Kodierungstechniken im Wandel
Linguistik ⫺ Impulse & Tendenzen Herausgegeben von
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Kodierungstechniken im Wandel
Linguistik ⫺ Impulse & Tendenzen Herausgegeben von
Susanne Günthner Klaus-Peter Konerding Wolf-Andreas Liebert Thorsten Roelcke 34
De Gruyter
Kodierungstechniken im Wandel Das Zusammenspiel von Analytik und Synthese im Gegenwartsdeutschen
Herausgegeben von
Dagmar Bittner und Livio Gaeta
De Gruyter
ISBN 978-3-11-022844-1 e-ISBN 978-3-11-022845-8 ISSN 1612-8702 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort Dieser Sammelband geht auf einem Workshop zurück, der im Februar 2008 unter dem Titel Das ewige Pendel von synthetisch zu analytisch zu synthetisch ... – aktuelle Sprachwandeltendenzen im Rahmen der 3. Tagung „Deutsche Sprachwissenschaft in Italien“ stattfand. Ziel des Workshops war es, aktuelle Veränderungsprozesse im Deutschen unter dem Aspekt der sich wandelnden Kodierungstechniken zu diskutieren. Das Interesse, das der Workshop erhalten hat, führte zu der Überlegung, dieses Thema im Rahmen eines Sammelbandes weiter zu erörtern. Unsere Ausgangsfeststellung war, dass gegenwärtig verschiedene, z.T. schon lange angelegte Veränderungsprozesse gleichzeitig die Wahrnehmungsschwelle der normativen Grammatikschreibung übertreten. Man kann u.E. aber nicht nur in Hinsicht auf die Wahrnehmung sondern auch in Hinsicht auf die Akzeptanz und den Grad der Durchsetzung verschiedener Veränderungen von einem Eintritt in eine kulminierende Phase des Sprachwandels sprechen. Dabei stellt sich natürlich die Frage, was sich genau geändert hat bzw. ändert – und was eben nicht, wie Vilmos Ágel in seinem Beitrag betont. Zunächst und offensichtlich sind es die Kodierungstechniken, die Änderungen unterliegen. Weniger offensichtlich, aber durch die Grammatikforschung zu klären ist, inwiefern dies auf eine Änderung von generellen Strukturierungsprinzipien verweist und ob und welche Veränderungen in den Kategoriensystemen daraus resultieren. Die adäquate Erfassung der Veränderungsprozesse ist u.E. aus mindestens drei Perspektiven zu leisten. Aus empirischer Perspektive sind die einzelnen Veränderungsprozesse, aber vor allem die Momente ihres Zusammenwirkens, ihre eventuelle gegenseitige Abhängigkeit detailliert zu erfassen. Zu diesen Prozessen gehören morpho-syntaktische Veränderungen in der Realisierung von Aspekt, Tempus und Modus (vgl. u.a. Funktionsverbgefüge, Progressiv, Ersetzung des Präteritums durch das Perfekt, Ersetzung bzw. Wegfall des Konjunktivs), Abbautendenzen beim Artikel und daraus resultierende Prozesse (vgl. u.a. die Zunahme inkorporierender Prädikate, syntaktische Kasusrealisierung, flektierte Präpositionen) sowie auch rein syntaktische Veränderungen wie die Verbzweitstellung in weil-Sätzen und die Distanzstellung von Pronominaladverbien. Aus grammatiktheoretischer Perspektive werfen diese Veränderungen Fragen hinsichtlich der Reorganisation des grammatischen Funktionsgefüges und der Veränderung von Kodierungstechniken auf. Letzteres ist im Deutschen ein besonders brisanter Aspekt, weil die sogenannte Klammerstruktur – die mit Distanzstellung verbundene analytische Kodierungstechnik – in der germanistischen Linguisten als besonderes typologisches
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Dagmar Bittner & Livio Gaeta
Strukturmerkmal des Deutschen bewertet wird (vgl. Weinrich 1986, Eroms 2000, Ronnebeger-Sibold 1993, Nübling et al. 2008). Der Ausbau der analytischen Kodierungstechnik, der mit dem Übergang zu analytischer Tempus- und Modusrealisierung bei den Verben sowie der Herausbildung und mehrfachen grammatischen Nutzung des Artikels im Althochdeutschen begonnen hat, wird als bis in die Gegenwart anhaltender und sich verstärkender Prozess betrachtet. In Analogie zu den genannten Distanzstellungen wurden weitere Phänomene wie die Nebensatzstruktur und die sich ausbreitende Distanzstellung bei Pronominaladverbien als Evidenz für die Bevorzugung der Klammerstruktur bzw. analytischer Kodierungstechniken eingeordnet. Lehmann (1991) postulierte für das Gegenwartsdeutsche eine vorerst nicht umkehrbare Tendenz zur Analyse. Das wirft die Frage auf, ob Analyse an sich oder im Zusammenhang mit (welchen?) anderen Faktoren die gegenüber Synthese präferierte Kodierungstechnik ist. Schließlich finden sich – natürlich – Gegenbeispiele zur Durchsetzung analytischer Kodierungstechnik. Kategorien wie Plural und Komparativ oder Person und Numerus verhalten sich scheinbar analyseresistent. Artikelabbau und Inkorporierung von Nomen ins Verb lösen sogar analytische Kodierungen (zumindest partiell) wieder auf. Oder es werden klar synthetische Alternativen präferiert, vgl. den Konjunktiv starker Verben, die Verstärkung von Umlaut und Ablaut in der Flexion, die Genusrealisierung durch Wortbildung. Gleichzeitig wurde für einzelne Phänomene die Herausbildung der analytischen Struktur und Distanzstellung auf andere Faktoren als die sprachspezifische Bevorzugung der Klammerstruktur zurückgeführt (vgl. Leiss 1995 zu Wortstrukturregularitäten, Oppenrieder 1990 zu Pronominaladverbien). Auch gibt es durchaus unterschiedliche Auffassungen, was als Klammerstruktur gelten kann (vgl. Eisenberg 2006 zur Nominalklammer; Härd 2003 zur Nebensatzklammer) und wie hoch der Grad von Analytik und Synthese in den einzelnen Klammerstrukturen ist. Letzteres ist kein triviales Problem. Beispielsweise werden die flektierten Präpositionen wie am, zum, vor, usw. als synthetische Erscheinung traditionell vernachlässigt (s. aber Harnisch 2002). Doch enthält die oberflächlich analytisch orientierte Tendenz zur Genitiversetzung durch Präpositionalphrasen mit flektierten Präpositionen zugleich eine Zunahme an Synthese (Nübling 2005). Primus (1997) zufolge ist auch die Herausbildung von funktionalen Köpfen in analytischen Phrasen mit der Verstärkung von Flexion, also von Synthese, verbunden. Die Erstellung eines Syntheseindexes erscheint in dieser Situation besonders lukrativ (Roelcke 2002). Bisherige Versuche bleiben jedoch unbefriedigend, da die Bezugsebene des Indexes – Synthese auf der Kodierungsebene oder auf der Ebe-
Vorwort
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ne von grammatischen Inhalten/Bedeutungen – nicht eindeutig bestimmt wird und auch tatsächlich schwierig zu bestimmen ist. Traditionell wird ein solcher Index als rein morphologische, quasi formal-lexikalische Messung angesehen (Greenberg 1954/1960). Die dritte für die Analyse und Bewertung der angesprochenen Veränderungsprozesse relevante Perspektive, ist die der außersprachlichen Ursachen und Bedingungen für die gegenwärtige Kulminationssituation. Es liegt auf der Hand und ist aus soziolinguistischer und aus DaF-Perspektive auch bereits reflektiert worden (Thim-Mabrey & Janich 2003, Földes 2005), dass die seit mehreren Dekaden hohe Mobilität der Bevölkerung sowie die stark angewachsene Multilingualität Sprachkontakt- und Sprachmischungsphänomene zwischen deutschen Dialekten und Regiolekten sowie dem Deutschen und Sprachen wie Türkisch, Russisch, Englisch forcieren. Genaue Analysen, welche der gegenwärtig beobachtbaren Veränderungsprozesse auf diese Weise flankiert, forciert oder gar initiiert werden, und warum die jeweiligen Einflüsse in das deutsche Sprachsystem aufgenommen werden können, stehen noch aus. Ein weiterer Faktor ist die fließende Grenze zwischen mündlicher und schriftlicher Kommunikation im e-mail- und SMS-Austausch Sollte die Nutzung schriftlicher Medien in der Alltagskommunikation weiter anhalten und nicht durch rein mündliche Medien wie skype oder entsprechende neuere Entwicklungen wieder abgelöst werden, wird Mündlichkeit in der Schriftlichkeit über alle Generationen hinweg zunehmen. Dies dürfte zu schnellerer Ausbreitung neuer Varianten und damit schnellerer Veränderbarkeit standardsprachlicher Normen beitragen. Auch hier ist zu fragen, welche Veränderungen auf diesem Weg forciert und flankiert werden und natürlich, ob und wie in diesem Rahmen Kodierungstechniken beeinflusst werden. Aktuelle Diskussionsangebote zu diesem Phänomenbereich liegen mit Siever et al. (2005) und Beißwenger (2007) vor. Der vorliegende Band präsentiert primär Überlegungen und Diskussionsangebote aus der empirischen und grammatiktheoretischen Perspektive. Explizit diskutiert werden die folgenden Fragestellungen: 1. Was sind relevante Parameter für die Erstellung eines Syntheseindexes zur grammatiktheoretischen Erfassung des Grades von Synthese und Analytik einzelner Strukturen sowie eines Sprachsystems als Ganzem? Dieser Frage, deren Lösung hypothetisch eine genauere Erfassung des Anteils der Kodierungstechnik an den einzelnen Wandelprozessen erlaubt, gehen die Beiträge von Damaris Nübling und Renata Szczepaniak nach. 2. Welche Inhalte werden bei einem Übergang von Synthese zu Analyse ausgelagert bzw. sind in bestimmten analytischen Strukturen ausgelagert? Nanna Fuhrhop & Petra Vogel untersuchen dies für den Bereich
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Dagmar Bittner & Livio Gaeta
der Superlativkonstruktionen, Arne Ziegler im Hinblick auf die Verbreitung reflexiver Verben, d.h. Verben mit Reflexivpronomen in süddeutschen Varietäten und Helmut Spiekermann für die Ausweitung der Distanzstellung von Pronominaladverbien. Werner Abraham bettet diese Frage in Überlegungen zur zyklischen Natur von Sprachwandelprozessen ein. 3. In welcher Weise und in welchen Domänen werden synthetische Kodierungen trotz funktionaler Veränderungen beibehalten, was beinhaltet die funktionale Reanalyse? Tanja Mortelmanns & Elena Smirnova diskutieren dies für die Bedeutungsveränderungen bei Plusquamperfektkonstruktionen mit Modalverb. Andreas Bittner & Klaus-Michael Köpcke analysieren Veränderungen der Lesart von Konjunktivformen bei Kindern im Grundschulalter. Martina Werner deckt Veränderungen in der Zuweisung von Abstraktbedeutungen sowie in der entsprechenden Kodierungstechnik bei den Nomina auf. 4. Worin liegt die Funktion von Klammerstruktur bzw. Distanzstellung im Deutschen? Sind die Tendenzen zu Analyse und auch Synthese mit der Klammerstruktur assoziiert, wenn ja in welcher Weise? Diese und weitere damit verbundene Fragestellungen werden im Beitrag von Dagmar Bittner erörtert. Auch Werner Abraham berührt diesen Fragekomplex im Zusammenhang mit den satzstrukturellen Bedingungen der Thema-Rhema-Struktur. Livio Gaeta erörtert einschlägige Fragen im Zusammenhang mit der Entstehung von denominalen Adjektiven aus Nomen und Elisabeth Leiss in der Diskussion des Artikelabbaus. 5. Wie beeinflussen sich Dialekt und Regiolekt und welche Wechselwirkung mit der Standardvarietät bestehen in Sprachwandelprozessen? Vilmos Àgel verbindet diese Frage mit Nähe- und Distanz-Aspekten, die die unterschiedliche Entwicklung der Relativpartikel so und wo im Dialekt und in der Standardsprache beeinflussen. Helmut Spiekermann diskutiert entsprechende Einflüsse auf die Entwicklung der Pronominaladverbien und Arne Ziegler für die Verbreitung von reflexiven Verben. Die aktuelle Forschungslage betrachtend muss man feststellen, dass – obgleich einzelne empirischen Phänomene vielfach diskutiert wurden – bisher keine aufeinanderbezogene Diskussion der unterschiedlichen Standpunkte und Argumente erfolgt ist. Einerseits sind die Erklärungsabsichten sehr heterogen und andererseits wird zumeist ausschließlich der jeweilige grammatische Ausschnitt fokussiert, so dass weiterreichende Konsequenzen der betrachteten Veränderungsphänomene und eventuelle systematische Zusammenhänge der Veränderungen im Gesamtsystem u. E. bisher nicht ausreichend thematisiert und ausgelotet sind. Insbesondere sind die
Vorwort
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Veränderungstendenzen bisher nicht unter der theoretischen Fragestellung des Wandels der Kodierungstechniken behandelt worden. Auch der vorliegende Band kann keine vollständige Zusammenschau und Diskussion der aktuellen Phänomene und Fragestellungen leisten, wir hoffen jedoch, mit den hier versammelten Arbeiten eine anregende und fundierte Ausgangsbasis für die anstehende, auf die Vielfältigkeit der Prozesse und Aspekte orientierte Diskussion bereitzustellen. Dagmar Bittner & Livio Gaeta
Berlin, Dezember 2009
Literatur Beißwenger, Michael (2007), Sprachhandlungskoordination in der Chat-Kommunikation. Berlin & New York: de Gruyter. (Linguistik - Impulse und Tendenzen 26) Eisenberg, Peter (32006), Grundriss der deutschen Grammatik. Der Satz. Stuttgart & Weimar: Metzler. Eroms, Hans-Werner (2000), Syntax der deutschen Sprache. Berlin & New York: de Gruyter. Földes, Csaba (2005), Kontaktdeutsch: Zur Theorie eines Varietätentyps unter transkulturellen Bedingungen von Mehrsprachigkeit. Tübingen: Narr. Greenberg, Joseph H. [1954] (1960), A quantitative approach to the morphological typology of language. International Journal of American Linguistics 26: 178-194. Härd, John E. (2003), Hauptaspekte der syntaktischen Entwicklung in der Geschichte des Deutschen. In: Besch, Werner, Anne Betten, Oskar Reichmann & Stefan Sonderegger (Hrsg.), Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. Bd 3. Berlin & New York: de Gruyter, 2569-2582. Harnisch, Rüdiger (2002), Morphologische Reanalysen bei lokalen Adverbien, Präpositionen und Adjektiven im Thüringischen und Ostfränkischen“. In: Berns, Jan & Jaap van Marle (eds.), Present-day dialectology. Problems and findings. Berlin & New York: de Gruyter, 193-206. Lehmann, Christian (1991), Grammaticalization and related changes in contemporary German. In: Traugott, Elizabeth C. & Bernd Heine (eds.), Approaches to grammaticalization. Vol. II: Focus on types of grammatical markers. Amsterdam & Philadelphia: Benjamins (Typological Studies in Language 19), 493-535. Leiss, Elisabeth (1995), Ein natürliches Motiv für den ‚ewigen Wandel‘ von synthetischem zu analytischem zu synthetischem … Sprachbau. In: Boretzky, Norbert (Hrsg.), Natürlichkeitstheorie und Sprachwandel. Bochum: Brockmeyer, 237-251. Nübling, Damaris (2005), Von in die über in’n und ins bis im. Die Klitisierung von Präposition und Artikel als „Grammatikalisierungsbaustelle“. In: Leuschner, Torsten, Tanja Mortelmans & Sarah De Groodt (Hrsg.), Grammatikalisierung im Deutschen. Berlin & New York: de Gruyter, 105-131. Nübling, Damaris, Antje Dammel, Janet Duke & Renata Szeczepaniak (22008), Historische Sprachwissenschaft des Deutschen. Eine Einführung in die Prinzipien des Sprachwandels. Tübingen: Narr.
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Dagmar Bittner & Livio Gaeta
Roelcke, Thorsten (2002), Syntheseindex. Typologische Betrachtungen zum Deutschen in Synchronie und Diachronie. In: Wiesinger, Peter (Hrsg.), Zeitenwende - die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21. Jahrhundert. Bern: Lang, 337-342. Ronneberger-Sibold, Elke (1994), Konservative Nominalflexion und „klammerndes Verfahren“ im Deutschen. In: Köpcke, Klaus-Michael (Hrsg.), Funktionale Untersuchungen zur deutschen Nominal- und Verbalmorphologie. Tübingen: Niemeyer, 115130. Oppenrieder, Wilhelm (1990), Preposition Stranding im Deutschen? – Da will ich nichts von hören! In: Fanselow, Gisbert & Sascha W. Felix (Hrsg.), Strukturen und Merkmale syntaktischer Kategorien. Tübingen: Narr, 159-172. Primus, Beatrice (1997), Der Wortgruppenaufbau in der Geschichte des Deutschen: Zur Präzisierung von synthetisch vs. analytisch. Sprachwissenschaft 22: 133-159. Siever, Torsten, Peter Schlobinski & Jens Runkehl (2005), Websprache.net: Sprache und Kommunikation im Internet. Berlin & New York: de Gruyter (Linguistik - Impulse und Tendenzen 10). Thim-Mabrey, Christiane & Nina Janich (2003), Sprachidentität - Identität durch Sprache. Tübingen: Narr. Weinrich, Harald (1986), Klammersprache Deutsch. In: Sitta, Horst (Hrsg.), Sprachnormen in der Diskussion. Beiträge vorgelegt von Sprachfreunden. Berlin & New York: de Gruyter, 116-145.
Inhalt VORWORT .......................................................................................................
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DAMARIS NÜBLING Lässt sich ein Syntheseindex erstellen? Zur Problematisierung und Präzisierung eines (allzu) geläufigen Begriffs ...................................................................
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ANDREAS BITTNER & KLAUS-MICHAEL KÖPCKE Ich würde, wenn ich wüsste, dass ich könnte ... Der deutsche Konjunktiv zwischen Synthese und Analyse ...................
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TANJA MORTELMANS & ELENA SMIRNOVA Plusquamperfektkonstruktionen mit Modalverb im Deutschen ...........
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ARNE ZIEGLER Er erwartet sich nur das Beste ... Reflexivierungstendenz und Ausbau desVerbalparadigmas in der österreichischen Standardsprache ...................................................
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NANNA FUHRHOP & PETRA VOGEL Analytisches und Synthetisches im deutschen Superlativ .......................
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LIVIO GAETA Polysynthese, Multifunktionalität und die denominalen Adjektive im Deutschen ........................................
99
RENATA SZCZEPANIAK Wird die deutsche Nominalphrase wirklich analytischer? Zur Herausbildung von Diskontinuität als synthetische Verdichtung .......................................................................
123
ELISABETH LEISS Koverter Abbau des Artikels im Gegenwartsdeutschen ........................
137
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MARTINA WERNER Substantivierter Infinitiv statt Derivation. Ein ‚echter‘ Genuswechsel und ein Wechsel der Kodierungstechnik innerhalb der deutschen Verbalabstraktbildung ....................................... 159 HELLMUT SPIEKERMANN Pronominaladverbien im Niederdeutschen und in der norddeutschen Regionalsprache ..........................................................
179
VILMOS ÁGEL +/−Wandel. Am Beispiel der Relativpartikeln so und wo ....................... 199 DAGMAR BITTNER Die deutsche Klammerstruktur: Epiphänomen der syntaktischen Realisierung von Assertion und Thema-Rhema-Gliederung ..........................................................................
223
WERNER ABRAHAM Methodische Überlegungen zu Grammatikalisierung, zyklischem Wandel und dem Wechsel von Analytik zu Synthetik – und zyklisch weiter zu Analytik (?) .............................................................
249
Sachregister ....................................................................................................
275
Personenregister ............................................................................................
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Damaris Nübling Lässt sich ein Syntheseindex erstellen? Zur Problematisierung und Präzisierung eines (allzu) geläufigen Begriffs Abstract In descriptions of German language history, it is almost a commonplace to characterize German as a language developing towards analytic structures (due to, e.g., the rise of articles, of obligatory subject pronouns, or of periphrastic constructions). Obviously opposite developments such as the cliticization of preposition and article, the fragmentation of the ablaut system (leading to an increase of allomorphy) or the diffusion of the morphological umlaut usually are not considered in this debate. In addition, it is never precisely defined what analytic structures exactly consist of. In this article, which is based on the approach of Schwegler (1990), the phenomenon of analyticity and syntheticity is specified semantically, syntactically, morphologically and phonologically and, at the same time, from a syntagmatic and a paradigmatic perspective. The so-called combinatory expression type which is typical for German inflection is identified as a strategy leading to a high degree of syntheticity. This article concludes that there is not much evidence that German has become a more analytic language.
1. Das Problem Es handelt sich fast um einen sprachhistorischen Topos, wenn davon die Rede ist, dass sich das Deutsche von einer synthetischen zu einer analytischen Sprache entwickelt habe, oder zumindest zu einer analytischeren – oft hat man das Englische im Blick, das den isolierenden Sprachen nahestehen soll. Die Darstellungen zur deutschen Sprachgeschichte sind voll von diesem Topos, und anscheinend ist dieses Konzept intuitiv so eingängig, dass kaum hinterfragt wird, was man denn genau unter synthetischen bzw. analytischen Strukturen zu verstehen habe. Als ein Beispiel unter vielen sei aus der Einführung „Deutsche Sprache gestern und heute“ von Astrid Stedje (1999) zitiert: In den germanischen Sprachen lässt sich von ältester Zeit bis heute die Entwicklung von einem stark synthetischen zu einem analytischeren Sprachbau verfolgen: Das Ahd. verfügt noch über ein reiches Endungssystem und konnte durch dieses grammatische Beziehungen ausdrücken, für die wir heute beschreibende Funktionswörter benötigen [...] Nachdem aber das Endungssystem undeutlich geworden war, mussten Genus und Kasus auf andere Art angezeigt werden. Im heutigen Deutsch geschieht dies durch den bestimmten und unbestimmten Artikel, attributive Pronomina und stark flektierende Adjektive [...]. (Stedje 1999: 18-19)
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Damaris Nübling
Einige Seiten später liest man: Die Schwächung der unbetonten Silben im Germanischen trug zum Verfall des überreichen indogermanischen Formensystems bei. Hier beginnt die Entwicklung vom synthetischen zum analytischen Sprachbau. (Stedje 1999: 47)
Auch in tiefer gehenden Darstellungen findet sich dieser Gedanke, z.B. in Sonderegger (1979), Schmidt (1998), Polenz (2000), Schmidt (2007), Besch & Wolf (2009) etc. Als gängige Synthese- > Analyse-Phänomene im Deutschen werden gemeinhin die folgenden betrachtet: 1. Ahd. Kasusendungen am Substantiv werden sukzessive abgebaut; stattdessen übernehmen nach und nach Artikel und Präpositionen den Ausdruck dieser vormaligen Kasusinformationen. 2. Derzeit erregt der angebliche Verlust des synthetischen Genitivs die Gemüter: Anstelle von meiner Mutter Hund oder der Hund meiner Mutter kommt es zu von-Umschreibungen (der Hund von meiner Mutter) bzw. zur sog. possessiven Dativumschreibung (meiner Mutter ihr Hund). 3. Der Verlust der Person/Numerus-Endungen am Verb hat angeblich zur Grammatikalisierung obligatorischer, analytischer Subjektspronomen geführt. 4. Der oberdeutsche Präteritumschwund hat zur Generalisierung von Perfekt, Plusquamperfekt und sog. Hyperperiphrasen geführt: sagte > hat(te) gesagt > hat(te) gesagt gehabt. 5. Auch der synthetische Konjunktiv schwindet und wird durch die würde-Umschreibung ersetzt: hülfe/hälfe > würde helfen (zu äußerst interessanten Übergangsphänomenen in diesem Prozess s. Bittner & Köpcke in diesem Band). 6. Schließlich wird auch die Entstehung des werden-Futurs im Frühnhd. sowie des sein- und werden-Passivs zur analytischen Drift des Deutschen gerechnet. Im Folgenden geht es darum, den Begriff von Synthetizität bzw. Analytizität schärfer zu fassen, indem es diesen von mehreren Seiten her zu beleuchten gilt. Dabei wird in erster Linie auf Armin Schwegler (1990) „Analyticity and Syntheticity“ Bezug genommen, der diese Begrifflichkeit m.E. entscheidend geschärft und damit auch hinterfragt hat. Sein Gegenstand sind die romanischen Sprachen, vor allem das Französische. Die hier angestellten Überlegungen sollen, soweit möglich, auf das Deutsche übertragen werden. Es wird dabei auch deutlich, dass es im Deutschen Kodierungstechniken wie das kombinierende Verfahren gibt, die über die üblichen Verfahren in den romanischen Sprachen hinausgehen. Hinzu kommt eine Reihe weiterer Kriterien, die m.E. bei der Analyse/Synthese-Debatte zu berücksichtigen sind und Thema dieses Beitrags sind.
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Lässt sich ein Syntheseindex erstellen?
Thorsten Roelcke hat 2002 die (nicht neue) Idee geäußert, für das Deutsche einen sog. Syntheseindex zu erstellen. Sein Eindruck ist dabei, dass dieser „im Deutschen nicht ab[nimmt] (wie von der Strömungstheorie postuliert), sondern [...] vergleichsweise unverändert [bleibt]“ (Roelcke 2002: 341). Es spricht tatsächlich vieles dafür, dass das Deutsche insgesamt weniger analytisch geworden ist, als ihm in sprachgeschichtlichen Darstellungen attestiert wird. Auch auf diese Frage, die allerdings die Messbarkeit von Synthetizität voraussetzt, wird im Folgenden einzugehen sein. 2. Analytizität bzw. Synthetizität als syntagmatisches Phänomen Die meisten LinguistInnen verorten Analytizität bzw. Synthetizität auf der syntagmatischen Achse und verstehen in aller Regel darunter, dass grammatische Informationen entweder morphologisch „am Wort“, d.h. an einem Lexem bzw., wenn man Pronomen oder Artikel betrachtet, an einem Grammem markiert werden, oder dass sie syntaktisch, d.h. über eigene (Funktions-)Wörter realisiert werden. In jedem Fall werden die Informationen mehr oder weniger fusionierend bzw., in den Worten von Ronneberger-Sibold (1980) und Werner (1987, 1989), komprimierend ausgedrückt. Klassisches Beispiel sind die im Nhd. obligatorischen Subjektpronomen, die angeblich die ahd. Person/Numerussuffixe am Verb ersetzt haben sollen. Dies stellt Abb. 1 dar. synthetisch +fusionierend komprimierend ahd. sing-u sing-is(t) sing-it
analytisch –fusionierend expandierend nhd. ich sing-e du sing-st sie/er sing-t
Abbildung 1: Von analytisch zu synthetisch als syntagmatisches Phänomen
Abb. 1 zeigt die für das Deutsche üblicherweise angenommene Drift von links nach rechts und liefert ein Beispiel, das auf den ersten Blick einleuchtet: Was das Ahd. durch vollvokalische Verbflexive regressiv (postdeterminierend) ausdrückt, entwickelt sich zum Nhd. hin zu einem syntaktischpräponierten, progressiven Verfahren, den obligatorischen Subjektspronomen. Abgesehen davon, dass auch die heutigen Endungen noch größtenteils differenzieren, ist in Rechnung zu stellen, dass zwischen den prä-
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Damaris Nübling
ponierten Pronomen und dem Verb Kongruenz besteht. Damit kommen wir zu der Frage, ob Kongruenz den Grad an Synthetizität steigert oder verringert. In Abschnitt 2.4 wird für eine Steigerung argumentiert. 2.1 Zum Syntheseindex nach Greenberg (1954/1960) Einen einfachen syntagmatischen Synthesebegriff, der Schule gemacht hat, vertritt Greenberg (1954/1960) in „A quantitative approach to the morphological typology of language“ Hier versucht er, für typologische Zwecke den morphologischen Synthesegrad verschiedener Sprachen zu quantifizieren und damit vergleichbar zu machen. Die Formel ist denkbar einfach und genau dadurch breit anwendbar: Der Syntheseindex S ergibt sich aus der Zahl der Morpheme M, die durch die Zahl der Wörter W geteilt wird (S = M/W). So besteht engl. {lov}-{ed} aus zwei Morphemen, aber aus nur einem Wort, was einen Syntheseindex von 2,0 ergibt. Isolierende (analytische) Sprachen müssen folglich einen Index von 1,0 haben. Ein synthetischer Sprachbau beginnt ab 2,0, ab einem Quotienten von 3,0 spricht Greenberg von polysynthetischen Sprachen. Es liegt nahe, dass diese Rechnung Probleme in sich birgt, angefangen bei der Definition, Zählung und Segmentierung der Morpheme sowie beim Wortbegriff, für dessen Definition oft nicht einmal für ein und dieselbe Sprache Konsens besteht, geschweige denn interlingual. Auch stellt sich die Frage, wieweit er durch orthographische Konventionen beeinflusst wird. Zurecht fragt Schwegler (1990), ob frz. j'achète eher eine Einheit bilde als frz. je parle. Aus phonologischer Perspektive ist dies zu verneinen, aus graphematischer zu bejahen. 1 D.h. eine solche Rechnung steht und fällt mit dem Wort- und mit dem Morphembegriff. So ergibt sich die weitere Frage, wie man mit Nullmorphemen umgeht. Zählt man bei nhd. Haus Nom. und Sg. mit – so wie man bei Häusern Dat. und Pl. dazurechnen würde? Wie verfährt man mit inhärentem Genus? Und wie verrechnet man unterschiedliche Fusionsgrade innerhalb eines Wortes? Die ganz unterschiedliche Serialisierung der jeweils vier Informationen bei den Präterita starker und schwacher Verben, dargestellt in Abb. 2, würde bei der Greenbergschen Formel keinerlei Unterschied ergeben, d.h. in jedem Fall zu einem Syntheseindex von (mindestens) 4,0 führen (man könnte auch noch Modus dazuzählen).
__________ 1
Kaum eine Sprache wird auf der Analyse/Synthese-Skala so unterschiedlich verortet wie das Französische. Dies zu zeigen und zu erklären ist eins der Anliegen von Schwegler (1990), s. insbesondere die Zitatsammlung auf S.75-76.
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Lässt sich ein Syntheseindex erstellen? ,geb‘
,Prät.‘
,Sg.‘
/ga:p/
,1.Ps./ 3. Ps.‘
,leb‘
,Prät.‘
,Sg.‘
,1.Ps./ 3.Ps.‘
/le:p - t - ə/
Abbildung 2: Vier Informationen in einem Wort bei unterschiedlicher Fusionierung
Es liegt auf der Hand, dass gerade für flektierende Sprachen wie das Deutsche solche Rechnungen unbefriedigend bleiben. Nach Greenberg gab es weitere Versuche, Syntheseindexe zu erstellen, wobei sich die genannten Probleme als unüberwindbar erwiesen. Für diese Diskussion sei auf Schwegler (1990: 19ff.) verwiesen. So haben Lyons (1968) und Haarmann (1976) darauf hingewiesen, dass sich die Teilsysteme einer Sprache stark unterscheiden können: Pronominalsysteme sind oft sehr synthetisch, Nominal- und Verbalmorphologie können sich divergent verhalten. 2.2 Die Kriterien nach Schwegler (1990) Schwegler (1990) schließt aus diesen Problemen, dass man den Syntheseindex von Sprachen global nicht messen könne, sondern nur den von Teilsystemen. Auch seien Teilsysteme wegen des unscharfen Wortbegriffs sprachübergreifend kaum vergleichbar. Ein objektives, absolutes und sprachunabhängiges Maß sei nicht möglich. Am ehesten biete sich ein Vergleich zwischen unterschiedlichen historischen Stufen ein und derselben Sprache an oder zwischen miteinander verwandten Sprachen (z.B. den romanischen Sprachen), die auf eine gemeinsame Sprache (Latein) zurückgehen. Was die Bezugsdomäne zur Ermittlung der Morphemzahl betrifft, so entscheidet sich Schwegler angesichts der silbensprachlichen Verhältnisse des Französischen, sich auf sog. Sprecheinheiten („speech units“) zu beziehen. Hiermit dürfte das „mot phonétique“ gemeint sein, oder ein definierter Komplex wie „Subjektspronomen + Verb“, worunter sowohl die lateinischen als auch die französischen, italienischen etc. Konstruktionen fallen. Dies erlaubt es nach Schwegler (und entgegen Greenberg), auch grammatische Konstruktionen wie Periphrasen zu untersuchen. Auch sei es möglich, Kongruenz (als Fall morphologischer Interdependenz), die bisher nicht in solche Rechnungen einging, einzubeziehen. Letztendlich argumentiert Schwegler (1990) für die Berücksichtigung von vier Ebenen, die mehr oder weniger korrelativ miteinander verbunden sein können, es aber nicht müssen:
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Damaris Nübling
Analyticity will be defined as the semantic, syntactic, morphological and phonological autonomy of morphemes within a speech unit. Syntheticity is characterized as the semantic, syntactic, morphological and phonological interdependency (or relatedness) of morphemes within a speech unit. A unit whose morphemes show a high degree of relatedness on all four levels is highly synthetic; a unit whose morphemes have a very low degree of relatedness on all four levels is said to be highly analytic. (Schwegler 1990: 48; Kursivdruck im Original)
Dies lässt sich m.E. wie folgt schematisieren: 1. semantisch 2. syntaktisch 3. morphologisch 4. phonologisch
analytisch
synthetisch
Abbildung 3: Die vier Ebenen der Zunahme an Synthese nach Schwegler (1990)
Um von wirklich synthetischen Strukturen sprechen zu können (rechts des gestrichelten Senkrechtstrichs), müssen alle vier Parameter erfüllt sein; doch können durchaus schon semantische und syntaktische Synthesetendenzen wirken, ohne dass morpho-phonologisch synthetische Formen vorlägen. Insgesamt erinnern die Zusammenhänge an Grammatikalisierungsprozesse, die bei Schwegler jedoch noch kein Thema sind. Was die semantische Verdichtung steuert, sind die von Bybee (1985) beschriebenen Prinzipien der Relevanz und der Allgemeingültigkeit („generality“), die hier nicht ausgeführt werden. Sie erweisen sich als zentral für die Frage, welche Informationen es grundsätzlich sind, die eine Nähe zueinander erlauben und damit langfristig auch einen synthetischen Ausdruck (s. auch Leiss 1998: 852). Dass syntaktische, morphologische und phonologische Determinanten direkt die Linearität des Informationsausdrucks betreffen und verdichten, ist naheliegend. Bei der Bestimmung morphosyntaktischer Synthetizität verwendet Schwegler Kriterien wie Trennbarkeit, Fusionsgrad auf der syntagmatischen Achse, Verschiebbarkeit, Isolierbarkeit, Obligatorik sowie strukturelle und semantische Transparenz.
