Exzellenzcluster ,Gesellschaftliche Abhängigkeiten und soziale Netzwerke‘ Krisen und Schulden
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Exzellenzcluster ,Gesellschaftliche Abhängigkeiten und soziale Netzwerke‘ Krisen und Schulden
Exzellenzcluster ,Gesellschaftliche Abhängigkeiten und soziale Netzwerke‘
Krisen und Schulden Historische Analysen und gegenwärtige Herausforderungen
Herausgegeben von Curt Wolfgang Hergenröder
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Dorothee Koch VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Satz: Priska Schorlemmer Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17993-3
Inhaltsverzeichnis
Vorwort ................................................................................................................. 7 Ulrich Förstermann Grußworte ............................................................................................................. 9
I. Krisenbewältigung in der Praxis Dirk Seifert Wege aus der Krise in Europa, Deutschland und Rheinland-Pfalz ..................... 15 Wolfgang Spitz Inkassounternehmen. Mittler zwischen Gläubiger und Schuldner...................... 21
II. Krisen im Blickpunkt der Wissenschaft Nina Bender/Klaus Breuer Junge Menschen und frühe Schulden – Finanzielle Handlungskompetenz im Fokus wirtschaftspädagogischer Forschung…………………………………….45 Michael Bock Kriminalität in Krisen. Einige Anmerkungen zu späten Einstiegen in die Straffälligkeit ...................................................................................................... 63 Désirée Bender/Tina Hollstein/Lena Huber/Cornelia Schweppe Krisen und Schulden: Sozialpädagogische Perspektiven .................................... 81 Curt Wolfgang Hergenröder Krisenbewältigung durch juristische Begriffsbildung – Verbraucherschutz als Schuldnerschutz ............................................................. 99
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Inhaltsverzeichnis
Carsten Homann Krise und Schulden – Eine (rechtliche) Begriffsklärung .................................. 125 Sonja Justine Kokott Krisen im Recht ................................................................................................ 137 Eva Münster/Stephan Letzel Krankheit als Auslöser einer Überschuldungssituation von Privatpersonen – Ursachen-Wirkungsbeziehung von Krankheit und Schuldenkrise.................... 157 Daniel Reupke Finanzkrise historisch – Kreditnetzwerke in der SaarLorLux-Region während der Krisenszenarien des 19. Jahrhunderts. ......................................... 165 Susanne Schake Augustus’ Krisenmanagement in den Provinzen: Schuldenbekämpfung durch Verwaltungsmaßnahmen? ....................................................................... 191 Thomas Wirtz Schulden und Krise in spätmittelalterlichen Städten ........................................ 215
Autorenverzeichnis……………………………...……………………………221
Vorwort
Private Schulden bedrohen nicht nur die autonome Lebensgestaltung von Individuen, sondern führen auf lange Sicht zu einem gesamtgesellschaftlichen Problem, wenn die aus Arbeitskraft entstehenden Pfeiler der sozialen Sicherung wegbrechen und die über Generationenverträge ausgehandelten Abkommen durch zunehmende Ausfälle der Geberpersonen gefährdet sind. In einem interdisziplinären Zugang widmet sich der rheinland-pfälzische Exzellenzcluster der Universitäten Mainz und Trier „Gesellschaftliche Abhängigkeiten und soziale Netzwerke“ sowie der Interdisziplinäre Arbeitskreis „Armut und Schulden“ der Universität Mainz in Kooperation mit einem Forschungsprojekt der Universität des Saarlandes in Saarbrücken den mannigfaltigen Facetten der Schuldenproblematik. Die Forschergruppe vereint historische, juristische, kriminologische, sozialmedizinische, erziehungswissenschaftliche und wirtschaftspädagogische Theorien und Methoden und stellt die Ergebnisse in einem fortwährenden Austausch zur Diskussion. Auf einer Makroebene werden sowohl die wirtschaftliche Bedeutsamkeit von privaten Schulden sowie die rechtlichen Rahmenbedingungen thematisiert. Berücksichtigt wird im Verbund zudem die personale Ebene unter Einbezug der möglichen auslösenden Faktoren finanzieller Krisen, der intrapersonellen Regulation finanzieller Entscheidungen sowie der psychosozialen und sozioökonomischen Folgen und Hintergründe von unangemessener Verschuldung und Überschuldung. Historische und aktuelle Forschung stehen hierbei in einem ertragreichen Diskurs; die Erkenntnisse der Geschichte dienen der Interpretation der Befunde aus der Gegenwart. Die Auswirkungen der ökonomischen Zwangslage auf die wirtschaftliche, rechtliche, gesellschaftliche und gesundheitliche Lebenssituation der Betroffenen stehen ebenso im Fokus des wissenschaftlichen Interesses wie das weite Feld der Bewältigungsstrategien und Unterstützungskonzepte auf dem Weg in die wirtschaftliche und soziale (Re-)Integration des überschuldeten Personenkreises in gesellschaftliche Handlungsformen. Untersucht werden auch die besonderen Herausforderungen, mit denen junge Menschen am Übergang in die finanzielle Autonomie konfrontiert sind. Die Konzepte sozialer Unterstützung für die besonders schutzbedürftige Gruppe der zahlungsunfähigen Privatpersonen standen im Mittelpunkt des ersten Symposiums „Gläubiger, Schuldner, Arme – Netzwerke und die Rolle des Ver-
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Vorwort
trauens“ vom 15. Mai 2009. Der hierzu erschienene Tagungsband vereint den Blick der unterschiedlichen Wissenschaften auf die Bedeutung des persönlichen Unterstützungsnetzwerks eines zahlungsunfähigen Schuldners und betont die Relevanz der Erhaltung und Ausdehnung hilfreicher Netzwerkstrukturen und Netzwerkbeziehungen im sozialen Umfeld der betroffenen Personen. Das zweite Symposium „Krisen und Schulden“ am 16. Juli 2010 an der Universität Mainz beschäftigte sich mit der gesellschaftspolitischen Dimension der Schuldenproblematik. Die Herausforderung der Konferenz bestand in der Annäherung an die Bedeutungsunterschiede von finanziellen Krisen. Fokussiert wurden sowohl die in Interaktion stehenden Akteure in Schuldverhältnissen (Gläubiger und Schuldner) als auch das unterschiedliche Verständnis des Begriffs „Krise“ in den beteiligten wissenschaftlichen Disziplinen. Die Effekte von Schulden und ökonomischen Krisen auf gesellschaftliche Systeme und Strategien zu deren Bewältigung werden unter Berücksichtigung der begrifflichen Orientierungen der einzelnen Wissenschaftsdisziplinen in den folgenden Beiträgen erörtert. Damit greift die vorliegende Publikation nicht nur eine in individueller und gesellschaftlicher Sicht zunehmend relevante Problematik auf, sondern stellt sich auch dem Anspruch interdisziplinärer Bearbeitung.
Grußworte Prof. Dr. Ulrich Förstermann Vizepräsident der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Meine sehr verehrten Damen und Herren, willkommen zum diesjährigen Kolloquium des Teilbereichs „Gläubiger und Schuldner, Kreditbeziehungen im Zeichen monetärer Abhängigkeiten“ (Exzellenzcluster der Universitäten Mainz und Trier) und dem Mainzer Arbeitskreis „Armut und Schulden“. Besonders begrüßen darf ich Herrn Dr. Dirk Seifert vom Ministerium für Wirtschaft, Verkehr, Landwirtschaft und Weinbau Rheinland-Pfalz sowie Herrn Wolfgang Spitz vom Präsident des Bundesverbandes Deutscher InkassoUnternehmer. Ich freue mich, dass Sie alle der Einladung der Kolleginnen und Kollegen nach Mainz gefolgt sind und auch in diesem Jahr unser Tagungsangebot bereichern, indem Sie Ihre Forschungsergebnisse einer interessierten Öffentlichkeit vorstellen. Ziel des Symposiums ist es, den Zusammenhang zwischen wirtschaftlichen Krisensituationen und Schulden aufzuzeigen. Neben wirtschaftlichen und politischen Krisen einer staatlichen Ordnung sind auch Krisen in der individuellen Lebensführung Gegenstand der Untersuchung. Diese Thematik ist im Zeichen der Finanzkrise und der immer weiter steigenden Zahl privater Insolvenzen hoch aktuell. So ist die Unterstützung zahlungsunfähiger Privatpersonen sowie eine Präventionsstrategie zur Vermeidung von Überschuldung dringend notwendig. Gesundheitliche und soziale Beeinträchtigungen, die mit einer Überschuldung einhergehen, können eine deutliche Reduzierung der Teilhabechance an unserem Gesellschaftssystem zur Folge haben. Die Überschuldung privater Haushalte ist zu einem gesellschaftspolitischen Problem ersten Ranges geworden: In Deutschland gelten rund 7 Millionen Menschen als zahlungsunfähig und für die nächsten Jahre wird angesichts der durch die Bankenkrise verursachten wirtschaftlichen Schieflage eine neue Welle von Privatinsolvenzen prognostiziert.
C. W. Hergenröder (Hrsg.), Krisen und Schulden, DOI 10.1007/978-3-531-93085-5_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Ulrich Förstermann
Das Phänomen ist somit von herausragender sozialpolitischer Bedeutung. Im Jahr 2009 fand an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz die erste entsprechende Tagung mit dem Titel „Gläubiger, Schuldner, Arme – Netzwerke und die Rolle des Vertrauens“ statt. Die diesjährige Veranstaltung setzt die im letzten Jahr begonnene Tradition fort. Mainz ist dabei ein durchaus inspirierender Veranstaltungsort. Die Johannes Gutenberg-Universität zählt als Wissenschaftsstandort zu den forschungsstarken deutschen Hochschulen. Rund 2.800 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, darunter 560 Professorinnen und Professoren, lehren und forschen hier in mehr als 150 Instituten und Kliniken. Die große Zahl der am Exzellenzcluster „Gesellschaftliche Abhängigkeiten und soziale Netzwerke“ beteiligten Mainzer Wissenschaftlern unterstreicht die Stellung des Wissenschaftsstandortes Mainz. Der Interdisziplinäre Arbeitskreis „Armut und Schulden“ sowie der Teilbereich I „Gläubiger und Schuldner, Kreditbeziehungen im Zeichen monetärer Abhängigkeiten“ des Exzellenzclusters Trier/Mainz haben im vergangenen Jahr anlässlich des damaligen Symposiums ein gemeinsames Sonderheft der Zeitschrift für Verbraucher- und Privatinsolvenzrecht (ZVI) mit ihren Beiträgen bestritten. Die Tatsache, dass eine juristische Fachzeitschrift ein Sonderheft mit historischen, erziehungswissenschaftlichen, medizinischen, kriminologischen, wirtschaftspädagogischen und juristischen Fachbeiträgen zur Überschuldung der deutschen Gesellschaft herausgibt, beweist das große fachübergreifende Interesse an diesen Forschungsergebnissen. Neben diesen Tagungen bestehen vielfältige Aktivitäten der beteiligten Wissenschaftler zur Einwerbung weiterer Drittmittel, um den Forschungsstützpunkt auszubauen. Langfristig ist die Beantragung einer DFG-Forschergruppe geplant. Die Johannes Gutenberg-Universität unterstützt die weitere Entwicklung dieser Zusammenarbeit in vollem Umfang. Dank sei an dieser Stelle den veranstaltenden Kollegen Prof. Dr. Hergenröder und Prof. Dr. Letzel für Ihr Engagement bei der Organisation dieser Tagung gesagt. In Anbetracht der vielfältigen anderen Verpflichtungen ist ein derartiges Engagement nicht selbstverständlich. Mein Dank gilt auch den beteiligten Kooperationspartnern, so Herrn Prof. Dr. Dr. Bock (Kriminologie, Universität Mainz), Herrn Prof. Dr. Breuer (Wirtschaftspädagogik, Universität Mainz), Frau Prof. Dr. Clemens (Universität des Saarlandes), Herrn Prof. Dr. Hamburger (Pädagogik, Universität Mainz), Frau Prof. Dr. Herrmann-Otto (Universität Trier), Herrn Prof. Dr. Irsigler (Universität
Grußworte
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Trier), Frau Prof. Dr. Schnabel-Schüle (Universität Trier) sowie Frau Prof. Dr. Schweppe (Pädagogik, Universität Mainz). Ich darf Ihnen für den heutigen Tag in Mainz anregende Diskussionen und interessante Begegnungen wünschen. Ich hoffe sehr, Sie spätestens bei der nächsten Veranstaltung dieser Symposiumsreihe wieder hier an der der Johannes Gutenberg-Universität begrüßen zu dürfen! Herzlichen Dank und viel Erfolg für Ihren heutigen Tag.
I. Krisenbewältigung in der Praxis
Wege aus der Krise in Europa, Deutschland und Rheinland-Pfalz Dirk Seifert
Meine sehr verehrten Damen und Herren, zunächst vielen Dank für die freundliche Einladung zu diesem hochinteressanten Symposium „Krisen und Schulden“. Ich darf Ihnen auch herzliche Grüße von Herrn Minister Hendrik Hering übermitteln, der leider nicht persönlich teilnehmen kann. Das Thema meines Vortrags lautet: „Wege aus der Krise in Europa, Deutschland und Rheinland-Pfalz“. Das ist – zugegeben – eine umfangreiche Thematik. Diese Gesamtbetrachtung von EU-, Bundes- und Landesebene ist jedoch angesichts der wirtschaftlichen und politischen Verzahnungen und Interdependenzen unabdingbar. Für mich liegt dabei die Betonung auf dem Wort „Wege“. Es geht um Wege aus der Krise. Schön wäre es natürlich, wüssten wir heute schon Patentantworten oder gar einen Königsweg. Dem ist aber leider nicht so. Die Wege aus der Krise in Europa, Deutschland und Rheinland-Pfalz erinnern mich ein wenig an unsere dreispurigen Autobahnen nach dem harten Winter. Alle Fahrspuren weisen Schlaglöcher auf. Alle drei müssen wieder eben und durchgängig befahrbar werden, wollen wir gemeinsam vorankommen. Einige dieser Unebenheiten haben sich relativ kurzfristig glätten, einige Schlaglöcher zügig neu füllen lassen. Andere Fahrbahnabschnitte aber müssen gänzlich neu präpariert werden. Da gibt es unausweichlich jede Menge Baustellen, Diskussionen und Ärger, auch Umwege und Umleitungen. Die wesentlichen wirtschaftspolitischen Ziele von EU, Bund und Land aber dürfen wir bei alledem nicht aus den Augen verlieren. Um Wachstum zu generieren, braucht es Stabilität und Wettbewerbsfähigkeit. Zum Erreichen dieser Ziele bietet das derzeitige konjunkturelle Umfeld eine recht solide Basis. In diesen Tagen hat der IWF seine Wachstumsprognose für 2010 erneut nach oben korrigiert. Das globale Wachstum werde vor allem von aufstrebenden Staaten wie China, Indien und Brasilien angetrieben. Auch für Deutschland rechnet der IWF weiter mit einer moderaten Erholung.
C. W. Hergenröder (Hrsg.), Krisen und Schulden, DOI 10.1007/978-3-531-93085-5_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Dirk Seifert
Erstaunlich stabil präsentiert sich zudem der Arbeitsmarkt in Deutschland und Rheinland-Pfalz. Auf den Wirtschaftseinbruch hat er gerade auch in Rheinland-Pfalz äußerst robust reagiert. So nähert sich die Zahl der Arbeitslosen in Rheinland-Pfalz wieder dem Niveau der Zeit kurz vor Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise. Die Arbeitslosenquote lag im Juni 2010 bei 5,5 Prozent. Im Juni 2009 hatte sie noch 6,1 Prozent betragen. Rheinland-Pfalz besitzt damit im Ländervergleich den drittbesten Wert nach Bayern und Baden-Württemberg. Dies ist vor allem auch das Ergebnis besonders verantwortungsvollen Handelns unserer mittelständischen Unternehmen, die genau wissen, was sie an ihren gut ausgebildeten Arbeitnehmern haben. Aber auch die Landesregierung hat Anteil an dieser Entwicklung, indem ganz bewusst der Weg eingeschlagen wurde, Unternehmen in der Krise zu unterstützten. Selbstverständlich gilt es dabei immer, den Einzelfall zu prüfen. Liegt ein tragfähiges Geschäftsmodell vor und ist das Unternehmen tatsächlich aufgrund der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise und eben nicht aus anderen Gründen in massive Schwierigkeiten gekommen – sollte schnell, entschlossen und gezielt gehandelt und das Unternehmen unterstützt werden. Rheinland-Pfalz hat daher schon sehr frühzeitig – noch bevor auf Bundesebene von einem Konjunkturpaket II die Rede war – den Bürgschaftsrahmen des Landes massiv ausgeweitet und die Bürgschaftsvergabe vereinfacht. Und es hat sich gezeigt, dass dieser Weg richtig war, die Maßnahmen dem Mittelstand unmittelbar helfen und den Landeshaushalt gleichzeitig nur gering belasten. Hinzu gekommen sind die Maßnahmen im Rahmen des Konjunkturpaktes II. Mit zusätzlichen Investitionen von mehr als 820 Millionen Euro stemmt sich Rheinland-Pfalz in den Jahren 2009 bis 2011 gegen die Finanz- und Wirtschaftskrise. Von diesen Mitteln stammen 469 Millionen Euro vom Bund, den Rest tragen Land, Kommunen und freie Träger. Rund zwei Drittel der Mittel fließen in die Bildungsinfrastruktur. Mehr als drei Viertel des Fördermittelvolumens fließen in kommunale Aufgabenbereiche, in dringende Zukunftsinvestitionen, stärken die kommunale Liquidität, geben wichtige Impulse und ermöglichen Aufträge für den lokalen und regionalen Mittelstand. Gerade in diesem Frühjahr und Sommer beobachten wir eine Wirtschaft in Rheinland-Pfalz, deren Erholung sich dynamisch fortsetzt. Die Geschäftslage bessert sich zunehmend, die Unternehmen blicken gegenwärtig sehr positiv in die Zukunft. Dies zeigen die Umfragen der Kammern im Land wie auch die statistischen Kennziffern der Auftrags- und Umsatzentwicklung. Es scheint derzeit, dass wir in 2010 ein Wirtschaftswachstum in Deutschland und in Rheinland-Pfalz erreichen, das sogar leicht über zwei Prozent liegen könnte. Dies alles stimmt hoffnungsfroh. Aber dennoch bleibt in diesem jetzt stabiler werdenden Aufschwung das Thema der Unternehmensfinanzierung ganz vorn auf der wirt-
Wege aus der Krise
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schaftspolitischen Agenda. Denn nach einem wirtschaftlichen Abschwung ist – wie wir wissen – die Eigenkapitaldecke der Unternehmen vielfach noch sehr dünn, gleichzeitig aber steigen der Investitions- und Kapitalbedarf. Auch hier gilt es weiter, adäquate Wege aufzuzeigen und zu gehen. In Rheinland-Pfalz sind wir dabei, mit einem neuen Mittelstandsförderungsgesetz zukunftsweisende Antworten auf diese Herausforderungen zu geben. Überschuldungen und Unternehmensinsolvenzen gilt es unbedingt zu vermeiden. Geht es doch um Arbeitsplätze, um Vermögenswerte, eingespielte Unternehmensorganisationen, langjährige Erfahrungen in Forschung und Innovation, Produktion und Absatz. Eine möglichst maßgeschneiderte Mittelversorgung für den Mittelstand gerade jetzt im Aufschwung ist entscheidend für unseren wirtschaftlichen Erfolg und für unseren Wohlstand von morgen. Zugute kommt uns, dass wir in Deutschland gerade mit den Sparkassen, Volksbanken und Raiffeisenbanken verlässliche starke Partner für den Mittelstand haben. Und dennoch wäre es wohl vermessen, würde man die im Herbst 2008 so vehement zutage getretenen Probleme im Bankensektor, auf den Finanzmärkten für gelöst halten. Es ist daher richtig, die Kraft ebenso auf die Prävention von Finanzkrisen zu richten. Vielfältig sind die Aspekte und Maßnahmen, die derzeit auf europäischer und auch auf G 20 Ebene diskutiert werden und zum Teil mehr und mehr Gestalt annehmen. Zu nennen ist das Fitmachen der Eurozone für den Fall staatlicher Liquiditäts- und Solvenzkrisen durch eine grundlegende Reform des Europäischen Stabilitätspaktes, die Überwachung nationaler Haushalte, scharfe Sanktionen bei Verstößen, Insolvenzverfahren für Pleitestaaten oder auch die verstärkte Koordination der Wirtschaftspolitiken. Und damit sind wir mittendrin in einer der Großbaustellen auf dem Weg aus der Krise. Eine äußerst spannende zumal. Es geht um Kompetenz- und Machtfragen, um Fragen von Staatsverständnis und Staatlichkeit. Gerade aus der Sicht eines Bundeslandes in einem föderalen Staat ist es wichtig, dass bei all diesen Prozessen, Neujustierungen und Neuordnungen die Grundsätze von Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit gewahrt bleiben. Wie schwierig eine europäische Lösung in diesen Feldern ist, hat sich gerade in diesen Tagen in Straßburg gezeigt. Verhandlungen zwischen EUKommission, Rat und Parlament bezüglich einer dreifachen EU-Finanzaufsicht für Banken, Börsen und Versicherungen sind sehr kontrovers geführt worden und eine einvernehmliche Lösung wurde erst sehr spät erreicht. Etliche Mitgliedstaaten fürchten die Aushebelung ihrer nationalen Kompetenzen und ihrer nationalen Kontrollbehörden. Stabilität der Währung, akzeptables Zinsniveau – dies wird mittelfristig nur realisierbar sein, wenn der Weg der Konsolidierung der öffentlichen Haushalte konsequent und auch intelligent beschritten wird. Finanzmärkte und gesamtwirt-
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Dirk Seifert
schaftliche Nachfrage wurden von der Bundesregierung seit Herbst 2008 mit immensen Beträgen stabilisiert. „Alternativlos“ – dies war in der Hochphase der Krise und Krisenbewältigung eine der in diesem Zusammenhang häufig verwendeten Vokabeln. Auch der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung hat in seinem Jahresgutachten 2009/2010 die deutschen Konjunkturprogramme gelobt. Mit ihnen sei eine Stabilisierung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage gelungen, ein noch stärkerer Einbruch des Bruttoinlandsprodukts sei verhindert worden. Alternativlos ist es nun aber auch, dass eine deutliche Reduzierung der staatlichen Neuverschuldung konsequent in Angriff genommen wird. Denn es geht um das Zurückgewinnen des Vertrauens von Konsumenten und privaten Unternehmen in die Handlungsfähigkeit des Staates. Konsum und Investition sind immer auch eine Frage des Vertrauens. Ob allerdings das aktuelle Sparpaket des Bundes dieses Vertrauen tatsächlich herstellen kann, bleibt mehr als fraglich. Kleinteilig, sozial ausgesprochen unausgewogen und verbunden mit einer erschreckenden Ungewissheit über tatsächlich zu realisierende Konsolidierungsvolumina – vertrauensbildende Maßnahmen sollten anders aussehen, damit positive Wirkungen auf die konjunkturelle Entwicklung ausgelöst werden. Völlig unausgegoren mutet einem in diesem Zusammenhang auch der Versuch an, das Fiskusprivileg im Insolvenzverfahren wieder einzuführen. Hier rechnet der Bund laut Sparpaket mit angeblich jährlich 500 Millionen Euro. Dies allerdings wären extrem teuer erkaufte Einnahmen. Der Bundesverband Deutscher Inkassounternehmen hat zu Recht davor gewarnt, dass diese Maßnahme zu ganz erheblichen Forderungsverlusten für kleine und mittlere Unternehmen führen kann. Ein Anstieg der Unternehmensinsolvenzen sei zu befürchten. Ich sehe dies genau so. Denn der Fiskus hätte dann ja keinen Anreiz mehr, sich zur Abwendung eines Insolvenzverfahrens auf Verhandlungen über die Rückzahlung von Steuerforderungen einzulassen. Gerade in der jetzigen Wirtschaftssituation ist dies absolut kontraproduktiv und entspricht in keiner Weise der angestrebten konstruktiven Gesamtreform des Insolvenzrechts. Hinzu kommt, dass wir zwar derzeit davon ausgehen können, aber nicht wirklich wissen, ob die konjunkturelle Erholung im Jahr 2011 tatsächlich weiter uneingeschränkt stabil fortschreitet. Ich zitiere Keynes, der lakonisch formulierte: „Die Märkte können länger irrational bleiben, als du solvent.“
Wir sollten positiv gewappnet sein. Das Wirtschaftsministerium Rheinland-Pfalz ist daher der Auffassung, dass die Instrumente, die sich in der Krise bewährt haben, – wie etwa der Wirtschaftsfonds Deutschland – über das Jahresende 2010 hinaus verlängert werden sollten.
