarbeitet werden können, dass Konflikte ausreichend absorbiert und Zustimmung generiert werden, wo dafür jeweils die Voraussetzungen gegeben sind, sei es auf europäischer, nationaler oder kommunaler Ebene. Die europäische beziehungsweise die globale Wirtschaft sind in dieser Perspektive als Gegebenheiten zu betrachten, die das Mehrebenensystem der Politik in Verfahren zu bearbeiten hat. Diese Verfahren müssen in ausreichendem Maße Konflikte absorbieren, so dass Entscheidungen herauskommen, deren Legitimität nicht so in Zweifel gezogen wird, dass ihre Geltung und Implementation gar nicht möglich ist. Die mehrstufige Übersetzung von Machtfragen in Rechts- und Wahrheitsfragen und deren Rückübersetzung in Machtfragen im Mehrebenensystem ist ein wesentlicher Bestandteil dieser Legitimation durch Verfahren.
45
Auf der Linie von Foucaults (2006) Geschichte der Gouvernementalität kann man das europäische System der Mehrebenen-Governance als einen gravierenden Schritt hin zu einer Regierungskunst deuten, bei der die Herrschaft eines Souveräns (zum Beispiel des im Parlament repräsentierten Volks) mittels Gesetz über ein genau abgegrenztes Territorium sowie die staatliche Disziplinierung des Individuums (Schule, Hochschule, lebenslanges Lernen) von einer Regierung der Bevölkerung jenseits des direkten Zugriffs auf Territorium und Individuum überlagert werden. Das heißt konkret, dass die wirtschaftliche Dynamik im europäischen Binnenmarkt weniger als die Volkswirtschaft auf der nationalstaatlichen Ebene einer direkten Kontrolle – etwa in einem korporatistischen Arrangement – unterworfen werden kann. Die Regierungskunst besteht dann darin, die Rahmenbedingungen für funktionierende Märkte zu schaffen und die unerwünschten externen Effekte des Marktgeschehens so auszugleichen, dass das Marktgeschehen nicht selbst ausgehebelt wird. Die Rahmensetzung der EU zu übertragen, das sozialpolitische Begleitprogramm den Mitgliedstaaten zu überlassen und durch Benchmarking und Monitoring im Rahmen der Offenen Methode der Koordinierung zu optimieren, erscheint in dieser Sicht durchaus als eine nahe liegende Form des „ökonomischen“, Kraft sparenden Regierens, in der Tat als eine dem europäischen Mehrebenensystem angepasste Verkörperung der liberalen Regierungskunst. 5
Schlussbemerkungen
Die europäische Moderne ist auch in der Gegenwart ein weltgeschichtlich einmaliges Projekt. Es ist der Versuch, aus historisch gewachsenen nationalen Gesellschaften eine europäische Gesellschaft zu konstruieren. Auf diesem Weg findet eine grundlegende und tief greifende Restrukturierung der Gesellschaft überhaupt statt. Die Konstruktion der europäischen Gesellschaft und die Dekonstruktion der nationalen Gesellschaften gehen dabei Hand in Hand. Demokratie und Ökonomie werden neu arrangiert, die unterschiedlichen europäischen Narrationen fügen sich in eine Metanarration ein, die sich als hegemoniales Liberalisierungsprojekt begreifen lässt. Im europäischen Mehrebenensystem bildet sich eine neue Rationalität des Regierens jenseits staatlicher Territorialherrschaft und Disziplinarmacht, die man im Anschluss an Foucault als europäische Gouvernementalität be46
zeichnen kann. Die Beiträge von Günter Dux, Klaus Eder und Hans-Peter Müller helfen uns, diesen gesellschaftlichen Wandlungsprozess besser zu verstehen. Literatur Bernhard, Stefan, 2008: Die Produktion von Inklusion – Zur Entstehung eines europäischen Feldes. Dissertation an der Universität Bamberg. Bogdandy, Armin von, 1999: Supranationaler Föderalismus als Wirklichkeit und Idee einer neuen Herrschaftsform. Zur Gestalt der Europäischen Union nach Amsterdam. BadenBaden: Nomos. Bröckling, Ulrich, 2007: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Dux, Günter, 2004: Die Moral in der prozessualen Logik der Moderne. Warum wir sollen, was wir sollen. Weilerswist: Velbrück. Ders., 2008: Warum denn Gerechtigkeit. Die Logik des Kapitals. Die Politik im Widerstreit mit der Ökonomie. Weilerswist: Velbrück. Ders., 2009: Von allem Anfang an: Macht, nicht Gerechtigkeit. Studien zur Genese und historischen Entwicklung des Postulats der Gerechtigkeit. Weilerswist: Velbrück. Eder, Klaus, 2006: Transnationale Kommunikationsräume und die Entstehung einer europäischen Gesellschaft. S. 155-173 in: Robert Hettlage und Hans-Peter Müller (Hg.): Die europäische Gesellschaft. Konstanz: UVK. Ders., 2007: Europa als besonderer Kommunikationsraum, Berliner Journal für Soziologie 17 (1): 33-50. Eisenstadt, Shmuel N. (Hg.), 2002: Multiple Modernities. New Brunswick/London: Transaction Publishers. Ferry, Jean-Marc, 2000: La question de l’état européen. Paris: Gallimard. Foucault, Michel, 2006: Geschichte der Gouvernementalität. Bd. 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Frerichs, Sabine, 2008: Judicial Governance in der europäischen Rechtsgemeinschaft. Integration durch Recht jenseits des Staates. Baden-Baden: Nomos. Gamble, Andrew, 2006: The European Disunion, British Journal of Politics & International Relations 8 (1): 34-49. Gehring, Thomas, 2002: Die Europäische Union als komplexe internationale Institution. Wie durch Kommunikation und Entscheidung soziale Ordnung entsteht. Baden-Baden: Nomos. Gramsci, Antonio, 1971: Selections from the Prison Notebooks. Hg. von Quintin Hoare und Geoffrey Nowell-Smith. London: Lawrence and Wishart. Grimm, Dieter, 1995: Does Europe Need a Constitution?, European Law Journal 1 (3): 282302. Habermas, Jürgen, 1996: Braucht Europa eine Verfassung? Eine Bemerkung zu Dieter Grimm. S. 185-191 in: Jürgen Habermas: Die Einbeziehung des Anderen. Frankfurt a.M: Suhrkamp.
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Höpner, Martin, 2008: Usurpation statt Delegation. Wie der EuGH die Binnenmarktintegration radikalisiert und warum er politischer Kontrolle bedarf, MPIfG Discussion Paper 08/12. Jachtenfuchs, Markus, 2002: Die Konstruktion Europas. Verfassungsideen und institutionelle Entwicklung. Baden-Baden: Nomos. Joerges, Christian und Jürgen Neyer, 1997: From Intergovernmental Bargaining to Deliberative Political Processes: The Constitutionalisation of Comitology, European Law Journal 3 (3): 273-299. Kremer, Thomas, 2004: The Missing Heart of Europe. Does Britain Hold the Key to the Future of the Continent? Devon: June Press. Laclau, Ernesto und Chantal Mouffe, 2001: Hegemony and Socialist Strategy. Towards a Radical Democratic Politics. London: Verso. Lahusen, Christian und Claudia Jauß, 2001: Lobbying als Beruf: Interessengruppen in der Europäischen Union. Baden-Baden: Nomos. Lepsius, M. Rainer, 1995: Institutionenanalyse und Institutionenpolitik. S. 392-403 in: Birgitta Nedelmann (Hg.): Politische Institutionen im Wandel. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 35, Opladen: Westdeutscher Verlag. Luhmann, Niklas, 1983: Legitimation durch Verfahren. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Majone, Giandomenico, 1996: Regulating Europe. London: Routledge. Manow, Philip, Armin Schäfer und Hendrik Zorn, 2004: European Social Policy and Europe's Party-Political Center of Gravity, 1957-2003, MPIfG Discussion Paper 04/6. Meyer, John W. 2005: Weltkultur. Wie die westlichen Prinzipien die Welt durchdringen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Milfull, John (Hg.), 1999: Britain in Europe. Prospects for Change. Aldershot: Ashgate. Müller, Hans-Peter, 2007: Auf dem Weg in eine europäische Gesellschaft? Begriffsproblematik und theoretische Perspektiven, Berliner Journal für Soziologie 17 (1): 7-31. Münch, Richard, 1993: Das Projekt Europa. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Ders., 2008: Die Konstruktion der europäischen Gesellschaft. Frankfurt a.M./New York: Campus. Pongratz, Hans J. und G. Günter Voß, 1998: Der Arbeitskraftunternehmer. Eine neue Grundform der Ware Arbeitskraft?, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 50 (1): 131-158. Sapir, Jacques, 2006: La fin de l’eurolibéralisme. Paris: Seuil. Scharpf, Fritz W., 1999: Regieren in Europa: Effektiv und demokratisch? Frankfurt a.M./New York: Campus. Streeck, Wolfgang, 1999: Korporatismus in Deutschland. Frankfurt a. M./New York: Campus. Vobruba, Georg, 2005: Die Dynamik Europas. Wiesbaden: VS.
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Demokratietheorie und Europäische Integration. Zur Dekonstruktion des Demos Günter Dux
1
Worum es geht
In der politischen Theorie gilt es als ausgemacht, dass die Europäische Integration ein Demokratiedefizit aufweist (Eriksen/Fossum 2000; Jachtenfuchs/Kohler-Koch 1996). Der soziologische Beobachter, der den Diskurs zu rezipieren sucht, sieht sich mit einer irritierenden Feststellung konfrontiert: Das konstatierte Theoriedefizit stellt sich auf dem Boden eines Verständnisses von Demokratie dar, das von erkenntnistheoretischen Prämissen bestimmt wird, die bereits das Verständnis der Demokratie der Nationalstaaten problematisch sein lassen. Erst recht problematisch erscheint es jedoch, wenn man dieses Verständnis der Demokratie den veränderten Bedingungen einer transnationalisierten europäischen Politik anzupassen sucht, wie sie sich mit der Europäischen Union ausgebildet hat. Es will mir unverzichtbar erscheinen, vor einer Erörterung der Anforderungen, die an eine demokratische Verfassung der europäischen Politik zu stellen sind, die im Verständnis der Demokratie mitgeführten Erkenntnisvorgaben einer Kritik zu unterziehen. Das erfordert einigen Aufwand. Er ist notwendig. Denn man gelangt durch die Kritik zu Anforderungen an eine europäische Politik, die sich sehr von denen unterscheiden, die vom Boden eines traditionalen Verständnisses der nationalen Demokratie an sie gerichtet werden. 2
Die Defizitthese
Drei Gründe sind es, die wieder und wieder genannt werden, um die Defizitthese zu begründen: 49
1.
2.
3.
Den politischen Entscheidungen der Europäischen Union fehlt der Demos, der als Subjekt der politischen Entscheidungen gelten könnte. Ihnen fehlt auch eine Öffentlichkeit, die an den Demos gebunden verstanden wird. Die politischen Entscheidungen der Europäischen Union ermangeln der Partizipation derer, die von den Entscheidungen betroffen sind (Streeck 1998: 16f.). Den politischen Institutionen der Europäischen Union wie ihren Entscheidungen fehlt deshalb auch die Legitimation, wie sie für die politischen Institutionen und Entscheidungen in nationalen demokratischen Verfassungen in Anspruch genommen werden kann.
An Überlegungen und Vorschlägen, wie dem Defizit abgeholfen werden kann, mangelt es nicht (Wolf 2000: 177ff.; Klein et al. 2003). Es ist jedoch nicht sicher, dass ihm überhaupt abgeholfen werden kann (Guéhenno 1996). Der Diskurs über das europäische Demokratiedefizit ist in sich komplexer, als es die zuvor angeführten Defizite erkennen lassen. In ihm ist sehr wohl wahrgenommen worden, dass der Demokratiebegriff selbst einer Überprüfung bedarf; überdies gibt es nicht wenige Erörterungen, die die Veränderungen zu bestimmen suchen, der sich eine demokratisch fundierte Politik unter dem Einschlag der ökonomischen Globalisierung und einer supranational bestimmten Politik ausgesetzt sieht (Held 1998); die Reflexion auf das tradierte Verständnis der Demokratie geschieht jedoch in aller Regel lediglich unter dem Erkenntnisinteresse, die Bestimmung der Demokratie so zu modifizieren, dass sie aus ihren nationalstaatlichen Grenzen ausgelöst und für transnationale Politikformen zugänglich wird (Abromeit 2002). Die in der politischen Theorie mitgeführten erkenntnistheoretischen Vorgaben der Demokratie bleiben erhalten. In nicht wenigen werden sie erst recht in Stellung gebracht (Richter 1999). Der Demokratiebegriff, der dem Diskurs über das Demokratiedefizit zugrunde liegt, ist jedoch ungleich problematischer, als es die Bemühungen um eine Anpassung des bis dahin nationalstaatlich geprägten Begriffs an eine europäische Politik erkennen lassen. Es sind die erkenntnistheoretischen Vorgaben, die den Demokratiebegriff belasten. Sie sind es auch, die in ihrer Konsequenz die Theorie der Demokratie mit Blick auf die politischen Verhältnisse, wie wir sie vorfinden, irreal erscheinen lassen. Die Bedenken lassen sich prägnant bestimmen. Sie richten sich gegen jedes der zuvor angeführten Gravamina. 50
1. 2.
3.
Die Frage ist schon, ob es Sinn macht, die Demokratie einem substanziell verstandenen Demos verbunden zu sehen. Die Frage ist dann auch, ob es Sinn macht, den substanziellen Gehalt der Demokratie darin zu sehen, dass zwischen denen, die die politischen Entscheidungen treffen, und denen, die von ihnen betroffen sind, eine Identität besteht. Und die Frage ist schließlich auch, ob es Sinn macht, die Legitimation der politischen Entscheidungen aus einem solchen Identitäts- respektive Kongruenzprinzip gewinnen zu wollen.
Wenn man das Demokratieverständnis infrage stellt, das dem Diskurs um das europäische Demokratiedefizit zugrunde liegt, bürdet man sich eine Aufgabe auf, die schier nicht zu bewältigen ist. Man sieht sich genötigt, Demokratie anders zu bestimmen, als sie über zwei Jahrhunderte in der politischen Theorie bestimmt worden ist. So aufwendig die Aufgabe erscheinen will, auf die Seite setzen lässt sie sich nicht, wenn irgendeine verlässliche Einschätzung gewonnen werden soll, wie es um die Demokratie in der Marktgesellschaft bestellt ist – in der Europäischen Union ebenso wie in den Nationalstaaten. Ich werde mich deshalb den folgenden Aufgaben zuwenden: Ich werde zunächst die epistemischen Grundlagen der klassischen Demokratietheorie klären (3). Ich werde sodann die epistemische Defizienz dieser Demokratietheorie unter den Erkenntnisvorgaben der Moderne bestimmen. Sie hat die Logik philosophischen Denkens für sich, wie sie aus der Vergangenheit in die Neuzeit überführt worden ist, aber die Realität der Demokratie gegen sich (4). Die soziologische Irrealität der klassischen Demokratietheorie werde ich allerdings nur thesenartig aufzeigen (5). Wichtiger im Kontext der gegenwärtigen Erörterung scheint mir, die Konturen einer prozessualen Theorie der Demokratie zu entwickeln. Dazu ist ihre materiale Zielvorgabe, Selbstbestimmung, ebenso zu erörtern wie der Widerstreit, in den sie zur Ökonomie geraten ist (6). Schließlich und endlich aber ist zu klären, was Demokratie im Prozess der Europäischen Integration verlangt. Die Klärung lässt sich nicht erreichen, ohne den Strukturwandel der Marktgesellschaft in der Epoche der Globalisierung der Ökonomie und der Transnationalisierung der Politik zu erörtern. Ein epistemisch bereinigtes und soziologisch realistisches Verständnis der Demokratie sieht auch die Politik der Europäischen Union der materialen Zielvorgabe der Demokratie unterworfen, befreit sie aber von den prozeduralen Anforderungen, die sich 51
aus der Übertragung ihres substanzlogischen Verständnisses der Vergangenheit ergeben (7). 3
Der klassische Demokratiebegriff als Problem
3.1 Die substanzlogische Struktur der klassischen Demokratietheorie „Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind“, so hat bekanntlich Carl Schmitt konstatiert, „säkularisierte theologische Begriffe. Nicht nur ihrer historischen Entwicklung nach, sondern auch in ihrer systematischen Struktur“ (Schmitt 1934: 49, gekürzte Wiedergabe). Die Prägnanz dieses Befundes gilt in besonderer Weise für die zentralen Begriffe der klassischen Demokratietheorie: für den Begriff des Volkes, des Gemeinwillens, der Souveränität, der Partizipation, schließlich der Legitimation. Jeder dieser Begriffe zeichnet sich dadurch aus, dass ihm die Vorstellung einer politischen Gemeinschaft zugrunde liegt, in der die substanzielle Gemeinsamkeit der Interessen der Subjekte wie ihrer normativen Überzeugungen die politische Gestaltungshoheit bestimmt. Der substanzlogische Vorstellungsgehalt eignet sich deshalb in besonderer Weise für die politische Theorie, weil mit ihm der subjektlogische Vorstellungsgehalt verbunden ist. Denn die Substanz ist in der abendländischen Theologie wie Philosophie eine subjektlogische Kategorie. Sie schließt das Moment schöpferischer Tätigkeit in sich ein. Eine Substanz, sagt Leibniz, kann von Natur nicht ohne Tätigkeit sein (Leibniz 1971: 161). Der klassischen, aber eben nicht nur klassischen, sondern auch der modernen Demokratietheorie zufolge stellt denn auch das Volk das Subjekt der Politik dar (Abromeit 2002). Beide Vorstellungsgehalte bestimmen die Identitätslogik, durch die sich die Demokratietheorie auszeichnet. In prägnanter Form findet sie ihren Ausdruck durch jene Formel, die Lincoln 1863 in der Gettysburg Address geprägt hat. Sie ist seither zur Standardformel für den Kerngehalt der Demokratie geworden. Demokratie, sagt Lincoln, sei „government of the people, by the people, for the people“ (Lincoln 1953). Eine Formierung der Demokratietheorie durch eine substanzlogische Subjektstruktur, die in der Formel von der Identität der Regierenden und der Regierten ihren Ausdruck findet, drängte sich für die Jahrhunderte der frühen Neuzeit auf. Denn ungeachtet dessen, dass das Universum in der naturwissenschaftlichen Revolution zu einem in sich geschlossenen System 52
geworden war (Newton 1963), blieb das 17. und auch noch das 18. Jahrhundert einer grundhaft-absolutistischen Logik der Begründung verhaftet. Die Philosophie beider Jahrhunderte sah sich, wie übrigens auch Newton selbst, weiterhin einer theistischen Schöpfungsgeschichte verpflichtet. Locke hielt daran ebenso fest wie Montesquieu und Hume. Es blieb Spinoza vorbehalten, das Absolute in den Innenraum des Universums einzuholen und einer deistischen Konstruktion der Welt das Wort zu reden (Spinoza 1979). Grundhaft-absolutistisch war auch sie. Wenn man nach allem bereit ist, dem 17. und 18. Jahrhundert ein substanzlogisch verfasstes Denken zugute zu halten, weil es einer Logik des Geistes entsprach, der sich die frühe Neuzeit nicht entziehen konnte; wenn man schließlich auch noch bereit ist, den Denkern des 19. Jahrhunderts zu konzedieren, in einem Jahrhundert zu leben, in dem die Bedingungen, sich dieser Logik zu entziehen, allenfalls in Ansätzen und eigentlich erst in der zweiten Hälfte sichtbar wurden, so ist es doch einigermaßen irritierend festzustellen, dass sich diese Logik auch heute noch fortsetzt. Denn heute weiß man, kann es jedenfalls wissen, dass eine grundhaft-absolutistische Logik, und das ist die Substanzlogik ihrer Struktur nach, die Ordnung von ihrem Ausnahmezustand her zu denken verlangt. Eine politische Theorie, die sich der substanzlogischen Verortung ihrer Begrifflichkeiten verschreibt, führt deshalb strukturnotwendig Demokratie und Totalitarismus zusammen (Agamben 2002: 19f.). Carl Schmitt hat auf diese Konsequenz explizit hingewiesen (Schmitt 1989: 237). Gleichwohl ist auch noch für das Demokratieverständnis der Gegenwart festzustellen, dass für ihre zentralen Theoreme die substanzlogische Struktur bestimmend bleibt. 3.2 Substanzlogische Transformationen moderner Demokratietheorien Demokratietheorien gibt es in nicht geringer Zahl (Schmidt 2000; Held 2006). Im mainstream der theoretischen Bestimmungen liegen Konzeptualisierungen, die der klassischen Begründung der Demokratie folgen, wie wir sie bei Rousseau finden (Rousseau 1959). Gesellschaften werden als Gemeinschaften verstanden, in der Subjekte als freie und gleiche Kooperationspartner sich zu dem Zwecke verbunden haben, das gemeinsame Beste ihrer Lebensführung zu bewirken. So steht es bei Rawls (Rawls 1994). Ersichtlich stellt die Bestimmung der Gesellschaft als Gemeinschaft keine bloße façon de parler dar. Sie meint, was sie sagt: Gesellschaften werden als 53
Gemeinschaften angesehen, deren Ordnung als Verabredung zwischen freien und gleichen Subjekten verstanden wird. Der substanzlogische Gehalt dieses Verständnisses der Gesellschaft behauptet sich zum einen in der Annahme eines gemeinsamen Interesses, das mit der Verabredung der Subjekte den Bodensatz der Gemeinschaft ausmacht; er behauptet sich jedoch zum andern darin, dass die Verabredungen von normativen Vorgaben bestimmt gesehen werden, die keiner weiteren, insbesondere keiner weiteren konstruktiven Erklärung zugänglich sind. Rawls erklärt explizit, die Verabredung basiere auf der Anlage (!) eines Gerechtigkeitssinns des Subjekts, durch den jeder fähig sei, sich des Guten als eines letzten Ziels im Handeln um seiner Selbst willen zu vergewissern (Rawls 1994: 268). Die Begründung liest sich wie eine Fußnote zu Platons Ideenlehre und der darin begründeten Geltung des Guten als eines letzten Grundes auch der Gerechtigkeit (Platon 1972; Dux 2009). In vergleichbarer Weise wie die Demokratietheorie Rawls’ ist die deliberative Theorie der Demokratie bei Habermas angelegt (Habermas 1992). Habermas hat sie im engen Konnex mit der Theorie kommunikativen Handelns entwickelt, das er als Grundlage der Gesellschaft verstanden wissen will. Er sieht die Gesellschaft auf die Verpflichtung eines jeden gegründet, Differenzen der Interessen in einem diskursiven Prozess einverständlich zu regeln. Die Prozeduralität, die damit in das Verfahren der Gesellschaftsbildung eingeführt ist, kann nicht darüber hinwegsehen lassen, dass sie auf einer normativen Vorgabe: der Anerkennung der Gleichheit der Subjekte, beruht. Die Gesellschaft wird in einer transzendentalen Moral verortet. Letztendlich stellt deshalb die Moral die Bedingung der Möglichkeit der Gesellschaft dar. Es ist diese Form einer kommunikativen Begründung der Gesellschaft, die Habermas in eine prozessuale Theorie der Demokratie überführt, denn in der vollzieht sich die Meinungs- und Willensbildung über differente Ebenen der Prozeduralität hinweg ebenfalls in einem kommunikativen Prozess. Der demokratische Prozess der Meinungs- und Willensbildung ist allerdings von den rigiden Anforderungen der Kommunikation im privaten Leben entlastet. Grundlage bleibt jedoch auch in den Diskursen der politischen Willensbildung eine transzendental verstandene Moral der Verständigung. Sie wird als ein dem Subjekt a priori eigenes Vermögen in den Meinungs- und Willensbildungsprozess eingebracht. Weil das so ist, und nur weil das so ist, kann Habermas sich hinreißen lassen, in den demokratischen Verfahren der Willensbildung „den idealen Gehalt der praktischen Vernunft 54
in pragmatischer Gestalt“ zu sehen (Habermas 1992: 367). Was Habermas nicht sieht und auch nicht sehen kann, ist, dass die transzendentallogische normative Begründung der Theorie kommunikativen Handelns wie auch der deliberativen Theorie der Demokratie in der Struktur (!) der Begründung der vormaligen substanzlogischen Struktur des Denkens verhaftet geblieben ist (Dux 2009: 192ff.). Die jedem Einzelnen als transzendentales Apriori zugeschriebene Moral verdichtet sich im politischen Prozess der Meinungs- und Willensbildung zu einer apriorischen Grundverfassung der Gesellschaft, die mit der Moral auch die Gerechtigkeit einschließt. Gesellschaften sind immer schon auf sie gegründet. Kann es irgendwie zweifelhaft sein, dass die substanzlogische Fundierung der Demokratie in diesem normativen Apriori ihre Fortsetzung erfährt? Wir finden ihre substanzlogische Fundierung auch sonst in der Demokratietheorie der Moderne. In den Grundvorstellungen, die mit der Theorie der Demokratie in der Gegenwart verbunden werden, erhalten sich die vertragstheoretischen Vorstellungen der frühen Neuzeit auch dort, wo Rousseaus Theorie des contrat social nicht ausdrücklich rezipiert wird. Dazu zählt vor allem eine Annahme – ich habe sie schon hervorgekehrt: die Gesellschaft als Gemeinschaft zu verstehen. Zum Verständnis der Gesellschaft geht man, so will es Heidrun Abromeit, vom einzelnen Individuum aus und sieht dessen Interesse dadurch bestimmt, sich mit anderen so zu verbinden, dass ihm im Verfolg gemeinsamer Interessen die Freiheit seiner Entscheidung gesichert bleibt (Abromeit 2002: 165ff.). Ersichtlich bleibt auch für Heidrun Abromeit das Rousseau’sche Modell eines Vertrags, dem eine Gemeinsamkeit der Interessen unterliegt, für das Verständnis der Gesellschaft ebenso wie der Politik grundlegend. Auch Claus Offe sieht in der Figur des Gesellschaftsvertrags die Grundlage der Gesellschaft (Offe 1998: 101). Die Bedingung der Möglichkeit eines solchen Vertrags liegt, folgt man der Retrospektive Guéhennos auf die Demokratie, in der Solidarität jener, die sich einer Nation verbunden wissen. Solidarität wie Nation formieren sich aus der Erinnerung an eine gemeinsame Geschichte (Guéhenno 1996: 21). Die Ordnung der Gesellschaft, die der demokratischen Verfassung unterliegt, ist deshalb die schöne Ordnung der Solidarität und des Gemeinschaftsinteresses der Nation. Die Politik bringt immer nur ein sekundäres Ordnungsmoment ein (Guéhenno 1996: 40). Solange die Demokratie bestand, lag ihr die Einheit des Volkes in der Einheit der Interessen und der Solidarität der Bürger zugrunde. Guéhenno sieht sie vergangen. Ihr ist, so Guéhenno, mit der Nation die Grund55
lage weggebrochen. Das sehen nicht alle so. Für die, die sie fortbestehen lassen, bleiben auch die Grundlagen erhalten, auf die sie vormals gegründet wurde. Ohne Anzeichen irgendeiner Irritation nutzt Fritz Scharpf die Lincoln’sche Formel von der Demokratie als der Herrschaft des Volkes durch das Volk (Scharpf 1970). Auch Heidrun Abromeit bedient sich der Formel (Abromeit 2002: 19). Scharpf lässt sich dabei von der Vorstellung leiten, es gäbe so etwas wie eine starke kollektive Identität als sozialstrukturelle Vorbedingung. Durch eben diese Identität sieht er auch gegenwärtig die demokratische Willensbildung bestimmt (Scharpf 1999: 16). Hängt man diesem Verständnis von Politik an, ist deren Aufgabe auf eine überaus einfache Weise zu bestimmen. Es geht um nicht mehr, als konkret zu bestimmen, auf welche Weise der substanziellen Gemeinsamkeit der Interessen im Gemeinwohl am effizientesten Rechnung getragen werden kann (Offe/Preuss 1991: 166ff.). Subjekt- und handlungslogisch konzipierte Theorien der Politik folgen darin dem Verständnis alltäglichen Handelns, dass sie die Politik von gemeinsamen Überzeugungen bestimmt sehen (Tocqueville 1985: 219). Sie zeichnen sich durch eine eigenartige Gemengelage der normativen und der faktischen Geltung aus. Die normativen Überzeugungen erweisen sich als zumindest im Bewusstsein faktisch existent. Gäbe es die normativen Überzeugungen nicht als faktisch in der Gesellschaft mitgeführte Überzeugungen, bräche, so sagen die Vertreter der klassischen Demokratietheorie, das Vertrauen der Minderheit weg, dass die Interessen aller, vor allem aber die Interessen der unterlegenen Minderheit, in die Willensbildung der Mehrheit Eingang fänden (Scharpf 1999: 19). Wenn das eine Problem des substanzlogischen Verständnisses der Demokratie darin zum Ausdruck kommt, dass Gesellschaft als Gemeinschaft verstanden wird, so das andere darin, den Strukturen der Gesellschaft wie der demokratischen Verfassung des politischen Systems deren normative Sollwerte eingebildet zu sehen. Das gilt auch für die Gerechtigkeit. Für die aber lässt sich die Annahme weder von den vorneuzeitlichen Gesellschaften noch von der Marktgesellschaft der Gegenwart halten (Dux 2008, 2009). Es hat nie eine gerechte Gesellschaft gegeben, nie eine, in der Gerechtigkeit schon in deren Strukturen eingelassen gewesen wäre. Es gibt sie auch heute nicht. Anders stellen sich die Verhältnisse für die Moral dar. Es ist keine Frage, dass in einer Gesellschaft der Verkehr der Bürger von Moral bestimmt sein muss. Die reicht jedoch nicht weiter, als es der Schutz der Person des anderen in den je konkreten Interak56
tionen verlangt. Die Bestimmung, welche Position jemand in der Gesellschaft einnimmt, wie seine Lebenslage beschaffen ist, welche Lebenschancen daran haften, ist einer Prozessualität im Bildungsprozess des ökonomischen Systems unterworfen. Und in der hat Gerechtigkeit keinen Platz. Diese Feststellung gilt insbesondere für den Bildungsprozess der Marktgesellschaft. In ihm bestimmt die Prozessualität des Marktes die Strukturen der Gesellschaft. Die Strukturen der Marktgesellschaft werden, das muss man sehen, um zu verstehen, in welcher Gesellschaft wir leben, gerade nicht von Gerechtigkeit bestimmt. Eben das aber ist communis opinio der politischen Theorie der Demokratie. Man wird nicht zögern, Fritz Scharpf zuzustimmen, wenn er erklärt, „dass bei der Definition des öffentlichen Interesses alle Interessen berücksichtigt werden sollen und dass Kosten und Nutzen von Maßnahmen im öffentlichen Interesse nach überzeugenden Normen distributiver Gerechtigkeit auszuführen sind“ (Scharpf 1999: 22). Die Frage ist jedoch, wie man ein solches Postulat zu verstehen hat. Die politische Theorie der Demokratie geht davon aus, dass ein normatives Bewusstsein, das diesem Postulat entspricht, die Grundlage der Gesellschaft und eben deshalb auch die Grundlage der Demokratie ausmacht. Obwohl im philosophischen Verständnis des Sollens von Kant bis Habermas das Sollen selbst ohne jede empirische Beimengung verstanden wird (Kant 1968; Habermas 1982), gilt der politischen Theorie das so verstandene Sollen als in die Strukturen der Gesellschaft eingelassen. Ohne die faktische Umsetzung dieser normativen Überzeugung, mag sie auch mehr schlecht als recht erfolgen, gäbe es die Demokratie nicht. Weil es diese Grundlage aber gibt, und nur weil es sie gibt, bildet die Demokratie im Verständnis der politischen Theorie auch die Grundlage des Wohlfahrtsstaats. „Beide“, stellt Claus Offe fest, Demokratie und Wohlfahrtsstaat, „sind auf die Zufuhr von verpflichtenden Motiven angewiesen, die ihrerseits an die nationalstaatliche Form der politischen Integration gebunden sind“ (Offe 1998: 105). Demokratie und Wohlfahrtsstaat speisen sich, das ist die Botschaft, aus einer Moral, der die substanzielle Identität der Interessen wie der Überzeugungen der politischen Gemeinschaft zugrunde liegt. Der politischen Philosophie kommt deshalb, so hat Rawls sich im Hinblick auf das Postulat der Gerechtigkeit verlauten lassen, lediglich die Aufgabe zu, danach zu forschen, wie die normativen Ideale, „die in der öffentlichen Kultur einer demokratischen Gesellschaft implizit oder latent vorhanden sind“, am besten verwirklicht werden können (Rawls 1994: 272). 57
Die republikanische Theorie der Demokratie, wie sie im „Contrat social“ Rousseaus Gestalt gewonnen hat, ist eine von der Konzeption eines gemeinsamen Interesses und eines Gemeinwillens bestimmte Theorie. Ihr geht es um eines: um das Prinzip der Selbstbestimmung des Einzelnen und der Selbstgesetzgebung des Volkes. Darum geht es auch in der anderen Theorietradition, der liberalen. Sie setzt jedoch die Akzente anders. Für sie ist das Interesse entscheidend, das Prinzip der Selbstbestimmung auf dem Markt nutzen zu können. In Rousseaus Theorie bleibt die ökonomische Betätigung außen vor. Denn in der bestimmt nicht die Gemeinsamkeit, sondern die Differenz der Interessen das Geschehen. Für die liberale Theorietradition ist die Differenz der Interessen zentral. Die historische Wurzel der liberalen Theorietradition kann man in Lockes „Two Treatises on Government“ sehen (Locke 1977). Locke folgt dem theorieleitenden Interesse an der Freiheit der Betätigung auf dem Markt, wenn für ihn die Gewaltenteilung in der Verfassung des Staats einen zentralen Stellenwert gewinnt. Die Idee der Gewaltenteilung hat durch Montesquieus „Vom Geist der Gesetze“ eine nachhaltige Verbreitung gefunden (Montesquieu 1951). Praktisch ist sie vor allem auf eines aus: auf eine Begrenzung der Regierungsgewalt. Mit eben diesem Ziel ist sie in die Verfassung der Vereinigten Staaten eingegangen (Madison 1982: 292-314). Theoretisch ist die Differenz der beiden Theorietraditionen jedoch weniger grundlegend, als es den Anschein hat. Die substanzlogische Struktur der Theorie der Demokratie ist jedenfalls beiden Theorietraditionen gemeinsam. Locke wie Montesquieu halten die gesellschaftliche Ordnung dadurch der Schöpfungsgeschichte verbunden, dass sie die Ordnung von „natürlichen Gesetzen“ bestimmt sehen. Montesquieu hat ihnen eine transzendentale Begründung zuteil werden lassen, die keinen Zweifel aufkommen lässt, dass sie nicht als „natürliche Gesetze“ des physikalischen Universums zu verstehen sind. „Naturgesetze“ heißen sie, so lässt sich Montesquieu vernehmen, „weil sie einzig und allein aus unserer Wesensart entspringen“ (Montesquieu 1951: 12). Strukturlogisch bleiben sie substanzhaft verortet. Und ganz ebenso wie im liberalen Verständnis der frühen Neuzeit das einzelne Subjekt substanzhaft verstanden wurde, wurde auch das Volk als Subjekt der demokratischen Verfassung und der von ihr bestimmten Politik von den substanzlogischen Vorgaben natürlicher Gesetze bestimmt gesehen (Madison 1982: 285). Theoriestrategisch sind denn auch die beiden Theorietraditionen, die republikanische und die liberale, in
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der politischen Theorie des westlichen Europas nicht als wirkliche Gegensätze verstanden worden. 4
Die epistemische Defizienz der klassischen Demokratietheorie
Erkenntniskritisch muss man eine Demokratietheorie, die einer substanzund identitätslogischen Struktur der Begründung verpflichtet ist, unter den erkenntnistheoretischen Vorgaben der Neuzeit und vollends der Moderne als überholt verstehen. Sie stellt das Relikt einer Geistesgeschichte dar, in deren Frühzeit die Handlung die dominante Struktur der Erklärung für das, was in der Welt vorgefunden wird und geschieht, darstellt. Sie hat die grundhaft-absolutistische Form der Erklärung bewirkt, die das vorneuzeitliche Denken bestimmt hat (Dux 2000). Wenn sich die grundhaft-absolutistische Form der Erklärung in der Aufklärung zu behaupten vermochte und sich als eine letzte Form ihrer entwicklungslogischen Transformation auch noch in den transzendentalen Begründungen der Gegenwart findet, so deshalb, weil Strukturen sich nur äußerst mühsam reflexiv überwinden lassen. Sie kehren in der Reflexion auf sie wieder. Wenn sich die Form einer grundhaft-absolutistischen Logik auch noch in der Aufklärung zu behaupten vermag, so deshalb, weil sich die philosophische Reflexion des 18. Jahrhunderts nicht in der Lage sah, die kategorialen Formen des menschlichen Geistes anders als transzendental zu begründen. Sie erachtete das Vermögen, sie aus sich herauszusetzen, schlicht als gegeben (Kant 1923). Ersichtlich bleibt das transzendentallogisch verankerte Denken in der transzendentalen Vorgabe des Vermögens, die Lebensformen aus sich herauszusetzen, einer grundhaft-absolutistischen Struktur verhaftet. In der Moderne ist die substanzund identitätslogische Struktur erkenntniskritisch deshalb überholt, weil es im geschlossenen Universum der Neuzeit kein Absolutum und schon gar keine Absoluta gibt. An die Stelle einer subjekt- und substanzlogischen Struktur tritt in der Moderne die prozessuale Struktur einer systemischen Begründung der Organisationsformen des Lebens. Auch das Denken erfährt fortan eine prozessuale Begründung aus seiner konstruktiven Genese. Die aber wird, wie alles in der Welt, von angebbaren Bedingungen bestimmt. Für ein strukturlogisch aufgeklärtes Verständnis der Geistesgeschichte ist nach allem nicht zweifelhaft, dass sich in der Stellung, die dem Volk als Substanz und Subjekt des Geschehens in der Demokratie zugeschrieben 59
wird, eine obsolet gewordene Struktur des Denkens behauptet. Selbstredend weiß man in der politischen Theorie, dass das Volk nicht wirklich regiert; und selbstredend weiß man, dass die Formel von der Demokratie als Herrschaft des Volkes durch das Volk für das Volk irreal ist. Man benötigt die Formel gleichwohl, weil sie von der argumentativen Struktur der Logik verlangt wird. Gewiss, diese Logik ist nicht länger die vorneuzeitliche Logik, nicht die Subjekt- und Substanzlogik der Antike und des Mittelalters. In der ließ sich das Verlangen nach einem substanziellen Endpunkt der Erklärung schlechterdings nicht verweigern. Im aufgeklärten Verständnis der Moderne bilden sich die kategorialen Formen, die der Erkenntnis wie des Sollens, erst konstruktiv. In ihrer Rekonstruktion wird jede transzendentale Begründung obsolet (Dux 2000: 138ff.) Die Eliminierung jeder grundhaften Form der Erklärung lässt auch die klassischen Theorien der Demokratie alt aussehen. Der epistemische Widerspruch gegen eine substanz- und subjektlogisch unterlegte Demokratietheorie lässt sich nach allem prägnant bestimmen: Endpunkte der Erklärung sind im modernen Verständnis der Welt nicht auffindbar. Eine Theorie der Gesellschaft respektive der Politik, die auf diese Struktur fixiert ist, muss daher in ihren Erklärungsleistungen defizient werden. Sie sieht sich außerstande, die realen Verhältnisse abstraktiv so in eine Theorie zu fassen, dass die Prozessualität, durch die sich die Verhältnisse bilden, transparent wird. Die Zurechnung der Politik zu der phantasmagorischen Substanz des Volkes ist ein eindrückliches Beispiel. Dadurch entsteht eine nicht weniger phantasmagorische Legitimation der Politik. Denn wer das Volk als Subjekt der Politik versteht, nimmt eine verfassungsrechtliche Zurechnung vor, die das Ziel hat, eine Prozeduralität zu legitimieren, die sie gar nicht erfasst. Die Legitimation läuft dadurch so leer wie die Bestimmung der Prozessualität der sozialen Systeme: des gesellschaftlichen Gesamtsystems wie des politischen Systems. Die klassische Demokratietheorie konnte denn auch durch Theorien, die sich wie die von Schumpeter und Zolo als realistische Theorien verstehen, mühelos auf die Seite gesetzt werden (Schumpeter 1950; Zolo 1997). Unter den erkenntnisleitenden Vorgaben der Neuzeit sieht sich eine Theorie der Demokratie von der Anforderung bestimmt, das kategoriale Gerüst aus den Bedingungen einsichtig zu machen, unter denen sich die demokratische Verfassung bildet und entwickelt. Unter dieser Anforderung gewinnen zwei Auszeichnungen der Demokratie eine überragende Bedeutung:
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1.
2.