Lässt sich ein Syntheseindex erstellen?
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Wie die semantische Komponente wirken kann, macht er anhand der Univerbierung der einst komplexen frz. Konjunktion parceque deutlich (s. Abb. 4): Bei Stufe 1 in Abb. 4 steht die Kombination dreier Funktionswörter zur Verfügung, par, ce und que, die jeweils ihre eigene Funktion entfalten, d.h. hier liegt ein analytisches, kompositionelles Stadium vor. In den Stufen 2-4 nimmt der Synthesegrad zu über die sukzessive Univerbierung durch (siehe oben Abb. 3) die syntaktische (z.B. Nichtunterbrechbarkeit der Folge), morphologische und phonologische Verdichtung (Auflösung der Wort- bzw. Morphemgrenzen), bis in Stufe 5 die totale Koaleszenz (Aufgabe sämtlicher Binnenstrukturen) erreicht wird – und damit wieder der Schritt zu einer analytischen, da intern nicht mehr analysierbaren Einheit: /parskə/. In diesem Fall handelt es sich um die Entstehung eines nicht flektierenden Grammems.
Abbildung 4: Der Zyklus von analytisch > synthetisch > analytisch anhand der Konjunktion parceque (aus Schwegler 1990: 50)
Semantische Koaleszenz kann jedoch auch bei syntaktisch noch selbständigen Einheiten gegeben sein. Hier ist an Funktionsverbgefüge, bestimmte Periphrasen oder an Partikelverben wie angeben, aufgeben zu denken, die syntaktisch in Distanzstellung treten können, aber semantisch eine feste lexikalische Einheit bilden (dies betrifft auch Pronominaladverbien – s. hierzu den Beitrag von Helmut Spiekermann in diesem Band). Grundsätzlich gibt es nach Schwegler (1990) drei verschiedene Wege zur Analyse: a) Abnahme an Synthetizität, z.B. indem Stammallomorphie ausgeglichen wird (hierzu s. später unter Abschnitt 3);
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Damaris Nübling
b) totale Verschmelzung wie im Fall von parceque; auf das Deutsche bezogen z.B. nie /ni:/ < ahd. ni eo ‚nicht je‘ oder nicht /nixt/ < ahd. ni eo uuiht ‚nicht irgendeine Kleinigkeit‘; c) Ersetzung einer synthetischen durch eine analytisch(er)e Form, z.B. des lat. Perfekts amavi durch frz. j'ai aimé oder nhd. käme durch würde kommen. Schwegler (1990) kritisiert auch die oft angenommene Unidirektionalität bei Verschiebungen auf der Analyse/Synthese-Achse. Auch hier seien, oft innerhalb desselben Teilsystems, gegenläufige Entwicklungen festzustellen. Dies hänge damit zusammen, dass Verschiebungen auf dieser Achse nicht Ursache, sondern Folge vielfältigen Sprachwandels seien. 2.3 Phänomene syntagmatischer Verdichtung: Isolierende, agglutinierende und flektierende Ausdrucks- und Komprimierungsverfahren Vor diesem Hintergrund erweist sich, dass sich die gängigen morphologischen Typen der isolierenden, agglutinierenden und flektierenden Sprachen hauptsächlich aus ihrem unterschiedlichen Synthesegrad ergeben. Dies visualisiert, angelehnt an Ronneberger-Sibold (1980), Abb. 5, wobei hier ein weiterer Typ, das sog. kombinierende (oder diskontinuierende) Verfahren, gleich hinzugefügt wird, doch erst unter 2.5 diskutiert wird. Im Fall der isolierenden Strukturen entspricht einem freien Ausdruck, idealerweise einem Wort, genau eine Information. So drückt der engl. Artikel the nur Definitheit aus, nichts mehr. Eine solche 1:1-Entsprechung zwischen Ausdruck („A“) und Inhalt (Kategorie = „K“) sieht auch die Agglutination vor, doch verbinden sich dabei A1 und A2 zu einem Wort bei morphologischer Segmentierbarkeit. Dass bei agglutinierenden Sprachen ein möglichst geringer Grad an Allomorphie und Synkretismus hinzukommen sollte, bildet ein weiteres sprachtypologisches Kriterium, das hier ausgeklammert bleiben soll – ebenso, dass genau diese beiden Phänomene üblicherweise bei flektierenden Sprachen vorkommen. Für uns ist beim flektierenden Verfahren nur von Belang, dass sich der Informationsausdruck so stark überlagert, dass Portmanteau-Strukturen entstehen. Hierfür liefert der deutsche Definitartikel ein Paradebeispiel: Bei {d}-{as} kodiert {d} zwar allein (agglutinierend) Definitheit, doch lagern auf {as} die drei Informationen Genus, Numerus und Kasus. Als agglutinierend kann auch das Dentalsuffix -t- im Deutschen gelten (wie bei leb-t-e in Abb. 2), wenn man der Analyse folgt, die Präteritalinformation nur auf dem {t} kodiert sehen zu wollen, während der Suffixrest Person/Numerus markiert. Das kombinierende Verfahren kommt unter 2.5 zur Sprache.
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Lässt sich ein Syntheseindex erstellen? englisch
germanisch
isolierend
ahd./mhd./nhd.
agglutinierend
A1
A2
A1
K1
K2
K1
flektierend
A2
K2
A1
K1
neuhochdeutsch kombinierend (fusionierend) A1
K2
A2
K1
(Portmanteau)
Abbildung 5: Die wichtigsten morphologischen Sprachtypen (Anmerkung: „A“ = Ausdruck,
„K“ = Kategorie)
2.4 Ein spezielles Phänomen syntagmatischer Verdichtung: Kongruenz Schwegler überschreitet durch seine Bezugsgröße speech unit die Einzelwortgrenzen. Dabei stellt sich die interessante Frage, wie Kongruenz sich bezüglich der Frage nach dem Synthesegrad verhält. So steht der engl. Plural-NP the red house-s das spanische Pendant la-s casa-s roja-s gegenüber, wo jede Einheit, auch wenn teilweise redundant, am Pluralausdruck teilhat. Da bei Kongruenz die syntagmatische Binnenverdichtung, d.h. die morphologische Interaktion zwischen den einzelnen Bestandteilen zunimmt, wertet Schwegler dies als verstärkten Synthesegrad, der in die Rechnung eines Indexes eingehen sollte. D.h. je mehr Kongruenz, desto synthetischer. Ob es dabei einen Unterschied ausmacht, wenn, wie in dem spanischen Beispiel, die kongruierenden Affixe homophon sind oder nicht, soll unter Punkt 3 wieder aufgegriffen werden. 2.5 Ein speziell deutsches Phänomen syntagmatischer Verdichtung: Das kombinierende (diskontinuierende) Verfahren Aus Kongruenz kann diachron Diskontinuität erwachsen: Genau dies ist das Anliegen von Werner (1979). Dabei entsteht dieses im Deutschen reich vertretene morphologische Kodierungsverfahren durch einstige synkreistisch, d.h. ambig gewordene Kongruenzaffixe: Die Affixe wiederholen nicht redundant gleiche Informationen, sondern sie eröffnen ambige Optionen, die erst durch weitere Affixe vereindeutigt werden (hierzu s. ausführlich Szczepaniak in diesem Band). Dies ist das letzte in Abb. 5 dargestellte Verfahren. Wie das Schema zeigt, verhält es sich invers zum flektierenden Verfahren: Die Verletzung der 1:1-Relation zwischen Ausdruck und Kategorie wird gespiegelt. Hier sind es zwei Ausdruckseinhei-
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Damaris Nübling
ten, die erst im Verbund – „kombinierend“ (nach Ronneberger-Sibold 1980) – die Information K konstituieren. Die Bezeichnung „diskontinuierend“ (Werner 1979) bezeichnet das gleiche, betont jedoch im Gegensatz dazu die materielle Symbolisierung, d.h. dass sich die Morpheme in Distanzstellung befinden. Unter Umständen können die beiden ambigen Ausdrücke sogar beträchtliche Klammerkonstruktionen bilden, d.h. ausgedehnte Mittelfelder umfassen, etwa wenn zwischen Artikel und Substantiv längere Attribute treten: der [kleinen und noch nicht stubenreinen] Hunde/ Katze/Katzen. Die hochgradig ambige Artikelform der eröffnet vier potentielle Lesarten: 1) Nom.M.Sg. 2) Gen.Fem.Sg. 3) Dat.Fem.Sg. 4) Gen.Pl. Ebenso sind auch die Substantive und die Adjektive hochgradig ambig. Option 1), Nom.M.Sg., wird durch die Flexion des Adjektivs verworfen. Die anderen drei Optionen werden erst durch das Kernsubstantiv vereindeutigt (zur Nominalklammer und ihrer Entstehung s. RonnebergerSibold 1991, 1994). Schematisch und vereinfacht zeigt dies Abb. 6, oben für die NP, unten für die VP. d–er Tag–e
d–ie Tag–e
d–en Tag–Ø NP
‚Gen.Pl.‘ sie komm–t
‚Nom./Akk.Pl.’
‚M.Akk.Sg.‘
sie komm–en VP
‚3.Ps.Sg.Fem.‘
‚3.Ps.Pl.‘
Abbildung 6: Diskontinuität als kombinatorisch erfolgender Informationsausdruck
Der entscheidende Unterschied der Diskontinuität zur Kongruenz liegt in der Ambiguität beider Elemente. Ein Fall von Kongruenz besteht dagegen bei du komm-st, er komm-t oder auch wir komm-en: Hier übernimmt bereits das Subjektspronomen die eindeutige Kategorienanzeige, die durch das
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Verb nur nochmals aufgenommen wird (s. Abb. 7). Die Information 2.Ps.Sg. wird bereits durch du in eindeutiger Weise ausgedrückt. du komm–st Abbildung 7: Kongruenz als Wiederaufnahme einer Information
Dass die kombinierend kodierten Informationen wiederum ganze Kategorienbündel beinhalten, zeigt, wie komplex das Deutsche organisiert ist. Maßgeblichen Anteil an dem Übergang vom kongruierenden zum diskontinuierenden Typ hatte die mhd. Nebensilbenabschwächung. Das Besondere ist jedoch, dass sich daraus kein rudimentäres Kongruenzverhalten herausgebildet bzw. die Kongruenz – wie im Englischen – komplett abgebaut wurde, sondern dass das kombinierende Verfahren weiter ausgebaut wurde und wird, auch auf periphrastischer Ebene (s. Abb. 8). Besonders hier wird deutlich, dass – bezogen auf Abb. 3 und die vier sprachlichen Ebenen – auf der semantisch-funktionalen Ebene bereits ein hoher Synthesegrad herrscht: Die Information ‚Passiv‘ ergibt sich erst durch die Kombination aus einer Form von werden + dem Partizip II. Stünde hier ein Infinitiv, so ergäbe sich kombinatorisch die Futurlesart: sie wird sehen. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, wie unangemessen die häufig praktizierte Gleichsetzung von Periphrase und „analytischer Verbform“ ist (so z.B. in Polenz 2000, Bd. 1, S. 188).
‚3.Ps.Sg.Präs.‘
‚Passiv‘ ‚werd-‘
(sie)
wird
‚SEH‘ ‚Part.Perf.‘ ge-seh-en
Abbildung 8: Diskontinuität als morphosyntaktisches Prinzip im Deutschen
Dass das kombinatorische Prinzip auch in Dialekten, die synkretistische Pronominalparadigmen enthalten, diachron gestärkt wird, weist Rabanus (2006) nach: In nordbairischen Dialekten kommt es in den Personalpronomen der 2.Ps.Pl. zu totalem Synkretismus, d.h. die Form enk (regional auch enks) deckt alle drei Kasus Nom., Dat. und Akk. ab (vgl. im Standard
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Damaris Nübling
ihr Nom. vs. euch Dat./Akk.). In genau solchen Synkretismusgebieten „springt“ das Verb „ein“, das in der 2.Ps.Pl. eine ts-Endung grammatikalisiert hat (die sich, entgegen dem Standard, von der 3.Ps.Sg. -t unterscheidet). Die ts-Endung klärt, dass es sich bei enk um den Nominativ, also das Subjektspronomen, handeln muss und nicht um einen Obliquus (Objekt): Der Satz enks (2.Pl.Nom./Dat./Akk.) baes-ts (BEISSEN-2.Pl.) dei (3.Sg./ Pl.Nom./Akk.) kann wegen der dis-ambiguierenden Verbendung nur als ‚ihr beißt sie‘ übersetzt werden, während enks baes-n (BEISSEN-1./3.Pl.) dei nur ‚euch beißen sie /sie beißen euch‘ bedeuten kann. In jedem Fall ist es das Verb, das, im Verbund mit dem synkretistischen Pronomen, die Ambiguität „auflöst“ bzw. diskontinuierend markiert. 2 Rabanus kann sogar dokumentieren, dass sich zwischen 1887 und 1999 das kombinierende Verfahren geographisch ausgebreitet, also verstärkt hat. Die zentrale Frage, die sich abschließend stellt, ist, ob das diskontinuierende (kombinierende) Verfahren als synthetischer zu gelten hat als das flektierende. Mit Blick auf das unter 2.4 zur Kongruenz Gesagte ist dies eindeutig zu bejahen: Durch das kombinierende Verfahren nimmt die syntagmatische Binnenverdichtung, die morphologische Interdependenz noch ungleich stärker zu als bei der bloßen Kongruenz als einem Wiederholungsphänomen; beim kombinierenden Verfahren werden nicht einfach nur bereits gesetzte Informationen repliziert, sondern überhaupt erst konstituiert. Damit hat, bezogen auf die sinnvollere Domäne der „speech unit“ (als morphosyntaktischer Konstruktion), das kombinierende Verfahren als noch synthetischer zu gelten als das flektierende. Auf die bloße Wortebene bezogen würde das kombinierende Verfahren überhaupt nicht erfasst. Bei der mechanischen Anwendung der Greenbergschen Formel bliebe ein großer Teil der deutschen Morphologie unberücksichtigt. 3. Analytizität bzw. Synthetizität als paradigmatisches Phänomen Nachdem einige wichtige Phänomene und Probleme auf der syntagmatischen Achse thematisiert worden sind, soll diskutiert werden, ob auch Phänomene auf der paradigmatischen Achse Einfluss auf die Synthetizität haben können. Schwegler (1990) stellt (nicht als erster) die Frage (und beantwortet sie positiv), ob auch Allomorphie eine Komponente bei der Ermittlung des Synthesegrads darstellt. Auf den ersten Blick erscheint dies nicht naheliegend, da Allomorphie als solche die Informationsabfolge und
__________ 2
Allerdings ist hier nur eine Einheit ambig (der funktionale Kopf, das Pronomen, während die Verbendung monofunktional ist), was das diskontinuierende Verfahren leicht einschränkt.
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-dichte nicht tangiert (es sei denn, Umlaut kommt ins Spiel). Auch die Greenbergsche Syntheseindexformel enthält sie nicht. Nach Schwegler steigert jegliche Form von Allomorphie – sei sie phonologisch, morphologisch, syntaktisch, semantisch oder lexikalisch konditioniert – den Synthesegrad, weil sie die strukturelle Interdependenz zwischen sprachlichen Einheiten verstärkt: Allomorphie ist meist von der strukturellen Umgebung, in der sie auftritt, abhängig. So ist die deutsche Pluralallomorphie direkt abhängig vom Genus des Substantivs (Teil des lexikalischen Eintrags), manchmal auch von seiner Silbenzahl, Betonung, seinem Auslaut, von der Belebtheit des Referenten etc. Stehen die Allomorphe in formal suppletivem Verhältnis zueinander, treibt dies den Synthesegrad nochmals in die Höhe. Auf die Pluralallomorphe bezogen: Die Allomorphe -en und -n lassen sich unter das Pluralallomorph {(e)n} subsumieren, da sie komplementär distribuiert und vom Auslaut abhängig sind: Schwache Feminina auf -e erhalten {n} (Blume-n), solche auf Nicht-Schwa {en} (Schrift-en, Idee-[ə]n). Suppletiv verhält sich dagegen die Endung {(e)n} der schwachen im Vergleich zum Verfahren {Umlaut + -e} der starken Feminina (Fluchten vs. Ausflüchte). Dies steigert die Synthetizität. A high level of syntheticity is reached when a morpheme has an abundance of allomorphs whose alternations can be captured only by a multitude of rules. Furthermore, allophones [sic – gemeint ist: allomorphs] which bear no phonological resemblance to each other (cf. for instance Fr [frz.] je to moi) will be considered more synthetic than those with extensive formal similarities (cf. Fr /vu/ to /vuz/). (Schwegler 1990: 64).
Indem Allomorphie oft auf bestimmte Kategorien(kombinationen) beschränkt ist, leistet sie auch einen Beitrag als sog. Nebenmarker. Dieser Terminus stammt von Wurzel (z.B. 1996) und steht dem sog. Hauptmarker gegenüber. So gilt das Verbalsuffix -e [ə] gemeinhin als Person/Numerusmarker (1./3.Sg.): geb-e, leb-e, leb-t-e. Im Präteritum der starken Verben (und im Präsens der Präteritopräsentien) erscheint hier jedoch das sog. Null-Allomorph: gab-Ø, fiel-Ø bzw. kann-Ø, muss-Ø. Da diese beiden Allomorphe flexionsklassen- und tempusspezifisch distribuiert sind (und genau dadurch eine dichtere, syntheseverstärkende Kohäsion an den Tag legen), tragen sie, wenngleich nur indirekt, auch zum Ausdruck eben dieser Informationen bei. Auch solche (im Deutschen übrigens zahlreiche) Nebenmarker müssten in eine Syntheseindexrechnung einbezogen werden. Wie sich das komplizierte Verhältnis zwischen Haupt- und Nebenmarkern in der deutschen Sprachgeschichte verschiebt, wird in Wurzel (1996) gezeigt. Auch innerhalb kongruierender Suffixe kommt es oft zu Allomorphie: klein-e Kälb-er renn-en herum. Dies hat als synthetischer zu gelten als Kongruenz mit homonymen Suffixen (wie im o.g. span. Bsp. la-s casa-s roja-s).
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Schließlich gibt es auch in Periphrasen Allo-Phänomene, vgl. etwa die sein/haben-Distribution und -Bedingtheit in der deutschen Perfektperiphrase. Wenn Allomorphie den Synthesegrad erhöht, muss konsequenterweise der Abbau von Allomorphie den Analysegrad erhöhen. Auch dem trägt Schwegler Rechnung; hier führt er den analogischen Stammalternanzausgleich von span. puedo – podemos in südamerikanischen Varietäten zugunsten des Diphthongs an (zu puedo – puedemos). Auf das Deutsche bezogen ist der Abbau von Wechselflexion als Analyseschub zu bewerten: Indem z.B. backen derzeit die Formen bäck-st, bäck-t in back-st, back-t überführt, wird das gesamte Paradigma ärmer an Stammallomorphie und damit auch insgesamt analytischer. Damit ist das unter Abschnitt 2.2 erwähnte Verfahren a) (das einen Weg von drei möglichen zu vermehrter Analytizität beschreibt) gemeint und erklärt. Synkretismus als intraparadigmatische Homonymie gilt konsequenterweise als analysesteigerndes Phänomen. Das heißt, starke Differenzierung steigert den Synthesegrad, mangelnde Differenzierung den Analysegrad. Allerdings ermöglicht Synkretismus auf der syntagmatischen Achse das kombinierende Verfahren und ist insofern an synthetischen Verfahren beteiligt. Als Fazit ist festzuhalten, dass auch Allomorphie als paradigmatisches Phänomen den Synthesegrad positiv beeinflusst. 4. Weitere Parameter zur Bestimmung von Analytizität bzw. Synthetizität Auch jenseits der syntagmatischen und paradigmatischen Achse gibt es Parameter, die in die Waagschale geworfen werden müssen. Wie gezeigt, verfahren die starken Verben, da fusionierender, synthetischer als die eher agglutinierend organisierten schwachen Verben. Blickt man auf die Anzahl starker und schwacher Verben im Deutschen, tut sich ein starkes Gefälle auf: Maximal 160 starken (und unregelmäßigen) stehen Tausende schwacher Verben gegenüber. Dies ergibt ein prozentuales Type-Verhältnis von 4,7 zu 95,3% (nach Augst 1975, Nübling et al. 2008). Dies könnte dazu verleiten, dem Deutschen, wollte man den Synthesegrad der Verben bestimmen, nur die prototypischen schwachen Verben zugrundezulegen. Bekanntlich haben die Types jedoch nicht viel mit den Tokens gemein, oft genug verhält sich ihr Vorkommen umgekehrt proportional zueinander. Dies gilt auch für die Verbklassen: Zählt man die Verben eines Fließtextes, überragen sogar die starken und irregulären Verben die schwachen; das Token-Verhältnis beträgt 59% (nichtschwache Verben) zu 41%
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(schwache Verben). Dies zeigt, dass man bei einem Syntheseindex auch das faktische Vorkommen, die Aktualisierung der gezählten Einheiten zu berücksichtigen hat und nicht nur die Types zählen kann. Eine weitere Frage betrifft die Anzahl grammatischer Kategorien, die von Sprache zu Sprache differieren kann: So ist Aspekt im Deutschen keine Flexionskategorie, und innerhalb der Numeruskategorie gibt es keinen Dual. Andere Sprachen haben Definit-/Indefinitheit nicht grammatikalisiert. Je höher die Anzahl grammatischer Kategorien, desto höher, zumindest tendenziell, dürfte auch der Synthesegrad sein. Dies erschwert die Erstellung eines interlingualen Syntheseindexes. Selbst wenn man den Syntheseindex nur auf der Basis von Wörtern ermitteln möchte – was im Deutschen als Wortsprache legitimer und einfacher ist als im Französischen als Silbensprache –, so stellt sich die Frage, ob nur die eine Domäne der Morphologie, die Flexion, zugrundezulegen ist oder ob auch die Wortbildung einzubeziehen wäre, und, wenn ja, wie und mit welchem Gewicht. Wurzel (1993) unterstellt der deutschen Wortbildung sogar inkorporierende Strukturen, d.h. insgesamt dürfte die Wortbildung angesichts dessen, aber auch angesichts der Kompositionsfreudigkeit und der Herausbildung neuer Affixe aus Affixoiden den Syntheseindex nach oben treiben. Darauf nimmt auch Roelcke (2002: 340) Bezug, wenn er schreibt: So findet nämlich der Abbau der synthetischen Bauweise vornehmlich im Bereich der Formbildung statt, während sich der Ausbau der synthetischen Bauweise insbesondere auf den Bereich der Wortbildung erstreckt. [...].
5. Einige Fallbeispiele aus der deutschen Sprachgeschichte Der für das Deutsche typologisch kennzeichnende Kategorienausdruck des kombinierenden Verfahrens kam bereits ausführlich zur Sprache. Abschließend sollen schlaglichtartig vier weitere einschlägige Beispiele aus der deutschen Sprachgeschichte beleuchtet werden, die für die Drift zu mehr Synthese sprechen. 5.1 Der morphologische Umlaut Das Deutsche hat für den Ausdruck von mindestens drei grammatischen Kategorien das Umlautverfahren morphologisiert: Den nominalen Plural (Hahn – Hähne), den adjektivischen Komparativ (gesund – gesünder – gesündesten) und den verbalen Konjunktiv II (singt – sänge). Dass der Umlaut eine lautgesetzliche Basis hat, ist bekannt, ebenso dass er durch seinen modifikatorischen Charakter einen extrem fusionierenden Marker ohne materiellen Mehraufwand darstellt. Nur im Deutschen (und Luxemburgischen) hat
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seine Morphologisierung (Grammatikalisierung) stattgefunden. Beim Substantiv hat er sich aus den angestammten Klassen gelöst (hier: die maskuline und feminine i- sowie die neutrale iz/az-Klasse) und ist analogisch auf Mitglieder anderer (umlautloser) Klassen übertragen worden. Ähnliches gilt für die Adjektivsteigerung, und auch bei den Verben erweist sich seine Morphologisierung anhand der Tatsache, dass er beim präteritalen Numerusausgleich im Frühnhd., also viele Jahrhunderte nach seiner lautgesetzlichen Phase, auf die neuen Einheitspräterita projiziert wurde: frühes frühnhd. singen – sang (Prät.Sg.) – sungen (Prät.Pl. + Basis für Konj.II) – gesungen > spätes frühnhd. singen – sang(en) – gesungen. Die alte Prät.Pl.-Form sungen, die auch die Basis für die gesamte Konj. II-Bildung stellte (ich/sie sünge, wir/sie süngen etc.), wurde aufgegeben. Der bis dahin längst morphologisierte Konjunktivumlaut wurde daraufhin auf den neuen Präteritalstamm sang- übertragen: ich/sie sänge, wir/sie sängen etc. Alle eingangs genannten Beispiele betreffen solche analogischen Umlaute. Besondere Erwähnung verdient der reine nominale Pluralumlaut wie z.B. bei Laden – Läden, Boden – Böden, der sich erst später herausgebildet hat und noch bis heute leicht produktiv ist (vgl. derzeitige Schwankungsfälle wie die Pfosten/ Pfösten, die Wagen/Wägen, die Sattel/Sättel, die Ranzen/Ränzen). Durch diese (morphologisch motivierten) Reanalyseprozesse ist das Deutsche zu einem hohen Synthesegrad gelangt. Da, wie Köpcke (1993) nachweist, es gerade tokenfrequente Substantive sind, die den Pluralumlaut übernommen haben, erhöht dies seinerseits die Synthetizität. Dieses besonders dichte Syntheseverfahren ist auch deshalb interessant, weil Schwegler „nur“ phonologisch sich manifestierende Synthesearten unberücksichtigt lässt. In den romanischen Sprachen kommen solche immateriellen Reanalysen anscheinend nicht vor. Phonologische Verdichtungen gehen nach Schwegler (1990) „automatisch“ vonstatten, da sie immer auf Lautgesetzen wie Assimilationen, Vokalharmonien, Reduktionen etc. beruhen. Das Deutsche liefert ein eindrucksvolles Beispiel dafür, dass sich Assimilationen, worauf der Umlaut ja zurückgeht, von jeglicher Lautgesetzlichkeit lösen und als grammatische Kategorie reanalysiert werden können, um so in die morphologische Domäne „aufzusteigen“, ohne segmenthaltige Affixe entwickeln zu müssen. 5.2 Die Fragmentierung des Ablautverfahrens als Zuwachs an Allomorphie Wir bleiben auf der morphophonologischen Ebene und rücken ein Phänomen in den Vordergrund, das normalerweise in die Irregularitätsdomäne verschoben wird und damit aus dem Blick gerät: Die einst fünf idg. Ablautreihen werden im Germanischen um eine sechste Reihe erweitert und im Ahd. um eine siebte. In der Folge erfährt dieses Ablautsystem eine
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starke Fragmentierung: Dies beginnt schon mit der Aufspaltung mancher Reihen im Ahd., was phonologischen Kontakterscheinungen (Hebung, Senkung, ahd. Monophthongierung mit kontextbedingten Ausnahmen etc.) geschuldet ist, die sich auf den Vokalismus auswirken. Diese Fragmentierung setzt sich über die Jahrhunderte fort und wird durch den präteritalen Numerusausgleich nicht eingedämmt, im Gegenteil. Nicht selten isolieren sich Verben durch singuläre Kontaktphänomene von ihrer ursprünglichen Reihe (z.B. nhd. kommen < ahd. queman). Dies führt zu heute ca. 40 unterschiedlichen Alternanzen, darunter 15, die nur von einem einzigen Verb besetzt sind, z.B. k[ɔ]mmen – k[a:]m – gek[ɔ]mmen. Der größte Verband umfasst noch 23 Verben mit den Stammvokalen nhd. [ai – ɪ – ɪ], Typ reiten – ritt – geritten. Diese aus Sicht des Gesamtsystems eingetretene Fragmentierung ist auf der anderen Seite nichts anderes als eine massive Zunahme an Allomorphie. Die Makroklasse der starken Verben, die Vokalwechsel für den Ausdruck von Tempus verwendet, hat sich in zahlreiche Mikroklassen bis hin zu Einzelgängern aufgespalten. Wie beim Umlaut handelt es sich auch hier um ein morphonologisches, extrem synthetisches Ausdrucksverfahren, das durch die Zunahme an Differenzierung auf der paradigmatischen Achse (Allomorphie) an Synthetizität gewinnt. Im Unterschied zum Umlaut, der eine klare, vorhersagbare Basisvokal→Umlaut-Relation beinhaltet, handelt es sich beim Ablaut um ein arbiträres, idiosynkratisches Vokalwechselverfahren, was seinerseits den Syntheseindex eher steigert als senkt. 5.3 Analytischer Kasusausdruck? Der Artikel als hochsynthetische Einheit Insbesondere der Kasusabbau am Substantiv und seine Verlagerung auf den Artikel gilt in den sprachgeschichtlichen Darstellungen als Paradebeispiel für einen Analyseschub (zu diesem Komplex s. Szczepaniak in diesem Band). Vergleicht man jedoch die Informationskodierungen zwischen dem Ahd. und Nhd. (s. Abb. 9), so macht das heutige Verfahren keinen analytischeren Eindruck. Richtig ist aber, dass Kasus nicht mehr am Nomen selbst markiert wird. Dies hängt, wie Primus (1997) herausarbeitet, mit der in der Geschichte des Deutschen vielfach zu beobachtenden Separierung von semantischem und funktionalem Kopf zusammen. Dabei wurden die funktionalen Köpfe linksperipher platziert und dort flexivisch oft sogar gestärkt, während die semantischen Köpfe am rechten Rand der Wortgruppe verblieben. Mit einem Analyseschub habe dies, so stellt Primus zutreffend fest, nichts zu tun.
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Damaris Nübling
‚Zunge‘ ‚Zunge‘
‚Gen.‘
ahd. zung – ōno
‚Pl.‘
‚+def‘
>
nhd.
‚Gen.‘
d – er
‚Pl.‘
Zunge – n
Abbildung 9: Der Kasusausdruck früher und heute
Die Verhältnisse sind im Ahd. viel einfacher: Das stammflektierende Nomen zung-a realisiert die Kombination Gen.Pl. in einem Portmanteaumorphem. Nicht anders ist dies heute beim Artikelteil -er, der allerdings stark synkretistisch ist und die Information Gen.Pl. erst im Verbund (kombinierend) mit der Substantivendung -n konstituiert (der allein evoziert vier verschiedene Lesarten). Die Grammatikalisierung des Definitartikels bereichert die NP um eine weitere Kategorie, ,+definit‘. Der Artikel dürfte wohl die synthetischste Einheit im Deutschen darstellen. Die Pluralinformation liegt weiterhin auf der Endung des Nomens und vereindeutigt die ambige Artikelform. 5.4 Zum, zur, beim, ins, ans: Zur Grammatikalisierung „flektierender Präpositionen“ Bei der Analyse/Synthese-Diskussion wird mit aller Regelmäßigkeit einer der größten Syntheseschübe des Deutschen übersehen: Die sich schon im Ahd. anbahnende Verschmelzung von Präposition und Artikel. Es dürfte wenig übertrieben sein zu behaupten, dass es kaum einen Satz ohne eine solche Enklise gibt, d.h. dieses Phänomen kommt extrem häufig vor. Dabei erstrecken sich diese Amalgamierungen von allegrosprachlichen Verschmelzungen wie auf'm, nach'm, in'n über einfache Klitika wie vorm, hinters, übers bis hin zu obligatorisch klitisierten und nicht mehr (frei) auflösbaren Formen wie zum, beim, am, im, vom (vom ≠ von dem Bäcker, zum ≠ zu dem Arzt, beim/*bei dem Singen, im/*in dem Schwarzwald, beim/*bei dem Papst; zu diesem Komplex s. Nübling 1992, 1998, 2005). In Hinblick auf die Analyse/Synthese-Debatte ist wichtig, dass der overte Definitheitsmarker d- durch den Klitisierungsprozess schwindet und ,Definitheit‘ damit auf das Artikelenklitikon rückt, denn in aller Regel bleiben diese Verschmelzungsformen zu ihren Pendants mit dem Indefinitartikel distinkt: vorm vs. vor’nem, hinters vs. hinter’n, beim vs. bei’nem, im vs. in'nem etc. Schematisch zeigt Abb. 10 diesen Komprimierungseffekt (dabei wurden Genus, Numerus und Kasus bereits zu einer Portmanteau-Einheit komprimiert).
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Präp.
,+def.'
zu d–em
,Mask.‛ ,Sg.‛ ,Dat.‛
(Bäcker)
Präp.
vs.
,+def.'
zu=m
,Mask.‛ ,Sg.‛ ,Dat.‛
(Bäcker)
Abbildung 10: Der Syntheseeffekt der Präposition-Artikel-Enklise
Was die Tokenfrequenzrelationen zwischen Verschmelzung und Nichtverschmelzung betrifft, so wurde in Nübling (2005:113ff.) korpusbasiert gezeigt, dass die sechs Verschmelzungsformen am, zum, zur, im, vom, beim zu (teilweise sogar weit) über 90% vor den Nichtverschmelzungen rangieren (die im Fall von an dem, zu dem, zu der und in dem nur um die 2-3% betragen). Gerade bei diesen sechs Verschmelzungsformen handelt es sich um die grammatikalisierteste „Spitze des Eisbergs“. Inwieweit es sich schon um flektierende Präpositionen handelt, wird in der genannten Literatur diskutiert. In jedem Fall steuert diese Grammatikalisierung auf dieses Szenario hin, was übrigens die allgemeine Beobachtung von Primus (1997) untermauert, dass linksperiphere funktionale Köpfe nicht nur zu Flexionserhalt bzw. zu Flexionsverstärkung tendieren: In diesem Fall handelt es sich sogar um Flexionsaufbau. 6. Fazit Bei genauerem Hinsehen, was Analytizität und Synthetizität genau konstituiert, wird deutlich: Allzu oft handelt es sich um intuitive Bewertungen sprachlicher Strukturen, die selten objektiviert werden. Folgt man der romanistischen Untersuchung von Schwegler (1990), so wird hier ein sehr differenzierter, umfassender, die gesamte Forschung aufarbeitender und m.E. adäquaterer Synthesebegriff vertreten, der nicht nur die syntagmatische Achse der linearen Verdichtung berücksichtigt, sondern auch die paradigmatische Achse einbezieht. Dieses Geflecht fasst Abb. 11 zusammen. Auf beide Dimensionen bezogen dürfte das Deutsche diachron kaum an Synthetizität verloren haben, eher im Gegenteil. Dies wird in den meisten sprachgeschichtlichen Arbeiten anders bzw. vereinfacht dargestellt, da sie meist nur eindimensional ausgerichtet sind und oft von Unidirektionalität ausgehen. Hier wurde gezeigt, dass die diachronen Entwicklungen im Deutschen oft gleichzeitig in beide Richtungen laufen.