Wege aus der Krise
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Angesichts der Schuldenbremse, der prognostizierten sinkenden Steuereinnahmen, des traditionell hohen Personalanteils der Länderhaushalte und der demographischen Entwicklung sind auch die Konsolidierungsaufgaben der Länder mit Sicherheit kein leichter Sommerspaziergang. Umso wichtiger ist es, konsequent und kontinuierlich weiter in die Bereiche zu investieren, die direkte Zukunft bedeuten. Dies sind Bildung, Ausbildung, Fachkräfte. Es sind die zentralen Stichworte, gerade auch in Bezug auf unseren Mittelstand. Rheinland-Pfalz wird daher den erfolgreich eingeschlagenen Weg weitergehen, nachhaltig in Bildung und Ausbildung investieren und die duale Ausbildung im Land weiter stärken. Denn es sind die gut ausgebildeten Menschen, die die Zukunft unseres schönen Landes, die Zukunft von Rheinland-Pfalz mit innovativen Technologien, Produktionsverfahren und Produkten bestimmen. Ich freue mich nun sehr auf die folgenden Vorträge des Symposiums „Krisen und Schulden“ zu den Themen „Inkassounternehmen“, „Finanzkrise historisch“, „Kriminalität in Krisen“ und „junge Menschen und frühe Schulden“. Besonders freue ich mich auf den Vortrag zu Augustus Krisenmanagement in den Provinzen. Ich bin überzeugt: Erst die offene und zugleich intensive Erörterung einer Thematik aus der Sicht und Erfahrung verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen macht den Weg frei für ein Verständnis des Ganzen. Und ich bin sicher: Wir alle werden heute ein gutes Stück dazulernen. Ganz herzlichen Dank daher allen engagierten Damen und Herren, die diese hochklassige Veranstaltung betreut, organisiert und möglich gemacht haben.
Inkassounternehmen. Mittler zwischen Gläubiger und Schuldner Wolfgang Spitz
Es gibt wohl kaum jemanden, der mit dem Begriff „Inkasso“ nicht einschlägige Vorstellungen und ein gewisses Unbehagen verbindet, was nicht zuletzt auch auf manche Berichte in den Medien zurückzuführen ist, in denen die Tätigkeit von Inkassounternehmen mit Schuldner- Besuchen von sog. „Außendienst- Mitarbeitern“ in Verbindung gebracht wird, die in Lederjacken vor der Türe des Schuldners stehen und die ihrem Verlangen nach Bezahlung der Schuld zudem auch noch durch das Vorzeigen eines Baseball-Schlägers Nachdruck verleihen. Da gerade das Medium „Fernsehen“ von bewegten Bildern und von „action“ lebt, haben sich derartige medienwirksame Aktivitäten von Geldeintreibern, die mit den Mitteln der Nötigung oder Erpressung, also mit unzulässigen und in der Regel strafbaren Methoden versuchen, die Forderungen ihrer Auftraggeber einzutreiben, in vielen Fällen in den Köpfen festgesetzt. Tatsächlich hat die tägliche Arbeit von Inkassounternehmen – jedenfalls solcher, die Mitglieder des BDIU sind – mit derartigen Aktivitäten aber nichts zu tun: In aller Regel geht es vielmehr um die eher unspektakuläre Fallbearbeitung anhand der Akte. Da die gegenüber der Tätigkeit von Inkassounternehmen bestehenden Vorbehalte vor allem auf unzureichende Kenntnisse über die rechtlichen Rahmenbedingungen der Inkassotätigkeit sowie auch über die Aufgaben und die Dienstleistungsangebote der Inkassounternehmen zurückzuführen sind, soll dieser Beitrag insofern hier Abhilfe leisten und für Aufklärung sorgen und gleichzeitig ein differenziertes Bild der Inkassowirtschaft vermitteln.
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Der BDIU e.V. – Interessenvertretung des Berufsstandes
Die Interessen der Inkassowirtschaft gegenüber Politik und Öffentlichkeit vertritt der im Jahre 1956 gegründete Bundesverband Deutscher Inkasso-Unternehmen e.V. (BDIU).
C. W. Hergenröder (Hrsg.), Krisen und Schulden, DOI 10.1007/978-3-531-93085-5_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Wolfgang Spitz
Der BDIU ist der größte Inkassoverband innerhalb der Europäischen Union und weltweit die zweitgrößte berufsständische Interessenvertretung der mit dem Forderungseinzug befassten Inkassounternehmen. Im BDIU sind die Mehrzahl der 750 in Deutschland aktiv tätigen, nach den Vorschriften des Rechtsdienstleisungsgesetzes (RDG) 750 registrierten Inkassodienstleister zusammengeschlossen. Mit ihrer Mitgliedschaft im BDIU dokumentieren diese Inkassodienstleister, dass sie nicht nur ihren gesetzlichen Pflichten nachkommen, sondern dass sie sich zugleich auch den weiteren hohen Anforderungen des Verbandes an eine gewissenhafte, ordnungsgemäße und redliche Berufsausübung unterwerfen. Derzeit sind rund 550 Mitgliedsunternehmen im BDIU organisiert. Das Mitgliederspektrum ist heterogen; es umfasst kleinere und mittelständische Einzelunternehmen sowie auch die großen Inkassounternehmen im deutschen Markt.
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Aufbau und Organisation des BDIU e.V.
Die Geschäftsstelle des Verbandes befindet sich seit dem 1. November 2007 – in unmittelbarer Nähe zu den fachlich zuständigen Bundesministerien – in der Friedrichstraße in Berlin-Mitte. Nicht nur der zentrale Standort, sondern auch der Aufbau und die Struktur des Verbandes zeigen die vielfältige und nachhaltige Vertretung berufsständischer Interessen. Der BDIU wird dabei durch das Präsidium, dem aktuell acht Mitglieder angehören, vertreten. Für die Umsetzung der durch das Präsidium vorgegebenen Leitlinien des Verbandes ist die Geschäftsstelle verantwortlich. Daneben sind zahlreiche verbandseigene Ausschüsse sowie die regionalen und fachbezogenen Arbeitskreise mit den aktuellen Themen, die die Inkassotätigkeit tangieren, befasst. Ergänzt werden die Organe und Gremien durch den Verbandsbeauftragten für den Datenschutz sowie die durch einen unabhängigen Ombudsmann geleitete verbandseigene Schlichtungsstelle.
1.2
Aufgaben des BDIU e.V.
Die Schwerpunkte der Verbandsarbeit liegen neben der berufsständischen Interessenvertretung in der berufsständischen Aufsicht über die BDIU-Mitgliedsunternehmen, der politischen Interessenvertretung sowie der Lobbyarbeit auf nationaler und internationaler Ebene.
Inkassounternehmen
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In diesem Rahmen ist der BDIU nicht nur maßgeblich an der Entwicklung und Fortschreibung der spezifischen Berufsausübungsrichtlinien beteiligt, sondern wird häufig auch von staatlichen Organen um gutachterliche Stellungnahmen gebeten. So nimmt der BDIU u.a. Stellung zu Anträgen von natürlichen und juristischen Personen auf Registrierung als Inkassodienstleister und ist gefragter Experte bei berufsrechtlichen und datenschutzrechtlichen Fragen. Bei allen einschlägigen Gesetzgebungsverfahren auf Europa-, Bundes – oder Länderebene beteiligt sich der BDIU mit Fach-Stellungnahmen aus Sicht der Inkassowirtschaft. Zur Lobbyarbeit gehören neben der Beobachtung und Mitgestaltung der Gesetzgebung auch rechtspolitische Initiativen, rechtspolitische Abstimmungen mit anderen Spitzenverbänden der Wirtschaft und zudem auch die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit in Form von Pressekonferenzen, Pressemitteilungen und Interviews. Das europäische und internationale Engagement des BDIU, der als größtes Mitglied des europäischen Dachverbandes Federation of National Collection Agencies (FENCA) ein eigenes Verbindungsbüro in Brüssel unterhält, ist gekennzeichnet durch einen regelmäßigen Austausch mit den Mitgliedern des europäischen Parlaments sowie den Mitarbeitern der EU-Kommission zu Inkasso relevanten Themen. Der BDIU steht zugleich in regem Kontakt mit dem amerikanischen Berufsverband American Collectors Association (ACA). Daneben bietet der BDIU den Auftraggebern und Schuldnern der Mitgliedsunternehmen ein umfangreiches Beschwerdemanagement und wacht zugleich über die Einhaltung der satzungsrechtlichen Berufspflichten. Werden Verstöße hiergegen festgestellt, kann das Präsidium die in der Satzung geregelten Sanktionen gegen Mitgliedsunternehmen verhängen – bis hin zum Ausschluss eines Mitglieds aus dem Berufsverband. Der Schutz der Mitglieder und der Öffentlichkeit vor unlauterem Wettbewerb durch unseriöse Inkassodienstleister ist dabei vorrangiges Ziel des BDIU. Die Mitgliedschaft im BDIU hat sich daher allgemein zu einem Qualitätssiegel für seriöse Inkassotätigkeit entwickelt. Um den hohen Qualitätsanspruch zu unterstreichen, hat der BDIU zudem zwischenzeitlich in Zusammenarbeit mit dem für die Zertifizierung im Dienstleistungssektor spezialisierten TÜV Saarland ein Zertifizierungsverfahren für Inkassodienstleister initiiert, das zur Verleihung des TÜV-Siegels „TÜV-geprüftes Inkasso“ führen kann. Die Sicherstellung des hohen Qualifikations- und Qualitätsniveaus der BDIU-Mitgliedsunternehmen wird durch regelmäßige Informationen zu allen Inkasso-relevanten Themen in Rundschreiben und ad-hoc-Mitteilungen gewährleistet.
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Wolfgang Spitz
Der BDIU hat im Jahr 2009 zudem die Deutsche Inkasso Akademie GmbH (DIA) gegründet und seither sein auf die Bedürfnisse der Mitgliedsunternehmen zugeschnittenes Aus- und Weiterbildungsangebot konsequent erweitert. Ergänzt wird dieses Schulungsgebot durch einen Sachkundelehrgang, der die Themen der besonderen Sachkunde i.S.d. Registrierungspflicht nach dem RDG vermittelt. Dies alles und eine offensive Verbandspolitik haben in den letzten Jahren zu einer nachhaltigen Verbesserung des Ansehens der Inkassowirtschaft in der Öffentlichkeit geführt.
1.3
Der BDIU als gesellschaftspolitische Kraft
Die Mitgliedsunternehmen des BDIU betreuen zurzeit mehr als 500.000 Gläubiger aus allen Bereichen der Wirtschaft, wobei die gute Zusammenarbeit mit den Gläubigern ein enges, wechselseitiges Vertrauensverhältnis voraussetzt, in dessen Rahmen oftmals auch die Sorgen und Nöte der Auftraggeber zur Sprache kommen. Insofern fungieren die BDIU- Mitglieder gleichsam als „Seismograph“ der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung, so dass deren Rückmeldungen an den Verband frühzeitig wichtige frühzeitige Hinweise auf Problemfelder, z.B. auf negative Auswirkungen der Gesetzgebung, geben, die der BDIU sodann im Rahmen seiner Lobbyarbeit aufgreift. Maßgebliches Kriterium für die erfolgreiche Tätigkeit der BDIU-Mitgliedsunternehmen ist im Übrigen das Bemühen, die bestehenden Geschäftsbeziehungen zwischen dem Auftraggeber, also dem Gläubiger, einerseits und dem Kunden des Auftraggebers, nämlich dem Schuldner, andererseits durch die Inkassotätigkeit nach Möglichkeit nicht negativ zu beeinträchtigen, sondern vielmehr dem Schuldner im Rahmen des Forderungseinzuges geeignete Möglichkeiten aufzuzeigen, die Forderung des Gläubigers im Rahmen seiner finanziellen Möglichkeiten doch noch auszugleichen. Der BDIU und seine Mitglieder sind sich dabei stets auch ihrer Verantwortung im Umgang mit den Schuldnern bewusst und begleiten in ihrer täglichen Praxis aktiv die gesellschaftspolitischen Veränderungsprozesse.
Brettspiel: Was kostet die Welt? Ein besonderes Augenmerk des BDIU liegt in Anbetracht der rund 4 Mio. überschuldeten deutschen Haushalte auf der Prävention der zunehmenden Jugendverschuldung, die nach den Feststellungen des BDIU maßgeblich darauf zurückzu-
Inkassounternehmen
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führen ist, dass den Jugendlichen leider allzu oft weder durch das Elternhaus noch durch die Schule eine ausreichende Finanzkompetenz vermittelt wird. Um einen eigenen Beitrag zur Vermittlung der Finanzkompetenz bei den Jugendlichen zu leisten, hat der BDIU den Künstler und Spieleentwickler Anton Kammerl, Gröbenzell, beauftragt, gemeinsam mit einer Arbeitsgruppe des Verbandes ein Spiel zu entwickeln, das den verantwortungsvollen Umgang mit den Herausforderungen der komplexen ökonomischen Systems spielerisch vermitteln soll und das sowohl im Schulunterricht als didaktische Hilfe als auch im Elternhaus zur Vermittlung von wirtschaftlichem Grundwissen dienen kann. Abbildung 1: Brettspiel: Was kostet die Welt?
Quelle: Bundesverband Deutscher Inkasso-Unternehmen e.V.
Unterstützung gemeinnütziger Einrichtungen durch die BDIUMitgliedsunternehmen Dass die BDIU-Mitgliedsunternehmen ihre gesellschaftspolitische Verantwortung auch über die Grenzen des Verbandes hinaus handfest wahrnehmen, wurde anlässlich eines Spendenabends zugunsten der Marianne v. Weizsäcker-Stiftung eindrucksvoll deutlich, den der BDIU anlässlich seiner Jahreshauptversammlung am 23. April 2010 in Berlin durchführte. Die Marianne v. Weizsäcker-Stiftung unterstützt ehemals suchtkranke Menschen bei der sozialen und beruflichen Integration nach einer erfolgreichen Therapie und gewährt gezielte finanzielle Hilfen. Durch eine enge Kooperation mit den örtlichen Beratungsstellen ist die Unterstützung der Stiftung eingebunden in eine ganzheitliche Lebensberatung nach dem Prinzip „Hilfe zur Selbsthilfe“.
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Wolfgang Spitz
Bei dem BDIU-Spendenabend zugunsten der Marianne v. WeizsäckerStiftung konnte BDIU-Präsident Wolfgang Spitz, in Gegenwart des Altbundespräsidenten Dr. Richard v. Weizsäcker, einen stattlichen Spendenscheck in Höhe von rund 40.000 Euro an die Schirmherrin der Stiftung, Frau Marianne v. Weizsäcker und an die Stiftungs-Geschäftsführerin, Frau Rita Hornung, überreichen. Mit ihren Spenden unterstützen die BDIU-Mitglieder die wertvolle Arbeit der Stiftung in ihren Bemühungen, den ehemals suchtkranken Menschen einen unbelasteten persönlichen und beruflichen Neustart zu ermöglichen.
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Trendumfragen des BDIU
Der BDIU führt bereits seit vielen Jahren, und zwar traditionell im Frühjahr und im Herbst eines jeden Jahres, eine Trendumfrage unter seinen Mitgliedsunternehmen durch. Diese beschäftigt sich u.a. mit der Entwicklung der Insolvenzen im gewerblichen Bereich und im Bereich der privaten Verbraucher sowie auch mit Fragen zum aktuellen Zahlungsverhalten der gewerblichen und der privaten Schuldner, den diesbezüglichen Ursachen und den sich hieraus ergebenden branchenspezifischen sowie den korrespondierenden gesamtwirtschaftlichen Entwicklungen. Nachfolgend werden einige Auszüge aus der Frühjahrsumfrage 2010 zur Einschätzung der Situation von Verbrauchern (1.–6.) sowie der Wirtschaft (7.–11.) dargestellt.
1. Anzahl der Verbraucherinsolvenzen in Deutschland 2001–2010 Seit der Einführung des Verbraucherinsolvenzverfahrens in die im Jahre 1999 in Kraft getretene neue Insolvenzordnung (InsO) war bis zum Jahre 2007 ein kontinuierlicher Anstieg der Verbraucherinsolvenzen bis auf mehr als 100.000 Fälle zu verzeichnen. Hintergrund für diese erschreckende und alarmierende Entwicklung ist der Umstand, dass ca. 3 bis 4 Mio. Haushalte in Deutschland überschuldet sind, d.h., dass diese Haushalte nicht (mehr) in der Lage sind, ihre laufenden Verbindlichkeiten aus ihrem regelmäßigen Einkommen zurückzuführen. Gleichzeitig ist zu berücksichtigen, dass von einer Überschuldungssituation auch zahlreiche Familien betroffen sind, so dass im Ergebnis ca. 5–6 Mio. Personen direkt oder indirekt in einer akuten Überschuldungssituation leben. Insofern verwundert es nicht, dass die Anzahl der Verbraucherinsolvenzen nach einer (sehr) kurzen „Erholungsphase“ im Jahre 2008 bereits im Jahre 2009 wiederum angestiegen ist, und zwar auf rund 101.000 Fälle. Für das Jahr 2010
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erwartet der BDIU einen erneuten Anstieg bei den Verbraucherinsolvenzen auf einen neuen Rekordwert von bis zu 110.000 Fällen. Als Ursachen für diese bedenkliche Entwicklung sieht der BDIU insbesondere die Folgewirkungen der dramatischen Finanz- und Wirtschaftskrise des vergangenen Jahres. Abbildung 2:
Entwicklung der Verbraucherinsolvenzen in Deutschland, 2001–2010
Quelle: Statisches Bundesamt/ * Prognose Bundesverband Deutscher InkassoUnternehmen e.V.1
2. Welche Erfahrungen haben Sie insgesamt mit dem Zahlungsverhalten der Schuldner im Vergleich zum Herbst 2009 gemacht? Hat sich das Zahlungsverhalten gebessert, verschlechtert oder ist es unverändert geblieben? Wie anhand der nachfolgenden Grafik deutlich wird, hat sich das Zahlungsverhalten im privaten Sektor zum Zeitpunkt der Umfrage (Frühjahr 2010) gegenüber dem Herbst 2009 nur unwesentlich verbessert – die anziehende Konjunktur hat sich somit im Ergebnis (noch) nicht ausgewirkt.