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Demokratie muss als Verfassung eines politischen Systems verstanden werden, das einer systemisch differenzierten Gesellschaft eingefügt ist, in der das ökonomische System das eigentlich Gesellschaft begründende System ist. Die demokratische Verfassung des politischen Systems lässt sich, das wird sich zeigen, nicht verstehen, wenn sie nicht als im Widerstreit zur ökonomischen Verfassung verstanden wird. Nicht minder bedeutsam ist, die der Politik eigene Gestaltungshoheit von einer normativen Zielvorgabe des kulturellen Systems bestimmt zu sehen, die sich mit der Marktgesellschaft mitentwickelt hat und das Selbstverständnis der Subjekte in der Neuzeit bestimmt: Selbstbestimmung. Normative Zielvorgaben dürfen allerdings nicht länger einer grundhaft-absolutistischen Logik verhaftet verstanden werden. Bevor ich die Konturen einer soziologischen Theorie skizziere, die diesen Anforderungen Rechnung trägt, scheint es ratsam, die Irrealität der klassischen Demokratietheorie thesenartig festzuhalten. Ich markiere sie an vier Befunden. Die Irrealität der klassischen Demokratietheorie
Irreal ist, der demokratischen Verfassung eine Einheit der Interessen des Volkes zugrunde zu legen. Denn eine Einheit des Interesses, von der gesagt werden könnte, dass sie es wäre, die die Politik bestimmte, ist nicht ersichtlich. Die Marktgesellschaft ist ihrem Bildungsprozess wie ihrer historischen Entwicklung nach eine Klassengesellschaft. Zu keiner Zeit hat die Politik die Einheit der Interessen für sich in Anspruch nehmen können. Sie kann es auch heute nicht. Unter dem Einschlag der Globalisierung ist das ökonomische System in eine Epoche seiner Entwicklung eingetreten, in der sich die Klassengesellschaft neu formiert, wenn auch der Klassenbegriff und die reale Ausprägung der Klassen anders bestimmt werden müssen als im 18. und 19. Jahrhundert. Irreal ist auch, die Grundlage der Politik in der Gemeinsamkeit des Nationalstaats finden zu wollen. Diese Feststellung gilt bereits für den Nationalstaat der Vergangenheit. Der Nationalstaat ist schlecht verstanden, wenn man meint, die Gemeinsamkeit der Geschichte und die daran haftende historische Erinnerung für die Politik in Anspruch nehmen zu können (Kielmannsegg 1996; Guéhenno 1996: 21). Es gibt ein Bewusstsein der Gemein61
samkeit. Das ist jedoch – je länger, desto mehr – das Bewusstsein einer Gemeinsamkeit des Verschwindens; es ist auch politisch relevant. Die Frage ist jedoch: wofür? Wenn die Bürger eines Staats jemals meinten, im politischen System des Nationalstaats eine Identität stiftende Gemeinschaft zu finden, so deshalb, weil sie diese Gemeinschaft in der vom ökonomischen System bestimmten Grundverfassung der Gesellschaft gerade nicht zu finden vermochten. Und wenn sie hofften, durch ihre Integration in den Nationalstaat eine Identität wiederzugewinnen (Gellner 1983), die ihnen unter der Entwicklung der Marktgesellschaft abhanden gekommen war, so war das schon damals eine Illusion. Der Nationalismus ist nicht die Grundlage der Demokratie, er war es auch in der Vergangenheit nicht. Er ist ihre Ideologie. Das zeigt sich nirgends eindringlicher als in seiner Radikalisierung im Nationalsozialismus (Dux 2008: 170ff.). Ebenfalls irreal ist es, die Teilhabe des Volkes an der Politik durch Wahlen und Abstimmungen als demokratisches Kongruenzprinzip verstehen zu wollen, durch das zwischen denen, die die Politik machen, und denen, die von ihr betroffen sind, eine Identität begründet würde. Wahlen und Abstimmungen stellen ein Verfahren dar, um Machtpotenziale in der Gesellschaft zu sichern, gegebenenfalls auch um sie zu gewinnen. Unter der Vorherrschaft des ökonomischen Systems in der Marktgesellschaft haben sie während der längsten Zeit ihrer Geschichte den Effekt gezeitigt, den vom ökonomischen System Begünstigten die Vorzüge dieses Systems zu sichern. Bestenfalls kann man sie als Chance der anderen verstehen, sich ein Machtpotenzial zu verschaffen, um den Reichtum der Gesellschaft anders zu verteilen, als er im ökonomischen System verteilt wurde. Darauf komme ich zurück. Irreal ist schließlich die in die Demokratietheorie eingegangene Vorstellung, die Einheit der Gesellschaft werde durch allen gemeinsame moralische Überzeugungen begründet, die bewirkten, dass jeder ein aktives Interesse am Wohlergehen des anderen mitverfolge (Offe 1998: 104). Diese Moral gibt es in sozialen Systemen, in denen das Leben gemeinsam in Interaktionen und Kommunikationen face to face geführt wird, in Gemeinschaften also. In Gesellschaften gibt es sie nicht. Es gibt sie insbesondere nicht in der Marktgesellschaft. Gesellschaften sind nicht, als was die politische Theorie sie verstehen will: als Gemeinschaften. Gewiss, es bedarf auch in der Gesellschaft der Akzeptanz moralischer Prinzipien, um sie möglich sein zu lassen. Der Begegnungsverkehr auf dem Markt erfordert sie ebenso wie der ano62
nyme Verkehr unter Fremden in der Öffentlichkeit. Aber die moralischen Prinzipien reichen auch nicht weiter, als den Verkehr möglich zu machen (Dux 2004). Sie sind es nicht, die der Marktgesellschaft Form und Inhalt geben. Schon gar nicht gewährleisten sie einen Ausgleich der Interessen in der Marktgesellschaft. Hätte in der Marktgesellschaft jeder ein „aktives Interesse am Wohlergehen des anderen“, müsste die Marktgesellschaft anders aussehen. Realiter hätte sie sich erst gar nicht bilden können. Denn die dem ökonomischen System immanente Logik ihrer Prozessualität, über die sich die Grundverfassung der Gesellschaft bildet, widerspricht diesem Interesse (Friedman 2004: 164f.). Die Irrealität der von den substanz- und identitätslogischen Vorgaben bestimmten Demokratietheorie lässt sich auf den Punkt bringen. Sie besteht darin, durch die substanzlogische Verortung die prozedurale Form der Demokratie mit ihrem materialen Gehalt zur Deckung zu bringen. Denn die Substanz enthält, was immer an idealen, normativen Gehalten die demokratische Verfassung des politischen Systems bestimmt. Die auch noch in der Gegenwart vorherrschende Demokratietheorie folgt darin der logischen Struktur ihrer Konzeptualisierung, dass sich in ihr die demokratische Verfassung der Gesellschaft als eine Verfassung darstellt, die jedenfalls ihrer Anlage nach als eine gute und gerechte Gesellschaft erscheint. Der normative Sollgehalt wird als den Strukturen eingebildet verstanden. Gewiss, es ist der politischen Theorie nicht entgangen, dass sich einige der ihr zugeschriebenen Gehalte nicht haben realisieren lassen. Sie werden als „broken promisses“ notiert und abgeschrieben (Bobbio 1987: 26-41). Die Idealität der demokratischen Verfassung wird dadurch nicht infrage gestellt. Tatsächlich nehmen sich die Verhältnisse allerdings anders aus. Die Theorie der Demokratie konnte nur so lange meinen, mit den Verhältnissen in der Gesellschaft im Einklang zu sein, wie sie ihre politischen Vorgaben mit den Interessen einer bürgerlichen Gesellschaft zur Deckung brachte, in der das Bürgertum als Schicht konsolidiert war. Die liberale Theorie Lockes zielte überhaupt nur auf die Sicherung des Eigentums. Selbstbestimmung als „Sicherung des Eigentums an der Person“ meinte ökonomische Selbstbestimmung, wie sie das Bürgertum für sich in Anspruch nahm. Die republikanische Theorie Rousseaus schloss aus dem Gemeinwillen alle divergierenden Interessen aus und sicherte dem Bürgertum durch deren Exklusion mehr noch als durch den ohnehin vom Bürgertum bestimmten Gemeinwillen die „freie Entfaltung“ der Selbstbestimmung in der Ökonomie. Beide, die liberale wie die 63
republikanische Theoriestrategie, halten den Konflikt verdeckt, der die demokratische Verfassung bestimmt: den Konflikt zwischen einer von der Ökonomie bestimmten selbstorganisatorischen Machtverfassung der Gesellschaft und den selbstreflexiven Anforderungen der Subjekte an die Gesellschaft, ein selbstbestimmtes Leben führen zu können. Realistische Demokratietheorien tendieren dazu, die normative Dimensionierung der Demokratie zu eliminieren. Sie lässt sich aber nicht eliminieren. Denn die normative Zielvorgabe der Selbstbestimmung gründet nicht auf einer absolutistischen Setzung, wie Zolo meint (Zolo 1997: 53), sie beruht vielmehr auf einem Selbstverständnis des Subjekts, wie es in einer säkular verstandenen Welt imperativisch wird. Realistisch will jede soziologische Theorie der Demokratie sein, die sich daran gebunden sieht, einer „Wirklichkeitswissenschaft“ verpflichtet zu sein (Weber 1968). Um es sein zu können, muss sie die bestimmenden Prozesse der Genese der Demokratie eruieren und in eben diesem Sinne eine prozessuale Theorie sein. 6
Eine prozessuale Theorie der Demokratie
6.1 Zur Genese der Demokratie Demokratie ist als Organisationsform des politischen Systems der Marktgesellschaft aus der Konvergenz einer sozialstrukturellen und einer kulturellen Entwicklung in den Jahrhunderten der frühen Neuzeit hervorgegangen. Sozialstrukturell hat die Ausbildung eines in seiner prozeduralen Logik auf die Kapitalakkumulation fixierten ökonomischen Systems die Ausbildung eines korrelaten politischen Systems notwendig gemacht. Das politische System vermochte Organisations- und Funktionsvorgaben des absolutistischen Staats zu nutzen, bildete sich aber unter der vorlaufenden Entwicklung des ökonomischen Systems zu einem Teilsystem innerhalb der Marktgesellschaft aus. Ihm fiel eine Gestaltungshoheit innerhalb der Gesellschaft zu, die niemand im Vorhinein definiert hat, für die aber zwei Aufgaben gleichsam in der Intentionalität und Logik ihres Bildungsprozesses lagen: Das politische System schuf und garantierte die normativen Regeln, die für das Zusammenleben der Subjekte in der Marktgesellschaft notwendig sind. Seither ist die Moral in das Recht integriert. Und es schuf und garantierte die Rechtsformen, die das ökonomische System benötigt, um die Austausch64
prozesse effizient und verlässlich abwickeln zu können. Das ist die eine der Entwicklungslinien der demokratischen Verfassung des politischen Systems. Die andere geht aus einer kulturellen Entwicklung hervor: Sie verdankt sich der in der Neuzeit gewonnenen Einsicht, dass sich die Welt als Resultat der konstruktiven Kompetenz des Menschen bildet. Konstrukteur ist der Mensch in der gesellschaftlich verfassten Interaktion und Kommunikation mit anderen – wenn man so will: als Gattungssubjekt. Auch wenn die Umarbeitung und Weiterentwicklung der je historischen Welt nur gesellschaftlich erfolgen kann, liegt die zur (Re-)Konstruktion erforderliche Verarbeitungskompetenz beim einzelnen Subjekt. Fortan konvergiert deshalb das Verständnis der Welt, der Natur wie der Sozialwelt, auf das konstruktive Vermögen im Subjekt. Fortan konvergiert insbesondere alle Wertigkeit, auf die hin die Gesellschaft konstruktiv gestaltet wird, auf das einzelne Subjekt. Und das ist schlicht deshalb so, weil im säkularen Verständnis der Welt alle Wertigkeit vom Subjekt herrührt. Wie jedes soziale System wird auch das politische System durch eine paradigmatische Form von Handlungen bestimmt, durch deren Vernetzung es sich als soziales System bildet. Die paradigmatische Form der Handlungen wird durch deren Zielvorgabe bestimmt. Zielvorgabe der Politik sind zum einen die System sichernden Funktionen, die das politische System insbesondere für das ökonomische System übernimmt, und zum anderen die materiale, kulturelle Zielvorgabe, die von dem in der Neuzeit gewonnenen Verständnis des Menschen, Konstrukteur seiner eigenen Lebensform zu sein, bestimmt wird. Sie setzt sich in die Maxime der Selbstbestimmung des Einzelnen und der Selbstgesetzgebung des Volkes um. Alle politischen Theorien führen von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart Selbstbestimmung und Selbstgesetzgebung als Leitprinzipien der Politik mit (Dux 2008: 52ff.; Klein et al. 2003: 10; Florida 2002: XIX, passim). Unter der Zielvorgabe der Selbstbestimmung und Selbstgesetzgebung formiert sich das politische Projekt der Moderne. Projekt ist es deshalb, weil es auf eine konstruktive Gestaltung zielt, durch die sich das Postulat der Selbstbestimmung allererst realisieren sollte. Es ließ sich aber nicht realisieren. Zwischen dem ökonomischen System und der materialen Zielvorgabe der demokratischen Verfassung des politischen Systems besteht ein tief gehender Widerstreit.
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6.2 Was Selbstbestimmung meint Das Subjekt der Moderne befindet sich in der Marktgesellschaft in einer Grenzlage der Gesellschaft, aus der heraus es sich allererst selbst durch seine Handlungen und Kommunikationen in die Gesellschaft integrieren muss. Das gilt prinzipiell auch für die Position des Subjekts in vorneuzeitlichen Gesellschaften (Dux 2003). Die Situation des Subjekts der Marktgesellschaft unterscheidet sich jedoch dadurch von der der Subjekte in den vorneuzeitlichen Gesellschaften, dass die Gesellschaft keine Platzhalterfunktion für seine Integration kennt. Zwar bleibt das familiale Ambiente für den Erwerb der kognitiven, normativen und affektiven Kompetenzen bedeutsam, das ändert jedoch nichts daran, dass es dem Subjekt selbst obliegt, sich mit der Integration in die Gesellschaft die Bedingungen einer gelungenen Lebensform zu schaffen. Doch damit ist die Bedeutung dessen, was Selbstbestimmung meint, noch nicht erfasst. Die zeigt sich erst, wenn man wahrnimmt, dass zwischen der Aufgabe, der jedes Subjekt unterworfen ist, sich in die Gesellschaft zu integrieren, und der Verfassung des Subjekts eine höchst signifikante Rückkoppelung besteht. Das Subjekt bildet sich ontogenetisch durch den Erwerb einer Handlungskompetenz in der Interaktion mit der Umwelt. In der Marktgesellschaft wird der Bildungsprozess des Subjekts deshalb, je weiter er fortschreitet, davon abhängig, dass das Subjekt die Integration in die Sozialwelt auch bewältigt. Einzig dadurch erfährt das Subjekt eine Bestätigung seiner Selbst, die es in Einklang mit sich leben lässt. Als in der griechischen Antike ein erstes Bewusstsein gewonnen wurde, unter konstruktiven Bedingungen zu leben, und sich eben damit auch das Bewusstsein ausbildete, sich zur Integration in die Gesellschaft „bilden“ zu müssen, hat Platon für die damit dem Subjekt zufallende Verantwortung für sich selbst eine zum Nachdenken anstiftende Formulierung gefunden. Es gelte, so sagt er in der Politeia, die Kräfte der Seele so zu rüsten, dass jeder Mensch „Freund seiner selbst sei“ (Platon 1972: 443d). Um eben diese rückbezügliche Form der Selbstfindung geht es in der Marktgesellschaft in einer prinzipalisierten Form. Das Subjekt wird in der Marktgesellschaft sich selbst zur Bedingung eines gelungenen Lebens. Es kann dazu aber nur durch eine Hinwendung zur Außenwelt gelangen, durch die es sich selbst bildet und bestätigt. In der Marktgesellschaft der Moderne zwingt deshalb die Entwicklung des Verhältnisses von Welt und Subjekt dem Subjekt die Maxime der Selbstbestim66
mung auf. Selbstbestimmung meint Selbstverwirklichung. Sie muss als ein „anthropologisches Dispositiv“ des Subjekts der Neuzeit verstanden werden. Als anthropologisches Dispositiv enthält das Postulat der Selbstbestimmung ein Moment der Steigerung der Subjektstruktur. Das Subjekt kann den Anforderungen an eine selbstbestimmte Lebensform nur durch eine gesteigerte Form von Bildung nachkommen. Sie vor allem lässt das Subjekt sich auf sich selbst richten. Ein Abglanz dieser Bedingtheit der Lebensform des Subjekts ist in die jüngere liberale Theorie eingegangen. „It is indispensable“, so John Stuart Mill, „to enable average human beings to attain the mental stature, which they are capable of“ (Mill 1991: 17, 63). Die knappe Reflexion über das, was die Wertigkeit der Selbstbestimmung ausmacht, war zum einen notwendig, um zu verstehen, was Selbstbestimmung meint: Selbstverwirklichung. Für sie werden die in der Moderne eröffneten Möglichkeitsdimensionen der Lebensführung in Anspruch genommen. Sie war zum andern notwendig, um zu verstehen, weshalb Selbstbestimmung als Projekt der Demokratie manifest geworden ist. Sie war aber vor allem notwendig, um deutlich zu machen, dass die Partizipation des Bürgers am Prozess der politischen Willensbildung zwar selbst schon als ein Moment der Selbstbestimmung verstanden werden muss, in ihrer demokratischen Intentionalität jedoch auf eine Form der Selbstbestimmung zielt, durch die das Subjekt die Praxis des täglichen Lebens in einer Weise gestalten will, dass es sich in der Gesellschaft als bedeutsam erfährt. Es will von dieser Praxis sagen können: So will ich leben, weil ein so gelebtes Leben ein (für mich) bedeutsam gelebtes Leben ist. Exakt das ist gemeint, wenn man sagt: Selbstbestimmung stelle das anthropologische Dispositiv des Subjekts der Moderne dar. Für diese Form der Selbstbestimmung soll die demokratische Verfasstheit des politischen Systems die Bedingungen schaffen. Der politischen Dimension dieser Zielvorgabe der Demokratie wird man erst gewahr, wenn man auch den Widerstreit wahrnimmt, in den Demokratie und Politik mit der Ökonomie geraten sind. 6.3 Demokratie im Widerstreit mit der Ökonomie Selbstbestimmung stellt seiner Genese nach ein subjektives Verlangen der Lebensführung dar, das sich in eine normative Anforderung an die Politik übersetzt. Seine Bestimmung als anthropologisches Dispositiv stellt klar, dass es sich als normatives Postulat keiner Setzung verdankt, die einer abso67
luten Letztbegründung entstammt, sich vielmehr aus einer reflexiven Selbstverständigung des Subjekts unter den Verständnisvorgaben einer säkularen Welt bildet. Das Postulat der Selbstbestimmung nimmt deshalb für sich eine Stringenz der Erkenntnis in Anspruch, die unabweisbar ist. Eben deshalb ist Demokratie nicht verhandelbar. Es kennzeichnet die Lebenslage des Subjekts in der Moderne, mit diesem Selbstverständnis in Widerstreit mit der vom ökonomischen System formierten Gesellschaft geraten zu sein. Der auf jedem Subjekt lastende Zwang, sich in das ökonomische System zu integrieren, widerstreitet dem Anspruch auf Selbstverwirklichung deshalb, weil Arbeit im ökonomischen System nur in einem kontingenten Verhältnis zur Selbstverwirklichung steht. Es sind nur wenige, die eine Form von Selbstverwirklichung in der Arbeit finden. Prinzipiell gilt der Widerstreit deshalb für so gut wie jedes Subjekt. Eine existenziell bedrohliche Dimension gewinnt der Widerstreit für jene Millionen, die sich nicht oder nur unzureichend in das ökonomische System der Arbeit zu inkludieren vermögen. Denn ihnen wird mit der Verweigerung der Subsistenzen der Lebensführung auch der Boden einer selbstbestimmten Lebensführung entzogen. Unter dem Widerstreit zwischen der Maxime der Selbstbestimmung und den vom ökonomischen System bewirkten Verhältnissen fällt der Demokratie die Aufgabe zu, Verhältnisse zu schaffen, die jedem die Möglichkeit eröffnen, diejenigen Sinnvorgaben der Gesellschaft zu realisieren, die sich aus den in der Gesellschaft ausgebildeten Möglichkeitsdimensionen der Lebensführung herauskristallisieren (Dux 2009). Das Bürgertum hat in den Jahrhunderten der Neuzeit diesen Widerstreit zwischen der Selbstbestimmung als anthropologischem Dispositiv des neuzeitlichen Subjekts und der Verfassung der Gesellschaft verdeckt gehalten. Das ökonomische Bürgertum war und ist entschlossen, seinen ökonomischen Erfolg als Manifestation der Selbstbestimmung zu verstehen. Locke verlangte deshalb vom Staat kaum mehr als die Sicherung des Eigentums. Als Eigentum aber galt ihm vorzüglich das „Eigentum an seiner eigenen Person“ (Locke 1977: 216). Reflexiv bedachtsamen Zeitgenossen will die Selbstbestimmung, die die für sich in Anspruch nehmen, die sich der Kapitalakkumulation verschreiben, so selbstbestimmt nicht erscheinen. Damit stehe es, wie es wolle. Am ehesten noch konnte das Bildungsbürgertum Arbeit und Selbstverwirklichung vereinen. Für die, die sich als Arbeiter oder Angestellte den Bedingungen der Subsistenzsicherung im ökonomischen System unterworfen sahen, war Selbstbestimmung durch die Jahrhunderte 68
ein Anathema. Auch wenn gar nicht in Abrede gestellt werden kann, dass Produktion und Bürokratie unter der Entwicklung der Marktgesellschaft Anforderungen an die Entfaltung der Persönlichkeit stellten, so waren es nur wenige, die sie für eine selbstbestimmte Lebensform zu nutzen in der Lage waren. Die gegenwärtige Entwicklung der Marktgesellschaft nimmt sich für die große Zahl der lohnabhängig Beschäftigten, misst man sie am Dispositiv der Selbstbestimmung, wenig günstiger aus. In der Marktgesellschaft erfolgt eine Verlagerung der Arbeit vom produktiven Sektor hin zu einer Arbeit, die von Wissen, Kommunikation und von kreativer Projektarbeit bestimmt wird. Überdies ändert sich die Form der Arbeit. Wie viel Raum dabei für eine kreative Selbstverwirklichung besteht, bleibt gleichwohl kontingenten Bedingungen verhaftet (Boltanski/Chiapello 2003). Auch wenn man die Zweifel beiseite lässt, sind es bei einer optimistischen Schätzung lediglich 25 bis 30%, die die so genannte „kreative Klasse“ bilden (Florida 2002: XIV). Unter den verbleibenden 70 bis 75% nimmt sich die Lebenslage derjenigen, die ihr Leben an oder wenig über der Armutsgrenze fristen – und das ist ein Drittel der Bevölkerung –, bedrückend aus. Es verschlägt nicht, dass ihnen das Existenzminimum gesichert ist. Demokratie bemisst sich nicht am Überleben, sondern am Dispositiv der Selbstbestimmung. Sie konkretisiert sich in zwei Postulaten: in einer Form von Bildung, die beträchtlich über das bisherige Niveau hinausgeführt werden muss, und in Freiräumen der Lebensführung. Beide Postulate sind an komplexe Bedingungen ihrer Realisierung gebunden. Eines erfordert eine selbstbestimmte Lebensführung allemal: eine Sicherung der Subsistenzgrundlage ein gutes Stück oberhalb der Armutsgrenze. Beide Postulate lassen sich durch das ökonomische System nicht realisieren. Denn das operiert nach einer Logik, in der das Interesse des Subjekts an einer selbstbestimmten Lebensführung keinen Platz hat. Wenn deshalb in der Marktgesellschaft das eine wie das andere Postulat eine Chance der Realisierung finden soll, muss sie durch das politische System geschaffen werden. Wer dagegen einwenden wollte, durch die Geschichte belehrt worden zu sein, der Politik nicht die Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse überlassen zu können, zeigt lediglich, dass er mit dem schnellen gesellschaftlichen Wandel nicht Schritt zu halten vermag. Es geht nicht, wie man im 19. Jahrhundert meinen konnte, um die Abschaffung des ökonomischen Systems; es geht um die Gestaltung einer Gesellschaft, die nicht belassen werden kann, wie sie vom ökonomischen System geformt 69
wird, wenn dem Anspruch des Subjekts auf Selbstbestimmung Genüge getan werden soll. Man kann sich über die Chancen der Demokratie, in der Marktgesellschaft der materialen Zielvorgabe der Selbstbestimmung respektive Selbstverwirklichung Geltung zu verschaffen, keinen Illusionen hingeben. Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung lagen, eng verbunden mit dem Postulat der Gerechtigkeit, im Horizont des Sozialstaats. Der ist, misst man ihn an seiner materialen Zielvorgabe, der Sicherung der Autonomie der Subjekte (Vobruba 1997), in Deutschland gleich zwei Mal gescheitert: ein erstes Mal am Ende der Weimarer Republik, ein zweites Mal in der Bundesrepublik, als ausgerechnet eine sozialdemokratische Regierung sich entschloss, die Sicherung des Existenzminimums für ausreichend zu erachten. Gescheitert ist der Sozialstaat, gescheitert ist deshalb nicht auch die Demokratie, so eng sie dem Sozialstaat auch verbunden ist. Die Demokratie ist in ihrer normativen Zielvorgabe gegenüber der Entwicklung der Verhältnisse widerständig. Als praktisch-politische Umsetzung des Selbstverständnisses des Subjekts der Moderne ist sie, wie wir gesagt haben, nicht verhandelbar. Sie zwingt uns jedoch, umzudenken und für den Sozialstaat andere Organisationsformen zu finden, als sie unter den nationalstaatlich verfassten Gesellschaften geschaffen wurden (Dux 2008: 270ff.). Umdenken müssen wir aber auch, weil die Marktgesellschaft in eine Epoche ihrer historischen Entwicklung eingetreten ist, in der sich ihre Strukturen grundlegend ändern. 7
Demokratie und Europäische Integration
7.1 Strukturwandel der Marktgesellschaft Globalisierung der Ökonomie und Transnationalisierung der Politik verändern die systemische Verfassung der Marktgesellschaft in einer Weise, durch die ihr kategoriales Gerüst neu bestimmt werden muss. Von den nationalen Gesellschaften vor dem Eintritt der Marktgesellschaft in die Epoche der Globalisierung und Transnationalisierung konnte man mit einigem Recht sagen, sie seien informativ offene, operativ aber geschlossene Systeme. Von der Marktgesellschaft nach dem Eintritt in die Epoche der Globalisierung der Ökonomie und der Transnationalisierung der Politik lässt sich das nicht länger sagen. In ihr haben sich die nationalen Gesellschaften zwar nicht 70
aufgelöst, sie sind jedoch operativ offen zu transnationalen Gesellschaften wie der Europäischen Union und zur Weltgesellschaft geworden. Transnationale Gesellschaften und Weltgesellschaft haben sich als gesellschaftliche Systeme allererst unter der Globalisierung und Transnationalisierung gebildet. In der Literatur wird die so entstandene Verfassung der Marktgesellschaft als Mehrebenengesellschaft und deren politisches System als Mehrebenendemokratie verstanden (Münch 1998: 400). Mir will es systemisch näher liegend erscheinen, die Marktgesellschaft fortan als ein soziales System zu verstehen, das sich in einander konzentrisch zugeordnete gesellschaftliche Systeme gliedert. Denn dadurch wird deutlich, dass die jeweils umfassenderen Systeme, europäische Gesellschaft und Weltgesellschaft, die nationalen Gesellschaften einschließen. 7.2 Das Verständnis von Demokratie und Politik in der Epoche der Globalisierung und Transnationalisierung Bereits unter der noch nationalstaatlich verfassten Marktgesellschaft war die Annahme, das Volk als Subjekt von Demokratie und Politik verstehen zu müssen, epistemisch rückständig und soziologisch irreal. Darauf habe ich eingangs hingewiesen. Sie fand jedoch einen Anhalt an den realen Gegebenheiten der systemischen Verfassung. 1.
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Das ökonomische System formierte sich in den Grenzen des Nationalstaats. Es war in dieser Epoche seiner Entwicklung überdies in seiner Operationalität auf eine Innen-Außen-Differenzierung angewiesen, um einen Teil des Mehrwerts zu realisieren. Außen waren in erster Linie die nicht-kapitalistisch verfassten Gesellschaften. Daher rührt der von der Ökonomie gestützte Imperialismus! Außen waren aber auch die anderen bereits kapitalistisch verfassten Gesellschaften (Hardt/Negri 2000: 221-239). Im politischen System wurde die Vorstellung des Volkes als Subjekt der Politik durch einen Nationalismus gestützt, durch den die Subjekte der Marktgesellschaft im Staat eine Identität wiederzugewinnen suchten, derer sie durch die Marktgesellschaft gerade verlustig gegangen waren (Gellner 1983; Dux 2008: 171ff.). Das kulturelle System konnte zwar schon zu Zeiten ihrer nationalstaatlichen Verfassung nicht als Grundlage der Marktgesellschaft verstanden 71
werden, das Konstrukt einer nationalen Identität bewirkte jedoch den Anschein, als seien es die kulturellen Gemeinsamkeiten, die die Gesellschaft begründeten. Unter dem Strukturwandel der Marktgesellschaft wird jede der angeführten Verständnisvorgaben der Marktgesellschaft obsolet. Unter ihm behauptet sich einzig eines: deren Grundverfassung. Jetzt kann länger kein Zweifel bestehen, dass das ökonomische System das eigentlich Gesellschaft begründende System darstellt. Das gilt für die Marktgesellschaft als Gesamtsystem wie für die Teilsysteme, die nationalen Gesellschaften und die europäische Gesellschaft. Europa kann man als territorialen oder als kulturellen Begriff verstehen. Zum gesellschaftlichen System ist Europa erst durch die Globalisierung der Ökonomie und die Transnationalisierung der Politik geworden. Wenn es nach allem schon aus epistemischen Gründen keinen Sinn macht, das Verständnis der Demokratie aus den Zeiten des Nationalstaats auf die Europäische Union zu übertragen, so erst recht nicht, nachdem die Marktgesellschaft eine systemische Verfassung gefunden hat, die sich den Begrifflichkeiten der Demokratie, wie sie für den Nationalstaat entwickelt wurden, vollends entzieht. Es macht keinen Sinn, nach einem europäischen Demos zu verlangen und zu erwarten, er werde sich schon bilden, wenn es ihn noch nicht gäbe (Scharpf 1999: 19ff). Es gibt kein europäisches Volk, das die Subjektrolle in der Demokratie übernehmen könnte. Es wird auch dann kein europäisches Volk geben, wenn sich in der Europäischen Union ein entschiedeneres Bewusstsein einer gesellschaftlichen und politischen Einheit bilden sollte. Es macht deshalb auch keinen Sinn, nach den kulturellen Gemeinsamkeiten zu fahnden, durch die die europäische Gesellschaft und ihre demokratische Verfassung begründet werden könnte. Auch diese Suche ist dem Restbestand eines substanzlogischen Verständnisses zuzuschreiben, dessen Plausibilität dadurch gestützt wird, dass die Gesellschaft als Gemeinschaft verstanden wird. Es gibt in den nationalen wie in der europäischen Gesellschaft kulturelle Gemeinsamkeiten, aber sie begründen nicht das soziale System der europäischen Gesellschaft. Normativ ist ohnehin nicht mehr notwendig als eine in jeder Gesellschaft von den Subjekten ausgebildete Moral, die für den Begegnungsverkehr die Bedingung der Möglichkeit darstellt. Eben weil das so ist, erfährt die Politik der Europäischen Union ihre Legitimation auch nicht durch ein europäisches Volk. Wenn irgendetwas Europa kulturell eint, dann dies: einem säkularen Verständnis 72
der Welt verpflichtet zu sein. In der steht der Politik als Legitimation nur noch eine einzige Instanz zur Verfügung: das einzelne Subjekt in der globalen Menge. Einzig um die Anforderungen an dessen Lebensform kann es in Demokratie und Politik gehen. Auch für die europäische Gesellschaft gilt: Alle Wertigkeit konvergiert auf das Subjekt, weil alle Wertigkeit von ihm ihren Ausgang nimmt. 7.3 Die Machtverfassung des politischen Systems Gesellschaften formieren sich durch die Vernetzung der Handlungs- und Machtpotenziale, die die Subjekte in ihr zu erwerben vermögen (Dux 2009). Das gilt auch für die Marktgesellschaft. Und es gilt insbesondere für das politische System der Marktgesellschaft. In der vernetzen sich die Machtpotenziale von Gruppierungen, die sich über gemeinsame Interessen gebildet haben. Das können materielle wie ideelle Interessen sein. Der Bildungsprozess der Marktgesellschaft durch das ökonomische System zeitigt jedoch die Folge, dass es zuvörderst ökonomische Interessen sind, die die Formierung der politischen Machtgruppierungen bestimmen. Die ideellen Interessen färben die materiellen nur ein. Auch die Formierung der politischen Parteien wird vorherrschend von der Absicht bestimmt, die gesellschaftlichen Verhältnisse im Interesse ihrer Klientel so zu gestalten, dass deren ökonomischer Status gesichert oder gebessert wird. Auch wenn andere als ökonomische Interessen in den Vordergrund rücken, die Sicherung der Umwelt etwa, verlangen die ökonomischen Interessen eine Positionierung im Machtspektrum des ökonomischen Systems, wenn die Partei ihre Klientel festigen oder erweitern will. Bürgerliche Parteien haben durch die Jahrhunderte die für sie günstigen ökonomischen Verhältnisse zu nutzen gewusst. Für einen kurzen historischen Augenblick konnte nach dem Zweiten Weltkrieg der Anschein entstehen, als könnten gedeihliche Verhältnisse für so gut wie alle geschaffen werden. Der Ausbau des Sozialstaats, der daraus hervorging, war jedoch den kontingenten Verhältnissen der Nachkriegsgesellschaft zuzuschreiben. Unter der Normalisierung der ökonomischen Entwicklung verlangte die Logik des ökonomischen Systems erneut ihr Recht. In die Logik des ökonomischen Systems lassen sich aber die Anforderungen des Sozialstaats nicht oder nur sehr bedingt integrieren. Denn die stellen Anforderungen von Subjekten außerhalb des Systems der Arbeit dar, für die das ökonomische System keine Gegenleistung verbuchen kann – wie für Arbeitslose und 73
Sozialhilfeempfänger. Auch Leistungen, die eigentlich zur Entlohnung der Arbeitskraft zählen, wie die Sicherung des Lebens in Zeiten von Krankheit und Alter, sucht es zu minimieren oder sich überhaupt zu entziehen, wie es das immer getan hat. Unter dem Einschlag des Strukturwandels der Marktgesellschaft in der Epoche der Globalisierung entfaltet sich die Logik des ökonomischen Systems in voller Reinheit. Unter dieser Entwicklung treibt die Gesellschaft in „oben“ und „unten“ auseinander. Das politische System gerät unter dieser Entwicklung in eine prekäre Lage. Es sieht sich den Forderungen einer Sozialstaatsklientel ausgesetzt, die es aber im ökonomischen System von den Unternehmen nicht zu refundieren vermag. In allen Marktgesellschaften besteht deshalb im politischen System die Tendenz, darauf in doppelter Weise zu reagieren: die sozialstaatlichen Leistungen bis zur Grenze des Existenzminimums abzubauen und Ansprüche auf Gerechtigkeit zurückzuweisen. Das nackte Interesse beherrscht den Liberalismus der politischen Theorie. Der Konflikt ist dadurch nicht aus der Welt. Die Klientel des Sozialstaats bleibt dem politischen System erhalten. Nicht nur für die unterste Unterschicht, das Prekariat (MüllerHilmer 2006), wird die politische Gestaltung der Lebenschancen eine Frage des Überlebens. Bis in die untere Mittelschicht sind die Subjekte darauf angewiesen, die gesellschaftlichen Verhältnisse so gestaltet zu sehen, dass ihnen die von der Marktgesellschaft eröffneten Möglichkeitsdimensionen der Lebensführung zugänglich sind. 7.4 Die prozedurale Gestaltung der europäischen Politik Die knappe Erörterung der politischen Machtverfassung und der ihr anhaftenden Problemlage war notwendig, um das eigentliche Problem der Demokratie in der europäischen Politik überhaupt wahrzunehmen. Prozedural lässt es sich noch am ehesten in den Griff kriegen. Wenn man die systemische Verfasstheit der Marktgesellschaft der Gegenwart versteht, wie ich sie hier verstanden haben will, als konzentrisch gegliederte Gesellschaft, sehe ich keine Barrieren, die hinderten, dass sich eine prozedurale „Beteiligung des Volkes“ auch fürderhin in einer Öffentlichkeit realisierte, die den nationalen Gesellschaften zugehört. Denn unter dem Strukturwandel der Gesellschaft stellen die nationalen Gesellschaften im Hinblick auf die europäische Gesellschaft systemisch offene Gesellschaften dar und werden von Letzterer umfasst. Auch die in der Öffentlichkeit agierenden politischen Parteien 74
können national organisierte Parteien sein und bleiben. Das hindert in gar keine Weise, sie auch im europäischen Parlament ihre Repräsentation finden zu lassen, um dort die europäische Politik mitzubestimmen. Wenn einmal die demokratietheoretischen Begriffe „Volk“ und „Öffentlichkeit“ entmythologisiert sind, entfallen auch die demokratischen Defizite, die der europäischen Politik angeheftet erscheinen. „Volk“ bezeichnet im systemischen Verständnis der Marktgesellschaft die bloße Summe der Subjekte, deren Lebensführung in der Gesellschaft vernetzt ist. Die nationale Gliederung des „europäischen Volkes“ stellt dann systemisch nicht mehr als die Nutzung historisch gewachsener Einheiten dar, auch wenn sich in ihnen Reste eines nationalen Gemeinschaftsbewusstseins halten und nicht eben selten störend bemerkbar machen. „Öffentlichkeit“ bezeichnet lediglich das Medium, durch das sich Meinungen und Interessen zu Machtpotenzialen verdichten und bestehende Machtpotenziale ihre Klientel finden und sich ihrer versichern. So wenig es deshalb länger noch Sinn macht, nach einem „europäischen Volk“ im substanziellen Sinne Ausschau zu halten, so wenig sinnvoll ist es auch, eine „europäische Öffentlichkeit“ zu verlangen und damit Vorstellungen zu verbinden, wie sie für die nationalstaatliche Öffentlichkeit kennzeichnend waren. Für die Europäische Union lässt sich eine „nach außen geschlossene, nach innen homogene Öffentlichkeit“ (Trenz 2003: 164) nicht herstellen; sie ist aber auch nicht notwendig. Eine „föderale“ Form der Öffentlichkeit durch die Nationalstaaten genügt vollauf. Worauf es für die Demokratisierung der europäischen Politik ankommt, ist, die in der Öffentlichkeit gebildeten Interessen- und Machtpotenziale Eingang ins europäische Parlament finden und dadurch auch Einfluss auf die europäische Politik der Kommission wie des Ministerrats gewinnen zu lassen. Transmissionsorgan der „Mitwirkung des Volkes“ bleibt das Parlament. Es wird nicht dadurch bedeutungslos, dass sich die mit ihm verbundenen Vorstellungen einer deliberativen Meinungs- und Willensbildung als Illusion erwiesen haben (Schmitt 1996: 63). Die materiale Zielvorgabe der Demokratie, für alle Bedingungen eines selbstbestimmten Lebens zu schaffen, trifft in den nationalen Gesellschaften auf eine soziale Problemlage, die für sich in den Marktgesellschaften der EU weitgehend homogen ist. Wenn in ihnen das Interesse derer, die nicht oder in nicht zureichender Weise in das ökonomische System integriert sind, eine Chance finden soll, dann kann das nur durch die Bildung eines Machtpotenzials geschehen, das sich im politischen System formiert und im Parlament seine Repräsentation erfährt – im nationalen wie 75
europäischen Parlament. Auch wenn man registriert, dass eine Verschiebung der realen Entscheidungskompetenz vom Parlament zur Regierung erfolgt ist, bleibt die Repräsentation der Machtgruppierung im Parlament, an das die Regierung rückgebunden ist, von ausschlaggebender Bedeutung. Im europäischen politischen System gewinnt das Parlament überdies dadurch eine gesteigerte Bedeutung, dass ihm in der Kommission und im Ministerrat national bestimmte Repräsentanten gegenüberstehen. Die schwierigen prozeduralen Probleme, die im europäischen politischen System im Verhältnis von Parlament und Kommission einerseits und Parlament und Ministerrat andererseits entstehen (Bach 2008), sind hier nicht zu erörtern. 7.5 Die materiale Zielvorgabe der europäischen Politik Demokratie ist ein irredentistisches Projekt. Die außerordentliche Entwicklungsfähigkeit, die das ökonomische System gezeigt hat, zwingt die Politik, dem Strukturwandel des ökonomischen Systems zu folgen. Deren Konfliktlage haben wir erörtert. Die materiale Zielvorgabe der Demokratie verlangt von der Politik, die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht zu belassen, wie sie vom ökonomischen System bewirkt werden, sie vielmehr so zu gestalten, dass für alle Bedingungen eines selbstbestimmten Lebens geschaffen werden. Die Politik sieht sich aber außerstande, diese Vorgabe durch einen Sozialstaat zu realisieren, wie er vordem bestand. Es besteht Einmütigkeit in der soziologischen Literatur, dass unter der Entwicklung des ökonomischen Systems in der Epoche seiner Globalisierung der Sozialstaat weiter zurückgedrängt wird. So unbestreitbar der Befund selbst ist, so unbestreitbar ist, dass dem politischen System die soziale Konfliktlage erhalten bleibt. In der gerät mit dem Auseinanderdriften der Gesellschaft die materiale Zielvorgabe der Demokratie in Not. Mehr als jede andere Entwicklung stellt sie die Bedrängnis der Demokratie dar. Von der materialen Vorgabe der Demokratie, der Selbstbestimmung, aber haben wir gesagt, dass sie so wenig wie die Demokratie selbst verhandelbar sei. Denn an ihr haftet alle Wertigkeit, die die Demokratie für sich in Anspruch nehmen kann. Auch die Wertigkeit, die der Sicherung des Rechtsstaats durch die prozedurale Gestaltung der demokratischen Verfahren zukommt, rührt daher, dass das Subjekt einen nicht negierbaren Anspruch auf ein selbstbestimmtes Leben erheben kann. Dessen moderne Lebensform ist an die materiale Vorgabe der Demokratie gebunden. Für beide, die nationale wie europäische Verfassung der Demokra76
tie, kommt es deshalb entscheidend darauf an, welche Seite des Irredentismus der Demokratie in der europäischen Politik die Überhand gewinnt: die blinde, selbstorganisatorische Macht der Ökonomie oder die sozial gestaltende Macht der Politik. Die Legitimation der Demokratie entscheidet sich daran, ob es gelingt, das Auseinanderdriften der Gesellschaft aufzufangen und jenen Subjekten, die vom ökonomischen System an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden, die Möglichkeitsdimensionen der Lebensführung in der Moderne zu eröffnen. Es will mir deshalb für die Politik der Europäischen Union unabweisbar erscheinen, es nicht bei der vorherrschenden Zielvorgabe, die ökonomische Einheit Europas zu bewirken, zu belassen, sie vielmehr der materialen Zielvorgabe der Demokratie unterworfen zu sehen. Das europäische politische System muss nicht anders als die nationalen politischen Systeme die Beförderung der ökonomischen Einheit mit der Aufgabe verbinden, ein soziales Sicherungssystem für eine selbstbestimmte Lebensform des Subjekts zu schaffen. Diese Einsicht beginnt, auch in der Europäischen Kommission virulent zu werden (Gallie/Paugam 2002). Möglich wird eine Politik für das bedrohte Subjekt auch in der europäischen Politik nur, wenn sich im politischen System der Marktgesellschaft die dazu notwendigen Machtpotenziale ausbilden. Ob sie sich ausbilden, ist eine offene Frage an die Geschichte. Literatur Abromeit, Heidrun, 2002: Wozu braucht man Demokratie? Die postnationale Herausforderung der Demokratietheorie. Opladen: Leske + Budrich. Agamben, Giorgio, 2002: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bach, Maurizio, 2008: Europa ohne Gesellschaft. Politische Soziologie der Europäischen Integration. Wiesbaden: VS. Bobbio, Norberto, 1987: The Future of Democracy: A Defence of the Rules of the Game. Minneapolis: University of Minnesota Press. Boltanski, Luc und Ève Chiapello, 2003: Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz: UVK. Dux, Günter, 2000: Historisch-genetische Theorie der Kultur. Instabile Welten. Zur prozessualen Logik im kulturellen Wandel. Weilerswist: Velbrück. Ders., 2003: Das Subjekt in der Grenze der Gesellschaft. S. 233-267 in: Nikos Psarros, Pirmin Stekeler-Weithofer und Georg Vobruba (Hg.): Die Entwicklung sozialer Wirklichkeit. Auseinandersetzungen mit der historisch-genetischen Theorie der Gesellschaft. Weilerswist: Velbrück.
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Die EU als entstehender Kommunikationsraum. Zum Theoriedefizit der soziologischen Europaforschung und ein Vorschlag, dieses zu verringern Klaus Eder
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Der defizitäre soziologische Blick auf Europa
Der soziologische Blick auf Europa hat sich nur mit Mühe gegen die politikwissenschaftliche Analyse durchsetzen können. Europa ist bislang das Objekt par excellence für politische Institutionenanalyse gewesen; es hat ein ideales Objekt für spieltheoretische Perspektiven auf politische Akteurskonstellationen abgegeben und dabei einen Berg an unüberschaubarer Literatur produziert. Mit dem Thema „europäische Öffentlichkeit“, vor 15 Jahren noch ein Exotikum, hat sich ein wenig Soziologie in die sozialwissenschaftliche Beschäftigung mit Europa einbringen können. Inzwischen gehört auch dieses Thema zu jenen übererforschten Ereignissen, die sich täglich in Brüssel und den Hauptstädten der Mitgliedsländer und in den regionalen Vorhöfen dieser Hauptstädte ereignen. Es sind vor allem politische Ereignisse, Entscheidungen politischer Eliten, NGOs, Lobbys, Experten, bisweilen Protest, die das Bild Europas bestimmen. Das vorgestern Geschriebene wird heute schon Geschichte, ohne dass die Historiker, die sich nun darum zu kümmern hätten, darauf schon vorbereitet sind. Zugleich verändert sich die soziale Realität hinter diesen politischen Ereignissen. Diese Realität ist zwar auch ein Effekt dieser politischen Ereignisse, doch zugleich auch deren konstitutive Bedingung. Jedes politische Ereignis ist in ein Netz sozialer Handlungen und Beziehungen eingebunden, in dem diese Ereignisse entstehen, Effekte produzieren und vergehen. Diese soziale Realität ist das, was die Soziologie beobachten möchte. Doch sie tut 80
sich in dieser Hinsicht mit Europa schwer. Es gibt viel soziologische Forschung, aber ein zunehmend problematischeres Theoriedefizit, das die Beobachtung Europas als einer sozialen Realität sui generis orientieren könnte. Wenn man so will: Die Vergesellschaftung des Raums, den wir mit EUEuropa benennen, findet seit langem statt. Anfangs hat sie es gar nicht gemerkt. Als sie es dann merkte (vor etwa zehn Jahren), kamen seltsame Fragen auf wie: Gibt es eine europäische Gesellschaft?1 Das ist aber nur eine rhetorische Frage. Es gibt eine, und es gibt sie schon seit langem. Sie sieht nur immer wieder anders aus. Die Soziologie hat sich begrifflich darauf aber noch nicht einstellen können. Damit ist die Stoßrichtung dieses Beitrags gekennzeichnet: Europäische Gesellschaft ist ein in dem als Europa benannten Raum stattfindender Prozess, der einen Anfang hat, immer wieder Diskontinuitäten erfährt, neu ansetzt, eine andere Richtung nimmt, weitergeht, und von dem niemand weiß, wo er endet (Normativisten, von denen es in der Europaforschung eine Menge gibt, wissen nur, wo er enden sollte). Warum hat die Soziologie so spät gemerkt, dass es in Europa – wie es so schön heißt – eine Gesellschaft gibt? Ein Grund ist ein methodischer. Die vorherrschende Methode der Analyse ist der nationale Vergleich.2 Wenn man vergleichen will und das Vergleichen als den Königsweg der soziologischen Erklärung auszeichnet, dann muss eine Form der Beobachtung des Vergesellschaftungsprozesses systematisch minimiert werden: das Ausmaß der Interaktion zwischen den zu vergleichenden Einheiten. Denn je stärker höher zu vergleichende Einheiten miteinander interagieren, umso weniger leistet der Vergleich (Goldthorpe 2000). Wenn man nun nationale Vergleiche macht, dann muss man Europa neutralisieren, da Europa ja eine Vermehrung von Interaktionseffekten zwischen nationalen Gesellschaften als Einheiten des Vergleichs impliziert. Am Ende hat es die Soziologie gemerkt. Man vergleicht nun – wenn man konsequent ist – nationale Gesellschaften in Europa, so wie man die 1
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Zunächst wurde die Frage noch mit Fragezeichen versehen (Offe 2001; Deken 2000; Crouch (n.d.); Flora 1991; Kaelble 1987). Mit leichter Verspätung und mit normativen Fragen verknüpft wird das Thema weiter gepflegt (Richter 1997; Knodt/Finke 2005; Hurrelmann 2005). In den letzten Jahren blieb dann das Fragezeichen weg (Hettlage/ Müller 2006; Münch 2008; Mau 2007). Zur Reflexion dieses Prozesses siehe Vobruba 2008. Vgl. dazu etwa Immerfall 1994; Crouch 1999; Therborn 2000.