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analytisch
synthetisch syntagmatische Verdichtung: semantisch > syntaktisch > morphologisch > phonologisch
1:1-Ausdruck zw. Ausdruck und Inhalt
Portmanteau
wenige Kategorien
viele Kategorien
Uniformität / wenig Allomorphie
viele Synkretismen keine Kongruenz
viel Allomorphie: ähnlich → unähnlich Konditionierung: phon. – morph. – lex. wenige Synkretismen
keine Synkretismen Kongruenz
Diskontinuität
plus Tokenfrequenzen Abbildung 11: Abhängigkeit des Synthesegrads von (mindestens) folgenden Faktoren
Ein absoluter, einzelsprachunabhängiger Syntheseindex ist daher kaum ermittelbar. Man müsste dafür feste Maße für die Einzelphänomene, die hierfür eine Rolle spielen, bestimmen. Wie soll man z.B. syntagmatische Dichte mit Allomorphie verrechnen? Oder Portmanteau-Strukturen mit Kongruenz? Diskontinuität mit syntaktischer und/oder semantischer Fusion? Und wie sollte man mit alledem die Frequenzen verrechnen? „Wiegt“ ein seltenes periphrastisches (kombinierendes) Futur etwa die viel häufigeren synthetischen Präterita auf? Die im Beitrag genannten Faktoren sollten jedoch nicht dazu führen, sich von dem sog. Pendel zwischen Analyse und Synthese abzuwenden. Ziel war es, zu einer differenzierteren Sicht auf die Komplexität dieses Unterfangens zu gelangen. M.E. sollte auch für das Deutsche die von Schwegler (1990) angemahnte Beschränkung auf einen nur relativen Vergleich geltend gemacht werden, der auch nur bezüglich eines einzelnen Parameters möglich ist und der nur feste sprachliche Einheiten („speech units“) betrifft. Dabei lassen sich am ehesten synchron zwei miteinander verwandte Sprachen oder diachron zwei verschiedene Sprachstufen kontrastieren.
Lässt sich ein Syntheseindex erstellen?
21
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Andreas Bittner & Klaus-Michael Köpcke
Ich würde, wenn ich wüsste, dass ich könnte ... Der Konjunktiv zwischen Synthese und Analyse
Abstract The aim of the present study was to verify two hypotheses on the use of synthetic inflexion in the German subjunctive (Konjunktiv II). Hypothesis 1 suggests that speakers adhere to the synthetic form. Hypothesis 2 considers forms which had lost their original function due to processes of language change. We propose their refunctionalisation as a method of identifying a form’s more complex grammatical category. Data was gathered from speakers from both Northern Germany and Switzerland, where preterite-forms are disappearing. Results showed that the hypothesis of a general change from synthetic to analytic subjunctive forms cannot be supported. Participants often made use of the potential for composing synthetic forms, whereby simple weak forms were allowed to compete with forms using specific ablaut or umlaut patterns, as well as „mixed” forms (singte/gerbte – sänge/gärbe – sängte/gärbte). Processes of grammaticalisation and reanalysis appear to result in a functionalisation of the last remaining morphological coding capacity for the identification of the most complex category. Preterite forms are reanalyzed as a synthetic designation of the subjunctive. Data suggest that synthetic inflexion in German subjunctive morphology is based on pattern or schema recognition and use.
1. Ausgangspunkte und Gliederung Der folgende Beitrag wird sich mit dem deutschen Konjunktiv II beschäftigen, der Konjunktiv I findet nur am Rande Beachtung. Nach einem knappen Verweis auf das Formeninventar werden wir zwei Hypothesen entwickeln, die wir anhand empirischer Daten aus Tests mit Sprechern aus dem norddeutschen und aus dem schweizerdeutschen Sprachraum verifizieren wollen. Gesucht werden Antworten auf Fragen nach den Chancen und Bedingungen für eine synthetische Bildung des Konjunktiv II und seinem Verhältnis zu den sogenannten analytischen ‚Ersatzformen‘. Dieses Ziel impliziert auch Aussagen über das Vorhandensein eines Tempusbezugs und die Ableitungsbasis der Konjunktivformen. Abschließend wollen wir eine theoretische Einordnung skizzieren und spekulieren, wie der Konjunktiv in möglicherweise nicht allzu ferner Zukunft gebildet werden könnte. Die synthetischen Konjunktivformen sind ein prototypischer Übergangskandidat von der synthetischen zur analytischen Konstruktion. Die analytischen Bildungen des Konjunktivs sind tradiert und im Sprachge-
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Andreas Bittner & Klaus-Michael Köpcke
brauch (hoch)frequent, wenn auch gleichzeitig sprachpflegerisch negativ konnotiert. Wir wollen die Realität einer synthetischen Symbolisierung des Konjunktiv II ganz aus der Sicht empirischer Daten beleuchten und aus den Daten das Verhältnis von Synthese und Analyse bewerten, Kriterien synthetischer Bildung und Kriterien des Übergangs in die Syntax (Analyse) ableiten und somit die Pauschalität der Aussage vom Übergang von Synthese zu Analyse hinterfragen. Die empirische Grundlage unserer Argumentation ist zwar auf schmaler eigener Datenbasis gegründet – wir präsentieren erste Ergebnisse und Interpretationen zunächst begrenzter Datenerhebungen – sie ermöglicht jedoch auch in dieser Dimension reale Einblicke in das Kategorisieren der Sprecher (jenseits der Norm). Wir untersuchen die Daten unter dem Gesichtspunkt, was sie über die Organisation von grammatischem Wissen aussagen. Dabei wollen wir von den Daten auf die (kognitiven) Prozesse schließen, die ihnen zugrunde liegen und nach dem Erkenntnispotential für die grammatische Beschreibung fragen. Der folgenden kurzen Einführung ins Formeninventar des Konjunktivs stellen wir beispielhafte Aussagen voran, die die gängige Interpretation der deutschen Konjunktivmorphologie in der Literatur unterschiedlicher Ausrichtung spiegeln. Sie sollen unser Vorhaben kontrastieren und einleiten: Die Konjunktivbildung und -nutzung stellt selbst Profischreiber oft vor Probleme. Deshalb sind zum einen oft falsche Bildungen zu beobachten (Der Bundeskanzler ließ mitteilen, er käme … statt er komme …) oder der Ausweg mit würden wird gewählt (… er würde kommen …). Kinder wie Erwachsene wählen oft andere Mittel, um die Absicht korrekt zu vermitteln (Er will kommen.). (Bartnitzky 2005: 108) Der Konjunktiv I (Konj. Präs./Perf./Futur) leitet sich vom Präsens (du habest), der Konjunktiv II (Konj. Prät./Plusquamperf.) vom Präteritum (du sagtest; bei entsprechendem Stammvokal mit Umlaut: du gäbest) her. […] In vielen Zusammenhängen sind beide Formen möglich (z.B. Redewiedergabe, in der auch der Indikativ verwendbar ist). Der Konjunktiv II ist deutlicher markiert und gilt als umgangssprachlicher, ebenso die ihm nahe stehende würde-Form. (Hoffmann 2005: 33) Im heutigen Deutschen gibt es […] zwei eigenständige Modi „Konjunktiv I“ und „Konjunktiv II“. Beide weisen morphologische Probleme auf. Beim Konjunktiv I hängen sie vor allem mit morphologischer Untercharakterisierung, sprich störender Homonymie mit dem Indikativ, zusammen, beim Konjunktiv II mit diachron zu erklärender Fehlcharakterisierung: Ableitung vom Präteritum, obwohl die betreffenden Konjunktivformen dieses Merkmal gar nicht (mehr) aufweisen. […] In der Standardsprache neigt der Konjunktiv I zum Verschwinden (Ersatz durch Konjunktiv II oder Indikativ), der Konjunktiv II zur Konstruktion mit dem
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Ich würde, wenn ich wüsste, dass ich könnte …
Auxiliar würde. In regionalen Varietäten des Deutschen lassen sich auch andere Lösungen finden. (Gallmann 2007: 24)
2. Zum Formeninventar Vergleicht man die Bildung des Indikativs im Präteritum mit der des Konjunktiv II (Konjunktiv Präteritum), dann fällt auf, dass die schwachen Verben dieselben Formen im Indikativ und Konjunktiv des Präteritums aufweisen. Eine notwendige formale Distinktion zwischen den beiden morphosyntaktischen Kategorien ist hier also nicht mehr gegeben. Etwas anders sind die Verhältnisse bei den starken Verben, zumindest wenn diese einen umlautfähigen präteritalen Stammvokal besitzen. Die Umlautung dieses Vokals signalisiert den Konjunktiv II. Fehlt den starken Verben dieser umlautfähige präteritale Stammvokal, dann ist auch hier – abgesehen von der 1. und 3.Ps.Sg. – zwischen dem Indikativ und Konjunktiv Präteritum Synkretismus zu konstatieren. (1) Formeninventar (vgl. Duden-Grammatik 2005: 442) Indikativ Präteritum Num. Sing.
Plural
Person 1. (ich) 2. (du) 3. (man) 1. (wir) 2. (ihr) 3. (alle)
schwache Verben lach-te red-ete lach-test red-etest lach-te red-ete lach-ten red-eten lach-tet red-etet lach-ten red-eten
Endung -(e)te -(e)test -(e)te -(e)ten -(e)tet -(e)ten
starke Verben fuhr ritt fuhr-st ritt-est fuhr ritt fuhr-en ritt-en fuhr-t ritt-et fuhr-en ritt-en
Endung -(e)st -en -(e)t -en
starke Verben führ-e ritt-e führ-est ritt-est führ-e ritt-e führ-en ritt-en führ-et ritt-et führ-en ritt-en
Endung -e -est -e -en -et -en
Konjunktiv II (Konjunktiv Präteritum) Num. Sing.
Plural
Person 1. (ich) 2. (du) 3. (man) 1. (wir) 2. (ihr) 3. (alle)
schwache Verben lach-te red-ete lach-test red-etest lach-te red-ete lach-ten red-eten lach-tet red-etet lach-ten red-eten
Endung -(e)te -(e)test -(e)te -(e)ten -(e)tet -(e)ten
Vor dem Hintergrund des ausgedehnten Synkretismus bei der synthetischen Bildung des Konjunktivs bietet sich nun das Ausweichen auf zwei
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Andreas Bittner & Klaus-Michael Köpcke
analytische ‚Ersatzformen‘ an, 3 erstere konkurriert mit einer temporalen (futurischen) Lesart. 4 (2) a. lachen würd-e/-est/-e/-en/-et/-en b. lachen tät-e/-est/-e/-en/-et/-en Gemeinsam ist den analytischen Formen, dass sie sich jeweils aus der Infinitivform eines Vollverbs und einem Quasi-Auxiliar zusammensetzen. 5 Während das Vollverb die semantische Information trägt, ist das Auxiliar semantisch leer, aber grammatisch enorm aufgeladen, und zwar hinsichtlich Tempus und Modus und Person/Numerus. 6 Die Vorteile dieser analytischen Bildungen gegenüber den synthetischen liegen u.E. auf der Hand: Die analytische Bildung ist transparenter und ikonischer – wenn auch über die Wortgrenze hinweg, sie vermeidet Synkretismus und sie ist sicher auch sehr viel leichter und schneller zu erwerben und zu speichern. Wir wollen festhalten, dass für die Bildung des Konjunktiv II zwei miteinander konkurrierende Distinktivität sichernde Bildungsweisen vorliegen, eine synthetische und eine analytische. Gegenüber der synthetischen kann die analytische Bildung eine Reihe von Vorteilen für sich reklamieren. 3. Hypothesen Die Ausführungen zum Formeninventar machen deutlich, dass man aufgrund der spezifischen Vorteile, die die analytische Bildung gegenüber der synthetischen aufweist, erwarten sollte, dass die synthetische Bildung in der Sprachverwendung und damit im Sprachwandel unabhängig von der spezifischen phonotaktischen Struktur des Vollverbs durch die analytische Bildung ersetzt wird. Dieser in der germanistischen Linguistik vertretenen Auffassung wollen wir folgende Hypothese entgegensetzen:
__________ 3 4 5 6
Der Übergang zu analytischen Formen war sprachgeschichtlich schon früh möglich, d.h. die Muster waren bereits da, mussten nicht erst geschaffen (sondern ‚nur‘ reinterpretiert) werden, vgl. kritisch dazu Abraham (in diesem Band). Die 2. analytische ‚Ersatzform‘, die tun-Periphrase, sieht sich in der Standardsprache sprachpflegerischer Verfolgung ausgesetzt. Zum unterschiedlichen Status dieser analytischen Formen vgl. z.B. Abraham & Fischer (1998). Die Kodierung der grammatischen Kategorie Person beim Konjunktiv II entspricht exakt der Bildungsweise des Indikativ Präteritum.
Ich würde, wenn ich wüsste, dass ich könnte …
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1. Die synthetische Bildung des Konjunktivs wird nicht über alle Vollverben hinweg durch die analytische Bildung ersetzt. Vielmehr meinen wir, dass die Sprecher in den Fällen, die dies strukturell ermöglichen, bestrebt sind, an der synthetischen Bildung festzuhalten. Evidenz für die Berechtigung dieser Annahme findet sich in der Diachronie, denn zu keinem Zeitpunkt der historischen Entwicklung des verbalen Formeninventars des Deutschen ist eine eindeutige Festlegung auf die synthetische oder analytische Bildung zu erkennen. Vielmehr kann seit dem Althochdeutschen immer das Nebeneinander beider Bildungsweisen und außerdem das Auftreten synthetischer Mischformen konstatiert werden, vgl. z.B. Wurzel (1996). Eine zweite Hypothese bezieht sich auf das Faktum, dass jedes sprachliche System oder Teilsystem Veränderungsprozessen unterworfen ist. So war und ist auch das deutsche Verbsystem phonologischen und morphologischen Wandelprozessen ausgesetzt. Morphologischer Wandel, um den es hier ja geht, äußert sich in Grammatikalisierungs- und in Reanalyse- bzw. Reinterpretationsprozessen. Morphologischen Wandel verstehen wir dabei nicht als bloße Reaktion auf den für die morphologischen Symbolisierungsverhältnisse ‚blinden‘ phonologischen Wandel, sondern als gerichteten morphologischen Prozess. Ein Beispiel für solche Prozesse stellen u.E. die Beziehungen zwischen dem Formeninventar für den Indikativ Präteritum und den Konjunktiv Präteritum dar. Wir gehen davon aus, dass ein einmal von Sprechern entwickeltes Formeninventar nicht einfach aufgegeben wird, sondern immer einer Reinterpretation und damit einer Refunktionalisierung durch die Sprecher unterworfen wird. Hierdurch steuert morphologischer Wandel im Sinne einer funktionalen grammatischen Symbolisierung von Kategorieninhalten das Maß phonologischen Wandels. Wir formulieren dies als unsere zweite Hypothese: 2. Formen, die durch einen Sprachwandelprozess ihren ursprünglichen funktionalen Wert verloren haben, werden von der Sprachgemeinschaft nicht aufgegeben, sondern zur Kennzeichnung der jeweils komplexeren grammatischen Kategorie refunktionalisiert, man könnte auch sagen, semantisch-grammatisch neu aufgeladen. Bezogen auf unsere Problematik heißt das, dass die Bildung des Indikativ Präteritum reanalysiert wird als synthetische Kennzeichnung des Konjunktiv II. Empirischer Ausgangspunkt für unsere Hypothesen war die Verwunderung über Konjunktiv II-Bildungen, die wir in Münster im Rahmen einer Pilotstudie zur Repräsentation grammatischen Wissens am Beispiel der Verbmorphologie des Deutschen erhoben hatten, vgl. Details in Bittner & Köpcke (2007). Die Studie lieferte zwar Evidenzen für unsere zentrale Annahme, dass starke Verben im mentalen Lexikon des Sprechers als
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Andreas Bittner & Klaus-Michael Köpcke
mehr oder weniger große Gruppen (Schemata) verankert und diese implikativ mit spezifischem Flexionsverhalten verknüpft sind, bei den Konjunktivdaten wurde diese Implikativität, d.h. die Beziehung zu einer Ableitungsbasis, und damit eine temporale Basierung, aber nur geringfügig deutlich. Wir vermuteten, dass das auch am Testaufbau gelegen haben könnte. Die zu vervollständigenden Sätze unseres Testbogens, vgl. unter 4.1, waren zu einem Büchlein zusammengeheftet, das zügig bearbeitet werden sollte, wobei auf jeder Seite immer nur ein Satz abgedruckt war. Die Versuchspersonen, Schüler einer 5. Jahrgangsstufe sollten weder vornoch zurückblättern, noch ihre einmal getroffene Entscheidung verändern. Bei der Reihenfolge der Sätze wurde darauf geachtet, dass zwischen den syntaktischen Kontexten eines spezifischen Verbs immer auch andere Sätze mit anderen Testitems auftauchten. Die Erkennbarkeit von Zusammenhängen und Ableitungsbeziehungen wurde also erschwert. Folgetests sollten so angelegt sein, dass (vermutete) Ableitungsbeziehungen für die Probanden durchsichtiger werden. 4. Verifizierung der Hypothesen anhand empirischer Tests Eine Verifizierung der Hypothesen soll nun beispielhaft mit Hilfe empirischer Daten aus Erhebungen, die zunächst mit Kindern im Alter von 8-12 Jahren aus dem norddeutschen und dann in einem zweiten Schritt mit Kindern im Alter von 10-12 Jahren und erwachsenen Sprechern aus dem schweizerdeutschen Sprachraum 7 erfolgen. An den beiden Studien waren 71 muttersprachlich Deutsch (41 Hochdeutsch und 30 Schweizerdeutsch) sprechende Kinder und Erwachsene beteiligt. Beide Probandengruppen lösten die Aufgaben ohne Schwierigkeiten, Kinder und Erwachsene verhielten sich nicht unterschiedlich. In den nachfolgenden Aufstellungen und Berechnungen wird deshalb von einer Trennung dieser Gruppen abgesehen. Keine Versuchsperson bediente über alle Testitems hinweg nur ein bestimmtes Muster, das gilt auch für jedes einzelne Item. Die Versuchspersonen haben also nicht blind abstrakte Regeln angewendet, sondern jedes Testitem einer Analyse hinsichtlich seines möglichen Flexionsverhaltens unterzogen. Unterschiedliche Konjugationsmuster konkurrierten miteinander bei jeder einzelnen Entscheidung der Versuchspersonen, es wurde also nicht ausschließlich ‚schwach‘ konjugiert. Die Ergebnisse der Münsteraner Erhebung sind in 4.2, die der Luzerner Erhebung in 4.4 zusammengefasst, und zwar fokussierend auf die hier zur Debatte stehen-
__________ 7
Für die Unterstützung bei der Datenerhebung in Münster und Luzern und für wichtige Hinweise danken wir unserer studentischen Hilfskraft Annika Urhahn.
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den Bildungen des Indikativ Präteritum und des Konjunktiv II. Erwartet wurde von der Münsteraner Untersuchung der Nachweis eines engen, aber auch Distinktivität stiftenden paradigmatischen Zusammenhangs zwischen den Formen (Kategorienrepräsentanten). Deutlich werden sollte eine präteritale Ableitungsbasis für den Konjunktiv II (unterstellter präteritaler Tempusbezug) und seine eindeutige synthetische Symbolisierung. 4.1 Testdesign Münster Die Münsteraner Kinder sollten 7 Kunstverben in jeweils 5 morphosyntaktische Kontexte einbetten: Imperativ Singular, jeweils 3.Ps.Sg.Präsens, Präteritum und Konjunktiv II und Partizip II. Insgesamt musste jede Versuchsperson also 35 Entscheidungen treffen. Die Sätze wurden 19 Probanden mündlich und 22 Probanden schriftlich in unterschiedlich randomisierten Abfolgen dargeboten. Vor dem Test wurde die Aufgabe an drei Verben des Realwortschatzes verdeutlicht. 8 Nachfolgend in (3) ein Beispiel für die Konzipierung des Tests: (3) Mündliche Untersuchung zu Kunstverben - Münster (2006) – VPs: 19 Kinder (8-12 Jahre) Testformat (Auszug): Kunstverb soben Vergangenheit mit hat/ist: Befehlsform:
Möglichkeitsform:
Vergangenheit ohne hat/ist: Gegenwartsform:
Was hat Emil letzte Woche gemacht? Æ Letzte Woche hat Emil _______________. (soben) Emil trödelt mal wieder herum. Æ Los Emil, ___________________! (soben) Was täte Emil denn, wenn er mal im Lotto gewänne? Æ Dann ____________________er. (soben) Was tat Emil gestern? Æ Gestern ___________________er. (soben) Was macht Emil gerade? Æ Das siehst du doch. Gerade ___________er. (soben)
4.2 Ergebnisse der Tests in Münster In (4) ist die Verteilung der gebildeten Formen zusammengestellt:
__________ 8
Der Test wurde vorab zur Kontrolle mit 20 Münsteraner Studenten durchgeführt. Die Ergebnisse beider Gruppen unterschieden sich nicht.
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(4) Prozentuale Verteilung der Formen Verb schnasen soben spinken struten kleiben knauten schleten
Imp. sw 100 100 100 100 100 100 100
Präsens sw st 90 0 79 0 100 --68 0 95 --74 0 84 5
sB 11 21 0 32 5 26 11
Präteritum sw st 68 11 74 16 84 11 68 0 90 11 53 5 68 5
sB 21 11 5 32 0 42 26
Konjunktiv sw st sB 26 32 42 58 16 26 53 26 21 63 16 21 79 0 21 68 11 21 58 21 21
Partizip II sw st 79 11 68 32 63 26 90 5 84 11 63 5 95 5
sB 11 0 11 5 5 32 0
Die hervorgehobenen Konjunktivdaten sind (mit Blick auf die Formverteilung im Indikativ Präteritum) in verschiedener Hinsicht bemerkenswert. Das gilt sowohl für den relativ großen Anteil starker (st) und ‚sonstiger‘ Bildungen (sB), 9 als auch für das massive Auftreten schwacher (sw), somit zum Indikativ nicht distinkter Formen. Wir wollen uns die von den Versuchspersonen gebildeten Formen am Beispiel der Kunstverben soben und spinken näher ansehen. Das Kunstverb soben entspricht dem Muster eines schwachen Verbs (loben, proben). Dieses Muster weist hohe Typefrequenz und einen umlautfähigen Stammvokal auf; spinken erfüllt dagegen phonematische Eigenschaften, die ein relativ verlässliches starkes Muster (-ink-/ -ing-) mit relativ hoher Typefrequenz (stinken, trinken, sinken) 10 abbilden, vgl. Köpcke (1998), Bittner & Köpcke (2007). (5) Kunstverb soben Konjunktiv schwach sobte 8 11 58%
sobe 3
stark söbe 2 3 16%
säbe 1
sonstige Bildung sob 1 sobt 1 5 26%
söbte 3
Welche Ableitungsbasis weisen die in (5) aufgelisteten Konjunktivformen auf? Deutlich wird das, wenn wir ihnen die jeweils (von mindestens einer Versuchsperson) gebildeten Formen aus den anderen drei morphosyntak-
__________ 9
10
Unter sonstige Bildungen (sB) werden nur synthetische, keine analytischen Formen erfasst. Nicht mit 100% übereinstimmende Zeilensummen sind der Auf- und Abrundung geschuldet. Der Eintrag „---“ verdeutlicht, dass diese Form im zielsprachlichen System nicht gebildet werden kann. Beim Imperativ hätte nur von schleten eine (eindeutige) nichtschwache Form erwartet werden können. Vgl. aber auch phonematisch ähnliche schwache Verben wie blinken, klinken, winken. Der folgenden Übersicht sind Anzahl der gebildeten Einzelformen, Gesamtsumme und prozentuales Verhältnis der Formtypen zu entnehmen.
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tischen Kontexten (ohne Imperativform) zur Seite stellen. 11 Die Konjunktivformen sind durch Fettdruck hervorgehoben. (6) Mögliche Ableitungsbasen der Konjunktivformen Präsens als Ableitungsbasis: Partizip als Ableitungsbasis: gesoben sabt sab sobe gesoben sob sieb sob sob sab sobe gesoben Präteritum als Ableitungsbasis: sobt sobte sobte gesoben sobt sobte sobte gesobt söbe gesobt sobt sob sobt sobte söbte gesobt sobt sobte söbte gesoben
Ableitungsbasis unklar: sobt sobte sobe gesoben sobt sobte sobt gesobt sobt sob säbe gesobt
Beim prototypisch schwachen Verb(schema) 12 soben stehen 3 verschiedene Bildungsmuster (auch starke!) für die Konjunktivkodierung hervor: sobte, söbe/sobe und söbte, wobei die schwachen Bildungen, wie erwartet, deutlich überwiegen. Es konkurrieren verschiedene Ableitungsmöglichkeiten miteinander, dabei scheint eine Präferenz für ein Ableitungsverhältnis Präteritum Indikativ > Konjunktiv II vorzuliegen. Auch der Umlaut wird zur alleinigen Kennzeichnung des Konjunktiv II eingesetzt und die Form söbte zeigt eine doppelte Kennzeichnung des Konjunktiv II. Vergleichen wir nun die Daten mit einem prototypisch starken Verb(schema): (7) Kunstverb spinken Konjunktiv schwach spinkte 8 spinke 2 10 53%
stark spänke 4 5 26%
spönke 1
sonstige Bildung spang 1 pink 1 spänkte 2 4 21%
__________ 11
12
Kriterium der Ableitungsbasis ist die Formenidentität. Können Präsens und Partizip II zugleich als Ableitungsbasis zugrunde liegen, erscheint die Form unter der Ableitungsbasis ‚Präsens‘. Die Übersichten beschreiben jeweils das gesamte Formeninventar. Die Formen sind in folgender Reihenfolge angeordnet: Präsens (Singular), Präteritum (Singular), Konjunktiv II (Singular) und Partizip II. Zu prototypisch schwachem oder starkem Verb(schema) vgl. Köpcke (1998) und Bittner & Köpcke (2007).
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Andreas Bittner & Klaus-Michael Köpcke
(8) Mögliche Ableitungsbasen der Konjunktivformen Präsens als Ableitungsbasis: Präteritum als Ableitungsbasis: spinkt spinkte spinke gespunken spinkt spank spänke gespinkt Ableitungsbasis unklar: spinkt spinkte spang spinkt spunk spänke spinkt spinkte spänkte spinkt spinkte spänke spinkt spinkte spänkte spinkt spinkte spönke spinkt spink spink spinkt spinkte spinkte spinkt spinkte spinkte
gespinkt gespunken gespunken gespinkt gespunkt gespinkt gespunken gespunkt gespinkt
Das starke Verb(schema) weist eine große Anzahl schwacher Bildungen auf (spinkte), bei den nichtschwachen Bildungen dominiert ein (generell präferiertes) Ablautmuster (i-a), das außerdem umgelautet (starkes Konjunktivmuster?) wird (spang, spänke). Daneben treten wiederum doppelt gekennzeichnete Formen auf (spänkte). Auch hier lassen sich im Wesentlichen drei verschiedene Bildungsmuster für die Konjunktivkodierung feststellen. Das Verhältnis zwischen Präteritum Indikativ und Konjunktiv II ist allerdings unklar. Wir fassen die bisherigen Feststellungen zusammen und beginnen mit einer Übersicht aller Konjunktivformen, die bei den Tests mit Kunstwörtern in Münster gebildet wurden. (9) Mündliche und schriftliche Erhebung zu Kunstwörtern – Münster 2006 – 19 Kinder, 9-12 J. (mündl.)/22 Kinder, 10-12 J. (schriftl.) Kunstverben Konjunktivformen 13 schnasen schnaste schnäse schnäste schnöste schnast schnäst soben sobte söbe säbe söbte sobe sob sobt spinken spinkte spänke spönke spanke spänkte spang spink struten strutete sträte strüte strötete strute strut kleiben kleibte kläbe klieb kleibe kleibt knauten knautete knäute knäte knutete knaute knaut schleten schletete schläte schlöte schliet schlät schlete
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Formen, die den drei genannten Mustern der Konjunktiv II-Bildung entsprechen, sind kursiv hervorgehoben.
Ich würde, wenn ich wüsste, dass ich könnte …
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Zu registrieren sind drei konkurrierende Muster der Konjunktiv IIBildung. Es handelt sich dabei (wenig überraschend) mit schwacher (sw) – spinkte, sobte, starker (st) – spänke, söbe und gemischter Bildungsweise – spänkte, söbte um die aus der Konjugation realer Verben bekannten Muster. Alle drei Muster treten bei nahezu allen Kunstverben auf, häufig ist dabei keine klare Ableitungsbasis zu erkennen. Das spricht für die Annahme, dass der Konjunktiv wenig bis gar nicht tempusbasiert ist. Vor dem Hintergrund der fehlenden Eindeutigkeit des Ableitungsverhältnisses zwischen Präteritum Indikativ und Konjunktiv II drängt sich zum einen die Frage auf, in welchem Maße eigentlich eine synthetische Präteritum Indikativ-Form im Sprachgebrauch und im flexionsmorphologischen Wissen der Versuchspersonen präsent ist. Zum anderen verweisen die Daten darauf, dass entweder mehrere verschiedene Ableitungsbasen vorliegen – die Gründe der jeweiligen Auswahl durch die Sprecher hätten uns somit zu interessieren – oder eine Ableitung gar nicht vorgenommen wird, d.h. Muster für die Bildung des Konjunktiv II vorliegen, die nicht auf eine konkrete finite bzw. infinite Ableitungsbasis Bezug nehmen. Aus diesen Überlegungen resultiert die Idee, zur Verifikation der Annahmen einen vergleichbaren Test in einer deutschen Varietät mit sogenanntem Präteritumschwund 14 durchzuführen, in der der Konjunktiv II außerdem sehr häufig mit täte- bzw. würde-Auxiliar gebildet wird. In einer solchen Konstellation kann kaum von einer Ableitung des Konjunktiv II aus der Präteritum Indikativ-Form ausgegangen werden, weil eine synthetische Form des Indikativ Präteritum im Paradigma nicht vorhanden ist. Wir betrachten also Ableitungsbasis, Tempusbezug und Musterbildung bei Sprechern einer Varietät ohne synthetische (indikativische) Präteritalform und fragen, welche allgemeinen Schlüsse sich daraus ziehen lassen. 4.3 Testdesign Schweizerdeutsch (Luzern) An der Erhebung in Luzern, die erst nach der Auswertung der Testdaten aus Münster durchgeführt wurde, waren insgesamt 30 Kinder und Erwachsene beteiligt. Beim Luzerner Test hatten die Versuchspersonen 7 Kunstverben und 6 reale Verben in 4 morphosyntaktische Kontexte einzubetten – als Form der 3.Ps.Sg.Präsens, Präteritum, Konjunktiv II und als Partizip II. Auch hier gab es vorab eine Verdeutlichung der Aufgabe an Beispielen des Realwortschatzes. Nachdrückliche Bitte war, die Form des Konjunktiv II synthetisch zu bilden, bei der Abfrage der synthetischen
__________ 14
Zum Präteritumschwund, besser zum Fehlen einer synthetischen Symbolisierung des indikativischen Präteritums, vgl. z.B. Abraham & Conradi (2001) und Abraham (in diesem Band).
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Präteritalform waren Auslassungen ausdrücklich gestattet. In (10) wird ein Beispiel für die Konzipierung des Tests gegeben: (10) Mündliche Untersuchung realer Verben – Luzern (2007) – 19 Kinder (10-12 J.), 11 Erwachsene (22-83 J.) Testformat (schweizerdeutsch, Auszug): schimpfen Vergangenheit ohne hat/ist: Gegenwartsform:
Vergangenheit mit hat/ist: Möglichkeitsform:
Was tat Emil gestern? Æ Gestern ________________er mit Helga. (schimpfen) Was macht de Emil grad? Æ Das gsehsch doch. Är _________ grad mit de Helga. (schimpfen) Was hed de Emil letschti Woche gmacht? Æ Letschti Woche hed de Emil au met de Helga _________. (schimpfen) Was täti de Emil denn, wenn dHelga ehm siis Velo wägnähmti? Æ Denn __________________ er au med ehre. (schimpfen)
Für die Luzerner Daten gilt die für das Berndeutsche (Marti 1985) beschriebene Bildungsweise synthetischer Konjunktiv II-Formen. Es liegt eine agglutinierende Struktur vor, wobei drei Suffixe unterschieden werden können, die verbtypbezogen präferiert werden: Der Konjunktiv II starker Verben wird ohne Suffix oder mit -i (sang/sängi) gebildet, bei schwachen Verben wird -ti suffigiert (gerbti), bei den Modalverben nur -t (möcht). Allerdings ist diese Zuordnung nicht strikt, Sprecher wenden alle drei Suffixe auf alle Verbtypen an, wobei -ti den geringsten Restriktionen unterliegt, vgl. auch Nübling (1997). 4.4 Ergebnisse der Tests in Luzern Wir beginnen die Auswertung wieder mit der Darstellung der von den Probanden gebildeten Formen, vgl. (11).