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Alle Grafiken beruhen auf der Frühjahrstrendumfrage 2010 für die Pressekonferenz in Berlin am 22. April 2010 des Bundesverbands Deutscher Inkasso-Unternehmen e. V.
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Wolfgang Spitz Zahlungsverhalten privater Schuldner, Vergleich Frühjahr 2010 zu Herbst 2009
Quelle: Bundesverband Deutscher Inkasso-Unternehmen e.V.
3. Wenn Sie an die Gründe für das Nichtbezahlen von offenen Rechnungen denken, wo liegen Ihrer Meinung nach bei privaten Schuldnern zurzeit die Gründe? (Mehrfachnennungen möglich) Abbildung 4:
Ursachen für das Nichtbezahlen offener Rechnungen durch private Schuldner
Quelle: Bundesverband Deutscher Inkasso-Unternehmen e.V.
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Die vorangehende Grafik verdeutlicht zum einen, dass Überschuldung und Arbeitslosigkeit die wesentlichen Ursachen dafür sind, dass private Schuldner ihren finanziellen Verpflichtungen nicht nachkommen (können). Die Grafik belegt zum anderen aber auch, dass viele Schuldner durchaus zahlungsfähig, aber zahlungsunwillig sind bzw. dass sie eine gewisse Lässigkeit beim Umgang mit ihren Gläubigern an den Tag legen. Für die Inkassounternehmen gilt es, die zahlungsunwilligen bzw. „lässigen“ Schuldner zu identifizieren und sie durch eine auf ihre persönliche Situation zugeschnittene Mahnansprache zur Begleichung ihrer Verbindlichkeiten zu motivieren.
4. Wenn Sie einmal das Zahlungsverhalten junger Erwachsener (18 bis 24 Jahre) mit dem von über 25-Jährigen vergleichen, ist es Ihrer Erfahrung nach ungefähr gleich? Abbildung 5:
Zahlungsverhalten junger Erwachsener, Vergleich Frühjahr 2010 zu Herbst 2009
Quelle: Bundesverband Deutscher Inkasso-Unternehmen e.V.
Die Umfrageergebnisse zeigen, dass sich das Zahlungsverhalten von jugendlichen Erwachsenen nach den Erfahrungen der BDIU-Mitglieder im Berichtszeitraum nur mit wenigen Ausnahmen verbessert hat und insgesamt ein weiterhin negativer Trend festzustellen ist.
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5. Welche sind, Ihren Erfahrungen nach, die wesentlichen Gründe für die zunehmende Verschuldung junger Erwachsener (18 bis 24 Jahre)? (Mehrfachnennungen möglich) Anhand dieser Grafik wird deutlich, dass die mangelnde Finanzkompetenz – mit ihren unterschiedlichen Facetten bis hin zum schlechten Vorbild des Elternhauses – eine der ganz wesentlichen Ursachen „früher“ Schulden ist. Abbildung 6:
Wesentliche Gründe für die Verschuldung junger Erwachsener
Quelle: Bundesverband Deutscher Inkasso-Unternehmen e.V.
An diesem Befund ansetzend, fordert der BDIU schon seit mehreren Jahren, dass der Umgang mit Geld und Schulden in die Lehrpläne aller Schulen aufgenommen wird. Erfreulich ist, dass es inzwischen erste Projekte in dieser Richtung gibt – so wurde z.B. das Unterrichtsfach „Geldkunde“ an den Berliner Schulen eingeführt. Bedenklich hingegen sind aus Sicht des BDIU hingegen die hohen Umfragewerte zum Thema „Schlechtes Vorbild des Elternhauses“ und „Zu hohe Konsumausgaben“. Aus den Rückmeldungen der BDIU-Mitglieder ist immer wieder – und leider allzu oft – zu entnehmen, dass sich in vielen Familien, die Schuldenprobleme haben, die Eltern kaum nachhaltig um die Erziehung ihrer Kinder kümmern. Diese Befunde ergeben sich überdurchschnittlich häufig in Familien mit Migrationshintergründen, und hier sieht der BDIU ein stetig wachsendes gesamtgesellschaftliches Problem, das offen angesprochen und dringend angegangen werden muss, weil sonst eine junge Generation heranwächst, die kaum
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bzw. keine persönlichen und beruflichen Perspektiven hat. Zudem besteht die Gefahr, dass jugendliche Erwachsene, die Migrationshintergründe aufweisen bzw. aus bildungsfernen Schichten stammen, angesichts eines jedenfalls subjektiv empfundenen Konsumdrucks, aber kaum vorhandener finanzieller Spielräume, in die Kriminalität abgleiten.
6. Welche Maßnahmen sind aus Ihrer Sicht sinnvoll, um ein weiteres Ansteigen der privaten Verschuldung zu verhindern? (Mehrfachnennungen möglich) Abbildung 7:
Ansätze zur Verschuldungsprävention im privaten Sektor
Quelle: Bundesverband Deutscher Inkasso-Unternehmen e.V.
Die in der nachfolgenden Grafik dargestellten Erkenntnisse aus der BDIU-Mitgliederumfrage sprechen für sich. Auf das Thema „Vermittlung von Finanzkompetenz“ wurde soeben unter 5. bereits hingewiesen.
7. Unternehmensinsolvenzen in Deutschland 2001–2010 Die Verlaufskurve der Unternehmensinsolvenzen in den zurückliegenden 10 Jahren weist seit einem niedrigen Stand in den Jahren 2007 und 2008 seit dem Jahr 2009 wieder eine ansteigende Tendenz auf. Im Jahr 2009 waren 32.687 Unternehmensinsolvenzen zu verzeichnen – der deutliche Anstieg im Vergleich
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zum Vorjahr weist auf die Auswirkungen der Wirtschafts- und Finanzkrise in den Jahren 2008 und 2009 hin: Zahlreiche Unternehmen mussten nicht nur mit drastischen Auftrags- und damit verbundenen Umsatzeinbrüchen sowie mit Forderungsausfällen kämpfen, sondern hatte zudem auch erhebliche Probleme insbesondere bei der Beschaffung von Betriebsmittelkrediten, weil auch die Kreditinstitute deutlich vorsichtiger mit der Gewährung solcher Kredite umgingen. Hierbei spielten zudem auch die „Basel II“ – Richtlinien vielfach eine Rolle, die den Banken eine risikoorientierte Kreditvergabe auferlegen. Diese Faktoren, oftmals noch einhergehend mit einer unzureichenden Eigenkapital-Ausstattung, führten bereits im vergangenen Jahr zum „Aus“ in vielen – vor allem kleineren und mittleren – Betrieben, verbunden mit entsprechenden Arbeitsplatz-Verlusten für die Beschäftigten. Die Insolvenz dieser Betriebe führte wiederum zu Zahlungsausfällen bei den dortigen Lieferanten, die dann ihrerseits in das finanzielle „Trudeln“ gerieten – ein Phänomen, das durchaus anschaulich als „DominoEffekt“ bezeichnet wird. Abbildung 8:
Entwicklung der Unternehmensinsolvenzen in Deutschland, 2001–2010
Quelle: Statistisches Bundesamt/ * Prognose Bundesverband Deutscher InkassoUnternehmen e.V.
Für das Jahr 2010 ist – trotz der sich immer stärker manifestierenden konjunkturellen Erholung mit einem weiteren Anstieg der Unternehmensinsolvenzen zu rechnen – ursächlich hierfür sind die Spätfolgen der Wirtschafts- und Finanzkrise der letzten beiden Jahre: Die ohnehin dünne Eigenkapitaldecke gerade der
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kleineren und mittleren Betriebe wurde in der Krise oftmals weitgehend aufgebraucht und zudem haben die Bilanzen dieser Betriebe für das Jahr 2009 haben nicht selten mit „roten Zahlen“ abgeschlossen, was sich unmittelbar negativ auf deren Bonität auswirkt. Dies wiederum erschwert vielfach den Zugang zu notwendigen Krediten, mit der Folge, dass trotz aller Anstrengungen das finanzielle „Aus“ eintritt – mit den bereits als „Domino-Effekt“ bezeichneten Auswirkungen für andere Betriebe. Zu hoffen bleibt dennoch, dass der wirtschaftliche Aufschwung eine derartige Kraft entfaltet, dass zumindest der eine oder andere Betrieb sich doch noch aus der finanziellen Schieflage retten kann und somit der aus der Sicht des Frühjahrs 2010 prognostizierte Jahreswert nicht in vollem Umfang erreicht werden wird.
8. Welche Branche hat zurzeit besondere Probleme mit dem Zahlungsverhalten ihrer Kunden? (Mehrfachnennungen möglich) Die in der Umfrage von den BDIU-Mitgliedsunternehmen genannten „ProblemBranchen“, nämlich das Handwerk insgesamt und speziell das Baugewerbe und der Dienstleistungssektor, sind schon seit mehreren Jahren prominent vertreten. Abbildung 9:
Branchen mit signifikanten Problemen beim Zahlungsverhalten ihrer Kunden
Quelle: Bundesverband Deutscher Inkasso-Unternehmen e.V.
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Mit Blick auf die speziellen Probleme in den kleineren und mittleren Handwerksbetrieben, bei denen die Tagesarbeit, aber weniger ein professionelles Forderungsmanagement im Vordergrund stehen, hat der BDIU eine Arbeitsgruppe gegründet, die sich mit der Entwicklung eines sog. „Handwerker-Checks“ befasst. Ausgehend von dem Befund, dass sich in den Handwerksbetrieben oftmals der Inhaber selbst oder die Ehefrau des Inhabers – im Rahmen ihrer begrenzten zeitlichen Kapazitäten – „nebenbei“ um das Rechnungs- und Mahnwesen kümmern, ist es das Ziel des „Handwerker-Checks“, diesen Betrieben eine standardisierte Beratung durch die BDIU-Mitglieder vor Ort anzubieten, in denen alle wesentlichen, für ein effizientes Forderungsmanagement maßgeblichen Aspekte analysiert und gleichzeitig Optimierungsmöglichkeiten aufgezeigt werden sollen.
9. Wenn Sie an die Gründe für das Nichtbezahlen von offenen Rechnungen denken, wo liegen Ihrer Meinung nach bei gewerblichen Schuldnern zurzeit die Gründe? (Mehrfachnennungen möglich) Bedenklich sind an diesen Befunden nicht nur die hohen Quoten, die auf eine zu geringe Eigenkapitalausstattung bzw. eine schlechte Auftragslage hinweisen, sondern insbesondere auch die Hinweise auf „hohe Zahlungsausfälle bei den eigenen Kunden“ – hier werden die Auswirkungen des „Domino-Effekts“ erneut sehr deutlich. Abbildung 10:
Ursachen für das Nichtbezahlen offener Rechnungen durch gewerbliche Schuldner
Quelle: Bundesverband Deutscher Inkasso-Unternehmen e.V.
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10. Welche Maßnahmen sollten Unternehmen Ihrer Meinung nach ergreifen, um gut durch die Wirtschaftskrise zu kommen? (Mehrfachnennungen möglich) Abbildung 11:
Maßnahmenvorschläge zur langfristigen Unternehmenssicherung
Quelle: Bundesverband Deutscher Inkasso-Unternehmen e.V.
Die „Botschaften“, die sich aus der vorangehenden Grafik ergeben, zeigen sehr deutlich, welchen Kernaufgaben sich jedes Unternehmen vorrangig widmen sollte – nicht zuletzt auch um sich langfristig möglichst „krisenfest“ zu machen.
11. Wenn Sie einmal an das nächste Jahr denken, also bis Ende 2011: Wie, schätzen Sie, wird sich das Zahlungsverhalten allgemein entwickeln? Diese letzte Übersicht macht deutlich, dass die BDIU-Mitgliedsunternehmen im Frühjahr 2010 (noch) keine wirkliche Verbesserung beim Zahlungsverhalten bzw. bei der sog. „Zahlungsmoral“ gesehen haben. Es bleibt abzuwarten, ob und inwieweit die zusehends erstarkende Konjunktur dieses Bild noch erhellen wird.
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Abbildung 12:
Prognose zur mittelfristigen Entwicklung des Zahlungsverhaltens
Quelle: Bundesverband Deutscher Inkasso-Unternehmen e.V.
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Aktuelle Gesetzgebungsverfahren der Bundesregierung zu Inkassorelevanten Themen
Der BDIU beteiligt sich, wie bereits ausgeführt, mit fachlichen Stellungnahmen aktiv an rechtspolitischen Initiativen. Nachfolgend sollen einige, nicht nur für die Inkassowirtschaft, sondern grundsätzlich auch für alle Bereiche der Wirtschaft relevante Gesetzgebungsvorhaben (Stand: 07/2010), mit denen sich der BDIU intensiv befasst, kurz dargestellt werden.
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Reform der Insolvenzordnung
Im Rahmen des 8-Punkte-Sparplans der Bundesregierung beschäftigt den BDIU insbesondere die geplante Wiedereinführung des „Fiskusprivilegs“, der die vorrangige Befriedigung der öffentlichen Hand im Insolvenzverfahren vorsieht. Der BDIU hat die Bundesregierung bereits nachdrücklich vor den möglichen Folgen gewarnt: Es steht zu befürchten, dass die Wiedereinführung des „Fiskusprivilegs“ zu einer geringeren Insolvenzquote der vorleistenden Gläubiger führt und insbesondere die Sozialversicherungsträger gleichlautende Forderungen erheben werden. Die befürchtete Benachteiligung der vorleistenden
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Gläubiger könnte daneben zu weiteren Liquiditätsengpässen bei den Gläubigern selbst führen. Die weiterhin geplante Verkürzung der Wohlverhaltensphase von 6 auf 3 Jahre in der Verbraucherinsolvenz setzt nach Ansicht des BDIU für die Schuldner zudem ein falsches Zeichen und führt zu einer weiteren Verschlechterung der Zahlungsmoral.
3.2
Privatisierung des Gerichtsvollzieherwesens
Die aktuellen gesetzgeberischen Planungen beschäftigen sich damit, die Gerichtsvollzieher als selbständige Unternehmer zu „privatisieren“. Die hoheitlichen Aufgaben in der Zwangsvollstreckung sollen die Gerichtsvollzieher sodann als private, „beliehene Unternehmer“ ausführen. Der BDIU hat gegen diese Pläne bereits grundlegende verfassungsrechtliche Bedenken angemeldet, und es hat den Anschein, dass für eine Umsetzung dieser Pläne, die eine Verfassungsänderung voraussetzen, die hierzu erforderliche Mehrheit im Parlament – ebenfalls wegen verfassungsrechtlicher Bedenken – nicht vorhanden ist, so dass diese Pläne momentan vorläufig „auf Eis“ liegen. Käme es zu einer Umsetzung dieser Pläne infolge anderer parlamentarischer Konstellationen, müssten die die Zwangsvollstreckung betreibenden Gläubiger – und damit letztlich auch die betroffenen Schuldner – mit einer Verdreifachung der Kosten der Zwangsvollstreckung rechnen. Ursache hierfür ist, dass das Gerichtsvollzieherwesen in der heutigen Form staatlich „subventioniert“ wird mit der Folge, dass die Gläubiger bzw. die Schuldner nur einen Teil der in einem Zwangsvollstreckungsverfahren anfallenden Kosten über die Kostenrechnungen der Gerichtsvollzieher bezahlen. Im Falle der Privatisierung des Gerichtsvollzieherwesens soll hingegen das sog. „Verursacherprinzip“ gelten, d.h., dass Gläubiger bzw. Schuldner sämtliche direkten und indirekten Kosten tragen sollen. Die daraus resultierende, schon erwähnte Verdreifachung der Zwangsvollstreckungskosten wird nach Einschätzung des BDIU faktisch eine Einschränkung des Rechtsgewährleistungsanspruchs, insbesondere für Gläubiger mit geringwertigen Forderungen, bewirken. Der „kleine“ Handwerker, der gegen seinen Schuldner eine Forderung von beispielsweise € 300,00 hat, wird deshalb dann wohl prüfen, ob er diese Forderung nicht gleich abschreibt. Aber: Wie oben bereits erläutert, sind es gerade die kleinen und mittleren Unternehmen, die aufgrund ihrer strukturellen Probleme für Insolvenzen überdurchschnittlich anfällig sind.
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Nicht zuletzt ist auch auf die finanziellen Belastungen hinzuweisen, die der Schuldnerseite entstehen. Auch wenn im Einzelfall eine Zwangsvollstreckung fruchtlos verläuft, so erhöhen die hiermit verbundenen Kosten letztlich die Gesamtforderung des Gläubigers und damit auch die Verschuldung des Schuldners – mit allen gesamtgesellschaftlichen Folgewirkungen und Folgekosten.
3.3
Reform der Sachaufklärung in der Zwangsvollstreckung
Die Reformregelungen zur Sachaufklärung in der Zwangsvollstreckung, die bereits teilweise in Kraft getreten sind und im Übrigen bis zum 01.01.2013 vollständig in Kraft treten sollen, sehen eine weitreichende Modernisierung des bisher gültigen Zwangsvollstreckungsrechts vor. So sollen u.a. die Möglichkeiten der Informationsgewinnung für den Gläubiger verbessert und eine Harmonisierung der Vorschriften der zivilrechtlichen Zwangsvollstreckung mit denen der Verwaltungsvollstreckung erreicht werden. Völlig unverständlich ist allerdings die vorgesehene Beschränkung der Auskunftsrechte des Gerichtsvollziehers. Dieser soll nämlich erst dann in die zum Schuldner gespeicherten Daten z.B. des Kraftfahrtbundesamts oder der Deutschen Rentenversicherung, Einblick nehmen können, wenn der Forderungsbetrag € 500,00 überschreitet. Der BDIU sieht durch die Reform nicht nur den Justizgewährleistungsanspruch für Gläubiger geringerer Forderungen gefährdet, weil die Beitreibung von Forderungen mit Werten unter € 500,00 erschwert wird. Zudem sieht der BDIU in der Grenzziehung bei € 500,00 ein bedenkliches Signal für die Zahlungsmoral der Verbraucher, da hiermit suggeriert wird, dass Forderungen unter € 500,00 als „Bagatelle“ einzuordnen sind.
3.4 Pfändungsschutzkonto („P-Konto“) Durch die am 01.07.2010 in Kraft getretenen Regelungen zur Einführung eines sog. Pfändungsschutzkontos hat der Gesetzgeber für Schuldner die Möglichkeit geschaffen, ein Konto einzurichten, welches pfändungsfrei gestellt wird, um den Schuldnern die laufenden Zahlungen für den Lebensunterhalt zu ermöglichen. Der Basispfändungsschutz in Höhe des Pfändungsfreibetrages von derzeit 985,15 € besteht unabhängig davon, aus welchen Einkünften das Kontoguthaben herrührt. Mithin besteht künftig auch für Selbstständige Pfändungsschutz für deren Kontoguthaben.
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Nach Auffassung des BDIU droht dadurch, dass die Informationen zum „P-Konto“ nach dem Willen des Gesetzgebers nur den Banken zur Verfügung stehen sollen, gegenüber den übrigen Gläubigern eine Benachteiligung, da diesen aufgrund der nicht zur Verfügung stehenden Informationen Mehrarbeit und zusätzliche Kosten aufgebürdet werden. Zudem widerspricht diese Einschränkung dem mit der Reform der Sachaufklärung in der Zwangsvollstreckung seitens des Gesetzgebers verfolgten – und auch vom BDIU begrüßten – Ziel der Verbesserung der Effizienz der Zwangsvollstreckung: Ein sinnvolles Vorgehen wäre es gewesen, den Gläubigern, die eine Kontopfändung durchführen lassen wollen, die Information zu einem etwa bereits bestehenden „P-Konto“ zur Verfügung zu stellen, um unnötige Vollstreckungsmaßnahmen und die damit verbundenen Kosten vermeiden zu können. Hierbei ist letztlich wiederum zu bedenken, dass die Kosten fruchtloser Vollstreckungsversuche sich beim Schuldner jedenfalls in Form einer Erhöhung seines Schuldenstandes auswirken.
3.5
Verschärfung des Datenschutzrechtes, insb. Einführung eines sog. „Datenbriefes“
Im Rahmen der jüngsten Novellierung des Datenschutzrechts wurden u.a. auch die Rechte der Betroffenen hinsichtlich ihres Anspruchs auf Selbstauskunft deutlich gestärkt. Offenbar gehen die einschlägigen Bestimmungen des BDSG einigen Referenten in den zuständigen Ministerien und wohl auch einigen Politikern noch nicht weit genug. Jedenfalls wird in Berlin erwogen, jedes Unternehmen zu verpflichten, Verbrauchern einmal jährlich einen sog. „Datenbrief“ zu übersenden. Mit diesem „Datenbrief“ soll der Verbraucher über sämtliche bei einem Unternehmen zu seiner Person gespeicherten Daten informiert werden. Das bedeutet, dass der Verbraucher grundsätzlich nicht mehr aktiv seinen Anspruch auf Selbstauskunft bei einer bestimmten speicherten Stelle geltend machen müsste, sondern dass er quasi „automatisch“ die Selbstauskünfte von allen Stellen, die personenbezogene Daten zu seiner Person gespeichert haben, erhalten würde. In der Folge befürchtet der BDIU – bei durchaus fraglichem Nutzen für die Verbraucher – einen extremen Verwaltungs – und Kostenmehraufwand für die betroffenen Unternehmen.