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Bundesländer in der BRD vergleichen kann. Womit aber lässt sich Europa vergleichen, damit man das Besondere des Vergesellschaftungsprozesses in Europa fassen kann? Offensichtlich nur mit Vergleichbarem. Daraus hat die These des methodologischen Nationalismus die Forderung nach einer grundlegenden erkenntnistheoretischen Wende abgeleitet (Glick-Schiller/ Wimmer 2003), eine völlig überzogene Schlussfolgerung, geht es doch schlicht darum, Vergleichbares zu vergleichen. Worum geht es dann eigentlich? In dem Maße, wie die EU ein institutionell homogener sozialer Raum wird, werden die Differenzen zwischen den Mitgliedschaften über eine institutionelle Gemeinsamkeit vermittelt, die vorher nicht bestand. Ähnliches können wir etwa für die USA feststellen: Wir können die einzelnen US-Staaten miteinander vergleichen, aber das macht nur Sinn, wenn wir uns auf die USA beschränken. Wir können die einzelnen EU-Mitgliedstaaten vergleichen, aber das macht nur Sinn, wenn man sie als Elemente eines sie umfassenden institutionell definierten Raums sieht. Man könnte aber auch die emergente EU mit den schon lange emergierten USA vergleichen oder Teile der USA mit Teilen der EU (etwa arme Staaten in beiden Kontexten). Das macht dann wieder Sinn. Aber es macht keinen Sinn mehr, die USA mit Deutschland zu vergleichen, so wenig wie es Sinn macht, die Schweiz mit Europa oder den USA zu vergleichen. Was Not tut, ist die Ebenen des Vergleichs neu zu bestimmen und nationale Gesellschaften als lokale Phänomene eines sie umfassenden institutionellen Raums zu analysieren. Nun hat der Diskurs des methodologischen Nationalismus wie der populäre Diskurs zum Weltgeschehen gleichermaßen gleich auf das Ganze gesetzt und von Globalisierung geredet. Alles, auch Staaten werden voneinander abhängig, in permanente Kommunikations- und Tauschprozesse eingebunden. Das mag richtig sein und war schon immer in den letzten paar Jahrtausenden richtig. Worum es geht, ist, die Differenzen in diesen globalen Zusammenhängen richtig zu positionieren und die über den Nationalstaat weisenden emergenten Formen institutioneller Fixierung sozialer Räume neu zu bestimmen. Womit ist nun die EU vergleichbar? Ein wenig mit den USA, vermutlich auch mit China, mit Lateinamerika, mit dem Nahen Osten usw. Die Disziplin der Internationalen Beziehungen (IB) ist da den Soziologen in der Beobachtung (weniger in den begrifflichen Konstruktionen) voraus: Sie wissen, dass die Einheiten neu gezogen werden müssen und sprechen von Regionen, und 82
in diesem Sinne ist Europa eine Region. Die These ist, dass in dieser Region, einem institutionell definierten sozialen Raum, seit 60 Jahren eine Gesellschaft emergiert, und zwar mit einer offensichtlichen Diskontinuität im bereits Jahrtausende währenden Prozess der „Vergesellschaftung Europas“. Nach dem Zweiten Weltkrieg mussten sich die Siegermächte darüber einigen, was sie mit den besiegten Mächten machen sollten, und legten die Ausgangsbedingungen eines Vergesellschaftungsprozesses fest, der seither an Dynamik zugelegt hat. Es wurden institutionelle Festlegungen getroffen, die die souveränen Nationalstaaten miteinander enger verbanden als mit anderen Nationalstaaten auf der Welt. Dieser durch politische Institutionenbildung hergestellte soziale Raum fungiert als „Container“ eines transnationalen Vergesellschaftungsprozesses, als ein sozialer Raum, der sich von anderen sozialen Räumen (Regionen in der Sprache der IB) durch besondere Formen der internen Vernetzung der Subeinheiten unterscheidet sowie durch besondere Formen der Grenzziehung zu anderen Räumen auszeichnet. Es sind zwei Begriffe, die diese Besonderheit zu fassen versuchen und dies in bislang nicht recht überzeugender Form geleistet haben: „Europäisierung“ und „europäische Identität“.3 Das Erste hat mit der Form der Binnenstruktur dieses Raums, das Zweite mit den Grenzen dieses Raums zu tun. In diesem Sinne rede ich dann von der EU als einem „emergenten Kommunikationsraum“ (vgl. hierzu auch die Explikationsversuche in Eder 2006a, 2006b, 2007b).4 2
Kommunikationsräume
Der Begriff des Kommunikationsraums als begrifflicher Schlüssel zur Analyse von Gesellschaft als Prozess zeichnet sich durch zwei Referenzen aus, die Materiales und Symbolisches miteinander zu koppeln erlauben und 3
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Beide Begriffe füllen inzwischen lange Literaturlisten. Zur Orientierung eignen sich im Hinblick auf Europäisierung Olsen 2003; Featherstone/Radaelli 2003; Bartolini 2007; im Hinblick auf europäische Identität Kaelble 2001; Kohli 2002; Schmidt-Gernig 1999; Bruter 2005; Cederman 2001; Hedetoft 1997; Stråth 2002. Ob die Bestimmung von Gesellschaft als Kommunikationsraum einem eher dünnen Begriff von Kommunikation (als Information) oder einem dicken Begriff von Kommunikation (als Verständigung) folgt, mag hier offen bleiben. Eine durch diese Debatten schneidende Konzeptualisierung ist die der Gesellschaft als narrativer Kommunikationsräume oder auch als „narrativer Netzwerke“. Siehe dazu weiter unten in diesem Text.
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zugleich analytisch scharf trennen: Kommunikation und Raum. Eine dritte Referenz bleibt implizit: die Strukturierung des Raums selbst. Sie ergibt sich aus dem Zusammenspiel von kommunikativen Ereignissen in einem durch diese Ereignisse konstituierten „objektiven“ Raum. Dieser Begriff eines Kommunikationsraums kann sich auf eine Reihe von Arbeiten beziehen, die diesen Begriff benutzen, ihn mit Hilfe von passenden Klassikern zu begründen versuchen (etwa Deutsch 1953), ihn mit Forschungen zu politischer Öffentlichkeit in Verbindung bringen und dabei ein kleines und das Soziale reifizierende Stück Realität sichtbar machen. Das alles unterstellt eine Theorie, die noch zu entwickeln wäre. Bevor ich darauf eingehe, wie eine solche Theorie unter Rückgriff auf laufende Theorieentwicklungen in der Soziologie entwickelt werden könnte, möchte ich auf zwei wichtige, jedoch theoretisch auf Holzwege führende soziologische Zugriffe auf das, was in Europa als Gesellschaft emergiert, eingehen. Der erste Zugriff ist der normative Zugriff, der das Theoriedefizit soziologischer Analyse durch normative Modellkonstruktionen ersetzt; der zweite Zugriff ist der deskriptiv-komparative, der dem emergenten Neuen durch den Vergleich von Ähnlichkeiten und Differenzen zwischen den diversen alten Formen näher zu kommen sucht. 2.1 Der normative Blick auf Europa Die gegenwärtige Konjunktur von normativen Theorien in der sozialwissenschaftlichen Beschreibung von Europa ist ein Effekt des bestehenden Theoriedefizits. Ein Blick in die Europaforschung, wie sie insbesondere von der EU selbst mit ihren Rahmenprogrammen seit Jahren gefördert wird, macht deutlich, dass Theorie dort vor allem normative Theorie ist. Diese reicht von Demokratietheorien, die auf eine herzustellende demokratische Gesellschaft projiziert werden, über Theorien einer europäischen Zivilgesellschaft bis hin zu Theorien eines sozialen Europas, das dem normativen Verständnis einer wohlfahrtsstaatlich verfassten Gesellschaft folgt. Ein Blick in die laufende Europaforschung mit soziologischer Orientierung verdeutlicht dies. So beschäftigen sich etwa EUROSPHERE (http:// www.eurosphere.uib.no/) und RECON (http://www.reconproject.eu/) mit Europa unter dem Gesichtspunkt, wie die europäische Gesellschaft „von unten“ demokratisch organisiert werden könnte und welches die Modelle
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sind, mit deren Hilfe dies gelingen kann.5 Sie gehen davon aus, dass Bürger und Eliten, Medien und politische Institutionen zusammenwirken und besondere Regeln der Koordination von Bürgern und Eliten hervorbringen (Fossum/Trenz 2005). Andere Projekte beschäftigen sich mit der Frage, wie Ungleichheit in Europa eingegrenzt werden kann. Diese unter dem Titel „Exklusion“ laufenden Forschungen (Woodward/Kohli 2001) unterstellen als analytischen Rahmen ein sozialpolitisches Programm, die Idee eines solidarischen, dem Markt nicht ausgelieferten Europas (Vobruba 2001). Hier sind vor allem jene Studien angesiedelt, die „citizenship“ im Marshall’schen Sinne zum Fokus der Analyse machen. Auch hier ist die normative Fragestellung dominant: das Modell einer Staatsbürgerschaft, das die Rechte und Pflichten in einer solidarischen Gesellschaft ausbalanciert. Dies alles sind wichtige Analysen gewesen, die vor allem zur Selbstverständigung eines politischen Willens in Europa geführt haben. Sie haben aber nicht den objektivierenden soziologischen Blick befördert, der Europa als Gegenstand und nicht als Projekt oder Hoffnung behandelt. Die soziologische Europaforschung ist in einer präparadigmatischen Phase befangen, die sie nur um den Preis der soziologischen Objektivierung der normativen Diskurse um Europa, an denen sie selber mitstrickt, überwinden kann. 2.2 Vom komparativ-deskriptiven Blick zum transnationalen Blick auf Europa Gegen diesen normativen Zugriff richtet sich die komparativ-deskriptive Gesellschaftsanalyse. Sie lebt von der Distanz zur normativen Debatte und rechtfertigt sich durch ihren rein empirischen Bezug. Allerdings ist diese komparative Forschung nicht theoriefrei. Sie lebt vielmehr von einer Gesellschaftstheorie, die sich mit der Etablierung der modernen Nationalgesellschaft formiert und etabliert hat. Insbesondere die Modernisierungstheorie liefert hier (immer noch) die analytischen Stichworte. Vergleichende Arbeiten in der Tradition der „national comparisons“ (Crouch 1999; Therborn 2000; Mau 2007; Bartolini 2007) vermessen den europäischen Raum entlang von Ähnlichkeiten und Differenzen. So werden die Differenzen von Wertvorstellungen in Europa (Gerhards/Hölscher 2005), die Differenzen von Arbeitslosigkeitsraten, von Scheidungsraten und 5
Dies ist auch die Intention der Europaforschung von Ulrich Beck, eines Soziologen mit großer Breitenwirkung (Beck/Grande 2004).
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von Schulerfolg untersucht. Dahinter steht der Glaube, dass der auf Europa beschränkte Vergleich etwas über Europa sagt. Er sagt in der Tat etwas, nämlich dass es Unterschiede in Europa gibt, so wie es in jeder nationalen Gesellschaft Unterschiede zwischen Nord und Süd, Ost und West usw. gibt. Nur, aus der Differenz von Bayern und Brandenburg erfahre ich nicht, was die deutsche Gesellschaft als besondere Gesellschaft konstituiert. Solche Studien wecken den kompetitiven Geist der Empiriker oder sie produzieren Achselzucken, weil man über Europa als einem emergenten Phänomen nicht mehr weiß als vorher. Doch die europäische Gesellschaft kommt am Ende nicht heraus. Es gibt viele Teile, die verortet, klassifiziert und bewertet werden. Doch die Summe der Teile macht keine europäische Gesellschaft. Der operative Begriff, der die Erweiterung der Perspektive über die nationale Gesellschaft hinaus tragen soll, ist der der „Transnationalisierung“ geworden.6 Nun sagt der Begriff nichts Bestimmtes, außer dass es etwas jenseits der nationalen Grenzen gibt, das wichtig geworden ist. Er öffnet einen Blick, aber der Gegenstand, den man sieht, bleibt unscharf. Nur wenn wir die Grenzen dieses transnationalen Raums mit den Außengrenzen der EU gleichsetzen, wird der Gegenstand klarer; doch das erzeugt wenig zusätzlichen Erkenntniswert. Mit der Strategie, die unterstellten transnationalen Prozesse mit Institutionen in Zusammenhang zu bringen, die diesen Prozessen einen Rahmen vorgeben, wären wir wieder bei den europäischen Institutionen, aber nicht bei der Gesellschaft angelangt. Der theoretische Blick wäre dann wieder der, dass Institutionen die Gesellschaft „machen“. In diesem Sinne „verschwindet“ die Gesellschaft und wir würden, wenn wir auf diese Weise Europasoziologie betrieben, nur politische Soziologie betreiben. Das ist eine verführerische Einladung, die aber eine Bankrotterklärung für einen soziologischen Blick auf die Welt nach dem Nationalstaat im 21. Jahrhundert wäre. Doch die Soziologie hat mehr zu bieten als eine politische Soziologie europäischer Integration. Sie kann auch etwas über Transnationalisierungsprozesse in Europa sagen. Doch dies gelingt nicht mehr mit den Mitteln der traditionellen Gesellschaftsanalyse, die im Nationalstaat, aber nicht mehr jenseits des Nationalstaats funktioniert.
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Dieser Begriff ist zunächst im Rahmen von Migrationsstudien entwickelt (Bauböck 1994; Pries 2007; Glick-Schiller et al. 1992), dann auf Europa transferiert (Beckert et al. 2004; Berger/Weiß 2008; Herrmann et al. 2004; Ifversen 2008; Mau 2007; Münch 2008) und schließlich normativ gewendet worden (Dryzek 1999; Fraser 2007).
2.3 Ein Vorschlag: Europa als ein narratives Netzwerk Was tun angesichts der Feststellung, dass die aus der traditionellen soziologischen Theorie (inklusive Gesellschaftstheorie) gewonnenen analytischen Perspektiven nicht geeignet sind, jenes Modell von Vergesellschaftung zu fassen, das sich im Kontext des europäischen Integrationsprozesses ausbildet? Was tun, wenn Transnationalisierung nur auf etwas verweist, was nicht (mehr) national ist, wenn Europäisierung offen lässt, was dabei herauskommt. Es tut sich etwas, und das seit Jahrzehnten: es entsteht ein besonderer „Kommunikationsraum“. Zunächst liegt der Rückgriff auf alltagsvertraute Begriffe nahe, um diesen Kommunikationsraum zu bestimmen. Dazu gehören Begriffe wie „Identität“, die ein solcher Kommunikationsraum hat. Europa ist (oder sollte) ein Raum sein, der eine besondere „Identität“ hat. Ähnlich gelagert sind Begriffe wie „Werte“. Dann sind es europäische Werte, die die Besonderheit dieses Kommunikationsraums ausmachen, ihn von anderen Kommunikationsräumen unterscheidbar machen (Joas/Wiegandt 2005). Weniger hoffähig, aber durchaus für das Alltagswissen nachvollziehbar sind Abgrenzungsversuche von anderen, Europa als anders als Amerika, als anders als Russland, als anders als die Türkei zu verstehen (Neumann 1999). All diese Varianten wurden vielfach durchgespielt, mehr oder weniger von empirischer Forschung abgesichert. Was offen bleibt, ist die Theorie, die hinter solchen „plausiblen“ Analyseversuchen steht. Es sind Begriffe, die aus der Teilnehmerperspektive gewonnen werden, daraus, dass wir mitten in Europa leben und von Europa aus Europa zu bestimmen versuchen. Das liefert viel Material für das Feuilleton, für politische Reden, für Auftragsforschung und für Werbeunternehmen, von der Bertelsmann-Stiftung bis hin zur Kampagnenpolitik der Europäischen Kommission. Das ist zwar nicht Wissenschaft. Aber es gibt einen Hinweis auf eine kommunikative Verdichtung, die in Europa stattfindet. Europa ist ein Medium kommunikativer Prozesse, es eignet sich hervorragend als eine Semantik, die auf soziale Beziehungen wirkt und von diesen reproduziert wird. Damit ist bereits ein erster Schritt in Richtung auf eine Abkehr von der Teilnehmerperspektive gewonnen. Es werden zunehmend Geschichten in
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Europa kommuniziert, die von Europa erzählen.7 Und warum nicht alle diese Geschichten verwenden, einschließlich derer, die Sozialwissenschaftler benutzen, um dieses Europa zu analysieren und aus einer Beobachterperspektive zu betrachten? Das Modell, das ich vorschlagen möchte, ist das Modell eines narrativ strukturierten Kommunikationszusammenhangs, in dem eine Gesellschaft emergiert und sich reproduziert. Dabei wird ein dürres begriffliches Gerüst vorausgesetzt: Es gibt Positionen, die über Relationen verbunden sind und einen Raum konstituieren, in dem Prozesse stattfinden, die die Grenzen dieses Raums zu kontrollieren versuchen. Es sind also die Begriffe Raum, Grenzen, Kontrolle und Relationen, nicht Werte, Identifikationen, Motive etc., die die Analyse anleiten. Es sind von letzteren Bestimmungen abstrahierende Begriffe, die es erlauben zu sehen, wie Werte, Motive etc. benutzt werden, um einen sozialen Zusammenhang, ein Netzwerk sozialer Beziehungen über binäre Codierungen räumlich abzugrenzen und über narrative Semantiken (Stories) zu verzeitlichen. Der emergente Kommunikationsraum Europa wird also als ein narrativ geordnetes Netzwerk sozialer Beziehungen gedacht, in dem ökonomische, politische und kulturelle Prozesse als Serien von Ereignissen eingebettet sind. Diese hier hoch abstrakt bestimmte Vorstellung soll im Folgenden im Hinblick auf die Kontrolle der Grenzen dieses Kommunikationsraums spezifiziert werden. 3
Europäische Identität als Kontrollprojekt der Grenzen einer europäischen Gesellschaft
3.1 Von der Identifikation mit Europa zu europäischen Identitätskonstruktionen Von Grenzen eines Kommunikationsraums zu reden, ist gleichbedeutend mit der Rede von der Identität eines Kommunikationsraums. Identität ist nichts anderes als ein Kontrollprojekt dieses Kommunikationsraums. Die Kontrolle der Grenzen eines Kommunikationsraums kann stark oder schwach sein, variiert also empirisch, was dem Alltagsverstand schon widerspricht, der davon ausgeht, dass man eine Identität hat oder nicht hat. In 7
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Timothy Ash, ein einflussreicher Europakommentator, spricht in eher intuitiver Weise davon, dass es viel Sinn mache, von Stories zu reden, die die Identität Europas machen (Ash 2007).
diesem Sinne knüpfe ich also zunächst an die (inflationären) Überlegungen zur Debatte um eine „europäische Identität“ an.8 Ein Durchgang durch die Forschung zu europäischer Identität zeigt, dass sie zum größten Teil von Varianten des „social identity paradigm“ bestimmt ist (Tajfel 1982; Verkuyten 2004). Das social identity paradigm geht davon aus, dass Identifikationen gruppenspezifische Effekte im Hinblick auf Nähe und Ferne haben. Dieses Paradigma erlaubt es, Umfragedaten zu nutzen, die messen, inwieweit Personen „stolz“ auf „ihre“ Institutionen sind (oder ihnen zumindest vertrauen) und sich mit Europa „identifizieren“ (Kohli 2002; Bruter 2005). Eine andere, eher minoritäre Forschungstradition betont die Rolle von Symbolen wie Flagge, Hymnen, repräsentative Gebäude oder die ritualisierte Erinnerung an einen Gründungsakt und unterstellt deren identifikatorische Kraft, was wiederum den Anschluss an das social identity paradigm erlaubt (Cerulo 1995). Wenn man diese Phänomene (also Einstellungen wie Identifizierungsobjekte) als Indikatoren für das „Ausmaß“ kollektiver Identität nimmt, dann unterstellt man, dass starke Identifikationen eine starke kollektive Identität indizieren.9 Doch von Identifikationen zu Identitäten ist ein langer und in seiner Richtung noch zu klärender Weg. Statt nun auf die Annahme zu setzen, dass Identifikationen Identitäten erzeugen, soll im Folgenden umgekehrt argumentiert werden: dass der Weg in die entgegengesetzte Richtung, von Identitäten zu Identifikationen geht. Daraus ergibt sich eine andere Lesart der Ergebnisse der dem social identity paradigm folgenden Forschung: Identifikationen sind Feedback-Effekte von kollektiver Identität in den emotionalen (manchmal auch kognitiven) Motiven („Identifikationen“) von Individuen. Das empirische Ergebnis bisheriger Forschung deutet auf eine schwach ausgeprägte Identifikation mit Europa. Die EU als politische Gemeinschaft ist kein relevantes Identifikationsobjekt, was die Suche nach den kulturellen Grundlagen dieser Form politischer Gemeinschaft in Gang setzte: Wenn schon nicht die politische Verfassung10, dann sollte doch die kulturelle Ge8 9
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Ich tue das in einem kannibalistischen Sinne: Ich eigne sie mir gegen ihren Willen an. Die Europäische Gemeinschaft hat ihre Datenerhebung auf diese theoretischen Annahmen gegründet (Commission of the European Communities 2001). Bruter (2005) hat mit solchen Daten eine interessante Analyse von kollektiver Identität in Europa „von unten“ vorgelegt. Die Idee eines konstitutionellen Patriotismus ist ein Versuch, einem Rechtsraum eine identitätsgenerierende Bedeutung zu geben. Allerdings ist das bislang nicht erfolgreich gewesen, wie die euroskeptischen Ereignisse der letzten Jahre zeigen.
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meinschaft der Europäer genauer bestimmt werden, um die Identifikationsstärke mit Europa bestimmen zu können. Diese Debatte spaltet sich in die klassischen Positionen auf, die wir bereits aus der Nationalstaatsdebatte kennen: in solche, die eher eine republikanische Idee von Europa, und andere, die eine kulturelle Idee von Europa verfolgen (Brubaker 1992; Giesen 2001).11 Unabhängig von dieser Debatte um Identifikation (ob republikanisch oder traditionell) erweitert sich der Kommunikationsraum Europa auf der Ebene sozialer Netzwerkbildung (Eder 2006b). Dies wird bislang in Umfragen nicht gespiegelt. Dieser expandierende Raum produziert Ereignisse, die Bedeutungen erzeugen. Allerdings sind diese Bedeutungen nicht notwendig auf Europa als einen politischen Raum oder als eine alte kulturelle Tradition bezogen. Diese Bedeutungen definieren die Grenzen eines Raums, der nicht notwendig mit dem Raum zusammenfällt, der von politischen und kulturellen Eliten definiert wird. Es entsteht ein Kommunikationsraum, in dem soziale Beziehungen evolvieren, die eine Dynamik jenseits politisch gewollter Beziehungen erzeugen. Euroskeptizismus ist ein Aspekt eines solchen Europas jenseits des offiziellen Europas. Um einer entstehenden kollektiven Identität, verstanden als ein Kontrollprojekt der Grenzen eines Kommunikationsraums (Eder 2006b, 2007b), in Europa auf die Spur zu kommen, muss man zunächst die vorfabrizierten Identifikationsobjekte zur Disposition stellen. Sie können relevante Objekte sein, müssen es aber nicht. Das Fehlen einer Identifikation mit diesen Objekten heißt noch lange nicht, dass es keine kollektive Identität gäbe, die die Grenzen einer europäischen Kommunikationsgemeinschaft indizieren würde. Deshalb ist nicht das Identifikationsobjekt der Ausgangspunkt, sondern der Prozess der Herstellung von bedeutsamen Objekten, das heißt die narrative Konstruktion von bedeutsamen Dingen in Europa. Solche narrativen Konstruktionen emergieren in der Dynamik von Netzwerken sozialer Beziehungen in Europa. Es lassen sich bislang mindestens drei solcher narrativer Konstruktionen, die Objekte jenseits nationaler Identitätsobjekte herstellen, ausmachen. Die erste ist die Konstruktion der mörderischen Vergangenheit Europas. Der narrative Kommunikationsraum eines geteilten Gedächtnisses ist die 11
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Diese Reproduktion der alten Debatten um nationale Identität weist zugleich auf ein weiteres Problem dieser Forschung hin: in dem gefangen zu sein, was als „methodologischer Nationalismus“ kritisiert worden ist.
Quelle oft sehr starker Gefühle. Geschichten, die eine gemeinsame Vergangenheit erzählen, erzeugen Grenzen mit hoher emotionaler Besetzung. Eine andere narrative Konstruktion ist die Story eines erfolgreichen europäischen Integrationsprozesses, die Story vom friedlichen Nachkriegseuropa, das von einem ökonomisch zu einem politisch integrierten Europa mutiert. Diese Story begründet ein besonderes „citizenship narrative“, wenn es die Mitglieder dieses friedlichen Europas als Träger dieser Story auszeichnet. Dieses „citizenship narrative“ lässt sich gut mit einer anderen Geschichte verbinden, dem Narrativ eines über Solidarität zusammengehaltenen Sozialverbands, was das „citizenship narrative“ wohlfahrtsstaatlich überhöht. Ein drittes Narrativ erzählt über Europa als einer besonderen Kultur, ein Narrativ, das Max Weber mit der These der Besonderheit des okzidentalen Rationalismus auch noch mit sozialwissenschaftlicher Autorität versehen hat. Ob diese drei Narrative Effekte in den Köpfen der Menschen zeitigen, die dann auch gemessen werden können, bleibt abzuwarten. Bislang sind diese Effekte eher gering. Um aber solche Effekte zu haben, braucht man Stories, die diese Effekte erzeugen. Eine erklärende Theorie der Entstehung einer kollektiven Identität als eines Kontrollprojekts der Grenzen einer europäischen Gesellschaft darf also nicht bei den Identifikationen mit Objekten, sondern muss an der sozialen und genauer: narrativen Konstruktion dieser Objekte in sozialen Beziehungsnetzwerken ansetzen. Normative Ansätze werden damit selbst zum Gegenstand der Analyse: Sie beschreiben die Rechtfertigungen der Grenzen von Netzwerken sozialer Beziehungen, die als semantische Objektivierungen solcher Grenzdefinitionen zu einem Teil des Konstruktionsprozesses selber werden. Dies gilt auch für psychologische Ansätze, die uns darüber berichten, welche Gefühle wie viele Menschen gegenüber einem Ding wie Europa haben. Wenn sie denn Gefühle haben und diese als Statements zu „Identifikationsgraden mit Europa“ existieren, werden sie selbst Teil jenes Prozesses, in dem kollektive Identitäten emergieren. Kollektive Identitäten fixieren einen Kommunikationsraum und stabilisieren seine Grenzen über narrative Konstrukte. Sie stellen ein Kontrollprojekt der Grenzen eines Netzwerks auf Dauer dar und begrenzen seine Beliebigkeit. Narrationen fügen Beliebiges in eine sequentielle Ordnung ein, die als erkannte und anerkannte zum Medium weiterlaufender Kommunikation wird. Geschichten, die Menschen verbinden, variieren mit dem kommunikativen Netzwerk, das sie konstituieren. Deshalb ist der Gegenstand kollekti91
ver Identitäten ein Netzwerk kommunikativer Beziehungen mit Grenzen, die von einer Identität identifiziert und kontrolliert werden. Kommunikative Netzwerke generieren also Identitäten als ein Projekt der Kontrolle ihrer Grenzen (White 1992). 3.2 Orte europäischer Identitätskonstruktionen Netzwerke sozialer Beziehungen in Europa sind weitgehend bestimmt durch Techniken der Herstellung indirekter sozialer Beziehungen. Europa wird in dieser Perspektive vor allem durch Radio, TV, Film, Zeitungen, Internet konstituiert. Es sind gerade nicht die persönlichen Beziehungen (zwischen Eliten oder ein paar Erasmus-Studenten), die Europa als Kommunikationsraum hervorbringen.12 Solche indirekten Beziehungsnetzwerke erzeugen viele Orte indirekter Kommunikationsnetze und damit eine „Interobjektivität“ (Latour 2001, 2005). Diese Interobjektivität zeigt sich etwa in Forschungen zu einer europäischen Öffentlichkeit, in der nicht mehr die gemeinsame Sprache oder das gemeinsame Medium, sondern die Kommunikation von Themen zur gleichen Zeit zum Kriterium für europäische Öffentlichkeit wird.13 Diese Interobjektivität unterstellt besondere Beziehungen zwischen „Orten“ der Konstruktion kollektiver Identität. Drei solcher Orte lassen sich in Europa ausmachen. Der erste ist der Markt (Konsummarkt, Geldmarkt, Produktionsmarkt), der von der Story bestimmt wird, dass er dafür sorge, dass es allen am Ende besser gehe als zuvor. Ein anderer Ort ist die Öffentlichkeit, die von der Story zusammengehalten wird, dass Bürger Rechte und Pflichten haben, die sie aus Einsicht in ihre Vernünftigkeit beziehungsweise Begründbarkeit übernehmen. Ein dritter Ort sind Erinnerungsorte, wo die Erinnerung an Europa eingeübt und auf Dauer gestellt wird (Kriegerdenkmale, Heldendenkmäler, Opfermahnmale). 12 13
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Das heißt nicht, dass diese Phänomene irrelevant wären. Doch relativ zu den indirekten sozialen Beziehungen nehmen sie an Bedeutung ab. Die Debatte um die Frage, ob es nun eine solche gäbe oder nicht, lässt sich leicht auflösen als eine Debatte über unterschiedliche Modelle der Konstruktion von Öffentlichkeit. Nationale Öffentlichkeiten funktionieren anders als transnationale Öffentlichkeiten. Die Forschung zu einer europäischen Öffentlichkeit (für eine exzellente Diskussion siehe Trenz 2005) könnte als Analyse der Emergenz von Interobjektivität in Europa gelesen werden, in dem kollektive Identität in anderer Weise als in den auf die Illusion von KoPräsenz gegründeten nationalen Öffentlichkeiten hergestellt wird.
Diese Orte sollten nun nicht, wie es viele Analysen gemäß dem nationalen Modell tun, hierarchisiert werden, als ob es ein Kontinuum von weichen (ökonomischen) zu harten (kulturellen) Orten gäbe, wo sich dann die narrative Ordnung eindeutig ausmachen lässt, die Narration ein „Ende“ hat. Orte produzieren funktional äquivalente Stories. Welche strukturelle Position sie in einem Netzwerk sozialer Beziehungen besetzen, ist abhängig davon, welche Position ihnen in der narrativen Konstruktion von Grenzen dieser Netzwerke zugewiesen wird. Die europäische Story ist ein Versuch, die in nationalen Stories stattfindende Hierarchisierung durch Temporalisierung zu ersetzen, unterschiedliche Orte in den Fortgang der Narration einzubauen und Kohärenz über das Fortlaufen der Story zu erzeugen. Es kommt zu Kombinationen und Rekombinationen, die über narrative Sequenzialisierung Identität über Zeit sicherzustellen versuchen. 3.3 Das Referenzobjekt einer europäischen kollektiven Identität Eine genuin soziologische Theorie europäischer Identität zielt nicht nur darauf ab, ob, wie und in welchem Ausmaß an bestimmten Orten Identitätsmarkierungen emergieren. Sie muss zugleich klären, welche Referenzobjekte für die Konstruktion einer europäischen Identität zur Verfügung stehen. Europa selbst ist ein leerer Bedeutungsträger. Es kann alles Mögliche bedeuten, etwas, das durch territoriale Grenzen identifizierbar wird, das als Rechtsraum bestimmt wird oder als die Summe der Länder, die dem Europarat zugehören. Wir könnten solche „Vorstellungen“ von Europa als Annäherungen oder stellvertretende Bedeutungsträger für ein bereits existierendes „Objekt“ Europa heranziehen. Dann sprechen wir etwa von einem kulturellen, einem geographischen Europa, also von einem durch Adjektive bestimmten Ding Europa (Eder 2006a). Doch diese Adjektive verweisen auf etwas, das ihnen Sinn verleiht, nämlich Narrative, die für das geographische oder das kulturelle oder das soziale oder das westliche Europa oder das primordiale Europa stehen. Europas Grenzen sind narrative Grenzen, und je mehr die Narrative variieren, umso offener sind die Grenzen, die als Grenzen Europas kommuniziert werden. Dass der Gemeinsame Markt ein solches Referenzobjekt bilden könnte, ist eine Annahme, die häufig heftig bestritten wird. Der Markt könne in dieser Lesart kein Objekt kollektiver Identitätskonstruktion sein. Dabei wird übersehen, dass der Markt jenem Zusammenfallen von Individuum und 93
Gesellschaft als Objekten kollektiver Identitätskonstruktion am nächsten kommt. Der Gemeinsame Markt in Europa ist mehr als die Aggregation von Marktteilnehmern. Der Gemeinsame Markt liefert, vermittelt durch die Interaktion der Marktteilnehmer, eine Reihe von Objekten, die in gut funktionierende Narrative eingebaut werden können, nämlich Produktobjekte (etwa den Airbus) und Konsumobjekte (etwa Parmigiano) oder Tauschobjekte (etwa den Euro), die in ein Narrativ von dem sich in seinen Produkt- und Konsum- und Tauschobjekten konstituierenden Europa eingebaut werden können. Wenn wir den Fall eines rechtlich definierten Europas nehmen, dann wird das Referenzobjekt über Erzählungen rechtlicher Zugehörigkeit, über „citizenship narratives“ hergestellt. Rechtliche Beziehungen werden wegen der Zunahme rechtlicher Regelungen dichter und generieren Grenzen dieses Systems der Mitgliedschaft über besondere Definitionen dessen, was dazugehört, insbesondere über eine politische Definition von Mitgliedschaft. Dieses politische Kontrollprojekt, objektiviert in Semantiken und realen Objekten wie Reisepässen, definiert die Grenzen einer „politischen Kommunikationsgemeinschaft“ von Europäern. Dieses „citizenship narrative“ kann an ein altes Narrativ anschließen, auf das ein Kontrollprojekt der Grenzen eines europäischen Kommunikationsraums bauen kann (vgl. dazu die Beiträge in Eder/Giesen 2001).14 Um die Differenz zum nationalen Staatsbürgernarrativ herzustellen, werden Adjektive bemüht, die den Bürger der nationalen Gemeinschaft vom Bürger der europäischen Gemeinschaft unterscheiden. Ein in jüngerer Zeit modisch gewordenes Adjektiv ist „kosmopolitisch“. Europäische Identität definiert Grenzen einer Gemeinschaft von kosmopolitischen Bürgern. Eine andere „Staatsbürgerreferenz“ ist die soziale Staatsbürgerschaft in Europa mit der Idee, die identitären Grenzen als die eines Solidaritätsraums zu bestimmen. Die Erzählung einer besonderen europäischen Kultur, eines europäischen „kulturellen Erbes“ konstituiert ein weiteres Referenzobjekt. Im Narrativ der Wiedergeburt der Kultur in Europa, im Narrativ der „Renaissance“ wird dieses Referenzobjekt thematisch. In dieser sich wiedergebärenden Kultur findet Europa seine Werte in Abgrenzung zu Werten anderer Kulturen (Joas/Wiegandt 2005). Diese anderen nicht-europäischen Werte werden 14
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Das Interesse der Europäischen Kommission an „citizenship research“ im letzten Jahrzehnt kann man als einen Prozess beschreiben, in dem europäische Staatsbürgerschaft als eine geteilte Story in Europa etabliert wird.
in Narrativen mit den europäischen Werten in einen Zusammenhang gebracht und liefern die narrativen Grenzen dieses Kommunikationsraums (Eder 2007a). Dies leisten Geschichten, die wir über den anderen erzählen, mal als Geschichten über den „Osten“, mal als Geschichten über den „Orient“, bisweilen auch als Geschichten über „Amerika“. Die schwankenden Referenzen zeigen, dass Europa nicht in einer kulturellen Substanz zu suchen ist, sondern in variierenden narrativen Relationierungen zum anderen. Die Suche nach einer europäischen Kultur besteht also in der Konstruktion einer auf relativ beliebige kulturelle Objekte bezogenen Story. Es ist eine Story der dauernden Begegnung mit anderen Kulturen, die dauerndes Wiedergebären erzeugt. Je häufiger Europa wiedergeboren wird, umso häufiger wird es immer wieder anders. Dies wird an zwei für Europa kritischen kulturellen Referenzen deutlich: der Referenz zur jüdischen und der Referenz zur arabischen Kultur (die griechische wurde erfolgreich „eingemeindet“ und assimiliert). Beide haben Renaissancen ausgelöst. Im Fortspinnen dieser Geschichten kommen nicht nur Juden und Araber, sondern auch Mongolen und Gypsies, Türken und Kelten hinzu, die ihre Spuren in Südeuropa, in Österreich und Frankreich, in Rumänien und Deutschland hinterlassen haben. Die damit verbundenen Ereignisse werden oft als furchterregende und entsetzliche Ereignisse erzählt (die Geschichtsbücher sind voll davon), was aber nicht heißt, dass sie in der Hölle enden – im Gegenteil: Europa präsentiert sich heute als das Gegenteil dieser Hölle, also als ein anderes „Ende“ dieser Story. Wie in den meisten dieser Stories kann die Geschichte weitergehen. Neue Ereignisse kulturellen Konflikts treiben diese Story weiter – und erzeugen eine neue Story als Fortsetzung der alten. All das heißt Europa, und doch geht es immer wieder um etwas Neues und anderes. Mit den drei angedeuteten Stories, der Marktstory, der Staatsbürgerschaftsstory und der Story der kulturellen Besonderheit, lassen sich drei unterschiedliche Grenzen und damit unterschiedliche Projekte der Kontrolle dieser Grenzen, das heißt „Identitäten“ bestimmen.15 Europäische Identität 15
Diesen Kontrollprojekten lassen sich jeweils spezifische theoretische Ansätze zuordnen. Rationalistische Ansätze argumentieren, dass der durch europäische Institutionen erzeugte Vorteil zusammenbindet, dass also die Herstellung des größtmöglichen Glücks der Europäer identitätsgenerierend im Sinne von zunehmender Identifikation mit EUInstitutionen sei. Normative Ansätze argumentieren, dass das ethische Selbstverständnis diejenigen, die miteinander interagieren, zur Kooperation zwingt. Bezogen auf die EU
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entsteht damit aus konkurrierenden Geschichten, die mit Hilfe des Objektbezugs Europa verknüpft werden. Ob sich diese Stories am Ende empirisch in eine europäische Story zusammenfügen lassen, stellt sich dann als Folgeproblem. Dies hängt wiederum von der Evolution der sozialen Beziehungen in dem bereits konstituierten narrativen Kommunikationsraum Europa ab. Mit dieser Beobachtung konkurrierender Identitätskonstrukte wird auch eine besondere Differenz zum Modell nationaler Identität sichtbar. Im nationalen Modell fallen verschiedene narrative Grenzen zusammen; ökonomische, politische und kulturelle Grenzen werden harmonisiert.16 Das zeigt sich in Begriffen wie „Volkswirtschaften“, „Nationalstaaten“ oder „Nationalkulturen“. Genau dies findet bislang in Europa nicht statt.17 Die Nicht-Koinzidenz der möglichen Grenzen mag gar das werden, was Europas besondere kollektive Identität ausmacht. Diese besondere Identität bestünde in einem Kontrollprojekt, das mit vielfältigen Grenzen hantieren kann. Aber ohne Kontrollprojekt, das heißt ohne kollektive Identität, sind auch Vergesellschaftungsprozesse auf europäischer Ebene nicht denkbar. Die narrative Verknüpfung von parallelen oder sich überschneidenden oder sich widersprechenden Narrativen wird so zum Zentralproblem dieses Netzwerks sozialer Beziehungen. Das lässt sich nicht mehr mit einer hegemonischen Story wie im Nationalstaat bewerkstelligen. Dazu bedarf es eines nicht-hegemonischen Konstruktionsmodus, dessen Elemente im Folgenden angedeutet werden sollen.
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heißt das, dass ethische Selbstbindung der Europäer diese zur Zusammenarbeit zwingt und identitätserzeugende Effekte hat (Kantner 2006). Davon lässt sich ein dritter phänomenologisch ansetzender Vorschlag unterscheiden, der auf gemeinsam geteilte Hintergrundüberzeugungen verweist, die das soziale Band zwischen Akteuren herstellen. Die Reihenfolge der Koordination dieser Grenzen, also die temporale Abfolge, variiert und hat zu Unterscheidungen wie dem eines französischen und deutschen Modells geführt. Diese sind aber keine substantiell differenten Formen, sondern zeitlich unterschiedlich arrangierte Stories der Konstruktion einer Einheitsstory (siehe dazu auch die Debatte um die Evolution der citizenship story, die zwar unterschiedliche Wege nimmt, aber am Ende die gleiche Story in den Nationalstaaten wird: Marshall 1950; Mann 1987). Das ist das Modell der Integration verschiedener Staaten in eine nationale Story. Dort wurde dies allerdings mit der Durchsetzung einer dominanten Sprache erleichtert. Wenn Europa das mit seinen vielen Sprachen wollte, wäre schon eine erste erschwerende Bedingung gegeben.
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Europäische Identität als ein Fall der Verknüpfung multipler Stories
4.1 Der Mechanismus narrativer Verknüpfung Kollektive Identitäten sind keine kulturellen Substanzen, sondern Dinge, die in der sozialen Welt als Teil dieser Welt erzeugt werden. Kollektive Identitäten sind weder Anfang noch Ende von sozialen Beziehungen. Sie emergieren mit den sozialen Beziehungen und liefern Momente von Stabilität im Fluss sich dauernd verändernder sozialer Beziehungen. Aber auch Identitäten sind nicht stabil. Auch sie ändern sich und dies oft auch recht abrupt. Kollektive Identitäten sind deshalb nur dann Momente relativer Stabilität, wenn existierende Geschichten in einem Narrativ beziehungsweise in narrativen Sequenzen miteinander verknüpft werden. Das Besondere europäischer Identität ist nun, dass die Stabilität, die eine narrative Ordnung hervorbringt, eine permanente Fortsetzung des Erzählens notwendig macht. Europäische Identität ist also immer „in the making“ und das analytische Beobachtungsarsenal muss im Fall europäischer Identitätskonstruktion auf diese temporale Struktur ausgerichtet werden. Europäische Identität ist ein Prozess, der an verschiedenen Orten zu bestimmten Zeitpunkten beobachtbar wird.18 Debatten darüber, ob Europa nur eine weiche Identität haben könne, weil Identifikationen fehlen würden oder weil es keine gemeinsame Sprache gäbe oder weil die nationalen Kulturen zu unterschiedlich seien, erübrigen sich dann. Die oben entwickelte Konzeption weist darauf hin, dass auch Europa auf eine starke Konzeption von Identität angewiesen ist, da komplexe Gesellschaften besonders viel Identität als Kontrollprojekte des in ihnen laufenden Kommunikationszusammenhangs brauchen. Dieser Idee wurde die Idee hinzugefügt, dass die europäische Identität nicht mehr in einer dominanten Story fixiert werden kann, sondern von einer Multiplizität von Stories bestimmt ist, die ihrerseits wieder verknüpft werden müssen, um ein Kontrollprojekt des in Europa emergierenden Kommunikationsraums zu erzeugen. Diese Verknüpfung erfordert, und das ist die aus der narrationstheoretischen Begründung sich ergebende These, selbst wiederum ein sequentielles 18
Das methodologische Problem, den zeitlichen Punkt der Beobachtung mitzubestimmen, mag hier außen vor gelassen werden (zur theoretischen wie methodischen Diskussion vgl. Abbott 2001).