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(11) Formen der mündlichen Untersuchung zu realen Verben und Kunstverben – Luzern 2007 (nur Kinder) real. Verb singen % beneiden % bringen % schimpfen % speisen % gerben % Kunstvb. kleiben % knauten % schleten % schnasen % soben % spinken % struten %
Präsens sw st kA 19 100 19 100 19 100 19 100 19 100 18 1 95 5 Präsens 18 95 18 95 19 100 17 2 90 11 18 1 95 5 19 100 19 100
1 5 1 5
Präteritum sw st 8 11 42 58 14 4 74 21 9 10 47 53 19 100 15 4 79 21 16 2 84 11 Präteritum 14 4 74 21 17 1 90 5 13 6 68 32 18 1 95 5 17 2 90 11 18 1 95 5 17 2 90 11
kA 1 5
1 5
1 5 1 5
Konjunktiv II sw st kA 15 4 79 21 14 4 1 74 21 5 12 6 1 63 32 5 19 100 18 1 95 5 11 7 1 58 37 5
Partizip II sw st 1 18 5 95 15 3 79 16 19 100 3 16 16 84 14 4 74 21 18 95
Konjunktiv II 14 4 1 74 21 5 15 3 1 79 16 5 13 6 68 32 15 4 79 21 17 2 90 11 19 100 17 2 90 11
Partizip II 18 95 17 1 90 5 16 3 84 16 18 1 95 5 17 2 90 11 16 3 84 16 18 1 95 5
kA 1 5
1 5 1 5
1 5 1 5
Die detaillierte Präsentation der Daten wird diesmal nicht am Beispiel der Kunstverben soben und spinken vorgenommen (beide weisen fast ausnahmslos die schwache Bildungsweise auf), sondern die Formen zweier realer Verben (singen und gerben) dienen der Verdeutlichung: 15
__________ 15
Da -ti bzw. -i als Konjunktivmarker quasi obligatorisch sind, ordnen wir die gemischten Formen hier der starken Bildungsweise zu (‚kA‘ bedeutet ‚keine Angabe‘). Die Formen sengti/sengt treten nahezu ausschließlich in paradigmatischer Beziehung mit singt auf und sind daher nicht mit den palatalen Formen sängte/sängi zu verwechseln. Der Kontrast zwischen den Formen ist deutlich hörbar.
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(12) singen schwach sengti 5 sengt 1 15 79%
singte 5 singt 1
Konjunktiv stark singti 3 sängi 1
sang 1
sängti 2
4 21%
(13) Mögliche Ableitungsbasen der Konjunktivformen Präsens als Ableitungsbasis: Ableitungsbasis unklar: sengt ... sengti gsonge singt ... sängi gsunge sengt ... singte gsonge singt ... singti gsunge singt ... sang gsunge singt ... singte gsungen gsonge sengt ... sängti gsonge sengt ... sengt gsunge singt ... singt singet ... singte singet Das Verb singen – Repräsentant eines prototypisch starken Flexionsmusters, hochfrequent hinsichtlich Type und Token – weist auffällig viele schwache Bildungen im Konjunktiv II auf (singti/e). Bei den nichtschwachen Bildungen lässt sich auf ein Ablautmuster (i-a) schließen, das außerdem umgelautet wird (sängi). Daneben treten doppelt gekennzeichnete Formen auf (sängti). Auch hier lassen sich drei verschiedene Bildungsmuster für die Konjunktivkodierung feststellen. Ein Ableitungsverhältnis zwischen Konjunktiv II und Präsens Indikativ bleibt vage, eins zwischen Konjunktiv II und Partizip II ist nicht festzustellen. Betrachten wir die Daten für ein (wenig tokenfrequentes) prototypisch schwaches Verb(schema): (14) gerben schwach gerbti 9 11 58%
gerbte 2
Konjunktiv stark gärbte 2 gärbti gärbi 2 gärbe 7 37%
gärb
k. A. 1 1 5%
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(15) Mögliche Ableitungsbasen der Konjunktivformen Präsens als Ableitungsbasis (?): Ableitungsbasis unklar: gerbed ... gerbti gerbet gerbt ... gärbi gerbt gerbet ... gärbe gärbet gerbt ... gerbte gegerbt gerbt ... gärbti gerbt gerbt ... gerbti gerbt ggerbt gerbt ... gärb gerbt ... gärbe gerbet ggerbet gerbe ... gärbi Beim prototypisch schwachen Verb(schema) gerben überrascht der große Anteil starker Bildungen des Konjunktiv II (gärbi/e). Das dabei auftretende Ablaut-Umlaut-Muster (e-a) ist erwartbar. Der Umlaut kann als alleinige Kennzeichnung des Konjunktiv II fungieren. Bei gerben erscheinen alle drei Bildungstypen für die Konjunktivkodierung, so treten neben schwachen Bildungen (gerbti/e) auch die doppelt gekennzeichneten Konjunktiv II-Formen auf (gärbti). Eine eindeutige Ableitungsbasis für den Konjunktiv II aus dem Präsens oder Partizip ist nicht erkennbar. In (16) erscheint eine Übersicht aller beim Luzerner Test gebildeten Konjunktivformen. 16 (16) Mündliche Erhebung zu realen Verben und Kunstverben – Luzern 2007 – VPs: 19 Kinder (10-12 J.), 11 Erwachsene (22-83 J.) Verben Konjunktivformen singen singti/e sängi sänge säng sang sängti beneiden benideti/e beniede benüdeti bringen bringti brengti bringi brängi brach brachti brächti bröchti schimpfen schempfti schömpf speisen speisti/spiesti gerben gerbti gärbi gärb gürbe gärbti gärbte
__________ 16
Das Verhalten von Kindern und Erwachsenen in diesem Test war nahezu identisch, in beiden Altersgruppen traten starke und gemischte Formen gleichermaßen auf. Wie schon bei den Münsteraner Daten, vgl. (9), sind die Formen kursiv hervorgehoben, die den drei im Fokus stehenden Bildungsmustern entsprechen.
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Kunstverben kleiben knauten schleten schnasen soben spinken struten
Konjunktivformen kleibti klibi klab klieb/e kliebti chläbti/kläbti knauti knuti knute kneute knäute knäuti knuntet schleteti schliti schläti schlieti schläte schlöte schnasti schniese schnöse schnose schnieste schnäseti schnästi sobti sabti söbe söbte spinkti spänke spängge struteti strüti strüte ströte strütete
Obwohl eine synthetische Form des Indikativ Präteritum im Paradigma fehlt, sehen wir uns in der schweizerdeutschen Varietät mit den gleichen Ergebnissen bei der Bildung des Konjunktiv II konfrontiert wie im Standarddeutschen. Bei den realen Verben wie auch bei den Kunstverben werden die drei schon oben genannten konkurrierenden Muster produktiv genutzt: singti, kleibti (sw), sängi/e, kli(e)bi/e (st) und sängti, kliebti/kläbti (gemischt). Eine Ableitungsrichtung für die Konjunktiv II-Form ist nicht eindeutig zu erkennen, es lässt sich lediglich ausschließen, dass das Partizip II als Basis einer solchen Ableitung in Frage kommt. 5. Interpretation der Ergebnisse Zunächst zeigen die erhobenen Daten beider Testreihen, dass alle Versuchspersonen darum bemüht waren, eine distinkte synthetische Kennzeichnung des Konjunktiv II herbeizuführen. Dabei favorisierten sie da, wo die Suffigierung offenbar nicht eindeutig genug erschien, zum einen die Umlautung des (infiniten bzw. präsentischen) Stammvokals zum anderen die Nutzung und (wenn möglich) Umlautung eines präferierten Ablautmusters. Auffallend häufig werden beide Strategien der Suffigierung und der Um- und Ablautung gleichzeitig genutzt, durch Mehrfachkennzeichnung wird für eine Kontrastverstärkung gesorgt. 17 Das geschieht in beiden Varietäten gleichermaßen, unabhängig davon, ob Präteritumschwund vorliegt oder nicht. Das synthetische Bildungspotential wird ziel-
__________ 17
Gallmann (2007: 23) verweist auf diese ‚Übercharakterisierung‘ am Beispiel von nähmte, gäbte, kämte, liesste: „Solche Formen sind im Schweizerdeutschen bei den hochfrequenten Verben so normal geworden, dass sie dort gar nicht mehr auffallen (sonst wird dort die syntaktische Strategie verfolgt, das heißt die Auxiliare täte oder würde verwendet): […] a) Also ich nähmti no 2 T-shirts und 1 Pulli ‚Also ich nähme noch 2 T-Shirts und 1 Pullover‘ (www.interweb.ch/cgi/…) b) Aber nei, du gäbtisch e perfekti Moderation ab! ‚Aber nein, du gäbest eine perfekte Moderation ab!‘ (www.forum.jesus.ch/…)“.
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sicher angesteuert, das spricht für die in Hypothese 1 vertretene Annahme, derzufolge an der synthetischen Bildung festgehalten wird. 18 Für die Richtigkeit unserer 2. Hypothese spricht die Beobachtung, dass die Versuchspersonen unter der Prämisse, distinkte synthetische Formen bilden zu wollen, in beiden Varietäten einfache schwache Formen mit Formen, die Ablaut-/Umlautmustern entsprechen, und ‚Mischformen‘ konkurrieren lassen. Wo kein Präteritumschwund vorliegt, weisen die schwachen Formen Identität mit dem Indikativ Präteritum auf, die Ablaut-/Umlautmuster und ‚Mischformen‘ sind für hochfrequente starke bzw. sogenannte unregelmäßige Verben typisch. Die Formen des Indikativ Präteritum werden als synthetische Kennzeichnung des Konjunktiv II reanalysiert. Die Ergebnisse aus dem Schweizerdeutschen, wo -ti/-te eindeutig als Konjunktivmarker identifiziert wird, stützen sowohl die Reanalysethese als auch die Annahme des Festhaltens an einer synthetischen Bildungsweise als Prozeduren kognitiver Prozesse. Gestützt werden diese Annahmen durch die Tatsache, dass eine Ableitungsrichtung für die Konjunktiv II-Form nicht eindeutig zu erkennen, d.h. die direkte Abhängigkeit des Konjunktivs vom Präteritum Indikativ etwa (und damit ein wichtiges formales Indiz für eine temporale Basierung) aus den Daten nicht ablesbar ist. Das könnte insgesamt darauf verweisen, dass keine Ableitung aus einer konkreten finiten oder infiniten Form des Paradigmas vorgenommen wird, sondern Muster für den Konjunktiv unabhängig von diesen Beziehungen einzig mit dem Ziel der Distinktivität der Konjunktivkennzeichnung gesucht bzw. kreiert werden. Dafür sprechen auch die in Nübling (1997: 110ff.) diskutierten Beobachtungen, dass mit -ie- im Berndeutschen und -uu- im Zürichdeutschen jeweils ein spezifisches Ablautmuster zur Konjunktivkennzeichnung favorisiert wird, das anders als die anderen Ablautmuster weniger vom Abbau betroffen ist und sich als Konjunktiv II-Marker auf andere starke und auch auf schwache Verben ausdehnt. Parallel dazu breitet sich aber auch die schwache -ti-Bildung auf alle Verbtypen aus – als reine schwache Form und als Mischform. Der Umlaut erscheint trotz seiner phonologischen Eingeschränktheit als produktiver Konjunktiv II-Marker, sein distinktives Potential zur Unterscheidung von Indikativ- und Konjunktivformen wird an folgenden Beispielen deutlich: Sie fehlten (Indikativ = Konjunktiv)/liefen (Indikativ = Konjunktiv)/froren/frören (Indikativ ≠ Konjunktiv) an diesem Tag. Bei den Tests wird der Umlaut partiell als Muster genutzt und auf Verben angewendet, die keine Umlautfähigkeit aufweisen.
__________ 18
Natürlich muss betont werden, dass eine vergleichende Studie zur Verwendung analytischer Formen und die dabei möglicherweise erfolgende Ersetzung synthetischer Formen noch aussteht.
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Die synthetische Konjunktivbildung folgt somit konkreten Distinktivitätsmustern, die sich außerdem zunehmend von einer Differenzierung ihrer Verwendung hinsichtlich starker oder schwacher bzw. regelmäßiger oder unregelmäßiger Verben lösen. Das bedeutet, dass die Sprecher miteinander konkurrierende Strategien zu Optimierung der (synthetischen) Konjunktivkodierung benutzen. Zu fragen ist, welche der drei Kodierungsstrategien (singte/gerbte – sänge/gärbe – sängte/gärbte) sich letztlich durchsetzen wird. Kriterien dafür sind klassische morphologische Strukturbildungsprinzipien wie Ikonizität, Transparenz, Uniformität, Wortlänge, Systemangemessenheit, vgl. Dressler et al. (1987). Die Beantwortung der Frage kann am Beispiel der wohl wegweisenden Entwicklung des Konjunktivsystems in den bairischen Mundarten illustriert werden, vgl. (17). Bis auf die Verben haben, sein, können und tun weisen dort alle Verben durchweg schwache Konjunktiv II-Bildungen auf. Die Anzahl der stark gebildeten Konjunktivformen nimmt zudem ständig ab, Mischformen werden nicht bei allen Verben gebildet, auch ihre Anzahl ist insgesamt abnehmend, vgl. Merkle (1993: 70ff.). (17) Bairische starke Konjunktiv II-Formen und ihre schwachen und gemischten Entsprechungen (Merkle 1993: 71f.) hochdeutsch 19 äße bliebe bräche fände fragte fräße gäbe geschähe ginge hinge käme läge läse liefe ließe nähme
starke Form aaß bliab braach fand friag fraaß gaab gschah gang hang kaam laag laas liaf liaß nahm
schwache Form essad bleiwad brechad finddad fragad fressad gewad gschäad gäad hengad kemad liegad lesad laffad lassad nehmad
gemischte Form aaßad
fandad
gaawad gangad hangad kaamad laagad
liaßad nahmad
__________ 19
Der Terminus Hochdeutsch steht bei Merkle (1993) für Standarddeutsch.
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Fortsetzung (17) hochdeutsch regnete sähe sänge schlüge spränge stänke stünde täte träge tränke trüge vergäße verschwände
starke Form rang saah sang schliag schbrang schdangg schdandd daad draaf drangg driag vagaaß vaschwandd
schwache Form rengad säad singad schlagad schbringad schdinggad schdäad dreffad dringgad dragad vagessad vaschwinddad
gemischte Form
sangad schbrangad schdanddad draafad
vagaßad vaschwanddad
Schwache Formen wie singte/gerbte sind also klar favorisiert. Ihre Bildung ist transparent (ohne Stammveränderung) und uniform (es konkurrieren keine unterschiedlichen Marker). Sie sind ikonisch, da die komplexere(n) Kategorie(n) formal additiv gekennzeichnet ist (sind) und sie sind systemangemessen, weil sie mit Abstand die größte Typefrequenz aufweisen. Damit sind die schwachen Formen den starken und gemischten hinsichtlich dieser morphologischen Struktureigenschaften deutlich überlegen. Sie kennzeichnen außerdem die jeweiligen Kategorien ausschließlich mit Hilfe overter (-t(e)) und nicht durch relationale Marker (Ablaut, Umlaut). Der Prozess ist vor dem Hintergrund eines Sprachwandels zu sehen, der den Übergang von starker zu schwacher Flexionsweise bewirkt. Die schwachen Bildungen verweisen wieder auf eine Ableitungsbasis, hierbei handelt es sich aber nicht um eine temporale, sondern die infinite Kennform. Dieses Entwicklungsszenario beschreibt allerdings vorerst nur die schweizerdeutschen und die bairischen Konjunktivverhältnisse (mit Präteritumschwund) hinreichend. Trotzdem kann eine solche Entwicklung auch für das Standarddeutsche prognostiziert werden. Hierfür sprechen die Testergebnisse aus Münster. Voraussetzung dafür ist die fehlende Präsenz einer synthetischen Indikativ Präteritum-Form im Gebrauchswissen der Sprecher, die aus dem formalen und kategoriellen Zusammenhang mit dem an ihre Stelle tretenden analytischen Perfekt (habe gesungen/hatte gesungen) resultiert, bei dem sich im Deutschen generell eine präteritale Lesart durchsetzt. Die Auswahl zwischen der synthetischen und der analytischen Variante ist hinsichtlich der Beschreibung sprachlicher Prozesse
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derzeit nicht funktional und gebrauchsbasiert, sondern präskriptiv auf der Basis des schriftlichen Standards gesteuert. Schriftlichkeit beeinflusst Meinungen über sprachliche Entitäten, hinsichtlich ihrer Zuordnung zu eher mündlichem oder schriftlichem Gebrauch, demzufolge ob sie standardoder umgangssprachlich sind. Es kollidieren also Prozesse des Spracherwerbs und der Sprachveränderung mit solchen synchroner Normierung, vgl. dazu und zum Präteritumschwund Abraham (in diesem Band). Die bloße Orientierung am Standard verwischt Entwicklungen, die sich im Erwerb und Wandel zeigen und durch Tests und informelle Daten aus dem Sprachgebrauch deutlich werden. Durch sie kann man beobachten, wie sprachlich kategorisiert und strukturiert wird, auch wenn Normierung darauf (noch) keinen Bezug nimmt. 6. Versuch einer Einordnung und Fazit Die dargestellten Daten der Studien sprechen insgesamt dafür, in der deutschen Konjunktivmorphologie neben einem Sprachwandelprozess von synthetischer zu analytischer Kodierung einen Prozess der synthetischen Muster- bzw. Schematabildung anzunehmen. Dieser Prozess ist weder nur auf hochfrequente unregelmäßige Verben noch auf das Memorieren einzelsprachlicher Tatsachen beschränkt. Morphologischer Wandel, der sich in Grammatikalisierungs- und Reanalyse- bzw. Reinterpretationsprozessen äußert, führt dazu, die letzte noch vorhandene morphologische Kodierungskapazität für die Kennzeichnung der komplexesten (verbmorphologischen) Kategorie zu funktionalisieren, als synthetische Kennzeichnung des Konjunktiv II. Die präteritale Indikativform schwindet also nicht, vielmehr ändert sich ihre Funktion. Sie wird als modale Form reanalysiert. Dieses Ergebnis korrespondiert mit Konzepten zur Komplexität, zur Entfaltung und zur Hierarchisierung grammatischer Kategorien (vgl. z.B. Bühler 1934, Mayerthaler 1981, Bybee 1985, Leiss 1995, 2008, Bredel & Lohnstein 2001) und mit Daten zum Erwerb der verbalen Flexionsmorphologie (z.B. Bittner 2005). Zur Erklärung des Zustandekommens ständiger Reanalyseprozesse, deren Konsequenzen die Grenzen zwischen synthetischer und analytischer Bildungsweise, also die zwischen Morphologie und Syntax, wechselseitig überschreiten, können typologisch-universalistische Überlegungen zur Wortstruktur und zur Kategorienabfolge herangezogen werden, die auf Bybee (1985) fußen und von Leiss (1995 und 2008) modifiziert und präzisiert wurden. Beide gehen von einer natürlichen Serialisierung („Affix Ordering“) von grammatischen Affixen im Wort (gebundene grammatische Morpheme) aus, die strikt einzuhalten ist und sich von der syntakti-
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schen Serialisierung (freie grammatische Morpheme) unterscheidet. Das allgemeine Muster der Kategorienabfolge (für Verben) ist Stamm-AspektTempus-Modus (ATM). Kann die Reihenfolge durch morphologische Kodierung nicht (mehr) realisiert werden, muss die Wortgrenze überschritten werden, im Sprachwandel entstehen analytische, also syntaktische Formen. Ein überzeugendes Beispiel liefert die Perfekt- und Plusquamperfektbildung im Deutschen. Die Realisierung der Aspektkategorie geschah im Althochdeutschen (neman (imperfektiv) – gineman (perfektiv) ‚nehmen‘) synthetisch, bei Einhaltung der Kategorienabfolge. Der Verlust der perfektiven Formen und das Fehlen reinterpretierbaren wortinternen morphophonetischen Materials führte zum Aufbrechen der Wortform und zum Ausweichen auf eine analytische Bildung zum Ausdruck von Aspekt (Perfektivität/Perspektivität): (18) ahd. gi - nam - i A T M
nhd. sie hat(te)/habe/hätte genommen T/M A
Außerdem ist von einer (gerichteten) natürlichen Zunahme kategorieller Komplexität, einem stufenweisen Aufbau von Kategorien auszugehen: Aspekt kann temporal interpretiert werden – die Tempuskategorie trägt Kategorieninhalte der Aspektkategorie in sich. Tempus kann modal interpretiert werden, d.h. die Moduskategorie trägt Kategorieninhalte der Kategorien Aspekt und Tempus in sich. Eine ursprüngliche Aspektkennzeichnung kann somit zu einer temporalen, eine temporale zu einer modalen werden, nicht aber umgekehrt. Eine ursprüngliche Perfektform wie hat genommen wird als Präteritum interpretiert, bei temporalen Formen wie in wir vermittelten gern oder sie wird lesen ist eine modale Lesart möglich – zur Einordnung vgl. auch Abraham (in diesem Band). Für unseren Zusammenhang bedeutet das, dass temporale Formen wie z.B. singte/gerbte als modale Formen gelesen werden können. Der Präteritalmarker -t(e) wird als Konjunktivmarker reinterpretiert, somit muss eine temporale (präteritale) Kodierung auf die analytische Bildung hat gesungen/gegerbt verlagert werden. Ein wortinterner Ausweg besteht in der Addition weiterer morphologischer Marker (singtete/gerbtete) und in zusätzlicher Stammmodifikation (sängte/gärbte). Die additive Anlagerung morphologischer Marker führt zu phonologischen Strukturen, die im Deutschen nicht präferiert werden können (Verstoß gegen das Prinzip der optimalen Wortlänge) und zu nichtfunktionalem Markersynkretismus. Die Formen sängte/gärbte halten dagegen die Kategorienabfolge (temporale Stammmodifikation, modales -t(e)) ein und weisen zudem separate Marker auf. Die Versuchspersonen wenden also eine probate Strategie an, kategorielle Zusammenhänge synthetisch zu repräsentieren. Die Kosten für diese
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Strategie liegen aber in eingeschränkter Transparenz und Uniformität. Zudem ist sie phonologischen Einschränkungen (Umlaut) unterworfen und mit schwindender (bzw. gänzlich fehlender) paradigmatischer Ableitungsbasis versehen. Grammatikalisierungs- und Reinterpretationsprozesse sind vom Vorhandensein morphologisch nutzbarer struktureller Substanz abhängig. Die wird im Verlauf diachronischer Prozesse des Deutschen geringer, womit sich die Repräsentation grammatischer Funktionalität bei der Reinterpretation ambiger Strukturen über Komponentengrenzen hinweg verschiebt. 20 Durch die Möglichkeit, analytischen Strukturen präteritale Lesarten zu geben, 21 wird synthetische Markerkapazität für den Konjunktiv freigesetzt. Mit der Reinterpretation der schwachen Indikativ Präteritum-Form als Konjunktiv II-Kennzeichnung entsteht eine Synkretismen vermeidende, ikonische, uniforme und transparente Form, die leicht zu erwerben und zu speichern ist und gegenüber dem analytischen Bildungstyp den Vorteil der Kürze aufweist. Die Reinterpretation der ganzen Form als Konjunktiv II erfolgt, weil kein weiterer Kategorienmarker angelagert werden kann, um Modus neben Tempus zu kennzeichnen. Zudem reicht die distinktive Kapazität der Ablaut-/Umlaut-Konstellation für die Unterscheidung der beiden Kategorien nicht aus. Der Ausweg liegt in der ohnehin vorhandenen Möglichkeit der analytischen Bildung der weniger komplexen temporalen Kategorie. 22 Die Chancen des Erhalts einer synthetischen Symbolisierung des Konjunktivs stehen also nicht schlecht. Der entgegengesetzte Weg, die Grammatikalisierung von analytischen zu synthetischen Bildungen, ist standardsprachlich wohl eher nicht in Sicht. Diese Grammatikalisierungsrichtung setzt eine obligatorisch feste und unmittelbare Reihenfolge der verbalen Elemente (Kategorienabfolge) voraus (kommen täte/würde). Prinzipien der verbalen Klammerbildung des Deutschen und der mit ihr verbundenen Abfolge von Auxiliar vor infinitem Element befördern diesen Prozess nicht, vgl. Bittner (in diesem Band). Für die Nebensatzstruktur des Standards und des Substandards gilt jedoch: Ich würde, wenn ich wüsste, dass ich können täte/würde.
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Grammatikalisierungsprozesse von synthetisch zu analytisch verlaufen nicht gradlinig, die Entstehung bzw. Reinterpretation synthetischer Formen tritt solange auf, wie Potential dazu verfügbar ist, vgl. Wurzel (1996). Die Kanonisierung einer (sekundären) Lesart macht die Umkehrung eines Sprachwandelprozesses so gut wie unmöglich. Man könnte darüber spekulieren, ob ein solcher Erklärungsansatz nicht zugleich auch Argumente für den Präteritumschwund liefert.
Ich würde, wenn ich wüsste, dass ich könnte …
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Andreas Bittner & Klaus-Michael Köpcke
zum internationalen Symposium über „Natürlichkeitstheorie und Sprachwandel“. Bochum: Brockmeyer, 237-251. Leiss, Elisabeth (2008), Grammatical Complexity and Affix Ordering. A typological and diachronic approach to the theory of word structure. Vortrag, Workshop on affix ordering anlässlich der 13. Internationalen Morphologietagung Wien, 2.-3. Februar 2008. Marti, Werner (1985), Berndeutsch-Grammatik für die heutige Mundart zwischen Thun und Jura. Bern: Francke. Mayerthaler, Willi (1981), Morphologische Natürlichkeit. Wiesbaden: Athenaion. Merkle, Ludwig (1993), Bairische Grammatik. München: Hugendubel. Nübling, Damaris (1997), Der alemannische Konjunktiv II zwischen Morphologie und Syntax. Zur Neuordnung des Konjunktivsystems nach dem Präteritumschwund. In: Ruoff, Arno & Peter Löffelad (Hrsg.), Syntax und Stilistik der Alltagssprache. Tübingen: Niemeyer, 107-121. Wurzel, Wolfgang U. (1996), Morphologischer Strukturwandel: Typologische Entwicklungen im Deutschen. In: Lang, Ewald & Gisela Zifonun (Hrsg.), Deutsch – typologisch. IDS-Jahrbuch 1995, Berlin & New York: de Gruyter, 492-524.
Tanja Mortelmans & Elena Smirnova Plusquamperfektkonstruktionen mit Modalverb im Deutschen Abstract
Aim of the present contribution is to reveal the functional realm of two types of ‚analytic’ pluperfect constructions containing a modal verb in present-day German: one with an indicative finite verb (hatte) and one with a conjunctive finite verb (hätte). The main focus lies on the conjunctive type (e.g. hätte sagen sollen ‚should have said’), the basic function of which is claimed to lie in the unambiguous marking of past time nonfactuality (which typically equals counterfactuality) of the state of affairs. This construction has developed out of a previous ‚synthetic’ construction of the type sollte gesagt haben (i.e. modal verb + perfect infinitive), which still exists in present-day German. Its functional range, however, is restricted to present time ‚open’ (i.e. unresolved) factuality, whereby the modal verb can have either epistemic or deontic meaning. As such, a functional differentiation between the older synthetic and the newer analytic construction can be said to have taken place, which is fully in line with the general tendency in present-day German to mark mood distinctions analytically.
1. Einführung Analytische Modalverbkonstruktionen im Konjunktiv und im Indikativ Plusquamperfekt wurden bislang als ein peripherer und wenig attraktiver Forschungsgegenstand der germanistischen Sprachwissenschaft eher vernachlässigt (vgl. aber trotzdem u.a. Westvik 1994, Diewald 1999: 361-383, Leirbukt 2002, Mortelmans 2008), sie bieten aber – wie noch zu zeigen sein wird – eine interessante Perspektive auf die Herausbildung des konjunktivischen Paradigmas im Deutschen. Die besagte Konstruktion besteht aus drei Elementen: dem finiten Auxiliar haben im Konjunktiv II bzw. im Indikativ, dem Infinitiv eines beliebigen Vollverbs und dem sogenannten Ersatzinfinitiv des Modalverbs (zum Thema Ersatzinfinitiv vgl. etwa Ponten 1973, Askedal 1991, Eisenberg et al. 2001). Das Schema in (1) stellt die Konstruktion dar, und zwar sowohl in ihren Haupt- als auch in ihren Nebensatzverwendungen: Das finite Verb steht bekanntlich auch im Nebensatz an erster Stelle, während das infinite Modalverb die Klammer schließt. (1) hätteKONJII/hat(te)IND weil er sein Geld hätte/hat(te)
InfinitivVollverb
ErsatzinfinitivMV
abgeben
müssen
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Wie u.a. Westvik (1994) und Diewald (1999: 361-383) dargelegt haben, löst die Konstruktion im Deutschen eine ältere Konstruktion ab, die bis ins Mittelhochdeutsche belegt gewesen sei (2a) und im Englischen (2b) sowie in den skandinavischen Sprachen (2c) immer noch vorliege. Im Gegensatz zur neuen Konstruktion liegt das finite Verb (kunde, might, kunne) in der alten Konstruktion als synthetische Form vor. Die synthetische Form wird aber durch eine analytische Struktur (mit dem Auxiliar haben) abgelöst. (2) a. [von Veldeke der wîse man] der kunde si baz gelobet hân (Parz. 8, 404, 29f.) ,der könnte (konnte) sie besser gelobt haben‘ ‚der hätte sie besser loben können‘ bzw. ‚der könnte sie besser gelobt haben‘ b. He might have been there. c. Hun kunne ha hjulpet ham. Ziel dieses Beitrags ist es, die Gründe für die Ablösung im Deutschen aufzudecken. In der Regel wird angenommen, dass die Entwicklung der epistemischen Modalverbbedeutung der auslösende Faktor ist. Wir werden hier die These vertreten, dass auch das kommunikative Bedürfnis, Nichtfaktizität klar und eindeutig zu markieren, zu dieser Aufspaltung maßgeblich beigetragen hat. Der Beitrag ist folgendermaßen aufgebaut: In Abschnitt 2 skizzieren wir den synthetischen Vorläufer der Konstruktion, der durch ein hohes Maß an Ambiguität gekennzeichnet ist. In Abschnitt 3 untersuchen wir die analytische konjunktivische Konstruktion im heutigen Deutsch, die in Abschnitt 4 mit ihrem indikativischen Pendant verglichen wird. Schließlich fassen wir in Abschnitt 5 die wichtigsten Ergebnisse noch einmal zusammen. 2. Die ursprüngliche Konstruktion: „präteritales“ Modalverb + „Infinitiv Perfekt“ In (2a) wird eine finite präteritale Form eines Modalverbs mit einem Infinitiv Perfekt, d.h. einem Partizip II und einer Form von haben bzw. sein, kombiniert. Diese Konstruktion ist aus verschiedenen Gründen ambig.
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Zum einen kann das Modalverb sowohl dynamisch 23 als auch epistemisch interpretiert werden. Im ersten Fall geht es „um die vergangene (daher gegenwärtig „irreale“) Fähigkeit bzw. Möglichkeit des Subjekts, die im Infinitiv dargestellte Handlung auszuführen“ (Diewald 1999: 369), während der Satz in der epistemischen Lesart eine Faktizitätseinschätzung des Sprechers bezüglich eines vergangenen Sachverhalts zum Ausdruck bringt. Der semantische Unterschied ist mit einem syntaktischen Skopusunterschied verbunden: In der dynamischen Lesart liegt (typischerweise) enger Skopus vor, d.h. das Modalverb bezieht sich auf das Subjekt, während die epistemische Lesart eine Skopuserweiterung mit sich bringt, das Modalverb also den gesamten Sachverhalt im Skopus hat. Zum anderen lässt sich der Modus des finiten Modalverbs im Mittelhochdeutschen nicht genau bestimmen: kunde kann in (2a) daher sowohl als Konjunktiv wie auch als Indikativ eingeordnet werden. Ähnlich lassen sich auch die meisten anderen Modalverben interpretieren, deren Präteritalformen im Mittelhochdeutschen ebenfalls Synkretismus hinsichtlich Indikativ und Konjunktiv Präteritum aufweisen (vgl. Birkmann 1987: 207-215). 24 Ein dritter Faktor, der zur Ambiguität der Konstruktion beiträgt, ist der Status des Infinitivs: Er kann sowohl als Infinitiv Perfekt im heutigen Sinne oder als „eine Übergangsstufe, die zwischen der alten Funktion des Partizips II als Objektsprädikativ […] und dem nhd. Infinitiv II liegt“ (Diewald 1999: 372), interpretiert werden. Diese ursprüngliche „synthetische“ Konstruktion liegt im heutigen Deutsch immer noch vor, insbesondere (aber keineswegs ausschließlich, s. unten) wenn das finite Modalverb epistemische Bedeutung trägt. Die Herausbildung einer epistemischen Modalverbbedeutung findet bekanntlich im Laufe des 16. Jahrhunderts statt (vgl. Fritz 1991, Diewald 1999: 364), d.h. in der Zeit, in der die Spaltung der analytischen von der synthetischen Ausgangskonstruktion stattfindet. Die gängige Erklärung für die stattgefundene Spaltung ist, dass es eben die Entstehung der epistemischen Modalverbbedeutung ist, welche die nichtepistemischen Lesarten des Modalverbs gleichsam aus der älteren (synthetischen) Konstruktion verdrängt hat (vgl. Westvik 1994: 160; Diewald 1999), wobei „die alte Bedeutung sozusagen eine neue Struktur, die Modalverbperiphrase, suchen muß (wenn sie nicht vollständig verloren geht wie z.B. im Englischen)“ (Die-
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Dynamische Modalität (auch als dispositionelle Modalität bezeichnet, vgl. Diewald 1999: 76) bringt innere und äußere Fähigkeiten und Bedürfnisse des Subjekts (oder allgemeiner: des ersten Arguments des Verbs (vgl. Nuyts 2006) zum Ausdruck. Es handelt sich also um eine Bedeutung, die im Gegensatz zur epistemischen Bedeutung nicht am Sprecher als modaler Quelle orientiert ist. Es handelt sich konkret um die Formen kunde, dorfte, solde, muose/muoste und welde/wilde/ wolde.
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wald 1999: 382). 25 Einiges spricht allerdings gegen diese Erklärung. Wichtig ist erstens, dass sich die epistemische Bedeutung der Modalverben im Deutschen viel weniger stark etabliert hat als im Englischen, wo die epistemische Bedeutung bei manchen Modalverben sogar die quantitativ vorherrschende ist (etwa bei must ist dies der Fall, vgl. Tagliamonte 2004). Im Deutschen hingegen stellen epistemische (bei Diewald: ‚deiktische‘) Verwendungen bei keinem einzigen Modalverb mehr als ein Fünftel aller Vorkommen dar, wie folgender Tabelle (Diewald 1999: 217) zu entnehmen ist. 26 dürfen mögen sollen können müssen wollen
Gesamtvorkommen 38 48 100 319 182 152
davon deiktisch 6 (15,8%) 7 (14,6%) 8 (8%) 23 (7,2%) 9 (4, 9%) 0 (0%)
Tabelle 1: Anzahl epistemischer Modalverbverwendungen im gesamten Verwendungsspektrum der Modalverben (Diewald 1999: 217)
Zweitens ist zu bemerken, dass Modalverben in der synthetischen Konstruktion auch im heutigen Deutsch sowohl nicht-epistemische (vgl. 3a-d) als auch epistemische (vgl. 3e-f) Bedeutungen haben können, wie aus folgenden über Google gesammelten Originalbelegen hervorgeht. (3) a. Ein paar Sätzchen, die ich gerne gesagt haben möchte: […] 27 b. 101 Dinge, die man getan haben sollte, bevor das Leben vorbei ist. c. Ich bin sogar der Meinung, dass jeder Hi-Fi Begeisterte diese Lautsprecher einmal im Leben gehört haben müsste.