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Wolfgang Spitz Gesetz zur Neuordnung und Modernisierung des Pfändungsschutzes (GNeuMoP)
Das Ziel des Gesetzgebers ist die Schaffung einfacher und transparenter Regelungen zum Pfändungsschutz durch die Anpassung der Pfändungsfreibeträge an die des Sozial- und Wohngeldrechts. Insbesondere soll dabei der Pfändungsschutz für zusätzliche Leistungen, wie z.B. Urlaubs- und Weihnachtsgelder sowie Überstundenvergütungen, entfallen. Gleichzeitig ist die Einführung regional gestaffelter Wohngeldstufen vorgesehen. Der BDIU bemängelt, dass durch die geplanten Regelungen insbesondere eine Mehrbelastung der Drittschuldner durch die komplexeren Rahmenbedingungen – insbesondere was die die vorgesehenen Wohngeldstufen angeht – sowie eine „ungerechte“ Behandlung der Schuldner zu befürchten steht. Auch droht aufgrund des prognostizierten Anstieges der Anzahl der Vollstreckungsschutzanträge nach § 850f ZPO ein deutlicher Mehraufwand für die ohnehin bereits überlasteten Gerichte.
4
Forderungsmanagement der öffentlichen Hand
Der BDIU beschäftigt sich schon seit längerer Zeit intensiv mit der Frage der Verbesserung des Forderungsmanagements der öffentlichen Hand, die – nebenbei bemerkt – immer wieder (und in zunehmendem Maße) auch als „schlechter Zahler“ auffällig wird. Gerade in der jüngsten Zeit mehren sich die Berichte über hohe Defizite in den öffentlichen Kassen, insbesondere auch bei den Kommunen, in deren Folge Kindertagesstätten, Freibäder, Theater und andere kommunale Einrichtungen geschlossen werden müssen. Einige Kommunen erwägen darüber hinaus neben der Erhöhung bereits eingeführter auch die Einführung neuer kommunaler Abgaben wie z.B. einer „Bettensteuer“ für Hotelgäste, einer „Sonnenbank-Abgabe“ etc. Wie dramatisch die Situation vieler kommunaler Haushalte inzwischen geworden ist, belegen die Angaben der Präsidentin des Deutschen Städtetages, der Frankfurter Oberbürgermeisterin, Frau Petra Roth hingewiesen, die erklärte: „Unsere Haushalte sind völlig überstrapaziert. 2009 belief sich das Defizit in den kommunalen Haushalten auf 7,1 Mrd. Euro; für 2010 ist ein Rekorddefizit von etwa 15 Mrd. Euro zu befürchten“ („Frankfurter Rundschau“ vom 14.05.2010). Angesichts dieser erschreckenden Entwicklung ist es umso unverständlicher, dass die öffentliche Hand, insbesondere die Kommunen, der Einziehung
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ihrer eigenen Außenstände nicht ein deutlicheres Gewicht beimessen. Immerhin summieren sich alleine die Außenstände der Kommunen nach den Schätzungen des BDIU derzeit auf mindestens 12 Mrd. Euro. Soweit die Kommunen aufgrund eigener knapper Personalressourcen nicht in der Lage sind, ihre Forderungen – auch im Sinne der Steuer- und Abgabengerechtigkeit – konsequent und nachhaltig beizutreiben, bietet sich die Unterstützung durch die Inkassounternehmen als Verwaltungshelfer im Forderungseinzug geradezu an. Die BDIU-Mitglieder sehen hierbei jedenfalls deutliche Vorteile für die Kommunen, wie sich aus den Ergebnissen der BDIU-Mitgliederumfrage ergibt: Die Wirtschaftskrise bedroht in diesem Jahr massiv die kommunalen Einnahmen. Gleichzeitig haben die Kommunen hohe Außenstände. Daher empfehlen Experten, dass die Kommunen bei ihrem Forderungsmanagement die Unterstützung durch Inkassounternehmen nutzen sollen. Wo liegen Ihrer Meinung nach die Vorteile? (Mehrfachnennungen möglich) Abbildung 13:
Maßnahmenvorschläge zur Verbesserung des Forderungsmanagements im kommunalen Bereich
Quelle: Bundesverband Deutscher Inkasso-Unternehmen e.V.
Es wäre sicherlich vermessen, zu behaupten, dass die kommunalen Außenstände mit Unterstützung der Inkassounternehmen vollständig realisiert werden könnten. Aber selbst wenn von den derzeitigen Außenständen nur 10% oder 20% zusätzlich realisiert werden könnten, wären dies ganz erhebliche Beträge, mit
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denen sich die Defizite in den kommunalen Haushalten entsprechend verringern ließen!
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Schlussbemerkung
„Geld im rechten Augenblick zu haben, das allein ist Geld“ bemerkte bereits der Schriftsteller Daniel von Liliencron (1844–1909). Die Mitgliedsunternehmen des BDIU stehen ihren Auftraggebern als hoch qualifizierte, fachlich kompetente und seriöse Spezialisten nicht nur dafür, Geld im richtigen Augenblick (wieder) zu haben, zur Verfügung, sondern darüber hinaus für alle Aufgabenfelder, die ein modernes Forderungsmanagement ausmachen. Der BDIU als Vertreter der Inkassowirtschaft wird – wie schon während seines langjährigen Bestehens – auch in Zukunft hierfür nicht nur den Rahmen bilden, sondern gleichzeitig auch intensiv an einem weiteren, kontinuierlichen Ausbau des Gütesiegels „BDIU-Mitgliedschaft“ arbeiten.
II. Krisen im Blickpunkt der Wissenschaft
Junge Menschen und frühe Schulden – Finanzielle Handlungskompetenz im Fokus wirtschaftspädagogischer Forschung Nina Bender/Klaus Breuer
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Zur Situation verschuldeter Jugendlicher und junger Erwachsener in Deutschland
Frühe Schulden bereiten nicht selten den Weg in lang andauernde Schuldenkarrieren, so lautet der öffentliche Konsens. Einer steigenden Quote an verschuldeten jungen Menschen unter 25 Jahren muss daher auf breiter Ebene begegnet werden, so lautet der politische Konsens (BMAS, 2008, S. 178-179). Denn Kreditausfälle befördern nicht nur individuelle Krisen, sondern wirken sich in ihrer Gesamtheit gleichermaßen negativ auf die Volkswirtschaft aus. Ein Blick in die empirische Befundlage vermittelt zunächst ein stagnierendes Ausmaß der Jugendverschuldung im Zeitraum von 2004 bis einschließlich 2007 (Schufa Schuldenkompass, 2007, S. 48). Dennoch gibt allein der Anteil verschuldeter Jugendlicher mit ca. 13% auch bei stagnierender Ausprägung Anlass zur Auseinandersetzung mit dem beschriebenen Phänomen. Denn gerade für junge Menschen besteht die bereits eingangs beschriebene Gefahr des Eintritts in lange Überschuldungskarrieren, was eine besondere Betrachtung insbesondere dieser Altersgruppe notwendig und sinnvoll macht (Schufa Schuldenkompass, 2008, S. 67). Ein zusätzliches Argument für die Bedeutsamkeit dieser speziellen Gruppe ergibt sich aus den langfristigen Folgen früher Schulden. Einerseits ist es schwer, Forderungen zu decken, die bereits unter den Bedingungen eingeschränkter finanzieller Ressourcen entstanden sind. Zum anderen zeigt sich in jugendlichem Schuldenverhalten in den meisten Fällen ein rein konsumorientiertes Muster (Streuli, Steiner, Mattes & Shenton, 2008, S. 36-39). Im Zuge einer Begleitung junger Menschen zur Herausbildung autonomer und handlungsfähiger Persönlichkeiten, wie es die (Wirtschafts-)Pädagogik zum Ziel hat, ist daher der Blick auf den angemessenen Umgang mit Geld zu richten (Bender, 2009, S. 67). Dies impliziert nicht zuletzt die Fähigkeit zum Konsumverzicht. Ein drittes Argument, Jugendliche und junge Erwachsene unter 25 Jahren zu fokussieren, besteht in deren Lebenssituation, die sich als Übergangsphase von der finanziellen Abhängigkeit der Eltern hin zur finanziellen Autonomie beschreiben lässt.
C. W. Hergenröder (Hrsg.), Krisen und Schulden, DOI 10.1007/978-3-531-93085-5_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Jugendliche in diesem Alter sind nicht selten zum ersten Mal mit eigenem Gehalt und der selbständigen Erfüllung eigener Konsumwünsche konfrontiert. Die monetären Entscheidungen erreichen ab der Volljährigkeit und mit dem ersten eigenen Einkommen eine veränderte Tragweite, sowohl unter finanzieller als auch rechtlicher Perspektive. Zur Bewältigung (Resilienz) dieser bislang durch die Eltern gestützten oder begleiteten Aufgaben und Entscheidungen bedarf es der Genese einer hinreichenden Finanzkompetenz und eines planvollen und nachhaltigen Umgangs mit Geld. Eine Verschuldung, die nicht aus einer ökonomisch begründbaren Planung z.B. in Form einer Investition in Vermögenswerte entsteht, kann bei fehlender Steuerung sukzessive den Weg in die Überschuldung bereiten. Lange (2004, S. 81) stellt in Bezug auf das Konsumverhalten Jugendlicher fest, dass Schüler und Studierende rund 80% und Auszubildende noch 77% ihres Einkommens zeitnah wieder ausgeben. Gleichzeitig geben mehr als 40% der Befragten an, überhaupt nicht zu sparen. Dieser Mangel an Rücklagenbildung und finanzieller Weitsicht bildet ein weiteres Argument für die Untersuchung des Phänomens „Jugendverschuldung“. Eine Herausforderung bei der Untersuchung der spezifischen Gruppe der Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist die Tatsache, dass eine Vielzahl der „Kredite“ über private Schuldverhältnisse abgewickelt wird. Diese sind statistisch nur schwer zu erfassen. Die meisten jungen Schuldner nehmen zunächst ihr unmittelbares privates Umfeld als Gläubiger in Anspruch. Etwa 43% der Jugendlichen sind bei ihren Eltern, etwa 40% bei ihren Freunden verschuldet (Gabanyi, Hemedinger & Lehner, 2008, S. 54). Andererseits werden Verbindlichkeiten von Jugendlichen häufig durch die Eltern beglichen. Gleichzeitig erfüllen die Eltern zuweilen die Funktion einer Kontrollinstanz hinsichtlich finanzieller Verhaltensweisen, insbesondere dann, wenn die Jugendlichen noch am elterlichen Haushalt teilhaben. Damit erweitern oder begrenzen die Eltern als soziale Akteure den monetären Handlungs- und Entscheidungsraum des Einzelnen. Auf die Frage nach den Ursachen früher Schulden finden sich bislang überwiegend nur Antworten in eine spezifische Richtung. Den jungen Menschen fehle es am notwendigen Wissen, in angemessener Form mit ihren Finanzen zu haushalten (vgl. BMAS, 2008; Gabanyi, Hemedinger & Lehner, 2008; Krumpolt, 2008). Jedoch scheint ein eindimensionaler, auf die Vermittlung fachlicher Inhalte zugespitzter Lösungsvorschlag zumindest auf Basis der Erkenntnisse zur Kompetenzentwicklung zu kurz zu greifen. Insbesondere soziale und methodische Kompetenzen seien bei der Frage nach der Heranbildung angemessener Kompetenzen in variierenden Domänen zu berücksichtigen (vgl. Frey, Jäger & Renold, 2005; Kaufhold, 2006). In einigen wenigen Quellen finden sich darüber hinaus Hinweise auf ein mehrdimensionales Verständnis über die Ursachen von Schuldenprozessen. Ein Modell der Verursachung und Konsequenzen
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von Ver- und Überschuldung, welches die Annahme einer Mehrdimensionalität zu Grunde legt, findet sich bei Dessart und Kuylen (1986). Hier werden neben rein kognitiven auch soziale, psychologische sowie institutionelle Einflussfaktoren modelliert (Dessart & Kuylen, 1986, S. 323). Die Kriterien einer Bank zur Kreditvergabe gehören zu den institutionellen Faktoren. Sozioökonomische Faktoren sind z.B. das Einkommen, die Rolle der Familie oder die Dauer der Beschäftigung. Psychologische oder Persönlichkeitsfaktoren betreffen Kontrollüberzeugungen oder Selbstwirksamkeitserwartungen1 (vgl. Dessart & Kuylen, 1986, S. 322f.; Walbrühl, 2005, S. 20). Zur Entwicklung und zum Einsatz geeigneter Bewältigungsstrategien wird auf alle Dimensionen zugegriffen. Vielfach versuchen Studien zur Beschreibung von Bewältigungsprozessen Individuen in eine Typologie einzuordnen, die sich an den folgenden Formen der Bewältigung orientiert (Rahn, 2003, S. 93):
Aktive Bewältigung unter Nutzung sozialer Ressourcen Internale Bewältigungsstrategien Problemvermeidungsstrategien
In der Forschung zum Bewältigungshandeln (Resilienzforschung) müssen für die Phase der Adoleszenz Besonderheiten berücksichtigt werden (Rahn, 2003, S. 91). Bewältigung richtet sich in dieser Lebensphase nicht nur auf stressbelastete oder krisenhafte Situationen, sondern auch auf geforderte Entwicklungsaufgaben (Rahn 2003, S. 92). Zu diesen spezifischen Entwicklungsaufgaben gehört auch das Erreichen finanzieller Autonomie. Damit verbunden sind vor allem individuelle Herausforderungen, die sowohl berufliche Ausbildung als auch ein nachhaltiges, d.h. zur Bewältigung zukünftiger monetärer Anforderungen ausreichendes finanzielles Verhalten betreffen. Die Bedeutsamkeit ausreichender finanzieller Mittel für junge Menschen in der Phase ihrer beruflichen Ausbildung wurde jüngst in einem Bericht des Bundesinstituts für berufliche Bildung publiziert. Demnach hält es die Mehrheit der Auszubildenden in Deutschland (71%) für sehr wichtig, mit einem angemessenen Gehalt für ihre Arbeit entlohnt zu werden. Gründe hierfür werden unter anderem in dem vergleichsweise höheren Einstiegsalter in die berufliche Ausbildung gesehen. Während im Jahr 1993 noch die 1
Einige Autoren verwenden die Begriffe „Kontrollüberzeugungen“ und „Selbstwirksamkeitserwartungen“ synonym (Lasogga & Gasch, 2008, S.146). Andere Autoren sehen eine Trennbarkeit der Begriffe in dem Beitrag des Individuums zur Regulation eines Ereignisses. Es ist ein Unterschied, ob ein Mensch glaubt, ein Ereignis könne kontrolliert werden (Kontrollüberzeugung) oder ob ein Mensch glaubt, er selbst könne das Ereignis steuern (Selbstwirksamkeitserwartung). Krampen (1987) entwickelt hierzu ein Modell, innerhalb dessen er die Kontrollüberzeugung einer Handlungsebene des Individuums und die Selbstwirksamkeit zu einer eher psychologischen Ebene des Selbstkonzepts zuordnet.
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Hälfte aller neuen Auszubildenden unter 18 Jahren alt war und noch im elterlichen Haushalt lebte, sind es heute nur noch rund 30%. Das durchschnittliche Alter der am Beginn der Ausbildung stehenden jungen Menschen liegt heute bei 19,4 Jahren (Beicht & Krewerth, 2010, S. 1-2). Mit der Volljährigkeit erreicht ein junger Mensch eine entscheidende Etappe in der Phase der Adoleszenz. Damit verbunden ist der Wunsch nach Unabhängigkeit und gleichermaßen steigen die Konsumbedürfnisse. Dem gegenüber steht ein durchschnittlicher monatlicher Verdienst von knapp 500 Euro im 2. Ausbildungsjahr2. Daher verwundert es nicht, dass rund 82% der Auszubildenden in Kleinstbetrieben (weniger als 9 Beschäftigte) und 31% der Auszubildenden in größeren Unternehmen (mehr als 500 Beschäftigte) angeben, unzufrieden mit ihrer Vergütung zu sein (Beicht & Krewerth, 2010, S. 5). Dieser Auffassung entsprechend suchen sich viele junge Auszubildende einen Nebenjob, um das betriebliche Gehalt aufzustocken und die Bedürfnisse der erreichten Lebensphase dennoch befriedigen zu können, bzw. z.T. um die Kosten der Grundversorgung zu decken. Gleichzeitig kann neben der Tendenz zum Zweitjob eine Neigung zu zunehmender Verschuldung bei jungen Menschen festgestellt werden. Dies dient letztlich dem gleichen Zweck, entsprechend dem Lebensalter Unabhängigkeit zu erreichen und diese mit individuellen monetären Entscheidungen zu bekräftigen. Es wird deutlich, dass zu einer autonomen Lebensbewältigung eine entsprechende Handlungsfähigkeit in finanziellen Entscheidungen gehört. Aus den Erkenntnissen der Resilienzforschung ist indes bekannt, dass autonomes Handeln die Entwicklung geeigneter Bewältigungskompetenzen voraussetzt, welche wiederum durch eine Reihe von Prädiktoren befördert werden können (vgl. Loevinger, 1976; Hy & Loevinger, 1996; Korczak, 2005):
Positives Selbstbild Internale Kontrollüberzeugungen Vielfältige Interessen Konstruktive Problemlösefähigkeiten Materielle Ressourcen Soziale Kompetenzen
Betrachtet man die förderlichen Bedingungen für Resilienz, so wird deutlich, dass insbesondere internale Faktoren wie z.B. ein positives Selbstbild oder internale Kontrollüberzeugungen eine Rolle spielen. Transferiert auf die Fragestellung zur Genese finanzieller Handlungskompetenz finden wir damit Analogie in den angenommenen Modellen. Wissen wird dabei als das Entscheidungsver2
Dies bezieht sich nur auf betriebliche Ausbildungsverhältnisse. Ausgenommen sind überbetriebliche Ausbildungen oder z.B. vollschulische Ausbildungsverhältnisse.
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halten maßgeblich determinierende Faktum interpretiert. Begleitet wird es von weiteren Dimensionen des individuellen Geldverhaltens, wie sozioökonomischen Faktoren, die sich in dem Ausmaß sozialer Unterstützung durch ein soziales Netzwerk wiederfindet sowie psychologische Faktoren, die auch Dimensionen wie die Selbstwirksamkeitserwartungen in finanziellen Situationen betreffen. Die Bedeutsamkeit des Konstrukts der Selbstwirksamkeit konnte in einem empirischen Zugang bei verschuldeten und nicht verschuldeten Jugendlichen geprüft werden.
2
Empirische Studie zur Bedeutsamkeit von Selbstwirksamkeit und wahrgenommener sozialer Unterstützung im Umgang mit Geld bei verschuldeten und nicht verschuldeten Jugendlichen und jungen Erwachsenen
Die Datenerhebung bei den verschuldeten Jugendlichen und jungen Erwachsenen erfolgte in einer Studie über die Schuldnerberatungsstelle der Caritas e.V. in Mainz. Hier wird eine spezielle Beratung für die Alterskohorte der unter 25Jährigen angeboten. Die Vergleichsgruppe wurde an der berufsbildenden Schule BBS I in Mainz befragt. Aus der berufsbildenden Schule konnten von ursprünglich 46 eingesetzten Fragebögen 34 in die Auswertung der Daten einbezogen werden. In der Schuldnerberatungsstelle der Caritas e.V. in Mainz wurden 40 Fragebögen verteilt, von denen 27 in die Auswertung einbezogen werden konnten. Die verbleibenden Fragebögen mussten aufgrund zu vieler fehlender Antworten von der weiteren Auswertung ausgeschlossen werden. Damit liegt die Rücklaufquote für beide Gruppen bei etwa 70%. Tabelle 1: Soziobiografische Merkmale Verschuldete Jugendliche bzw. junge Erwachsene Zugang Anzahl Geschlecht
Migration Alter
Quelle: eigene Darstellung.
Schuldnerberatungsstelle der Caritas e.V. in Mainz 27 17 weiblich 10 männlich 10 ohne deutsche Staatsangehörigkeit 17 mit deutscher Staatsangehörigkeit 19-25 Jahre
Nicht verschuldete Jugendliche bzw. junge Erwachsene Berufsbildende Schule I in Mainz 34 19 weiblich 15 männlich 14 ohne deutsche Staatsangehörigkeit 20 mit deutscher Staatsangehörigkeit 16-21 Jahre
50
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Im Voraus wurde auf vergleichbare Voraussetzungen bei beiden Gruppen hinsichtlich deren Vorbildung geachtet. Überwiegend besitzen die Ratsuchenden bei der Schuldnerberatung keinen schulischen Abschluss oder einen Hauptschulabschluss. Vergleichbare kognitive Bedingungen finden sich bei den Schülerinnen und Schülern der BBS I insbesondere in handwerklich orientierten Ausbildungsberufen sowie bei Schülerinnen und Schülern aus dem Berufsvorbereitungsjahr3. Die folgende Tabelle zeigt im Überblick die Verteilung der Schulabschlüsse über beide Gruppen. Tabelle 2: Schulabschlüsse Gruppe
5
Schulabschluss HauptRealSonderschule schule schule 14 7 0
1
27
5
21
7
1
0
34
10
35
14
1
1
61
Kein Verschuldete Nicht Verschuldete Gesamt
Gesamt K.A.4
Quelle: eigene Darstellung.
Von den 34 nicht verschuldeten Personen befinden sich 6 im Berufsvorbereitungsjahr und stehen in keinem formalen Ausbildungsverhältnis. Von den 27 verschuldeten Probanden gibt die Mehrheit an, derzeit arbeitslos zu sein. Nur 4 der verschuldeten Jugendlichen und jungen Erwachsenen geben an, eine abgeschlossene Berufsausbildung zu besitzen. Tabelle 3: Berufliche Tätigkeit Gruppe Ja Verschuldete Nicht Verschuldete Quelle: eigene Darstellung.