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Arrangement dieser konkurrierenden Geschichten, ihre narrative Organisation. Damit ist ein Mechanismus des Konstruktionsprozesses transnationaler Kommunikationsräume benannt. Die Idee der Aggregation von Geschichten wird ersetzt durch die Idee der kommunikativen Zirkulation dieser Geschichten, deren Zusammenspiel selbst wieder eine narrative Ordnung hervorbringt und mit ihr ein Kontrollprojekt der variablen Grenzen eines Kommunikationsraums in Europa.19 Doch wie lassen sich die Geschichten, die in Europa benutzt werden, um ein Netzwerk sozialer Beziehungen zu kontrollieren, in eine narrativ plausible Sequenz bringen? Sequenzialisierung heißt zunächst nichts anderes, als eine methodologische Perspektive zu bezeichnen, die Ordnung der verschiedenen Geschichten in der narrativen Sequenz ihrer Verknüpfung zu suchen. Wie in jede Geschichte gehen auch in dieses emergente europäische Narrativ Interessen, normative Prinzipien und kollektive Erinnerungen ein, die an Aktanten gebunden sind, die in ein narratives Plot eingebaut werden. Dabei entstehen mehr oder weniger plausible Stories, die Helden und Bösewichte, Täter und Opfer verknüpfen und offen lassen, wer diese Positionen besetzt. Es scheint so zu sein, dass europäische Narrative die Besetzung dieser Positionen variabel halten können mit der Konsequenz, dass Nationen, Gruppen oder Individuen immer Gefahr laufen, entweder die Position von Bösewichten, Tätern oder Opfern zu besetzen oder das Glück haben, zu Helden zu werden, die die Opfer retten und die Bösewichte bestrafen. Man kann sich diese changierende Rollenverteilung in Europa gut vorstellen. Europäische Identität ist also ein Kontrollprojekt von Grenzen, das zwar einen Plot kennt, das aber die Besetzung der Rollen offen hält. 4.2 Die kollektive Identität Europas als ein Kontrollprojekt von sich überschneidenden Netzwerken sozialer Beziehungen Europäische Identität ist ein Fall multipler Stories, die verknüpft werden und in diesem Prozess in eine neue Ordnung gebracht werden. Diese Verknüpfung findet allerdings nicht im luftleeren Raum statt, sondern vor dem Hintergrund der besonderen Form des Zusammenschlusses von Nationalstaaten unter dem institutionellen Dach der EU. Die EU als ein Zusammen19
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Die Idee von Europa als einem Kommunikationsraum liefert das Brückenkonzept zwischen Netzwerken sozialer Beziehungen und der Storyproduktion (zur Explikation dieses Konzepts siehe Eder 2007b).
schluss von Nationalstaaten, die auf nationalen Gesellschaften mit einer je eigenen Tradition gründen, modifiziert bereits die in der Idee der Nation implizierte Exklusivität einer nationalen Story, die sich politisch als Souveränitätsanspruch, ökonomisch als nationale Wirtschaft und kulturell als nationale Kultur artikuliert hat. Diese nationalen Gesellschaften werden in ein Netzwerk von Beziehungen eingebunden, die dazu zwingen, verschiedene nationale Narrative miteinander zu verknüpfen. Noch folgenreicher für die narrative Neuordnung Europas (und den durch Europäisierung ausgelösten Transformationsprozess der Nation beschleunigend) ist die Veränderung der nationalen Gesellschaften selbst, nämlich die zunehmende Heterogenität der nationalen Gesellschaften, in denen nationale Identität nurmehr gegen die Evidenz ethnischer Differenzierung inszeniert werden kann. Man kann zwar weiterhin die Assimilation der Fremden (Migranten) an nationale Kulturen fordern; doch lässt sich dieses Ansinnen nicht mehr problemlos durchsetzen. 20 Die Fremden werden zu Ethnien in der Nation und quer zur Nation. Die Nation ist nicht nur mit ethnischen Gruppen konfrontiert, die sich der Assimilation verweigern; auch die Einheimischen werden in ethnische Gruppen transformiert, so dass nationale Gesellschaften nicht mehr nur Einwanderungsgesellschaften, sondern letztlich multiethnische Gesellschaften sind, in der auch Majoritäten „ethnisiert“ werden. Alle diese Ethnien klagen gleichermaßen Narrative ihrer Besonderheit ein. Deshalb sind nationale Gesellschaften gezwungen, ein Netzwerk ethnischer Geschichten herzustellen, das narrative Plausibilität für sich reklamieren kann.21 Nationale Geschichten hatten noch klare Helden, die kollektive Idealsubjekte repräsentierten. Die narrative Schließung nationaler Gesellschaften baute die zentralen Ereignisse der Selbstkonstitution einer Nation als Helden in die Geschichte ein und beendete damit zugleich die Geschichte. Die 20 21
Das ist vermutlich auch das Problem mit den Assimilationstheorien, die immer noch, trotz multikultureller Realitäten, verteidigt werden. Das gelang hervorragend in den USA. Allerdings waren die Zuwanderer in diesem Fall nicht nur herrschende Schicht im Einwandererland, sondern auch Migranten, deren nationale Identität noch nicht jene narrative Stabilität erreicht hatte, die sich in Europa erst im Laufe des 19. Jahrhunderts durchsetzen konnte. Erst die späteren Einwanderer werden nicht mehr problemlos Amerikaner, sondern werden ethnisch kategorisiert. Dies führte zu jenem ethnischen Amerika, das mit der Nation konkurriert. Das postethnische Amerika (Hollinger 1995) ist ein Versuch, die Story der Nation auf die multiethnische Realität zurückzuprojizieren.
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Nachfahren konnten nurmehr Heldenverehrung betreiben, außer es kam, wie in vielen Ländern, etwa in Deutschland, zu Diskontinuitäten in der nationalen Story. In der Realität setzte sich aber zunehmend die multiethnische Realität durch: sichtbar gleichermaßen in Fußballteams wie in der populären Musik, weniger sichtbar bislang in der politischen Form der Gesellschaft, wo ethnische Vertreter immer noch die bemerkenswerte Ausnahme sind. Das verändert die Besetzung der Positionen in der narrativen Struktur des Netzwerks postnationaler Vergesellschaftung: An die Stelle eindeutiger nationaler Helden treten die kleinen hybriden Helden der Fußballclubs oder der Popszene, oft Akteure, die in mehreren Kulturen zu Hause und zugleich nicht zu Hause sind. Es kommt zu hybriden Helden in den emergenten Narrativen, nicht nur lokal oder national, sondern vor allem auch in Europa. Hier tritt der Faktor hinzu, dass die Nationen füreinander innerhalb der Europäischen Union zu konkurrierenden Gruppen werden, die die Einmaligkeit der Nation und der sie tragenden Erzählung unterminieren. In den emergenten narrativen Netzwerken Europas müssen also viele Teilnetzwerke und ihre narrativen Teilgeschichten miteinander gekoppelt werden, ohne dass sie die Struktur eines Netzwerks mit einem eindeutigen Zentrum haben. Diese Teilnetzwerke brauchen zunehmend Broker, um diese Verknüpfung herstellen zu können. Solche Broker sind vor allem die, die mehr als einer Ethnie zugehören, sei es durch Mischehen, sei es durch doppelte Sozialisation. Diese Broker sind nicht mehr Repräsentanten eines kollektiven Individuums wie im Fall der Nation. Sie sind vielmehr besondere Subjekte, eben Individuen, die besondere Varianten kollektiver Identität repräsentieren. So werden Individuen zu Knotenpunkten in narrativen Netzwerken, in denen sich eine europäische Gesellschaft zu ordnen beginnt. Europäische Identität entsteht demnach in einem Prozess narrativer Strukturierung, in dem hybride Subjekte zu Brokern zwischen Netzwerkteilen werden, die ansonsten unverbunden wären. Sie werden zu den Helden eines Netzwerks, das nationale Grenzziehungen überschreitet und eine postnationale Gesellschaft erzeugt.22 22
Diese Überlegungen knüpfen nicht direkt an parallele Überlegungen im Poststrukturalismus an. Sie nehmen diese Anregungen auf und sind zugleich ein Versuch, diese Anregungen analytisch und methodisch auf formal überzeugendere Beine zu stellen (in diesem Zusammenhang siehe die Beiträge in Cheah/Robbins 1998 und dort insbesondere Anderson 1998; daneben auch Bhabha 1990; zur Aufwertung des „hybriden Subjekts“ als dem Kennzeichen der Moderne siehe jetzt auch Reckwitz 2006).
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Europa hat also mehr als eine Story. Zugleich erzählt Europa von sich selbst, dass es viele solcher Stories hat, die es zusammenhalten. Europa ist ein idealer Fall für die Analyse einer Gesellschaft, die mit einer Pluralität von Geschichten lebt, ohne diese Pluralität in eine hegemonische Story transformieren zu können. Geschichten werden relationiert und die daraus resultierende neue Geschichte wird zum Medium der Herstellung neuer partikularer sozialer Beziehungsnetzwerke, die in einem emphatischen Sinne ethnische Netzwerke sind.23 Dieser dynamische Prozess kann nicht mehr auf eine dominante Geschichte bezogen werden, die alle anderen Geschichten assimiliert und sich einverleibt. Die Väter der europäischen Einigung produzierten eine solche Story, die bis heute immer wieder zitiert wird: die Story der Völker Europas, die in Frieden miteinander leben sollen und wollen. Europa fängt also bereits von Anfang an mit der Verknüpfung unterschiedlicher nationaler Geschichten an, die in eine emergente neue nationenübergreifende Story überführt werden. Allerdings bleibt in diesem steten Wandel und Weiterschreiben der europäischen Story das Problem der Identität im Wandel besonders prekär. Europa muss die Zukunft im Weiterspinnen der Story blockieren, muss die Gegenwart gegen die offene Zukunft festhalten, um eine Identität im Wandel zu behaupten (Bearman et al. 1999). Allerdings ist dieses Blockieren problematisch, da die Einheit der Nation oder eines funktionalen Äquivalents als Blockieren der Modernisierung und ihres Festschreibens im Nationalstaat nicht mehr zur Verfügung steht.24 Hinzu kommt, dass die Kosten des nationalen Blockierens der Zukunft, nämlich die Bestimmung der Einheit und Reinheit der Gegenwart, zu traumatischen Ereignissen geführt hat, die Europa in identitäre Konflikte und am Ende in Bürgerkriege geführt hat. Wenn wir das Experiment des Blockierens der Zukunft in Europa unternehmen, dann kommen Semantiken zum Zuge, die sich nicht mehr auf einfache Begriffe wie Nation (oder Imperium, ein in jüngerer Zeit modisch gewordener Vorschlag) bringen lassen. Wie oben angedeutet, eignet sich 23
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Um Missverständnisse zu vermeiden: der Begriff „ethnisch“ wird hier als ein analytischer Begriff verstanden, der die Artifizialität der Konstruktion einer Gemeinschaft betont: Ethnien sind in noch stärkerem Maße Erfindungen als es Nationen sind. Entstanden als koloniale Konstruktionen verweist dieser Begriff auf die Kontingenz der Referenz, die zum Definiens einer Gemeinschaft gemacht wird. Ähnliches versuchte Hegel, als er im preußischen Staat das Zusichkommen des objektiven Geistes angelegt sah.
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dafür eher der Begriff der Hybridität, der dieses Feste im Fluss des dauernden Wandels zu bestimmen erlaubt. Europa ist also ein narrativer Mix aus vielen Geschichten, aus deren Mixtur sich, so die intuitive These der öffentlichen Inszenierung der EU, die Identität Europas ergeben soll. Damit lässt sich auch, zumindest für eine gewisse Zeit, die Idee eines Europas mit beweglichen Grenzen durchhalten; denn es geht nur um variierende Mixturen dieser Stories. Keine Story vermag sich durchzusetzen und die anderen zu dominieren und damit kann auch keine Grenze als endgültige benannt werden.25 Diese Intuition ist nicht ganz unsinnig, bleibt aber analytisch noch ungenügend. Denn worum es geht, ist ein Kontrollprojekt für das „Mixen“ von narrativen Teilnetzwerken in Europa zu finden. Dieses Kontrollprojekt findet sich in einer Geschichte, die die Verknüpfung von Geschichten weitererzählt und damit Anschlussfähigkeit an nationale Geschichten herstellt. Zugleich sind es aber die hybriden Broker, die in variabler Weise immer wieder die Einheit dieses narrativen Netzwerks herstellen. Das Blockieren der Zukunft ist also selber ein Prozess, der die Zeit des Wandels zu begrenzen sucht. Man kann Europa nicht auf eine neo-liberale oder kosmopolitische oder soziale Geschichte festnageln. Stories koexistieren nicht einfach nebeneinander, sie beeinflussen sich gegenseitig und produzieren emergente Effekte durch ihre immer wieder stattfindenden Rekombinationen, die in das narrative Fortspinnen von Stories eingebaut werden. Allerdings sind Struktur und Muster dieser Rekombinationen unbekannt. Wir wissen nur, dass sie stattfinden. In der narrativen Struktur europäischer Identität sind es am Ende dann die hybriden Broker, die das Identische im Fluss der Zeit zu fixieren erlauben. Was als Gegenstand europäischer Identitätskonstruktion dann herauskommt, ist eine Story konfligierender Stories, in der hybride Subjekte zu Brokern zwischen diesen Geschichten und zu den neuen Helden eines emergenten europäischen Narrativs werden. Die Identität Europas lässt sich nurmehr begrenzt blockieren und es sind die neuen Broker, die zugleich blockieren und öffnen und in dieser Doppelrolle eine neue Form der Konstruktion kollektiver Identität in Gang setzen, die sich als Kontrollprojekte für transnationale Vergesellschaftungsprozesse eignet. 25
Eine Nation ohne genaue Grenzen ist unvorstellbar – das ist ein Punkt, an dem das Neue Europas besonders deutlich wird. Das gilt auch, wenn die Grenzen Europas oft mit den Grenzen einer Festung verglichen werden. Doch die Art der Befestigung der Grenzen und die Verschiebbarkeit von Grenzen sind unabhängig voneinander.
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Schlussfolgerung
Europa ist ein idealer Fall zur Analyse sich gegenseitig beeinflussender und zugleich voneinander abgrenzender Geschichten und ein Fall evolutionär variierender Rekombinationen von Stories. Solche Prozesse können immer wieder von Teilidentitäten abgebrochen werden (etwa der Unterstellung von gemeinsamen politischen oder kulturellen Identitäten). Der Vorschlag in diesem Aufsatz war, kollektive Identitätskonstruktion in Europa an unterschiedlichen sozialen Orten („sites“) zu beobachten: am Markt, in der Öffentlichkeit und an den Erinnerungsorten. Die Debatte zu europäischer Identität hat sich bislang auf die politisch-öffentliche Dimension, wie etwa die Diskussion um einen konstitutionellen Patriotismus in Europa, oder auf die kulturelle Dimension, wie in der Diskussion um ein säkulares Europa, bezogen. Die Stories, die dafür erfunden werden, erzählen die Geschichte von einem politisch sich einigenden Europa oder die Geschichte von einem sich seiner Geschichte vergewissernden Europa. Solche Projekte können an gegebene institutionelle Arrangements anschließen. Eine erste Option ist eine an die Kommission und den Europäischen Rat andockende Geschichte; eine zweite Option schließt eher an den Europarat an, der eine andere Geschichte über Europa nahe legt. Die Story eines seinen Reichtum fördernden Europas läuft dazu parallel und in ihr spielt die Kommission eine ambivalente Rolle, vom Helden bis hin zum Narren. Die soziale Basis dieser Geschichten ist in einer Gesellschaft zu suchen, die sich zunehmend in sich überschneidenden sozialen Netzwerken organisiert. Jedes dieser Netzwerke hat seine eigene Story, die es als Modell für Europa anbietet. Die damit ausgelöste Dynamik zu fassen, erfordert ein Erklärungsmodell, das die komplexe Interaktion vieler Stories, die in diesen Netzwerken zirkulieren, zu fassen vermag. Daraus ergibt sich die empirische Suchstrategie: zu zeigen, wo, wann und wie diese Stories miteinander in Berührung kommen und die dabei wirksamen Restriktionen und Opportunitäten für die Konvektivität dieser Stories zu benennen. Europa ist eine Gesellschaft mit überlappenden Netzwerken, und an diesen Berührungspunkten finden auch Kreuzungen von Geschichten statt. Bei der Frage nach einer europäischen Identität geht es um ein Netzwerk von gekoppelten Identitäten, die eine besondere zeitliche Dynamik erzeugen, in der Europa sich selbst erzeugt und als Identisches herstellt. Diese Diversität von Geschichten ist von Vorteil für offene Netzwerke: 103
Anstatt nach einer besonderen Story für Europa zu fahnden, müssen wir nach den Knotenpunkten suchen, die das Andocken von Geschichten an andere Geschichten erlauben. Die europäische Story ist ein offener Prozess, der viele andere Geschichten aufnehmen kann, ohne sie assimilieren zu müssen. Das einzige Kriterium, das bleibt, um eine Identität ausmachen zu können, ist: in der Lage zu sein, eine Story im Geflecht vieler Stories weiterspinnen zu können. Das Ende der theoretischen Erzählung ist die Beobachtung, dass Europa ein Raum mit konkurrierenden Stories ist und dass es deren Konfrontation ist, die bindende Wirkungen hat. So können in Europa viele Geschichten hinzukommen, die vor kurzer Zeit kaum denkbar waren. Dabei sind es die Broker, Träger hybrider Identitätskonstruktionen, die die verschiedenen Teilgeschichten miteinander verknüpfen und somit ein neues Narrativ erzeugen: ein Narrativ der Hybridität, in dem Europa ein besonderes Kontrollprojekt seiner Grenzen entwickeln und als eine „Gesellschaft“ jenseits des Nationalstaats emergieren kann. Das Besondere kollektiver Identitätskonstruktion in Europa ist folglich, dass wir es mit einem permanenten Prozess des Koppelns von Geschichten zu tun haben, ohne erwarten zu dürfen, dass sich aus diesen eine einzige dominante Erzählung herausbildet, wie dies im Prozess der Nationalstaatsbildung versucht wurde und was auch immer wieder, wenn auch mit Kosten, gelang. Europa kann nicht mehr diesen Mechanismus der narrativen Hegemonisierung bemühen. Europa besteht aus zeitlich und räumlich zu spezifizierenden Konstellationen von Geschichten, die immer weitergehen und jeweils für den Augenblick das sichtbar machen, was Europa ist. Morgen mag es schon wieder ein bisschen anders sein. Literatur Abbott, Andrew, 2001: Time Matters. On Theory and Method. Chicago/London: University of Chicago Press. Anderson, Benedict, 1998: Nationalism, identity, and the world-in-motion. S. 117-133 in: Cheah/Robbins 1998. Ash, Timothy Garton, 2007: Europe's true stories, Prospect Magazine 131: 36-39. Bartolini, Stefano, 2007: Restructuring Europe. Centre Formation, System Building, and Political Structuring between the Nation State and the European Union. Oxford: Oxford University Press.
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Europa als Problem und ewiges Werden
Am Anfang war alles eins: Europa, der Westen und die Moderne. Nirgendwo kommt das deutlicher zum Ausdruck als in Max Webers (1972b: 1) berühmter Problemstellung, warum, wie und in welcher Form ausgerechnet Europa eine solche Entwicklung nehmen konnte. „Universalgeschichtliche Probleme wird der Sohn der modernen europäischen Kulturwelt unvermeidlicher- und berechtigterweise unter der Fragestellung behandeln: welche Verkettung von Umständen hat dazu geführt, dass gerade auf dem Boden des Okzidents, und nur hier, Kulturerscheinungen auftraten, welche doch – wie wenigstens wir uns gern vorstellen – in einer Entwicklungsrichtung von universeller Bedeutung und Gültigkeit lagen?“ Die Antwort, die Weber gibt, kommt einer Skizze der gesellschaftsgeschichtlichen Konfiguration der Moderne nahe, die sich den drei Revolutionen verdankt: der ökonomischen Revolution und der Entstehung des Kapitalismus, der politischen Revolution und der Heraufkunft der Demokratie und der kulturellen Revolution und der Durchsetzung des Individualismus. Nur im Westen, so Max Weber, hat es rationalen Kapitalismus, rationale Wissenschaft, rationale Kunst, rationales Recht, einen rationalen Staat, rationale Bürokratie und rational geschultes Fachbeamtentum sowie freie Lohnarbeit gegeben. Schon die Art, so zu fragen, unbefangen und neugierig nach der Eigenart und Einzigartigkeit dieser Konfiguration, also eines Modells des Okzidents, des Westens oder des Abendlandes als historischem Individuum (vgl. Müller 2007b: 50ff.) – Weber gebraucht diese Begriffe noch synonym –, hat
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ihm den Vorwurf des Eurozentrismus1 eingetragen, ja des westlichen Rassismus. Der deutsche Soziologe scheint die Modernität für Europa pachten zu wollen, übersieht geflissentlich die Errungenschaften anderer Völker und Kontinente und unterschätzt das, was heute „multiple modernities“2 genannt wird. Diese Interpretation gehört heute zum guten Ton und hat sich als „mainstream“ global durchgesetzt. Doch verwechselt dieser populäre und politisch korrekte Vorwurf den Unterschied zwischen Genese und Geltung. Nur weil diese Entwicklung einst von Europa und dem Westen ausging, muss sie nicht auf ihn beschränkt bleiben – genau das moniert ja der meist in gleichem Atemzug erhobene Vorwurf einer okzidentalen Weltherrschaft, wonach die westliche Welt bis zum heutigen Tage den Rest der Welt auf Trab hält, also Takt, Tempo, Richtung und Zielsetzung der Entwicklung vorgibt. Gerade weil sie von universeller Bedeutung ist, scheinen diese evolutionären Errungenschaften der Moderne von einer unwiderstehlichen Attraktivität und einer vielfältigen Applikabilität gekennzeichnet zu sein. Beides – globale Dissemination und universelle Bedeutung der Modernität – scheint heute der Fall zu sein. Wer wollte also ernsthaft leugnen, dass es mittlerweile zahlreiche Wege in die Moderne gibt und der westliche in der Tat nur einer davon ist? Wer könnte abstreiten, dass das moderne Spiel im Kern zwar immer noch kapita1
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Die Rede von Eigenart und Einzigartigkeit scheint auf Anhieb die Vorstellung von Superiorität nahe zu legen, wonach die europäische Zivilisation dem Rest der Welt überlegen sein soll – eine Vorstellung, die im 19. Jahrhundert in Europa durchaus verbreitet war (vgl. Osterhammel 1998). „Ethnozentrismus ist die mutmaßlich in allen Gesellschaften anzutreffende Grundüberzeugung, dass die eigene Lebensform allen anderen überlegen ist. Der Eurozentrismus teilt diese Überzeugung, unterscheidet sich aber von anderen Ethnozentrismen dadurch, dass er zum einen die Überlegenheit der eigenen Lebensform begründet sieht in einer – instrumentalistisch verstandenen – wissenschaftlichen Vernunft und dass er zum anderen sowohl den Willen als auch die Machtmittel entwickelt hat, die ganze Welt nicht nur zu unterwerfen, sondern nach seinem Bilde zu formen“ (Hauck 2003: 14). Weder Eurozentrismus noch Ethnozentrismus im strengen Sinne kennzeichnen indes Webers Position. Allenfalls könnte man mit Schluchter (1988b: 283ff.) von einem „heuristischen Eurozentrismus“ im methodischen Sinne sprechen, als Weber sich nun einmal primär für die okzidentale Entwicklung interessiert und den Rest der Welt, Regionen wie Religionen, nur als Kontrastfolie benutzt, also gerade keine umfassenden Kulturanalysen anstrebt, um die Eigenart des Westens typologisch umso genauer zu erfassen. Seine eigene ambivalente Haltung gegenüber der okzidentalen Moderne lässt ihn auf jegliches Suprematiegehabe von vornherein verzichten. Vgl. dazu Eisenstadt (2002). Zur Frage der Einheit oder Vielfalt der Moderne siehe als geeigneten Überblick den Sammelband von Schwinn (2006).
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listisch, demokratisch und individualistisch angelegt zu sein scheint, wir heute indes zahlreiche autoritäre und kollektivistische Varianten und Konfigurationen erleben? Diese neuartigen Spielarten sind durchaus von Erfolg gekrönt und gehen mit bemerkenswertem Macht- und Reichtumszuwachs einher. Russland und China etwa wird man kaum ihre Anstrengungen hin zur „Modernität“ absprechen können, auch wenn ihr Entwicklungsgang westlichen Vorstellungen kaum entsprechen dürfte. Insofern gibt es nicht nur multiple Modernen, sondern das Konzept scheint sich so differenziert und verflüssigt zu haben, dass wir auch neotraditionale und neofeudale Spielarten zu Erscheinungsformen zeitgenössischer „Modernitäten“ oder „Modernitäter“ rechnen müssen. Je erfolgreicher diese „defekten“ Varianten sich gerieren, desto größer wird die Neigung okzidentaler Eliten ausfallen, unter dem Diktat von vermeintlichen Sicherheitsinteressen und imaginierten terroristischen Bedrohungsszenarien ihrerseits demokratische und freiheitliche Errungenschaften abzubauen. Auch wenn dieses Szenario die zeitgenössischen Trends und Tendenzen auf globaler Ebene widerzuspiegeln für sich in Anspruch zu nehmen vermeint, so scheint sich Europa seit geraumer Zeit und wieder einmal auf einem Sonderweg zu befinden. War es einst die Wiege der Moderne, so drängt sich heute die Frage auf, ob es die Hoffnung auf eine neue Form der Sozietalität erfüllen könnte: die europäische Gesellschaft. Es scheint, als ob diese neuartige Form sui generis gleichweit entfernt ist von dem Nationalstaat alter Prägung wie dem Horizont einer Weltgesellschaft. Zwischen nationale und globale Ebene schiebt sich ein regionales Sozialgebilde, das an der bewährten Tradition der Moderne anknüpft und sie in zeitgemäßer, wenn auch eigenartiger und einzigartiger Weise fortführt. Deutet sich damit also schon wieder das Skandalon eines Sonderwegs von globaler Ausstrahlung und universeller Bedeutung wie zu Zeiten Max Webers an? Bevor diese Frage abschließend beantwortet wird, sollen Konturen und Gestalt des Modells der europäischen Gesellschaft knapp in vier Schritten skizziert werden.
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Die europäische Gesellschaft und ihre analytische Konzeptualisierung
2.1 Europa und sein Begriffsproblem Wie der jahrhundertealte Diskurs über Europa demonstriert, ist Europa ein unbestimmter Begriff in Raum und Zeit, der nur in den Varianten seiner kulturellen Aufladung und der selbstreflexiven Diskurstradition an Konturen gewinnt. Europa „umschreibt keine feste historische Größe, weder geographisch noch religiös, noch sprachlich-kulturell, noch politisch. Geographisch gesehen gab es das Problem der Grenzziehung im Osten; religiös gesehen das der Grenzziehung gegenüber orthodoxem Christentum und Islam; sprachlich-kulturell das der Grenzziehung gegenüber den nichtromanischen und nichtgermanischen Sprachen; politisch zum Beispiel das der Grenzziehung gegenüber Russland und dem Osmanischen Reich“ (Schluchter 2005: 239). Aber diese Probleme der Eindeutigkeit haben niemals den Charakter von Europäizität zu verwischen vermocht, noch die evolutionäre Herausbildung seiner beiden prinzipiellen Wege verstellt: erstens die Koordination über eine einheitliche Reichsidee für ganz Europa wie unter Karl dem Großen. Dieses Projekt war zum Scheitern verurteilt, was aber keineswegs ausschloss, dass es in der Geschichte Europas nicht immer wieder versucht wurde: durch das Habsburger Reich, das französische Kaiserreich und durch das Dritte Reich. Erst im 20. Jahrhundert nach zwei Weltkriegen, Tod und Zerstörung Europas bis in seine Grundfesten scheint sich im Westen nach 1945, im Osten nach 1989 die Einsicht durchgesetzt zu haben, dass Imperiumsbildung nach dem Grundsatz oktroyierter Einigung und verordneter Einheit der Vielfalt Europas widerspricht; zweitens die Kooperation verschiedener Nationalstaaten auf der Basis einer gemeinsamen Kultur und einer paktierten Balance, die ein Gleichgewicht der Kräfte in Aussicht stellt. Mit der Europäischen Union scheint indes ein dritter Weg oder doch zumindest ein neuer Pfad beschritten worden zu sein. An die Seite des kulturellen Überbaus tritt ein rechtlich geprägter Überbau in Gestalt einer neuartigen politischen Gemeinschaft. Weder (Super-)Staat noch Staatenbund, weder ausschließlich supranational noch intergouvernemental agieren die politischen Institutionen der EU wie eine network-polity – ein Wesen sui generis. Das Ergebnis ist eine institutionelle Architektonik, die einem Mehrebenensystem gleicht: an oberster Stelle die europäische Ebene mit ihren Orga112
nen, als intermediäre Instanzen die Nationalstaaten, gefolgt von Ländern, Kommunen und Gemeinden als niedrigster Ebene. Ein geeigneter terminus technicus für diese europäischen Koordinations-, Kooperations- und Entscheidungsmechanismen ist bis heute nicht gefunden worden. Das kann auch weiter kaum verwundern, wenn die EU ein emergentes soziales und politisches Phänomen darstellt, welches immer noch in den Bahnen konventioneller Begriffsbildung bearbeitet wird (vgl. Schmitter 1996). Auf jeden Fall trägt die Europäische Union durch ihre Regulierungsund Harmonisierungsarbeit enorm dazu bei, dass auf dem alten Kontinent allmählich eine europäische Gesellschaft entstehen kann. Sie ist nicht deckungsgleich mit der Europäischen Union, aber sie ist ebenfalls eine Realität sui generis und eine dritte Form, die weder eine nationale Gesellschaft auf erweiterter Stufenleiter darstellt noch einfach die Vereinigten Staaten von Europa repräsentiert. Was ist sie dann und wie lässt sie sich charakterisieren? Europas Eigenart, so die einhellige Auffassung vieler Denker, die den Charakter des alten Kontinents zu fassen versucht haben, ist seine Vielfalt (Rehberg 2006; Frevert 2003; Joas 2005; Joas/Mandry 2005; Landfried 2004; Lützeler 1998). Dennoch handelt es sich nicht einfach um beliebige Varietät, sondern um eine „strukturierte Diversität“ (Crouch 1999; Müller 2007a), welche die Familienähnlichkeit eines europäischen Modells von Gesellschaft unterschwellig erkennen lässt. Einfach ist diese strukturierte Diversität nicht auf den Begriff zu bringen, denn sie ist heute mehr denn je reflexiv angelegt. Zu Europa gehört konstitutiv der Diskurs über Europa (vgl. Zingerle 2006), also die Konstruktion und Kritik, der Entwurf und die Infragestellung jener „imaginierten Gemeinschaft“ (Anderson 2003), die sich als Europa begreift. Wenn die Leitformel von der strukturierten Diversität Sinn machen soll, dann muss sie sich soziologisch als Ideen-, Struktur- und Institutionenprinzip bewähren. Die europäische Gesellschaft lässt sich als eine Konfiguration von kulturellen Traditionen und Werten, historischen Erfahrungen und spezifisch ausgestalteten Institutionen und ihrer Ordnung fassen. Diese Konfiguration macht die Eigenart und Einzigartigkeit des europäischen Projekts aus, seine Unverwechselbarkeit sowie die Erkennbarkeit der Familienähnlichkeit als zugehörig zum Typus societas Europaea.
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2.2 Die europäische Gesellschaft als Wertegemeinschaft Jüngst haben Geistes- und Sozialwissenschaftler (Joas/Wiegandt 2005) die kulturellen Traditionen und Werte Europas analysiert mit dem Ergebnis, dass sechs Werte, die zu verschiedenen Zeiten entstanden sind, das europäische Selbstverständnis formieren und inspirieren: „,Freiheit‘, ‚ertragene Differenz‘ und ein ‚praktischer Rationalismus der Weltbeherrschung‘ (…) – damit haben wir einige der basalen kulturellen Werte Europas benannt. ‚Innerlichkeit‘, ‚die Hochschätzung des gewöhnlichen Lebens‘ und ‚Selbstverwirklichung‘ sind drei weitere Werte (oder Wertkomplexe), die in bestimmten Phasen der europäischen Geschichte entstanden und heute zur kulturellen Selbstverständlichkeit geworden sind“ (Joas 2005: 30). Freiheit steht an der Wiege der griechisch-römischen Tradition und markiert historisch eine erste Differenz zwischen Europa und Asien. Die Auseinandersetzung zwischen „Zivilisation“ und „Barbarei“, welche paradoxerweise die ungleich grobschlächtigeren Griechen mit den wesentlich kultivierteren Persern führten, dreht sich um einen zentralen Gegensatz, den man auf die Formel „Kulturbildung aus Freiheit statt aus Herrschaft“ (Meier 2005: 97) bringen kann. Hier findet sich also der Keim von Freiheits- und Bürgerrechten, die erst aus der schmerzhaften Erfahrung mit Sklaverei und Knechtschaft in der Moderne zur Formulierung universaler Menschen- und Bürgerrechte führen sollten. Die „ertragene Differenz“, mehr als Tolerierung, aber weniger als Toleranz oder Anerkennung, ist ein Ergebnis der Auseinandersetzung mit religiöser Vielfalt im Mittelalter und ihrer praktischen Duldung. Rationalität oder Vernunftbegabung ist eine allgemein menschliche Eigenschaft. Aber der „praktische Rationalismus der Weltbeherrschung“, so Max Weber (1972b), ist ein Resultat des asketischen Puritanismus, der im Verein mit dem Kapitalismus, dem modernen Staat und der modernen Wissenschaft die Welt umgestalten sollte. Die Kehrseite von beziehungsweise das Gegenprogramm zu dem ausgreifenden äußeren Aktivitätskomplex ist die „Innerlichkeit“ als ein Wert, der von der platonischen Philosophie bis zu Augustinus’ „Bekenntnissen“ und darüber hinaus reicht, wie Charles Taylor (1996) in seiner Studie zu den „Quellen des Selbst“ gezeigt hat. Innerlichkeit schafft Distanz zwischen innerer und äußerer Welt, zwischen eigener Seele und Gesellschaft, und ist eine wichtige Voraussetzung für den Individualismus. Die „Hochschätzung des gewöhnlichen Lebens“ als Wertkomplex verortet Wolfgang Reinhard, der eine große Studie über die „Lebensformen 114
Europas“ (Reinhard 2004) vorgelegt hat, im Zeitraum zwischen dem 14. und 17. Jahrhundert und macht die Aufwertung von Arbeit, Geld und Liebe an der Emanzipation der Laien von der Kirche fest. Die Selbstverwirklichung, erstmals als Begriff von Hegel im 18. Jahrhundert verwendet, wird massenhaft wirksam erst in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts und hält sich von da ab als höchste Form des Individualismus. Dieses Ensemble von Wertkomplexen rekurriert einerseits auf Werte als kulturelle Ausdrucksformen des Wünschenswerten, andererseits ist es eingebettet in die historische Erfahrungswelt der europäischen Gesellschaft. Europa blickt auf eine lange Geschichte von zwischenstaatlichen Kriegen und imperialen Hegemonieversuchen zurück, die ihren Höhe- und (vorläufigen) Endpunkt im 20. Jahrhundert gefunden hat. Eine erste Konsequenz aus diesem historischen Erfahrungsbündel ist der Versuch, kritische Bewertungsmaßstäbe zur Be- und Verurteilung dieser Taten und Untaten aus dem Hort der eigenen Traditionen aus griechischer und römischer Antike, dem Christentum, der Renaissance, Reformation und Aufklärung zu entwickeln. „Aufgrund dieser verwirrenden coincidentia oppositorum“, so Claus Offe (2001: 420), „stellt die selbstkritische Bewertung der Untaten, welche die Europäer in der eigenen Geschichte begingen, wiederum eine europäische Besonderheit dar.“ So hat der Holocaust, eine deutsche Untat von universeller Bedeutung, längst Eingang ins europäische und westliche kulturelle Gedächtnis (vgl. Zingerle 2006) gefunden als Menetekel für Gewalt, Krieg und Rassismus. Die Kultivation der öffentlichen Erinnerung daran wird als bestes Remedium angesehen, um durch kollektive Ächtung solche Vorgänge in der Zukunft undenkbar und – noch mehr – unmöglich zu machen. Eine zweite Konsequenz nach der Perhorreszierung von Gewalt ist der Umgang mit Konflikten. Schon früh sah man sich in Europa gezwungen, angesichts der Spaltungen und Konflikte (vgl. Rokkan 2000; Flora 2000) Mittel und Wege der Mediation, Einhegung und Teilung von dilemmatischen Problemsituationen zu finden. Die Lösung besteht zum einen in kreativen Formen institutioneller Arrangements zur Konfliktbewältigung (vgl. Dahrendorf 1965; Lepsius 1990; Offe 2001), zum anderen in Formeln des Ausgleichs durch Kompromissbildung. „Versöhnen statt Spalten“ (Johannes Rau) lautet das europäische Motto. So hat die Institutionalisierung des Klassenkonflikts in Europa etwa zur allmählichen Integration und Teilhabe aller gesellschaftlichen Gruppierungen geführt, und diese organische Solidarität in Europa wird durch entwickelte Wohlfahrtsstaaten abgesichert. 115
Eine dritte Konsequenz besteht darin, dass die europäische Schicksalsgemeinschaft aus ihren geschichtlichen Hypotheken durch kollektive Lernprozesse so etwas wie „historisches Kapital“ gebildet hat. So hat die erschütternde Erfahrung von Gewaltexzessen Europa gelehrt, den Krieg als die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln abzulehnen. An seine Stelle tritt die Zivilisierung von Gewalt nach innen wie nach außen. Nach innen, denn in Europa ist die Todesstrafe abgeschafft und der private Waffenbesitz restriktiv reguliert. Nach außen, denn die Europäische Union ist nicht nur selbst ein multilaterales Gebilde, sondern Multilateralismus in Gestalt von Verhandlungen, Vereinbarungen und Kompromissen gehört zu dem bevorzugten institutionellen Instrumentarium ihrer Politik. Der Versuch, Frieden nach innen und außen zu regeln, hängt eng mit dem Umgang mit und den Einstellungen zu Religion und Kirche zusammen. Längst ist aus der ertragenen Differenz Toleranz und Anerkennung geworden, was der Säkularisierung Europas als historischer Grundlage und der Ökumene als bevorzugtem Medium des zwischenreligiösen Austauschs geschuldet ist. Der Frieden nach innen hilft zudem, die organisierte Solidarität in Gestalt einer öffentlichen sozialen Sicherung aufrechtzuerhalten, so dass idealiter kein Europäer sich plötzlich als Folge eines Schicksalsschlags nackt dem Hobbes’schen Naturzustand des „Kampfes aller gegen alle“ ausgesetzt sieht. 2.3 Das Prinzip der strukturierten Diversität Kulturelle Traditionen und Werte wie historische Erfahrungen haben nur dann die Aussicht, historisch-empirische Wirklichkeit zu werden, wenn sie in institutionellen Verhältnissen adäquat eingebettet und klug arrangiert sind. Die wichtigste institutionelle Erfindung Europas besteht sicher in der Kunst der produktiven Trennung. So verallgemeinert Jenö Szücs (1994: 26) die von Papst Gelasius I. (492-496) bereits im Frühmittelalter propagierte und dann von Thomas von Aquin im Herbst des Mittelalters kodifizierte Zwei-Gewalten-Lehre: „Diese Trennung der spirituellen und weltlichen, der ideologischen und politischen Sphären ist eine jener produktiven Separationen des Westens, ohne die weder die zukünftigen ‚Freiheiten‘ und die grundsätzliche Emanzipation der ‚Gesellschaft‘ noch die späteren Nationalstaaten, die Renaissance oder die Reformation vorstellbar sind.“ Dieses Prinzip der Institutionsbildung – die Kunst der produktiven Separation – lässt sich verallgemeinern: „Gott und Natur – auch hier liegt vom religiösen 116
Konzept her eine ‚produktive Trennung‘ vor. Die Beispiele ließen sich ergänzen z.B. um Sakralsprache und Nationalsprache, Kirchenrecht und profanes Recht oder Theologie und Philosophie bzw. insgesamt Religion und Wissenschaften“ (Mitterauer 2003: 294). Das lässt sich fortsetzen mit zwei weiteren, entscheidend wichtigen Trennungen, der Freiheit von Lohnarbeit und Kapital (Karl Marx) und der Trennung von Haushalt und Betrieb (Max Weber), ohne die der moderne Kapitalismus keine Entwicklungschance gehabt hätte und die erst die Differenzierung von Wirtschaft und Gesellschaft eingeleitet haben. Soziologisch gewendet und abstrakt formuliert ist die europäische Gesellschaft als ein Produkt institutioneller Differenzierungsprozesse zu verstehen. Wenn diese Prozesse die Logik und Dynamik der europäischen Gesellschaft definieren, dann muss sich die strukturierte Diversität über den Mechanismus kunstvoller Separation hinaus in einer vergleichbaren institutionellen Konfiguration wie auch in ähnlich gearteten Institutionen wiederfinden lassen. Freilich, strukturierte Diversität heißt gerade nicht monistische Einheit, sondern geordnete, aber begrenzte Vielfalt. Das Strukturprinzip lässt stets unterschiedliche Strukturformen zu, weil ansonsten die Rede von Diversität leer und die Wirklichkeit der Vielfalt bloße Behauptung bliebe. Aber deren Familienähnlichkeit als europäisch muss stets noch erkennbar bleiben, wenn strukturierte Diversität nicht einfach eine neue europäische Ideologie werden soll. Tatsächlich findet sich in Europa überall eine vergleichbare institutionelle Konfiguration, die durch Differenzierungs- und Rationalisierungsprozesse in den vergangenen Jahrhunderten entstanden ist. Die Trennung von Wirtschaft und Gesellschaft hat zur Etablierung kapitalistischer Marktwirtschaften beigetragen; die Trennung von Religion und Politik hat zu säkularen Demokratien geführt; die Trennung von Religion und Wissenschaft hat bewirkt, dass Wissenschaft und Technik zur ersten Produktivkraft im Zeitalter der Wissensgesellschaft geworden sind. In ganz Europa gewährleisten die „Herrschaft des Gesetzes“ (Berman 1991) und der Rechtsstaat die Kalkulierbarkeit aller möglichen Formen des Handelns. In der säkularisierten europäischen Gesellschaft darf Religion als Privatsache behandelt werden, also als eine Frage der freien Wahl und des freiwilligen Engagements ohne staatliche oder kirchliche Bevormundung. Diese Einrichtungen gelten mittlerweile als so selbstverständlich, dass sie als natürlich angesehen werden. In Europa bedeutet es buchstäblich, Eulen nach Athen zu tragen, wenn man 117
an diese institutionellen Errungenschaften erinnert. Und dennoch gelten sie in Westeuropa uneingeschränkt erst seit 1945 und in Osteuropa erst seit 1989. Die institutionelle Infrastruktur in ihrer modernen Konfiguration ist trotz ihrer historischen Ursprünge und Vorläufer recht junger Natur. Hartmut Kaelble (1987, 1997, 2005) ist noch einen Schritt weiter gegangen und hat nicht nur die Vergleichbarkeit der institutionellen Konfiguration Europas behauptet, sondern die Ähnlichkeit der Institutionen selbst herausgearbeitet. Er nennt sechs solcher institutionellen Komplexe als Basis der europäischen Gesellschaft: Erstens existiert so etwas wie eine europäische Familienform, wie die historische Familienforschung gezeigt hat (Laslett 1988; Mitterauer/Sieder 1977; Rosenbaum 1982). Ein höheres Heiratsalter, eigene Haushaltsgründung, folglich ein geringerer Grad von DreiGenerationen-Familien, die geringere Geburtenrate im Vergleich zu anderen Teilen der Welt sowie ein höherer Grad von Privatheit und Intimität sind einige Kennzeichen dieses europäischen Familienmusters. Zweitens, und das hat schon Max Weber (1972a) demonstriert, gibt es einen europäischen Typus von Stadt. Die europäische Stadt ist nicht nur der Hort von Bürgerund Freiheitsrechten, sondern ist Industrie-, Gewerbe- und Handelsort und erst in zweiter Linie Herrschafts- und Verwaltungszentrum. Zudem überwiegen mittelgroße Städte und es gibt weniger Großstädte als in anderen Teilen der Welt. Ferner gibt es eine kontinuierliche Stadtplanung, die für die Aufteilung von öffentlichem und privatem Raum sorgt, aber auch für städtische Sozialpolitik. Drittens, der Wohlfahrtsstaat und die „europäische Pfadabhängigkeit der öffentlichen sozialen Sicherung“ (Kaelble/Schmidt 2004: 12) erlauben die Rede von einem „europäischen Sozialmodell“ mit vielen Gemeinsamkeiten, aber in durchaus unterschiedlichen Typen, Formen und Leistungsprofilen (vgl. Esping-Andersen 1990, 1999; Scharpf/Schmidt 2000; Alber/Kohl 2001; Leibfried/Pierson 1998; Schmid 2002). Dennoch überwiegt programmatisch und performatorisch in allen europäischen Ländern das Ziel von sozialer Sicherheit und sozialer Gerechtigkeit, die vor allem die sozialen Ungleichheiten in Europa (vgl. Mau 2006) in einer egalitaristisch vertretbaren Bandbreite halten sollen. Elementare Versorgung und keine zu großen Unterschiede zwischen Armut und Reichtum, ja die Beseitigung von Armut machen die Eigenart des europäischen Sozialmodells aus. Dabei spielt aus verständlichen Gründen Osteuropa eine andere Rolle, weil hier bis 1989 andere Formen der Versorgung vorherrschten und danach sich die meisten EU-Beitrittskandidaten einen teuren Sozialstaat westeuropäischen 118
Zuschnitts kaum leisten konnten. Viertens, und in engem Zusammenhang mit Familie und Wohlfahrtsstaat, steht der Komplex von Arbeit, Beruf und Industrie. Eine hohe Wertschätzung von Beruf und Erwerbsarbeit, die vor allem im industriellen Sektor ausgeübt wurde und wird, wird begleitet von einer strikten Trennung von Arbeit und Freizeit, einer Verkürzung der Arbeitszeit und großzügigen Urlaubs- und Feiertagsregelungen. Westeuropäer arbeiten weniger, verdienen mehr und haben mehr Freizeit als etwa Amerikaner oder Japaner. Fünftens sind die soziale Schichtung und die sozialen Milieus in Europa durchaus vergleichbar – ein Erbe der feudal-ständischen Gesellschaft wie der entstandenen Industriegesellschaft: Das tonangebende Besitz- und Bildungsbürgertum, das Kleinbürgertum, die Arbeiter- und Bauernschaft sowie der Adel formen distinkte Sozialmilieus, die sich aber mit der Wohlstandswelle von den 1950er bis in die 1970er Jahre stark abgeschwächt haben. Das hat, sechstens, vor allem mit der Herausbildung des europäischen Massenkonsums und der Vereinheitlichung von prosperitätsinduzierten Lebensstilen zu tun. Breiter Wohlstand, breite Partizipation an Massenkonsum und Reisen haben die Klassenunterschiede verblassen lassen, wenn auch soziale Milieus in der europäischen Erlebnisgesellschaft durchaus noch erkennbar bleiben (Schulze 1992; Vester et al. 2001; Hradil 1987; Müller 1993). 2.4 Die europäische Gesellschaft als Erfahrungsraum und Erwartungshorizont Es sind aber nicht nur die europäischen Traditionen und Werte, die historischen Erfahrungen, die institutionelle Konfiguration und die einzelnen Institutionen, welche die Rede von einer europäischen Gesellschaft rechtfertigen. Vielmehr sind es vielfältige Prozesse, die vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg zur Abmilderung der innereuropäischen Unterschiede, zur wachsenden Harmonisierung und Konvergenz und zur stärkeren innereuropäischen Verflechtung geführt haben (vgl. Kaelble 2005). Diese Kommunikations-, Interaktions-, Transaktions- und Austauschprozesse führen zur Erhöhung und Verdichtung des gesellschaftlichen Verkehrs in Europa. Luhmanns (1997) Definition von Weltgesellschaft als „kommunikativer Erreichbarkeit“ trifft also vor allem und in besonderem Maße auf die europäische Gesellschaft zu. Es gibt eine Reihe von Faktoren und Ursachen für diese Entwicklung: ein halbes Jahrhundert von Frieden und Demokratie, der gestiegene 119
Wohlstand und zunehmende Lebenschancen, seit den 1980er Jahren die Globalisierung, aber auch Europäisierung, die Informations- und Kommunikationsrevolution und die Politik der Angleichung und Harmonisierung der EU etwa in Gestalt der vier Grundfreiheiten. All das macht Europa zu einem immer vertrauter werdenden Erfahrungsraum und stets relevanter werdenden Erwartungshorizont für Europäer wie Nicht-Europäer. „Europe matters“ – und zwar in allen Lebensbereichen, ob man das mag oder nicht, und das steigert die Europäizität der Alltagserfahrung. In Europa ist Europäisierung eine ebenso mächtige Kraft wie die Globalisierung (vgl. Fligstein/Merand 2002). Da ist der Bologna-Prozess (vgl. Wolter 2006; Hettlage/Müller 2006), welcher die Bildungs- und Ausbildungswege europäisiert. Schon davor sorgten die Erasmus- und Sokrates-Programme für Mobilität von Studenten und Dozenten in Europa. Gleichzeitig ist Europa schon heute neben den USA der größte Ausbilder für die Eliten aus aller Welt. Da ist die Europäisierung der Arbeitsmärkte, die berufliche Migration und Beschäftigung von jungen Arbeitskräften in verschiedenen Ländern. Da ist der Lissabon-Prozess als der Versuch, Europa zur produktivsten Wirtschaftsregion und zum innovativsten Wissensraum der Welt zu machen. Da ist die enorme Reisetätigkeit, sei es aus professionellen Interessen, sei es aus touristischer Neugier. Europa ist zugleich „der größte Tourismusmagnet der Welt. Im Jahr 1998 kamen rund 500 Millionen Touristen nach Europa, in die USA dagegen rund 15 Millionen, nach China rund 7 Millionen, nach Indien nur rund 2 Millionen“ (Kaelble 2005: 325). Wenn es indes um Paradigmen und Modelle für die Welt von morgen geht, fällt als Folge der Medien- und Sprachhegemonie das helle Licht zunächst auf die anglo-amerikanische Welt, ihrerseits Weltmeister in der euphemisierenden Selbstdarstellung und -vermarktung. Der alteuropäische Kontinent zieht im grellen Scheinwerferlicht dabei stets den Kürzeren: alt, starr, verkrustet und inflexibel. Genüsslich werden die Probleme des alten Kontinents aufgezählt, wie die demografische Schrumpfung, die ökonomische Wachstumsschwäche, die hohe Arbeitslosigkeit, die Zweitklassigkeit der Bildungseinrichtungen, die niedrigen Ausgaben für Bildung und Forschung. Das ewig gleiche Resultat dieses Diskurses ist seit Jahrzehnten Stagnation und Eurosklerose (Lacqueur 2005). Doch Totgesagte leben bekanntlich länger und immer dann, wenn Europa in einer seiner periodischen Krisen landet, springt überraschenderweise der Motor der europäischen Dynamik (Vobruba 2005) wieder an. 120
Abbildung:
Die europäische Gesellschaft
Dimensionen Ebene
Begriffe der Gesellschaft
Regulierungsmodus
Weltgesellschaft globale oder internationale Governance
Globalisierung
global
historische Kontinuität
europäische Gesellschaft
institutionelle Konvergenz
-Traditionen -Werte -Erfahrungen
strukturierte Diversität
-Politik -Ökonomie -Recht EU
europäisch Gemeinsamkeiten
„Gemeinschaft“?