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Diewalds Aussage stimmt allerdings nicht ganz: Modalverben wie should, could und must haben die nichtepistemische Bedeutung in der besagten Konstruktion nicht völlig aufgegeben, vgl. You should have said something; Was Ted Kennedy knighted because he's the only person in the senate that could have swum the English Channel?; Applicants must have completed their PhD by the start of the appointment. Ähnliche Verhältnisse ergeben sich aus der Korpusuntersuchung in Mortelmans (1999), die sich allerdings nur mit den Modalverben sollen, müssen und dürfen befasst. Die Korpusuntersuchung in Nuyts (2000) bestätigt die relativ niedrige Frequenz der epistemischen Lesart für können (13% der können-Belege sind epistemisch, davon schwanken nicht weniger als 12,2% zwischen einer dynamischen und einer epistemischen Lesart (Nuyts 2000: 187). Es ist einigermaßen umstritten, ob die Form möchte noch als Konjunktiv II von mögen betrachtet werden kann oder vielmehr als selbständiges Lexem. Epistemische Verwendungen liegen bei möchte jedenfalls nicht vor.
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d. Die Punkte dieses Kreises sind jene Punkte, die der Reiter nach der Zeit t erreicht haben könnte. [es handelt sich um eine objektive Möglichkeit, TM & ES] e. Aber ich denke schon, da ich bei der Arbeit auch nicht leise war und er mich dadurch auch gehört haben müsste. f. Sie spielt eine einerseits toughe Journalistin, rennt aber von einer Falle in die nächste und hat noch einer [sic] der lächerlichsten Bettszenen, die man je im Kino gesehen haben dürfte. Sowohl die relativ niedrige Frequenz der epistemischen Bedeutung als auch die Tatsache, dass die nicht-epistemische Bedeutung auch heute noch in der synthetischen Konstruktion vorliegen kann, lassen die Annahme, dass allein die Entwicklung der epistemischen Bedeutung der Modalverben den radikalen Strukturwechsel im Deutschen ausgelöst habe, nicht sehr plausibel erscheinen. Sonst hätte man eine ähnliche Entwicklung auch im Englischen erwarten können; das Englische hat aber die alte ambige Konstruktion erhalten, mit beiden Lesarten. Deshalb sind wir der Meinung, dass neben der Entwicklung der epistemischen Bedeutung ein zusätzlicher Faktor die Entstehung der analytischen Konstruktion im Deutschen ausgelöst hat, und zwar die eindeutige Markierung der (typischerweise vergangenen) Nichtfaktizität, wie sie durch die Konjunktivform hätte erfolgt. 28 Die frühere synthetische Modalverbkonstruktion (mit dynamischer, deontischer oder epistemischer modaler Bedeutung) war ja nicht in der Lage, vergangene Nichtfaktizität eindeutig zum Ausdruck zu bringen. Durch die Entwicklung der analytischen Konstruktion entsteht aber eine funktionale Verteilung, bei der die vergangene Nichtfaktizität analytisch, und zwar durch die finite Form hätte in Kombination mit einem Infinitiv und einem Ersatzinfinitiv zum Ausdruck gebracht wird, genauso wie gegenwärtige 29 Potentialität durch würde (und analog dazu durch ein Modalverb im Konjunktiv II) mit Infinitiv ausgedrückt werden kann: würde gehört unter anderem zu den analytischen Ausdrucksmitteln des Konjunktivs II (vgl. Smirnova 2006; zu analytischen Strukturen mit Distanzstellung (Klammerkonstruktionen) im Allgemeinen vgl. auch Bittner in diesem Band).
__________ 28
29
„Vergangene Nichtfaktizität“ ist oft (aber nicht zwangsläufig) der Kontrafaktizität gleichzusetzen, während „gegenwärtige Nichtfaktizität“ grundsätzlich stärker zu einer potentialen Interpretation tendiert. Es steht aber fest, dass die vergangene Nichtfaktizität die semantisch markierteste Kategorie darstellt. Ronneberger-Sibold (1980: 60) bezeichnet würde als einen „Konjunktiv der Gleichzeitigkeit“.
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Das Paradigma sieht dann folgendermaßen aus: Konj Prät (Gegenwartsstufe): würde sagen/könnte sagen/müsste sagen/dürfte sagen/sollte sagen Konj Plusquampf. (Vergangenheitsstufe): hätte gesagt/hätte [sagen können]/hätte [sagen müssen]/hätte [sagen sollen] /… Dieses Paradigma ähnelt sehr stark dem reduzierten konjunktivischen Verbparadigma, wie es in Eisenberg (2005) dargestellt wurde. Dessen Paradigma soll die maximal analytischen Kodierungsmöglichkeiten erfassen, die es für die schwachen Verben mit haben-Perfekt im Deutschen gibt. 30 Präs Pf
Ind hörst gehört hast
Konj hören würdest gehört hättest
Tabelle 2: Das maximal analytische Konjunktiv II-Paradigma (auf der Grundlage von Eisenberg 2005)
Dazu schreibt Eisenberg: Die im Althochdeutschen erkennbare Tendenz, die Formen des höchstmarkierten Teilparadigmas (Konj Prät) gegenüber dem unmarkierten (Ind Präs) nicht allein durch das Endungssystem, sondern durch weitere Mittel formal zu ‚überdifferenzieren‘ ist zum Prinzip der Modusunterscheidung geworden. (Eisenberg 2005: 36).
Nach Eisenberg (2005: 37) ist „der analytische Konjunktiv auch in der Standardsprache unvermeidlich geworden.“ Unsere Hypothese ist demnach die folgende: Eine präterital-kontrafaktische Lesart der Konstruktion sollte/müsste/könnte gesagt haben wurde als störend empfunden und ist deshalb beseitigt worden, weil sie die sich seit Langem anbahnende Symmetrie im deutschen Modusparadigma verhinderte. Die synthetische Konstruktion als solche verschwindet nicht, sie wird aber – in Analogie zur würde+Infinitiv-Konstruktion – dem (temporalen) Präsensparadigma (vgl. Tabelle 2) zugeordnet.
__________ 30
Nach Bittner & Köpcke (in diesem Band) ist aber nicht zu erwarten, dass synthetische Konjunktiv II-Formen im Deutschen völlig aufgegeben werden. Neben analytischen Tendenzen in der Konjunktivmorphologie gebe es im Konjunktivbereich ebenfalls einen Prozess der synthetischen Schemabildung, bei der der ursprünglich präteritale (d.h. temporale) Marker -te als Konjunktivmarker reinterpretiert werde.
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3. Die ‚neue‘ analytische Konstruktion im Konjunktiv II Welche Verwendungen weist die analytische Konjunktivkonstruktion im heutigen Deutsch auf? Um dieser Frage nachzugehen, haben wir eine Korpusuntersuchung durchgeführt auf der Grundlage des HamburgerMorgenpost-Korpus (Jahrgänge 2005 und 2006) des Instituts für deutsche Sprache (Mannheim). Alle Belege für sollen, müssen, können, dürfen, mögen und wollen in der betreffenden Konstruktion wurden gesammelt (Suchformel: hätte/+s0 Modalverb) und nicht einschlägige Belege manuell entfernt. Zum Vergleich wurden außerdem die indikativischen analytischen Formen (sowohl im Indikativ Plusquamperfekt als auch im Perfekt) gezählt. Eines fällt bei der Sichtung der Korpusbelege gleich auf: die Tatsache, dass die konjunktivischen Vertreter auffällig frequent sind. Mit Ausnahme von wollen findet sich die konjunktivische Konstruktion bei allen Modalverben viel häufiger als die indikativische. 31 Diese vorläufige Beobachtung kann noch ein wenig spezifiziert werden. (a) Bei den Modalverben müssen und können ist die konjunktivische Konstruktion stark vertreten. Gleichzeitig sind auch indikativische Verwendungen – was ihre absolute Tokenfrequenz angeht – nicht selten (dies gilt insbesondere für müssen). Bei den Modalverben sollen und dürfen liegt ebenfalls eine Dominanz der konjunktivischen Konstruktion vor. Indikativische Belege sind bei sollen und dürfen aufgrund ihrer niedrigen Frequenz allerdings eher zu vernachlässigen. (b) wollen: Nur beim Modalverb wollen ist die indikativische Konstruktion (im Plusquamperfekt) eindeutig frequenter als die konjunktivische – in dieser Hinsicht tanzt wollen also völlig aus der Reihe.
__________ 31
Im Folgenden wird mögen aufgrund seiner sehr niedrigen Frequenz nicht weiter berücksichtigt.
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Hamburger Morgenpost KONJ hätte MV IND hatte MV IND hat MV Insgesamt
müssen
können
sollen
dürfen wollen
mögen
286 76 62 424
296 32 16 (46) 26 (69) 338 (411)
112 8 3 123
48 2 4 53
2 0 0 2
22 62 9 93
Tabelle 3: Vorkommen von hätte bzw. hat(te) + Modalverb im Korpus Hamburger Morgenpost (2005/2006)
An dieser Stelle stellt sich die Frage, ob unsere These, dass das kommunikative Bestreben nach eindeutiger Markierung der Nichtfaktizität zur Spaltung in eine synthetische und eine analytische Modalverbkonstruktionen mit unterschiedlichen Bedeutungen führte, durch die Zahlen widerlegt oder bestätigt wird. Folgende Annahme ist für unsere These wichtig: Wenn allein die Entwicklung der epistemischen Bedeutung der Modalverben die Spaltung der ursprünglichen Konstruktion in zwei unterschiedliche Konstruktionen herbeigeführt hat, ist zu erwarten, dass die Modalverben in der neuen ‚analytischen‘ Konstruktion keine epistemische Bedeutung haben. Diese Erwartung wird aber nicht bestätigt: Epistemische Belege lassen sich sogar relativ leicht finden, wie auch Leirbukt (2002: 72) und Mortelmans (2008) gezeigt haben. Es handelt sich dabei allerdings in der Regel um Belege, in denen das Modalverb laut Diewald (1999) eine „objektiv epistemische“ Bedeutung hat. Bei dieser Modalitätsart bezieht sich der Sprecher „auf außersprachliche Umstände beliebiger Art, die als „Evidenz“ gelten, d.h. von deren Bestehen sich das Bestehen der Notwendigkeit oder Notwendigkeit der Wahrheit der Proposition ableitet. […] [E]s handelt sich nicht um eine „subjektive“ Sprecherbewertung, sondern um eine „objektive“ Feststellung von bestehenden Zusammenhängen, im Extremfall um einen logischen Schluß“ (Diewald 1999: 81f.). Es sei hervorgehoben, dass auch bei dieser objektiv epistemischen Modalität der Zusammenhang zwischen äußeren Umständen und dem sich daraus ableitenden Sachverhalt vom Sprecher festgestellt wird, was solche Belege mit subjektiv-epistemischen Belegen verbindet. 33 Ein Beispiel für eine objektiv epistemische Verwendung von müssen bietet Beleg (4). Der Sprecher verweist auf Indizien (gerichtliche Auseinandersetzungen, eine Menge von Bankrotterklärungen), die die Agentur für Arbeit
__________ 32 33
Aufgrund der hohen Belegzahl wurden für konjunktivisches hätte können nur die Vorkommen im 2005-Korpus gezählt. Die Zahlen für die indikativischen Verwendungen betreffen sowohl den Jahrgang 2005 allein als die kombinierten Jahrgänge 2005-2006 (in Klammern). Ein weiteres Merkmal der objektiv epistemischen Bedeutung ist, dass die modale Quelle typischerweise propositional ist, d.h. sie wird als Umständequelle (Konditionalsatz, Adverbial) oft explizit genannt.
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hätten stutzig machen müssen (aber offensichtlich nicht gemacht haben, weil die Agentur einfach nicht ins Handelsregister geschaut hat). (4) Überprüft die Agentur Arbeitgeber, die Förderanträge stellen, denn nicht? Seit Jahren ist Alexander Z. im Rotlichtmilieu tätig, war mehrfach in gerichtliche Auseinandersetzungen verwickelt. Ein Blick ins Handelsregister hätte die Agentur für Arbeit stutzig machen müssen: Kaum, dass er eine Firma in die Pleite getrieben hat, machte Z. eine neue auf. Dass diese Verwendung von hätte müssen der genuin subjektiv epistemischen stark ähnelt, zeigt folgender Beleg, in dem das Modalverb müsste als subjektiv epistemisch zu interpretieren ist. Der sprachliche Kontext dieses Belegs entspricht dem von (4): In den beiden Fällen haben wir die Wendung stutzig machen im Komplement und die Angabe von Umständen, die den infinitivischen Sachverhalt nahe gelegt haben (die Tatsache, dass Z. immer neue Firmen gegründet hat, nachdem ältere pleite gegangen waren in (4); die Tatsache, dass die Bonbons nach mehr als einem Jahr noch nicht verzehrt worden sind in (5)). (5) Allein die Tatsache, dass die Bonbons schon über 1 Jahr in meinem Haushalt sind, müsste Euch stutzig gemacht haben. Das müsste heißen, dass ich sie nicht so toll finde. Naja, genauso ist es auch. Mit Banane haben die Bonbons nicht viel zu tun. Sie lösen sich sehr lansam auf, schmecken eigentlich nach gar nichts. (http://www.ciao.de/Vivil_Creme_Life_Banane__Test_3114687) Der Unterschied zwischen (4) und (5) liegt darin, dass die eingebettete Proposition in (4) eindeutig nichtfaktisch ist (es hat sie nicht stutzig gemacht), während sie in (5) als ‚weder faktisch noch nicht faktisch‘ gilt: Der Sprecher bringt eine sehr hohe, auf Evidenzen basierende Wahrscheinlichkeit zum Ausdruck. Ein anderes Beispiel für eine (objektiv) epistemische Verwendung der analytischen Konstruktion hätte müssen bietet folgender Beleg (6). (6) Als die rote Lampe am einarmigen Banditen zu leuchten begann, begriff Jo Ann Argyris zunächst nicht, was gerade passiert. Dabei hätte der 54-jährigen Hausfrau aus Bolder City (US-Bundesstaat Nevada) das Symbol bekannt vorkommen müssen. Sie hatte sie nämlich vor einem Jahr schon einmal gesehen ...
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Aufs Neue zeigt der Vergleich mit dem eindeutig subjektiv epistemischen Beleg (7), dass die Bedeutung von müssen in (6) stark in die Richtung epistemischer Modalität tendiert. (7) Es wurde ein silberner 911 Targa draus, mit großem Glasdach. „Das erste Mal im eigenen Porsche vom Hof zu fahren, das ist wie die erste Freundin“, sagt Pflaume. „Eine Legende. Das vergisst man nicht.“ Das Gefühl muss ihm bekannt vorgekommen sein - seine Frau hatte Pflaume schon vor dem ersten Porsche kennen gelernt. [http://www.welt.de/print-wams/article112014/ Nur_ein_Porsche_zaehlt.html] Der objektiv epistemische Beleg (6) unterscheidet sich von dem subjektiv epistemischen Beleg in (7) dadurch, dass die durch müssen kodierte (positive) Einschätzung in (6) durch den Konjunktiv II gleichsam überlagert wird, sodass der eingebettete Sachverhalt als nichtfaktisch dargestellt wird (dies geht auch aus dem Kontext hervor: „begriff Jo Ann Argyris zunächst nicht, was gerade passiert“). Im Gegensatz dazu wird dem Sachverhalt in (7) ein offener Faktizitätsgrad zugewiesen, wobei sich der Sprecher nicht auf die Faktizität bzw. Nichtfaktizität festlegt. Auch kontrastive Belege mit „epistemischem“ können (8a-b) und sogar dürfen (9a-b) sind im Korpus vertreten. Besonders beim analytischen können ist schwer zu entscheiden, ob wir es mit epistemischer Modalität zu tun haben oder mit sog. „situationeller“ Modalität, einem Sonderfall von dynamischer Modalität, bei der das Modalverb nicht die Fähigkeit oder das Bedürfnis eines festumrissenen Satzaktanten charakterisiert, sondern „a potential or a necessity/inevitability inherent in the situation described in the clause as a whole” (Nuyts 2006: 4). Auf jeden Fall unterscheidet sich die analytische von der synthetischen Konstruktion dadurch, dass in der analytischen Konstruktion die epistemische Lesart von der kontrafaktischen überlagert wird. (8) a. ANGST AUF DEM LTU-FLUG VON MÜNCHEN NACH BANGKOK Ich bring euch alle um - 45-Jähriger randaliert - Pilot dreht um - Passagiere flippen aus MÜNCHEN. Vielleicht hätte man es schon vor dem Start merken können. Da steigt am Montagabend ein komischer Typ am Münchner Flughafen in den Airbus nach Thailand, Kopftuch um, zerrissenes Hemd und abgeschnittene Jeans an. b. WDR.de: Falls die Türkei im Nordirak interveniert: Drohen dann auch hier wieder Aktionen der PKK wie zuletzt in den 90-er Jahren? Mit Selbstverbrennungen und besetzten Konsulaten? Buchen: Das ist eine schwierige Frage. Besonders die Selbstverbrennungen haben damals sehr verstörend auf
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die deutsche Gesellschaft gewirkt. Die PKK könnte gemerkt haben, dass sie mit solchen Aktionen nicht die Wirkung erzielt hat, die sie wollte. [http://www.wdr.de/themen/politik/international/monitor/071 025.jhtml] (9) a. Spätestens in dieser „blauen Stunde“ aber hätte es Regisseur Josef Köpplinger dämmern dürfen, dass in diesem Märchen mehr steckt, dass Klangverliebtheit nicht zwangsläufig zu Bilderverliebtheit (Rainer Sinell hat zauberhafte Bilder geschaffen, Marie Luise Walek farbtrunken-verspielte Kostüme) führen sollte. b. Eine neue Wohnung in Wiesbaden war gefunden. Zwei Jahre wollte Eichel die hessische SPD noch führen, als Abgeordneter auf der Oppositionsbank dafür sorgen, „daß Rot-Grün eine Perspektive bleibt“ und dann 2003 endgültig privatisieren. Kurz nach 16 Uhr am Donnerstag dürfte dem abgewählten Ministerpräsidenten gedämmert haben, daß alles ganz anders kommen würde. Da berichtete Bundeskanzler Gerhard Schröder dem Parteifreund telefonisch, Finanzminister Oskar Lafontaine sei zurückgetreten. [R99/MAR.20299 Frankfurter Rundschau, 13.03.1999, S. 4, Ressort: NACHRICHTEN] Die obigen Belege zeigen, dass die Annahme von Reis (2001), dass es im Deutschen infinite Modalverbformen mit epistemischer Lesart gebe, nicht unberechtigt ist. Die epistemische Verwendung in der analytischen Konstruktion unterscheidet sich allerdings von den subjektiv epistemischen Verwendungen dadurch, dass der durch den Infinitiv bezeichnete Sachverhalt als nichtfaktisch eingestuft wird. Die Modusmarkierung bezieht sich dabei typischerweise nicht auf die durch das Modalverb ausgedrückte modale Relation (Notwendigkeit, Möglichkeit usw.), sondern auf den gesamten Sachverhalt. In einer alternativen Analyse ließe sich behaupten, dass das finite Verb (hätte) mit dem Modalverb eine semantische Einheit bildet, die in ihrer Gesamtheit auf den Sachverhalt Bezug nimmt und ihn als nichtfaktisch charakterisiert. Zusammenfassend lässt sich formulieren, dass in jeder Verwendung der analytischen Konstruktion mit hätte und Modalverb die Nichtfaktizität des gesamten Sachverhalts ausgedrückt wird. 4. Zum Kontrast: die analytische Konstruktion im Indikativ Wenn das Bedürfnis nach einer eindeutigen Markierung der Nichtfaktizität der Entwicklung der analytischen konjunktivischen Konstruktion zugrunde liegt, ist zu erwarten, dass sich die indikativische und konjunkti-
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vische Modalverbkonstruktion semantisch eindeutig voneinander unterscheiden. Interessanterweise lassen sich die deutschen Modalverben hier nicht über einen Kamm scheren. Können und müssen benehmen sich ähnlich (4.1), sollen tanzt im Vergleich zu den beiden aber ein wenig aus der Reihe (4.2), das gleiche gilt für wollen (4.3), allerdings auf eine ganz andere Weise als sollen. 4.1 Die Modalverben können und müssen im Indikativ Perfekt/Plusquamperfekt Für die Konstruktionen mit können und müssen im Indikativ (Plusquam-) Perfekt gilt, dass nicht nur die Modalität an sich (die Möglichkeit bzw. Notwendigkeit), sondern der gesamte Sachverhalt in der Regel als gegeben gilt, sodass sie das semantische Gegenstück zur konjunktivischen Konstruktion bilden. Diese Bedeutung entsteht über eine konversationelle Vollzugsimplikatur, die zwar aufgehoben werden kann, allerdings fast immer vorhanden ist: Dasjenige, was in der Vergangenheit notwendig bzw. möglich war, wurde tatsächlich verwirklicht. So musste der Deutsche in (10a) seinen Führerschein abgeben (= Faktizität der Modalität) und hat ihn auch abgegeben (= Faktizität des Sachverhalts). Wichtig ist, dass die Vollzugsimplikatur mit der Bedeutung des Modalverbs zusammenhängt und also nicht konstruktionsinhärent ist. Wie wir noch sehen werden, entsteht sie bei sollen und wollen nicht. (10) a. Ein Deutscher hatte seinen Führerschein wegen Drogen abgeben müssen […]. b. Heute vor 16 Jahren. Nelson Mandela wird freigelassen. Der Führer des „Afrikanischen National-Kongresses“ hatte 27 Jahre im Gefängnis sitzen müssen, weil er unbeirrt gegen das Apartheid-Regime in Südafrika gekämpft hatte. c. Gestern Abend um 19.30 Uhr wurde Toto vom Hamburger Radiologen Dr. Michael Finkenstedt untersucht […] Besonders das Schienbein bereitet Jansen Sorgen. Bereits im Herbst letzten Jahres hatte er wegen eines tückischen Haarrisses im oberen Schienbein sieben Wochen pausieren müssen. d. Die zwölf Kinder waren ursprünglich auf der jüdischen Joseph-Carlebach Schule (am Grindel) und werden erst seit einem halben Jahr hier unterrichtet. Die Carlebach-Schule hatte nach langen Querelen und vielen Abmeldungen
schließen müssen.
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Auch in den hatte können-Belegen 34 impliziert die Angabe der vergangenen Möglichkeit (Fähigkeit, Gelegenheit) die Verwirklichung des Sachverhalts: So hat das Subjekt Duregger in (11a) auch tatsächlich Kontakt mit dem Tower aufgenommen; ähnliches gilt für (11b). Nur in einem der 46 Korpusbelege entsteht die Vollzugsimplikatur nicht. (11) a. Und Beschwerden über Phantom-Jets. Die rauschten nämlich gleich drei Mal im Tiefflug über das Gebiet rund um den Flughafen hinweg. Der Grund: Zwar hatte Duregger inzwischen per Handy Kontakt mit dem Tower aufnehmen können, doch erst im dritten Anlauf gelang es ihm, das Fahrwerk auszufahren. b. Noch vor vier Jahren hatte Friesinger nach zwei Rennen ohne Medaille in Salt Lake City gerade auf den 1500 Metern ihre Trumpfkarte ausspielen können. Es sei in dem Zusammenhang noch hinzugefügt, dass können in der besagten Konstruktion am häufigsten in negierten Kontexten erscheint (in 30 von 46 Korpusbelegen ist dies der Fall, vgl. 11c-d). Die Nichtmöglichkeit eines Sachverhalts impliziert zwingend seine Nichtverwirklichung. c. Schon den Frankfurter Musikpreis hatte György Ligeti im vergangenen Jahr nicht mehr persönlich entgegennehmen können. d. Ein Elektronik-Experte soll sechs Monate Zeit für die Untersuchung haben. Mehr als 30 Renault-Fahrer beschwerten sich bisher, weil sie nach eigenen Angaben ein einmal eingestelltes Tempo mit den Pedalen nicht mehr beeinflussen konnten. Zuletzt hatte der Fahrer eines Renault Scénic seinen Tempomaten nicht mehr ausschalten können und raste mit 130 km/h auf eine Mautstation zu. 4.2 Das Modalverb sollen im Indikativ Perfekt/Plusquamperfekt Wie bereits erwähnt, liegt die indikativische Konstruktion (Perfekt und Plusquamperfekt) bei sollen verhältnismäßig selten vor (vgl. Tabelle 3). Mortelmans (2008) gibt dafür folgende Erklärung: Beim indikativischen hatte sollen gilt in der Regel nur die Modalität (das Sollen), nicht aber der
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Die wenigen hat(te) dürfen-Belege sind mit indikativischem hatte können zu vergleichen. Auch bei dürfen löst die Angabe der Möglichkeit bzw. Berechtigung in der Regel eine Vollzugsimplikatur aus, wie folgender Korpusbeleg zeigt: (i) Tiger-Lillies-Frontmann Martyn Jacques […] hat seinen hohen Falsett schon oft durch die Hamburger Luft schneiden dürfen. Aufgrund ihrer niedrigen Frequenz werden indikativische hat(te) dürfen-Belege im Folgenden jedoch ausgeklammert.
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Sachverhalt im Infinitiv als gegeben. Es ergibt sich m.a.W. keine Vollzugsimplikatur, sodass indikativisches hatte sollen in der Regel die gleiche Bedeutung wie hätte sollen trägt, wobei der Modusmarker (Indikativ) sich exklusiv auf die Modalität (nicht aber auf den Sachverhalt) bezieht. (12) a. Das Open-Air-Festival „Jazz in Hamburg“ fällt erstmals in seiner elfjährigen Geschichte ersatzlos aus. Die zweitägige Musikveranstaltung hatte am 20. und 21. August in der HafenCity stattfinden sollen. Eine Soundprobe habe jedoch ergeben, dass das Festival die unweit parallel stattfindenden Vorstellungen des „Hamburger Jedermann“ empfindlich stören würde. b. Poldis bitterer Abend - kein Treffer und raus! Schwächster deutscher Spieler/ Zwei große Chancen ganz kläglich vergeben. Es hatte sein erster großer Auftritt bei dieser WM werden sollen. Gegen seine ehemaligen Landsleute wollte der gebürtige Pole Lukas Podolski sein erstes WM-Tor erzielen und Deutschland zum Sieg schießen. Eine solche Sachlage ist aber verwirrend: Das finite Verb (hat(te)) steht im Indikativ, was der Nichtfaktizität des Sachverhalts widerspricht. Es wundert daher auch nicht, dass bei sollen generell die konjunktivische Konstruktion (s. 12c-d), die der Nichtfaktizität des gesamten Sachverhalts explizit Rechnung trägt (und deshalb die gleiche Leistung wie indikativisches hatte sollen erbringt), bevorzugt wird, d.h. in der Praxis häufiger erscheint (vgl. noch einmal Tabelle 3). c. „Wann kommt er?“, lautete die ultimative Frage des Tages. Ursprünglich hätte der Brasilianer um 10.35 Uhr aus dem Flieger steigen sollen. „Aber es gab Mittags noch ein Meeting zwischen dem Vorstand von Besiktas Istanbul und Trainer Jean Tigana“, klärte Beiersdorfer auf. d. „Toll, wenn man aus der Wohnung aufs Wasser schauen kann“, schwärmt Brigitte Leithold (56). Nadine Lehmitz (27) meint: „Die Architektur ist grausam. Man hätte die Bauweise der Speicherstadt übernehmen sollen.“ Von den acht indikativischen hatte sollen-Belegen enthalten vier das Adverb eigentlich (12e) und einer das Adverb ursprünglich (12f). Beide Adverbien verweisen darauf, dass das tatsächlich Beabsichtigte bzw. Geplante nicht verwirklicht wurde. Die Nichtfaktizität wird somit durch lexikalische Mittel explizit signalisiert. e. Eigentlich hatte es im Bundestag erneut um den Haushalt für 2007 gehen sollen. Statt dessen erhitzte das Gezerre ums Libanon-Mandat die Gemüter.
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f. Kuhn: (lacht) Ursprünglich hatte das Album „Café Oriental“ heißen sollen, doch haben wir uns dann wegen der Unruhen um die MohammedKarikaturen dagegen entschieden, da es wahrscheinlich falsch verstanden worden wäre. 4.3 Das Modalverb wollen im Indikativ Perfekt/Plusquamperfekt Bei wollen liegen die umgekehrten Frequenzverhältnisse vor: Die indikativische Konstruktion ist eindeutig stärker vertreten als die konjunktivische. Eine Vollzugsimplikatur entsteht auch bei hatte wollen nicht: Der Modusmarker (Indikativ) bezieht sich bei hatte wollen auf die durch das Verb ausgedrückte Volitionalität, die als gegeben dargestellt wird, während der gewollte Sachverhalt nicht entstanden ist. Die Moduswahl (Indikativ) berücksichtigt das Nichterfülltsein des gewollten Sachverhalts also nicht – dies geht lediglich aus dem sprachlichen Kontext hervor, wie aus folgenden Belegen ersichtlich ist. Folglich könnte die hohe Frequenz des indikativischen hatte wollen überraschen: Im Hinblick darauf, dass der Sachverhalt nichtfaktisch ist, hätte man – in Analogie zu sollen und den anderen Modalverben – mehr konjunktivische als indikativische Konstruktionen erwartet. (13) a. Ursprünglich hatte CDU-Fraktionschef Bernd Reinert trotz der jüngsten parteiinternen Affären lediglich einen Ethikkodex für Abgeordnete ausarbeiten, auf eine Gesetzesänderung verzichten wollen. Jetzt sagt er: „Ein Gesetz hat natürlich eine höhere Verbindlichkeit.“ b. Eine Muslimin, die in Bremen ein Referendariat beginnen will, darf auch während des Unterrichts ihr Kopftuch tragen. Das Bremer Verwaltungsgericht gab dem Antrag der Frau statt. Die Schulbehörde hatte sie zum Ablegen des Kopftuches zwingen wollen. c. Sie hatte die Werke zunächst dem Picasso-Museum in Paris vermachen wollen. Als sie feststellte, dass dort schon sehr viele Werke Picassos im Fundus lagern, schlug sie den Weg zum Auktionshaus ein. Umgekehrt stellen wir fest, dass bei den auffällig infrequenten konjunktivischen hätte wollen-Belegen (insgesamt 22; das indikativische hatte wollen erscheint im selben Korpus 62-mal) der Modusmarker sich an erster Stelle nur auf das Modalverb zu beziehen scheint. Von den 22 Belegen finden sich nämlich acht im Kontext der indirekten Rede (14-b) und weitere acht in einem eindeutig konditionalen Kontext (14c-d).