3
9 25
Berufstätigkeit Nein k.A. 16 2 6 3
Gesamt 27 34
Das Berufsvorbereitungsjahr in Rheinland-Pfalz wird von Schülerinnen und Schülern besucht, die nach der Beendigung oder dem Abbruch einer allgemeinbildenden Schule weiterhin schulpflichtig sind, aber in keinem betrieblichen oder überbetrieblichen Ausbildungsverhältnis stehen. Das Berufsvorbereitungsjahr vermittelt berufliche Grundkenntnisse und ermöglicht unter bestimmten Auflagen das Nachholen des Hauptschulabschlusses. 4 „Keine Angabe“
Junge Menschen und frühe Schulden
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Im Anschluss an die soziodemografischen Merkmale der Stichprobe interessieren insbesondere bei der Gruppe aus der Schuldnerberatung die Gründe für die frühe Verschuldung. Die folgende Abbildung zeigt, wofür sich die Probanden in der Hauptsache ver- bzw. überschuldet haben. Abbildung 14:
Schuldenträger
Quelle: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) (2008). Lebenslagen in Deutschland. Der 3. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Köln: Bundesanzeiger Verlag. S. 51.
Die Nutzung von Handys und die Anschaffung von Gebrauchsgütern wie PCs oder Fernsehgeräten wird von den meisten Probanden als eine der Hauptursachen für das Eintreten einer krisenhaften Verschuldungssituation gesehen. Von den verschuldeten Jugendlichen und jungen Erwachsenen gibt keine Person an, die Schulden im Zuge größerer geplanter Investitionen wie z.B. Kapitalanlagen getätigt zu haben. Dies deckt sich mit Ergebnissen zur Jugendverschuldung aus Studien, die in Österreich durchgeführt worden sind (Gabanyi, Hemedinger & Lehner, 2008). Jugendliche nutzen Kredite demnach zur Sicherstellung eines gewünschten Lebensstils. Unabhängig davon, ob es ein privater oder ein institutioneller Kredit ist, scheint dieses Verhalten bei Jugendlichen mehr und mehr zur
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Nina Bender/Klaus Breuer
„Normalität“ zu werden. In der vorliegenden Studie wurde ebenfalls gefragt, welche Personen oder Institutionen in der Wahrnehmung des einzelnen maßgeblich auf die Gelderziehung eingewirkt haben. Die folgende Tabelle zeigt die Ergebnisse. Tabelle 4: Sozialisatoren der Gelderziehung – Prozentuale Verteilung5 Verschuldete (n=27) Absolut Prozentual 9 33% Eltern 18 Selbst 67% 0 0 Großeltern 2 4% Freunde 2 4% Schule 2 4% Bank 2 4% Medien Quelle: eigene Darstellung.
Nicht-Verschuldete (n=34) Absolut 27 20 4 2 0 0 2
Prozentual 79% 59% 12% 6% 0 0 6%
Insbesondere unterscheidet sich der Anteil der elterlichen Erziehung bei beiden Gruppen deutlich. Während 79% der nicht verschuldeten Jugendlichen angeben, von ihren Eltern zum Umgang mit Geld erzogen worden zu sein, sind es bei den Verschuldeten nur 33%. Dagegen geben 67% der Verschuldeten an, sich den Umgang mit Geld selbst angeeignet zu haben. Eine unmittelbare Bedeutsamkeit erhält in diesem Zusammenhang die Frage nach der Entstehung von Selbstwirksamkeitserwartung. Diese ist zu verstehen als die individuelle Überzeugung oder der Glaube daran, neue oder komplexe Herausforderungen auf Basis der eigenen Kompetenzen bewältigen zu können (Jerusalem, 2005, S. 6). Der Sozialisationshintergrund spielt insofern eine Rolle, als dass individuelle Selbstwirksamkeit über vier wesentliche Kanäle entsteht und einer dieser Kanäle über die Beobachtung von Verhaltensweisen sozialer Partner erklärt werden kann (Jerusalem, 2005, S. 18):
5
Direkte persönliche (Erfolgs-)Erfahrungen („mastery experiences“) indirekte oder stellvertretende Erfahrungen über Bezugspersonen (Beobachtungslernen) symbolische Erfahrungen (z. B. sprachliche Überzeugungen) Wahrnehmung und Interpretation eigener Emotionen
Die absoluten Zahlen und Prozentwerte ergeben in der Summe mehr als n bzw. mehr als 100%. Dies liegt daran, dass die Probanden die Möglichkeit der Mehrfachauswahl von Antworten hatten.
Junge Menschen und frühe Schulden
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Es kann im Zuge dieser Untersuchung nicht geklärt werden, welche (Miss-)Konzepte über das Beobachtungslernen am Modell „Eltern“ entstehen können bzw. über die selbstgesteuerte Aneignung finanzieller Handlungsstrategien erzeugt werden. Hierzu sind weitere Studien notwendig, die den Aspekt der Sozialisation in finanziellen Zusammenhängen in den Fokus stellen.
2.1
Selbstwirksamkeitserwartungen junger Menschen zum persönlichen Umgang mit Geld
In der vorgestellten Studie stehen internal angelegte Eigenschaften sowie soziale Merkmale im Mittelpunkt. Der Umgang mit Geld wird über das Konstrukt der „Selbstregulation in finanziellen Situationen“ abgebildet. In der Forschung zur Selbstregulation wird dabei das Konzept der Selbstwirksamkeitserwartung als essenziell betrachtet. Daneben steuern Merkmale wie die individuelle Fähigkeit zur Planung, die Kontrolle des eigenen Bewältigungsprozesses sowie in motivationaler Perspektive die Bereitschaft zur Aufrechterhaltung der zur Bewältigung einer Situation notwendigen Energie (Anstrengungsbereitschaft) den Erfolg eines Handlungsprozesses. Die Selbstwirksamkeit bildet dabei als subjektive Überzeugung zur eigenen Handlungskompetenz die zentrale Komponente der Selbstregulation (vgl. Bandura, 1997, S. 3; Friedrich & Mandl, 1997, S. 244; Jerusalem, 2005, S. 7). Die Selbstwirksamkeit wirkt zudem förderlich auf die genannten Steuerungsmerkmale. Laut Schwarzer und Jerusalem (2002, S. 37) setzt sich eine selbstwirksame Person bereits in der Motivationsphase höhere Ziele, als nicht selbstwirksame Personen. In der Handlungsphase dient eine hohe Selbstwirksamkeitserwartung der zielführenden Überwachung des Handlungsgeschehens. In der Volitionsphase sind selbstwirksame Personen eher dazu befähigt, ihre Zielsetzung aufrecht zu erhalten. Selbstwirksamkeit und eine optimistische Selbstüberzeugung befördern eine kompetente Selbstregulation (Schwarzer & Jerusalem, 2002, S. 37). Zudem bilden sie bedeutsame Prädiktoren für den individuellen Lernerfolg, da sie das Anspruchsniveau der individuellen Ziele beeinflussen, die Anstrengungsbereitschaft und Ausdauer zur Zielerreichung bestimmen und dazu beitragen, Erfolge und Misserfolge zu bewältigen (Hannover & Kessels, 2008, S. 121). In der vorliegenden Studie sind die beschriebenen Steuerungsmerkmale über eine auf Finanzsituationen adaptierte Version eines Fragebogens zur Selbst6 regulation (TSRQ) erfasst worden. Der Fragebogen dient der Analyse metakog6
¤ 1996 Harold F. O’Neil, Jr. UCLA SCE/CREST, Los Angeles, CA 90095-1522; © 1999 Klaus Breuer für die Version in deutscher Sprache
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nitiver und motivationaler Merkmale selbstregulativen Handelns und bildet die Dimensionen Planung, Selbstkontrolle, Anstrengungsbereitschaft und Selbstwirksamkeitserwartungen ab (vgl. Breuer & Brahms, 1999; Breuer & Eugster, 2006). Über analytische Verfahren ergibt sich eine von den ursprünglichen 4 theoretischen Faktoren abweichende Struktur. Die ursprünglichen Skalen der Planung und der Selbstkontrolle fallen für die vorliegende Stichprobe zu einer Skala „Sorgfalt bei finanziellen Entscheidungen“ zusammen. Eine starker Zusammenhang zwischen diesen beiden Merkmale erscheint plausibel, da die Kontrolle des Handlungsprozesses nur dann sinnvoll ist, wenn ein Ziel gesetzt ist und der Zeitpunkt bzw. die Mindestanforderungen zur Zielerreichung festgelegt wird. Die wechselseitige Abhängigkeit von „Planung“ und „Selbstkontrolle“ wird auch in der Literatur bestätigt (vgl. Schreblowski & Hasselhorn, 2006, S.153; Seel, 2003, S. 232; Wild, 1974, S. 44). Die Skala zur Selbstwirksamkeit (Subjektive Erwartungen zum erfolgreichen Umgang mit Geld) und die Skala zur Anstrengungsbereitschaft (Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit finanziellen Hürden) bleiben fast unverändert erhalten. Tabelle 5: Skalen zur Selbstregulation – modifizierte Skalen
Subjektive Erwartungen zum erfolgreichen Umgang mit Geld Sorgfalt bei finanziellen Entscheidungen Bereitschaft zur Auseinandersetz ung mit finanziellen Hürden
Gruppe
N
MW
SA
SA²
Sig. (einseitig, d.h. mit allem! Anmerkung d. Verf.@ davon kam, mit Ausnahme der wenigen, die wegen der Teilnahme an deinen Diebstählen überhaupt nichts zu leisten brauchten? Sieh doch, welcher Unterschied zwischen deiner Brutalität und der Großzügigkeit des Senates besteht. Wenn der Senat durch die politischen Verhältnisse gezwungen wird, die Einziehung eines zweiten Zehnten zu beschließen, dann fasst er seinen Beschluss mit der Maßgabe, dass man den Landwirten für diesen Zehnten ein Entgelt zahle; was über die Schuld hinaus eingezogen wird, soll nämlich für gekauft, nicht für beschlagnahmt gelten. Du aber hast so viele Zehnte nicht auf Grund eines Senatsbeschlusses, sondern nach deinen neuartigen Erlassen und verruchten Anordnungen beigetrieben und erpresst, und dann glaubtest du, etwas Großes geleistet zu haben, wenn du einen höheren Pachterlös erzieltest als L. Hortensius, der Vater unseres Q. Hortensius hier, als Cn. Pompeius, als C. Marcellus, die sich nicht von der Gerechtigkeit, vom Gesetz, vom Herkommen entfernt haben?“19
16
Cic. Verr. II 2,170. Warf Cicero noch im Jahr 70 v. Chr. vor dem Hintergrund des Prozesses Verres als furchtbares Verbrechen vor, ein (inoffizieller) socius der Pachtgesellschaften gewesen zu sein, so erwähnte er im Jahr 59 v. Chr. hingegen ganz beiläufig die Anteile Caesars an der Staatspacht. Cic. Verr. II 3,130. 3,140, Cic. in Vat. 29. Obgleich solche Geschäfte den Senatoren nach wie vor verboten waren, war es doch ein offenes Geheimnis, wie viele von ihnen in diese Händel verstrickt waren. Zu der vermehrten Beteiligung der Senatoren an den Staatspachten seit den siebziger und sechziger Jahren des ersten vorchristlichen Jahrhunderts, vgl. Badian, Publicans and Sinners, S. 101-104. 18 Cic. Verr. II 2,186-191. 19 Cic. Verr. II 3,42: „Quis arator te praetore decumam dedit? quis duas? quis non maximo se adfectum beneficio putavit cum tribus decumis pro una defungeretur, praeter paucos qui propter societatem furtorum tuorum nihil omnino dederunt? Vide inter importunitatem tuam senatusque bonitatem quid intersit. Senatus cum temporibus rei publicae cogitur ut decernat ut alterae decumae exigantur, ita decernit ut pro his decumis pecunia solvatur aratoribus, ut, quod plus sumitur quam debetur, id emi non auferri putetur: tu cum tot decumas non senatus consulto, sed novis edictis tuis nefariisque institutis exigeres et eriperes, magnum te fecisse arbitrare si pluris vendideris quam L. 17
Augustus’ Krisenmanagement in den Provinzen
199
Auch bei dem hier erwähnten außerordentlichen Kornankauf wusste Verres, enorme Gewinne einzustreichen: Er nahm das vom Senat zur Verfügung gestellte Geld, legte es bei den Pächtern an, um darauf Zinsen zu erhalten, belieferte Rom mit den „Zehnten“, die er sowieso zuviel eingezogen hatte, erklärte das zusätzliche Getreide, das die Gemeinden zu liefern hatten, für unbrauchbar und ließ sich stattdessen den Marktwert von ihnen in Geld ausbezahlen, worauf noch eine Gebühr für seine Schreiber kam.20 Dieses System der Ausbeutung basierte im Großen und Ganzen auf Unterdrückung. Nicht nur bei Verres, sondern auch bei anderen Statthaltern, welche gemeinsame Sache mit Steuerpächtern und Wucherern machten, war es üblich, dass sie ihre von Rom verliehene militärische Befehlsgewalt zur Eintreibung ihrer Forderungen nutzten. Sie stellten militärische Einheiten zur Verfügung, um Druck auf Steuerzahler und Schuldner auszuüben, was bisweilen nicht nur bei Drohungen blieb.21 Verres war bei weitem nicht der einzige Statthalter seiner Art, vielmehr der Einzige, über dessen Vergehen wir so ausführlich unterrichtet sind.22 Dass es in vielen Regionen des Reiches ähnlich aussah, wissen wir von den Klagen und Unruhen in den einzelnen Provinzen, aber auch von weiteren Repetundenprozessen, d.h. Prozessen wegen ausbeuterischer Erpressung gegen die Statthalter.23 Diese, welche im Grunde genommen die einzige Möglichkeit für die Provinzialen waren, sich zu wehren, waren allerdings äußerst uneffektiv. Die Richterbänke waren nämlich ebenfalls mit Angehörigen der römischen Oberschichten besetzt: entweder von Senatoren, die sich irgendwann noch selbst in den Provinzen finanziell sanieren wollten oder von Rittern, welche zu großen Teilen an den Pachtgeschäften beteiligt waren. Die Interessenverflechtungen und die gegenseiHortensius, pater istius Q. Hortensi, quam Cn. Pompeius, quam C. Marcellus, qui ab aequitate, ab lege, ab institutis non recesserunt?“ Vgl. auch Cic. Verr. II 3,40. 20 Cic. Verr. II 3,165. Von der mit dem Kaufgetreide in Zusammenhang stehenden Ausbeutung durch Verres handelt ein ganzer Abschnitt der Verrinischen Reden: Cic. Verr. II 3,163-187. 21 Cic. Verr. II 3,66. Die ganze Rede ist durchzogen von Einzelbeispielen, die die Gewalttaten von Verres und seinen Männern sowie die Demütigungen erläutern, welche die sizilische Bevölkerung unter diesen erdulden musste. 22 Zudem darf man nicht den unter dem Statthalter wirkenden Personalstab vergessen, der in der Regel auch an der Vermehrung seines Reichtums interessiert war. Vgl. zum Beispiel den Legaten M. Lollius, dem Geld weitaus wichtiger war als eine gute Amtsführung. Vell. II 97,1. Vgl. Dessau, Geschichte der römischen Kaiserzeit, S. 149. 23 Die Repetundenprozesse boten den Geschädigten die Möglichkeit, einen römischen Statthalter, durch welchen sie Unrecht erfahren hatten, vor Gericht zu ziehen. Zu den Vergehen, die in diesem Rahmen behandelt wurden, zählten Raub, Erpressung, die Annahme von Geschenken sowie Steuervergehen (Einzug neuer Steuern, rechtswidrige Erhöhung, etc.). Ein Schuldurteil konnte bei dem Magistraten zur Minderung seiner Ehre und für den Ankläger zu einem Schadensersatz führen. Vgl. Ausbüttel, Frank M., Die Verwaltung des Römischen Kaiserreiches. Von der Herrschaft des Augustus bis zum Niedergang des Weströmischen Weltreiches, Darmstadt 1998, S. 183-185, Dessau, Geschichte der römischen Kaiserzeit, S. 149f.
200
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tigen Loyalitäten – oder modern ausgedrückt: die Lobbybildung innerhalb der römischen Oberschicht sorgte dafür, dass die Statthalter sich bei ihrem Tun sicher fühlen konnten. Und sollte dies einmal nicht ausreichen, dann hatte man als ehemaliger Statthalter ja etwas Geld in der Hinterhand, um die Richter zu besänftigen. Auch hierfür liefert die Verresrede wieder den deutlichsten Beweis, in der Cicero erläutert, „...dass C. Verres in Sizilien vor zahlreichen Zuhörern oft genug erklärt hat: er habe eine mächtige Stütze, auf die er sich verlassen könne, wenn er die Provinz ausplündere; auch trachte er nicht nur für sich nach Geld, er habe vielmehr die drei Jahre seiner sizilischen Prätur so eingeteilt, dass er sehr gut abzuschneiden glaube, wenn er den Gewinn des ersten Jahres für sich verwende, das zweite seinen Anwälten und Beschützern überlasse, das dritte jedoch, das reichste und ergiebigste, ganz für seine Richter aufspare.“24
Und Cicero befürchtete, in Anbetracht dieser Absurdität, „...dass die auswärtigen Nationen noch Gesandte an das römische Volk schicken würden, um die Abschaffung des Gesetzes und Gerichtshofs gegen Erpressungen zu erwirken. Wenn es nämlich keine Prozesse mehr gebe, dann werde, meinen sie, ein jeder nur so viel rauben, als er für sich und seine Kinder zu benötigen glaube.“25
Die Gerichte waren somit als Kontrollinstanzen unwirksam.26 Juvenals berühmt gewordene Frage Aber wer kontrolliert die Kontrolleure?27 war in diesem Fall eindeutig zu beantworten: Niemand. 24
Cic. Verr. I 14,1: „[...] C. Verrem in Sicilia, multis audientibus, saepe dixisse, se habere hominem potentem, cuius fiducia provinciam spoliaret: neque sibi soli pecuniam quaerere, sed ita triennium illud praeturae Siciliensis distributum habere, ut secum praeclare agi diceret, si unius anni quaestum in rem suam converteret; alterum patronis et defensoribus traderet; tertium illum uberrimum quaestuosissimumque annum totum iudicibus reservaret.“ Ausnahmsweise ging diese Rechnung im Fall des Verres nicht auf, denn die erdrückende Beweislast und die umfangreichen Zeugenlisten, welche Cicero in Sicilia zusammengetragen hatte, veranlassten Verres, den Prozess vorzeitig verloren zu geben und sich seiner Strafe durch Selbstverbannung zu entziehen. Er ging ins Exil nach Massilia (Marseille) und genoss dort, fernab Roms, ein Leben im Wohlstand, bis er schließlich im Jahr 43 v. Chr. wegen seines Reichtums ein Opfer der Proskriptionen, welche auch Cicero – allerdings aus anderen Gründen – das Leben kosteten, werden sollte. 25 Cic. Verr. I 14,2: „[...] fore uti nationes exterae legatos ad populum Romanum mitterent, ut lex de pecuniis repetundis iudiciumque tolleretur. Si enim iudicia nulla sint, tantum unum quemque ablaturum putant, quantum sibi ac liberis suis satis esse arbitretur.“ 26 Die Gerichte standen – egal ob sie mit Rittern oder Senatoren besetzt waren – immer unter dem Druck der mächtigen und vermögenden Pächter, die durch ihre Organisation in den societates publicanorum eine Plattform und ein gemeinsames Sprachrohr hatten und dadurch ihre politische Macht entfalten konnten. Besonders in Zeiten, in denen die Gerichte von Rittern, d.h. von Angehörigen der geschäftetreibenden Oberschicht und Mitgliedern der Pachtgesellschaften, geleitet wur-
Augustus’ Krisenmanagement in den Provinzen
201
Eine zweite potenzielle Kontrollinstanz existierte zwar, war aber ebenfalls aufgrund des eng verwobenen römischen Beziehungsgeflechtes unwirksam: die Quästoren, welche nicht nur in Rom, sondern auch in den Provinzen die Aufsicht über die Finanzen des Reiches inne hatten. Sie standen erst am Anfang ihrer Karriere und wollten sie es zu etwas bringen, durften sie es sich mit den angesehenen und in der Hierarchie weit über ihnen stehenden Statthaltern nicht verscherzen. Beziehungen und gegenseitige Gefälligkeiten waren die Basis jeder römischen Karriere, weshalb eine wirksame Kontrolle der Statthalter durch die Quästoren nicht gegeben sein konnte.28 Aber auch umgekehrt gab es zahlreiche Quästoren, welche in die Händel der Pächter verstrickt waren – auch ohne das Wissen des Statthalters. Von einem Vorgehen gegen die ausbeuterische Praxis in den Provinzen kann jedenfalls insgesamt keine Rede sein. Die Oberschicht, oder zumindest die meisten ihrer Vertreter hatten nicht unbedingt das Staatswohl oder das der Untertanen im Sinn, sondern waren vielmehr darauf bedacht, in die eigene Tasche zu wirtschaften und möglichst große Summen aus den Provinzen davon zu tragen. Dass dies den wirtschaftlichen Ruin und die Verschuldung ganzer Regionen bedeutete, war ihnen gleichgültig. Die Folgen hatte jedoch das römische Reich zu tragen: Es hatte nicht nur mit den damit zusammenhängenden Unruhen und reichsweiten Krisenherden zu kämpfen, sondern auch mit den wirtschaftlichen Krisen der Provinzen, deren Rückwirkungen auf Rom nicht ausblieben und im schlimmsten Falle in einer Stagnation der provinzialen Einnahmen enden konnten – ein Todesstoß nicht nur für die den, konnten sie ihren Einfluss geltend machen und ihre wirtschaftlichen Interessen durchsetzen, wie sie in einem Prozess aus dem Jahr 92 v. Chr. demonstrierten. Sie verurteilten den konsularischen Legaten P. Rutilius Rufus, der gemeinsam mit dem Statthalter Q. Mucius Scaevola in die Provinz Asia geschickt worden war, um die Geschäftspraktiken der publicani zu beleuchten und die Missstände zu beheben. Die saubere und vorbildhafte Amtsführung der beiden Beamten brachte ihnen die Gegnerschaft vieler Ritter – allen voran die der Pächter – ein, die sich in ihren unlauteren Machenschaften gestört fühlten und dies den integren Männern heimzahlen wollten. So verurteilte die aus Rittern zusammengesetzte quaestio perpetua de repetundis, die eine wachsende Zahl von publicani vorzuweisen hatte, im Zuge einer Machtdemonstration den völlig unschuldigen und korrekten Legaten. Cic. Font. 38, Cic. de orat. 1,227-231. 27 Iuvenalis, Saturae VI, 347f.: „Sed quis custodiet ipsos custodes?“ 28 De iure war der Quästor selbständig in der Verwaltung der Staatsgelder. De facto hingegen war er sehr eingeschränkt, da er in Anbetracht seiner weiteren Karriere auf die Gunst der ranghöheren Magistrate angewiesen war – ganz im Gegensatz zu der Gunst der Provinzialen. Außerdem entstammten zahlreiche Quästoren dem Ritterstand und hatten damit häufig selbst Verbindungen zu den geschäftstüchtigen, in den Provinzen tätigen Kreisen, so dass ihnen an einer genauen Kontrolle der finanziellen Vorgänge zwischen diesen und dem Statthalter nicht unbedingt gelegen war. Vgl. Schulz, Raimund, Herrschaft und Regierung. Roms Regiment in den Provinzen in der Zeit der Republik, Paderborn 1997, S. 239-246, Eich, Zur Metamorphose des politischen Systems, S. 56f. Zusätzlich gab es in vielen Provinzen rein praktische Schwierigkeiten bei der finanziellen Kontrolle des Statthalters durch den Quästor. In Sicilia bspw. hatte der Quästor seinen Sitz in Lilybaeum, der Statthalter hingegen residierte in Syrakus, so dass zwischen beiden die ganze sizilische Insel lag.