Vereinheitlichung
Europäisierung
national
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Nationalgesellschaft bzw. Nationalstaat
nationale Regierungen
Die europäische Gesellschaft und die zeitgenössische Moderne
Zusammengefasst scheint die europäische Gesellschaft nicht nur eine soziologische Schimäre oder eine normative Vision zu sein – obwohl sie Letzteres durchaus auch ist. Vielmehr verkörpert sie nicht nur eine historische Erfahrungs- und Schicksalsgemeinschaft, sondern auch eine Wirtschafts-, Arbeits-, Bildungs-, Solidaritäts-, Rechts-, Religions- und Kulturgemeinschaft. Zusammengehalten und vorangetrieben wird sie durch eine politische Gemeinschaft, die Europäische Union, die, ohne selbst Staat zu sein, mehr und mehr hoheitliche Aufgaben in enger Kooperation mit den europäischen Nationalstaaten und Regionen vollbringt. Wie weit dieser Prozess schon gediehen ist, zeigt ein Blick auf den eindrucksvollen Stand der „Aufgabeneuropäisierung“ (Schmidt 2005). „In zahlreichen Bereichen – Binnenmarkt, Landwirtschaft, Beschäftigung, Migration, Justizwesen, Verkehr, 121
Währung, Sozialpolitik, Industrieentwicklung, Regionalförderung, Umwelt, Energie, Forschung und Bildung (…) – beanspruchen mittlerweile Leitprinzipien, Normen sowie Rationalitätskriterien Geltung, die in transnationalen Arenen paktiert oder durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes eingeführt wurden. (…) ‚Europäische‘ Leit- und Rationalitätskriterien durchdringen die Mitgliedstaaten und befestigen so die Definitionsund Regelungshoheit der europäischen Organe“ (Bach 2008: 8f.). Zugleich hat die europäische Gesellschaft eine chamäleonartige Gestalt: halb latente, halb manifeste Tendenz, halb unsichtbar, halb sichtbar, halb empirisch erfahr- und analytisch erfassbar, halb normativ erwünscht oder vehement abgelehnt. Die europäische Gesellschaft bietet weniger an Ordnung, Kohäsion, Integration und Solidarität (und damit „Heimat“) als die alte Nationalgesellschaft, aber deutlich mehr als der kommunikative Fluchtpunkt der Weltgesellschaft. Trotz ihrer Symbolik und ihres kollektiven Gedächtnisses vergesellschaftet sie durch Regeln und Regulationen, orientiert an sachlichen Rationalitätsstandards und pragmatischen Kompromissen, denn dass sie durch eine gemeinsame wertrationale Moral vergemeinschaftet und affektiv bindet. Sie riecht eher nach Schweiß denn nach Blut, ist eine Sache der Vernunft, nicht der Leidenschaft, und lädt zu kognitiver, nicht emotionaler Identifikation ein. Auch darum ist sie eher ein Projekt der Eliten in Europa, während sie die Massen buchstäblich kalt lässt. Für „Nationalisten“ beziehungsweise am Modell des demokratischen Nationalstaats orientierte Vertreter ist die Europäische Union ein neues „stahlhartes Gehäuse der Hörigkeit“ (Weber 1972b), eine Art von „Eurokratie“ mit Brüssel als Kommandozentrale, und die europäische Gesellschaft gilt ihnen als eine gefährliche Illusion. Es ist von „Europa-Chauvinismus“ und dem „Hochmut der Institutionen“ (Vaubel 2001) die Rede, von der europäischen Integration als einem Eliteprozess (Haller 2008) beziehungsweise einer technokratischen Bürokratie statt von demokratischer Integration. Es wird vor allem vor den fünf Mythen des europäischen Integrationsprozesses gewarnt, welche Europa als normatives Modell weiterer gesellschaftlicher Entwicklung so attraktiv machen: die Demokratisierbarkeit, die Staatlichkeit, die europäische Nationswerdung, die europäische Verfassung sowie die europäische Identität (Bach 2008). Für „Integrationisten“ und Europa-Befürworter gleicht die Europäische Union eher einem „schöpferischen Gehäuse der Hörigkeit“ (Simmel 1987), das mit seinem ewigen Gestalt-, Größen- und Aufgabenwandel dem 122
lebensphilosophischen Prinzip des „Stirb und Werde“ zu folgen scheint. Die europäische Gesellschaft wird als natürliche Realität akzeptiert, und was Grad, Ausdehnung und Durchsetzung angeht, wird nach „mehr Europa“ verlangt. Nicht selten wird Europa als letzte Utopie, als erstrebenswertes Ideal und als normative Vision angesehen, die Zukunftsfähigkeit für die Menschen dieses Kontinents verheißt. Europa als Vorbild heißt dann das Streben nach Frieden, Freiheit, Wohlstand, Demokratie und Menschenrechten nicht als genuin europäisches Privileg, sondern als kosmopolitisches Programm. Kurz: das kosmopolitische Europa (Beck/Grande 2004; Rumford 2007). Soziologisch gilt dennoch: „L’Europe est un objet non identifié.“ Was Jacques Delors für das politische Europa feststellte, kann auch für die europäische Gesellschaft gelten: „L’Europe forme une société non identifiée.“ Vielleicht ist die europäische Gesellschaft noch nicht identifiziert – soziologisch gewendet noch nicht theoretisiert, systematisiert und analysiert, obgleich die theoretischen Anstrengungen in jüngerer Zeit beachtlich ausfallen (vgl. Bach 2008; Delanty 2006; Delanty/Rumford 2005; Giddens 2007; Habermas 2008; Müller 2007a; Münch 2008; Outhwaite 2008). Das bedeutet indes keineswegs, dass es sie nicht als Realität sui generis gibt. Die wichtigsten Stichworte zur Charakterisierung der europäischen Gesellschaft lauten systematisch: strukturierte Diversität als Leitmotiv, die Dialektik von Einheit und Differenz als Motor, die kulturellen Traditionen und Werte Europas ebenso wie seine historischen Erfahrungen im 20. Jahrhundert, die Kunst der Separation und die Logik institutioneller Differenzierung, die institutionelle Konfiguration und die Institutionen selbst als ihr Ergebnis. Die evolutionäre Dynamik Europas folgt keinem groß angelegten und von langer Hand geplanten ideellen Entwurf. Seine Verfasstheit ist vielmehr Folge kollektiver Lernprozesse. Vielleicht ist ja das Geheimnis Europas, dass die europäische Gesellschaft selbst ein Nebenprodukt des fortschreitenden Integrationsprozesses ist: von keinem geplant, von einigen gewünscht, von anderen umso vehementer abgelehnt. Was daran ist modern, was ist europäisch? Europa und die europäische Gesellschaft ähneln von Beginn an und im Prinzip der Moderne als Programm und als Projekt (Habermas 1985). Es gilt zwar das Prinzip der Historizität als Leitidee gesellschaftlicher Entwicklung und gerichteten sozialen Wandels, wie auch die Moderne ihre Leitideen (Werte wie Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit) und Kerninstitutionen (wie Kapitalismus, Demo123
kratie, Wissenschaft und Technologie, Individualismus und Menschenrechte) weiter elaborieren und bei Fehlentwicklungen revidieren können muss. Aber über dieses selbstreflexive Monitoring der eigenen Entwicklung am Maßstab der Historizität hinaus gibt es weder Telos noch Stillstand, sondern das ewige Werden und die kontinuierliche Amelioration in kleinen Schritten. Fortschritt ist eine Schnecke, das gilt hier wie dort. Mit der globalen Ausbreitung der Moderne und der Entstehung multipler Modernen hat jedoch die Varietät dessen, was als „Modernität“ gelten darf, enorm zugenommen. Wie wir eingangs gesehen haben, wird ökonomische und technologische Modernisierung mittlerweile ohne das ursprünglich europäische Handgepäck, also Demokratie und Individualismus, vorangetrieben, was aus europäischer Sicht zu „defekten Modernen“ führt – ohne demokratische Mitbestimmung und ohne individuelle Freiheitsrechte im Rahmen eines verlässlichen Rechtsstaats. Dennoch dürfen Russland und China etwa als „multipel modern“ gelten, folgt man der großzügigen Devise des von Eisenstadt (2002) angestoßenen Diskurses. Jedem Land und jedem Kontinent seine Moderne als global geltendes, demokratisches Diskursrecht zuzugestehen, weicht nicht nur die Konturen des Begriffs auf, was einmal als „modern“ (Berger 2006) und „Modernisierung“ (Zapf 2006) angesehen wurde; es hat auch für den Diskurs über Europa unintendierte und perverse Effekte. Hier, wo einst die Wiege der Moderne stand, was auch mit Abstrichen vom postkolonialen Diskurs nicht völlig geleugnet wird, scheint es heute nur noch „Modernität“, aber keine „Europäizität“ mehr zu geben. Wie ist das möglich? Zwar dürfen alle Regionen und Länder, sofern sie sich auf den Modernisierungspfad begeben, ihre eigene Moderne für sich reklamieren, nur Europa scheint mit der „Moderne-Moderne“ ohne europäische Eigenart zurechtkommen zu müssen. So behauptet John Meyer (2005: 164): „Europa beruht zwar auf einer kulturellen institutionellen Grundlage, aber nicht auf einer primordialen und expressiven. Vielmehr besteht die institutionelle Grundlage Europas aus einem Bündel rationalistischer kultureller Modelle.“ Mit anderen Worten: Die Verfasstheit Europas ist modern, aber nicht genuin „europäisch“. Ähnliches konstatiert Maurizio Bach (2008: 15) in seiner Diskussion der Frage, „ob die Europäische Verfassung einen spezifischen europäischen Eigenwert darstellen würde, auf dem eine europäische Identifikation aufbauen könnte. Ihre politischen Leitideen und Wertbindungen – Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Marktwirtschaft – sind weitgehend Derivate der Mitgliedstaaten oder globaler Modelle mit universalistischem An124
spruch. Die Europäische Union repräsentiert in ihrem Wertekanon insofern eher ein universales ‚Weltmodell‘ als ein spezifisch europäisches Wertemuster.“ Gleichgültig ob aus Weltsystemperspektive oder aus einem institutionalistischen Ansatz heraus fällt es offenkundig schwer, angesichts von Globalisierung und Universalisierung noch so etwas wie „europäische Positivität“ primordialer oder expressiver Natur aufzufinden. Wie bizarr diese Argumentation operiert, lässt sich im Rückblick auf klassische europäische Bestände ermessen: Die griechische Philosophie hatte nicht nur zum Ziel, die griechischen Stadtstaaten vorbildlich und verbindlich zu regieren, sondern sollte Modelle guter sozialer Ordnung mit universalem Anspruch für alle Gesellschaften bereitstellen – sonst hätten diese Entwürfe wohl kaum den Test der Philosophie bestanden. Das römische Recht wurde vor allem mit Blick auf die Regelung der Belange des römischen Imperiums entwickelt. Was sich für die erfolgreiche Regierung eines Weltreichs bewähren würde, konnte nach Ansicht der Römer ruhig von anderen Völkern und Regierungen übernommen werden î und das bis auf den heutigen Tag. Das Christentum als monotheistische Weltreligion galt zwar vor allem für die eigenen Gläubigen, aber ebenso wie im Judentum und im Islam verbergen sich in diesen Lehren verallgemeinerungsfähige Modelle zur Verhältnisbestimmung von Gott und Mensch, Religion und Gesellschaft. Kurz und nochmals wiederholt: Genese und Geltung gilt es wie globale Ausbreitung und universelle Bedeutung stets zu trennen. Nur weil bestimmte Errungenschaften zufällig auf europäischem Boden entstanden und von da aus ihren Siegeszug durch die Welt angetreten haben, verlieren sie deshalb noch lange nicht ihre europäische Imprägnierung. Zwar gilt: Was europäisch war, kann modern werden. Der Umkehrschluss – nach dem Motto: wenn etwas modern geworden ist, ist es nicht mehr europäisch, sondern eben modern – ist indes irreführend. Dagegen gilt es festzuhalten: Es kann etwas modern sein und doch europäisch bleiben. Die europäische Gesellschaft ist sicherlich modern, aber nicht nur î in ihrer Eigenart und Einzigartigkeit darf sie eben als spezifisch europäisch gelten. Es kommt ja nicht nur auf Werte und Traditionen, Regeln und Institutionen an sich an, sondern stets auf ihre Kombination und die daraus resultierende institutionelle Konfiguration und Konstellation je nach Situation und Kontext. Das macht Webers Redeweise von einem „historischen Individuum“ mit Nachdruck deutlich. Die europäische Gesellschaft nach dem hier entwickelten Verständnis ist nicht nur europäisch, weil sie in und 125
für Europa gilt – das auch. Sondern sie ist europäisch, weil sie ein neuartiges und in diesem Sinne eigenartiges und einzigartiges Verständnis von „Sozietalität“ nahe legt, was in dieser Form nirgendwo sonst auf der Welt bislang realisiert worden ist. Die europäische Gesellschaft, so meine abschließende These, ist daher die jüngste Stufe der europäischen Moderne. Sicher î die einstmalige Trias gilt nicht mehr: Europa, der Westen und die Moderne. Was eins war, hat sich in Raum und Zeit ausdifferenziert und multiple Modernen ermöglicht. Aber die europäische Gesellschaft, die sich auf europäischem Boden in den letzten 50 Jahren herausgebildet hat, ist modern und europäisch. Die Besonderheit dieses „historischen Individuums“ markiert Differenz, Andersund Neuartigkeit, aber stellt keinen Anspruch auf Superiorität oder Suprematie. Es darf als zweifelhaft gelten, dass andere Weltregionen und -kulturen dem europäischen Modell folgen werden – dazu sind die historischen Voraussetzungen und Erfahrungen zu unterschiedlich. Aber als ebenso offen und kontingent darf gelten, ob diese Entwicklung gut oder schlecht ist, Fort- oder Rückschritt verheißt. Das wird erst die Zukunft zeigen. Literatur Alber, Jens und Jürgen Kohl, 2001: Arbeitsmarkt und Sozialstaat. Wiesbaden: Chmielorz. Anderson, Benedict, 2003: Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London: Verso. Bach, Maurizio, 2008: Europa ohne Gesellschaft. Politische Soziologie der Europäischen Integration. Wiesbaden: VS. Beck, Ulrich und Edgar Grande, 2004: Das kosmopolitische Europa. Gesellschaft und Politik in der zweiten Moderne. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Berger, Johannes, 2006: Die Einheit der Moderne. S. 201-226 in: Schwinn 2006. Berman, Harold, 1991: Recht und Revolution. Die Bildung der westlichen Rechtstradition. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Crouch, Colin, 1999: Social Change in Western Europe. Oxford: Oxford University Press. Dahrendorf, Ralf, 1965: Gesellschaft und Demokratie in Deutschland. München: Piper. Delanty, Gerard (Hg.), 2006: Europe and Asia beyond East and West. London: Routledge. Delanty, Gerard und Chris Rumford, 2005: Rethinking Europe: Social Theory and the Implications of Europeanization. London: Routledge. Eisenstadt, Shmuel N. (Hg.), 2002: Multiple Modernities. New Brunswick/London: Transaction Publishers. Esping-Andersen, Gøsta, 1990: The Three Worlds of Welfare Capitalism. Cambridge: Polity Press.
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II Die territoriale Zuschreibung von Gesellschaft
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Räume und Grenzen in Europa. Der Mehrwert soziologischer Grenz- und Raumforschung für die Europasoziologie Monika Eigmüller
Fest steht: Im Zuge von Globalisierung und Europäisierung haben sich die Raumbezüge von Politik und Gesellschaft verändert. Aber wie genau gestaltet sich das Verhältnis von Raum und Gesellschaft heute? Was ist neu und was ist anders? Zunächst einmal scheint es die Definition des Raumbezugs zu sein, die an Selbstverständlichkeit verliert: Im postnationalen Raum eines politisch vereinigten Europa wird die Eindeutigkeit nationaler Bezugssysteme durch die Mehrdeutigkeit unterschiedlicher Mitgliedschaftsräume und nach wie vor verhandelbarer Territorialräume abgelöst (Bös 2000, 2006). Die „Raumbindung kollektiver Identitäten“ (Bach 2009), die durch die Erfindung der Nation erst Gestalt annehmen konnte, gerät so nun ins Wanken. Die wesentliche Frage ist: Werden diese Raumbindungen, die Zusammenkunft von Territorialem, Politischem und Sozialem, nun in der Ära des Post-Nationalen ersatzlos gestrichen? Oder aber doch transformiert? Und wenn ja, wie und wohin? Und schließlich: Welcher Beitrag kommt bei der Bearbeitung dieser Fragen soziologischer Raum- und Grenzforschung zu? Maurizio Bach nähert sich dem Thema ausgehend von einem Blick auf die Staatsgrenzen. Grenzen unterliegen in diesem Prozess selbst einer entscheidenden Transformation: Erwiesen sie sich in Zeiten des Nationalstaats sowohl als Konflikt- wie auch als Kontaktzonen, die nicht nur eine territoriale Marke darstellten, sondern zugleich Sprach-, Kultur- und damit auch Identitätsgrenzen bildeten, sind genau diese Funktionen der EU-Außengrenze (bislang) fremd. Wesentliche Funktion nationalstaatlicher Grenzen und Voraussetzung für den Erhalt des gesamten Systems war die Differenzierung zwischen Inklusion und Exklusion. Die exkludierende Funktion ist im Zuge der Abschaffung der europäischen Binnengrenzen im Rahmen des Schengener Ab133
kommens inzwischen komplett an die EU-Außengrenze übertragen worden. Die zugleich stattfindende „Erosion nationalstaatlicher Inklusion“ (Halfmann 2002: 271) lässt hingegen nach wie vor eine Lücke aufscheinen, zeigt sich doch bislang noch kein neuer (territorialer) Rahmen, in dem diese organisierbar wäre: Denn „aufgrund des expansiven und kontingenten Charakters, der äußerst vagen geographisch-kulturellen Identität sowie der weder territorial noch kulturell begrenzbaren, sondern globalen Wertebasis der EU eignen sich ihre Außengrenzen nicht zu einer territorialen Fixierung und Raumbindung des transnationalen Integrationsprojekts“ (Bach in diesem Band: 175) Vielmehr beschreiben die neuen europäischen Außengrenzen bislang nicht mehr – aber auch nicht weniger – als den Geltungsraum europäischen Rechts und werden somit, im Gegensatz zu nationalstaatlichen Grenzen, zu einem Verhandlungsgegenstand – zumindest solange die Frage der finalité Europas eine ungeklärte bleibt. Und tatsächlich scheint genau dies – zumindest aus einer grenzsoziologischen Perspektive –, die entscheidende Frage zu sein. Denn so unterschiedlich sich die verschiedenen nationalstaatlichen Grenzen im Laufe der Geschichte auch materialisiert haben, so unterschiedlich sie in ihrem Bestand geschützt und verteidigt wurden: Alle diese Grenzen zeichnen sich durch einen durchgehenden, linearen Grenzverlauf aus, eine Grenzlinie, die das ganze Territorium umschloss und auf das Engste mit staatlicher Souveränität und Machtausübung verbunden war. Genau diese Verbindung der Grenze mit dem sie umschließenden staatlichen Machtbereich lässt allerdings die präzise Festlegung des Grenzverlaufs in Form einer Demarkationslinie zur Notwendigkeit werden (Horn et al. 2002: 12). Betrachten wir den historischen Prozess der Herausbildung der modernen Nationalstaaten, dann zeigt sich die Bedeutung von Grenzbildung und Grenzverlauf für die je spezifische Gestaltung der Gesellschaft sehr deutlich, gingen doch mit jeder Grenzetablierung zum einen Abgrenzungsprozesse nach außen und zum anderen Integrationsprozesse im Innern einher. Und wenngleich die Grenzziehung selbst stets Ergebnis politischer Absichten war, war die tatsächliche Etablierung der Grenze zumeist erst das Ergebnis eines längeren diskursiven Prozesses, an dessen Beginn nicht selten das Konzept der so genannten „natürlichen Grenzen“ bemüht wurde, angereichert mit weiteren einheitsschaffenden Symbolen, wie etwa einer gemeinsamen Sprache, gemeinsamen Geschichte und Kultur, um so schließlich das
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Konzept des einheitlichen Staates im Innern zu untermauern.1 Letztlich konnte sich so die Idee einer quasi natürlichen Einheit zwischen Nation, Staat und Territorium herausbilden. Und auch diese Idee der Einheit von Territorium, Volk und Nation in bestimmten gegebenen Grenzen war eine durchaus machtvolle, die je nach politischem Bedarf interpretiert und definiert wurde: Denn ebenso wie hierdurch das Konzept des Einheitsstaats durchgesetzt werden konnte, wurden auch, je nach politischem Bedarf, Expansionspläne, also die Ausweitung des territorialen Geltungsraums hierüber gerechtfertigt. Auch die Grenzen der Nationalstaaten sind also weder gegeben noch unveränderbar, sondern ebenso nur das Ergebnis politischer Interessen und Verhandlungen um die territoriale Verfestigung homogener Kontrollräume (Horn et al. 2002: 16; Eigmüller 2008). Dabei entstehen sie allerdings nicht alleine in Verhandlungen zwischen zentralstaatlichen Akteuren, sondern insbesondere auch in den Auseinandersetzungen zwischen lokalen Akteuren in den betreffenden Grenzregionen (vgl. Sahlins 1989; Saurer 1989). Nicht nur, wie etwa von Simmel (1903) angenommen, sind Grenzen zunächst soziologische Tatsachen, die sich schließlich räumlich formen, sondern auch umgekehrt können wir in der Geschichte der nationalstaatlichen Grenzentstehung vielfach Prozesse beobachten, in denen erst in der Auseinandersetzung der lokalen Bevölkerungen mit der Grenze eine überhaupt gesellschaftlich relevante Grenze entstehen konnte – indem etwa lokale Konflikte in nationale transformiert und an die Zentralstaatlichkeit im Zentrum adressiert wurden.2 Auch die der Grenze zugeschriebenen Funktionen der Exklusion und der Inklusion verändern sich stets mit der Grenze und ihrem Verlauf; so können wir in der Geschichte der nationalstaatlichen Grenzziehungen etwa 1
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Wenngleich diese so genannten „natürlichen Grenzen“, also Berge, Flüsse, Seen, zunächst keine unüberwindlichen Hindernisse darstellten, kam es doch im Zuge der Umdefinition in Grenzen, die dann befestigt wurden, zur Wahrnehmung dieser Grenzen als unüberwindlich. Diesen Prozess zeichnet Peter Sahlins eindrucksvoll in seiner Studie zur Entstehung der Grenze zwischen Frankreich und Spanien in den Pyrenäen nach, wo eine zunächst recht willkürlich gezogene und zudem vollkommen bedeutungslose Grenze, die durch ein sprachlich, religiös und kulturell homogenes Gebiet verlief, in einem mehrere Jahrhunderte dauernden Prozess der Auseinandersetzungen zwischen lokalen Akteuren schließlich in die Grenze zwischen zwei Nationalstaaten transformiert wurde und aus Katalanen schließlich Spanier und Franzosen machte (vgl. Sahlins 1989, 1998).
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beobachten, wie durch die „Schaffung und Abschaffung staatlicher Grenzen Mitgliedschaften politisch (gewaltsam oder friedlich) verändert“ wurden (Bös/Zimmer 2006: 161). Gleiches gilt auch heute für die Europäische Union: Auch hier wird durch eine Veränderung der Grenzverläufe (beziehungsweise einer Veränderung des Geltungsraums von Recht und Souveränitäten) das bislang existierende Ordnungsmodell irritiert. Die Frage ist nun, ob auch in diesem Fall aus dem zunächst neuen, heterogenen politischen und sozialen Raum „durch Institutionalisierung schließlich ein immer homogenerer sozialer, politischer und rechtlicher Raum geschaffen“ werden kann (ebd.). Wie oben bereits beschrieben reicht es allerdings nicht aus, allein die zentralen Prozesse der Institutionalisierung und die Versuche politischer Steuerung zu analysieren; vielmehr ist es notwendig, den Blick auch in die Peripherie und in die Grenzräume selbst zu lenken, denn auch für die EU gilt, dass sie am Besten von ihren Grenzen her verstanden werden kann (Vilar 1985; Mau 2006). Und das heißt, neben eine Analyse Brüsseler Politik und der hier zentral geschaffenen Institutionen eben auch die lokalen Gesellschaften und deren Interessen an einer vertieften Europäisierung in den Blick zu nehmen. Genau in diesem Verständnis liegt schließlich der Schlüssel zu dem, was soziologische Grenzforschung für die Europasoziologie an Erklärungskraft zu bieten hat. Das lenkt den Blick von der Grenze auf den Raum und auch hier auf die Frage, ob Räume mehr sind als nur der Ausdruck spezifischer gesellschaftlicher Verhältnisse. Wirken Räume ebenso strukturierend auf die Gesellschaft zurück, wie wir es bei Grenzen beobachten können? Und wie gestaltet sich dieses Verhältnis von Raum und Gesellschaft in Zeiten der Europäisierung? Welche Räume sind es, die nun, angesichts der zunehmenden Auflösung nationalstaatlicher Bindungskräfte wichtig werden? Anscheinend tragen alte Kategorien und Konzepte hier immer weniger und braucht es neue Modelle, um die Restrukturierungsprozesse und die neuen räumlichen Gegebenheiten, die sie produzieren, angemessen zu erfassen. Nicht ein Verständnis von Raum als eine vorgegebene und feststehende territoriale Einheit scheint hier sinnvoll, sondern vielmehr eine Interpretation von Raum als „sozial konstruierte und historisch sich verändernde Größe“, der „Ordnungs-, Habitualisierungs- und Konventionsschemata erzeugt“ (Löw in diesem Band: 49) und damit selbst zur strukturierenden Kraft wird. Dabei steht nun aber eben nicht mehr der Territorialstaat als wesentliche Einheit im Vordergrund, sondern neben der nationalen geraten nun 136
auch globale, regionale und urbane Formen vermehrt in den Blick, die die territoriale Dimension Europas ausmachen. Zwar leben die Menschen nach wie vor in Nationalstaaten, aber diese sind nicht länger selbstverständlicher Rahmen und primärer Bezugspunkt sozialen Handelns oder gesellschaftlicher Identitätsbildungen. Vielmehr können wir feststellen, dass es zu Ergänzungen und Überlagerungen kommt, sich multiple Identitätsbezüge herausbilden, in denen die lokale neben der nationalen und der globalen Ebene steht, und damit letztlich die nationale Ebene in ihrer Strukturierungskraft deutlich beschnitten wird. Und dieser Wandel der Raumkonfigurationen zwingt letztlich zu einer Reformulierung des Raumkonzepts. Greifen wir etwa den Vorschlag der Betrachtung von Räumen in Scales auf und trennen uns von einer Betrachtungsweise, die die Welt in Makro-, Meso- und Mikroebenen einteilt, dann eröffnet sich die Möglichkeit, Stadt als hierzu quer liegende Einheit zu verstehen, als eine Art Prisma, das eben diese Ebenen bricht, neu zueinander positioniert und so schließlich auch die Vorstellung neuer Anordnungen von Räumlichkeiten überhaupt ermöglicht.3 Denn letztlich treffen in der Stadt alle drei Ebenen aufeinander und existieren in der Wahrnehmung ihrer Bewohnerinnen und Bewohner nebeneinander her, teilweise stärker, teilweise schwächer ausgeprägt. Deutlich zeigt sich dies etwa in der Frage der in der jüngsten Vergangenheit gewachsenen „urban citizenship“, die quer zu nationalen Zugehörigkeiten (und auch zu meisten Teilen unabhängig hiervon) die aktive politische Teilhabe aller Europäerinnen und Europäer an kommunaler und munizipaler Politik fördert und damit einerseits Zugehörigkeiten zum Lokalen unabhängig von der Nationalität stärkt (vgl. Holsten/Appadurai 2003) und andererseits zugleich direkt auf die europäische Ebene verweist. Und noch in einer weiteren Hinsicht scheint der von den Stadtsoziologinnen und -soziologen vorgeschlagene Blickwinkel auf die Stadt für die Europaforschung sehr lohnenswert: Es zeigt sich, dass es vor allem die Städte sind, die die heranwachsenden Europäer/-innen beherbergen, von ihnen geprägt werden und auch sie nachhaltig prägen; denn wie wir wissen, hängt die Identifikation mit Europa maßgeblich von Sprachenkompetenz, Bildungsniveau, Erfahrungswerten ab – das heißt, es sind insbesondere die (zumeist städtischen) Eliten, die sich mit Europa identifizieren (vgl. Haller 2008; Herrmann/Brewer 2004). Zugleich gewinnen die lokale und auch die 3
Vgl. hierzu etwa die neuen Raumkonzepte von Thrift (2004, 2008) und Amin (2004); für einen Überblick vgl. Hentschel (2009).
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urbane Ebene aufgrund des in der EU geltenden Grundsatzes der Subsidiarität zunehmend an Bedeutung – und in dem Maße, in dem der lokalen und regionalen Ebene in der EU politisch mehr und mehr Kompetenzen zugesprochen werden, wächst hier auch die Zustimmung zu weiteren Europäisierungsschritten.4 Der Blick in die Stadt und aus der Stadt heraus auf Europa hilft uns also in mehrerer Hinsicht: Zum einen ist die Stadt der Rahmen zur Bündelung ganz verschiedener identitärer Bilder, die hier gesammelt, gebrochen und neu angeordnet werden. Und zum anderen zeigt sich, dass die Stadt selbst einen wesentlichen Raum darstellt, in dem Europäisierungsprozesse stattfinden. Es ist nicht lediglich der Ort, an dem schließlich Brüsseler Entscheidungen umgesetzt werden, sondern es ist genauso der Raum, in dem überhaupt erst die Vorstellungen dessen entstehen, was Europa ist und wohin es sich zukünftig entwickeln soll; in denen sich Europa also konstituiert.5 Der Beitrag soziologischer Grenz- und Raumforschung liegt schließlich genau hierin: In einer Verschiebung des Blickwinkels, mit dem wir die gesellschaftlichen Prozesse des politischen Zusammenwachsens Europas beobachten. Wie wir gesehen haben, sind es gerade die Raumbezüge, die im Zuge der Europäisierung an Eindeutigkeit eingebüßt haben. Die nach wie vor ungeklärte Frage der finalité Europas und damit auch der Europäischen Union lässt ihre Grenzen zum politischen Verhandlungsgegenstand werden. Das ist nicht ohne Wirkung auf die Frage der Strukturierungskraft der Grenzen nach innen, etwa auf Identitätsbildungprozesse. Zugleich haben wir aber gesehen, dass es nicht lediglich die Frage eindeutiger Außengrenzen ist, die in diesem Kontext von Bedeutung ist, sondern dass wir bei Fragen kollektiver Bewusstseinsbildungsprozesse immer auch 4
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Die Zustimmung zur Europäisierung ist vor allem in solchen Regionen groß, die sich mit ihrer Eingliederung in die Nationalstaaten schwer tun, wie etwa das Baskenland, Korsika, Katalonien etc., Regionen also, die sich im Zuge der Europäisierung und der damit einhergehenden abnehmenden Kompetenzen der Nationalstaaten als Gewinner von Europäisierung begreifen (vgl. Laible 2008). Und dabei unterscheiden sich die einzelnen europäischen Städte voneinander (Löw 2008). Allerdings werden wir wohl feststellen, dass es in Bezug auf die Europäisierungsprozesse und die Rolle, die den Städten dabei zukommt, zwar einen wesentlichen Unterschied macht, ob ich in Bayreuth oder London lebe, wohl aber weniger entscheidend ist, ob ich in Madrid, Berlin oder Paris zu Hause bin, kommt es doch zumindest im Kontext unserer Fragestellung nach dem Verhältnis von Europäisierung und Stadt schließlich auf die tatsächliche Größe der Stadt und ihren „Europäisierungsgehalt“ an (vgl. hierzu auch Le Galès 2002).
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die lokalen Bevölkerungen selbst und deren Interessen mit einbeziehen müssen. Maßgeblich ist ein relationales Verständnis von Räumen, Grenzen und Bevölkerungen, eine Sichtweise, die von einer Wechselbeziehung zwischen beidem ausgeht. Einem solchen Verständnis folgend können wir bei der Betrachtung von Räumen und Grenzen nicht nur Wesentliches über die Konstitution europäischer Grenzen und eines europäischen Raums erfahren, sondern vor allem andersherum Erkenntnisse über die spezifischen gesellschaftlichen Prozesse im Innern Europas erlangen. Deutlich wird, dass es der Blickwinkel ist, der zählt und der uns schließlich etwas darüber erzählt – wie etwa der von Löw vorgeschlagene Blick auf die Stadt und auch aus der Stadt heraus auf die darin lebenden Menschen in ihrem Verhältnis zu Europa. Schließlich ist dies eine Perspektive, die in originär soziologischer Absicht eben nicht nur politische Akteure und Institutionen im europäischen Raum unabhängig von den Bewohnerinnen und Bewohnern betrachtet, sondern grundsätzlich eine Wechselwirkung des Politischen mit dem Sozialen annimmt. Erst eine solche Sichtweise eröffnet schließlich ein Verständnis von Europäisierung als Prozess, der vor allem die Gesellschaft selbst betrifft. Deutlich geworden ist, dass es im Zuge der Europäisierung nicht darum geht, Raumkonzepte vollkommen aufzulösen, im Gegenteil: Raum ist nach wie vor eine wesentliche Kategorie zur Erfassung dieser Neuordnung gesellschaftlicher Verhältnisse. Und es ist auch nicht notwendig, das Raumkonzept zu de-territorialisieren, wie die Beobachtung sich herausbildender Mitgliedschaftsräume (Bös 2000) oder Kommunikationsräume (Eder in diesem Band), die quer zu den Nationalstaaten liegen, auf den ersten Blick vielleicht nahe legen. Vielmehr gilt es, einerseits diese neu zu beobachtenden Anordnungen sozialer Beziehungen in ihrer je spezifischen Wirkung auf Räume zu analysieren, zum anderen aber nach den Wirkungen dieser sich durch den Prozess der Europäisierung verändernden Räume auf die hiervon betroffene Gesellschaft zu fragen. Es ist also nicht nur die Europaforschung, die von der soziologischen Grenz- und Raumforschung profitieren kann, sondern ebensolches gilt natürlich letztlich auch andersherum.