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(14) a. Seine Ex-Frau (37) hatte ihn niedergestochen. In ihrer Vernehmung sagte sie, dass er völlig betrunken in das Messer reingelaufen sei. Sie hätte sich doch bloß ein Wurstbrot machen wollen. b. Die Behauptung, Fischer hätte Arbeitsplatzvernichter ins Land holen wollen, ist so krank wie die Warnung von Linkspopulist Oskar Lafontaine vor den „Fremdarbeitern“. c. „Wenn ich Diplomat hätte werden wollen, hätte ich mich woanders gemeldet und nicht bei der Bahn“ Bahn-Chef Hartmut Mehdorn über seinen Eintritt für den Börsengang des Unternehmens d. „Chàvez regiert seit acht Jahren“, sagt Miguel Asturias, ein Obsthändler. „Hätte er eine Diktatur errichten wollen, dann wäre sie längst da.“ Die Tatsache, dass wollen in der gemeinten konjunktivischen Konstruktion sehr selten vorliegt, hängt u.E. damit zusammen, dass die konjunktivische Konstruktion prototypisch weiten Skopus hat, wobei sich der Konjunktiv II (hätte) auf den gesamten Sachverhalt bezieht und nicht allein auf das Modalverb (müssen, sollen, können). Oder anders gesagt: In der konjunktivischen Konstruktion gehen finites Auxiliar und Modalverb gleichsam in einer neuen (analytischen) Einheit auf, die sich auf den Infinitiv bezieht. Das Modalverb wollen erlaubt eine solche Analyse nicht. Von allen Modalverben hat es sich am wenigsten zu einem genuinen Hilfsverb grammatikalisiert: Epistemische Verwendungen sind äußerst selten (vgl. Tabelle 1), das Verb hat seine stark subjektbezogene volitionale Semantik zu großen Teilen beibehalten (es prädiziert etwas über das Subjekt des Satzes). Der prototypische semantische Wert der konjunktivischen Konstruktion liegt eben in der eindeutigen Signalisierung der Nichtfaktizität des betreffenden Sachverhalts. Zum Vergleich seien folgende Sätze angeführt (alle aus dem Korpus): (15) a. Eine Viertelstunde später starten wir mit einer Sopa de Judias con Carne, Bohnensuppe mit Fleisch (3,50 Euro), die etwas heißer hätte sein dürfen, und einem Stockfischsalat […]. b. Mieter wollen Ahorn besetzen Der Streit um den 80 Jahre alten Ahorn an der Methfesselstraße (MOPO berichtete) geht weiter. Gestern hätte der grüne Riese gefällt werden sollen. Etliche Anwohner versammelten sich mit Transparenten vor dem Haus. c. Skeptisch bis ablehnend haben die schwedischen Zeitungen die Vergabe des Literatur-Nobelpreises an den britischen Dramatiker Harold Pinter (75) kommentiert. Von „Die Akademie vergibt den Preis für etwas, was schon Theatergeschichte geworden ist“, über „Eine ebenso kontroverse Entscheidung
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wie letztes Jahr für Elfriede Jelinek“, bis zu „Nichts gegen Pinter. Aber man hätte eine spannendere Wahl treffen können“, reichten die Reaktionen. d. Eigentlich hätte Jessica im August 2004 eingeschult werden müssen. Als sie nicht erschien, schickte die Schulbehörde einen Mitar beiter zu ihrer Adresse. 5. Schlussfolgerung und Ausblick Dieser Beitrag zielte darauf ab, die funktionale Leistung der Plusquamperfektkonstruktionen mit Modalverben im heutigen Deutsch zu entschlüsseln. Besonderes Augenmerk galt dabei der konjunktivischen Form dieser Konstruktion: hätte + Vollverb (Infinitiv) + Modalverb (Ersatzinfinitiv). Die durchgeführte Korpusanalyse hat ergeben, dass dieser analytischen Konstruktion eine Kernbedeutung zugrundegelegt werden kann, die sich von der Bedeutung der synthetischen Konstruktion Modalverb + Infinitiv Perfekt wesentlich unterscheidet. Die Ergebnisse unserer Untersuchung sprechen dafür, dass eine funktionale Differenzierung zwischen der (älteren) synthetischen und der (jüngeren) analytischen Konstruktion stattgefunden hat, die unter anderem mit der allgemeinen Tendenz zum analytischen Ausdruck der Modusdistinktionen im Deutschen unmittelbar zusammenhängt. Die Kernbedeutung der konjunktivischen Konstruktion liegt in der eindeutigen Signalisierung der Nichtfaktizität des gesamten Sachverhalts. Das bedeutet, dass der infinitivische Sachverhalt in den Skopus der als Einheit zu betrachtenden Konstruktion hätte + Modalverb fällt – wir haben dies als weiten Skopus bezeichnet. Die Tatsache, dass weiter Skopus in der konjunktivischen Konstruktion vorherrscht, erklärt auch, warum sich wollen dieser Konstruktion oft entzieht. Wollen gehört zu den schwächer grammatikalisierten Modalverben, für die angenommen werden muss, dass sie noch stark prädikationsfähig sind: Das Modalverb bezieht sich also direkt auf das Subjekt. Es wäre zu erwarten, dass hätte in diesem Fall lediglich das Modalverb wollen modifiziert, was mit der Kernbedeutung der (konjunktivischen) Konstruktion konfligieren würde. Von der vorgeschlagenen Kernbedeutung der konjunktivischen Plusquamperfektkonstruktion mit Modalverben ausgehend lässt sich auch der Umstand erklären, warum diese Konstruktion sich mit der subjektiv epistemischen Lesart deiktischer Modalverben nicht verträgt. Die Grundbedeutung der Modalverben in der subjektiv epistemischen Lesart – ob im Indikativ oder im Konjunktiv gebraucht – liegt in der Markierung des Faktizitätswerts des dargestellten Sachverhalts als grundsätzlich offen, d.h. weder faktisch noch nichtfaktisch. Diese Grundbedeutung kann bei der Verwendung in
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der Plusquamperfektkonstruktion nicht realisiert werden, da die besagte Konstruktion – wie oben ausgeführt – eindeutig die Nichtfaktizität des dargestellten Sachverhalts signalisiert. Um die subjektiv epistemische Modalität zum Ausdruck zu bringen, ohne dass sie von der Nichtfaktizität der konjunktivischen Markierung (durch hätte) „zunichte gemacht“ werden würde, verfügt das Deutsche über die synthetische Konstruktion Modalverb + Infinitiv Perfekt. Letzere Konstruktion muss allerdings nicht zwangsläufig epistemisch interpretiert werden, wie aus den unter (3) aufgeführten Belegen hervorgeht. Diesen Belegen gemeinsam ist die Tatsache, dass sie nicht als kontrafaktisch interpretiert werden. Der Sachverhalt, der modal (und zwar entweder nicht-epistemisch oder epistemisch) qualifiziert wird, lässt sich somit in der Zukunft verwirklichen (im Falle nichtepistemischer Modalität) bzw. verifizieren (im Falle epistemischer Modalität). Die (ältere) synthetische Konstruktion unterscheidet sich also von der (jüngeren) analytischen Konstruktion vor allem dadurch, dass sie hinsichtlich der Markierung der (Nicht-)Faktizität des (durch den Infinitiv ausgedrückten) Sachverhalts offen ist. Die synthetische Modusmarkierung am Modalverb betrifft lediglich das Modalverb selbst, d.h. die Modalität, die durch das Modalverb ausgedrückt wird: Sie hat engen Skopus. Der durch den Infinitiv ausgedrückte Sachverhalt bleibt im Skopus des Modalverbs, unabhängig davon, ob dieses in einer epistemischen oder nichtepistemischen Lesart verwendet wird. In Bezug auf die indikativische (Plusquam-)Perfektkonstruktion mit Modalverben lässt sich sagen, dass sie keine direkte Parallele zu ihrer konjunktivischen Entsprechung aufweist. Hier hat die indikativische Modusmarkierung engen Skopus, d.h. sie bezieht sich auf das Modalverb und signalisiert die Faktizität der entsprechenden Modalitätsart. Dadurch sind verschiedene Lesarten dieser Konstruktion möglich, abhängig davon, welche Modalverben sie enthält (s. Abschnitt 4). Die inhärente Semantik der Modalverben beeinflusst die jeweilige Interpretation der Konstruktion (was häufig über die von den Modalverben ausgelöste Vollzugsimplikaturen geschieht). Fassen wir noch einmal zusammen: Als bestimmender Faktor für die Entstehung der analytischen Modalverbkonstruktion kommt u.E. nicht nur die Etablierung einer subjektiv (d.h. sprecherbezogenen) epistemischen Modalverbbedeutung (die sich mit der älteren synthetischen Konstruktion verbindet) in Betracht, sondern auch das Bedürfnis, die vergangene Nichtfaktizität des gesamten Sachverhalts eindeutig zu markieren. Die Entwicklung der analytischen Konstruktion erlaubt somit eine formal eindeutig markierte Opposition zwischen gegenwärtiger und vergangener Nichtfaktizität, und zwar mit Hilfe der Konstruktion [würde/sollte/müsste/
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könnte, … + Infinitiv] auf der Gegenwartsstufe bzw. [hätte + infiniter Form] (entweder Partizip Perfekt oder Ersatzinfinitiv) auf der Vergangenheitsstufe. Literatur Askedal, John Ole (1991), „Ersatzinfinitiv/Partizipersatz“ und Verwandtes. Zum Aufbau des verbalen Schlußfeldes in der modernen deutschen Standardsprache. Zeitschrift für germanistische Linguistik 19.1: 1-23. Baerentzen, Per (2004), Formale und semantische Unschärfen in vielgliedrigen Verbalkomplexen. Der Ersatzinfinitiv und anderes. Tidsskrift for Sprogforskning 2.2: 127-139. Birkmann, Thomas (1987), Präteritopräsentia. Morphologische Entwicklungen einer Sonderklasse in den altgermanischen Sprachen. Tübingen: Niemeyer (Linguistische Arbeiten 188). Bittner, Andreas & Klaus-Michael Köpcke (in diesem Band), Ich würde, wenn ich wüsste, dass ich könnte … – Der deutsche Konjunktiv zwischen Synthese und Analyse. Bittner, Dagmar (in diesem Band), Die deutsche Klammerstruktur: Epiphänomen der syntaktischen Realisierung von Assertion und Thema-Rhema-Gliederung. Diewald, Gabriele (1999), Die Modalverben im Deutschen. Grammatikalisierung und Polyfunktionalität. Tübingen: Niemeyer. Eisenberg, Peter (2005), Das Verb als Wortkategorie des Deutschen. Zum Verhältnis von synthetischen und analytischen Formen. In: Knobloch, Clemens & Burkhard Schaeder (Hrsg.), Wortarten und Grammatikalisierung. Perspektiven in System und Erwerb. Berlin & New York: de Gruyter, 21-41. Eisenberg, Peter, George Smith & Oliver Teuber (2001), Ersatzinfinitiv und Oberfeld. Ein großes Rätsel der deutschen Syntax. Deutsche Sprache 29: 242-260. Fritz, Gerd (1991), Deutsche Modalverben 1609. Epistemische Verwendungsweisen: Ein Beitrag zur Deutungsgeschichte der Modalverben im Deutschen. Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 113: 28-52. Leirbukt, Oddleif (2002), Um zwei Uhr hätte unsere Schicht begonnen haben sollen. Über Bildungen des Typs Modalverb im Konjunktiv Plusquamperfekt + Infinitiv II. In: Fabricius-Hansen, Cathrine, Oddleif Leirbukt & Ole Letnes (Hrsg.), Modus, Modalverben, Modalpartikeln. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier, 60-84. Mortelmans, Tanja (2008), Ich hätte doch besser im Bett bleiben sollen! Plusquamperfektkonstruktionen mit Modalverb im Deutschen. In: Letnes, Ole & Heinz Vater (Hrsg.), Modalität und Grammatikalisierung = Modality and grammaticalization. Trier: Wissenschaftlicher Vertrag Trier, 55-72. Mortelmans, Tanja (1999), Die Modalverben sollen und müssen im heutigen Deutsch unter besonderer Berücksichtigung ihres Status als subjektivierte ‚grounding predications’. Antwerpen: Universiteit Antwerpen. Nuyts, Jan (2006), Modality: Overview and linguistic issues. In: Frawley, William (ed.), The expression of modality. Berlin & New York: Mouton de Gruyter, 1-26. Nuyts, Jan (2000), Epistemic modality, language, and conceptualization. Amsterdam & Philadelphia: Benjamins.
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Er erwartet sich nur das Beste –
Reflexivierungstendenz und Ausbau des Verbalparadigmas in der österreichischen Standardsprache Abstract The present paper deals with a grammatical variant of the written German standard variety used in Austria. In comparison to the standard variety used in Germany it can be described as an analytical structure that marks an extension of the verbal paradigm. It becomes apparent in the use of the reflexive pronoun sich. In a first approximation it is discussed to what extent the empirically proved structures adopt a reflexive or rather a diathetic function. The isomorphic structures of reflexive and middle constructions as well as the well-known polyfunctionality of the reflexive pronoun sich, however, present difficulties of differentiation. Due to these findings the hypothesis is suggested that the constructions examined refer to the grammatical category genus verbi and that the pronoun in the given examples is a grammaticalized but morphologically non-specified form of indicating the middle voice in German.
1. Einleitung Die im Folgenden angestellten Überlegungen widmen sich einem grammatischen Phänomen, das in der Standardvarietät des Deutschen gehäuft zu beobachten ist und das − zunächst ganz wertfrei formuliert − als grammatisch auffällig im Vergleich zur bundesdeutschen, aber auch zur schweizerdeutschen Standardvarietät zu beschreiben ist. Es geht − wie der Titel des Beitrags ankündigt − um eine Tendenz zur Reflexivierung, oder um es neutraler zu formulieren, um eine Tendenz zum vermehrten Gebrauch des Reflexivpronomens. Dabei impliziert der Titel allerdings eine Eindeutigkeit, die zumindest bezweifelt werden muss und zwar im Hinblick auf die Frage, ob es wirklich um Reflexivität geht oder doch um etwas anderes; etwas, das nur so aussieht wie eine Reflexivitätsmarkierung, im Grunde aber in eine andere Richtung weist. Wie auch immer – fokussiert werden sollen im Weiteren syntaktische Konstruktionen nach dem Muster (1) Er erwartet sich nur das Beste. Im Folgenden wird verdeutlicht, dass hier in der deutschen Standardsprache in Österreich eine Struktur im Verbalparadigma realisiert wird, die
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derart in der deutschen Standardvarietät der Bundesrepublik nicht zu beobachten ist; eine Struktur, die ausgehend von der Annahme einer graduellen Verbundenheit synthetischer und analytischer Strukturen im Deutschen nach Ronneberger-Sibold (1980: 101) klar als analytisch zu charakterisieren ist. Die nachfolgenden Überlegungen sind im Zusammenhang mit Vorarbeiten zu einem Projekt entstanden, das eine Erfassung und Beschreibung der grammatischen Varianten der deutschen Standardvarietät in Deutschland, Österreich und der Schweiz als Ziel hat und in Zusammenarbeit mit den Universitäten Augsburg und Zürich vorbereitet wird. 35 Im Fokus des Interesses steht primär die diatopische (regionale) Variation grammatischer Strukturen der Standardsprache, d.h. gleichzeitig der Versuch, eine deskriptive, korpusbasierte und damit phänomenorientierte Variantengrammatik des Deutschen zu erarbeiten. Dies sei angeführt, um auf den empirischen status quo der nachfolgenden Überlegungen hinzuweisen, die sich somit noch keinesfalls in einer explanativen Phase befinden. Interessanterweise kennen vorliegende Grammatiken des Deutschen den hier dargestellten Phänomenbereich entweder gar nicht oder subsumieren ihn unzulässigerweise unter den reflexiven Gebrauch transitiver Verben nach dem Muster Sie wäscht sich. Beispiele in Analogie zum angeführten sind daher in den meisten Grammatiken ebenfalls nicht zu finden (vgl. u.a. Engel 1996, Zifonun, Hoffmann & Strecker 1997, Eroms 2000, Helbig & Buscha 2001, Hentschel & Weydt 2003). Zwar gibt es umfängliche Abhandlungen zu Reflexivpronomina und Reflexivität im Deutschen (vgl. u.a. Brinker 1969, Kunze 1997, Ágel 1997, Steinbach 1999, Gunkel, Müller & Zifonun 2003, Zifonun 2004), aber die reflexiven Konstruktionen des dargestellten Typs werden meist nicht gesondert thematisiert, oder gar als diatopische, markierte standardsprachliche Variante deklariert. Selbst dem Zweifelsfälle-Duden sind Varianten im Gebrauch des Reflexivpronomens unbekannt (vgl. Duden 2007: 820f.) und auch im jüngst erschienenen Lexikon „Wortarten des Deutschen“ findet sich im Artikel zum Reflexivum keinerlei Hinweis in diese Richtung (vgl. Siemund 2007: 707ff.). Konstruktionen des hier thematisierten Typs stellen offensichtlich in den Augen vieler Autoren kein grammatisches Muster dar, das eine ausführliche Beschreibung rechtfertigen würde. Auch Arbeiten zum so genannten „österreichischen Deutsch“ halten sich hier vornehm zurück. Sie thematisieren ohnehin in aller Regel kaum grammatische Varianten, sondern halten sich oftmals damit auf, lexikalische Austriazismen – die häufig keine sind (vgl. Pohl 1996, 1999) – einer
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Ausführliche Informationen zum Projekt unter www.ds.uzh.ch/lehrstuhlduerscheid/docs/Projektskizze_Variantengrammatik.pdf
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bundesdeutschen Lexik gegenüberzustellen und versuchen, auf diese Weise für eine österreichische Varietät des Deutschen zu argumentieren (vgl. u.a. Ebner 1998). 36 Die einzigen Belege die bezüglich der Verwendung von Reflexivpronomina im österreichischen Deutsch zu finden sind, erschöpfen sich gegenwärtig in Aussagen ähnlich den folgenden: „Mit dem Reflexivpronomen ‚sich‘ nicht geizen!“ und „Der Österreicher verwendet gerne das Reflexivpronomen ‚sich‘!“ (vgl. Sedlaczek 2004). Natürlich finden sich solche Äußerungen in – wie Pohl meint „im besten Sinne“– populärwissenschaftlichen Publikationen mit allen obligaten Problemen, die solchen Veröffentlichungen aus linguistischer Sicht anhaften (vgl. Pohl 2005). Aber auch seriöse linguistische Arbeiten geben in Bezug auf Reflexivkonstruktionen keine genauere Auskunft. In einem Beitrag von Muhr (1995) wird zwar der vermehrte Gebrauch der Reflexivpronomina thematisiert, allerdings ausschließlich derart, dass Gebrauchsvarianten schlicht aufgelistet werden. Problematisch sind hier zudem, neben der nicht vorhandenen grammatischen Explikation, die empirische Basis sowie die fehlende Differenzierung der Daten. Grundsätzlich gilt: Grammatische Varianten in der Standardvarietät des Deutschen in Österreich sind nur spärlich oder gar nicht bearbeitet (vgl. u.a. Tatzreiter 1988, Wiesinger 1988, Scheuringer 1996). Für den an grammatischen Varianten Interessierten ein Grund mehr, sich mit diesen Phänomenen detaillierter auseinanderzusetzen, zumal sie in der Verwendung innerhalb der Sprechergemeinschaft – wie zu zeigen sein wird – keine Ausnahmen darstellen. 2. Reflexivität im Deutschen − Morphologischer Status und syntaktische Funktion Nach dem nicht mehr ganz aktuellen Frequenzwörterbuch der deutschen Zeitungssprache von Rosengren (1972/1977) ist sich die zwölfthäufigste Wortform des Gegenwartsdeutschen. Auch das Wortschatz-Projekt der Universität Leipzig gibt einen deutlichen Hinweis auf die starke Distribution des Reflexivums im Deutschen, indem es sich der Häufigkeitsklasse 2 zuordnet, d.h. das häufigste Wort der ist lediglich 22 mal häufiger belegt als das Reflexiv sich (vgl. Wortschatz Universität Leipzig).
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Eine differenziertere Darstellung zum österreichischen Wortschatz findet sich u.a. bei Wiesinger (2006: 414); vgl. auch Pohl (1996, 1999). In den genannten Arbeiten wird darüber hinaus überdeutlich auf die leider weitverbreitete, undifferenzierte und wenig reflektierte linguistische Auseinandersetzung mit dem so genannten „österreichischen Deutsch“ aufmerksam gemacht.
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Bevor nun aber der Untersuchungsgegenstand genauer ins Auge gefasst wird, sollen zunächst noch einige grundlegende Aspekte der Reflexivität im Deutschen in Erinnerung gerufen und − zumindest kursorisch − mit ein paar Bemerkungen zum morphologischen Status der Reflexivpronomina begonnen werden. Üblicherweise werden die Reflexivpronomina als eigenständige Pronomenklasse betrachtet, wobei die Restriktionen des Paradigmas durch bestimmte Objektkasus erfolgen. Während etwa die Duden-Grammatik ein alle drei Personen und alle drei Objektkasus umfassendes Paradigma ansetzt, d.h. die Objektformen der 1. und 2.Pers. der Personalpronomina (meiner, mir, mich/unser, uns, uns bzw. deiner, dir, dich/euer, euch, euch) werden vollständig in das Paradigma des Reflexivpronomens übernommen (vgl. Zifonun 2004, Duden 2006: 283ff.), wird an dieser Stelle mit Zifonun (2004) und Eisenberg (1999) angenommen, dass nur in der 3.Pers.Sg. und Pl. und nur in den Kasus Akkusativ und Dativ von einem echten Reflexiv gesprochen werden kann. Dafür spricht einerseits die Tatsache, dass nur die 3.Pers. über eine morphologisch reflexive Form verfügt und zwar die Form sich (das Paradigma lautet: seiner/ihrer, sich, sich/ihrer, sich, sich), während die 1. und 2.Pers. morphologisch als Personalpronomen realisiert sind. Andererseits begegnen Reflexiva und Personalpronomina in der Regel in komplementärer Distribution, d.h. wo das Reflexivpronomen sich steht, kann nicht das Personalpronomen der 3.Pers. verwendet werden und umgekehrt (vgl. Zifonun 2004: 135f.). Syntaktisch sind Reflexiva durch ihre Funktion als Pronomina gekennzeichnet, d.h. sie haben phorische und genauer anaphorische Funktion. Zifonun verweist darauf, dass im Gegensatz zu Personalpronomina Reflexiva lokal, durch ein Antezedenz gebunden sind. Personalpronomina sind nicht lokal gebunden (vgl. Zifonun 2004, Chomsky 1984: 183ff.). Als wichtigste lokale Bindungsdomäne wird dabei der Elementarsatz angenommen. Im Rahmen dieser Bindungsdomäne kommen schließlich unterschiedliche Antezedentien in Frage. In der Regel ist es das Subjekt, also eine Nominativergänzung, wie in (2). (2) Sie kämmt sich die Haare.
Daneben können aber auch Antezedentien im Akkusativ und im Dativ realisiert sein, wie etwa in Beispiel (3) und (4). (3) Ich erinnere ihn an sich.
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(4) Ich erzähle ihr einiges über sich.
Reflexiv und Antezedenz sind dabei grundsätzlich referenzidentisch. Insofern haben Reflexiv- und Personalpronomina als Proformen zwar dieselbe übergeordnete Funktion, nämlich die grammatische Anzeige von Referenzidentität, unterscheiden sich jedoch im Abstand zum jeweiligen Bezugsausdruck. Dieses Verhältnis fasst Eisenberg (1999: 172f.) wie folgt zusammen: Das Reflexivpronomen sich ist also eine besondere Form des Dat und Akk für das Personalpronomen der 3.Ps. Die 1. und 2.Ps brauchen ein Reflexivum nicht, weil hier die Referenzidentität mit dem üblichen Personalpronomen eindeutig angezeigt werden kann. Weil immer klar ist, wer Sprecher und wer Adressat ist, kann das Personalpronomen der 1. und 2.Ps reflexiv verwendet werden. Ein Reflexivpronomen ist es damit aber nicht.
Es wird deutlich, dass auch Eisenberg Reflexiva eine satz- oder propositionsinterne Referenzidentität anzeigende Funktion zuschreibt, während Personalpronomina satzübergreifende, transphrastische Referenzidentität signalisieren. Hinsichtlich der syntaktischen Konstruktionen mit Reflexivum liegen für das Deutsche unterschiedliche Differenzierungsversuche vor. Üblicherweise gilt die von Helbig & Buscha (2001) vorgelegte und von Vilmos Ágel (2000) zu Recht kritisierte Vier-Klassen-Differenzierung der reflexiven Verben mit der Unterscheidung in reflexive Konstruktionen, reflexive Verben im engeren Sinne, reflexive Konstruktionen und Verben mit reziproker Bedeutung sowie reflexive Formen mit passivischer Bedeutung als Standardmodell. Daneben existieren aber auch weit umfangreichere Klassifikationsvorschläge. Eine der detailliertesten stammt etwa aus der umfangreichen Analyse zur Reflexivierung von Kunze (1997), der nicht weniger als 16 Reflexivierungstypen im Deutschen unterscheidet. Für das an dieser Stelle in einer ersten Annäherung ins Auge gefasste Phänomen scheint aber eine − zugegebenermaßen recht grobe − Differenzierung in zwei grundlegende Typen zunächst ausreichend, zumal es hier ohnehin nur um einen Typus gehen wird. Reziproke Konstruktionen oder Reflexivkonstruktionen als Passivkonkurrenz sollen vorerst vernachlässigt werden und einer umfangreicheren Analyse vorbehalten bleiben. Hier wird daher unterschieden zwischen 1. Unmotivierte Konstruktionen mit Reflexiv − Reflexive Verben (5) Er schämt sich.
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2. Motivierte Konstruktionen mit Reflexiv (6) Er kämmt sich. (7) Sie kauft sich ein Kleid. Unter unmotivierten Reflexivkonstruktionen werden jene verstanden, die durch sogenannte „echte“ reflexive Verben realisiert werden, wie als Beispiel (5) zu sehen. Hier ist das Reflexivum Teil des Verbs und hat keine darüber hinaus gehende semantische oder syntaktische Funktion. Insofern wäre der Einwand berechtigt, dass in diesen Fällen eigentlich nicht von Konstruktionen gesprochen werden darf. In (6) übernimmt das Reflexivpronomen die Funktion eines Satzglieds, eines Arguments in der Argumentstruktur, einer Ergänzung, die vom Verb selegiert ist und kann daher durch andere Pronomina bzw. durch Substantive ersetzt werden (er kämmt ihn/das Fell/Franz). In (7) wird deutlich, dass aber auch Adjunkte motiviert reflexiv realisiert werden können, die dann sozusagen modifizierend den Valenzrahmen, die semantischen Rollen ergänzen. Entgegen der Duden-Grammatik, die im ersten Fall (6) ein Akkusativobjekt realisiert sieht und im zweiten Fall (7) ein Dativobjekt und damit die angeführten Fälle im Grunde nur in Bezug auf den Kasus differenziert (vgl. Duden 2006: 409), werden die unter (6) und (7) angeführten Beispiele strukturell und syntaktisch nicht als analog aufgefasst, sondern müssten vielmehr als jeweils eigene Klasse erfasst werden. 3. Die Datenlage Nachfolgend sind ein paar Beispiele angeführt, die aus einem umfangreicheren Korpus stammen und die die starke Distribution der letztgenannten Konstruktionen in der österreichischen Standardvarietät des Deutschen exemplarisch belegen. (8) Denn manchmal erwartet sich der Kunde im Urlaub Ruhe und Frieden, [...]. [Reisen 6/1997, 62] (9) Nehmen Sie sich gegenüber Vorgesetzten ein Blatt vor den Mund, in Ihren Worten ist manchmal zu leicht der Giftstachel erkennbar. [Kurier, 14.12.1997, 22]
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(10) Warum sich André Heller von der Politik nichts mehr erwartet. [Profil 19.01.98, 6] (11) Irgendwann hört sich der Spaß auf: Lese ich recht? [Profil, 30. 03.1998, 8] (12) All das schlägt sich unter anderem auch auf den Magen. [Medizin populär 5/95, 28] (13) Die Frauen organisieren sich weitgehend selbständig, sie brauchen keine Putzfrau, sie machen sich alles selbst, auch das Kochen. [Zwanziger 3/1999, 23] (14) So kann man ungehemmt abmessen, braucht sich nichts akribisch notieren und hört sich die Maße einfach ab. [Kurier 20.06.1998, Beilage 11] (15) die „einfachen“ Fünfer schlagen sich mit je 12.890 Schilling zu Buche. [SN 31.03.1998, 8] (16) Man hat sich erwartet, daß frischer Wind reinkommt und die Tür aufgeht. [Echo 28.1.1999, 20] Bei den Beispielen handelt es sich sämtlich um Passagen aus österreichischen Pressetexten verschiedener Textsorten, d.h. im Sinne des sozialen Kräftefeldes einer Standardvarietät nach Ammon (vgl. 1995: 80, 2005: 32) um so genannte Modelltexte. Ähnliche Befunde lassen sich aber auch für Texte der österreichischen Gegenwartsliteratur nachweisen, die jedoch hier aufgrund der Besonderheiten literarischen Sprachgebrauchs nicht separat angeführt werden sollen. Das Korpus ist im Zusammenhang mit der Erarbeitung des Variantenwörterbuchs des Deutschen erhoben worden, wurde aber bisher − da es ja um lexikalische Varianten ging − nicht in Bezug auf grammatische Varianten untersucht (vgl. Ammon et al. 2004). Wie zu sehen ist, sind in allen Beispielen Reflexivkonstruktionen zu beobachten und zwar solche die − wie bei schneller Lektüre festzustellen ist − im Vergleich zur bundesdeutschen Standardvarietät als Auffälligkeiten ins Auge stechen. Übrigens nur dem ebenfalls bundesdeutschen Rezipienten. Dieselbe Liste wurde im Rahmen eines Seminars österreichischen Studierenden vorgelegt, die daran nichts Auffälliges entdecken konnten. Auch das zeigt, wie stark diese Muster schon in der Sprechergemeinschaft etabliert und akzeptiert sind. Natürlich sind auch die − man ist geneigt zu
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sagen unmarkierten − Normalfälle von Reflexivität im Korpus belegt, aber gerade die stehen ja hier nicht im Zentrum des Interesses. Der hier thematisierte Typus der Reflexivkonstruktionen ist im Korpus in zahlreichen lexikalischen Variationen im Hinblick auf das beteiligte Verb durchgängig und hochfrequent belegt und kann somit für die Standardvarietät in Österreich als weitgehend konventionalisiert gelten. Daneben ist zu sehen, dass die Konstruktion erwarten + sich in den Beispielen mehrfach begegnet. Dies ist natürlich beabsichtigt und soll verdeutlichen, dass diese Kombination ebenfalls hochfrequent im Korpus belegt ist und ein Blick in die österreichischen Pressetexte der COSMAS II-Korpora zur geschriebenen Sprache am IDS bezeugt eindeutig diesen Befund. D.h. für diesen Fall ist von einem relativ stabilen Grad der Lexikalisierung auszugehen. Das Österreichische Wörterbuch in der 40., neu bearbeiteten Auflage aus dem Jahr 2006 kennt allerdings diese standardsprachlich offensichtlich durchaus übliche Verwendung nicht, sondern verzeichnet ausschließlich den nichtreflexiven Gebrauch des Verbs und dies, obwohl die hier angeführten Belege aus den Jahren 1997 und 1998 stammen und somit bereits vor 10 Jahren lexikalisiert aufscheinen. 37 Mit Bezug auf die gerade vorgenommene Grob-Differenzierung handelt es sich offensichtlich bei allen Beispielen um motivierte Konstruktionen mit Reflexiv und zwar um solche, wo das Reflexivum als Adjunkt fungiert und damit fakultativ ist und stets zu transitiven, bzw. im Falle von aufhören ambitransitiven Verben tritt. Eine Ausnahme zur fakultativen Verwendung des Reflexivpronomens stellt allerdings die oben erwähnte Konstruktion erwarten + sich dar, in der das Reflexiv bereits obligatorisch begegnet. Während in Fällen, in denen das Reflexiv als direktes Objekt aufscheint (Er kämmt sich), die Argumentstruktur des transitiven Verbs und die phorische Funktion des Reflexivpronomens deutlich zum Ausdruck kommen, übernimmt das Reflexiv in den hier ausgewählten Konstruktionen scheinbar eine andere Funktion, denn schließlich ist das direkte Objekt explitzit genannt und keinesfalls koreferent mit dem Subjekt, was ein weiteres Beispiel nochmals anschaulich verdeutlichen kann. (17) Der Vogel baut sich im Frühling für seine Jungen ein Nest. 38
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Zur Ehrenrettung des Österreichischen Wörterbuchs sei allerdings angeführt, dass ältere Auflagen sehr wohl den reflexiven Gebrauch verzeichnen; warum in der aktuellen Neuauflage plötzlich ein geänderter Eintrag zu finden ist, bleibt ein Geheimnis der Autoren und ist umso erstaunlicher, da das Österreichische Wörterbuch für Pflichtschulen in Österreich als normative Kodifizierung verbindlich ist. Das Beispiel ist keinesfalls konstruiert, sondern vielmehr einem linguistischem Skriptum eines Wiener Kollegen entnommen.
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Der Duden würde hier einen Normalfall sehen und das sich als reflexives Dativobjekt auffassen, dem dann entsprechend der Hierarchisierung der Kasusabfolge ein Akkusativobjekt folgen muss. Entsprechendes gilt, falls über das Reflexivpronomen ein Akkusativ realisiert wird, dann folgt notwendigerweise ein Dativobjekt. Diese Auffassung folgt der Überzeugung, dass das reflexive sich in sämtlichen Konstruktionen stets als Kasusobjekt fungiert. In diesem Falle würden die Beobachtungen bedeuten, wir hätten es bei dem im Titel angeführten Stichwort Reflexivierungstendenz schlicht mit einer Valenzalternation im Sinne einer Valenzerweiterung bei einer Vielzahl von Verben, die in der bundesdeutschen Standardvarietät diese Veränderung nicht erfahren, zu tun. Dagegen spricht allerdings, dass dann das sich als Argument auch eine semantische Rolle tragen müsste. Gerade dies scheint aber offensichtlich nicht der Fall, oder anders formuliert: Welche semantische Rolle sollte dies sein? Übrigens ein Problem, das auch der Duden erkennt (vgl. Duden 2006: 409). Wenn aber sich nicht Satzgliedfunktion übernimmt und für die Argumentstruktur des Verbs damit nicht notwendig realisiert werden muss, drängt sich die Frage auf, was tut es da eigentlich und welche Funktion(en) trägt es? 4. Einschätzung der Beobachtungen Die Überlegungen gehen diesbezüglich in zwei Richtungen. Zum einen spricht die − man ist geneigt zu sagen attributive − Verwendung des Reflexivpronomen, die keinen semantischen Bezug zum direkten Objekt aufweist, ja in dieser Hinsicht sogar widersprüchlich erscheint, eher dafür, dass hier die im Verb ausgedrückte Handlung modifiziert werden soll, d.h. dass das Reflexivpronomen der Verbalphrase zugerechnet werden kann, zum Verb tritt. Insofern würde es sich hier schlicht um eine Tendenz zur Reflexivierung transitiver Verben in der österreichischen Standardvarietät handeln, die am Beispiel erwarten + Reflexiv bereits ein fortgeschrittenes Stadium der Lexikalisierung erreicht hat, während die übrigen Beispiele noch ein früheres Stadium reflektieren. Für einen solchen virulenten Prozess könnte auch die Tatsache sprechen, dass ausgesprochen häufig − und auch das ist in den Beispielen zu sehen − das Reflexivpronomen in Phraseologismen eindringt. Gerade für Phraseologismen gilt es aber als charakteristisch, relativ stabil, lexikalisiert und damit weitgehend unveränderlich zu sein. Dennoch dringen hier Reflexivpronomina ein. Aber handelt es sich wirklich um die Anzeige von Reflexivität? Ágel zeigt in Anlehnung an Kemmer (1993), dass das Reflexivpronomen sich eindeutig polyfunktional ist und zwar insofern es als Reflexivund Medialmarker fungiert, d.h. Reflexivität und Medialität wird im Deut-
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schen formal nicht unterschieden (vgl. Ágel 2000: 151). Daraus folgt: „,Reflexive‘ Konstruktionen sind nicht immer reflexiv“ (Ágel 2000: 150), sondern häufig Medialkonstruktionen, die sich in erster Linie durch die konzeptualisierbaren Ereignistypen, die im Verb ausgedrückt werden konstatieren. Dies sind nach Ágel Ereignistypen mit Bezug zum Geist, Körper und zur Psyche, die durch sogenannte mediale Verben realisiert werden (vgl. Ágel 2000). Gerade das schon häufiger angeführte Beispiel erwarten + sich wäre demzufolge ein solches mediales Verb, 39 ebenso wie die meisten anderen in den angeführten Belegen. Folgt man also dieser Argumentation, dann würde über die Pronominalform sich in den gezeigten Belegen nicht Reflexivität, sondern Medialität markiert und damit wäre die grammatische Kategorie Genus verbi betroffen. Payne definiert in diesem Zusammenhang: We will consider a middle construction to be one that expresses a semantically transitive situation in terms of a process undergone by the patient, rather than as an action carried out by an agent (Payne 1997: 216).