202
Susanne Schake
römische „Staatskasse“, sondern auch für die römische Herrschaft. Der Praxis der Ausbeutung, die gemeinsam von Statthaltern, Steuerpächtern und Wucherern perfektioniert worden war, musste entgegengewirkt werden und Augustus sollte Veränderungen auf der Verwaltungsebene einleiten, die, wenn auch nicht der gänzlichen Beseitigung, so doch einer Einschränkung dieser Praxis dienlich waren.
3
Prinzipat
Nach Beendigung der Bürgerkriege, welche durch die Machtgier einzelner Römer verursacht worden waren, hatte Augustus im Jahr 27 v. Chr. formal die Republik wieder hergestellt. Formal deshalb, weil er selbst inzwischen durch hohe Finanzkraft und die ihm ergebenen römischen Legionen zu so großer Macht gelangt war, dass nur die Erfahrungen mit den Diktaturen der vorangegangenen Jahre, vor allem das Schicksal seines Großonkels Caesar, ihn davon abhielten, offen nach der Macht im „Staate“ zu greifen. Er lehnte somit eine offizielle Einsetzung als Oberhaupt des Reiches (z.B. als Diktator auf Lebenszeit) ab, ließ sich aber vom Senat mit zahlreichen Amtsvollmachten ausstatten, so dass aufgrund seiner hohen machtpolitischen Stellung de facto eine neue Staatsform entstanden war, das sogenannte Prinzipat29 – quasi eine Monarchie hinter republikanischer Fassade.
Änderungen im Verwaltungspersonal Die erste bedeutende Änderung, die diese neue Staatsform mit sich brachte, betraf nun sogleich die Statthalterschaften in den Provinzen. Infolge der Übertragung der prokonsularischen Gewalt an Augustus fand noch im Jahr 27 v. Chr. eine regelrechte Aufteilung der Provinzen, zum einen in die des Augustus, zum anderen in die des Senats, statt. Augustus wurde im Großen und Ganzen mit der Verwaltung und Kontrolle all derjenigen Provinzen betraut, die als „unbefriedet“ 29
Der Begriff „Prinzipat“ lässt sich von dem lateinischen Wort princeps herleiten, was soviel bedeutet wie „der Erste“. Er bezeichnet die nachrepublikanische, römische Herrschaftsstruktur, die neben der Beibehaltung der traditionellen Institutionen durch die Vorherrschaft eines Einzelnen gekennzeichnet war, der die führenden Männer des Staates (principes civitatis) in seinem Ansehen (auctoritas) bei weitem überragte, so dass er „zum princeps par excellence“ avancierte. Bellen, Heinz, Grundzüge der römischen Geschichte. Bd. 1: Von der Königszeit bis zum Übergang der Republik in den Prinzipat, Darmstadt 1994, S.164; vgl. auch R. Gest. div. Aug. 34: „Post id tempus auctoritate omnibus praestiti, potestatis autem nihilo amplius habui quam ceteri qui mihi quoque in magistratu conlegae fuerunt.“
Augustus’ Krisenmanagement in den Provinzen
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oder als von Unruhen bedroht galten und die dementsprechend mit der Stütze seiner Macht – den Legionen des Reiches – besetzt waren.30 Dies bedeutete nicht nur, dass er von Seiten des römischen „Staates“, d.h. von Senat und Volk den Oberfehl über das römische Heer erhielt und damit eine wesentliche Absicherung seiner machtpolitischen Stellung erreichte, sondern auch, dass er offiziell als oberster Verwaltungsbeamter, d.h. als Statthalter in diesen Provinzen eingesetzt wurde. Da er jedoch unmöglich an all diesen Orten zugleich als Statthalter tätig sein konnte, brauchte er zu diesem Zweck Stellvertreter, die sogenannten legati Augusti pro praetore (Vgl. hierzu wie zum Folgenden Abb. 2). Sie stammten wie die Statthalter der Senatsprovinzen in der Regel aus dem Senatorenstand, obwohl Augustus nun gelegentlich auch Ritter an die Spitze von zumeist kleineren Provinzen setzte, welche dann aber als Präsidialprokuratoren oder Präfekte bezeichnet wurden.31 Die wichtigste Neuerung hierbei war nun, dass all diese für Augustus stellvertretend eingesetzten Statthalter von diesem persönlich ernannt wurden, was folgende Konsequenzen nach sich zog: Ihre Stellung hatte keinen offiziellen Charakter, weshalb sie vom Prinzip der Annuität, welchem die ehemals republikanischen Magistrate noch immer unterlagen, entbunden war. Sie konnten demnach so lange in ihren Positionen bleiben wie es Augustus beliebte, welcher sich als oberster Verwaltungsbeamter seiner Provinzen selbst in einer zeitlich quasi unbeschränkten Stellung befand.32 Eine fehlende zeitliche Begrenzung ergab sich demnach auch für das untere Verwaltungspersonal dieser Statthalter, welches sich seinerseits wiederum anders zusammensetzte als der Stab der Prokonsuln in den senatorischen Provinzen. Gab es in diesen noch – wie zu Zeiten der Republik – die Quästoren, die den 30
R. Gest. div. Aug. 26, Cass. Dio 53,12f. Zu Zeiten der Republik entstammten die Statthalter ausschließlich dem Senatorenstand und waren von prokosularischem oder proprätorischem Rang (vgl. Abb. 1). Die Frage, weshalb Augustus auch Ritter als seine Stellvertreter und damit indirekt als oberste Verwaltungsbeamte einer Provinz einsetzte, konnte in der Forschung bisher nicht eindeutig geklärt werden. Lediglich für Ägypten schienen machtpolitische Gründe klar im Vordergrund zu stehen, da das reiche Gebiet eine ideale Basis für Machtansprüche einzelner Senatoren darstellte, wie es sich bereits im Fall des Antonius gezeigt hatte. Hinzu kam die zunehmende Bedeutung Ägyptens für die Getreideversorgung Roms, welche nur dadurch gesichert werden konnte, dass man das Gebiet in die Hände eines Mannes gab, welcher Rom und dem Kaiser loyal ergeben war und keine eigenen politischen Machtbestrebungen verfolgte. Erklärungsversuche für die Besetzung der übrigen Provinzen mit ritterlichen Präfekten oder Präsidialprokuratoren liefern Eck, Werner, Die Verwaltung des Römischen Reiches in der Hohen Kaiserzeit. Ausgewählte und erweiterte Beiträge, Bd.1, Basel 1995, S. 29-54, 83-102, 327340 und Jacques, Rom und das Reich, S. 184-186. 32 Offiziell sollte er die Stellung so lange inne haben, bis die Befriedung und Ordnung der ihm zugewiesenen Provinzen garantiert sei, was Augustus in 10 Jahren zu erreichen gedachte. Das ihm verliehene imperium proconsulare maius musste in der Folgezeit deshalb in regelmäßigen Abständen verlängert werden. Vgl. Cass. Dio 53,13,1. Der Senat sollte jedoch nie wieder die vollständige Verwaltungshoheit über diese Gebiete erhalten. 31
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Einzug der Hauptsteuern gemeinsam mit den Statthaltern überwachen sollten, so führte Augustus auch hier eine veränderte Personalpolitik ein. Er setzte an deren Stelle – wiederum persönlich und ohne Mitsprache des Senates – sogenannte Prokuratoren in seinen Provinzen ein. Den Prokurator kannte man schon in der Republik, wo dieser als persönlicher Agent, meist aus dem Freigelassenenmilieu stammend, auftrat und für Angehörige der römischen Oberschichten verschiedene private Dinge, meist finanzieller Natur, besorgte.33 Augustus setzte nun mehrere dieser privaten Helfer nicht nur für die Sorge um seine persönlichen finanziellen Belange in den Provinzen ein, sondern auch für die Angelegenheiten des „Staates“, welche vor allem in der Kontrolle der öffentlichen Einnahmen und Ausgaben bestanden.34 Für diese Stellen zog er in traditioneller Art und Weise seine eigenen Freigelassenen heran, aber auch römische Ritter, welche ihm loyal ergeben waren.35 Als zusätzliche Gehilfen gab er ihnen weitere, von ihm abhän33
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Vgl. Weaver, Paul R.C., Familia Caesaris. A Social Study of the Emperor's Freedmen and Slaves, Cambridge 1972, S. 267-281. Die finanziellen Belange des Prinzeps in den Provinzen umfassten bspw. die Verwaltung von Einnahmen aus den kaiserlichen Ländereien und Bergwerken und von Erbschaften, die dem Kaiser zufielen, sowie den Einzug von herrenlosen Gütern oder solchen, die einem wegen Majestätsbeleidigung Verurteilten gehörten. Vgl. Ausbüttel, Die Verwaltung des Römischen Kaiserreiches, S. 13f. Was die öffentlichen Einnahmen und Ausgaben betraf, so waren die Provinzprokuratoren zuständig für die Truppenversorgung, die Steuerveranlagung, Verpachtungen und den Einzug der Hauptsteuern von den Gemeinden. Jacques, Rom und das Reich, S. 199f., Weaver, Familia Caesaris, S. 267-281. Allgemein zum Einsatz der Prokuratoren, s. Cass. Dio 53,15,3-6; vgl. Boulvert, Gérard, Esclaves et affranchis imperiaux sous le Haut-Empire romain. Rôle politique et administratif, Neapel 1970, S. 387-418, Pflaum, Hans-Georg, Les carrières procuratoriennes équestres sous le Haut-Empire romain, Paris 1960–1961, Eck, Die Verwaltung des Römischen Reiches, S. 15f., Dessau, Geschichte der römischen Kaiserzeit, S. 191-195, Hirschfeld, Otto, Die kaiserlichen Verwaltungsbeamten bis auf Diocletian, Berlin 31963, S. 410-465. Cass. Dio 53,15,3. 54,21,3. Später treten die Provinzprokuratoren als Paare auf, wobei einer den Rang eines Ritters, der andere den Rang eines Freigelassenen inne hatte. Vgl. Jacques, Rom und das Reich, S. 189. Zur Eignung der Ritter als Prokuratoren: Die Ritter waren nicht nur auf den Statthalterposten, sondern auch auf den Prokuratorenstellen von Vorteil, da sie als Angehörige der städtischen Oberschichten meist schon über administrative Erfahrungen verfügten, sich aufgrund ihrer wirtschaftlichen Betätigungen oft besser als die Senatoren mit der Ökonomie auskannten und da sie zahlenmäßig den Senatorenstand überragten, d.h., dass der Prinzeps unter ihnen eine größere Auswahlmöglichkeit hatte. Siehe dazu: Ausbüttel, Die Verwaltung des Römischen Kaiserreiches, S. 168f., Eck, Die Verwaltung des Römischen Reiches, S. 100f., Hirschfeld, Die kaiserlichen Verwaltungsbeamten, S. 413-415. Zur besonderen Eignung der Freigelassenen als Prokuratoren: Sie erhielten als Sklaven bereits eine hervorragende Ausbildung in den kaiserlichen Finanzbüros und reiften nach jahrelanger Tätigkeit und Erfahrung zu regelrechten Fachleuten heran. Vgl. Herrmann-Otto, Elisabeth, Ex ancilla natus. Untersuchungen zu den „hausgeborenen“ Sklaven und Sklavinnen im Westen des Römischen Kaiserreiches (Forschungen zur antiken Sklaverei, Bd. 24), Stuttgart 1994, S. 314-324, 353-369, Dies., Sklaverei und Freilassung, S. 185-187. In der Forschung wurde zudem vermutet, dass sie die Ritter beaufsichtigen sollten, bzw. dass die Einsetzung als Paar einer gegenseitigen Aufsicht dienen sollte. Die Quellen zeigen jedoch, dass Freigelassene in der Regel länger als die Ritter am selben Ort eingesetzt wurden, weshalb die Gewährleistung
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gige Sklaven und Freigelassene – oder im römischen Sprachgebrauch: Angehörige seiner familia36 – als Personalstab bei, die sich um alle anfallenden Aufgaben kümmerten, wie z.B. um Botengänge, Archiv- und Schreibarbeiten, die Kassenführung oder auch die Aufsicht über ganze Sachbereiche und das dazugehörige Personal.37 Bei dieser veränderten Personalpolitik sollte es jedoch nicht bleiben: Selbst in den senatorischen Provinzen setzte er Prokuratoren ein, die jedoch offiziell – da hier noch die republikanischen Quästoren existierten – nur für die finanziellen Privatangelegenheiten des Prinzeps zuständig waren, sein sogenanntes patrimonium. So verwalteten sie beispielsweise seine in den Provinzen gelegenen Ländereien oder überwachten persönliche Einnahmen und Ausgaben, die vor Ort anfielen wie z.B. den Einzug von Gütern oder Erbschaften zugunsten des Kaisers.38 Aufgrund seines Ansehens und seiner zunehmenden machtpolitischen Stellung erfuhren jedoch alle von ihm eingesetzten Prokuratoren bald einige Kompetenzerweiterungen, welche sicher auch denjenigen, die in den senatorischen Provinzen tätig waren, einen Einblick in die dortige (offizielle) Rechnungsführung ermöglicht haben.39 von Kontinuität und die besondere fachliche Qualität der Freigelassenen eher als Gründe für deren Einsatz gelten können. Hinzu kommt die Verfügungsgewalt, die der Prinzeps über seine Freigelassenen ausüben konnte, was zu einer besseren Kontrolle dieser Funktionäre führte. Vgl. Hirschfeld, Die kaiserlichen Verwaltungsbeamten, S. 412f., Weaver, Familia Caesaris, S. 279-281, Schrömbges, Paul, Zum römischen Staatshaushalt in tiberischer Zeit, in: Gymnasium 94, 1987, S. 25f. Siehe auch Anm. 39. 36 Vgl. Ausbüttel, Die Verwaltung des Römischen Kaiserreiches, S. 11f., Herrmann-Otto, Sklaverei und Freilassung, S. 180f. Die familia des Prinzeps wurde später, einhergehend mit der Institutionalisierung der neuen Staatsform und der Übertragung des Beinamens „Caesar“ an spätere principes, als familia Caesaris bezeichnet. 37 Zu den Tätigkeiten der kaiserlichen Sklaven und Freigelassenen im Dienste des Reiches, siehe Hirschfeld, Die kaiserlichen Verwaltungsbeamten, S. 58-64, Eck, Die Verwaltung des Römischen Reiches, S. 16f. 38 Zur Einsetzung der Patrimonialprokuratoren in Provinzen des Prinzeps und des Senats, vgl. Alpers, Michael, Das nachrepublikanische Finanzsystem. Fiscus und Fisci in der frühen Kaiserzeit (Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte, Bd. 45), Hamburg 1993, S. 42f., Eck, Die Verwaltung des Römischen Reiches, S. 16, Jacques, Rom und das Reich, S. 183, Ausbüttel, Die Verwaltung des Römischen Kaiserreiches, S. 14f. Vgl. Anm. 33 zum Aufgabenbereich der Patrimonialprokuratoren. 39 Hatte ihre Stellung zunächst einen rein privaten Charakter, so gewann diese mit der Verfestigung der neuen Staatsform und dem wachsenden politischen Gewicht ihres Klienten/Patrons/Herrn zunehmend an öffentlicher Qualität. Vgl. Schrömbges, Zum römischen Staatshaushalt, S. 25f., Weaver, Familia Caesaris, S. 270f. Dafür spricht auch die Befähigung zur Rechtsprechung in Steuerprozessen, die den Prokuratoren, sogar denen des patrimonium Caesaris, in claudischer Zeit übertragen wurde. Siehe hierzu Jacques, Rom und das Reich, S. 198f., Eck, Die Verwaltung des Römischen Reiches, S. 15-18. Dass die Patrimonialprokuratoren des Prinzeps Zugang zu den „staatlichen“ Kassen in den senatorischen Provinzen erhalten haben werden, kann als äußerst wahrscheinlich gelten, in Anbetracht der Tatsache, dass bereits zu Zeiten der Republik Privatsklaven der Ma-
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Abbildung 2: Die obersten Verwaltungsbeauftragten der römischen Provinzen, das unter ihnen tätige Personal und dessen Zuständigkeiten40
Einsatzort Sozio-politischer Status
Prokonsul
legatus Augusti pro praetore
Präsidialprokurator / Präfekt
Senatorische Provinz
Provinz des Augustus
Provinz des Augustus
Senator
Senator
Ritter
Prokuratoren
Prokuratoren
familia Caesaris
familia Caesaris
Patrimonialprokuratoren
Patrimonialprokuratoren
Statthalter und Quästor Sklaven und Freigelassene des ProkonPersonalstab suls PatrimonialFinanzbelange des prokuratoren Augustus Quelle: eigene Darstellung. Kontrolle des Steuereinzuges
Einer allumfassenden finanziellen Kontrolle, die durch die von Augustus abhängigen Personen gewährleistet wurde und in dessen Oberaufsicht mündete, stand demnach nichts mehr im Wege. Vor allem die zahlreich eingesetzten Sklaven und Freigelassenen des Prinzeps stellten in dieser Hinsicht möglichst zuverlässige Helfer dar, denn Augustus konnte von diesen – um mit den Worten Cassius Dios zu sprechen – „sogar unter Zwang erfahren, wenn eine Unregelmäßigkeit unterlief“.41 Sie stellten somit verlässliche Augen und Ohren für den Prinzeps
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gistrate zum Zwecke der Rechnungsprüfung Zugang zum aerarium erhalten hatten. Plut. Cat. min. 18. Vgl. auch Alpers, Das nachrepublikanische Finanzsystem, S. 262. Erläuterungen: Alle Personen, die in Provinzen des Augustus mit einer Verwaltungstätigkeit betraut waren, standen in einem Abhängigkeitsverhältnis zu Augustus, ebenso wie die von ihm persönlich eingesetzten Patrimonialprokuratoren in den senatorischen Provinzen (grau unterlegt). Cass. Dio 52,25,5. Als pater familias hatte der Prinzeps das Entscheidungsrecht über Leben und Tod seiner Sklaven. Für seine Freigelassenen galt dies zwar nicht, doch standen sie weiterhin in einem Abhängigkeitsverhältnis zu ihrem früheren Herrn. Sie waren dem Patron gegenüber zu Ehrerbietung (reverentia) und Gehorsam (obsequium) sowie zu gewissen Diensten (operae) verpflichtet, welche z.B. Arbeitsverpflichtungen, die Pflege bei Krankheit, die tägliche Aufwartung oder auch die Unterstützung bei Wahlen umfassten. Sie waren also zu besonderer Treue und Loyalität angehalten, wobei es insbesondere für Freigelassene mächtiger Patrone essentiell sein konnte, diese Verpflichtungen zu erfüllen. Gerade der kaiserliche Freigelassene konnte seinen Reichtum und seinen potenziellen Einfluss nur auf die Beziehung zu seinem Herrn zurückführen und konnte den „Platz an der Sonne“ nur durch dessen Gunst und Förderung erreichen und womöglich dauerhaft beanspruchen, da es ihm selbst an hohem sozialen Prestige fehlte. Freigelassene waren daher für den Prinzeps (durch ihre Abhängigkeit von ihm als Patron) die am leichtesten zu lenkenden
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dar, der sich dadurch dauerhaft einen hervorragenden Überblick über alle Vorgänge im Reich verschaffen konnte.