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Raumdimensionen der Europaforschung. Skalierungen zwischen Welt, Staat und Stadt Martina Löw
Europa wird raumlogisch als schwieriger Fall betrachtet. Erstens weil Europa – abgesehen vom Atlantik und dem Mittelmeer – keine Grenzen besitzt, die als natürlich in Erscheinung treten und somit soziale Ordnung legitimieren (Bach 2006: 146), und zweitens weil Europa auf die Herausbildung der europäischen Nationalstaaten als Territorialstaaten (Agnew 1998) aufsetzt, so dass Europa sich geografisch als Super-Container bewähren muss. Europa ist supranational und trotzdem Territorialraum, welcher historisch als Nationalstaat Gestalt gewonnen hat. Das heißt, in der Debatte um und in die raumtheoretischen Annäherungen an Europa mischen sich zwei Raumfiguren, die sich begrifflich-konzeptionell gegenseitig überschreiben: der vernetzte Raum der Staaten und der territoriale Raum als Container der Staaten. Oder anders formuliert: Raum als relationale Anordnung (vgl. Löw 2001) wird in der Europaforschung in zwei Formate gesetzt: den Netzwerkraum und den Territorialraum. Dass diese beiden Raumkonzepte moderne Konkurrenten sind, ist nicht neu. So schreibt zum Beispiel Markus Schroer die beiden Konzepte in Beziehung setzend: „Auf der einen Seite haben wir es mit Räumen zu tun, die nach dem traditionellen Modell des Containers gebaut sind. Unter diese Kategorie fasse ich Vorstellungen über die Festung Europa, einen aggressiven Lokalismus und private Sicherheitsräume. Auf der anderen Seite entstehen Räume, die diesem Modell nicht mehr entsprechen. Unter diese Kategorie möchte ich Global Cities, transnationale und virtuelle Räume fassen“ (Schroer 2006: 207f., Hervorhebung im Original). Europa konfrontiert nun mit der Einsicht, dass diese Doppelkonstruktion räumlicher Anordnung für denselben Gegenstand geltend gemacht wird. Für das Thema des Beitrags relevant sind deshalb nicht die Bewertungen der Formationen, sondern eine Analyse der Denkpfade, die durch die jeweilige Raumfigur
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eingeschlagen werden, sowie die Frage nach Blindflecken, die mit dem jeweils beobachteten Raumformat einhergehen. Raum ist eine Kategorie der gleichzeitigen Platzierungen. So wie die Zeit die Ordnungsdimension des Nacheinanders erfasst, markiert der Raum die Gleichzeitigkeit der Ereignisse (siehe auch Massey 2006). Das heißt, Raumkategorien inhärent ist ein Verweisungszusammenhang zu gleichzeitig sich herausbildenden Anordnungen. Bezieht man dies zurück auf die Europaforschung, so zeigt sich, dass mit der Doppelkonstruktion zwei Relationen den Blick auf Europa alternativ plausibilisieren: der Bezug in die Welt sowie in die Regionen. Denkt man Europa vom Begriffspaar TerritoriumGrenze aus (vgl. den Band von Eigmüller/Vobruba zu Grenzsoziologie 2006), reflektiert man konsequenter Weise das Verhältnis des Territorialraums Europa zur größeren „Einheit“ Welt. In den Vordergrund rücken Fragen danach, ob der Gesellschaftsbegriff nun – nach der Kritik am methodischen Nationalismus (zusammenfassend Berking 2006) – statt an den Staat an die nächst größere Einheit, nämlich Europa, angebunden wird. Macht es Sinn von einer europäischen Gesellschaft zu sprechen? Oder wird doch Weltgesellschaft zur Bezugskategorie (zur Debatte zum Beispiel Bayer et al. 2008; Bonacker/Weller 2006)? Wer hingegen statt dem Territorialraum das „Gefüge“ Europa, den Netzwerkraum, forschungsrelevant werden lässt, öffnet den Horizont selten in globale Formate, sondern analysiert die Bestandteile dieses Gefüges. Das Europa der Regionen wird zum Stichwort für eine raumkonzeptionelle Analyse, welche die Qualität Europas aus der Figur lokaler sozial-räumlicher Überlagerungen denkt. Angesichts der weit reichenden Konsequenzen, die der in Anwendung kommende Raumbegriff für die Ergebnisproduktion der Forschung hat, möchte ich in meinem Beitrag den konzeptuellen Stellenwert von Raum für die Europaforschung reflektieren. Dabei geht es mir um dreierlei: erstens um die Plausibilisierung, dass räumliche Skalierungen nicht nur zeitdiagnostisch einsetzbar sind, sondern auch und vor allem als Untersuchungsreichweiten relevant werden, wenn sie expliziert werden. Auf dieser Basis soll zweitens die lokale Dimension der Skalierung insofern genauer betrachtet werden, als in einer urbanisierten Gesellschaft Europa in seinen lokalen Dimensionen nicht nur über Regionen, sondern auch über Städte als zentrale Vergesellschaftungseinheiten zu denken ist. Städten aber wird in der Europaforschung bislang noch wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Drittens schließlich soll abschließend, aus der Stadtforschung die These, Raum sei 143
nicht nur der Niederschlag des Sozialen, sondern auch als strukturierende Struktur zu denken, auf den Gegenstand der Europaforschung zurückbezogen werden. 1
Scale
Seit den 1980er Jahren in der Geografie, später in den Politikwissenschaften und schließlich auch in der Stadt- und Raumsoziologie gewinnt „Scale“ als Basiskategorie des wissenschaftlichen Arbeitens an Bedeutung und an Streitwert. Den Anfangspunkt setzt Peter Taylor (1982) mit der Argumentation, dass Immanuel Wallerstein (zum Beispiel 1974) in der „world system theory“ eine Globalisierung des Kapitalismus als territorial geweitete Fortsetzung der nationalen Logik begreife und somit die Unterscheidung von städtisch-national-global nur horizontal einsetze, währenddessen der Erkenntnisgewinn einer Skalierung des wissenschaftlichen Gegenstands an Bedeutung gewinne, wenn man sie gleichzeitig als (vertikale) hierarchische Dimensionierung sozialer Phänomene betrachte. Das Nachdenken über die sozialwissenschaftliche Bedeutung von „Scale“ verbindet von Anbeginn an zwei verschiedene Aspekte: Zeitdiagnose und Methodologie. Die gestiegene Aufmerksamkeit für Skalierungsprozesse erklärt sich erstens aus der Beobachtung, dass Restrukturierungsprozesse neue räumliche Formate produzieren (also Verstärkung der Globalisierung, Europäisierung, Regionalisierung). In Skalen von lokal, national, supranational (zum Beispiel Europa) und global gedacht, gewinnt die Einsicht an Bedeutung, dass Globalisierung die als Nationalstaat skalierbare Ebene relativiert und stattdessen die sub- und supranationalen Formen territorialer Organisationsform intensiviert (Brenner 1999: 52). Diese Veränderung der sozialwissenschaftlichen Beobachtungs- und Analysemodi, also die systematische Reflexion der Reichweite des eigenen Vorgehens wie auch des latenten methodischen Nationalismus vieler Studien, wird auch von Erik Swyngedouw (1997) als „rescaling“ oder von Neil Smith (1993) als „jumping scales“ beschrieben. Gleichzeitig und zweitens bezeichnet Scale die Herausforderung, beim wissenschaftlichen Arbeiten alle sozialen Phänomene auch auf die verschiedenen möglichen skalierbaren Ebenen hin zu konzipieren beziehungsweise sich selbst der erhobenen Reichweite zu versichern (Smith 1992a, 1992b; 144
vgl. auch hier Swyngedouw 1992). Smith begreift Scale daher als Matrix der Produktion von Raum (Smith 2001: 155). Scale ist dabei mehr als nur der raumtheoretische Begriff für die Wiedereinführung der Unterscheidung von Mikro-/Meso-/Makro-Ebene. Scales werden nicht als vorgegebene territoriale Einheiten begriffen, sondern als sozial konstruierte und historisch sich verändernde Größen gedacht. In diesem Sinne benennt Scale Territorialisierung als Herstellungsprozess (Globalisierung, Europäisierung, Nationalisierung, Regionalisierung, Urbanisierung). Das heißt, die Deutungskraft von Scale lässt sich nicht aus vorsozial existierenden Raumausschnitten ableiten, sondern ist der begrifflich-konzeptionelle Ausdruck räumlich-sozialer Prozesse der Herausbildung moderner Lebensweisen. Dies setzt voraus, dass Scale konsequent relational verstanden wird: Jeder Raumausschnitt zieht seine Plausibilität eben auch aus der Abgrenzung zur je anderen. Hier allerdings schließt sich der Kreis zur gesellschaftsdiagnostischen Dimension von Scale. Gerade weil diese Raumdimensionen nicht containerförmige Ausschnitte bezeichnen, kann eine Transformation der skalaren Hierarchie (aktuell: Die Debatte um den Bedeutungsverlust der nationalstaatlichen Raumskalierung) angenommen werden. Zusammenfassend bedeutet das: Nach den Raumdimensionen der Europaforschung zu fragen, heißt, Europa als sich auch territorial verfestigendes Gefüge zu begreifen, das unentwegt sich zu anderen Skalen moderner Lebensführung verhält: zu globalen, nationalen, regionalen und urbanen Formen. Raumsoziologisch gesprochen stellt sich an den Anfang jeder Lektüre der Europaforschung damit die Frage, wie sich Gesellschaftsdiagnose mit der räumlichen Reichweite der Analyse verbindet und wie das relationale Gefüge der Raumausschnitte gebaut wird. Dabei fällt auf (vgl. die Beiträge in diesem Band), dass wer über Europa forscht, selten Städte in die Analyse integriert (anders als die Europapolitik, der in der Stadtpolitik ein zentraler Stellenwert zukommt, wie zum Beispiel Susanne Frank 2005 darlegt). Die lokale Dimension wird als Region, nicht als Stadt relevant gemacht. Zu Unrecht, wie ich argumentieren möchte. 2
Lokale Dimensionen
Seit der regierende Berliner Oberbürgermeister Klaus Wowereit Berlin als „arm, aber sexy“ charakterisiert hat, ist Armut nicht nur in ihrer Stadtspezi145
fik auf ein Schlagwort gebracht worden, sondern auch die Frage nach den lokalen Qualitäten von Armut ist damit öffentlichkeitswirksam formuliert worden. Selbstkritisch kann die Soziologie nur eingestehen: Es existiert kaum ein soziologisches Wissen über die stadtspezifischen Lebensbedingungen in Armut. Mehr ahnt als weiß man, dass in Barcelona, Wien oder Amsterdam Armut in unterschiedlicher Weise sozial sinnhaft wird beziehungsweise dass in einem reichen Umfeld wie München oder Stuttgart arm sein sich anders gestaltet als in Berlin oder Bremerhaven (siehe Berking et al. 2007). Gleichzeitig ist arm sein in Bremerhaven überhaupt nicht sexy konnotiert, während in Berlin kulturelles Erbe, Hauptstadtinszenierung und Zukunftsoptionen eine positive Umwertung möglich machen. Seit den 1970er Jahren hat sich soziologisch ein Konsens gebildet, dem zufolge Stadt nicht mehr als eigene Vergesellschaftungseinheit gedacht wird, sondern in die Vergesellschaftungsqualität des Nationalstaats eingelagert wird (siehe ausführlich Löw 2008). Europa zwingt dazu, über die Unterordnung der Stadt unter den Staat neu nachzudenken, gerade weil das „Haus“ Europa nicht nur aus Nationalstaaten, sondern aus unterschiedlichen regionalen Struktur-Handlungsgeflechten gebildet wird, die sich um städtische Zentren herum bilden. Die Bildung supranationaler Verbünde wie Europa steigert gerade deshalb die Konzentration auf Städte, weil Nationalstaaten gerade, um den Verbund zu stabilisieren, nicht mehr als nötig adressiert werden sollen. Susanne Frank zufolge führen die Versuche des europäischen Rats, die Union „bis zum Jahr 2010 zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen“ (Frank 2005: 315), dazu, dass Städten deutlich mehr Aufmerksamkeit zuteil wird, sie aber auch höherem Konkurrenzdruck ausgesetzt sind. Aber nicht nur das Beispiel Europa, nicht erst seit Städte als „global cities“ oder „world cities“ gefasst werden (vgl. Friedmann 1986; Sassen 1996), bilden Städte Vergesellschaftungseinheiten quer zu Territorialstaaten. Gerd Held (2005: 136ff.) argumentiert, dass bereits mit der Unterscheidung von Binnen- und Außenmarkt der Ansatz zur Differenzierung eines ZweiTerritorien-Modells angelegt wird, das im Kontext der Globalisierung stets reproduziert wird. Im Anschluss an die Beobachtung Fernand Braudels (1985: 560), dass Stadt und Territorialstaat in der Moderne konkurrierende Organisationsformen räumlicher Einheiten darstellen, entwickelt Held die These der Komplementarität von Großstadt und Territorialform als räumliches Anordnungsmuster der Moderne. Nicht die Differenzierung in Stadt 146
und Land, sondern die Unterscheidung zwischen räumlicher Einschlusslogik als strukturelle Offenheit der modernen Großstadt und räumlicher Ausschlusslogik als geschlossene Behälterkonstruktion des modernen Nationalstaats bildet die Konstruktionen der sich entwickelnden modernen Gesellschaft. Die Konstruktion des staatlichen Territoriums basiert, so Held, auf Grenzziehungen und erhöht auf diese Weise die Homogenität im Inneren; die Konstruktion der modernen Stadt verneint die Eindeutigkeit der Grenze und erhöht auf diese Weise Dichte sowie Heterogenität. So gewendet hat die Moderne mit den zwei Vergesellschaftungsformen „Territorium/Ausschluss“ und „Stadt/Einschluss“ die räumliche Differenzierung der Gesellschaft systematisch verankert. Die moderne Stadt bildet das notwendige Pendant zur Begrenzungs-, Homogenisierungs- und Heimatlogik des Nationalstaats. Sie stellt eine eigene Form der Vergesellschaftung dar, die es genauer zu verstehen gilt und deren Prinzipien nach unterschiedlichen städtischen Kulturen und Organisationsformen aufzuschlüsseln sind. Nimmt man die Stadt als lokale Dimension mit eigener Vergesellschaftungsqualität ernst, so steht die Soziologie vor der Herausforderung, einen Gegenstand wie Europa nicht nur aus der Differenz der Nationalstaaten, sondern auch aus den Ähnlichkeiten städtischer Vergesellschaftungsprinzipien quer zu den Nationalstaaten zu denken. Europa ist – leider, wenn man es forschungsstrategisch denkt – nicht nur eine räumliche Anordnung, die sich relational zur Welt, zum Nationalstaat und zur Region verhält, sondern sich auch aus der eigenlogisch wirkenden Vergesellschaftungsqualität städtischer Kulturen bildet. Urbanisierung als skalierbaren Raumausschnitt konzeptionell zu denken, meint konsequenter Weise, dass es nicht reicht, soziologisch erhobene Daten auf Städteebene „herunterzurechnen“; konzeptionell betont die Einsicht, dass sich die Stadt zur Gesellschaft nicht als einfach zu beobachtender, begrenzter Ausschnitt des komplexen Gefüges verhält. Lokal ist nicht einfach die Ebene des Individuellen, Informellen, „Kleinen“; Europa dagegen nicht das Überindividuelle, Organisierte, „Große“ (Heintz 2004), wie die Stadtsoziologie und die lokale Politikforschung häufig glauben machen. So wie man die wichtigen Themen moderner Gesellschaftsbildung in den Städten analysieren kann, so können auch umgekehrt die Gesellschaft oder moderne Formationen wie Europa in den Städten und damit in ihren spezifischen, gleichwohl typisierbaren, Ausformungen untersucht werden (vgl. dazu auch die angloamerikanische Debatte um Place-in-societyund Society-in-place-Ansätze zum Beispiel bei Lobao et al. 2007). 147
Nimmt man das Lokale als Scale, als sozial konstruiert und relational, ernst, dann sind Städte selbst emergente Gebilde mit eigener Qualität. Aussagen über europäische Städte sind nicht einfach Spezifizierungen umfassender Erhebungen, sondern Feststellungen über lokale Erfahrungs- und Handlungsqualitäten. Sie sind demnach auch nicht ohne Prüfung auf andere Städte übertragbar. Gerade wenn Städte emergente Gebilde sind, erlangen sie eine spezifische Realität, deren Dynamik zu untersuchen gerade erst begonnen wird (dazu zum Beispiel Taylor et al. 1996: XII; Lee 1997; Lindner 2003; Lindner/Moser 2006; Berking/Löw 2005a, 2005b, 2008). Die Kategorie des „Ortes“ ist somit für die Europaforschung bedeutsamer, als die Kleindimensioniertheit des Gegenstands vermuten lässt. Von Pierre Bourdieu (1998: 159ff.) als „Orteffekte“ thematisiert existieren Deutungsmuster, Praktiken und Machtfigurationen, die an „diesen“ Orten höhere Plausibilität aufweisen als an „jenen“ Orten. Das bedeutet nicht, raumdeterministische Verhaltenszwänge zu behaupten. Vielmehr entwickeln Orte als sozial konstruierte, sich verändernde sozialräumliche Phänomene Eigenlogiken, welche sich auf die Erfahrungsmuster derer, die in ihnen leben, auswirken und deshalb für das Verständnis von Europa konstitutiv sind. 3
Die Strukturierungskraft von Räumen und Orten
Bislang existiert in vielen Disziplinen eine widersprüchliche, aber wirkungsmächtige Selbstverständlichkeit in der Reflexion über Raum: Je globaler Raum gedacht wird, desto eher wird eine strukturierende Wirkung angenommen; je stärker lokale räumliche Anordnungen als prägend analysiert werden, desto schneller wird der Argumentation ein Raumdeterminismus unterstellt. Eine raumtheoretisch fundierte Soziologie muss aber eine Antwort auf die Frage geben, ob (sozial konstruierte, sich historisch wandelnde) Räume nur als Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse begriffen werden oder ob man annimmt, dass von diesen Räumen eine aktive formende Kraft ausgeht. Warum fällt es so leicht anzunehmen, dass Europa das Handeln direkt beeinflusst, während es schwer fällt sich vorzustellen, dass in Darmstadt zu leben aus jemandem einen anderen Menschen macht, als Leipzig es tun würde. Dabei ist es ein Gebot der Logik, nicht mit dem Skalierungswechsel die Betrachtungsweise zu ändern.
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Bislang korrespondiert die Nähe/Distanz zu Strukturierungsannahmen mit theoretischen Zuständigkeiten für Mikro- beziehungsweise Makrophänomene. Wenn überhaupt, dann ist die Potenz von Räumen, soziale Ereignisse zu provozieren, bislang eher in strukturtheoretischen Argumentationen berücksichtigt worden, wohingegen handlungstheoretische und phänomenologische Ansätze Raum stärker als Ergebnis oder als Kontext von Handeln konzeptualisieren. Die materialistische Theorie ist immer von der Prämisse ausgegangen, dass gesellschaftliche Strukturen Handeln in spezifischer Weise prägen. Die Übertragung nun, dass räumliche Strukturen auf die Körper wirken, ist theoretisch nahe liegend und erscheint unproblematisch, weil der Gegenstand der Analyse meist sehr abstrakt ist. So betonen zum Beispiel Lefebvre (1991) oder Harvey (1989), dass die kapitalistische Raumordnung Fragmentierungserfahrungen mit sich bringt. Je stärker sich sozial- und geisteswissenschaftliche Analysen von Räumen den Alltagspraktiken nähern, desto häufiger wird Raum als Kontext/Locale „stillgestellt“ (siehe zum Beispiel Giddens 1984; Werlen 2000). Raum wird explizit nicht als strukturierende Dimension konzeptualisiert. Hierfür stehen Bilder wie: Raum sei der „Spiegel der Gesellschaft“ oder Handeln „schlage sich“ im Raum „nieder“. Die Denkbewegungen sind in der Regel einseitig angelegt. Nähme man aber an, dass Europa in Wien und Berlin gleichermaßen Gestalt gewinnt, dann verweigerte man die Einsicht, dass räumliche Anordnungen an lokale Konventionen gebunden sind. Räume homogenisieren Handeln nicht, so möchte ich meinen Beitrag zuspitzen, aber sie schaffen Ordnungs-, Habitualisierungs- und Konventionsschemata, die Handlungsabläufe und Deutungsformen auf ortstypische Weise nahe legen. Steht man heute vor der Aufgabe, eine raumtheoretisch fundierte Europaforschung weiterzuentwickeln, dann zwingt die Reflexionskultur um Scale dazu, die Frage nach der Strukturierung des Alltags durch Raumanordnungen nicht länger zu beantworten, indem in der Differenzierung von global-supranational ein prägender Einfluss durch räumliche Gefüge angenommen wird, wohingegen lokal-urbane Räume nur als Abbild und damit als strukturierungsschwach gedacht werden. Von den gesellschaftlichen Strukturen ausgehend ist es ein kleiner Schritt zu sagen, dass raumstrukturelle Muster wie zum Beispiel nationalstaatliche Grenzen oder deren Beseitigung soziale Prozesse vorstrukturieren. Die Logik der Argumentation zwingt jedoch dazu (wenn diese Annahme akzeptiert wird und Raum nicht
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nur im Handeln gesucht wird), auch nach den lokalen Raummustern und ihrer Strukturierungsdynamik zu fragen. 4
Ausblick
In Scales zu denken, ermöglicht es, das Globale, das Nationale und das Urbane als Bezugssysteme neben dem Europäischen zu fassen und Hypothesen über deren Verhältnis zu entwickeln. Öffnete man die Europaforschung nur in Richtung Weltgesellschaft und Region, dann verschwände die Stadt als Vergesellschaftungseinheit aus dem Erkenntnisfeld. Wenn Raum relational konzeptualisiert wird, dann sind aber Städte nicht einfach nur partikulare Momente innerhalb einer Welt der Nationalstaaten, Kontinente und der Weltgesellschaft. Wenn das Globale nicht nur das Lokale konstituiert, sondern auch umgekehrt das Lokale das Globale, dann sind Städte auch die räumlichen Formen, durch die Europa konstituiert wird. Will das Denken in Scales kein Reproduzieren verschieden großer Containerräume sein, sondern relationale Räume erfassen, dann steht Europa nie für sich, sondern wird in den verschiedenen Raumdimensionen unterschiedlich aufgeladen. Ob man Europa zur Welt oder zur Region in Beziehung stellt, macht einen Unterschied ums Ganze. Literatur Agnew, John, 1998: Geopolitics. Re-visioning World Politics. London/New York: Routledge. Bach, Maurizio, 2006: Unbounded Cleavages. Grenzabbau und die Europäisierung sozialer Ungleichheit. S. 145-156 in: Eigmüller/Vobruba 2006. Bayer, Michael, Gabriele Mordt, Sylvia Terpe und Martin Winter (Hg.), 2008: Transnationale Ungleichheitsforschung. Eine neue Herausforderung für die Soziologie. Frankfurt a.M./New York: Campus. Berking, Helmuth, 2006: Raumtheoretische Paradoxien im Globalisierungsdiskurs. S. 7-22 in: Ders. (Hg.): Die Macht des Lokalen in einer Welt ohne Grenzen. Frankfurt a.M./New York: Campus. Berking, Helmuth und Martina Löw (Hg.), 2005a: Die Wirklichkeit der Städte. Soziale Welt, Sonderband 16, Baden-Baden: Nomos. Dies., 2005b: Wenn New York nicht Wanne-Eickel ist … Über Städte als Wissensobjekt der Soziologie. S. 9-22 in: Dies. 2005a Dies. (Hg.), 2008: Eigenlogik der Städte. Frankfurt a.M./New York: Campus.
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Die Konstitution von Räumen und Grenzbildung in Europa. Von verhandlungsresistenten zu verhandlungsabhängigen Grenzen Maurizio Bach
1
Einleitung
Die soziologische Beobachtung findet in der Gesellschaft statt (Vobruba 2009). Das wird auch daran deutlich, dass sie Selbstverständlichkeiten erst zu beobachten beginnt, wenn diese keine mehr sind. Eine solche Selbstverständlichkeit war lange Zeit die Existenz von Staatsgrenzen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs galten die Staatsgrenzen in Europa als unveränderlich gegebene Größen. Bis zum Fall des Eisernen Vorhangs erlebte Europa eine Phase relativ stabiler politischer Ordnungen mit eindeutigen, nur in wenigen regionalen Sonderfällen (Südtirol, Baskenland, Katalonien, Galizien und Nordirland) umstrittenen Grenzen. Die Staaten waren die relevanten politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Raumeinheiten. Innerhalb ihrer Grenzen entstanden raumhaft strukturierte und unterscheidbare gesellschaftliche Ordnungen. Darauf gründete das europäische Raumund Grenzensystem, dessen Struktur durch „mehrere flächenmäßig in sich geschlossene Machtgebilde mit einheitlicher zentraler Regierung und Verwaltung und festen Grenzen“ charakterisiert ist (Schmitt 1950: 112). Parallel zur Konsolidierung der staatlichen Raum- und Grenzenstruktur entstanden in Nachkriegseuropa allerdings auch neue Genzregimes. Trotz der Stabilität der Staatsgrenzen gab es damit in den letzten Jahrzehnten beträchtliche Veränderungen, die auf eine große Variabilität und Komplexität der Grenzen- und Raumkonstellationen hindeuten. Hauptsächlich zwei Entwicklungen sind dafür verantwortlich: der in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts einsetzende Prozess der europäischen Einigung und 153
die aktuelle Dynamik der Globalisierung. Mit den Außengrenzen der EG/ EU bildeten sich neue territoriale Trennlinien, die vor allem die ökonomischen Innen- und Außenverhältnisse des „Mitgliedschaftsraums“ der Europäischen Union und ihrer Vorgängerorganisationen regulieren. Diese Grenzen expandierten schrittweise in mehreren Erweiterungsrunden.1 Der Zerfall der Sowjetunion, die Wiedervereinigung Deutschlands und die Befreiung der Staaten Mittelosteuropas Ende der 1990er Jahre lösten einen zweiten grundlegenden Wandlungsprozess in der politischen Raum- und Grenzenstruktur Gesamteuropas aus (vgl. Judt 2006: Kapitel XXIII). Die Slowakei spaltete sich von Tschechien ab. Jugoslawien zerfiel in mehrere autonome Staaten mit in Kroatien, Bosnien-Herzegovina, Serbien, Montenegro, Mazedonien sowie im Kosovo umkämpften Grenzen und Territorien. Die EUAußengrenze verschob sich im Osten bis an die Westgrenzen der Ukraine, Weißrusslands und Russlands. Durch den Beitritt Bulgariens und Rumäniens im Jahre 2007 wurde die EU-Grenze im Südosten bis ans Schwarze Meer und an die Türkei verlängert. Aber die Anziehungskraft der EU reicht heute viel weiter, nämlich bis tief in den euro-mediterranen Raum und euroasiatischen Kontinent hinein. Mit der Türkei besteht bereits ein Assoziationsabkommen und seit 2004 werden Aufnahmeverhandlungen geführt. Ein Beitritt der Türkei würde die EU-Außengrenze im Südosten bis an die Grenzen des Kaukasus und des Nahen Ostens (Iran, Irak, Syrien) verschieben. Auch Georgien, die Ukraine und Weißrussland haben bereits ihr Interesse an einem zukünftigen Beitritt zur EU erklärt. Im Zusammenhang mit der Europäischen Integration haben außerdem noch die Regionen als territoriale Akteure mit legitimer Verhandlungsmacht (im Rahmen der Strukturfondspolitik) und institutioneller Repräsentation (Ausschuss der Regionen) sowie als wichtige Referenzeinheiten für raumbezogene Ungleichheitsdefinitionen und -regulierung (NUTS) als eigenständige politische Kräfte auf der europäischen Ebene an Bedeutung gewonnen. Dasselbe gilt für die nahezu zweihundert institutionalisierten Grenzregionen, die so genannten EUREGIOS, die auf lokaler Ebene erfolgreich grenzüberschreitende Kooperation verwirklichen und damit die früher meist infrastrukturell und wirtschaftlich benachteiligten grenznahen Peripherien der 1
1973 traten Irland, Großbritannien und Dänemark bei, 1981 Griechenland, 1986 Portugal und Spanien, 1995 Österreich, Schweden und Finnland, 2004 Polen, die Slowakei, Slowenien, die Tschechische Republik, Ungarn, Lettland, Estland, Litauen, Malta, Zypern, 2007 schließlich noch Bulgarien und Rumänien.
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Mitgliedstaaten in neuartige Kontakt- und Entwicklungszonen verwandelten (vgl. Association 2008). Hinzu kommen noch zahlreiche Staatenbündnisse mit unterschiedlicher Integrationsdichte und Mitgliedschaft, wie der Europarat, die OSZE, der Ostseerat, der auch Russland einschließt, der Nordische Rat, die EFTA, an der auch die Schweiz beteiligt ist, oder die Schwarzmeerkooperation, zu der auch die Türkei gehört. An diesem neuen „Europa der Staatenbündnisse“ ist bemerkenswert, dass deren Mitgliedstaaten ein sich kreuzendes und überlappendes Netzwerk von politischen Zusammenschlüssen bilden, dessen Außengrenzen asymmetrisch sind. Die Staatsgrenzen der Nationen, die Außengrenzen der EU, die Grenzen der substaatlichen Einheiten wie der Regionen oder NUTS sowie die Außengrenzen der europäischen Staatenbündnisse bilden somit insgesamt ein komplexes, multidimensionales und asymmetrisches territorial-politisches Gefüge, das auf eine grundlegende Transformation des europäischen Raum- und Grenzensystems hindeutet. Im Zentrum dieses epochalen Transformationsprozesses steht zweifellos die Europäische Union. Nichts davon lässt sich durch geographische Deskription erklären, und doch bilden Europas geographische Grenzen nach wie vor wichtige Referenzeinheiten für den politischen Prozess der Integration und der Neustrukturierung Europas. In dem Maße wie durch das europapolitische Großprojekt die Staatsgrenzen und mit ihnen das politische und soziale Schließungsmodell des Nationalstaats irritiert und verändert werden, treten die territoriale Dimension politischer Gemeinschafts- und Herrschaftsbildung, und damit auch die Grenzen, wieder stärker ins Bewusstsein. Mit der Relativierung der Staatsgrenzen im Binnenraum der EU wird die EU-Außengrenze, obwohl selbst keine Staatsgrenze, akzentuiert und mit neuen Funktionen und Bedeutungen überlagert. Doch weder die Staatsgrenzen noch die Verbandsgrenzen des Mitgliedschaftsraums der Europäischen Union besitzen eine unabhängige ordnungsbildende Funktion. Es sind immer politische Institutionen, deren Strukturprinzipien und soziale Schließungsbestrebungen, von denen die Außenabgrenzungen und Binnenstrukturen der politischen Vergesellschaftungen abhängen. In diesem Beitrag skizziere ich zunächst einen analytischen Bezugsrahmen, mit dem die Prozesse der Grenz- und Raumbildung als Funktionen von sozialer Schließung und territorial-politischer Institutionenbildung erschlossen werden können (2). In einem zweiten Schritt wird das bisher in 155
Europa erfolgreichste und dominierende politische Schließungsmodell des modernen Nationalstaats unter dem Gesichtspunkt der grenzenbildenden Institutionalisierung der klassischen Trinität von territorialer Herrschaft, politischer Gemeinschaft und sozialer Solidarität betrachtet (3). Dem neuen Spannungsverhältnis von nationalen Staatsgrenzen und supranationaler Schließung im Rahmen des EU-Mitgliedschaftsraums, wie es mit dem fortschreitenden Prozess der Vertiefung und Erweiterung der EU einhergeht, wende ich mich daran anschließend zu (4). In diesem Abschnitt werden der Funktions- und Bedeutungswandel der europäischen Binnengrenzen einerseits und die Voraussetzungen der Konstituierung sowie der spezifische Charakter der EU-Außengrenzen andererseits untersucht. Der Vergleich zwischen den herkömmlichen staatlichen und den neuen supranationalen Schließungsformen offenbart eine grundlegende Differenz in der Qualität und Funktion der beiden Typen von Grenzen: Während erstere prinzipiell als nicht verhandelbare Grenzen gelten, sind letztere im Gegenteil Objekte und Ergebnisse von zwischenstaatlichen Verhandlungsprozessen. 2
Analytischer Bezugsrahmen
Dem traditionellen europäischen Raum der Staaten entspricht ein Begriff von Gesellschaft, der sich im Rahmen der Grenzen des staatlichen Territoriums konstituiert (vgl. Luhmann 1997: 24f.; Beck/Grande 2004). Die Staatsgrenzen trennen somit nicht nur souveräne Staaten, sie unterbrechen auch Gesellschaften und machen sie als unterscheidbare Struktureinheiten erkennbar. Unmittelbar jenseits der linearen Staatsgrenze schließt, soweit es sich nicht um Meeresküsten handelt, eine andere nationale Gesellschaft an, meist mit einer differenten Standardsprache und eigener kultureller Selbstbeschreibung. Grenzen sind daher nicht nur konstitutiv für politische Herrschaftsgebilde sowie für staatliche Souveränität. Auch Gesellschaften und politische Gemeinschaften, sei es als ethnische Völker oder als Demoi (vgl. Lepsius 1990: 247ff.), gewinnen ihre autonome Einheitsgestalt und politische Handlungsfähigkeit erst durch die Existenz von Grenzen. Dadurch ermöglichen Grenzen politisches Handeln.2 Die deutsche Staatsrechtlehre 2
Auch soziale Klassen, soweit sie sich als politische Gemeinschaften zu organisieren vermochtn, entfalteten historisch erst als nationale Bewegungen eine nennenswerte politische Handlungsfähigkeit, selten als internationale Bewegungen. Ein herausragendes Bei-
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verdichtete diesen Sachverhalt in der bekannten Trinitäts-Formel von „Staatsvolk“, „Staatsgebiet“ und „Staatsgewalt“ (Jellinek 1959: 394ff.). Was in der Staatslehre eine Reifikation als Identität von Herrschaft, politischer Gemeinschaft und Territorium erfährt, muss für die soziologische Beobachtung in eine inkongruente Begriffsperspektive gerückt und analytisch desaggregiert werden. Dafür bietet die Theorie sozialer Schließung einen heuristischen Anknüpfungspunkt. Im Mittelpunkt der Theorie der sozialen Schließung stehen nach der klassischen Definition Max Webers soziale Prozesse, mit denen Akteure, Organisationen oder Institutionen versuchen, die Teilnahme anderer Akteure, Organisationen oder Institutionen systematisch auszuschließen oder zu beschränken, um damit die Chancen zum Erhalt von materiellen Ressourcen, Macht, Privilegien oder Prestige zu monopolisieren (vgl. Weber 1972: 23f.; Mackert 2004: 11). Soziale Schließungen sind immer auf Grenzen angewiesen. Letztere sichern erst die relativ dauerhafte Monopolisierung von ökonomischen, kulturellen, politischen und sozialen Chancen sowie Rechten nach innen ab. Zugleich regulieren sie die Außenverhältnisse, indem sie Öffnung und Grenzüberschreitungen in dem Maße zulassen, wie die beteiligten Bevölkerungen und Eliten dadurch eine Chancenverbesserung erwarten können. Staatsgrenzen fungieren somit als soziale Institutionen, die soziale Schließung für die Politik-, Rechts- und Verwaltungssysteme, die nationalen und lokalen Märkte, die Sprachvergesellschaftungen und kulturellen Räume sowie für politische Gemeinschaften auf bestimmten Territorien absichern. Als gesellschaftliche Konstruktionen übernehmen territoriale Grenzen somit, allgemein gesprochen, ordnungsbildende Inklusions- und Exklusionsfunktionen. Sie fungieren damit als Barrieren oder „Interdependenzunterbrecher“ (Mau 2006: 116) und regulieren die Exit- sowie die Zutrittschancen für Personen, Güter und Informationen. Die Schließungsmechanismen beziehen sich also immer zugleich auf den geographischen Herrschaftsraum eines Staats sowie auf die Bevölkerung des dadurch abgegrenzten Siedlungsgebiets (vgl. Rokkan 2000). Analytisch lassen sich nach Weber vier grundlegende Dimension der sozialen Schließung differenzieren. Demzufolge sind „traditionale“, „affektuelle“, „wertrationale“ sowie „zweckrationale“ Schließungen idealtypisch zu unterspiel dafür ist die europäische Arbeiterbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts, deren programmatischer Internationalismus im Ersten Weltkrieg rasch dem in der Arbeiterschaft tief verwurzelten Chauvinismus zum Opfer fiel.
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scheiden. Diese Dimensionen gelten für ganz unterschiedliche soziale Makro- wie Mikrogebilde.3 In den nächsten beiden Abschnitten (3 und 4) soll dieses analytische Modell erst auf das Raum- und Grenzensystem des europäischen Nationalstaats und danach auf die Grenzendynamik der EU angewendet werden. Territorialgrenzen als solche haben eine begrenzte, zumeist nur auf den unmittelbaren Grenzraum bezogene Vergesellschaftungsfunktion (vgl. Eigmüller/Vobruba 2006). Selbst bei territorialen Sozialverbänden, wie Staaten oder Staatsverbünden, resultiert die Dynamik der sozialen Schließung in aller Regel nicht aus der Natur der Grenzen oder vorgegebener sozialer Einheiten (vgl. Simmel 1908). Mein theoretischer Leitgedanke lautet deshalb: Nicht Grenzen an sich bestimmen die interne politische Struktur, sondern politische Institutionen. Genauer: Aus den institutionalisierten Ordnungsideen der jeweiligen politischen Vergesellschaftung ergeben sich Konsequenzen sowohl für die Festlegung und Funktion von Außengrenzen wie für die Art der jeweiligen Binnenordnung (vgl. Lepsius 1990: 234). Grenzen tragen zwar wesentlich zur Stabilisierung der politischen Gemeinschaften und Staaten in ihrem Inneren bei. Insofern sind politische Gemeinschaften und Staaten immer auf Grenzen angewiesen (Offe 1998). Aber Grenzen wirken nicht aus sich heraus ordnungsbildend.4 Die Grenze eignet sich daher auch nicht als unabhängige Variable zur Erklärung von Prozessen politischer Raumbildung. Für die moderne Staatsentwicklung seit der Französischen Revolution erwiesen sich dafür vor allem, wie im nachfolgenden Ab3
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Traditionale Grenzziehungen sind nach Weber für Familien und Sippen typisch, affektuelle beispielsweise für Intimbeziehungen und Sprachvergesellschaftungen, wertrationale für religiöse Gemeinschaften (Mönchsgemeinschaften, Sekten) und zweckrational motivierte Geschlossenheit ist regelmäßig bei Märkten, aber auch bei politischen Vergesellschaftungen zu erwarten (vgl. Weber 1972: 24). In der neueren analytischen Grenzenliteratur dominiert ein konstruktivistisches Verständnis von Grenzen als sozial-räumliches Wechselwirkungsphänomen, wie es klassisch von Georg Simmel entwickelt wurde (Simmel 1908). Damit ist aber das Zuschreibungsproblem nicht geklärt, weshalb es häufig zu einiger Verwirrung kommt. Denn die Soziologie kann Grenzbildungen entweder als Zuschreibungseinheiten von sozialen und politischen Prozessen analysieren. Dann hätten die Grenzen den methodologischen Status einer unabhängigen Variable oder eines Explanans (dafür exemplarisch Turner 1935; Flora 2000). Oder sie betrachtet umgekehrt die gesellschaftlichen und politischen Prozesse, die zu spezifischen Grenzendynamiken führen. Letztere Sichtweise muss der ersten logisch vorausgehen, weil Grenzen erst einmal sozial konstruiert werden müssen, bevor sie auf die gesellschaftliche Strukturierung ein- oder zurückwirken können.
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schnitt gezeigt werden soll, eine Verknüpfung zweier Ordnungsvorstellungen und deren Institutionalisierung als grundlegend: das Prinzip der Volkssouveränität und das der Gebietshoheit. 3
Die Grenzen-Kongruenz des Nationalstaats
Überträgt man Webers Modell der sozialen Schließung auf den Nationalstaat, dann wird deutlich, dass er als politisches Makrogebilde drei5 geschlossene Vergesellschaftungen mit entsprechenden Grenzziehungen kongruent in sich vereint: erstens eine sich in der Sprachkultur, im „Wir-Gefühl“ und im Patriotismus verdichtende affektuelle Schließung; zweitens eine aufgrund des Eigenwerts der partikularen Nation, der Volkssouveränität und der nationalen Solidarität begründete wertrationale Schließung; schließlich drittens einen in der Operationsweise von ökonomischen Märkten und in der zentralisierten Rechts- und Verwaltungssouveränität begründeten Aufbau von selektiven Exit- und Zutrittsbarrieren. Das zeigt, dass es bei der politischen Vergesellschaftung des Nationalstaats zu einer historisch äußerst erfolgreichen grenzenidentischen Symmetrie von zweck- und wertrationaler sowie affektueller sozialer Schließungen mit entsprechender Raumfixierung gekommen ist. Diese besondere institutionalisierte Form der Grenzenidentität umfasst sowohl kognitive wie territoriale, politische wie soziale Schließungsprozesse. Den Nationalstaaten gelang die Verwirklichung einer stabilen Deckungsgleichheit der Grenzen von Kultur (Sprache), Gesellschaft und Politik. Diese kontingente und im Grunde unwahrscheinliche Koextension sozialer Schließungen im Rahmen des Nationalstaats wurde zum selbstverständlichen Bestandteil des Hintergrundwissens moderner Gesellschaften und entsprechend naturalisiert (Anderson 1991; Giesen 1993, 1999). Welche Rolle spielen dabei die politischen Institutionen? Die Institutionalisierung der Leitidee der Volkssouveränität erfordert ein relativ homogenisiertes Kollektivsubjekt als – tatsächliche oder nur vor5
Die „traditionale“ Schließung berücksichtige ich hier nicht weiter, weil sie nicht trennscharf von den anderen Schließungsmechanismen unterscheidbar ist. Traditionelle Beziehungen können sowohl „affektuell“ wie „wertrational“ wie auch „zweckrational“ geschlossen sein. Im Übrigen ist der begriffliche Status heterogen: Während die letzten drei Schließungsmechanismen auf Handlungsmotive verweisen, bezeichnet „traditional“ eine Strukturdimension von sozialen Gebilden.
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gestellte beziehungsweise geglaubte – Zuschreibungseinheit der Selbstkonstituierung und Legitimierung des Nationalstaats, das von anderen Kollektiven – „Völkern“ oder „Bürgergemeinschaften“ – möglichst eindeutig abgrenzbar ist. Die Durchsetzung einer solchen relativen Binnenhomogenität erfolgte bekanntlich in einem langen historischen Prozess, in dem sich die Politik durch die Erzeugung eines nationalen Kollektivs als Referenzeinheit für ihre kollektiv bindenden Entscheidungen gewissermaßen selbst ermöglichte (Luhmann 2000: 210ff.). Dabei wurden zuvor bestehende ethnische Völker – teils durch Unterdrückung, teils durch rituelle, kulturelle oder institutionelle Konstruktion kollektiver Identitäten – in politische Nationen und Staatsvölker überführt. Die Bindung der kollektiven Identität an ein Territorium wurde zu einem zentralen Merkmal der modernen Staatsbürgernation (Eisenstadt 2000: 42). Der abstrakte Raumbezug tritt dabei an die Stelle der „mittelalterlichen Bindungen kirchlicher, feudalrechtlicher und ständischer Art“ (Schmitt 1950: 116). Der Raum als Kollektiv begründende und identitätsstiftende Sinndimension ist eine abstrakte und objektivierte Herkunftsund Zugehörigkeitskategorie, die die bestehenden gesellschaftlichen Differenzierungen nach Ethnien, Klassenzugehörigkeit, Konfession, Region und Lokalität zu überwölben und in einer „imagined community“ (Anderson 1991) aufzuheben vermag. Das Territorium eignet sich daher auch in der gegenüber transzendentalen und geburtsständischen Legitimationsmustern weitgehend indifferenten Moderne besonders gut zur „natürlichen Klassifikation“ von Menschen (vgl. Giesen 1993: 48ff.). Damit ermöglicht der Sinn des Raums eine Primordialisierung von kollektiven Identitätskonstruktionen als paradoxes soziales Konstrukt. Eine Paradoxie ist diese Primordialisierung deshalb, weil in der modernen Gesellschaft durch den permanenten sozialen Wandel gerade der die Blutsabstammung verdinglichende „Stammesverwandtschaftsglaube“ (Max Weber), die lokal begrenzte soziale Kommunikation und damit die traditionellen Kultgemeinschaften zunehmend ihre Integrationskraft einbüßen (vgl. Weber 1972; Smith 2000). Die räumliche Vorstellung einer gemeinsamen nationalen Herkunft – im Wort ‚natio’ verschmelzen die Semantiken „räumliche Herkunft“ und „Volkszugehörigkeit“ zur Sinneinheit eines kollektiven „Hineingeborenwerdens in ein Land“ (vgl. Brunner et al. 2004: Bd. 7, 214ff.) – erweist sich in der Moderne als eine der wirksamsten „Kontingenzformeln“ im Sinne Luhmanns (Luhmann 2000: 118ff.). Das Kontingente der territorialen Herkunft der Menschen wird durch diese Vorstellung in etwas Notwendiges und normativ Verpflichten160
des verwandelt, in die Vorstellung, dass das Gemeinsame und Verbindende „an jene dingliche Ordnung der Welt gebunden (ist), die durch willkürliches Handeln scheinbar nicht verändert werden kann“ (Giesen 1993: 48). Territoriale Grenzen erfahren also in der Moderne eine Naturalisierung. Damit fungieren sie auch als Symbolisierungen von Eigenheit und Alterität. Kollektive Selbstbeschreibungen in termini von Landesangehörigkeit ziehen vor allem Grenzen zu Landesfremden, zu Menschen anderer Nationalität und regionaler Herkunft. Deshalb konnten Staatsgrenzen konstitutive Funktionen für die nationale Identitätsbildung im Sinne eines Zusammengehörigkeitsgefühls unter sozial Fremden übernehmen. Noch vor jeder materiellen Identifikation mit konkreten Kulturinhalten, wie Sprache, Geschichte, Mentalität oder politische Verfassung, legt die rein räumliche, auf ein abstrakt abgegrenztes Herrschaftsterritorium bezogene Herkunftsbestimmung das kognitive Fundament für einen Gemeinsamkeitsglauben von Bevölkerungen. Deshalb konnte sich der Raumbezug zu einer der wichtigsten Katalysatoren für nationale Identitätsbildung entwickeln. Deshalb eignen sich Raum und Grenzen aber auch nicht für politische Verhandlungen und den politischen Tausch, soweit sie kollektive Identitäten anzeigen.6 Diese Art von Grenzkonstruktionen ist, weil es sich um kollektive Identitätskonstrukte handelt, prinzipiell nicht verhandlungsfähig. Es sind häufig Quellen von „nicht-trivialen Konflikten“ (Luhmann 2000: 218) – ethnische Konflikte, religiöse Konflikte, Identitätskonflikte. Diese lassen sich nicht auf reine Interessenkonflikte reduzieren und entziehen sich daher der Logik von Verhandlungsregimes und „distributivem Bargaining“ mit Hilfe von Koppelgeschäften, Tauschhandel oder Paketlösungen (vgl. Scharpf 2000: 214ff.). Im Gegenteil, jede Veränderung von Grenzen geht unweigerlich mit Spannungen und sozialen Konflikten einher, wenn sie räumlich definierte kollektive Identitäten und damit die Sinndimension politischer Vergemeinschaftungen infrage stellen. Werte und Überzeugungen, Loyalität, soziale und politische Anerkennung sowie kollektive Zugehörigkeitsdefinitionen und Identifikati6
Selbstverständlich hat es in der Geschichte immer, besonders nach Kriegen, Gebietsverhandlungen gegeben. Dabei ging es meist darum, unter den Siegern zu klären, welches Territorium zu welchem Staat gehört. Dabei wird über die Lage von Grenzen verhandelt, wobei einerseits Territorien geteilt werden, andererseits auf soziale Identitäten der auf den Gebieten lebenden Bevölkerung keine Rücksicht genommen wird. Exemplarisch dafür sind der Westfälische Frieden von 1648, der Vertrag von Versailles von 1919 oder die Konferenz von Potsdam von 1945 (siehe dazu Iklé 1964, 1971).
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onen sind weder quantifizierbar noch teilbar und daher durch NichtVerhandelbarkeit charakterisiert.7 Aber erst in Verbindung mit dem Institutionengefüge und der politischen Macht des Staats erhält die Raumbindung kollektiver Identitäten ihre volle historische Tragweite und Handlungsrelevanz. Das ist in erster Linie durch die Geltung der staatlichen Verwaltungs- und Rechtsordnung bedingt. Die „Gebietshoheit“ des Staats beansprucht, wie schon Max Weber darlegte, Geltung „nicht nur für die – im wesentlichen durch Geburt in den Verband hineingelangenden – Verbandsgenossen, sondern in weitem Umfang für alles auf dem beherrschten Gebiet stattfindende Handeln“ (Weber 1972: 30). Gebietshoheit kann daher auch als Chiffre für den allumfassenden und abstrakten Herrschaftsanspruch des modernen Staats verstanden werden. Souveränität definiert sich dabei nicht mehr, wie noch im Mittelalter und bis zum 16. Jahrhundert üblich, allein über die rechtliche und militärische Kontrolle des Territoriums eines Fürsten. Der Begriff „Gebietshoheit“ ist gleichbedeutend mit dem modernen Begriff der Souveränität, wie ihn Michel Foucault (2006) definierte: mit Gouvernementalität. Das heißt: „Regieren von Bevölkerungen“ und nicht mehr nur Recht begründende „Landnahme“ (Schmitt 1950) und politisch-militärische Sicherung des Fürsten und seiner Gebietsherrschaft. Bevölkerung und Territorialität sind in dieser Perspektive komplementäre politische Dimensionen. Aber auch die Bevölkerung ist ein abstraktes und eigensinniges, tatsächlich nur über aggregierte Daten (vor allem Wirtschafts- und Sozialstatistiken) in ihren „Interessen“ und „Erwartungen“ beobachtbares soziales Konstrukt der Politik. Seit dem Merkantilismus und Kameralismus bildet die Bevölkerung ein „privilegiertes Korrelat der modernen Machtmechanismen“ (Foucault 2006: 120). Diese zielen hauptsächlich darauf ab, über die Selbstermöglichung und Kontrolle von sozialen und ökonomischen „Zirkulationen“, die „produktiven Kräfte“ einer Bevölkerung freizusetzen, positive Wohlfahrtseffekte durch geeignete Steuerung zu stimulieren und öffentliche Ressourcen im Interesse einer Maximierung der ökonomischen Leistungsbilanz zu investieren. Grenzen markieren unter diesem Blickwinkel immer auch den Bezugsraum eines 7
Das bedeutet nicht, kollektive Identitäten spielten bei Verhandlungen generell keine Rolle. Im Gegenteil, sie können gerade auch bei Verhandlungen (z.B. bei industriellen Beziehungen oder zwischenstaatlichen Friedensverhandlungen) strategisch zum Tragen kommen, etwa als Destabilisierungsdrohung für die bestehende Ordnung oder auch als Katalysator für Identitätsstärkungen (vgl. Pizzorno 1978; Rusconi 1984).