Das Pronomen wäre demzufolge eine grammatikalisierte – wenn auch morphologisch maximal unterspezifizierte − Form einer diathetischen Markierung zur Anzeige des Mediums im Deutschen, d.h. die Belege würden eine mediale Diathese reflektieren und insofern wäre anhand der Beobachtungen für die österreichische Standardvarietät ein Ausbau des Verbalparadigmas im Bereich Genus verbi zu konstatieren. Steinbach macht an verschiedenen Stellen darauf aufmerksam, dass sich auch transitive reflexive Konstruktionen des Deutschen unter den Begriff des Mediums fassen lassen. Ebenso wie entsprechende Konstruktionen in anderen indoeuropäischen Sprachen sind sie auch im Deutschen – wie erwähnt – polyfunktional und erlauben unterschiedliche Interpretationen, nämlich reflexive, mediale, antikausative und inhärent reflexive (vgl. Steinbach 1998, 1999, 2002a, 2002b). Mit Kemmer wird daher angenommen, dass es sich bei der hier fokussierten Verwendung des Reflexivpronomens um eine funktionale Variation handelt, indem eine Reinterpretation von sich von einem im Valenzrahmen geforderten Argument zu einem Intransitivierungsmarker im Sinne von medialen Verben stattgefunden hat. Insofern sind Konstruktionen des Typs Er erwartet sich nur das Beste durchaus in einen Grammatikalisierungsprozess einzuordnen (vgl. Kemmer 1993, 1994). 40 Als Ergebnis einer Reanalyse wäre die Verwendung des sich in den vorliegenden Syntagmen damit quasi enklitisch.
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Ágel stellt allerdings im Gegensatz zum vorliegenden Befund fest, dass mediale Verben in der Regel (sic!) intransitive Verben sind. Die hier zugegebenermaßen recht knapp skizzierten Überlegungen zur Einordnung der sich-Konstruktionen im Standarddeutschen in Österreich in einen Grammatikalisierungsprozess wären sicherlich auf Basis einer breiteren Datenlage detaillierter auszuführen und
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Über eine generelle Beziehung zwischen Reflexivität und Diathese scheint jedenfalls in der linguistischen Literatur weitgehend Konsens zu herrschen. Eisenberg nimmt in diesem Zusammenhang sogar eine inhärente Beziehung zwischen Reflexivität und Agentivität an (vgl. Eisenberg 1999; vgl. auch Ackema & Schoorlemmer 1994, 1995). Auch aus sprachhistorischer Sicht ist eine solche Verwendung der Pronominalform sich kein Novum. Bereits in der antiken Grammatik werden drei Diathesen differenziert: die aktive Handlung (ένέργεια), die passive (πάθοs), die eine auf das grammatische Subjekt gerichtete Handlung darstellt und schließlich die mediale Handlung (μεσότηs), die im Vergleich zum Aktivum eine stärkere Beteiligung des Subjekts an der über das Verb ausgedrückten Handlung realisiert (vgl. Kotin 1998). Besonders in den älteren Sprachstufen des Deutschen wird dann die Form sich gewählt, um das Medium anderer Sprachen − etwa des Lateinischen oder Griechischen − in der Übersetzung zu ersetzen. Jacob und Wilhelm Grimm sehen diese Verwendungsweise überdies als charakteristisch für das ältere Volkslied an. Im 16. Band des Deutschen Wörterbuchs ist im umfangreichen Eintrag zum Lemma sich zu lesen schon im got. tritt nicht nur sis, sondern auch sik zu intransitiven verben, deren begriff auf diese weise inniger mit dem subjekt verbunden wird […]. diese verwendung des reflexivpronomens kann natürlich auch beim transitivum eintreten, dann entsteht ein richtiges medium (DWB 16: 711).
5. Schlussfolgerungen für eine Grammatik des Deutschen Wie auch immer die Verwendung von sich interpretiert werden muss, es bleibt festzuhalten, dass sich durch die hohe Frequenz der aufgezeigten Konstruktionsmuster so oder so eine regionale Besonderheit in der österreichischen Standardvarietät manifestiert, die durch einen analytischen Ausbau im Syntagma gekennzeichnet ist. Seien es nun Valenzänderungen, Reflexivierungen der transitiven Verben, oder diathetische Markierungen. Diese Abweichungen sind motiviert und werden infolgedessen nicht „ausnahmsweise“, sondern von einer mehr oder weniger großen Zahl von Sprechern/Schreibern akzeptiert. Sie zeigen dabei eine Regelhaftigkeit in ihrer strukturellen Ausformung. Eine Antwort auf die Frage, warum diese
__________ zu überprüfen und sollen daher einer umfangreicheren Untersuchung, die geeignet ist, zu verbindlicheren Aussagen zu gelangen, vorbehalten bleiben. Zur genaueren Information wird deswegen an dieser Stelle auf die angeführte Literatur verwiesen.
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Variante gerade im österreichischen Sprachraum in hoher Frequenz begegnet, konnte und sollte an dieser Stelle nicht gegeben werden. 41 Natürlich müssen in Anbetracht der gegenwärtig noch geringen Datenlage die hier angeführten Überlegungen als vorläufig und tentativ verstanden werden. Dennoch steht fest, dass diese regionale Variante in vorliegenden Grammatiken nicht als solche erfasst wird. Und dabei ist dies nur „eine“ grammatische Variante unter vielen, die in der österreichischen Standardvarietät begegnen. 42 Für alle Varianten gilt dieselbe Feststellung: Sie finden keinen Eingang in die präskriptiven Grammatiken des Standarddeutschen. Hier schließt sich unmittelbar ein Postulat an. Meines Erachtens ist eine Abkehr von einer präskriptiven hin zu einer deskriptiven Betrachtungsweise in der Grammatikschreibung gefordert (vgl. Köpcke 2005). Dabei darf die Deskription allerdings nicht damit enden, einen idealisierten Sprachgebrauch abzubilden, sondern sie sollte möglichst um eine vollständige Integration der existierenden Varianten und Besonderheiten im deutschsprachigen Raum bemüht sein. Auf diese Weise könnte eine „Grammatik der Übergänge“ entstehen, die Sprache als ein dynamisches System begreift, das durch eine Reihe intra- und extralinguistischer Faktoren beeinflusst ist (vgl. Köpcke & Ziegler 2007). Das Konzept der Varietät, verstanden als Menge von Varianten, die durch Kookkurrenz verschiedener linguistischer Merkmale sowie durch Kookurrenz dieser Merkmale mit bestimmten sozialen Merkmalen und/oder bestimmten Merkmalen der Gebrauchssituation gekennzeichnet ist (vgl. Berruto 2004), scheint mir hier ein geeigneter Ausgangspunkt zu sein, um sich einer solchen Grammatik grundsätzlich anzunähern. Eine Variantengrammatik des Deutschen, die zunächst einmal die diatopische Dimension der Variation, d.h. die regionale standardsprachliche Variation, berücksichtigt, scheint dabei ein erster sinnvoller Schritt zu sein. Literatur Ackema, Peter & Maaike Schoorlemmer (1994), The Middle Construction and the Syntax-Semantics Interface. Lingua 93: 59-90. Ackema, Peter & Maaike Schoorlemmer (1995), Middles and Nonmovement. Linguistic Inquiry 26: 173-197.
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Für weitere Untersuchungen wäre diesbezüglich etwa zu prüfen, ob hier gegebenenfalls ein Lehneinfluss vorliegt oder ob die aufgezeigte Variante dialektalen Ursprungs ist usw. So sind nicht nur Varianten im Verbalkomplex zu beobachten, sondern z.B. auch in der Nominalphrase (Artikelgebrauch), in der Morphosyntax (Tempus, Kasus, Genus), im Modal- und Hilfsverbgebrauch usw.
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Nanna Fuhrhop & Petra Vogel Analytisches und Synthetisches im deutschen Superlativ Abstract In the grammars of present day German two forms of the superlative are proposed: schnellst- vs. am schnellsten (both ‚(the) fastest’). Analyzing what am accomplishes and how it has evolved in diachronic German, it will become clear that the superlative – in contrast to the elative – demands definiteness. In adverbial constructions, this definiteness is realized by agglutination: am schnellsten. In attributive constructions, definiteness is transferred to the definite article of the noun phrase. In comparison to English and Dutch, it will be discussed why agglutination overrules the autonomous definite article in adverbial constructions. The demanding definiteness is always realized externally, both attributively (die schnellste Schwimmerin ‚the fastest swimmer’) and adverbially (sie schwimmt am schnellsten ‚she swims (the) fastest’). Consequently, the German superlative is an analytic construction, while the elative is marked synthetically by an intensifying element (der Aufstand wurde blutigst niedergeschlagen ‚the riot has been quelled most bloodily’).
1. Einleitung In vielen Grammatiken werden Formen wie am schnellsten, am schönsten, am kleinsten parallel zu schönst- (z.B. das schönste Haus) als Superlativformen behandelt, das heißt, sie werden als solche eingeordnet, aber die Form wird nicht weiter betrachtet. Jedoch ist die Form als solche auffällig: Sie besteht aus zwei graphematischen Wörtern, intern befindet sich ein Leerzeichen. Der Bezug auf die reine Schriftlichkeit wird hier betont, da wir es als Teil der Frage ansehen, wie diese Form syntaktisch oder morphologisch zu interpretieren ist. Wir können immerhin festhalten, dass der Bestandteil am die Verschmelzungsform am ist, die aber nicht einer längeren Form an dem entspricht (*an dem schönsten). Die Endung -en ist dann entsprechend die schwache Flexionsendung, die nach der Verschmelzung am zu erwarten ist: Das Fahrrad lehnt am schönsten Haus verhält sich wie Das Fahrrad lehnt am schönen Haus. Die Form am und die Endung -en passen zusammen. Die hier zu beantwortende Frage lautet überspitzt formuliert: Handelt es sich bei am Xsten um eine analytische Form und wenn ja, was wird hier warum ausgelagert?
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2. Der Superlativ im heutigen Deutsch 2.1 Positiv und Komparativ vs. Superlativ Sowohl Eisenberg (2006a: 181) als auch Gallmann (Duden 2005: 374f.) nehmen an, dass die Superlativform nicht am schönsten, sondern schönstheißt. Was ist damit gemeint? Adjektive gelten als flektierbare Wortart, flektiert werden sie aber nur in einer von drei syntaktischen Funktionen, nämlich attributiv (genauer: präsubstantivisch-attributiv). Das ist auch die Funktion, in der sich Positiv, Komparativ und Superlativ gleich verhalten: die lecker-e/lecker-er-e/ lecker-st-e Schokolade. In prädikativer und adverbialer Funktion sind Adjektive dagegen unflektiert, allerdings nur im Positiv und Komparativ: Die Schokolade ist bzw. schmeckt lecker/lecker-er. Aus diesem System bricht der Superlativ aus, weil in prädikativer und adverbialer Funktion die Form am leckersten und nicht *leckerst lautet: Die Schokolade ist bzw. schmeckt *leckerst/ am leckersten. Wenn man von ein paar verselbstständigten Formen absieht […], gibt es beim Superlativ keine unflektierte Form. Im adverbialen und prädikativen Gebrauch wird als Ersatz die feste Verbindung mit am verwendet (b). […] (b) Gisela warf den Ball hoch – höher – am höchsten (*höchst) (Duden-Grammatik 2005: 374f.)
Die Superlativform bildet also verschiedene Formen heraus – eine synthetische für den präsubstantivisch-attributiven Gebrauch (leckerst-) und eine analytische für den adverbialen und den prädikativen Gebrauch (am lecker-sten). 2.2 Superlativ vs. Elativ Wenn der Unterschied schönst- vs. am schönsten thematisiert wird, dann im Zusammenhang mit der Elativ- und der Superlativfunktion (besonders ausführlich Koller 2007). Bei der Superlativfunktion geht man davon aus, dass es Vergleichsgrößen gibt, bei der Elativfunktion fehlen diese Vergleichsgrößen: Die superlativisch bezeichneten Größen [(...)] werden – im Gegensatz zu den elativisch bezeichneten [(...)] – als Teilmengen eingeführt und vergleichsweise innerhalb einer Gesamtmenge [(...)] als alle anderen übertreffend charakterisiert (Koller 2007: 8f.).
Im präsubstantivisch-attributiven und damit flektierbaren Gebrauch unterscheiden sich die Formen selbst nicht, es handelt sich immer um synthetische Superlativformen von Adjektiven auf -st- (wir unterscheiden hier im Folgenden zwischen der Superlativform einerseits und der Superlativund Elativfunktion andererseits). Syntaktisch steht jedoch bei der Superla-
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tivfunktion aufgrund des Merkmals der Aussonderung einer bestimmten Teilmenge normalerweise der definite Artikel, bei der Elativfunktion wegen des Fehlens dieses Merkmals der Null-Artikel (Koller 2007: 8): In all den Jahren ist er dem aggressivsten Eröffnungszug […] treu geblieben (Superlativ) vs. Am 1. Brett versuchte Markus Vonlanthen eine etwas zweifelhaft anmutende Eröffnung mit aggressivstem Spiel zu bestrafen (Elativ). Im prädikativen und adverbialen Gebrauch tritt wie bereits bemerkt die analytische Fügung am Xsten auf der Basis einer Superlativform auf, wobei es sich hier immer um die Superlativfunktion und nicht um die Elativfunktion handelt: Die Schokolade ist/schmeckt am leckersten – von allen. Man kann annehmen, dass der definite Artikel dabei in der Verschmelzung am steckt. Definitheit ist hier also grammatikalisiert. In elativischer Funktion treten auch im prädikativen und adverbialen Gebrauch im Allgemeinen synthetische Superlativformen auf. Zum einen handelt es sich um Wortbildungen auf der Basis einer Superlativform auf: Die Schokolade ist/schmeckt bestens. Zum anderen weist Koller (2007: 12f.) aber darauf hin, dass sich in Korpora des IDS in elativischer Funktion vermeintlich ungrammatische unflektierte Superlativadjektive finden: Saddam Husseins Schergen haben diesen Aufstand blutigst niedergeschlagen (adverbial) – Die Zutaten fürs Schweinefutter müssen billigst sein (prädikativ). Diese Bildungsweise scheint vor allem bei Mehrsilbigkeit des Basisadjektivs okkasionell jederzeit gegeben zu sein. Nimmt man außerdem noch den nicht-präsubstantivischen attributiven Gebrauch hinzu, so zeigen sich dieselben Verhältnisse wie eben ausgeführt. In superlativischer Funktion tritt die Fügung am Xsten auf: die am schnellsten gegessene Schokolade. In elativischer Funktion erscheinen dagegen wie erwartet Wortbildungen oder unflektierte Basisadjektive: die schnellstens gegessene Schokolade; die äußerst leckere Schokolade. Der vermeintlich „normale“ präsubstantivisch-attributive Gebrauch ist also eigentlich der, der ausschert, weil für die elativische und superlativische Funktion nicht zwei verschiedene Formen zur Verfügung stehen. Das System hinsichtlich der Superlativformen gestaltet sich im gegenwärtigen Deutschen also folgendermaßen: +[präsubstantiv.-attributiv] = flektierbar Superlativfunktion flektiert Elativfunktion flektiert
–[präsubstantiv.-attributiv] = nicht-flektierbar am Xsten -ens unflektiert (0)
Abbildung 1: Superlativ- und Elativfunktion im heutigen Deutsch
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Wenn man den nicht-präsubstantivischen attributiven Gebrauch der Einfachheit halber weglässt und Positiv und Komparativ zusätzlich mit aufnimmt, ergibt sich in einem zweiten Schritt folgende Tabelle:
Positiv Komparativ Superlativ - (Elativfunktion) Superlativ - (Superlativfunktion)
+attributiv = flektierbar flektiert flektiert flektiert flektiert
–attributiv
= nicht-flektierbar unflektiert unflektiert unflektiert -ens am Xsten
Abbildung 2: Superlativ im System der anderen Komparationsformen im heutigen Deutsch
Unflektiertheit liegt also nur bei -attributivem (genauer: nicht-präsubstantivisch attributivem) Gebrauch vor und zwar in allen drei Formkategorien: im Positiv (hoch), Komparativ (höher) und Superlativ in Elativfunktion (höchst). In der Superlativfunktion erscheint eine andere nicht-flektierbare Fügung, nämlich am Xsten. Das für die Superlativfunktion erwartete Definitheitsmerkmal steckt dabei in der Verschmelzung am. am Xsten ist außerdem die einzige analytische Form im Komparationsbereich. Dadurch korrelieren Superlativ- und Elativfunktion im Bereich -attributiv mit den Formkategorien analytisch und synthetisch. –attributiv Superlativ - (Elativfunktion)
= nicht-flektierbar synthetisch
Superlativ - (Superlativfunktion)
analytisch
Abbildung 3: Synthese und Analyse bei Superlativ und Komparativ
3. Der Superlativ im Deutschen historisch 3.1 Althochdeutsch Zum einen sind Superlativ und Elativ auf den älteren Stufen des Deutschen formal noch nicht geschieden. Zum anderen zeigt sich schon im Althochdeutschen die Trennung zwischen attributivem und -attributivem Gebrauch anhand der Korrelation flektierbar und nicht-flektierbar. Die Trennung ist jedoch nicht vollständig, da sich eine Überschneidung ergibt zwischen der unflektierten Variante des starken Adjektivs im Positiv (vor allem Nominativ Singular) und den nicht-suffigierten Adverbien im Komparativ und Superlativ.
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Analytisches und Synthetisches im deutschen Superlativ
Positiv Komparativ Superlativ
+attributiv = flektierbar flektiert (schwach/stark) 0 = unflkt. stark Nom.Sg. flektiert (schwach) flektiert (schwach)
–attributiv = nicht-flektierbar -o 0 = nicht-suffigiert 0 = nicht-suffigiert
Abbildung 4: Die Komparationsstufen im Althochdeutschen
Zum einen fällt auf, dass Komparativ und Superlativ (mit einigen wenigen Ausnahmen) nur schwach flektieren, also inhärent definit sind, was semantisch gedeutet werden kann. Dazu ist jedoch zu sagen, dass andere germanische Sprachen wie Altnordisch, Gotisch, Altsächsisch und Altenglisch zumindest im Superlativ sowohl starke als auch schwache Formen zeigen (Braune 1987: 226, Anm. 1; vgl. auch Ramat 1981: 80). Im –attributiven Bereich ergibt sich die Nicht-Flektierbarkeit vor allem durch die noch klare Scheidung zwischen Adjektiven und AdjektivAdverbien, da letztere natürlich grundsätzlich nicht flektierbar sind. Während der Positiv durch das Suffix -o markiert ist (z.B. fasto ‚fest‘; Braune 1987: 228), weisen Komparativ (fastōr; ebd. 229) und Superlativ (fastōst; ebd.) kein Adverbmerkmal auf und gleichen so der unflektierten Variante des starken Adjektivs, das im Prinzip nur im Positiv (s.o.) und vor allem im Nominativ Singular vorkommt. Das bedeutet aber auch: Die heutige unflektierte Superlativform in Elativfunktion im Bereich -attributiv führt das alte synthetische System fort, während im Frühneuhochdeutschen dann analytisches am Xsten in Superlativfunktion grammatikalisiert wird. 3.2 Mittelhochdeutsch Im Mittelhochdeutschen wird das althochdeutsche System im Prinzip weitergeführt, weiterhin korrelieren der +attributive und der –attributive Bereich mit flektierbar und nicht-flektierbar. Die Überschneidung zwischen Adjektiv und Adverb ist aber noch größer, da die unflektierte Variante des starken Adjektivs (vor allem Nominativ Singular) jetzt in allen Gradierungsstufen auftaucht.
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Positiv Komparativ Superlativ
Nanna Fuhrhop & Petra Vogel
+attributiv = flektierbar flektiert (schwach/stark) inkl. 0 = unflkt. stark Nom.Sg. flektiert (schwach/stark) inkl. 0 = unflkt. stark Nom.Sg. flektiert (schwach/stark) inkl. 0 = unflkt. stark Nom.Sg.
-attributiv = nicht-flektierbar -e (z.B. lange; Paul 1989: 216) 0 = nicht-suffigiert (langer; ebd. 219) 0 = nicht-suffigiert (langest; ebd.)
Abbildung 5: Die Komparationsstufen im Mittelhochdeutschen
Bedingt ist das dadurch, dass im Mittelhochdeutschen Komparativ und Superlativ wie der Positiv sowohl stark als auch schwach flektieren. Dadurch kann die unflektierte Variante des starken Adjektivs, das im Prinzip nur im Nominativ Singular existiert, in allen Gradierungsstufen im +attributiven Bereich sowohl +prädikativ als auch -prädikativ auftauchen. Im Prädikativum kommt dabei nicht nur, aber bevorzugt die unflektierte Variante vor (Paul 1989: 360): (1) unflektiert: er ist der wunne so sat (ebd.) ‚er ist der Wonne so satt‘ flektiert: nîdes was er uoller (ebd.) ‚Neides war er voll/ein voller‘ Da das unflektierte Adjektiv mit dem nicht-suffigierten Adverb übereinstimmt und auch eine Modifikation von sein als adverbiale Funktion gewertet werden kann, kann ein und dieselbe Form im Komparativ und Superlativ entweder als +attributiv/+prädikativ oder als –adverbial/+prädikativ gewertet werden. Dadurch wird der –adverbiale Bereich um die prädikative Funktion erweitert. 3.3 Neuhochdeutsch Im Neuhochdeutschen haben wir erstmals eine klare Scheidung ohne Überschneidungen zwischen +attributiver und –attributiver Verwendung. Erstere korreliert mit flektierbar und gleichzeitig mit flektiert, unflektierte Formen treten nicht auf. Die –attributive Verwendung korreliert dagegen mit nicht-flektierbar und gleichzeitig mit unflektiert. Da keine Adverbmarker mehr auftreten, liegen nur noch flektierte und unflektierte Adjektive vor (wie in Abbildung 2 gezeigt).
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Analytisches und Synthetisches im deutschen Superlativ
Positiv Komparativ Superlativ (Elativfunktion) Superlativ (Superlativfunktion)
+attributiv = flektierbar flektiert (schwach/stark) flektiert (schwach/stark) flektiert (schwach/stark)
–attributiv = nicht-flektierbar 0 = unflektiert 0 = unflektiert 0 = unflektiert
flektiert (schwach/stark)
am Xsten
Abbildung 6: Die Komparationsstufen im Neuhochdeutschen
Der Superlativ in Elativfunktion führt im –attributiven Gebrauch die historisch unflektierte bzw. nicht-suffigierte und damit synthetische Form fort. Für die Superlativfunktion hat sich eine eigene analytische Fügung am Xsten mit inhärenter Definitheit grammatikalisiert. Schon für das Althochdeutsche werden durch Präpositionen verstärkte adverbiale Superlative erwähnt (Braune 1987: 229): zi jungist(in) ‚zuletzt‘, zi erist(in) ‚zuerst‘. Die Form mit am wird aber erst im Frühneuhochdeutschen als neue Form mit Superlativfunktion grammatikalisiert. Offenbar war zumindest zu Beginn auch noch an dem statt am möglich: wo der zaun an dem nidersten ist, da steigt man an dem meinsten drüber (Ayrer 16. Jhd.; DWB Sp. 276). Es wird auch für die frühen Beispiele schon davon ausgegangen, dass „die präp. in ihnen keine bedeutung mehr hat, daß die ganze verbindung ihrer bedeutung nach ein compositum darstellt und von den nichtpräpositional gebildeten superlativadverbia sich nicht unterscheidet“ (Krömer 1914: 488). 4. Der Superlativ in anderen germanischen Sprachen 4.1 Skandinavisch: senast Im Skandinavischen fehlt die hier für den adverbialen (und prädikativen) Bereich beschriebene analytische Sonderform des Superlativs in Superlativfunktion. Die alten Verhältnisse werden in Form unflektierter Adjektive weitergeführt, z.B. schwed. Han kommer senast ‚Er kommt am spätesten‘. Die offensichtlich besondere „definite“ Semantik des Superlativs spielt keine Rolle. Ein partikelloser, synthetischer Elativ scheint nur noch in Verknüpfung mit Negation und in eher stehenden Redewendungen vorzukommen, z.B. norw. ikke så vœrst ‘not so very bad’ (Jespersen [1924] 1992: 248). Damit liegt eine Differenzierung nach Superlativ/Synthetisch und Elativ/Analytisch vor, also umgekehrt wie im Deutschen.
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4.2 Englisch: (the) loudest Auch das Englische verhält sich hinsichtlich seines adverbialen Superlativs prinzipiell wie die skandinavischen Sprachen, z.B. to come off best (‚am besten davonkommen‘) he laughs best/longest who laughs last als Übersetzungsvorschläge von ‚Wer zuletzt lacht, lacht am besten‘ (Springer 2003: 978). Curme (1935: 342) führt unter „Newer Forms of Expression“ jedoch eine analytische auf, „which is quite common in colloquial speech and occurs sometimes in the literary language“. Hier wird vor den Superlativ in Superlativfunktion noch der definite Artikel gestellt. Literarische Beispiele findet Curme (ebd.) bereits im 18. und 19. Jahrhundert, z.B. Of all my books I like this the best (Dickens, David Copperfield, Preface). Die Konstruktion überträgt sich sogar auf den Komparativ: Ruth could not tell which she liked the better (Lucy Fitch Perkins, The Children’s Yearbook, p. 17). Statt der Grammatikalisierung einer rein adverbialen Phrase wie im Deutschen liegt hier aber wahrscheinlich eine Übertragung aus dem prädikativen +attributiven Bereich vor im Sinne von John is the strongest of the boys (Curme 1931: 499). Die offensichtlich besondere „definite“ Semantik des Superlativs kommt hier also langsam zum Tragen. Im Elativ bzw. „absolute superlative“ kommen im Allgemeinen andere analytische Formen mit very, awfully usw. vor (Curme 1935: 344). Damit differenziert das Englische im älteren System wie das Skandinavische nach Superlativ/Synthetisch und Elativ/Analytisch. Im neueren System wird die Differenzierung aufgehoben, da in beiden Fällen analytische Bildungen vorliegen. 4.3 Niederländisch: het snellst Im Niederländischen scheint das englische „neue“ System generalisiert, da hier der Superlativ im adverbialen Bereich bereits durchgängig mit Artikel gebildet wird und damit analytisch ist, z.B. hij loopt het snelst ‚er läuft am schnellsten‘. Niederländisch und ansatzweise Englisch verhalten sich bzgl. Definitheit also wie Deutsch, markieren Definitheit aber mit anderen Mitteln. Auch hinsichtlich des Elativs scheint sich Niederländisch wie Englisch zu verhalten, da hier analytische Konstruktionen verwendet werden (pers. Mitt. Esther Ruigendijk). Das Niederländische weist also im Prinzip das gleiche System auf wie im gegenwärtigen Englisch. 5. Kennzeichnung der Definitheit 5.1 Warum nicht mit dem bestimmten Artikel wie in der Schnellste? Im Niederländischen und im Englischen werden wie gesagt die entsprechenden Formen in Superlativfunktion mit dem bestimmten Artikel gebil-
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det. Im Deutschen können solche Formen ausschließlich prädikativ verwendet werden: Britta Steffen war die Schnellste, sie sind die Größten, dieses Kleid ist das Schönste. Der wesentliche Unterschied zwischen dem Niederländischen, dem Englischen und dem Deutschen ist die Kongruenz, im Deutschen kongruieren die Formen mit dem Bezugssubstantiv im Genus und Numerus. Im Englischen unterscheidet sich der bestimmte Artikel weder im Genus noch im Numerus (he is the best, we are the best, he runs the fastest, we drive the fastest). Im Niederländischen gibt es zwar zwei „Genera“, der Unterschied ist aber „belebt“ vs. „unbelebt“. Das heißt, alle Einheiten, die nicht belebt sind, können mit het kombinieren. Im Deutschen haben wir ein anderes Genussystem, was ja schon am Bezug in den obigen Beispielen zu erkennen ist (die Schnellste, das Schönste, der Größte). Adverbial sind solche Formen entsprechend nicht möglich: *Sie schwimmt das/die Schnellste. Die Formen sind zwar prädikativ möglich, aber sie sind nicht die grammatikalisierte Form des Superlativs. Der Bezug zum Substantiv ist deutlich, es handelt sich um substantivisch gebrauchte Adjektive analog zu anderen Adjektiven wie die Große, der Schnelle usw. Damit sind wir bei folgendem Stand: Aufgrund der Bedeutung einer Form in Superlativfunktion erscheint das Auftreten eines definiten Artikels sinnvoll. Aufgrund der Genushaltigkeit der Artikel im Deutschen und des speziellen Genussystems im Deutschen erscheint speziell die analytische Form „definiter Artikel+Adjektiv+st+Flexionsendung“ (der/die/das Schnellste) nicht sinnvoll. Eine weitere Möglichkeit, Definitheit zu kennzeichnen, ist der „verschmolzene“ Artikel in Verschmelzungsformen. Verschmelzungen erfüllen die Funktion des definiten Artikels und haben eine Tendenz zur Bedeutungsentleerung. 5.2 Warum am? Wir nehmen an, dass Verschmelzungen an dieser Stelle präferiert sind. Der bestimmte Artikel wird semantisch gebraucht, kann aber nicht selbst stehen. Die Verschmelzungen sind zwar nicht genusneutral im eigentlichen Sinne, aber die Präpositionen, die den Dativ regieren, unterscheiden nicht zwischen Maskulinum und Neutrum. Hier liegt ein Zwei-GenusSystem vor (Femininum und Nicht-Femininum). 5.2.1 Präferenz für einsilbige Verschmelzungen Betrachtet man die Formen in den Flexionsparadigmen hinsichtlich ihrer prosodischen Struktur, so kann man feststellen, dass Füße mit Auftakt, also einer unbetonten Silbe vor der betonten, produziert werden, aber nicht mit zwei unbetonten Silben vor der betonten.