Änderungen im Steuerwesen Auch im Steuerwesen sollte es unter Augustus zu Neuerungen kommen. Die Besteuerung vieler Provinzen war nach Jahrzehnten des Bürgerkriegs und der Ausbeutung durch römische Funktionsträger in Unordnung geraten und musste stabilisiert werden, während in den neuen, vorwiegend westlichen Provinzen, die keine vorgefertigten Verwaltungsstrukturen aufweisen konnten, ein Besteuerungssystem überhaupt erst etabliert werden musste. Zu diesem Zweck ließ Augustus etwa zu Beginn unserer Zeitrechnung die Bevölkerung des Reiches und ihre Vermögensverhältnisse erfassen. Wir kennen die diesbezügliche Quellenstelle aus der Bibel, genauer gesagt aus der sogenannten Weihnachtsgeschichte, welche gleich zu Anfang darüber berichtet, weshalb die hochschwangere Maria auf Reisen war: „In dieser Zeit befahl der Kaiser Augustus, dass alle Bewohner des römischen Reiches namentlich in Listen erfasst werden sollten. Eine solche Volkszählung hatte es noch nie gegeben. Sie wurde durchgeführt, als Quirinius Statthalter in Syrien war. Jeder musste in die Stadt gehen, aus der er stammte, um sich dort eintragen zu lassen >…@“42
Der Grund war demnach eine Volkszählung, welche Augustus im Rahmen eines reichsweiten Zensus angeordnet hatte, was bedeutete, dass Listen über die Bewohner des Reiches sowie deren Besitz anfertigt wurden, auf deren Basis Augustus schließlich ihm angemessen erscheinende Steuern festlegte.43 Zusammen mit dieser Steueranpassung setzte er nun auch Veränderungen in der Praxis der Einziehung durch. Die Hauptsteuern wurden nun vielerorts44 vermehrt in Form einer Pro-KopfSteuer, welche unabhängig vom Vermögensstand des jeweiligen Steuerzahlers war, eingenommen. Augustus schaffte den Zehnten, der zur Zeit der Republik so Personen und sie waren sich darüber bewusst, dass ihre Ersetzung oder Beseitigung im administrativen Bereich – falls sie einmal nicht mehr in der Gunst des Prinzeps stehen sollten – aufgrund ihres geringen Sozialprestiges kaum eine öffentliche Resonanz haben würde. Sie taten demnach ihr Bestes, den Wünschen und Anforderungen des Prinzeps zu entsprechen. 42 Lk 2,1-3. 43 R. Gest. div. Aug. 8, Cass. Dio 53,22,5 (Gallien). Vgl. auch Jacques, Rom und das Reich, S. 173176. 44 Vgl. Schrömbges, Zum römischen Staatshaushalt, S. 35, mit zahlreichen Quellenangaben.
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viel Platz für ungerechtfertigte Forderungen gelassen hatte, demnach weitestgehend ab und verwandelte diese Abgabe in feste Pauschalbeträge.45 Diese wurden auch nicht mehr von Staatspächtern eingezogen, sondern von den einzelnen Gemeinden bzw. deren Stadtverwaltungen (d.h. den Dekurionen) selbst, die die Gelder dann an die Prokonsuln oder die Prokuratoren, je nach Art der Provinz, weiterleiteten.46 Die Pächter fielen quasi als Zwischeninstanz aus und verloren ihre Haupteinnahmequellen wie z.B. die Hauptsteuern der großen und reichen Provinz Asia,47 was das Ende der großen Pachtgesellschaften einleitete. Im Zusammenhang mit dem Einzug der zentralen Steuern (auf Kopf und Boden) traten sie nur noch in Ausnahmefällen auf und dort, wo diese weiterhin in Naturalabgaben bestanden wie beispielsweise in Afrika.48 Die indirekten Abgaben wie beispielsweise Zölle und unregelmäßige Leistungen wie die Freilassungs- oder die neu eingerichtete Erbschaftssteuer blieben hingegen zunächst weiterhin in den Händen der Pächter. Sie kamen vermutlich erst im Laufe des 2. Jahrhunderts, die Zölle sogar noch später, unter die Kontrolle kaiserlicher Beauftragter. Bei Einzug dieser Abgaben waren jedoch die Möglichkeiten der Ausbeutung wesentlich geringer als bei den großen, ganze Provinzen umfassenden Pachten der Hauptsteuern. Zudem schien man hier dazu überzugehen, den Pächtern nur eine feste Quote der verrechneten Beträge zuzugestehen, da bei diesen Einkünften sowieso nicht von vornherein eine konkrete Pachtsumme abzuschätzen war. Enorme Profite waren kaum mehr möglich und damit einhergehend verloren die Pachtgesellschaften nach und nach an Größe und Einfluss.49
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Dabei dienten Reformen durch C. Julius Caesar in der Provinz Asia offenbar als Vorbild. Drexhage, Heinrich-Wilhelm, Wirtschaftspolitik und Wirtschaft in der römischen Provinz Asia in der Zeit von Augustus bis zum Regierungsantritt Diokletians (Asia Minor Studien, Bd. 59), Bonn 2007, S. 32f. 46 Cass. Dio 53,15,3. Zu den genauen Aufgaben der Statthalter im Zusammenhang mit der Steuererhebung, s. Ausbüttel, Die Verwaltung des Römischen Kaiserreiches, S. 85-88. Zur Rolle der Städte (civitates) und der dort ansässigen Führungseliten (Angehörige des ordo decurionum) in der Reichsverwaltung, s. Ausbüttel, Die Verwaltung des Römischen Kaiserreiches, S. 39-46, 191f. 47 Diese waren schon unter Caesar den Pächtern entrissen worden. Zur selben Zeit hatte dieser bereits dazu gedrängt, die Einziehung der Steuern auch in anderen Regionen des Reiches den civitates anzuvertrauen. App. b.c. V,4, Cass. Dio 42,6,3. Vgl. auch Dessau, Geschichte der römischen Kaiserzeit, S. 184f. 48 CIL VI 31713. Vgl. Dessau, Geschichte der römischen Kaiserzeit, S. 162f., Schrömbges, Zum römischen Staatshaushalt, S. 35f. App. Pun. 20,135 berichtet hingegen von Kopf- und Bodensteuern aus dieser Region. 49 Vgl. Tac. ann. IV 6,3, Schrömbges, Zum römischen Staatshaushalt, S. 35-38, Ausbüttel, Die Verwaltung des Römischen Kaiserreiches, S. 87f., Dessau, Geschichte der römischen Kaiserzeit, S. 190f., Hirschfeld, Die kaiserlichen Verwaltungsbeamten, S. 77-109, Jacques, Rom und das Reich, S. 199f., Eck, Die Verwaltung des Römischen Reiches, S. 23f. Insbesondere zur Erhebung der Zöl-
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Besoldung Augustus versuchte also insgesamt durch eine allgegenwärtige Kontrolle sowie durch wesentliche Veränderungen im Besteuerungswesen, die Bereicherungsmöglichkeiten der Oberschichten in den Provinzen einzudämmen. Um die führenden Schichten aber nicht durch den Entzug ihrer „traditionellen“ Einnahmequellen gegen sich aufzubringen und um sich der Loyalität seiner neuen Funktionselite zu versichern, führte er erstmals ein Besoldungssystem50 ein, wie wir durch den Geschichtsschreiber Cassius Dio erfahren: „Der Kaiser erteilt sowohl den Prokuratoren als auch den Prokonsuln und Propraetoren bestimmte Anweisungen, damit sie beim Abgang in die Provinzen genauen Vorschriften unterliegen. Denn diese Ordnung sowie die Ausbezahlung eines Gehaltes für sie und ihre Mitarbeiter wurden damals eingeführt. In früheren Zeiten hatten nämlich gewisse Personen ein Geschäft daraus gemacht, indem sie den Beamten alles, was zur Ausübung ihrer Tätigkeit nötig erschien, zur Verfügung stellten und damit die Staatskasse belasteten; unter Caesar >Augustus; Anmerkung d. Verf.@ aber hatte man zum ersten Mal damit begonnen, dass die Beamten selbst ein bestimmtes Gehalt erhielten. Und zwar wurde dieses nicht für alle in gleicher Höhe festgesetzt, sondern ungefähr so, wie es die Bedürfnisse erforderten.“51
Die Quellen geben zu dem neu eingeführten Besoldungssystem leider kaum konkretere Auskünfte. Lediglich für claudische Zeit (41-54 n. Chr.) ist ein prokuratorisches Gehalt von 200.000 Sesterzen überliefert, welches die dem 52 administrativen Personal entgegengebrachte Großzügigkeit erahnen lässt. Die Vergütung öffentlicher Stellen sollte schließlich einen Trend auslösen, der weg le, s. Ausbüttel, Die Verwaltung des Römischen Kaiserreiches, S. 92-94, Dessau, Geschichte der römischen Kaiserzeit, S. 163-166. Cass. Dio 52,23,1. 52,25,2f. 53,15,4f. Weiterführung unter Claudius: Cass. Dio 60,24,2, Suet. Claud. 24. Der Ausbau des Besoldungssystems in späterer Zeit wird auch durch die Nennung von konkreten Gehaltsstufen der Prokuratoren sowie von Gehältern für die Statthalter der Provinzen Asia und Africa bestätigt: Cass. Dio 79,22,5. Vgl. Hirschfeld, Die kaiserlichen Verwaltungsbeamten, S. 432-434, Eck, Die Verwaltung des Römischen Reiches, S. 17. 51 Cass. Dio 53,15,4f. 52 Suet. Claud. 24. Die Höhe des Gehaltes wird besonders deutlich, wenn man es in Relation zu den Jahreslöhnen anderer Berufsgruppen des frühen ersten nachchristlichen Jahrhunderts setzt: Legionär: 912 Sesterzen, Arbeiter im Weinberg: 1.460 Sesterzen, Pfauenzüchter: 60.000 Sesterzen, Hofarzt: 250.000 Sesterzen. Tac. ann. I 17, Cass. Dio 57,4,2, Mt. 20,1f., Plin. n.h. 10,45. 29,7. Ein Verdienst von mehr als einem Denar pro Tag (umgerechnet: 1450 Sesterzen/Jahr) war jedoch für gewöhnliche Arbeitskräfte eher selten. Zudem verdeutlicht das von Kloft für stadtrömische Verhältnisse berechnete Existenzminimum, welches bei 500-750 Sesterzen lag, noch einmal die enorme Höhe des prokuratorischen Gehaltes. Kloft, Hans, Die Wirtschaft des Imperium Romanum, Mainz 2006, S. 106-110. 50
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von den Ehrenämtern führte und den Funktionsträgern damit einen Grund weniger liefern sollte, sich am Besitz der Provinzialen zu vergreifen.
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Zur Effektivität der augusteischen Maßnahmen
Nun lässt sich abschließend fragen, wie effektiv all diese Änderungen waren und welche Wirkung sie auf die missliche Lage der Provinzialen haben konnten. Die fehlende zeitliche Beschränkung für die Tätigkeit der meisten neuen Funktionsträger ermöglichte nicht nur – im Vergleich zur Republik – die Gewährleistung von Kontinuität, sondern trug auch zur Professionalisierung des Verwaltungspersonals bei. Dies galt in besonderer Weise für die Sklaven und Freigelassenen des Prinzeps, da sie bis zu ihrem Tode in einem Abhängigkeitsverhältnis zum Herrscher, ihrem Herrn und Patron, standen und sich dieses Verhältnis sogar mit Verfestigung des Prinzipates auch auf die nachfolgenden Herrscher übertrug, d.h. sie waren nicht mehr an eine einzelne Person wie Augustus gebunden, sondern an das Herrscherhaus. So konnten sie, wenn der Nachfolger ihren Einsatz bestätigte, viele Jahre auf demselben Posten oder zumindest im selben Verwaltungsbereich tätig gewesen sein, theoretisch auch bis zu ihrem Tod oder einer irgendwie erfolgten Pensionierung.53 Der fortwährende Einsatz diente demnach der Professionalisierung des Verwaltungspersonals, welches zuvor – um den Althistoriker Dessau zu zitieren – nur „aus dem vielhundertköpfigen, so viele Unreife, halbe Knaben, so viele Nullen, so viele Streber umfassenden Senat“54 stammte und die Herausbildung eines Spezialistentums als sozialinadäquat betrachtete.55 Augustus förderte somit zugleich die Entstehung von erfahrenen Finanzexperten, die durch ihre Zuverlässigkeit eine genaue Kontrolle nicht nur des öffentlichen Haushaltes, sondern auch der damit zusammenhängenden Funktionsträger garantieren sollten.56 Dass nicht zuletzt die neue Besteuerungspraxis eine Verbesserung der provinzialen Finanzlage zur Folge hatte, was sich mit der Zeit im Aufblühen der Provinzregionen und der inneren Stabilisierung des Reiches zeigte, und dass die Neuerungen demnach ihr Ziel nicht völlig verfehlten, lässt sich also nicht leug53
Vgl. Hirschfeld, Die kaiserlichen Verwaltungsbeamten, S. 459. Dessau, Geschichte der römischen Kaiserzeit, S. 134. 55 Vgl. Eck, Die Verwaltung des Römischen Reiches, S. 22f. 56 Augustus ließ die Einkünfte und Ausgaben des Staates aufs Genaueste überwachen und ließ zu diesem Zweck eine Übersicht über den Haushalt des gesamten Reiches (breviarium totius imperii) anlegen. Suet. Aug. 101, Tac. ann. I 11, Cass. Dio 56,33,2. Augustus hatte somit direkten Zugang zu der Haushaltsführung und vermied die Einmischung von möglicherweise korrupten Funktionsträgern in die Buchführung dadurch, dass er die Mitglieder seiner familia damit betraute. Vgl. Alpers, Das nachrepublikanische Finanzsystem, S. 259-263. 54
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nen.57 Denn obwohl die Pächter weiterhin als wirtschaftliche Funktionsträger bestehen blieben, waren sie doch durch den Entzug ihrer wichtigsten Einnahmequellen und die Überwachung durch zuverlässige Gehilfen des Prinzeps nicht mehr in der Lage, größere Schäden in den Provinzen zu verursachen. Vor allem die Kontrolle über die Pächter sollte im Verlauf des ersten Jahrhunderts noch weiter zunehmen, zum einen durch die Ernennung weiterer Prokuratoren, die eigens zur Aufsicht der einzelnen Steuerbereiche und Zollbezirke ernannt wurden und zum anderen durch die reichsweite Übertragung der Kontrollfunktion im Bereich der Steuererhebung an Prokuratoren.58 Insgesamt scheint es also gerechtfertigt, die augusteische Neuordnung in Zusammenhang mit einer einsetzenden Verbesserung der ökonomischen Verhältnisse in zahlreichen Regionen des Reiches zu bringen, wie der zeitgenössische Historiker Tacitus gleichfalls bestätigt: „Auch die Provinzen waren jener Ordnung der Dinge nicht abgeneigt. Verleidet war ihnen Senats- und Volksherrschaft wegen der Machtkämpfe der führenden Männer und der Habsucht der Beamten; schwach war der Schutz der Gesetze, die durch Eigenmächtigkeit, politische Umtriebe, vor allem durch Bestechung unwirksam gemacht wurden.“59
Die neue Ordnung brachte zweifelsohne viel Gutes mit sich. Doch wirft man einen genaueren Blick in die vorhandenen Überlieferungen, so wird deutlich, dass auch sie nicht frei von neuen – oder eigentlich alten – Mängeln war. Die Einführung der Gehälter, die der Habgier der römischen Amtsträger entgegensteuern sollte, verfehlte in manchen Fällen offensichtlich ihre intendierte Wirkung. Selbst das neue Personal war mit dem Vordringen in Machtpositionen60 auch zunehmend kreativer geworden im Auffinden neuer, zusätzlicher Einnahmequellen. Bei Cassius Dio erfahren wir beispielsweise von dem Freigelassenen Licinius, der von Augustus als Prokurator in Gallien eingesetzt worden war und 57
Kloft, Die Wirtschaft des Imperium Romanum, S. 113-116. Der früheste Nachweis für die Aufsicht bei der Einziehung der Erbschaftssteuer durch einen Prokurator lässt sich für die Zeit Vespasians (69-79 n. Chr.) finden: CIL VI 8443 = D 1546. Vgl. Weaver, Familia Caesaris, S. 271, Ausbüttel, Die Verwaltung des Römischen Kaiserreiches, S. 15, 32, 87, Jacques, Rom und das Reich, S. 199f., Eck, Die Verwaltung des Römischen Reiches, S. 23f., 349-354. 59 Tac. ann. I 2. Vgl. zur steigenden wirtschaftlichen Prosperität der Provinzen: Schrömbges, Zum römischen Staatshaushalt, S. 46f., Kloft, Die Wirtschaft des Imperium Romanum, S. 113-117. 60 Dass selbst Freigelassene und Sklaven zunehmend in Machtpositionen gelangten, beweist deren Reichtum und Einfluss. Sie hatten die Aufsicht über die öffentlichen Kassen, standen an der Spitze der stadtrömischen Zentralkanzleien und befanden sich in engem Kontakt zum Herrscher des Reiches. Allein der Neid der Zeitgenossen auf die Freigelassenen der principes spricht Bände. Vgl. Plin. ep. 7,29. 8,6, Tac. ann. XII 53. XIII 23. XIV 55. XIV 65, Suet. Claud. 28. Vgl. zur potentiell einflussreichen Stellung der Sklaven und Freigelassenen des Prinzeps Herrmann-Otto, Sklaverei und Freilassung, S. 184-189. 58
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den Methoden, die er ersonnen hatte, um mit prall gefüllten Taschen das reiche Gebiet zu verlassen: „Er trieb seine Schlechtigkeit so weit, dass er, weil einige Abgaben monatlich entrichtet wurden, das Jahr in vierzehn Monate teilte, indem er erklärte: der Monat Dezember sei erst der zehnte Monat, sie müssten noch zwei Augustische, von denen er den einen den elften (undecember), den anderen den zwölften Monat (duodecember) nannte, dazurechnen und die auf sie fallenden Abgaben bezahlen.“61
Selbst falls diese – kaum glaubliche – Anekdote nicht völlig der Wahrheit entsprach, so verweist sie dennoch auf die fortwährende Habgier und Dreistigkeit, die den Männern in der administrativen Spitze – auch in der Kaiserzeit noch – zu eigen war. In diesem Fall hatten sich die Provinzialen jedoch bei Augustus persönlich Gehör verschafft, der nicht lange zögerte und seinen Gehilfen absetzte.62 Das direkte Eingreifen des Prinzeps schien demnach noch die verlässlichste Möglichkeit gewesen zu sein, den Provinzbewohnern, denen Unrecht widerfahren war, aus ihrer Misere zu helfen.63 Korruption und Ungerechtigkeiten im Bereich der Verwaltung existierten somit als gesellschaftliches Problem nach wie vor, welches Augustus nicht im Stande war gänzlich zu beheben. Der Gedanke, sich mit dem loyalsten Personal zu umgeben, welches er finden konnte, nämlich mit den von ihm Abhängigen, kann dennoch als wohlüberlegter Ansatz gelten, erschien er doch auf den ersten Blick, gemeinsam mit dem neuen Besteuerungssystem als durchaus geeignet, um der untragbaren Situation der Provinzialen, die kaum noch einen Ausweg aus ihrer Verschuldung sahen, abzuhelfen. Dass Augustus tatsächlich an einer Besserung der Zustände gelegen war, ist eindeutig. Allein schon deshalb, weil dieses Anliegen zweifelsohne nicht ganz uneigennützig war. Die Maßnahmen zielten nämlich vor allem auf das Abwen61
Cass. Dio 54,21,5. Cass. Dio 54,21,6. 63 Vor allem die Beibehaltung der Repetundengesetze (lex Julia de repetundis) und die dazugehörigen Prozesse, welche zunehmend vom Kaiser selbst geleitet wurden, gaben den Provinzialen ein Mittel zur Hand, sich Hilfe an oberster Stelle gegen die Ausbeutungen zu suchen, wodurch der Kaiser sich seinerseits als Wohltäter zeigen konnte. Die Gesetze wurden zudem dahingehend ausgedehnt, dass nicht mehr nur römische Magistrate, sondern auch deren Bedienstete sowie in der Verwaltung tätige Ritter wegen ausbeuterischer Erpressung angeklagt werden konnten. Die weitere Entwicklung unter den darauffolgenden principes zeigt jedoch, dass ein gerechter Herrscher viel dazu beitragen konnte, um in den Provinzen für Recht und Ordnung zu sorgen. Sie untersuchten persönlich Vorfälle, die vom Volk gemeldet wurden, kontrollierten streng die Magistrate bei der Durchführung von Verpachtungen und setzten bestechliche Statthalter ab. Vgl. Vell. II 126,4 (Tiberius), Cass. Dio 60,4,4. 60,10,3. 60,25,4 (Claudius). Wie effektiv die weiterhin durchgeführten Repetundenprozesse waren, d.h. welche Chancen die Provinzialen hatten, das ihnen zugefügte Unrecht wieder zurechtzurücken und ob sie tatsächlich Wiedergutmachungen erhielten, bleibt jedoch unklar. Vgl. Plin. Pan. 80,3, Jacques, Rom und das Reich, S. 207f. 62
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den von Unruhen, die sich gegen die römische Fremdherrschaft und deren Konsequenzen, sprich: die Ausbeutung, richteten. Ebenso sollten sie finanzielle Einnahmen für die römische „Staatskasse“ sichern, was nur durch eine stabile Wirtschaftslage der Provinzen gewährleistet werden konnte. Die Durchbrechung der Verschuldungsmechanismen in den Provinzen galt somit vielmehr dem Wohlergehen Roms und der Herrschaftssicherung als dem kleinen Provinzler selbst.64 Dies wird schließlich deutlich in einem Ausspruch des zweiten Prinzeps Tiberius, der der augusteischen Ordnung und deren Prinzipien treu blieb und den Statthaltern, die eine Erhöhung der Steuern von ihm forderten, zur Antwort gab: „Die Aufgabe eines guten Hirten ist es, die Schafe zu scheren, aber ihnen nicht das Fell über die Ohren zu ziehen.“65
Denn dann hatte der Hirte schließlich selbst nichts mehr von ihnen. Im gleichen Sinne reagierte Augustus in 40 Jahren Herrschaft völlig pragmatisch und Schritt für Schritt auf akute Erfordernisse der Zeit und tat sein möglichstes, um der drückenden Schuldenlast der Provinzen abzuhelfen.66 Er leitete Veränderungen in der Verwaltung ein, die sich unter den nachfolgenden Herrschern weiterentwickeln und noch effektiver ausformen sollten.67 Doch konnten sie trotz aller guten 64
Stahl, Michael, Imperiale Herrschaft und provinziale Stadt. Strukturprobleme der römischen Reichsorganisation im 1.–3. Jh. der Kaiserzeit, Göttingen 1978, S. 144-148. Siehe auch Tac. ann. III 54f., wo die Bedeutung der Provinzen für das Reich besonders deutlich wird. 65 Suet. Tib. 32: „>...@ boni pastoris esse tondere pecus, non deglubere.“66 Augustus reagierte zumeist lediglich auf akute Nöte und Erfordernisse und führte keineswegs eine von vornherein systematische Erneuerung der römischen Verwaltungsstruktur durch. Selbst in den Wirren der Bürgerkriege geboren, konnte er als Zeitgenosse keinen umfassenden Einblick in die vielfältigen Ursachen des Untergangs der Republik haben, wie er dem außenstehenden Betrachter – etwa dem Forscher von heute – gegeben ist, so dass es verfehlt wäre, seine Neuerungen im Rahmen eines großen‚ auf eingehender Analyse beruhenden Planes zu verstehen. Vgl. Schrömbges, Zum römischen Staatshaushalt, S. 39. 66 Augustus reagierte zumeist lediglich auf akute Nöte und Erfordernisse und führte keineswegs eine von vornherein systematische Erneuerung der römischen Verwaltungsstruktur durch. Selbst in den Wirren der Bürgerkriege geboren, konnte er als Zeitgenosse keinen umfassenden Einblick in die vielfältigen Ursachen des Untergangs der Republik haben, wie er dem außenstehenden Betrachter – etwa dem Forscher von heute – gegeben ist, so dass es verfehlt wäre, seine Neuerungen im Rahmen eines großen‚ auf eingehender Analyse beruhenden Planes zu verstehen. Vgl. Schrömbges, Zum römischen Staatshaushalt, S. 39. 67 Neuerungen wie die Einführung von staatlichen Haushaltsbüchern und die dauerhafte Betrauung eines festen Personenkreises mit Verwaltungsaufgaben sollten zukunftsweisend sein und später zur Entstehung regelrechter Verwaltungsressort führen. Die römischen Finanzen wurden bspw. bereits unter Claudius durch ein zentrales Büro in Rom gelenkt und überwacht, welchem ein kaiserlicher Freigelassener mit dem Titel „a rationibus“ vorstand. Auch die Einsetzung von loyalem Verwaltungspersonal durch den Prinzeps sollte wegweisend sein, so dass bereits unter Augustus’ Nachfolger Tiberius selbst die Statthalter der senatorischen Provinzen aus seinem unmittelbaren Gefolgschaftskreis stammten. Schrömbges, Zum römischen Staatshaushalt, S. 48f., Vogel-
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Absichten doch nur bis zu einem bestimmten Punkt eine Verbesserung der Zustände leisten. Denn wie das Verhalten der neuen Amtsträger zeigte, lag der Knackpunkt gewissermaßen an anderer Stelle. Augustus konnte zwar die defizitären Strukturen des Staates verändern, aber es lag nicht in seiner Macht, die Gesellschaft und ihre Moral von Grund auf zu verändern – wenngleich er dies durch eine umfangreiche Sittengesetzgebung68 versuchte.