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politisch und institutionell definierten „Gemeinwohls“. Das Territorialprinzip des cuius regio eius religio erweiterte sich so mit der „Emergenz der Bevölkerung“ als produktiver Kraft und naturalisiertem Objekt der staatlichen Machtökonomie zum cuius regio eius oeconomia (vgl. Foucault 2006: 103ff.). Die territorialen und mit Bezug auf Bevölkerungen koextensiven Volkswirtschaften werden dadurch gewissermaßen politisch verfügbar. „Das Territorium nicht mehr befestigen und markieren, sondern die Zirkulationen gewähren lassen, die Zirkulationen kontrollieren, die guten und die schlechten aussortieren, bewirken, dass all dies stets in Bewegung bleibt, sich ohne Unterlass umstellt, fortwährend von einem Punkt zum nächsten gelangt, doch auf eine solche Weise, dass die diesen Zirkulationen inhärenten Gefahren aufgehoben werden“ (Foucault 2006: 101). Territorialherrschaft bezieht sich somit immer auch auf Bevölkerungen. Gebietsherrschaft unterscheidet sich von anderen Formen der Herrschaft, wie etwa dem Markt, dadurch, dass sie die auf einem umgrenzten Territorium lebende Bevölkerung regiert. Territorium und Bevölkerung sind somit zwei konstitutive Dimensionen von Gebietsherrschaft. Souveränität hat ein Doppelgesicht: Sie zielt auf Sicherung des Territoriums einerseits und andererseits auf Regieren von Bevölkerungen – beides sind unverzichtbare Voraussetzungen für die Selbstermöglichung von Politik in der Moderne (vgl. Luhmann 2000: 212f.). Fassen wir die bisherige Analyse zusammen: Der moderne Nationalstaat als Einheit von Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt konstituiert und legitimiert sich selbstbezüglich durch territoriale Grenzziehungen und durch Bezugnahme auf Bevölkerungen, als deren gemeinsames Band die territoriale Herkunft (natio) einerseits und das naturalisierte Klassifikationsschema der nationalen Kollektividentität gelten. Sowohl die Art und Ausdehnung der Grenzen des Territoriums wie die kulturellen Selbstbeschreibungen und Abgrenzungen des Kollektivsubjekts werden wesentlich durch „Volkssouveränität“ und „Gebietshoheit“, den grundlegenden politischen „Kontingenzformeln“ der modernen Staatlichkeit, bestimmt. Das bestätigt die These von der Vorrangigkeit der politischen Institutionenbildung gegenüber der Grenzbildung. Die Außengrenzen des Herrschaftsgebiets decken sich mit den naturalisierten Selbst- und Fremdklassifikationen der Bevölkerungen, die als segmentär strukturierte „Nationalvölker“ politisch konstituiert sind. Dadurch ermöglicht sich der Nationalstaat selbst als eine grenzenziehende Macht, die sich in der Aufrechterhaltung der Koextension von
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politischer, volkswirtschaftlicher und sozialer Schließung und in der Kongruenz der damit korrespondierenden Systemgrenzen evolutionär bewährt. Staatsgrenzen sind, auch das zeigt uns die Entwicklung des Nationalstaats eindringlich, selbst komplexe multidimensionale Institutionen der sozialen Schließung. Staatsgrenzen sind Mechanismen der Schließung von Herrschaftssystemen und Gesellschaften; sie bilden zugleich Katalysatoren für das Zustandekommen von politischen Gemeinschaften mit kollektiver Identität. Darüber hinaus wirken sie als Regulative für das binnenstaatliche Gemeinwohl, gleichsam als „decision points“ (Offe 1998: 102) für die positive wie negative Saldierung von ökonomischen Wohlstandseffekten. Grenzen sind zudem Zuschreibungseinheiten für kulturelle Abgrenzung und damit Referenzgrößen für die Definition von legitimer Zugehörigkeit einerseits und Fremdheit beziehungsweise Alterität andererseits. Damit bilden sie einen konstitutiven Bezugsrahmen für die Selbstbeschreibung von Kollektivsubjekten und für die Selbstermöglichung von Politik im Rahmen moderner, auf den Ideen der Volkssouveränität und der Gebietshoheit beruhenden staatlichen Verfassungen. Grenzen erweisen sich dabei zugleich als Konflikt- und Kontaktzonen, als Orte des sozialen Austauschs oder als Separationslinien. In jedem Falle aber sind diese Arten von Grenzkonstruktionen, wie wir sahen, nicht verhandlungsfähig. Aufgrund ihres prä-reflexiven Charakters, der die Selbstbeschreibungen der nationalen Kollektive der Selbstbeobachtung enthebt, entziehen sie sich der Berechenbarkeit, Teilbarkeit und einem Interessenausgleich über politischen Tausch und „distributives Bargaining“. Grenzen kollektiver Identitäten sind grundsätzlich nicht verhandlungsfähig und damit in gewisser Weise gegen die Logik des politischen Tauschs immun. Anders verhält es sich mit den Grenzen eines politischen Verbands, wie der EU. Hier sind Grenzen Objekte und Ergebnisse von zwischenstaatlichen Verhandlungsprozessen im Rahmen des europäischen Verhandlungs- und Rechtssystems. 4
Funktions- und Bedeutungswandel der Grenzen in der EU
In Europa deutet seit mehreren Jahrzehnten vieles auf eine grundlegende Neustrukturierung der überkommenen Raumordnung und auf die Herausbildung eines neuen europäischen Grenzensystems hin. Dabei werden, wie oben in der Einleitung bereits angedeutet, einige Grenzen durchlässiger, 164
andere aufgerichtet oder verstärkt; kollektive Identitäten und politische Gemeinschaften formieren sich zum Teil neu, andere erfahren einen Bedeutungsverlust oder eine Entwertung. Auch sind seit dem Fall des Eisernen Vorhangs und im Zuge der letzten EU-Erweiterungen zum Teil neue politische und soziale Konfliktherde entstanden; es wurden aber auch welche entschärft oder neutralisiert. Die entscheidende Rolle bei dieser Neustrukturierung der territorial-politischen Ordnung spielt das politische Großprojekt der Europäischen Integration. Aber es gibt in Europa auch Grenzbildungen, die von der EU-Politik gar nicht oder nur marginal tangiert werden (zum Beispiel auf dem Balkan). Europa befindet sich somit in einem komplexen und spannungsreichen Prozess des Grenzenabbaus und des Grenzaufbaus, der Relativierung traditioneller Funktionen von Grenzen, bei gleichzeitiger Überlagerung mit neuen Aufgaben und Bedeutungen. Dabei entsteht eine historisch beispiellose Konstellation von Grenzen und Räumen. Im Folgenden konzentriere ich mich auf Grenzbildungen im Zusammenhang mit der Europäischen Integration. Mit der in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts einsetzenden Europäischen Integration werden die bisherigen Grenzen der Staaten teilweise neu definiert, womit der Nationalstaat zunehmend seine Selbstverständlichkeit und die ihm zugeschriebene Naturalität als politisches und kulturelles Schließungsmodell einbüßt. Mit anderen Worten: Der Prozess der Europäischen Integration irritiert das Ordnungsmodell des geschlossenen Nationalstaats. Dies in zweifacher Hinsicht: einerseits durch die Überlagerung der Grenzen der Mitgliedstaaten mit neuen Bedeutungen und Funktionen; andererseits durch das Auseinandertreten und die Dissoziation der Beziehungen zwischen affektuellen, wertrationalen und zweckrationalen sozialen Schließungen. Ich verwende für diese Prozesse der Überlagerung und Asymmetrisierung im Folgenden den Begriff institutionelle Supercodierung, weil es sich um einen Prozess des Bedeutungs- und Funktionswandels von Grenzen handelt, der von den Institutionen und der „Institutionenpolitik“8 der EU ausgeht und wesentlich von deren Logik geprägt wird.
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„Institutionenpolitik“ lässt sich mit Lepsius (1995: 393-403, insbesondere 400) als „die bewusste Einflussnahme auf den Grad und die Richtung der Leitideen, die institutionalisiert oder de-institutionalisiert werden“ bestimmen.
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a) Friedfertigkeit Ein grundlegendes Kennzeichen der gegenwärtigen europäischen Ordnung ist die Friedfertigkeit der Grenzendynamik. Der Funktions- und Bedeutungswandel der Grenzen im Zuge der europäischen Einigung geht praktisch mit ganz wenigen Ausnahmen (Gibraltar, kroatisch-slowenischer Grenzkonflikt, Zypern) konfliktfrei vonstatten (vgl. Anderson/Bort 2001: 174). Das unterscheidet die heutige Situation grundlegend von früheren historischen Epochen, in denen Verschiebungen von Staatsgrenzen meist im Zusammenhang mit zwischenstaatlichen Kriegen, seien es Erbfolge-, Religions- oder Eroberungskriegen, standen (vgl. Anderson 1996: 13ff.; Münkler 2006). So verbindet sich mit den Staatsgrenzen traditionell die Vorstellung von strategisch-militärischen Konflikt- und Trennzonen, an denen oder um deren Veränderung in der europäischen Geschichte vielfach Machtkonflikte militärisch ausgetragen wurden. Im gegenwärtigen Europa hängt die Neustrukturierung der Grenzen- und Raumordnung dagegen von dem pacta sunt sevanda der politischen Verhandlungen und völkerrechtlichen Paktierungen auf europäischer Ebene ab, mithin von den vertraglichen Verpflichtungen, die die europäischen Leviathane freiwillig eingehen. Die Selbstbindung erfolgt in erster Linie nach Maßgabe der Leitideen und Verfahren der Europäischen Union und damit gemäß einer institutionellen Logik, die auf politische Kooperation und Konfliktvermittlung unter den beteiligten Staaten zielt. Dabei handelt es sich zwar in gewisser Hinsicht um eine Institutionalisierung des Misstrauens, insofern die Mitgliedstaaten durch eine unabhängige dritte Institution, die das Initiativmonopol in der Gesetzgebung innehat und mit eigenständigen Entscheidungs- und Kontrollkompetenzen ausgestattet ist – die EU-Kommission – in der Verfolgung ihrer Eigeninteressen begrenzt und zur Kompromissfindung gebracht werden (vgl. Bach 2008). Durch diesen institutionalisierten Zwang9 zur Kooperation in den Organen und Komitees der EU und durch die Erhöhung der Interaktionsrate, die eine Iteration des Spiels erzwingt, wird eine stabile und selbsttragende Kooperation ermöglicht und Vertrauen nicht nur in die supranationalen Institutionen selbst, sondern auch bei den Mitgliedstaaten im Verhältnis zueinander gebildet (vgl. Axelrod 1987). Jedenfalls treten militärisch-strategische Aspekte dabei in den Hintergrund; sie sind als Handlungsoptionen im EU9
Zur Analyse der Handlungsstruktur von „Zwangsverhandlungssystemen“ siehe Scharpf 2000: 243ff.
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System nicht nur präskriptiv, sondern auch strukturell delegitimiert. Die kontinuierliche institutionalisierte Kooperation ersetzt somit die konflikthafte Konfrontation. Das normative Postulat der Konfliktlosigkeit, die institutionalisierte Praxis der Kooperationsstabilisierung in den zwischenstaatlichen Relationen sowie das Beharren auf territoriale Integrität innerhalb der bestehenden Grenzen durch die EU bedingen einen grundlegenden Bedeutungs- und Funktionswandel der Staatsgrenzen in Europa. Zwei gegenläufige Entwicklungen erweisen sich als durchschlagend: die politisch beschlossene und gesteuerte De-Institutionalisierung von funktionalen zwischenstaatlichen Grenzen als Folge der Verwirklichung des paktierten Kooperationsprojekts des europäischen Binnenmarkts einerseits, die Konstituierung der EU-Außengrenzen als Folge der EU-Erweiterungen durch Kooptation neuer Mitgliedstaaten andererseits. In beiden Fällen kommt eine europäische Supercodierung der bestehenden Staatsgrenzen zum Tragen. b) Europäische Supercodierung der Grenzen durch den Binnenmarkt Den bedeutendsten Funktionswandel erfuhren die zwischenstaatlichen Grenzen der EU-Mitgliedstaaten10 im Prozess der Integration dadurch, dass tarifäre sowie technische und andere nicht-tarifäre Hindernisse, die den Mitgliedstaaten hauptsächlich zum Schutz der nationalen Güter-, Kapitalund Arbeitsmärkte dienten, deinstitutionalisiert und damit funktional bedeutungslos wurden. Einzelstaatliche Rechtsnormen, mit denen die Kosten für Exit- und Zugangsoptionen beim grenzüberschreitenden Güter- und Kapitalverkehr hoch- und mit Hilfe systematischer Grenzkontrollen aufrechterhalten wurden, traten im Zuge der Umsetzung des europäischen Binnenmarktrechts seit der zweiten Hälfte der 1980er Jahre praktisch außer Kraft. Dadurch erfolgte eine Institutionalisierung der ökonomischen Rationalitätskriterien der „vier Freiheiten“ – Güter-, Kapital- und Dienstleistungsfreiheit sowie Freizügigkeit –, von denen die politischen und ökonomischern Eliten durchweg positive Skalen- und Wohlstandseffekte für den gesamten binneneuropäischen Wirtschaftsraum, mithin ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum, höhere Kapitalrenditen, einen Zuwachs an Arbeitsplätzen, eine Optimierung von Vermarktungschancen und dergleichen mehr, erwarteten (dazu 10
Siehe dazu und zum Folgenden die ausführliche Darstellung der Grenzpolitiken der EU von Mau 2006.
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kritisch: Bach 2008). Vorausgegangen war dem eine Reihe einschneidender institutioneller Weichenstellungen. Dazu gehört nicht nur die systematische Aufwertung des europäischen Rechts als grundsätzlich vorrangig gegenüber dem einzelstaatlichen Normensystem durch die Rechtsprechung des EuGH (vgl. Münch 2008: 64ff.). Eine weitere Weichenstellung erfolgte durch die von den Mitgliedstaaten mit der Einheitlichen Europäischen Akte (1986) ausgehandelte Vereinfachung der Abstimmungsverfahren. Seitdem sind bei binnenmarktbezogenen Beschlüssen prinzipiell Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat möglich. Damit wurden die Chancen auf einzelstaatliche Vetoblockaden nachhaltig erschwert. Die Abwertung der Binnengrenzen im Zuge der Umsetzung des Maßnahmepakets der EU-Kommission zur Verwirklichung des europäischen Binnenmarkts unter der Präsidentschaft Jacques Delors’ ist somit eine Konsequenz der erfolgreichen intergouvernementalen Verhandlungen auf europäischer Ebene, die zu einer relance des Integrationsprojekts führten. In diesem Zusammenhang kann deshalb von einer europäischen Supercodierung gesprochen werden, weil die zwischenstaatlichen Grenzen nunmehr dem höheren, dem supranationalen Recht unterliegen. Das europäische Recht erzwingt deren Durchlässigkeit und relativiert damit die Grenzen in ihren traditionellen ökonomischen Schließungsfunktionen. Sind die Weichen im Funktionssystem der Warenökonomie erst einmal auf Durchlässigkeit und Minimierung von Transaktionskosten umgestellt, entfaltet sich schon aufgrund der dem Markt inhärenten funktionalen Interdependenzen eine Eigendynamik, die zunehmend weitere gesellschaftliche Funktionsbereiche für grenzüberschreitende Öffnung verfügbar macht. Beispiele sind die Maßnahmen zur Verwirklichung der Dienstleistungsfreiheit, zur Anerkennung von Bildungszertifikaten oder zur Einführung der einheitlichen Währung. c) Europäische Supercodierung durch Konstitution der EU-Außengrenzen Das europäische Integrationsprojekt zielt grundsätzlich auf territoriale Expansion, dessen „Vollendung“ im Sinne eines „moving target“ durch schrittweise Kooptation weiterer europäischer Mitgliedstaaten, mithin ebenfalls auf dem Verhandlungsweg, erfolgt. Es ist somit ein prinzipiell offenes und expansiv angelegtes Projekt, dessen geographische Grenzen in den Gründungsverträgen materiell nicht näher definiert wurden. Die Verträge enthalten weder geographische noch kulturelle Präzisierungen, auf deren Grundla168
ge man eine eindeutige Unterscheidung zwischen Europa einerseits und nicht zu Europa gehörigen Ländern andererseits treffen könnte. Obwohl laut EU-Vertrag Anträge auf Mitgliedschaft explizit nur von „europäischen Staaten“ angenommen werden können (§ 49 EUV), bleibt in den Vertragstexten das Attribut „europäisch“ (zum Beispiel „europäischer Kontinent“, die „europäischen Völker“) ebenso vage wie die gemeinte geographische Ausdehnung Europas. Konkretere Aufnahmebedingungen finden sich hingegen dort im EUV, wo die Achtung und Förderung von Werten wie Demokratie, Menschenrechte, Marktfreiheit, Rechtstaatlichkeit, Minderheitenschutz bestimmt werden. Dabei handelt es sich allerdings um universale Anforderungen, die nicht als spezifisch europäische Werte oder Kulturinhalte bezeichnet werden können. Der inhaltliche Konkretisierungsgewinn der so genannten Kopenhagener Kriterien wird durch deren globalen Geltungsanspruch gewissermaßen konterkariert. Demnach verkörpert die EU in dem im Reformvertrag von Lissabon nochmals bekräftigten11 Bekenntnis zu Wertbeziehungen keinen grundsätzlich neuen Wertehorizont, sondern, wie M. Rainer Lepsius (2006: 118) feststellte, „ein ‚Weltmodell‘, aus dem kein spezifisch europäischer Eigenwert folgt, auf dem eine Identifikation aufbauen könnte.“ Die Frage der geographischen Grenzen Europas, insbesondere im Osten und im Südosten, bleibt daher ebenso ungelöst wie die Grenzen des genuin europäischen Wertehorizonts. Daran änderte auch die letzte große Erweiterung der EU um die Länder Mittel- und Osteuropas grundsätzlich nichts. Deren Zugehörigkeit zum Territorial- und Kulturraum Europa stand sowohl für die betreffenden Staaten selbst wie für die EU insgesamt außer Frage. Die Kopenhagener Beschlüsse von 1993, mit denen die EU-Osterweiterung auf Beschluss des Europäischen Rats eingeleitet wurde, konnten zwar von der Selbstverständlichkeit der kulturellen Zugehörigkeit der mittelosteuropäischen Länder ausgehen, was die öffentliche Akzeptanz der Erweiterungsziele erhöhte. Gleichzeitig wurden aber die bereits angesprochenen, von konkreten kulturellen und geographischen Gegebenheiten abstrahierenden, universalen Beitrittskriterien festgeschrieben. Diese waren letztlich ausschlaggebend bei der Heranführung der Beitrittskandidaten an die EU. Darin kommt eine grundlegende Ambivalenz von geographisch-kulturellen und universal-politischen Selbstbildern des europäischen Verbands 11
Siehe auch Art. 2 des Reformvertrags von Lissabon, wo sich die „Werte der Union“ aufgelistet finden.
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zum Ausdruck. Dieses ungelöste Spannungsverhältnis wird die zukünftigen Beitrittsverhandlungen nachhaltig belasten. Es überschattete bereits die 2005 eröffneten Beitrittsverhandlungen mit der Türkei: Erstmals in der Geschichte des europäischen Verbands12 wurde in der öffentlichen Debatte die Zugehörigkeit eines Beitrittskandidaten unter geographischen sowie kulturellen Gesichtspunkten infrage gestellt (vgl. Madeker 2008). Hierin tritt der Widerspruch zwischen den präziser bestimmbaren universalen Beitrittskriterien einerseits und der nur vage konstruierten „Europäizität“ andererseits offen zutage. Eine Lösung dieser Ambivalenz, die letztlich auf den Antagonismus zwischen primordialen oder „euronationalistischen“ Grenzziehungen einerseits und den pragmatischen und politisch definierten Wert- und Rationalitätskriterien, die sich vor allem die EU-Kommission zu eigen macht, andererseits beruht, ist nicht absehbar. Vielleicht handelt es sich um ein unlösbares Grundproblem der strukturellen Identitätsschwäche der Europäischen Union und Europas insgesamt. Das wird jedenfalls auch in Zukunft die Erweiterungsfrage der EU stets offen und in der Schwebe halten. Das verdeutlicht auch den politischen Charakter jeder Entscheidung über Aufnahme oder Nichtaufnahme von weiteren Staaten. Denn wenn sich weder aus den EU-Verträgen noch aus den traditionellen geographischen Europavorstellungen verbindliche und deutungsfähige Anhaltspunkte für Grenzziehungen ergeben, dann werden auch die zukünftigen Erweiterungsentscheidungen der EU letztlich immer von zufälligen Machtkonstellationen und strategischen Interessen, wie etwa die Sicherung der Energieversorgung, das Interesse an Migrationskontrolle oder am Schutz der wohlhabenden Kernzone vor unerwünschten Nebenfolgen der Erweiterungen13, abhängen und keinem kohärenten Integrationsplan folgen. Halten wir fest: Die EU-Außenabgrenzung wird nicht durch eine kulturell und gesellschaftlich homogene Ordnung gebildet, sondern durch Beitritte bestehender und politisch verfasster Staaten zum europäischen Verband auf der Basis von zwischenstaatlichen Verhandlungen und von Kooptatio12
13
Abgesehen vom Beitrittsgesuch Marokkos aus den späten 1980er Jahren, der von der Kommission mit der Begründung abgelehnt wurde, das Maghreb-Land sei kein „europäischer Staat“ im Sinne des EG-Vertrags. Das war bisher, so weit ich sehe, das einzige Mal, dass ein Beitrittsgesuch eines Landes mit Verweis auf Art. 49 EGV abgelehnt wurde (vgl. Bainbridge 2002: 386). Zur Perpetuierungstendenz der Erweiterungsdynamik infolge der Schutzinteressen der ökonomischen Zentren der EU ausführlich Vobruba 2007.
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nen. Es sind transnational ausgehandelte Verbandsgrenzen. Die EU-Außengrenze zieht sich entlang der Staatsgrenzen von Mitgliedsländern, die an Nicht-EU-Länder angrenzen. Sie ist aber im strengen Sinn keine Staatsgrenze. Sie markiert stattdessen die Reichweite des Geltungsraums des Europarechts sowie die Ausdehnung des europäischen Raums der institutionalisierten zwischenstaatlichen Kooperation. Die EU-Außengrenze trennt die EUStaaten, die untereinander eine relative Kohäsion im wirtschafts- und außenpolitischen Handeln aufweisen, von jenen Staaten, die im Vergleich dazu überwiegend einzelstaatlich isoliert handeln beziehungsweise in einem loseren Assoziationsverhältnis zur EU stehen. Die EU-Außengrenze wird vor allem durch die europäische Verhandlungs- und Institutionenpolitik konstituiert und dabei kommt der EU-Migrationspolitik eine Schlüsselrolle zu. d) Migrationspolitisches Grenzmanagement Alle territorialen Sozialsysteme unterliegen einer je eigenen Dialektik der Grenzüberschreitung und der Grenzbefestigung, weil keine Raumöffnung ohne erneute Schließung denkbar ist (vgl. Rokkan 2000). Im Zuge der Verwirklichung des europäischen Binnenmarkts sowie als Folge von Beitritten neuer Mitgliedsländer bildet sich im integrierten Europa mit den so genannten EU-Außengrenzen ein genuin europäisches Grenzenregime heraus. Dieses trägt nicht nur zur Befestigung der EU-Außengrenzen, sondern auch zur Regulierung der Beziehungen zu den angrenzenden Randstaaten außerhalb der EU bei. Erst durch die Herausbildung eines eigenen „europäischen Genzverwaltungssystems“ (Tohidipur/Fischer-Lescano 2009) entwickeln sich die EU-Außengrenzen zu handlungsrelevanten Institutionen mit europäisch überlagerten Schließungsfunktionen. Der entscheidende Handlungsbedarf auf europäischer Ebene ergibt sich aus dem gemeinsamen Interesse der EU-Mitgliedsländer, nach Wegfall der Binnengrenzkontrollen im Rahmen des Schengen-Besitzstands, verstärkte Kontrollen an den Grenzen jener Mitgliedsländer sicherzustellen, die zugleich EU-Außengrenzen sind. Mit der Übernahme des Schengen-Übereinkommens in den EU-Rechtsbestand im Jahre 1999 beseitigten die Unterzeichnerstaaten die Personenkontrollen sowie die materiellen Grenzkontrollanlagen an den Binnengrenzen und schufen gemeinsame Regelungen über Kontrollen an den Außengrenzen. Dazu gehört eine gemeinsame Visapolitik, flankierende Maßnahmen wie verbesserte polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit sowie der 171
Aufbau des Schengener Informationssystems (SIS), eine zentrale Datenbank für gesuchte Personen, Gegenstände und Fahrzeuge. Zugleich trat die EUKommission als grenzpolitischer Akteur aus den Schatten des traditionalen nationalstaatlichen Grenzenmonopols und betrieb planmäßig die Institutionalisierung eines weitgehend verselbstständigten EU-eigenen Grenzenregimes. Die rechtliche Grundlage dafür ist der Schengener Grenzkodex von 2006, mit dem die EU ihren Randstaaten strenge und verbindliche Vorgaben macht, wie die EU-Außengrenzen zu schützen und zu kontrollieren sind. Die administrative und polizeiliche Grenzsicherung übernimmt seit 2005 eine durch die Kommission in eigener Kompetenz als dezentralisierte Verwaltungskörperschaft gegründete Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an Außengrenzen, auch FRONTEX (von frontières extérieures abgeleitet) genannt.14 FRONTEX ist zuständig für die Koordinierung der operativen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten im Bereich des Schutzes der Außengrenzen, für die Ausbildung von Grenzschutzbeamten, die Durchführung von Risikoanalysen. Ihren Aufgaben kommt die Agentur durch die Zusammenlegung von grenzschutzrelevanten Ressourcen und Experten, die Optimierung des Informationsaustauschs zwischen nationalen Datenbanken, die Durchführung von Operationen zum Schutz der Land-, See- und Luftgrenzen sowie durch die Implementierung eines Grenzkontrollregimes mit wanderungsroutenspezifischen Einsatzformen nach.15 Die FRONTEX-Agentur bildet den institutionellen Kern der integralen europäischen Grenzbildungsstrategie zum Schutz der EU-Außengrenze. Das europäische Regime zur Abwehr unerwünschter Einwanderung aus Drittstaatenländern konstituiert somit die EU-Außengrenzen als handlungsrelevante Rechts- und Kontrollinstitutionen. Damit ist die Überwachung des Zugangs von Drittstaatenangehörigen zur EU „weitestgehend europarechtlich geregelt“ (Weinzierl 2009: 375). Die EU-Außengrenze erhält eine eigene Rechtsqualität, die EU-Außengrenze konstituiert sich als handlungsrelevante euro14
15
Für eine umfassende Darstellung zu den Aufgaben, Kompetenzen, zum Rechtsstatus und zur Arbeitsweise von FRONTEX siehe Tohidipur/Fischer-Lesacano 2009; außerdem Weinzierl 2009 mit normativem Bezug auf die Menschenrechtsproblematik. Beispielsweise die Rapid Border Intervention Teams (RABITs) oder das European Patrols Network. In den Jahren 2006/2007 führte FRONTEX auf den vier Hauptrouten der Migration – die südlichen Seeaußengrenzen, die östlichen Landaußengrenzen, der Balkan und die bedeutenden internationalen Flughäfen – mehrere operative Einsätze, unter Beteiligung von bis zu sieben EU-Staaten, durch (vgl. Tohidipur/Fischer-Lescano 2009).
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paweit agierende Rechtsinstitution. Obwohl die FRONTEX-Statuten formal die nationale Grenzkontrollkompetenz unangetastet lassen, führt die faktische Bündelung der Bedarfs- und Einsatzplanung, der technischen und personellen Ausstattung sowie der operativen Koordinierung und Durchführung der Grenzkontrollen in der Agentur zu einer Monopolisierung der Grenzschutzfunktionen in ihrer Hand. Die Kosten der Grenzkontrollen an den EU-Außengrenzen tragen nunmehr alle Mitgliedstaaten zusammen; sie wurden vergemeinschaftet, obwohl zwischen den Mitgliedstaaten weder von einer Interessenhomogenität auszugehen ist noch ein EU-internes Lastenverteilungssystem erkennbar ist. Die Ausdifferenzierung des europäischen Grenzensystems ermöglicht es den an verschärften Außengrenzkontrollen interessierten Mitgliedstaaten, die Kosten für das Grenzregime entweder in die EU oder in die Peripheriestaaten zu externalisieren. Zugleich gestattet das europäische Genzenmanagement, insbesondere an den Seeaußengrenzen der EU, eine weitgehende Entbindung von menschenrechtlichen Verpflichtungen sowie eine effektive Vorverlagerung der Grenzkontrollen in die Hoheitsgebiete im Vorfeld der territorialen EU-Außengrenzen, etwa auf hoher See im Mittelmeer und im Atlantik, auf Schiffen oder auch in den Abfahrtshäfen in den Maghrebstaaten (vgl. Weinzierl 2009). Ein zentrales Charakteristikum des europäischen Grenzenregimes ist dessen Verhandlungsabhängigkeit. Der Abbau der Binnengrenzen im Zuge der Verwirklichung des europäischen Markts, die Einstellung der Personenkontrollen im Schengen-Raum sind ebenso Resultate von zwischenstaatlichen Verhandlungen und Paktierungen wie die Expansion der EU-Außengrenzen als Folge der ausgehandelten Kooptation neuer Mitglieder in den europäischen Verband. Mit den Verhandlungen über den Aufbau eines EUeigenen Grenzregimes im Rahmen des Schengener Grenzenkodex, der FRONTEX-Aktivitäten und besonders auch der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP)16 berühren die Verhandlungen direkt die Grenzsicherung, mithin die territoriale Schließungsfunktionen der EU-Verbandsgrenzen. Dabei ist eine folgenreiche „Modifizierung des politischen Tausches“ festzustellen (vgl. Eigmüller/Vobruba 2009), die mit der Konstituierung der äußeren Grenzen der Randstaaten als gemeinsame EU-Außengrenze und insbesondere mit dem Übergang von der Erweiterungspolitik zur Europäischen Nachbarschaftspolitik zusammenhängt. Als Gegenleistung für die 16
Zur ENP siehe ausführlich Vobruba 2008.
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Rücknahme von in der EU abgeschobenen Migranten und für die Zulassung von extraterritorialen Einsätzen im Zusammenhang der Vorverlagerung der Grenzkontrollen bietet die EU im Rahmen der ENP den kooperierenden Peripheriestaaten neuerdings quotalisierte Visa-Erleichterungen und temporäre Zuwanderungsmöglichkeiten für bestimmte Gruppen an. Bislang profitierten davon beispielsweise 4000 Senegalesen und 60.000 Tunesier, die Saisonarbeiter-Visa erhalten haben (vgl. Weinzierl 2009: 379). Die Modifizierung des politischen Tauschs zeigt sich an dem Wechsel von dem bisher praktizierten Verhandlungsziel „maximaler möglicher Undurchlässigkeit“ der Außengrenzen des nationalstaatlichen Schließungsmodels hin zu einer Politik der „selektiven Grenzöffnung“ als Gegenleistung für die Übernahme europäischer Exklusionsaufgaben durch die Anrainerstaaten. „Die selektive Grenzöffnung wird (...) zu einem zentralen Bestandteil der Verhandlungen mit den ENP-Ländern“ (Eigmüller/Vobruba 2009: 498). Das europäische Grenzverwaltungssystem veranschaulicht somit den Funktionswandel und die unmittelbare Verhandlungsabhängigkeit der EUAußengrenzen. Es zeigt, dass die Europäisierung der Staatsgrenzen weder die vollständige Auflösung der Grenzen zwischen den Mitgliedstaaten noch ihren Ersatz durch EU-Verbandsgrenzen bedeutet. Die Staatsgrenzen existieren weiter: als Begrenzungen der staatlichen Hoheitsgebiete, als Rechtsund Verwaltungsgrenzen, als kognitive „Marker“ nationaler Identitäten, als Sprach- und Kulturraumgrenzen und als Begrenzung des Mitgliedschaftsraums wohlfahrtsstaatlicher Solidargemeinschaften. „Frontiers are changing their characteristics“, stellen Anderson und Bort somit zu Recht fest, „and are being redifined in popular and elite consciousness. The long retreat of the nation state means that the international frontier is losing some of its characteristics thought to be basic to it. But there is a strengthening of some frontiers in the sense of frontiers as ‚us-them‘ divides, between the ‚inside‘ and the ‚outside‘” (Anderson/Bort 2001: 21). Die europäischen Staatsgrenzen wandeln sich also zu einem integralen Bestandteil des neuen europäischen Grenzensystems. Es konstituieren sich die EU-Außengrenzen als Verbandsgrenzen eigener Qualität. Darauf baut das europäische System des Grenzmanagements auf. Die Staatsgrenzen der betroffenen Länder, die als solche unverändert bestehen bleiben, erfahren eine institutionelle Supercodierung gemäß den politischen Zielen und Rationalitätskriterien namentlich der EU-Migrationspolitik. Sie nehmen besonders auf diesem Regulierungsgebiet zusätzliche Funktionen im Interesse der 174
EU und der an selektiver Schließung interessierten Mitgliedsländer wahr. Sie werden von den institutionellen Ordnungsprinzipien der EU überlagert und dadurch in europäische Verwaltungs- und Funktionsgrenzen umdefiniert. Die Staatsgrenzen der äußeren Mitgliedstaaten übernehmen damit zusätzliche Regulierungsfunktionen für den europäischen Rechts- und Marktraum. Sie sind insofern strukturrelevant sowohl für den EU-Verband als auch für die betreffenden Mitgliedstaaten, dies aber nicht auf gleiche Weise. Nach außen grenzen sie den supranationalen Staatenverband der EU gegenüber Nachbarstaaten, die nicht zur EU gehören, ab. Die Staatsgrenzen behalten aber ihre herkömmliche Strukturrelevanz nach innen: Für den Mitgliedstaat mit EU-Außengrenzen sind die Grenzen, wie für alle Nationalstaaten auf europäischem Boden, Bestandteil der national definierten sozialen Schließung: Sie grenzen einen nationalen Demos ab und sind insofern konstitutiv sowohl für die nationale Selbstbeschreibung als distinkte Gesellschaft mit einer segmentären Kollektividentität wie für die Selbstermöglichung des einzelstaatlichen politischen Systems. Als EU-Außengrenzen umschließen sie hingegen den Geltungsraum des europäischen Rechts und des EURegimes. Die staatlichen Grenzen entziehen sich prinzipiell den Modalitäten des politischen Tauschs, während die EU-Außengrenzen sich erst durch zwischenstaatliche Verhandlungen im Rahmen des europäischen Mehrebenensystems konstituieren. 5
Schlussbemerkung
Die EU-Außengrenzen sind, obwohl sie in ihren grenztypischen Schließungsfunktionen in mancher Hinsicht gestärkt wurden, nicht mit herkömmlichen Staatsgrenzen vergleichbar. Das verweist auf die Systembesonderheiten der EU als supranationalen Zweckverband mit prinzipieller Erweiterungsoffenheit. Aufgrund des expansiven und kontingenten Charakters, der äußerst vagen geographisch-kulturellen Identität sowie der weder territorial noch kulturell begrenzbaren, sondern globalen Wertebasis der EU eignen sich ihre Außengrenzen nicht zu einer territorialen Fixierung und Raumbindung des transnationalen Integrationsprojekts. Die EU-Außenabgrenzung weist nicht das tradierte Schließungs- und Stabilitätsmuster wie die Nationalstaaten auf. War es für die territoriale und politische Konsolidierung der Nationalstaaten unerlässlich, dass deren 175
Staatsgrenzen stabil, unveränderlich und eindeutig waren, so sind die EUAußengrenzen fluide, geographisch unterbestimmt und dadurch verhandlungsabhängig. Das folgt einerseits aus den Leitideen und Ordnungsprinzipien des supranationalen Verbands. Es ist aber andererseits auch der geographischen Unbestimmtheit der EU und ihrer politisch-institutionellen Finalität geschuldet. Damit eignet sich für die EU das Territorialprinzip auch nicht zur Bildung einer transnationalen kollektiven Identität. Die äußerst fragile politisch-geographische Identität sowie die universale und damit grenzenlose Wertebasis der EU gewinnen durch die Konstituierung der EU-Außengrenzen keine schärferen Konturen, sondern zerfasern weiter und drohen sich in einer Vielzahl von potentiellen politisch-territorialen Identitäten mit unterschiedlichen und asymmetrischen Grenzverläufen und Institutionalisierungschancen aufzulösen, gleichsam in einer Pluralität von verschiedenen Europas auszudifferenzieren. Damit wird sich die europäische Identität aber auch immer weniger als sinnvolle und tragfähige Bezugseinheit von politischen Integrationsbemühungen eignen, was voraussichtlich zu verstärkten Bemühungen der Gründungs- und Kernländer der EU führen könnte, sich ihrer gemeinsamen Interessen und ihrer inzwischen, nach einem halben Jahrhundert Integrationsgeschichte, auch historisch begründeten Verbandsidentität als „Kerneuropa“, etwa im Rahmen der „verstärkten Zusammenarbeit“ und einer Politik der „variablen Geographie“, zu versichern. Literatur Anderson, Benedict, 1991: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London/New York: Verso. Anderson, Malcolm, 1996: Frontiers. Territory and State Formation in the Modern World. Oxford: Polity Press. Anderson, Malcolm und Eberhard Bort, 2001: The Frontiers of the European Union. Basingstoke: Palgrave. Association of European Border Regions (Hg.), 2008: Cooperation between European Border Regions. Review and Perspectives. Baden-Baden: Nomos. Axelrod, Robert, 1987: Die Evolution der Kooperation. München: Oldenbourg. Bach, Maurizio, 2008: Europa ohne Gesellschaft. Politische Soziologie der Europäischen Integration. Wiesbaden: VS. Bainbridge, Timothy, 2002: The Penguin Companion to European Union. 3. Aufl., London: Penguin.
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III EU-Integration als Sozialintegration
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Soziale Integration (in) der Europäischen Union Peter A. Berger
Fragen nach der gesellschaftlichen „Integration“ gehören zu den klassischen, gleichwohl immer wieder aktualisierten Traditionsbeständen soziologischen Denkens: Von Emile Durkheim über Talcott Parsons, David Lockwood, Jürgen Habermas und Niklas Luhmann bis zu Anthony Giddens oder Richard Münch – um hier nur einige einflussreiche Autoren zu nennen, in deren Theorieentwicklung das Integrationsthema zumindest phasenweise einen zentralen Stellenwert hatte – finden sich immer wieder neue Anläufe zur Präzisierung des Konzepts der Integration, zur Identifizierung zentraler integrativer Mechanismen oder von Gefahren der Desintegration (vgl. Friedrichs/Jagodzinski 1999; Imbusch/Heitmeyer 2008; Heitmeyer 1997; Münch 1995). Auch die in diesem Abschnitt versammelten Beiträge beschäftigen sich mit „Integration“, allerdings nicht mit Blick auf einzelne (National-)Gesellschaften. Im Mittelpunkt steht vielmehr die Integration (in) der Europäischen Union (EU), wozu zwar alle Beiträge empirisch vorgehen, jedoch nicht nur jeweils eigene Indikatoren und unterschiedliche Datenquellen heranziehen, sondern zugleich verschiedene theoretische Perspektiven wählen. So stellt sich etwa Jan Delhey in Anlehnung an wirtschaftswissenschaftliche Vorstellungen eines „optimalen Währungsraums“ die Frage, ob die Europäische Union auch nach der Osterweiterung ein „optimaler Integrationsraum“ im geographischen Sinne sei, und vertritt dazu die These, dass sich die EU mit den jüngsten Erweiterungen weiter von einem – wie auch immer bestimmbaren – „Optimum“ entfernt habe. Unter Systemintegration wird dabei die politisch-rechtliche (auch als „formal“ bezeichnete) Integration verstanden; Momente der sozialen Integration (in) der EU sollen dagegen durch gegenseitige „Vertrautheit“ beziehungsweise wechselseitiges „Vertrauen“ der EU-Bürger operationalisiert werden. Auf der Basis der 181
gewählten Indikatoren gilt die EU dann nach der Osterweiterung als „sozial weniger integriert“, wobei weniger die einem Konvergenzparadigma entsprechende Vorstellung, nach der die EU-Integration auf Ähnlichkeiten der Nationalgesellschaften beruht, leitend ist, sondern ein „Transaktionsansatz“ herangezogen wird, der Integration an der Dichte und Solidarität grenzüberschreitender Beziehungen festmachen will. Auch Jürgen Gerhards legt in seinen Analysen zur Sprachkonstellation in der EU eine Unterscheidung zwischen „systemischer“ und „lebensweltlicher“ (oder „sozialer“) Integration zugrunde; auf „systemischer“ Ebene gesellen sich hier zur politisch-rechtlichen Integration allerdings noch ökonomische Austauschbeziehungen und Prozesse der Migration. Vor dem Hintergrund eines „Spannungsverhältnisses“ zwischen der institutionellen europäischen Ordnung („systemische“ Integration) und der sozial-lebensweltlichen Integration, die als „kommunikationsvermittelt“ beschrieben wird, nimmt er an, dass Letztere durch die Ausbreitung von Mehrsprachigkeit unter den Bürgern Europas „entscheidend begünstigt“ werde. Er kann dazu unter anderem zeigen, dass die Ausstattung mit „transnationalem, linguistischem Kapital“ auf struktureller Ebene sowohl durch die Größe wie den Modernitätsgrad einer Nationalgesellschaft beeinflusst wird und auf individueller Ebene von der Verfügung über „institutionalisiertes kulturelles Kapital“ (Bourdieu 1983) sowie von der als Berufsgruppeneinteilung operationalisierten „Klassenlage“ abhängt. Für Martin Heidenreich und Marco Härpfer stellen ökonomische und politische Integrationsprozesse, wozu sie als weiteres Moment einer „systemischen“ Integration noch die Herausbildung „supranationaler Regulationsstrukturen“ im Bereich von Sozial- und Beschäftigungspolitik zählen, den Hintergrund für ihre Untersuchung zu Ausmaß und Entwicklung von (Einkommens-)Ungleichheiten in Europa dar. Trotz der nach wie vor ausgeprägten Nationalspezifik von Ungleichheitsmustern und darauf bezogenen sozialpolitischen Kompensationsbestrebungen lassen sich ihrer Ansicht nach sowohl mit Blick auf ungleichheitsgenerierende und -reproduzierende Mechanismen wie auch mit Blick auf die Wahrnehmung und Bewertung von Ungleichheiten durchaus schon übergeordnete Bedingungskomplexe und transnationale Maßstäbe auffinden (vgl. Bach 2008a; Heidenreich 2006; König et al. 2008). Alles in allem füge sich dies zu einem Trend der „Angleichung“ von Einkommensungleichheiten zwischen den europäischen Nationalgesellschaften zusammen, wobei in vielen dieser Gesellschaften seit 1995 182
zwar auch die innergesellschaftlichen Ungleichheiten abzunehmen scheinen, sich jedoch statt eines einheitlichen Ungleichheitsraums eher ein „Mehrebenensystem“ sozialer Ungleichheiten mit regionalen, nationalen und europäischen Bezügen abzeichne, das aus der Perspektive einer „Transnationalisierung sozialer Ungleichheit“ (Berger/Weiß 2008) als sich „überlappende, durch grenzüberschreitende Verflechtungen gekennzeichnete soziale Räume“ beschrieben werden könne.1 „Verflechtungen“ und „Vernetzungen“ als Momente einer „horizontalen Europäisierung“ werden schließlich mit dem Beitrag von Sebastian Büttner und Steffen Mau direkt in den Blick genommen (vgl. auch Mau 2007). Vor dem Hintergrund des politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Integrationsprozesses und gestützt auf ausgewählte Daten zeichnen sie Stand und Ausbau transnationaler Verkehrs- und Kommunikationsinfrastrukturen, von innereuropäischer Migration, Mobilität und Tourismus, des Jugendund Studentenaustauschs und der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit von europäischen Städten, Gemeinden und Regionen nach. Die sich intensivierenden Verflechtungen und Vernetzungen gehen für sie einher mit einer „wachsenden Dichte an grenzüberschreitenden sozialen Interaktionen“ und tragen so im Sinne einer „horizontalen“ Europäisierung zur Erweiterung des europäischen Erfahrungs- und Handlungsraums, zur Zunahme interkultureller Erfahrung und Fremdheitsfähigkeit sowie zur Entstehung eines europäischen Interdependenzbewusstseins bei. Unter Berufung auf Neil Fligstein (2008) machen sie jedoch auch darauf aufmerksam, dass die Miteinbeziehung in diesen entstehenden europäischen „Sozialraum“ keineswegs gleichmäßig erfolge, sondern sich, wie schon am ungleich verteilten „linguistischen Kapital“ bei Jürgen Gerhards zu sehen war, je nach sozialem Status durchaus unterschiedlich gestalten kann. Auch aus diesem
1
Die „Transnationalisierung sozialer Ungleichheit(en)“ wird vor allem in den Sammelbänden von Bach/Sterbling (2008), Bayer et al. (2008), Berger/Weiß (2008) und Heidenreich (2006) analysiert und zum Beispiel auch von Ulrich Beck (2008a) in den Mittelpunkt seiner „Neuvermessung der Ungleichheit unter den Menschen“ gestellt. „Transnationale Vergesellschaftung“, „transnationle Integration“ und „Transnationalisierung“ stehen zudem bei Mau (2007), Münch (2008) sowie Pries (2008a, 2008b) im Zentrum; neuere Beiträge zum Zusammenhang von Migration und Integration finden sich schließlich in Hunger et al. (2008) sowie in Kalter (2008).
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Blickwinkel weist „Europa“ also nach wie vor Züge eines hegemonialen „Projekts“ von Eliten auf.2 Fragt man nun nach dem Verständnis von „Integration“, das diesen Beiträgen – explizit oder implizit – zugrunde liegt, finden sich einerseits Formulierungen, die von Identität(en) oder zumindest Ähnlichkeit(en) als Grundlage beziehungsweise Voraussetzung von Integration ausgehen und damit an die Vorstellung von „mechanischer Solidarität“ bei Emile Durkheim (1992), die ja als Solidarität durch Ähnlichkeit bestimmt wird, erinnern. Das mag insofern sinnvoll sein, als es sich ja bei den Gesellschaften in der EU in der Regel um demokratisch verfasste Rechtsstaaten oder um Gesellschaften auf dem Weg dorthin, zumindest also in diesem Sinne um „ähnliche“ Einheiten handelt – wobei freilich, wie nicht zuletzt die vergleichende Wohlfahrtsstaatsforschung gezeigt hat, den „Ähnlichkeiten“ mit Blick auf die konkreten Ausformungen wohlfahrtsstaatlicher Institutionen und sozialer Sicherungssysteme durchaus Grenzen gesetzt sind (vgl. Esping-Andersen 1990, 1999; Kaufmann 2006; Lessenich/Ostner 1998; Schmid 2002). Trotzdem deuten Jürgen Gerhards Überlegungen zum „Modernitätsgrad“ oder die von Martin Heidenreich und Marco Härpfer untersuchten Muster von Einkommensungleichheiten auf Tendenzen der Angleichung europäischer Gesellschaften (bei möglicherweise intensivierten innergesellschaftlichen Ungleichheiten) hin, sodass Aspekte einer segmentären Differenzierung und einer darauf aufruhenden Solidarität aus Ähnlichkeit oder gar unter „Gleichen“ (zum Beispiel in der Abschottung der EU nach außen, etwa gegen Migrationsströme oder gegen unerwünschte Produkte) durchaus eine Rolle spielen dürften. Andererseits scheint das zugrunde gelegte Integrationsverständnis über weite Strecken aber auch dem von Durkheim als charakteristisch für moderne Gesellschaften betrachteten Modus der „organischen Solidarität“ zu entsprechen, nach dem die „Einheit“ eines gesellschaftlichen Gebildes auf der Basis von „Arbeitsteilung“ (oder funktionaler Differenzierung) durch wechselseitige Abhängigkeiten und (Aus-)Tauschbeziehungen entsteht (vgl. Münch/Büttner 2006; Schimank 1999). In diesem Zusammenhang vermutete Durkheim zwar, dass durch die dabei eingegangen „sozialen Beziehun2
Zu damit implizit angesprochenen Fragen nach „transnationalen“ Eliten- oder Klassenbildungen vgl. Gerhards (2008), Hartmann (2007, 2008) und Sklair (2001, 2008); zur Herausbildung einer „hegemonialen“ Ordnung beziehungsweise von vorherrschenden Diskursen oder Semantiken vgl. besonders Münch (2008).
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gen“ auch wechselseitige und dauerhaftere „moralische“ Verpflichtungen entstehen würden (vgl. Baurmann 1999) – und dieser Spur scheinen sowohl Jan Delhey wie auch Sebastian Büttner und Steffen Mau zu folgen. Da sich Durkheim aber unsicher darüber gewesen zu sein scheint, ob aus eher zufälligen Kontakten allein schon jenes „Kollektivbewusstsein“ als Gesamtheit gemeinsamer Überzeugungen und Gefühle hervorgehen könne, das ihm für Einheit und Zusammenhalt von Gesellschaften notwendig schien, hielt er nach zusätzlichen Mechanismen und Garanten dafür Ausschau, die er dann bekanntlich vor allem in der „Erziehung“, aber auch in der Stärkung von „Professionen“ zu finden glaubte.3 Für die weitere Theorieentwicklung in der Soziologie schien damit lange Zeit ausgemacht, dass die Integration von Gesellschaften auch vor dem Hintergrund fortschreitender Arbeitsteilung und funktionaler Differenzierung durch moralische „Gefühle“ und kollektive Bindungen, also durch „Solidarität“, zu gewährleisten sei. Insbesondere im Werk von Talcott Parsons (zum Beispiel 1968, 1971) finden sich vielfältige Anläufe, die Integration von Individuen in eine Gesellschaft beziehungsweise Gemeinschaft vermittelt über deren Versorgung mit normkonformen Handlungsmotiven im Sozialisationsprozess einerseits, die Spezifizierung von Werten und Normen in institutionalisierten Erwartungsmustern oder „Rollen“ andererseits, sowie durch die Einführung eines „Systems der gesellschaftlichen Gemeinschaft“ begrifflich-analytisch zu erfassen. Gegen den bei Parsons normativ-moralisch aufgeladenen – manche würden mit Niklas Luhmann (zum Beispiel 1997) vielleicht auch sagen: überladenen (vgl. Schmidt 1999) – Integrationsbegriff konnte David Lockwood (1971) dann im Übergang von den 1960er in die 1970er Jahre seine Unterscheidung zwischen sozialer Integration und Systemintegration profilieren: Systemintegration meint bei ihm das Ausmaß der Abstimmung der einzelnen Systeme einer Gesellschaft, also den Zusammenhalt gesellschaftlicher Subsysteme (zum Beispiel Wirtschaftssystem, Rechtssystem usw.). Sozialintegration zielte dagegen – ganz im Sinne von 3
Dazu wären, ähnlich wie bei der Frage nach der transnationalen Elitenbildung, weitere Analysen berufsgruppenspezifischer, transnationaler Mobilitätsprozesse, wie sie neben Mau und Mewes (2008) unter anderen auch Braun/Recchi (2008) und Verwiebe (2004, 2008) vorgelegt haben, ebenso hilfreich wie Untersuchungen zu den sozialisatorischen Auswirkungen von Bildungssystemen, die nicht so sehr Differenzen in deren Leistungsfähigkeit betonen – wie etwa die PISA-Studien –, sondern, beispielsweise nach dem Muster der Studien von Meyer/Ramirez (2005) zur Institutionalisierung von Bildung im Globalisierungsprozess, auf kulturell-institutionelle Gemeinsamkeiten zielen.
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Durkheim oder Parsons – auf die Beziehungen von Individuen untereinander beziehungsweise auf deren (normativ-moralische) Integration in Gemeinschaften beziehungsweise in die Gesellschaft, hebt also auf soziale Gruppen sowie auf Inklusion und Teilhabe von Menschen ab. Ihre theoretisch anspruchsvollste Neuinterpretation erfuhr die von Lockwood vorgeschlagene Unterscheidung dann durch Jürgen Habermas in seiner „Theorie des Kommunikativen Handelns“ (1981): Sozialintegration wird dort aus einer „Innen-“ oder „Teilnehmerperspektive“ als „lebensweltliche“ Koordination von Handlungen durch normativ abgesicherte oder im Diskurs hergestellte, konsensuelle Handlungsorientierungen konzipiert – Richard Münch (1995) nennt dies auch „kulturelle Integration“. Systemintegration, die erst aus einer „Außen-“ oder „Beobachterperspektive“ greifbar wird, erscheint dagegen als häufig „hinter dem Rücken“ der Akteure verlaufende, „systemische“ Koordination über Handlungsbedingungen und -folgen, die durch die „Medien“ Geld und Macht stabilisiert wird. Bei Habermas ist die Trennung zwischen Sozial- und Systemintegration aber bekanntlich nicht nur eine begrifflich-analytische Unterscheidung. Sie ist vielmehr auch Grundlage einer längerfristig angelegten Modernisierungstheorie sowie einer tief schürfenden Gesellschaftsdiagnose, der zufolge „Modernisierung“ zunächst in einer „Entkopplung“ von System und Lebenswelt beziehungsweise in einer Freisetzung der „systemischen“ Medien Geld und Macht aus den traditionellen „Zwängen“ soziokultureller Lebenswelten besteht. Im Zuge dieser Freisetzungen kommt es jedoch nicht nur zu historisch einzigartigen Leistungssteigerungen wissenschaftlich-technischer, ökonomischer, politischer oder rechtlicher Systeme. Zugleich erwächst daraus eine Gefährdung der normativ-moralischen oder kulturell-diskursiven, kurz: der sozialintegrativen Potentiale der „Lebenswelt“ – was Habermas in die folgen- und einflussreiche Metapher einer „Kolonialisierung der Lebenswelt“ gefasst hat. Trotz der vielfältigen Kritik an dieser Begriffskonstruktion scheinen mir nun daran angelehnte Gegenüberstellungen einer beschleunigten, gewissermaßen „selbstläufig“ und zugleich unkontrollierbar gewordenen – oder bestenfalls von den Herrschaftsinteressen einer hegemonialen Elite kontrollierten4 –, also „von oben“ und „von außen“ einwirkenden Systemintegrati4
Dann kann, wie etwa bei Bach (2008b), die Europäische Integration auch als Herausbildung eines supranationalen Herrschaftsverbands erscheinen, dem keine soziale Basis – im Sinne von „Sozialintegration“ – zugrunde liegt.
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on und einer demgegenüber mehr „von unten“ und „von innen“ kommenden, in der unmittelbaren Lebenswelt, in der Alltagskultur und in alltäglichen Sozialkontakten verankerten und insgesamt auch „langsameren“ Sozialintegration nach wie vor weite Teile der Diskussion um die Integration moderner Gesellschaften – und damit auch um die EU-Integration – zu prägen. Entsprechend diesem Verständnis kann dann beispielsweise in einem hier zufällig herausgegriffenen Aufsatz zu „Europas Jugend“ ganz selbstverständlich davon die Rede sein, dass die Systemintegration „voranschreitet“, während die Sozialintegration demgegenüber „deutlich langsamer“ verlaufe (Rippl 2006: 37). Und auch die hier versammelten Beiträge scheinen die darin aufscheinenden Vorstellungen einer qualitativen Differenz zwischen System- und Sozialintegration sowie eines mehr oder weniger ausgeprägten „Nachhinkens“ der sozialen gegenüber der systemischen Integration zu teilen. So bezieht Delhey seine Überlegungen zur „Optimalität“ der EU als Integrationsraum zum einen auf die gegenseitige „Relevanz“ (Vertrautheit) der EU-Staaten, die mit Face-to-face-Interaktionen, mit dem Austausch von Gütern, Dienstleistungen, Informationen, Kapital oder auch mit gegenseitiger Aufmerksamkeit und Kenntnissen übereinander in Zusammenhang gebracht werden. Zum anderen soll die Sozialintegration der EU als Staatengemeinschaft am „Gemeinschaftssinn“ ihrer Bürger, also am wechselseitigen „Vertrauen“ festgemacht werden. Zentral ist aber, dass „Sozialintegration“ als etwas Informelles, Spontanes, Nicht-Verordenbares betrachtet wird – und zugleich als etwas, das im Unterschied zur Systemintegration durch Vergrößerungen der EU geschwächt werden beziehungsweise mit formal-rechtlichen Erweiterungen nicht ohne weiteres Schritt halten könne. Für Jürgen Gerhards ist darüber hinaus klar, dass das Ausmaß, in dem der „systemische Prozess“ der Europäisierung von einer „lebensweltlichen Europäisierung“ begleitet werden kann, von den Möglichkeiten der Kommunikation – und dabei insbesondere von der Mehrsprachigkeit der EU-Bürger – abhängt. Dies wird dann freilich nicht nur in einem zeitlichen Verhältnis des „Nachhinkens“ sprachlicher Kompetenzen gegenüber der systemischen Europäisierung, sondern auch in einem Verhältnis sozialer Ungleichheit zwischen multilingualen EU-Eliten als „Teil einer neuen transnationalen Klasse“ und sprachlich weniger privilegierten Bürgern der EU gesehen. Obwohl explizite Bezüge weniger deutlich sind, da die Integrationsfrage dort in der Traditionslinie der „mechanischen Solidarität“ mehr mit Blick 187
auf Ähnlichkeiten und Differenzen (der Einkommensverteilungen) diskutiert wird, taucht die Vorstellung von Verwerfungen und einer Art „time lag“ zwischen System- und Sozialintegration bei Martin Heidenreich und Marco Härpfer ebenfalls auf. Und zwar spätestens dann, wenn sie zwischen „objektiven“ („systemischen“) Ungleichheiten einerseits, „subjektiven“ Bewertungen und Gerechtigkeitsmaßstäben, die eher in einer „sozialintegrativen“ Dimension zu verorten wären, andererseits unterscheiden und feststellen, dass es trotz einer tendenziellen Angleichung in den „objektiven“ Ungleichheitsmustern nicht zu einer „größeren politischen Unterstützung des europäischen Integrationsprozesses durch die Bevölkerung“ gekommen sei. Klarer werden die Bezüge zur System-Sozialintegration-Unterscheidung dann wiederum bei Sebastian Büttner und Steffen Mau, in deren Augen – und ganz im Sinne von Durkheims Argumentation zu „organischer Solidarität“ – Europäisierung mit einer „wachsenden Dichte an grenzüberschreitenden sozialen Interaktionen“ einhergeht. Nur wenn über die Entstehung „supranationaler Institutionen“ (als Momente einer systemischen Integration) hinaus „zwischenmenschliche Kontakte“ gefördert werden, wollen sie von „Europa als emergentem Sozialraum“ im Sinne von Sozialintegration sprechen – wobei auch hier Vorstellungen eines zeitlichen Nacheinanders von systemischer Integration, die unter anderem auch die Herstellung entsprechender Infrastrukturen für die Mobilität von Menschen, Gütern und Informationen umfasst, und der sozialen Integration, die in Anlehnung an Anthony Giddens (1984) an unmittelbaren Interaktionen festgemacht wird, leitend zu sein scheinen.5 Versucht man nun abschließend, die unterschiedlichen theoretischen Perspektiven auf die Integration (in) der Europäischen Union, die in den folgenden Beiträgen auftauchen, zu ordnen, mag es hilfreich sein, neben der bisher diskutierten Unterscheidung zwischen einer sozialen und einer systemischen Integration zusätzlich zwischen einer „Logik der Differenzen“ (beziehungsweise der (Un-)Ähnlichkeiten) und einer „Logik des Austauschs“ (beziehungsweise der „Ströme“; vgl. zum Beispiel Castells 2001) zu 5
Obwohl sich auch darauf einige implizite Bezüge finden lassen, kann hier auf die von Anthony Giddens (1984: 139ff.) in seiner Strukturierungstheorie vorgeschlagene Reformulierung der Lockwood’schen Begriffe, nach der Sozialintegration sich auf Mechanismen bezieht, die „in circumstances of co-presence“ Reziprozität erzeugen, während Systemintegration die Reziprozität von Akteuren oder Kollektiven „across extended time-space, outside conditions of co-presence“ bezeichnen soll, nicht näher eingegangen werden.
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unterscheiden (vgl. Weiß/Berger 2008). Die Rede von einer Logik der Differenzen (und Identitäten) erinnert dabei an Durkheims Vorstellung von „mechanischer Solidarität“, soll jedoch darüber hinaus darauf aufmerksam machen, dass eine Sozialintegration unter Ähnlichen oder Gleichen sich meist „nach innen“ richtet und dabei in der Regel die Differenzen oder Ungleichheiten „nach außen“ beziehungsweise gegenüber anderen sozialen Einheiten und Gruppen vergrößert – oder zumindest aufrecht erhält.6 Und auch wenn die Rede von einer Logik des Austauschs zumindest im ökonomischen Sinne an durch Arbeitsteilung bedingte (Aus-)Tauschvorgänge und mithin an die „organische Solidarität“ bei Durkheim anschließt, umfasst sie insofern mehr und anderes, als es nicht nur um tauschinduzierte gegenseitige Abhängigkeiten und Verpflichtungen geht, sondern auch solche weniger gerichteten „Ströme“ in den Blick kommen sollen, auf die – wie zum Beispiel bei Informationsflüssen, bei „multimedialen“ Strömen oder bei Migrationsvorgängen – Reziprozitätsvorstellungen nicht oder nur eingeschränkt angewendet werden können. Integrationsvorstellungen, die von einer Logik der Differenzen/Identitäten ausgehen, tendieren dabei nur allzu leicht zu jenem „methodologischen Nationalismus“, dessen Überwindung etwa Ulrich Beck (2004, 2007, 2008a, 2008b; Beck/Grande 2004) immer wieder eingefordert hat – eine Logik der Ströme scheint dagegen offener für die Herausbildung so genannter „transnationaler Räume“ und für darüber hinaus greifende Prozesse der „Transnationalisierung“ (vgl. Weiß/Berger 2008; Mau 2007; Pries 2008a, 2008 b). Allerdings kann der Bezug auf fortbestehende (nationalstaatliche) Differenzen, Ungleichheiten und Grenzen (vgl. auch Eigmüller/Vobruba 2006) auch den Blick schärfen für jene Ströme von Gütern und Kapital, aber vor allem auch von Informationen und Menschen, die durch zwischenstaatliche und/oder regionale Ungleichheiten, wie sie zum Beispiel Martin Heidenreich und Marco Härpfer herausarbeiten, möglicherweise erst ausgelöst werden (vgl. zum Beispiel Vobruba 1995). Im Sinne einer Logik des Austauschs können dann beispielsweise Migrationsströme (ähnlich wie soziale Mobilität generell) als zentrale Mechanismen der (Sozial-)Integration Europas aufgefasst werden: Nach dem Muster eines „Mobilitätszirkels“ (vgl. Berger 1996, 2004; Turner 1984) erhöhen Bewegungen von einzelnen Men6
Genau deshalb hat Reinhard Kreckel (2004) im Übrigen in seiner theoretischen Begründung von Ungleichheitsressourcen oder -dimensionen den Modus der „selektiven Assoziation“ unter „Gleichen“ als ungleichheitsgenerierenden Mechanismus eingeführt.
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schen in neue (soziale) Räume die Wahrscheinlichkeit von Kontakten zwischen den Mitgliedern unterschiedlicher Subpopulationen oder Gruppen. Dies zwingt insbesondere die „mover“, also die mobilen Personen, sich mit anderen Verhaltensweisen, Einstellungen und Werthaltungen auseinanderzusetzen und sollte – als Mechanismus der Sozialintegration – auch zu mehr Empathie für die Wünsche und Motive anderer, wenigstens aber zu einer wachsenden Toleranz gegenüber „abweichenden“ Formen der Lebensführung, anderen Verhaltensweisen und Wertorientierungen führen – eine Vermutung, die David Lerner (1979) übrigens schon in den frühen 1960er Jahre in seiner Theorie der „Modernisierung des Lebensstils“ formulierte. Zugleich nimmt mit der Zunahme von Mobilität die Homogenität von Bevölkerungen ab, Grenzen werden in der Folge undeutlicher – und ein sich selbst verstärkender Kreislauf einer mobilitätsbedingten Integration kann in Gang kommen. Grenzüberschreitende Prozesse der Migration und der beruflichen Mobilität, aber auch, wie insbesondere Sebastian Büttner und Steffen Mau betonen, jene grenzüberschreitenden „Ströme“ von Menschen in Form des Tourismus oder des Schüler- und Studentenaustauschs, können dabei schließlich auch dazu beitragen, dass die europäische (Sozial-)Integration kein „Elitenprojekt“ bleibt. Zwar werden Ungleichheiten in der Ausstattung mit kulturellem Kapital – wobei mit Jürgen Gerhards die Aufmerksamkeit vor allem dem „linguistischen Kapital“ zu gelten hat – nach wie vor eine Rolle spielen. Im Sinne einer Logik des Austauschs sollten hier jedoch weniger sprachliche Differenzen und mögliche Verständnisschwierigkeiten betont, sondern mit Jan Delhey vielmehr die Chancen der Herausbildung von „Vertrautheit“ und „Vertrauen“ in den Blick genommen werden. In Anlehnung an Richard Münch (2008: 13) kann man dann die Europäische Integration auch als einen „fortlaufenden Diskurs“ begreifen, in dem „die national verankerten Semantiken der Legitimation sozialer Ordnung um eine konsentierte Deutung der sich herausbildenden europäischen Sozialordnung und gegebenenfalls auch gegen das faktische Fortschreiten der ökonomischen Integration ohne kulturelle Legitimation kämpfen.“ Und ein solcher Diskurs ist auf das Zusammentreffen von Menschen und Argumenten gleichermaßen angewiesen.
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Die osterweiterte Europäische Union – ein optimaler Integrationsraum? Jan Delhey
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Fragestellung
Auf anekdotischer Basis erleben wir beinahe täglich, dass die nach Osten erweiterte Europäische Union (EU) (noch) kein optimaler Integrationsraum ist. Ich möchte nur drei Beispiele nennen. Ein erstes ist der Aufschrei in den Medien der „alten“ EU-15, nachdem beim letztjährigen European Song Contest der serbische Beitrag gewonnen hatte; verschwörungstheoretisch wurde gemutmaßt, die post-sozialistischen Länder hätten sich die Punkte gegenseitig zugeschanzt. Ein zweites Beispiel ist die gegenwärtige Pogromstimmung gegen Roma und Rumänen in Italien. Sie hat zum Ziel, rumänische Einwanderer, die für Kriminalität und Sozialmissbrauch verantwortlich gemacht werden, wieder des Landes zu verweisen. Ein drittes Beispiel ist die Entscheidung einiger westeuropäischer Regierungen (unter anderem der deutschen), die Arbeitsmärkte noch nicht für die neuen EU-Bürger zu öffnen. In diesem Beitrag möchte ich die Frage, inwieweit die EU nach der Osterweiterung ein optimaler Integrationsraum ist, auf eine systematischere Basis stellen.1 Dazu werde ich zunächst einen Vorschlag unterbreiten, was soziologisch unter einem optimalen Integrationsraum zu verstehen ist. Dann werde ich anhand einer europaweiten Umfrage empirisch illustrieren, wie sich die EU mit ihren jüngsten Erweiterungen von einem optimalen Integrationsraum entfernt hat – und wie sie es durch ihre Erweiterungspläne fast zwangsläufig weiter tun wird. Das Konzept des optimalen Integrationsraums ist eine Anleihe aus den Wirtschaftswissenschaften. Jede Währung konstituiert einen Währungsraum – einen Raum mit intern fixierten und nach außen variablen Wechselkursen. 1
Diese Frage wurde meines Wissens erstmals von Immerfall (2000) aufgeworfen.
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Die D-Mark tat dies in ihrem Geltungsgebiet, der Euro heute in Euroland. Die entscheidende Frage ist, was die optimale geografische Ausdehnung eines Währungsraums ist. Derzeit gibt es kein Konsenskriterium für Optimalität, aber einige Vorschläge. Die Klassiker sind flexible und mobile Arbeits- und Gütermärkte (Mundell 1961) oder die Offenheit der Volkswirtschaften (McKinnon 1963). Nur wenn sich also die Arbeitskräfte in einem Währungsraum annähernd frei bewegen und die Volkswirtschaften der beteiligten Länder eng miteinander verflochten sind, ist der Währungsraum optimal – der Nutzen der Währungsunion übersteigt dann die Kosten. Analog lässt sich fragen: Ist die EU nach den vielen Erweiterungsrunden ein optimaler Integrationsraum? Das führt uns zu der ersten, trivialeren Frage, was sie zu einem Integrationsraum macht, und zur zweiten, weniger trivialen, was soziologisch betrachtet unter einem optimalen Integrationsraum zu verstehen ist. Und es führt uns schließlich zur dritten Frage: Was wissen wir darüber empirisch? 2
Der Integrationsraum EU: Systemintegration
Was Europa zu einem Integrationsraum werden lässt, ist die politisch-rechtliche Integration im Rahmen der Europäischen Union. EU-Europa ist ein Raum formaler Integration. Im Kern ist hier die politische Verschmelzung und Zusammenarbeit zu nennen, also das, was landläufig unter Europäischer Integration verstanden wird – das politische Projekt. Es geht dabei um die Teilung von Souveränität zwischen vormals unabhängigen Staaten und die Errichtung gemeinsamer Institutionen, die in der Kompetenzhierarchie über beziehungsweise neben den nationalen Regierungen und Institutionen angesiedelt sind und auf die Kompetenzen übertragen werden (Peterson 2001): Europäische Kommission, Ministerrat, Gerichtshof, Parlament, Europäische Zentralbank usw. Die Kompetenzverlagerung schlägt sich nieder in einer steigenden Zahl von Politikbereichen, bei denen die Musik ganz oder teilweise in Brüssel spielt. Diese politische Denationalisierung (Beisheim et al. 1999) hat eine Breitendimensionen (Anzahl der übertragenen Politikbereiche) und eine Tiefendimension (Grad der Kompetenzübertragung nach Brüssel in den jeweiligen Politikbereichen). Die Mitgliedstaaten gewinnen dadurch viel, büßen aber auch einiges ein – sie sind nurmehr semi-souveräne Staaten. 195
Zur rechtlich-formalen Integration Europas zählt auch die Unionsbürgerschaft. 1992 eingeführt ergänzt sie die bereits bestehenden Rechte von Freizügigkeit und Nicht-Diskriminierung um eine politische Dimension. In anderen Mitgliedstaaten lebende EU-Bürger haben das Recht, bei den dortigen Europa- und Kommunalwahlen zu wählen und sich wählen zu lassen. Weiterhin genießen die EU-Bürger diplomatischen und konsularischen Schutz durch Botschaften der Partnerländer, sofern das eigene nicht vertreten ist. Auf EU-Organe bezogene Rechte wie das Petitionsrecht beim Europäischen Parlament und das Recht auf Anrufung des Bürgerbeauftragten runden das Paket ab (Bergmann 2001; Panebianco 2004). Waren die Gesellschaften der Mitgliedstaaten zu Zeiten Jean Monnets, und selbst noch in den 1970er Jahren, rechtlich relativ geschlossene Einheiten – eben „Container“ (Beck 2002) –, bildet die Staatengemeinschaft heute einen pan-europäischen Mitgliedschaftsraum, der einen Sockel gleicher Rechte für alle EU-Bürger definiert. Die Unionsbürgerschaft hat die Einwohner der anderen Mitgliedstaaten zu „QuasiLandsleuten“ aufgewertet. Die nationalen gesellschaftlichen Gemeinschaften öffnen sich rechtlich füreinander, sie werden europäisiert. Teil der formalen Integration ist auch der Euro, der es möglich macht, in der gesamten Euro-Zone mit einer Währung zu zahlen – lästiger Umtausch entfällt. Neben diesen Großprojekten sind schließlich noch eine Vielzahl weiterer Regelungen und Verordnungen zu nennen, die Gesetze und Normen EU-weit vereinheitlicht haben. Im Extremfall sind „single social areas“ (Threlfall 2003) entstanden, bei denen die Grenze zwischen Inund Ausland verschwimmt und EU-Bürger in allen Mitgliedstaaten wie Inländer agieren können und wie Inländer gesetzlich behandelt werden (müssen) – etwa in punkto Arbeitsmarktfreiheit, Konsumentenrechte, medizinische Behandlung und, wichtig zuvorderst für Kriminelle, bei der Strafverfolgung. Allen genannten Beispielen ist gemein, dass sie auf Regime- und politische Systembildung abstellen (Bartolini 2005). Und sie folgen alle einer rechtlich-formalen Logik. Durch supranationales Recht werden die Herrschaftssysteme und Gesellschaften der Mitgliedstaaten auf komplexe Weise „vergemeinschaftet“, standardisiert und harmonisiert (Lepsius 1991). So wird die Staatengemeinschaft als rechtlicher Integrationsraum konstituiert, ein Formalraum EU-Europa. Auch wenn der Begriff in der allgemeinen Soziologie schon anderweitig besetzt ist (durch Lockwood 1969), möchte ich diese Seite des europäischen Projekts als Systemintegration bezeichnen. 196
Systemisch war Europa noch nie so integriert wie heute. Seit der Montanunion als Keimzelle wurde die Einigung schrittweise vorangetrieben, zunächst als Europäische Gemeinschaft, schließlich als Europäische Union. In einer Art Parallelbewegung wurden durch Erweiterungen immer mehr Länder in den Vertiefungsprozess einbezogen – durch die gestaffelte Osterweiterung von 2004 und 2007 sind es mittlerweile 27. Und eine Reihe weiterer Länder sehen sich als zukünftige Clubmitglieder. Insbesondere die Erweiterungen werfen die Frage auf, ob die Union von heute ein optimaler Integrationsraum ist. Was wir nun brauchen ist ein Optimalitätskriterium. Hier kann man ganz verschiedenen Traditionen folgen. Man könnte einem Konvergenzparadigma folgen und sagen: Je ähnlicher die EU-Gesellschaften sind, desto optimaler der Integrationsraum. Wohlstand und Modernisierungsgrad kommen hier ebenso in Betracht wie Werthaltungen der Bevölkerung (Gerhards 2005; Heidenreich 2003). Tatsächlich ist die Staatengemeinschaft nach der Osterweiterung heterogener als zuvor und in diesem Sinne weniger optimal. Mein Vorschlag folgt einem anderen Paradigma, dem Transaktionsansatz. Optimalität definiert sich dann so: Je dichter und solidarischer die grenzüberschreitenden Beziehungen zwischen den EU-Gesellschaften und ihren Bevölkerungen, desto optimaler der Integrationsraum. 3
Das Optimalitätskriterium allgemein formuliert: Sozialintegration
Obige Definition bedeutet, die soziologischen Scheinwerfer auf die Beziehungen zwischen den Gesellschaften Europas und ihren nationalen Kollektiven zu richten (siehe auch Immerfall 2000). Diese grenzüberschreitenden Verflechtungen und Vermischungen sind vom Wesen her transnational und horizontal. Die informellen Beziehungen zwischen Deutschen und Franzosen, Franzosen und Belgiern, Belgiern und Polen usw. sind die kleinsten Einheiten, aus der in einer makrosoziologisch-transaktionalistischen Perspektive europäische Sozialintegration erwächst. Der soziologische Blick muss deshalb zur Seite gehen, zu den Partnerländern, nicht nach oben, nach Brüssel (vgl. Beck/Grande 2004). Auf die Staatengemeinschaft angewandt: Sind die EU-Gesellschaften beziehungsweise Bevölkerungen dyadisch eng verbunden, so ist der systemische Formalraum EU auch sozial integriert – und eben kein beziehungsleerer Raum.
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Leben kommt in diesen Formalraum unter anderem durch Urlaubsreisen, Geschäftskontakte, Einkaufstouren, Städtepartnerschaften, Schüleraustausche und Studienaufenthalte, durch Arbeitsmigration, Freundschaften und Heiraten. Die Arenen und Trägerschichten des Austauschs sind sehr unterschiedlich: mal unorganisiert wie der Individualtourismus, mal organisiert wie die Fußball-Champions-League oder die Jugendbegegnungen des Deutsch-Französischen Jugendwerks; mal von Eliten wie Politikern, Managern, Künstlern und Wissenschaftlern getragen, mal von der breiten Bevölkerung (zur Schichtung transnationaler Kontakte vgl. Fligstein 2008; Mau 2007; Mau/Verwiebe 2009). Ein erstes Optimalitätskriterium ist also, wie relevant die Partnerländer füreinander sind. Sozialintegration findet dann statt, wenn die nationalen Gruppen in einer Staatengemeinschaft nicht nebeneinander her existieren, als Paralleluniversen, sondern füreinander bedeutsam sind: durch Face-toface-Interaktionen (Blau 1977) oder den Austausch von Informationen, Gütern, Dienstleistungen und Kapital (Deutsch 1966). Im weitesten Sinne kann man Relevanz schließlich auch an Aufmerksamkeit festmachen: an medialen Bezügen (Eder/Kantner 2000; Trenz 2005), an Kenntnissen von und Aufmerksamkeit für Vorgänge in den Partnerländern, an einem Sichaneinander-Orientieren und Sich-gegenseitig-Vergleichen. Der Begriff gegenseitige Relevanz ist flexibel genug, um die ganze Bandbreite realer und virtueller Transaktionen abzudecken. Die Quantität der grenzüberschreitenden Beziehungen ist eine Sache – deren Qualität eine andere. Für Letzteres finde ich den Begriff des Gemeinschaftssinns (Sense of Community) von Karl Deutsch sehr brauchbar. Im Kern geht es darum, wie solidarisch die Handlungen und Handlungsdispositionen derjenigen Bevölkerungen sind, die an einer Staatengemeinschaft beteiligt sind. Minimal sind hier solcherlei Handlungen und Einstellungen zu nennen, die negative Folgen für die Mit-Europäer vermeiden sollen (nach Durkheim die negative Solidarität; vgl. Münch 2001a). Maximal geht es darum, Gutes füreinander zu bewirken – also positive Solidarität. Ein Beispiel für negative Solidarität wäre nichtdiskriminierendes Verhalten gegenüber EUAusländern bei der Wohnungs- oder Arbeitssuche. Ein Beispiel für positive Solidarität wäre grenzüberschreitende Unterstützung in Notfällen. Gemeinschaftssinn lässt sich aber auch als Handlungsdispositionen messen – in Frage kommen hier alle gegenseitigen Wahrnehmungen, Einstellungen und Bewertungen der Europäer, die sich auf einer Skala von „freundlich bis unfreund198
lich“ oder „positiv bis negativ“ anordnen lassen. Vertrauen ist in diesem Zusammenhang ein idealer Indikator (Delhey 2004, 2007), dazu später mehr. Ein anderer, häufiger verwendeter ist die europäische Identität.2 Die Sozialintegration einer Staatengemeinschaft lässt sich also an der gegenseitigen Relevanz und dem Gemeinschaftssinn der Bevölkerungen festmachen. Beide Dimensionen sind sinnvolle Kriterien eines optimalen Integrationsraums. Bevor wir diese Überlegung konkretisieren, sei noch auf die grundlegenden Unterschiede von System- und Sozialintegration hingewiesen (vgl. Delhey 2005): Bei Ersterer verschmelzen Staaten mit ihren politischen Systemen und Mitgliedschaftsräumen; bei Letzterer interagieren Gesellschaften und ihre Einwohner. Systemintegration ist immer rechtlich-formaler Natur, durch Verträge besiegelt und durch Verregelung und Institutionenbildung umgesetzt (Beisheim et al. 1999; Higgott 1997). Sozialintegration ist dagegen informell, spontan, lässt sich anregen, aber nicht verordnen. Der Modus der Systemintegration ist überwiegend supranational, ein neues Zentrum bildend, auch wenn die EU immer mehr Netzwerkelemente entwickelt, die nicht dem klassischen Modell von Supranationalität entsprechen. Sozialintegration ist horizontal ausgerichtet, nach nebenan, ohne Spitze und Zentrum. Schließlich ein letzter, entscheidender Unterschied: Beitritte tangieren die Systemintegration nach den derzeitigen Aufnahmeverfahren nur peripher. Neue Mitglieder müssen den gemeinsamen Besitzstand an Verträgen und Verordnungen komplett übernehmen, was eine weitgehende Invarianz der politisch-rechtlichen Verschmelzung gegenüber Erweiterungen garantiert.3 Allenfalls verändert sich der Anteil der Länder, die an einzelnen Integrationsprojekten beteiligt sind, wie Schengen oder Euroland. Dagegen können Erweiterungen die Sozialintegration deutlicher stärken oder schwächen. Relevanz und Gemeinschaftssinn lassen sich in keinem „Besitzstand“ festschreiben, der auf neue Mitglieder einfach übertragen wird.
2
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Auch wenn es eine Vielzahl von Untersuchungen zur europäischen Identität gibt, wird die Brücke zur Sozialintegration selten geschlagen (unter den Ausnahmen: Gerhards/Rössel 1999). Allerdings hat die europäische Identität neben der sozialkulturellen Komponente („cultural identity“) auch eine auf die EU als politisches System gerichtete Komponente („civic identity“) (Bruter 2003). Europäische Identität misst deshalb eine Mischung aus transnationaler und supranationaler Orientierung. Was die Chancen weiterer politischer Integrationsbemühungen anbelangt, ist diese Invarianz natürlich nicht garantiert.
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Empirisches Beispiel: Vertrauen und Vertrautheit
Aus Anlass der jüngsten Erweiterungen der EU soll im Folgenden die „Optimalität“ des Integrationsraums anhand von interpersonalem Vertrauen und interpersonaler Vertrautheit illustriert werden. Zwischenmenschliches Vertrauen ist spätestens seit Putnam ein wichtiges sozialwissenschaftliches Konzept. Vertrauen ist die Erwartung, dass sich andere verlässlich und freundlich verhalten (Inglehart 1991). Wer vertraut, geht davon aus, dass andere ihm nicht wissentlich schaden und, wenn immer möglich, in seinem Sinne handeln (Newton 2001). Die Sozialkapitalforschung geht von vielfältigen positiven Wirkungen für alle Arten menschlicher Organisation aus (Fukuyama 1995). Hier sollen wenige Argumente genügen: In der Regel wird argumentiert, dass mit Vertrauen Empathie, Solidarität und Inklusionsbereitschaft gegenüber „anderen“ einhergehen (Putnam 2000; Uslaner 2002). Vertrauen erleichtere Zusammenarbeit und die Erstellung kollektiver Güter; beinhalte eine moralische Selbstverpflichtung, sich um das Wohlergehen anderer zu kümmern; stärke die Bindung der Menschen an die Gemeinschaft und erhöhe die Bereitschaft, sich Fremden gegenüber zu öffnen. Die Europäer müssen nun nicht allen Menschen weltweit vertrauen. Für die Staatengemeinschaft ist die Erwartung zentral, dass sich die Bevölkerungen der Partnerländer verlässlich und freundlich verhalten. Der sich vertiefenden Systemintegration im Rahmen der EU würde entsprechen, dass sich die EU-Bürger untereinander grenzüberschreitend vertrauen, im Idealfall ebenso sehr wie den eigenen Landsleuten. Interpersonales Vertrauen sollte sich zumindest EU-weit generalisieren und nicht an der eigenen Landesgrenze halt machen. Für eine Staatengemeinschaft ist Vertrauen deshalb eine so wichtige Ressource, weil die „mechanische“ Solidarität des Nationalstaats nicht vorausgesetzt werden kann (Münch 2001b). Vertrauen misst die Qualität der informellen Beziehungen in der Staatengemeinschaft. Vertrautheit, mein zweiter Beispielindikator, misst deren Quantität, also wie relevant die Europäer füreinander sind. Vertrautheit definiere ich hier als die Sicherheit, mit der die Europäer einander einschätzen können. Wissen sie, ob sie den Mit-Europäern vertrauen können, sind sie füreinander relevant. Sind die Mit-Europäer hingegen ein Buch mit sieben Siegeln, so dass keine Einschätzung der Vertrauenswürdigkeit, weder positiv noch negativ, möglich ist, spricht das für eine geringe Relevanz. Aus diesem Grund ist der hier verwendete Begriff von Vertrautheit ein Indikator für die quantitati200
ve Verflechtung im Sinne von Relevanz. Inhaltlich ist er hier, anders als die umgangssprachliche Verwendung von Vertrautheit, neutral. Er impliziert nicht zwangsläufig Solidarität, wie es unser umgangssprachliches Verständnis von Vertrautheit durchaus tut. Man kann sich beispielsweise sehr sicher in seinem Urteil sein, anderen nicht zu vertrauen, aus welchen Gründen auch immer. In diesem Fall ist, so mein Argument, die Vertrautheit hoch (Relevanz), aber eben nicht das Vertrauen (Gemeinschaftssinn). Die folgenden Auswertungen beruhen auf einem aggregierten Datensatz dyadischer Vertrauensbekundungen, die aus der aktuellen European Election Study 2004 gewonnen wurden (Schmitt/Loveless 2004). Bis auf Malta nahmen alle Länder der EU-25 teil. Die EES-Umfragen sind jeweils repräsentativ für die für Europawahlen wahlberechtigte Einwohnerschaft, mithin Inländer und EU-Ausländer. Insgesamt wurden 28.861 Personen interviewt. Für meine Auswertungen habe ich jeweils nur die Inländer berücksichtigt, also diejenigen mit entsprechendem Pass. Die Samplegrößen liegen zwischen 500 in Griechenland und Luxemburg und 2100 in Schweden. In den meisten Ländern wurden um die 1000 Personen befragt. Unter anderem wurde gefragt, wie sehr sie der Bevölkerung verschiedener Länder vertrauen (darunter auch das eigene), wobei jedes Land als Vertrauensadressat einzeln abgefragt wurde (siehe Abbildung 1):4 Die Antwortvorgaben waren „viel Vertrauen“ und „wenig Vertrauen“. Aus den individuellen Antworten lässt sich berechnen, wie sich die Europäer als nationale Kollektive einschätzen: wie sehr die Deutschen den FRANZOSEN vertrauen, die Franzosen den DEUTSCHEN usw.5 Für jedes Länderpaar wurde ein Vertrauensindex gebildet (nach Merritt 1968). Bei positiven Werten überwiegt viel Vertrauen (Maximalwert +100), bei negativen wenig Vertrauen (Minimalwert -100). Beim Wert 0 halten sich beide die Waage. Der Vertrautheitsindex lässt sich aus der gleichen Frage gewinnen: als Anteil derer, die eine dezidierte Meinung, gleich ob positiv oder negativ, über die Vertrauenswürdigkeit der Partnervölker haben. Der Wertebereich ist hier 0 (völlige Unvertrautheit, das heißt, alle Befragten antworten mit „weiß nicht“ oder verweigern die Auskunft) bis 100 (alle Befragten haben eine dezidierte Meinung). Die Vertrauensfrage wurde leider nicht in Belgien, 4 5
Der Fragetext nimmt keinen Bezug auf die Europäische Union und „framed“ damit die Frage nicht. Um Sender und Adressat des Vertrauensurteils besser auseinander halten zu können, sind die Adressaten in Kapitälchen gedruckt.
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England, Schweden und Litauen gestellt; Malta nahm, wie bereits erwähnt, nicht an der Umfrage teil. Somit liefert die Umfrage für die EU-25 460 überwiegend wechselseitige Einschätzungen, zusätzlich 60 Einschätzungen mit BULGAREN, RUMÄNEN und TÜRKEN als Vertrauensadressaten. Damit lassen sich rund drei Viertel der theoretisch möglichen 600 Dyaden der EU25 abdecken und zwei Drittel der 756 Dyaden der „EU-27 plus Türkei“. Abbildung 1 zeigt einerseits, wie viel transnationales Vertrauen die EUBürger haben (linke Abbildung, Nationen als Vertrauensgeber); andererseits, wie die Vertrauenswürdigkeit einzelner Nationen eingeschätzt wird (rechte Abbildung, Nationen als Vertrauensempfänger). Abbildung 1:
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Nationen als Vertrauensgeber und -empfänger6
Für die Auswertungen in diesem Beitrag wurden nur die Länder der EU-27 plus die Türkei berücksichtigt.
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Abbildung 2:
Vertrauen und Vertrautheit zwischen den Europäern (Stand 2004)
Jeder Punkt steht für ein Länderpaar (Bewertung von Land B durch Land A).
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Im Folgenden wird eine heute (Datenlage von 2004) bestehende EU-15, EU25 und „EU-27 plus“ simuliert.7 Der Grad der Systemintegration dieser drei EU-Varianten ist, so lässt sich argumentieren, praktisch unverändert. Wir wollen nun wissen, inwieweit das auch für die Sozialintegration gilt – unser Optimalitätskriterium. Die obere Grafik in Abbildung 2 zeigt, wo die Länderpaare der EU-15 im Hinblick auf Vertrautheit und Vertrauen angesiedelt sind. Jeder Punkt steht für ein Länderpaar (Einschätzung der bewerteten Bevölkerung durch die bewertende Bevölkerung). In der Mehrzahl sind die Dyaden in der rechten oberen Ecke angesiedelt. Das bedeutet: Ganz überwiegend bringen die Bürger der alten Mitgliedstaaten einander hohes Vertrauen entgegen und sie sind sich in diesem Urteil recht sicher. Zunächst zum Vertrauen: Im Mittel erreicht das Vertrauensbarometer einen Wert von 46 – auf einer Skala, wie erwähnt, von +100 bis -100. Sechs von zehn Länderpaaren sind durch sehr hohes Vertrauen gekennzeichnet (definiert als ein Wert von 75 oder höher). Als besonders vertrauenswürdig beurteilen die Franzosen die BELGIER, die Luxemburger die NIEDERLÄNDER (und umgekehrt), die Deutschen, Luxemburger und Niederländer die DÄNEN und SCHWEDEN, die Dänen die SCHWEDEN, FINNEN, LUXEMBURGER und NIEDERLÄNDER, um nur einige Beispiele zu nennen. Hingegen fällt die Bewertung in nur 4% der Fälle unterkühlt aus (Werte unterhalb der Nullmarke). „Wenig Vertrauen“ überwiegt in folgenden Dyaden: Franzosen gegenüber BRITEN, Niederländer gegenüber ITALIENERN, Iren gegenüber GRIECHEN, Portugiesen gegenüber BRITEN und GRIECHEN und Griechen gegenüber BRITEN. Letztere Dyade ist die einzig wirklich frostige Dyade der alten EU (Indexwert von -58). Das Vertrautheitsbarometer, unser Relevanzindikator, liegt im Schnitt bei 83. Das heißt, acht von zehn Befragten wissen die Bevölkerung der Partnerländer in ihrer Vertrauenswürdigkeit einzuschätzen. Nur ein Länderpaar liegt unter der 60%-Marke: Vier von zehn Italienern wissen nicht anzugeben, ob sie nun den LUXEMBURGERN vertrauen können oder nicht. In einer Reihe weiterer Dyaden liegt dieser Anteil bei rund einem Drittel. Insbesondere Portugiesen und Italiener sind sich unsicher darüber, wie sie die MitEuropäer einschätzen sollen. Die Osterweiterung von 2004 verändert das Bild deutlich (mittlere Grafik). Viel mehr Punkte sind nun in der unteren und linken Hälfte des Dia7
Für eine Simulation aller historischen Erweiterungsschritte siehe Delhey 2006, 2007. Das Bezugsjahr ist hier allerdings 1997, also vor der Osterweiterung.
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gramms platziert. Inhaltlich bedeutet das, dass sich die Sozialintegration auf beiden Dimensionen verringert hat. Wenige der neu hinzugekommenen Länderpaare sind durch überschäumendes Vertrauen gekennzeichnet; überwiegend werden Dyaden mit durchschnittlichem oder unterdurchschnittlichem Vertrauen hinzugefügt. In der EU-25 sind nur noch 43% der Bewertungen durch großes Vertrauen gekennzeichnet, während sich der Anteil unterkühlter Dyaden auf ein Viertel versechsfacht hat. Der Minimalwert liegt nun bei -78. Konsequenterweise fällt das Barometer des durchschnittlichen Vertrauens um 22 Punkte auf nunmehr 24 – ein statistisch hochsignifikanter Schwund an Vertrauenskapital. Doch nicht nur das Vertrauen, auch die Vertrautheit ist geringer. Der Anteil der Dyaden mit einem hohen Grad an Vertrautheit ist auf zwei Drittel geschrumpft – nicht zuletzt Ausdruck der geografischen Entfernungen in einer Staatengemeinschaft, in der sich der Anteil der Grenzanrainer drastisch verringert hat (Delhey 2006). Mit anderen Worten: In der osterweiterten EU sind die Europäer im Mittel weniger relevant füreinander. Tabelle 1:
Kennziffern der Sozialintegration
Vertrauen Verfügbare Fälle (Dyaden) Mittelwert Standardabweichung Maximum Minimum Großes Vertrauen (>50) Mittleres Vertrauen Geringes Vertrauen (75) Mittlere Vertrautheit Geringe Vertrautheit (