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Weidemann, Ursula, Die Statthalter von Africa und Asien in den Jahren 14–68 n. Chr. Eine Untersuchung zum Verhältnis von Princeps und Senat (Antiquitas I,31), Bonn 1982, S. 530-550. Hier ist jedoch leider nicht der geeignete Ort, um diesem interessanten Bereich der augusteischen Reformen, welcher aufgrund seines Umfangs ein eigenes Thema darstellt und darum einer gesonderten Betrachtung bedürfte, näher nachzugehen.
Schulden und Krise in spätmittelalterlichen Städten Thomas Wirtz
Die im Zuge der gegenwärtigen Finanzkrise von staatlicher Seite gewährten Kredite und „Rettungsschirme“ haben das Thema der Verschuldung der öffentlichen Haushalte erneut in den Fokus gerückt. Zur Stützung von Banken und der Realwirtschaft wurden enorme Summen bereit gestellt, welche die Staatshaushalte noch auf Jahrzehnte belasten werden. Laut dem aktuellen Bericht des IWF liegt denn auch darin eine große Gefahr für die Wiederkehr einer Bankenkrise, da viele Geldinstitute Staatsanleihen besitzen, die im Falle einer Abwertung wiederum die Banken in Mitleidenschaft ziehen könnten.1 Der folgende Beitrag will aus historischer Perspektive die Möglichkeiten und Probleme verschuldeter Städte im Spätmittelalter kurz anreißen; er diente als Einführung zur Podiumsdiskussion auf dem Symposium „Schulden und Krisen“ am 16. Juli in Mainz, an der der Autor für die Geschichtswissenschaften teilnahm. Von einer Finanzverwaltung der Städte lässt sich in Deutschland erst ab der Mitte des 14. Jahrhunderts sprechen. Das von der kaufmännischen Oberschicht geübte Rechnungswesen fand über verschiedene Ein- und Ausgabenregister (Zoll- und Markteinnahmen, Akzisen- und Baubücher, etc.) Eingang in die städtische Verwaltung und differenzierte sich immer weiter aus.2 Dabei zeigen sich noch grundsätzliche Unterschiede zur modernen Finanzverwaltung: Es gab kein eigentliches Budget für den Haushalt, besonders ein vorausplanender Voranschlag fehlte völlig. Des weiteren mündeten alle Ausgaben und Einnahmen noch nicht in einen städtischen Gesamthaushalt, sondern jedes Amt führte gesonderte Rechnungsbücher. Zudem entwickelte sich das Steuerwesen nur langsam, direkte Steuern wurden selten und dann hauptsächlich als Vermögenssteuer erhoben.3 Gerade die Ausgabenseite unterlag extremen Schwankun1
IMF: Global Financial Stability Report – Sovereigns, Funding and Systemic Liquidity (October 2010), Summary Version, S. 2ff. (http://www.imf.org/external/pubs/ft/gfsr/2010/02/pdf/text.pdf) 2 Eberhard Isenmann: Die deutsche Stadt im Spätmittelalter: 1250–1500; Stadtgestalt, Recht, Stadtregiment, Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft, Stuttgart 1988, S. 166ff. 3 Bernhard Kirchgässner: Zur Frühgeschichte des modernen Haushalts. Vor allem nach den Quellen der Reichsstädte Eßlingen und Konstanz, In: Maschke/Sydow (Hrsg.): Städtisches Haushalts- und Rechnungswesen (= Stadt in der Geschichte, Veröffentlichungen des Südwestdeutschen Arbeitskreises für Stadtgschichtsforschung Band 2), Sigmaringen 1977, S. 38f.
C. W. Hergenröder (Hrsg.), Krisen und Schulden, DOI 10.1007/978-3-531-93085-5_13, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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gen, besonders bei kriegerischen Auseinandersetzungen oder Expansion des städtischen Besitzes. Hierbei kam der Kreditaufnahme eine große Bedeutung zur Deckung der Ausgaben zu. Anleihen sahen die Ratsgremien als „ordentliche Deckungsmittel der städtischen Finanzwirtschaft und unterschieden sich dadurch wesentlich von den Anleihen des modernen Staates“.4 Zur Kreditbeschaffung verkauften die Stadträte Ewig- oder Leibrenten, die im Laufe des 15. Jahrhunderts um einen Zinsfuß von 4 bzw. 10% pendelten. Waren diese Kredite ursprünglich noch durch eine konkrete Liegenschaft der Stadt als Pfand abgesichert, trat bald die ganze Kommune als Bürge für die Darlehen auf. Zunächst suchten die Städte bei ihren eigenen Bürgern um Geld nach, wandten sich aber auch an regionale und überregionale Finanzplätze wie Frankfurt. Die halbjährlichen Messen der Stadt boten über die Händler Kontaktmöglichkeiten zwischen kreditsuchenden Kommunen und Bürgern anderer Städte, die ihr Geld in Renten anlegen wollten. Frankfurt strahlte dabei weit über die Region hinaus und so lassen sich auf den Messen vermittelte Kredite von so weit entfernten Orten wie Antwerpen und Augsburg oder von Minden bis Basel finden.5 Die Messen dienten gleichzeitig auch als Zahlungsort und -termine für die vereinbarten Zinsen. Als Gläubiger traten nicht nur sehr finanzstarke Personen auf, sondern eine Vielzahl von Kleinanlegern, die sich aus allen Schichten der Bevölkerung rekrutierten und zum Teil nur geringe Summen investierten.6 Für diese konnten nicht gezahlte Zinsen (der zeitgenössische Ausdruck Rente oder Pension deutet das bereits an) zu erheblichen Problemen führen, da sie ihr Geld nicht selten aus Gründen der Altersvorsorge anlegten. Dies ist auch daraus ersichtlich, dass solche Gläubiger oft kein Interesse an der Rückzahlung ihrer Kredite hatten, sondern auf langfristige Zinszahlungen aus waren. Nur deshalb konnten sie von den verschuldeten Städten unter Druck gesetzt werden, die in wirtschaftlich günstiger Lage versuchten, ihre Renten in für sie billigere Anleihen zu konvertieren. Nicht selten sahen sich die Gläubiger gezwungen, ihr eingesetztes Kapital zu erhöhen, was de facto einer Senkung des Zinsfußes entsprach, um ihre Zinsansprüche
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Bruno Kuske: Das Schuldenwesen der deutschen Städte im Mittelalter (Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Ergänzungsheft XII), Tübingen 1904, S.9. Michael Rothmann: Gemeiner Nutzen auf Kredit. Der Frankfurter Rentenmarkt und sein Einzugsgebiet im Spätmittelalter, In: Von Seggern/Fouquet/Gilomen (Hrsg.): Städtische Finanzwirtschaft am Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit (=Kieler Werkstücke Reihe E: Beiträge zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Band 4), Frankfurt a.M. 2007, S. 223ff. 6 Kuske, Schuldenwesen (wie Anm. 4), S. 58. 5
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überhaupt halten zu können.7 Hier begann sich bereits ein Geldmarkt abzuzeichnen, „auf dem sich Angebot und Nachfrage auf die Verzinsung auswirkten.“8 Doch nicht die finanziell günstigen, sondern die krisenhaften Zeiten sind Thema dieses Symposiums. Geriet eine Stadt in Zahlungsschwierigkeiten so haftete die gesamte Bürgerschaft für die aufgenommenen Kredite. Dadurch wurden private auswärtige Beziehungen, gerade auch die der Händler, beträchtlich in Mitleidenschaft gezogen, was sich verstärkend auf eine Krise auswirken konnte. Ganz handfest bestand zum Beispiel die Möglichkeit, Bürger der Schuldnerstädte in Geiselhaft zu legen, um so den Zinsforderungen Nachdruck zu verleihen.9 Aus gegebenem Anlaß und Ort soll im Folgenden beispielhaft die Schuldenkrise der Stadt Mainz im 15. Jahrhundert vorgestellt werden und welche wirtschaftlichen, wie politischen Konsequenzen diese nach sich zog.10 Traten die Mainzer Bürger um 1400 noch als Kreditgeber der Frankfurter auf, so änderte sich dies mit den innerstädtischen Zunftunruhen in Mainz von 1411. Nun waren es die Mainzer, die sich mit Kreditgesuchen an die Messestadt wandten, da ihr Haushalt in eine Schieflage geraten war. So ist es auch bezeichnend, wenn die Zünfte während der dreijährigen Auseinandersetzung ein Mitspracherecht beim Verkauf städtischer Anleihen einforderten.11 Die schleichende Überschuldung der Stadt Mainz machte sich schon bald bemerkbar, als 1413 Mainzer Händler auf der Frankfurter Messe beschimpft wurden, als sie um Aufschub für ihrer Zinszahlungen baten. In den Folgejahren sprach Frankfurt immer wieder ein nur zeitlich begrenztes Messegeleit für die Mainzer aus, ermöglichte der Stadt aber damit, ihren wichtigsten Absatzmarkt nicht zu verlieren. Um die drückende Schulden um ein weniges abzubauen, sahen sich die Mainzer gezwungen, einen Vertrag mit ihrem Erzbischof abzuschließen, der ihnen zwar 8000 Gulden einbrachte, für die sie aber Zugeständnisse an den Klerus machen mussten. Hier wurde bereits deutlich, wie die um Autonomie bemühten Städte durch Überschuldung auch politisch in die Defensive geraten konnten.
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Ebd., S. 50ff. Bernd Fuhrmann: Der rat aber war zu rat mer ewigs gelts zu verkauffen – Das kommunale Kreditwesen Nürnbergs im 15. Jahrhundert, In: Von Seggern/Fouquet/Gilomen (Hrsg.), Städtische Finanzwirtschaft (wie Anm. 5), S. 145. 9 Kuske, Schuldenwesen (wie Anm. 4), S. 75f. und S. 80. 10 Im Wesentlichen verweise ich dabei auf die Ausführungen von Michael Rothmann: Die Frankfurter Messen im Mittelalter (= Frankfurter historische Abhandlungen Bd. 40), Stuttgart 1998, S. 42365 und Ders., Gemeiner Nutzen auf Kredit (wie Anm. 5), besonders S. 201-209. 11 Siehe hierzu auch Kuske, Schuldenwesen (wie Anm. 4), S. 76: „Die Solidarhaft der Bürger macht die Heftigkeit, mit der die revolutionären Bewegungen in den Städten manchmal auftraten, mit begreiflich.“ 8
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Der innerstädtische Konflikt in Mainz brach 1428 erneut aus und führte zu einer neuen Zusammensetzung des Rates. Dieser begann alsbald damit den Frankfurter Gläubigern die Zinszahlungen zu verweigern, sollten diese nicht einer Zinsminderung zustimmen. Wegen der ungehaltenen Gläubiger bedurften die Mainzer Händler in der Folgezeit eines besonderen Geleits zu den Messen, bereits 1430 kam es zu Übergriffen als einige Händler als Geiseln in die Schuldhaft gesteckt wurden. Doch so drastisch solche Maßnahmen auch waren, es stellte sich kein Erfolg damit ein, weil die Mainzer schlichtweg kein Geld auftreiben konnten. Die Schuldenkrise der Stadt am Rhein wurde zu einer Hängepartie, die u.a. auch Kleinanleger in fernen Augsburg betraf. Selbst König Sigismund schaltete sich ein und verlangte ein Schuldenmoratorium, er konnte aber nur kurzzeitig die Gemüter beruhigen. Mittlerweiler war die Zinslast der Stadt Mainz von 50% ihrer Einnahmen im Jahr 1411 auf 75% im Jahr 1436 gestiegen. Als der Rat 1437 die Zahlungsunfähigkeit einsehen musste, sahen sie sich gezwungen ihren Schuldnerstädten Frankfurt, Worms und Speyer ihre Bücher zu öffnen, damals wie heute ein unerhörter Vorgang. Dies offenbarte die katastrophale Haushaltslage: Allein die Zinslast betrug jährlich knapp 18500 Gulden, für das Folgjahr wurde ein Haushaltsdefizit von mindestens 8000 Gulden angenommen, wobei ausstehende Zinszahlungen noch nicht mit hineingerechnet worden waren. Um sich wieder etwas Luft zu verschaffen wurden die Steuern erhöht und die Mainzer liehen sich sogar nach langen Verhandlungen nochmals 4000 Gulden von den Frankfurtern, auch in Worms und Speyer fragten sie erneut nach. Doch all dies führte zu keiner Besserung. Mainz war schlichtweg überschuldet, was sich auch in neuerlichen Unruhen niederschlug, die 1444 den erst 1428 eingesetzten Rat erneut stürzte. Wieder kam es zu einer Wirtschaftsprüfung, die aufzeigte, dass der Schuldenberg sich auf über 370000 Gulden abgehäuft hatte. Im Jahre 1446 verwehrten die Frankfurter den Mainzern schließlich das Messegeleit, die daraufhin jedoch antworteten, dass in diesem Falle überhaupt keine Aussicht mehr auf Rückzahlung bestände, das sie die Ausnahmeeinfälle empfindlich treffen würden. Mainz konnte fast keiner Zinszahlung mehr nachkommen, weshalb auch alle Sanktionen wirkungslos blieben oder die Lage eher noch verschlechterten. Zehn Jahre später war klar, dass die Gläubiger weiter Zugeständnisse machen mussten, wenn sie ihr Geld überhaupt wieder sehen wollten, und so wurden die Zinssätze für Ewigrenten sogar halbiert. Erst dieser Verzicht führte zu einer Entspannung, der es den Mainzern ermöglichte, wenigstens von nun an den jährlichen Rentenzahlungen nachzukommen. Als Adolf von Nassau schließlich 1462 in der Mainzer Stiftsfehde die Stadt eroberte, meldeten sich auch sofort die Frankfurter Gläubiger zu Wort, stießen bei dem neuen Erzbischof jedoch auf taube Ohren, der die Renten verfallen ließ.
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Allein die Frankfurter verloren so an die 80000 Gulden, die Mainzer hingegen ihre politischen Freiheiten als freie Reichsstadt. An Hand dieses historischen Beispiels lassen sich sehr gut die wirtschaftlichen, politischen und sozialen Konfliktpotenziale einer Schuldenkrise erkennen. Dabei waren die Wege aus der Krise den heutigen doch recht ähnlich: Steuererhöhungen bei gleichzeitigen Sparmaßnahmen zur Konsolidierung des Haushalts, eine mittelfristige Neuaufnahme von Krediten zur Erhaltung des Handlungsspielraums, Sanktionen gegen den Schuldner und Zugeständnisse der Gläubiger. Die Aussichten auf Erfolg solcher Maßnahmen waren und sind jedoch ungewiss.
Autorenverzeichnis
Bender, Désirée, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Institut für Erziehungswissenschaften, Johannes Gutenberg-Universität Mainz Bender, Nina, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Fachbereich Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, Johannes Gutenberg-Universität Mainz Bock, Michael, Prof. Dr. Dr., Fachbereich Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, Johannes Gutenberg-Universität Mainz Breuer, Klaus, Prof. Dr., Fachbereich Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, Johannes Gutenberg-Universität Mainz Förstermann, Ulrich, Prof. Dr., Vizepräsident der Johannes GutenbergUniversität Mainz Hergenröder, Curt Wolfgang, Prof. Dr., Fachbereich Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, Johannes Gutenberg-Universität Mainz Hollstein, Tina, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Institut für Erziehungswissenschaften, Johannes Gutenberg-Universität Mainz Homann, Carsten, Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Fachbereich Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, Johannes Gutenberg-Universität Mainz Huber, Lena, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Institut für Erziehungswissenschaften, Johannes Gutenberg-Universität Mainz Irsigler, Franz, Prof. Dr., Institut für Geschichtliche Landeskunde, Universität Trier Kokott, Sonja Justine, Dr. LL.M., Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Fachbereich Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, Johannes Gutenberg-Universität Mainz
C. W. Hergenröder (Hrsg.), Krisen und Schulden, DOI 10.1007/978-3-531-93085-5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Autorenverzeichnis
Letzel, Stephan, Prof. Dr. med. Dipl.-Ing., Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin, Universitätsmedizin, Johannes Gutenberg-Universität Mainz Münster, Eva, Prof. Dr., Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin, Universitätsmedizin, Johannes Gutenberg-Universität Mainz Rau, Matthias, Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Fachbereich Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, Johannes Gutenberg-Universität Mainz Reupke, Daniel, M.A., Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Lehrstuhl für Neuere Geschichte und Landesgeschichte, Universität des Saarlandes, Saarbrücken Schake, Susanne, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Institut für Alte Geschichte, Universität Trier Schweppe, Cornelia, Prof. Dr., Institut für Erziehungswissenschaften, Johannes Gutenberg-Universität Mainz Seifert, Dirk, Dr., Ministerium für Wirtschaft, Verkehr, Landwirtschaft und Weinbau Rheinland-Pfalz Spitz, Wolfgang, Präsident Bundesverband Deutscher Inkasso-Unternehmen (BDIU) e.V., Berlin Wirtz, Thomas, M.A., Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Institut für Neuere und Neueste Geschichte, Universität Trier