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Bei der Verbflexion findet sich die Struktur gelaufen und verlaufen. Das Auftreten von ge- ist prosodisch geregelt: Es tritt auf, wenn es direkt der betonten Silbe vorangehen kann. Diese Regelmäßigkeit zeigt sich an zwei Stellen, wo ge- gerade nicht auftritt: Bei untrennbaren (unbetonten) Präfixen: verlaufen – *geverlaufen/*vergelaufen, betrachten – *gebetrachten und bei Verben auf -ieren, da -ieren den Akzent auf sich zieht (studiert – *gestudiert). Das heißt, hier werden prosodische Strukturen des Typs [_ –_] (gelaufen, verlaufen, studieren) oder des Typs [_ –] produziert und gerade nicht solche, in denen der betonten Silbe zwei unbetonte vorausgehen. Diese Ausführungen sollen illustrieren, warum hier eine Beschränkung auf insgesamt einsilbige Formen plausibel erscheint. 5.2.2 Einsilbige Verschmelzungen Als einsilbige Verschmelzungen kann man folgenden Bestand annehmen: (2) a. am, im, vom, beim, zum b. zur (Eisenberg 2006b: 200) c. ans, aufs, durchs, fürs, ins, ums, vors (Eisenberg 2006b: 201) Die Fälle in (2a) regieren den Dativ und Nicht-Feminina. Der eine Fall in (2b) regiert Feminina und den Dativ. (2c) regiert einen Akkusativ und markiert hier eindeutig das neutrale Genus. Die Verschmelzungen mit Dativ sind grammatikalisierter, laut Eisenberg (2006b: 201) verhindert das Suffix -s eine Grammatikalisierung. Ob es am -s oder am Akkusativ liegt, sei dahingestellt, aber die Verschmelzungen in (2c) tendieren weit weniger zur Grammatikalisierung als die in (2a) und (2b). Zwischen (2a) und (2b) besteht der Genusunterschied, die Verschmelzungen in (2a) können zwei Genera regieren, die in (2b) ausschließlich Feminina. Die Bevorzugung von (2a) muss nicht alleine in der rein zahlenmäßigen Überlegenheit gesehen werden, sondern kann auch inhaltlich mit den Genera begründet werden. Bittner (2002: 221) kommt zu dem Ergebnis, dass der definite Artikel dem (also Dativ, maskulin) derjenige ist, der die höchste ‚Begrenztheit‘ aufweist. Bevorzugt sind also einsilbige Präpositionen, die mit dem Artikel dem verschmelzen können. Es bleiben an, in, von, bei, zu. Eisenberg (2006b: 200f) zeigt deutlich, dass alle diese Formen ihre Grammatikalisierungen haben (am schönsten, am r/Reiten, im Allgemeinen, im Einzelnen, beim Lesen, zum Schwimmen, vom Laufen). Diejenigen mit am und im sind am deutlichsten grammatikalisiert; ein Hinweis – nicht mehr und nicht weniger – ist hier schon die Schreibung (im Allgemeinen wird ja erst seit der Rechtschreibreform groß geschrieben). Bei den anderen ist „ein lexikalischer Bedeu-
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tungsrest erkennbar“ (Eisenberg 2006b: 201) (er geht zum Schwimmen, er ist beim Schwimmen, er kommt vom Schwimmen). Im Niederdeutschen finden sich die Formen schöön – schöner – op’t schöönst, koolt – koler – op’t koolst (Kloock & Viechelmann 1996: 23), also Superlativform mit op (‚auf‘). Auch im Standarddeutschen finden sich entsprechende: aufs Höchste, aufs Beste. Nun könnte man fragen, warum sich nicht diese Formen durchgesetzt haben – wie sie es im Niederdeutschen getan haben (die Verdrängung findet ja nach den Angaben nur durch das Standarddeutsche statt). Es wäre eben die Vermutung, dass eine Dativverschmelzung besser ist, sie ist grammatikalisierter und suggeriert nicht ausschließlich neutrales Genus wie es aufs tut. In den größten Sprachgebieten des Niederdeutschen werden Dativ und Akkusativ nicht unterschieden (Lindow et al. 1998: 144) – so kann man auch den Unterschied verstehen. Damit sind wir der Erklärung näher, warum die Präposition an bzw. die Verschmelzung am gewählt wurde: Der Superlativ ist definit, die Definitheit kann nicht mit dem definiten Artikel gezeigt werden wegen des Genussystems im Deutschen. Übrig bleiben die Verschmelzungen, einsilbige Verschmelzungen, die den Dativ regieren. Diese können vollständig aufgelistet werden; mit der Tendenz zur Bedeutungsentleerung bleiben im und am; am grammatikalisiert mit Adjektiven im Superlativ, im in Formen wie im Einzelnen, im Allgemeinen usw. 6. Die Form – morphologisch und syntaktisch 6.1 Der Superlativ: Flexionsform oder zwei Wörter? Nach den Kriterien für syntaktische Wörter spricht viel dafür, am schnellsten als ein syntaktisches Wort aufzufassen. Die Form ist ununterbrechbar wie zu laufen (mit der einzigen Ausnahme am allerbesten) und verhält sich auch sonst sehr ähnlich wie der zu-Infinitiv, vgl. Eisenberg (2006b: 354). Bei einer syntaktischen Analyse der Form könnten wir einerseits von einer Ellipse ausgehen (zum Beispiel das Fahrrad lehnt am schönsten Haus/am schönsten), andererseits von einem substantivischen Adjektiv, beides wird der Form nicht gerecht. Bei einer Ellipse fehlt die potenzielle Ergänzung, bei der Interpretation als substantivisches Adjektiv die Möglichkeit für andere Verschmelzungen und letztendlich auch für Artikel, also für die sogenannte Vollform der Verschmelzung (*an dem schnellsten/Schnellsten). Auch morphologisch ergibt sich eine Parallele zum zu-Infinitiv. Ein wesentlicher Unterschied ist aber, dass der zu-Infinitiv wortverdächtige Formen (Partikelverben) unterbrechen kann (anzufangen, umzustimmen), eine parallele Erscheinung findet sich bei der am Xsten-Form nicht. Morphologisch steht zunächst zur Debatte, ob es Flexion, Derivation oder Kompo-
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sition ist. Gegen Derivation spricht die Selbstständigkeit der Einheiten, analytische Derivation wird bisher nicht angenommen. Die Komparativform, für die genau die Debatte, ob sie Flexion oder Derivation ist, geführt wird, verhält sich hier anders, weil sie mit einem Suffix gebildet wird. Gegen Komposition spricht die Tatsache, dass Verschmelzungen sonst nicht Erstglieder von Komposita sind, das ist ein Hinweis, aber kein deutliches Argument. Wenn es Flexion wäre, dann analytische Flexion bzw. teilanalytische Flexion. Adjektive flektieren nach allgemeiner Annahme nach Genus, Kasus und Numerus. Alle diese Flexionskategorien stecken – wenn überhaupt – in der Endung -en (am Xst-en), das am übernimmt keine von ihnen, sondern regiert diese. Im am steckt hingegen Definitheit, eine Kategorie, die in der Unterscheidung zwischen starker und schwacher Adjektivflexion eine Rolle spielt; damit kann die Konstruktion mit am als analytische Flexion interpretiert werden. In diesem Sinne legt auch Koller (2007: 18) die Form fest als „Superlativ, der analytisch als grammatikalisierte (definite) Präpositionalphrase (am …-sten) gebildet ist.“ 6.2 Elativ: Synthetische Form der Intensivierung? Die elative Form Xst kann informell mit „mehr X“ paraphrasiert werden. Dies ist insofern interessant, als für das Englische mitunter eine Tendenz zur „analytischen“ Komparation angenommen wird: (more beautiful – ??beautifuller). Im Deutschen ist eine solche Tendenz (*mehr schön) nicht auszumachen, hingegen findet sich in der Form bescheidenst eine Intensivierung: bescheidenst kann mit sehr bescheiden paraphrasiert werden. Die Intensivierung wird in die Form hineingezogen. Das heißt, der Elativ kann nicht nur analytisch (sehr bescheiden), sondern auch synthetisch gebildet werden (bescheidenst). 6.3 Die Superlativ- und die Elativform in Syntax und Morphologie
Superlativ
flektiertattributiv höchst-
Elativ
(höchst-)
unflektiertattributiv die am höchsten gestiegene Aktie höchst
Positiv Komparativ Adverbien
schönschönerheutig-
schön schöner heute
adverbial
prädikativ
am höchsten
am höchsten
(höchst) (höchst) ausgewählt: bescheidenst, blutigst schön schön schöner schöner heute heute
Abbildung 7: Komparationsstufen und Adverbien in den syntaktischen Funktionen
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Analytisches und Synthetisches im deutschen Superlativ
Die Positivformen kommen in allen Funktionen vor, die flektiertattributive Position ist ausgezeichnet durch die Flexion. Das Gleiche gilt für die Komparativformen. Bei den Adverbien wird eine extra Form gebildet, um sie flektierbar zu machen (heutig-). Elativ und Superlativ sind in der voll ausgeprägten Form wohl komplementär. Durch die klare Formenunterscheidung ist es aber möglich, elative Formen für die prädikative und adverbiale Funktion okkasionell jederzeit zu bilden. Die Formen werden im Allgemeinen nicht lexikalisiert, sondern nur als spontane Bildungen realisiert. Das System ermöglicht hier eindeutige Interpretationen. Diese Eindeutigkeit fehlt bei der attributiv-flektierten Position, hier ergibt sich die Eindeutigkeit entweder durch den bestimmten Artikel, der vom Superlativ regiert wird, oder durch eine Begriffsbildung wie höchstes Gericht: Ein höchstes Gericht ist eines aus der Menge der höchsten Gerichte (Koller 2007: 41). Mit diesen Vorgaben können jetzt die Adjektivformen eingeordnet werden. Über der Menge der Adjektive kann eine Klassifikation nach „Steigerung“ vorgenommen werden, in der Nicht-Höchststufe unterscheidet man nach Positiv und Komparativ, in der Höchststufe nach Elativ und Superlativ. Steigerung Nicht-Höchststufe Positiv
Komparativ
Höchststufe Elativ
Superlativ
Abbildung 8: Klassifikation über den Adjektiven
Elativ und Superlativ unterscheiden sich dadurch, dass der Superlativ Definitheit regiert, entweder im definiten Artikel oder in der Verschmelzung am. So kann verstanden werden, warum der Superlativ je nach Funktion unterschiedliche Formen herausbildet. den
Baum schön-
am
sten (+DEF)
Abbildung 9: Der Superlativ regiert Definitheit
In beiden Fällen ist Definitheit extern realisiert. Es kann als Rektionsverhältnis gesehen werden, weil das Superlativ-st eine definite Einheit ver-
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langt. Eine solche Analyse spricht dafür, dass es eine analytische Form ist. Je nach Kontext wählt es einen Definitheitsträger. Das Besondere ist, dass es den Default-Definitheitsträger am wählt, der – bei der Betrachtung der Möglichkeiten – allerdings eine relativ schlüssige Wahl darstellt. 7. Schluss Im adverbialen und prädikativen Gebrauch sind im Deutschen Superlativ und Elativ formal geschieden. Der Superlativ ist durch die analytische Bildung am Xsten repräsentiert. Im Gegensatz zum Elativ mit der synthetischen Form Xst stellt der Superlativ ein Ereignis als das Besondere heraus. Von dieser Bedeutung her ist zu erwarten, dass der Superlativ das Merkmal der Definitheit erhält. Definitheit ist mit dem bestimmten Artikel verknüpft, der zu einer analytischen Konstruktion führt, in der Definitheit „ausgelagert“ ist. Die Form alleine mit dem bestimmten Artikel (der/das/die s/Schnellste) wird im Deutschen jedoch nicht gewählt wegen der Genusdifferenz und der speziellen Ausprägung des deutschen Genussystems. Dies wird besonders deutlich im Vergleich mit dem Englischen und dem Niederländischen. Die zweite Wahl fällt dann gewissermaßen auf Verschmelzungen, einsilbige Verschmelzungen, die einen Dativ (wegen des Zwei-Genus-Systems des Dativs) regieren und möglichst bedeutungsleer sind. Dies sind am und im. Beide grammatikalisieren mit adjektivischen Formen im Allgemeinen, im Großen und Ganzen, im Einzelnen und am höchsten, am größten, am schnellsten. Die Bildung der Superlativform mit am bekommt damit eine gewisse innere Logik. Dass unterschiedliche Formen gebildet werden für die unterschiedlichen Funktionen, erklärt sich von der Superlativbedeutung: In flektiert-attributiver Funktion wird die Definitheit in der Nominalgruppe erzeugt, in den anderen Positionen muss die Definitheit durch am erzeugt werden. Der analytische Superlativ stellt zudem sprachgeschichtlich die jüngere Form dar, da am Xsten erst im Frühneuhochdeutschen grammatikalisiert wird. Zwar gibt es auch analytische Konstruktionen in Elativfunktion (sehr schön), doch ist auch der synthetische Elativ schönst möglich, so dass im adverbialen und prädikativen Gebrauch Elativ und Synthese sowie Superlativ und Analyse korrelieren. Der Elativ führt zwar die ältere synthetische Bildungsweise fort, scheint aber erst im jüngeren Neuhochdeutschen produktiver zu werden. Aktuell sind Elative für die prädikative und adverbiale Funktion okkasionell jederzeit bildbar. Die Formen werden im Allgemeinen nicht lexikalisiert, sondern nur als spontane Bildungen realisiert. Mit dieser Verteilung steht das Deutsche zudem in Opposition zu den anderen germanischen Sprachen, die im Prinzip nur analytische Bildungen für
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beide Funktionen aufweisen (Niederländisch, Englisch neueres System) oder die umgekehrte Korrelation Superlativ/Synthetisch vs. Elativ/Analytisch zeigen (Skandinavisch, Englisch älteres System). Literatur Bittner, Dagmar (2002), Semantisches in der pronominalen Flexion des Deutschen. Zeitschrift für Sprachwissenschaft 21.2: 196-233. Braune, Wilhem (1987), Althochdeutsche Grammatik. 14. Auflage, bearbeitet von Hans Eggers. Tübingen: Niemeyer. Curme, George O. (1931), A Grammar of the English Language. Vol. III: Syntax. Boston: D. C. Heath and Company. Curme, George O. (1935), A Grammar of the English Language. Vol. II: Parts of Speech and Accidence. Boston: D. C. Heath and Company. Duden-Grammatik (2005), Grammatik. 7. Auflage. Mannheim: Duden. Eisenberg, Peter (2006a), Grundriss der deutschen Grammatik. Das Wort. 3. Auflage. Stuttgart & Weimar: Metzler. Eisenberg, Peter (2006b), Grundriss der deutschen Grammatik. Der Satz. 3. Auflage. Stuttgart & Weimar: Metzler. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm (1862/1984), Band 1: A-Biermolke. (Fotomechanischer Nachdruck der Erstausgabe 1862). München: dtv. Jespersen, Otto [1924] (1992), The Philosophy of Grammar. (Reprint). Chicago & London: University of Chicago Press. Kloock, Marianne & Ingo Viechelmann (1996), Uns plattdüütsch spraakbook. 3. Auflage. Hamburg: Helmut Buske. Koller, Erwin (2007), Zur Grammatik von Elativ und Superlativ. Mannheim: Institut für deutsche Sprache (amades 3/06). Krömer, Gotthard (1914), Die Präpositionen in der hochdeutschen Genesis und Exodus nach den verschiedenen Überlieferungen. Untersuchungen zur Bedeutungslehre und zur Syntax. Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 39: 403-523. Lindow, Wolfgang, Dieter Möhn, Hermann Neibaum, Dieter Stellmacher, Hans Taubken & Jan Wirrer (1998), Niederdeutsche Grammatik. Leer: Schuster. Paul, Hermann (1989), Mittelhochdeutsche Grammatik. 23. Auflage, neu bearbeitet von Peter Wiehl & Siegfried Grosse. Tübingen: Niemeyer. Ramat, Paolo (1981), Einführung in das Germanische. Tübingen: Niemeyer. Springer, Otto (Hrsg) (2003), Langenscheidts Enzyklopädisches Wörterbuch der englischen und deutschen Sprache „Der Große Muret-Sanders“. Berlin: Langenscheidt.
Livio Gaeta Polysynthese, Multifunktionalität und die denominalen Adjektive im Deutschen * Abstract German is usually taken to have undergone a massive increase of analytic constructions especially in inflection at the cost of earlier synthetic coding. However, we also record the expansion of compounding, which is generally considered to be typical of polysynthetic languages and is therefore in contrast with the general trend towards analyticity. This mixed picture, in which inflectional markers are eliminated but synthetic features expand, leads to the paradox that the development of compounding also implies the increase of analyticity. In fact, in compounds modifiers typically lose their inflectional properties becoming invariable. This is also the case of verb modifiers like adverbs, predicative adjectives and nouns. Since this loss can be understood as multifunctionality, which is a typical analytic property, the expansion of compounding turns out to imply the expansion of such multifunctionality, i.e. analyticity. Denominal adjectives like Bombe, Klasse, etc., quite common among young people, reflect this paradox.
1. Zu einer typologischen Bewertung des Deutschen Ob die traditionellen Sprachtypen (fusionierend einschl. introflektierend – agglutinierend – isolierend – polysynthetisch) reine theoretische Konstrukte darstellen oder doch auch eine gewisse Erklärungskraft bzw. prototypenlogische Anziehungskapazität beanspruchen können, ist bis heute umstritten. Jedenfalls scheint es vernünftiger, die Typen als verschiedene Kodierungstechniken aufzufassen. Das erlaubt es uns, das Potential der unterschiedlichen Kodierungstechniken, das in den einzelnen Sprachen vorhanden ist, darzustellen. Dies kann unter dem Schlagwort der Arbeitsteilung subsumiert werden, und gibt uns ein Gesamtbild von Mischsprachen, das fruchtbarer ist als eine scharfe Unterteilung nach grob definierten Sprachtypen. Wenn nun die diachrone Dimension ins Auge gefasst wird, kann die komplexe Entwicklung eines historisch bestimmten Sprachsystems verfolgt werden. Es ist das Verdienst von Wurzel (1996a), die gesamte Ent-
__________ *
Ich danke der Alexander-von-Humboldt-Stiftung für die Unterstützung meines Aufenthaltes in Berlin im Jahr 2009, der die hier vorgestellte Forschung ermöglichte. Außerdem möchte ich mich für hilfreiche Kommentare bei Ewald Lang bedanken.
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Livio Gaeta
wicklung der unterschiedlichen, in der deutschen Sprachgeschichte belegten Kodierungspotentialitäten skizziert zu haben. Man kann seine Ergebnisse folgendermaßen zusammenfassen: Die fusionierende Technik ist zum großen Teil abgebaut. Allerdings mit unterschiedlichen Auswegen: Während bei den Verben fusionierende Kodierungen stark abgenommen haben und durch agglutinierende bzw. periphrastische/isolierende Konstrukte ersetzt bzw. um diese bereichert wurden, ist bei den Nomina bzw. den Adjektiven eine Abnahme von Fusion nur teilweise zu beobachten. Zwar wird im heutigen Deutsch die Kasusmarkierung durch die gesamte NP ausgedrückt, aber die Numerusmarkierung ist viel resistenter und am Nomen sogar durch neu entstandene introflektierende Kodierungen markiert (wie etwa den Umlaut in Vater/Väter, u.ä.; vgl. dazu auch Primus 1997). Robuste Gegenbeispiele zu dieser Tendenz werden nur durch die derivationell offene Menge der agentiven -er Suffigierungen geliefert. Darüber hinaus hat sich der fusionierende Charakter der Adjektivflexion wesentlich verstärkt. Das gilt allerdings nur für den prototypischen Fall der attributiven Verwendung. In den anderen Verwendungen ist das Adjektiv einen entschiedenen Schritt in die Richtung der isolierenden Kodierung gegangen. Wenn es auch stimmt, dass durch Markierungsabbau Adverbien formal nicht mehr von den Adjektiven zu unterscheiden sind, was zu einer für die isolierenden Sprachen typischen diffusen Multifunktionalität führt, so hat sich aber für Satzadverbien eine agglutinierende, spezifische Markierung entwickelt, nämlich das Suffix -erweise. Schließlich ist eine eindeutig fusionierende Markierung im Bereich der Negation entstanden (vgl. kein, keiner, usw.); eine wohl einmalige Erscheinung innerhalb der indoeuropäischen Sprachen. Also: das Gesamtbild ist komplex. Einfach zu behaupten, dass Analytik auf Kosten der Synthetik zugenommen hat, sagt wenig über die typologische Charakterisierung des Deutschen (vgl. Roelcke 2004 für weitere Überlegungen). Was mir in Wurzels Übersicht besonders relevant erscheint, ist die Beobachtung, dass die polysynthetischen Merkmale im Lauf der deutschen Sprachgeschichte immer robuster geworden sind. Wenn im Althochdeutschen die Komposita wesentlich zweigliedrig waren, so sind die formalen Möglichkeiten der Komposition, einschließlich der Inkorporation, im heutigen Deutsch erheblich reichhaltiger. Das heißt, dass sich diachron eine ganz neue Kodierungstechnik herausgebildet bzw. verstärkt hat, die den näher verwandten indoeuropäischen Sprachen zum großen Teil fremd ist, die aber Merkmale mit dem finno-ugrischen Sprachtyp teilt. Wie weit die jahrhundertelangen Sprachkontakte einen
Die denominalen Adjektive im Deutschen
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Einfluss auf diese besondere Entwicklung des Deutschen ausgeübt haben, sei hier dahingestellt. 43 Die Blüte der Polysynthese, so die in diesem Beitrag zu verteidigende These, hat sich auf den gesamten deutschen Sprachtyp mehrfach niedergeschlagen, da sich parallel zur Ausbreitung der Polysynthese das typisch deutsche Muster der Klammerbildung entwickelt hat. Unter anderem ist ein Nebeneffekt der Klammerbildung die Ausbreitung der Multifunktionalität, was als ein typisches Merkmal der analytischen Sprachen gilt. Die Ausweitung der Komposition (synthetisches Merkmal) in Kombination mit der Klammerbildung führt dann im Deutschen zu einer Steigerung der Multifunktionalität, d.h. der Analytik. Mit anderen Worten entsteht paradoxerweise aus der hohen Produktivität eines synthetischen Verfahrens eine Zunahme von analytischen Eigenschaften, die durch die Mechanik der Klammerbildung erzwungen werden. Das wird besonders im Fall der aus Nomina entstandenen Adjektive deutlich. Im Folgenden werden wir uns zuerst auf die Bedeutung der Polysynthese im Deutschen konzentrieren, dann werden wir das Thema Klammer betrachten, das eng mit der Entwicklung der Polysynthese verbunden ist, weil hier einerseits ein Konflikt zwischen Inkorporation und syntaktisch erzwungener Dislokation der Satzglieder entsteht. Andererseits prägt sich dadurch aber das spezifisch deutsche Muster der Inkorporation aus. Von diesem Hintergrund her werden wir das Hauptthema dieses Beitrags betrachten, nämlich die Herausbildung der denominalen Adjektive bzw. Prädikative, die in einigen Sprachregistern des heutigen Deutsch eine gewisse Ausbreitung erfahren. 2. Zur Bedeutung der Polysynthese im heutigen Deutsch Es muss eingangs angemerkt werden, dass die typologische Charakterisierung der Polysynthese besonders problematisch ist. Bei Ineichen, der das Charakteristische an diesem Sprachtyp in der „Gliederung aller grammatischen Funktionen mit Hilfe von Zusätzen um einen einzigen Stamm“ sieht, „so daß der Satz wie aus einem einzigen Wort bestehend erscheint“ (1991: 50), liest man ganz deutlich (1991: 51): „„Europäisch“ gesehen erscheint das Verfahren der Inkorporation besonders undurchsichtig und schwierig. Als Beispiel dient gewöhnlich das Grönländische“. Dagegen ist
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Unabhängig von eventuellen Sprachkontakten ist aber sicherlich das polysynthetische Potential der Komposition in allen germanischen Sprachen reichlich belegt, ebenso die spezifische Tendenz zur Entwicklung von inkorporierenden oder quasi-inkorporierenden Mustern (vgl. Booij 2009 zum Niederländischen und Dahl 2004: 248-251 zu den nordgermanischen Sprachen).
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bei Skalička (1979: 56) der polysynthetische Typ „unter den europäischen Sprachen ... am stärksten im Deutschen wie auch in den germanischen Sprachen überhaupt vertreten, ferner auch in etlichen finnisch-ugrischen Sprachen, so im Ungarischen, Finnischen, Lappischen. Seine hervorstechendste Eigenschaft ist das reichliche Vorhandensein von Komposita“. Wie kommt man zu so unterschiedlichen Einschätzungen? Es muss dazu gesagt werden, dass laut Skalička (1979: 57) „[e]in wichtiges Merkmal dieses Typs ist ..., daß die Wörter weder dekliniert noch konjugiert werden“. Außerdem herrsche in diesem Typ freie Multifunktionalität, da „Wörter einer bestimmten Bedeutung (Substantive, Verben) in der Bedeutung von formalen Wörtern, Präpositionen und Konjunktionen verwendet werden“. Dementsprechend wird das Chinesische als musterhaft polysynthetische Sprache betrachtet. Da aber in medio stat virtus nicht nur ein schöner Spruch ist, können wir davon ausgehen, dass Komposition zwar von besonderer Bedeutung für die Polysynthese ist, dies aber nicht direkt mit Multifunkionalität bzw. Affixlosigkeit korreliert. Also bleibt das Chinesische eine weitgehend isolierende Sprache, wie man traditionell annimmt, und die Polysynthese ist dadurch charakterisiert, dass Komposition darin eine prominente Rolle spielt. Insbesondere kann man als polysynthetisch diejenigen Sprachen bezeichnen, die über produktive Inkorporationsmuster verfügen, wobei unter ‚Inkorporation‘ Komposita mit verbalem Kopf verstanden werden (vgl. Aikhenvald 2007: 11). 44 Ich lasse dahingestellt, ob solche Inkorporations- bzw. Kompositionsmuster morphologischer oder syntaktischer Natur sind. Mindestens für das Deutsche möchte ich aber dafür plädieren, dass sie auf ein bestimmtes Wortbildungsverfahren – sprich Morphologie – zurückgeführt werden müssen (vgl. Gaeta im Druck). Wenn wir nun die Komposition als Kennzeichen der Polysynthese auffassen, erscheint es einschlägig, dass das Deutsche eine konsistente Zunahme an Polysynthese erlebt hat. Im Althochdeutschen gab es echte (1a) und unechte Komposita (1b), die meistens zweigliedrig waren.
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Allerdings bedeutet das nicht, dass alle polysynthetischen Sprachen auch Inkorporation aufweisen müssen. Wie Iturrioz Leza (2001: 716) anmerkt, gibt es Sprachen, die zwar polysynthetisch sind, d.h. eine Anzahl von miteinander verknüpften lexikalischen oder grammatischen Morphemen aufweisen, aber keine Inkorporation haben. Womit auf die Möglichkeit referiert wird, „eine Anzahl von lexikalischen Morphemen zu einem komplexen Wort zu kombinieren“. Als Beispiel für eine nicht-inkorporiende, jedoch polysynthetische Sprache sei auf Eskimo verwiesen, das „in der Regel ein lexikalisches Morphem pro Wort hat“, wie z.B. in angya-ghlla-ng-yug-tuq ‚Er will ein großes Boot kaufen, wrtl. Boot-AUGERWERB-DESID-3SG‘. Diese Unterscheidung erweckt jedenfalls die – hier nicht zu beantwortende – Frage, in wie weit sich ein so definierter polysynthetischer Sprachtyp vom agglutinierenden unterscheidet.
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Die denominalen Adjektive im Deutschen
(1) a. b. c. d.
pir-o-baum tages-lieht [holz [[werk] [man]]] [[hazal] [nuz] kerno]
‚Birnbaum‘ ‚Tageslicht‘ ‚Holzarbeiter‘ ‚Haselnusskern‘
Längere Komposita sind seltener belegt. (1c-d) sind Beispiele für ein rechts- bzw. ein linksverzweigendes Kompositum. Außerdem gab es schon Verbkomposita, aber nur mit Adjektiv als Erstglied gemäß den folgenden drei Mustern: (2) a. follabringan ‚vollbringen‘, follabuozen ‚Genüge tun‘, follagān ‚beharren‘, follakweman ‚gelangen‘ b. missibrūhhen ‚missbrauchen‘, missihabēn ‚sich fehlverhalten‘, missikwedan ‚Unrechtes reden‘, missitrūēn ‚misstrauen‘ c. ebanbringan ‚bringen‘, vgl. das lat. conferre, ebanbrūhhen ‚gebrauchen‘, lat. couti’, ebandolēn ‚Mitleid haben‘, lat. compati’, ebanwirken ‚mitwirken‘, lat. cooperari’ Verbkomposita mit nominalem Erstglied kommen im Althochdeutschen nur „mit alteriertem Verb“ (Henzen 1965: 92) vor: (3) halswerfōn ‚den Hals drehen‘, muotbrehhōn ‚sich verzehren‘, psalmosangōn ‚lobsingen‘, rātslagōn ‚ratschlagen‘, wunnisangōn ‚jauchzen‘ Man beachte, dass Komposita wie psalmosangōn und wunnisangōn als sogenannte Parasyntheta gelten (vgl. Gaeta im Druck), da ihr Kopf *sangōn nicht als selbständiges Lexem vorkommt. In solchen Fällen scheinen „im Moment der Wortbildung Zusammensetzung und Ableitung zusammengewirkt zu haben“ (Henzen 1965: 238). 45 Echte Verbkomposita mit nominalem Erstglied sind erst im Mittelhochdeutschen zu finden (vgl. Henzen 1965: 92): (4) hōnlachen ‚hohnlachen‘, lügenstrāfen ‚verleumden‘, vederlesen ‚federlesen‘, zagelweiben ‚schwanzwedeln‘ Schon Henzen weist allerdings darauf hin, dass solche Typen durch Rückbildung aus NN-Komposita entstanden sind. Man beachte, dass diese
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Vielmehr können solche verbalen Komposita auf Nominalkomposita zurückgeführt werden, die zum Teil auch belegt sind, wie bei psalmsang ‚Psalter‘. Es ist klar, dass dieser Ableitungsmechanismus der echten Rückbildung nahesteht (siehe unten im Text).
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Tendenz, aus Nominalstämmen Verben rückzubilden, ein rekurrentes Thema der deutschen Sprachgeschichte ist. Beispielsweise wird die Entstehung von Nominalkomposita mit verbalem Erstglied generell auf die Reanalyse von echten NN-Komposita zurückgeführt, deren Erstglied ein deverbales Abstraktum war (vgl. Henzen 1965: 70): (5) a. decki-lahhan slāf-hūs stōz-īsan b. melkkubilīn skepfi-faz wezzi-stein
‚Tuch zur Bedeckung‘ ‚Haus für den Schlaf‘ ‚Eisen für den Stoß‘ ‚Melkeimer‘ ‚Schöpfgefäß‘ ‚Wetzstein‘
Aufgrund von real existierenden Abstrakta wie deckī, slāf und stōz wird vom Erstglied ein Verbalstamm decki-/slāf-/stōz- rückgebildet und auf weitere Fälle ausgedehnt, in denen das Abstraktum nicht belegt war (vgl. *melk/*skepfī/*wezzī). Es lässt sich also feststellen, dass alle Möglichkeiten bzw. Voraussetzungen zur (weiteren Entwicklung der) Polysynthese schon in althochdeutscher Zeit vorhanden waren. Insbesondere sind in diesem Zusammenhang von Bedeutung: (a) die frei gegebene Möglichkeit der Zusammensetzung von Lexemen, die mittels Analogie – d.h. von abstrakten, konstruktionsmusterhaften Reanalyseprozessen – zu existierenden Ableitungsmustern „polysynthetisch“ hergestellt werden, und (b) die einfache Anwendung der damit verbundenen Rückbildung. Was also im Althochdeutschen in nuce schon vorhanden war, das hat sich dann in der deutschen Sprachgeschichte „durch den schrittweisen Abbau von strukturellen Restriktionen“ (vgl. Wurzel 1996a: 517) massiv entwickelt. Insbesondere haben die durch Rückbildung bzw. durch Reanalyse entstandenen inkorporierenden Verben zur vollen Blüte dieses Kompositionstyps mit verbalem Kopf geführt, der im heutigen Deutsch nach unterschiedlichen Mustern produktiv ist: • Reverbalisierungen von komplexen substantivierten Infinitiven: bausparen, probesingen; • Reverbalisierungen von komplexen adjektivierten Perfektpartizipien: platinbeschichten, schalldämpfen; • Reverbalisierungen von deverbalen Nomina actionis: ehebrechen (< Ehebruch), notlanden (< Notlandung); • Reverbalisierungen von Nomina agentis: heimwerken, testfahren.
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Wie Wurzel (1996a: 506) anmerkt: „Es spricht alles dafür, daß dieses [d.h. das polysynthetisch-inkorporiende] Potential auch in Zukunft weiter wachsen wird“. 3. Zur Klammer und zur Multifunktionalität Das Streben zur Reverbalisierung von komplexen Strukturen unterschiedlichen Ursprungs ist aber gleichzeitig eine nicht zu übersehende Quelle für die Zunahme von diskontinuierlichen Sprachstrukturen im heutigen Deutsch. Als „diskontinuierender Sprachtyp“ (vgl. Werner 1979) weist das Deutsche bekanntlich eine Reihe von klammerbildenden Entwicklungen auf, die eindeutig eine Zunahme an Analytik darstellen (vgl. die Zusammenstellung in Nübling 2006: 93): • obligatorisches Subjektpronomen; • Artikel; • Präpositionen als Kasusersatz; • grammatische Umschreibungen wie Perfekt, Plusquamperfekt, Futur, Passiv, würde-Form; • Modalverbkonstruktionen; • Funktionsverbgefüge. Ob sich aber das „klammernde Verfahren“ (Ronneberger-Sibold 1994), qua Ziel bzw. qua Ergebnis einer Reihe von analytischen Sprachwandelprozessen, auch als Zunahme von Analytik auffassen lässt, bleibe hier dahingestellt. 46 Meiner Meinung nach lässt sich die so charakteristische Klammer-Bildung des Deutschen nicht unmittelbar auf den Wandel von Synthetik zu Analytik beziehen, sondern eher auf allgemeine Entwicklungen im Gestaltungssystem bzw. in der Linearisierung der Satzglieder. 47 Sicherlich mag „der Übergang von der Kongruenz zur Diskontinuität“
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Vgl. zu dieser Frage Werner (1979: 981): „War es also eine zufällige Anhäufung von völlig verschiedenen Ereignissen, die von der alten Kongruenz [d.h. Synthetik, LG] zur neuen Diskontinuität [d.h. Analytik, LG] geführt haben? Oder wirkte von Anfang an eine geheimnisvolle Teleologie? Es war weder bloßer Zufall noch primäre Zielstrebigkeit, sondern ein Wechselspiel zwischen gegebenen zufälligen Ereignissen u n d einer zweckvollen Auswahl, die aus der jeweiligen Situation etwas neu Funktionierendes gemacht hat, auch wenn dies ein recht kompliziertes Prinzip zu sein scheint“. Diskontinuität ist ein solches Prinzip, worunter „einer der Wege, wie sich aus vorhandenem Material neue Zeichen bilden lassen“ verstanden wird. Vgl. ferner Admoni (1990: 2): „[M]anche Gesetzmäßigkeiten, die sich z. B. in der Entwicklung der deutschen Syntax geltend machen, sind durch den Hang zum analytischen Bau nicht zu erklären. Dies gilt vor allem für die Wortstellung im deutschen Satz. Als Folge der Flexionsreduzierung sollte man den Sieg der Kontaktstellung erwarten und den Übergang zum Ausdruck der Beziehungen zwischen den Satzgliedern durch ihre Reihenfolge“.
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(Werner 1979) als eine Brücke zur Anpassung der sich verändernden Satzgestaltung an die neu auftauchenden analytischen Konstruktionen des Deutschen mitgewirkt haben. Um dem Risiko einer Henne-oder-Ei-Frage zu entgehen, können wir bei der Feststellung verbleiben, dass die Klammer ein wichtiges organisatorisches Prinzip des Deutschen ist. Diese vielleicht wohlfeile Anmerkung hat aber eine Reihe von theoretischen und empirischen Konsequenzen, die sogar den Begriff ‚Wort‘ im Deutschen in Frage stellen. Denn die Annahme des Klammerverfahrens als normales und durchaus systematisches und aktives Konstruktionsmuster impliziert, dass die syntaktische Trennung bzw. die Distanzstellung, die wir von den Partikelverben, aber auch von den Verbkomposita kennen, keine Ausnahme, sondern die Regel darstellen. Insofern erscheinen die Versuche, eine einschlägige Tendenz zur Univerbierung besonders bei Verbkomposita zu postulieren, als abwegig (vgl. diesbezüglich auch Wurzel 1998, und die kritische Auseinandersetzung in Eisenberg 2004: 233-235). 48 Es ist kein Zufall, dass Eschenlohr (1999) und Fuhrhop (2007) in detaillierten Untersuchungen feststellen, dass die Mehrheit der Neubildungen mit ganz wenigen Ausnahmen eher regelmäßig trennbar bleibt. Thurmair (1991) geht sogar davon aus, dass die Produktivität der Partikelverben ein entscheidender Faktor des klammernden Verfahrens ist. 49 Somit ist auch theoretisch zu rechtfertigen, dass das Deutsche über keinen „normalen“ Begriff ‚Wort’ verfügt, sondern sich prinzipiell auf diskontinuierliche Strukturen spezialisiert hat (vgl. Thurmair 1991, Weinrich 2005: 29). Das muss wohl angenommen werden, wenn wir sowohl Partikelverben als auch Verbkomposita als „morphologisch-lexikalische“ Objekte ansehen wollen, denn die Trennbarkeit bzw. die Diskontinuität kann somit auf ein syntaktisches Prinzip zurückgeführt werden, das auf einer anderen Ebene auf das Wort als „zu Grunde liegende“ Einheit Bezug nimmt (vgl. Gaeta & Ricca im Druck). Wenn also die Trennbarkeit bzw. die Diskontinuität den Normalfall darstellt, aber zugleich polysynthetische Wortbildungsverfahren wie Verb-
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Diesbezüglich schlussfolgert Fuhrhop (2007: 59): „Insofern sind [die Substantiv-VerbVerbindungen] vom Prozess her das Gegenteil der Univerbierung: bei dieser wächst zusammen, was häufig zusammensteht. Bei der Rückbildung ist das Besondere die Trennung. Es kann entsprechend auch als Gegenprozess zur Inkorporation gesehen werden: ein Bestandteil eines Wortes wächst heraus und kann zum Teil Objektcharakter annehmen. Es ist vorher gerade kein Objekt“. Vgl. auch Feuillet (1989: 493) zur Ausbildung der Klammer bei den Partikelverben: „[L]a position finale du préverbe „séparable“ ne s’est imposée d’une manière absolue que tardivement. Elle est le stade ultime du développement de l’allemand qui entraient en connexion étroite avec le verbe (complément directifs, compléments d’objet formant une lexie, préverbes). Ainsi se trouvait consacré l’ordre canonique du nha.“.
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komposita und Partikelverben produktiv und sogar expansiv sind, stoßen wir nun auf ein unerwartetes Paradox. Da die Klammer die Dislozierung des flexionsmäßig aktiven Teils einer solchen komplexen Einheit voraussetzt, ist die Folge, dass der übrigbleibende Teil flexionsmäßig inaktiv ist. Das gilt für die Verbpartikeln, da Präpositionen im Normalfall (vgl. aber Nübling 2005 zu den „artikulierten Präpositionen“) ohnehin nicht flektierbar sind, d.h. über keine aktiven Flexionskategorien verfügen. Dasselbe gilt aber auch für die Verbkomposita, wo das nominale Erstglied typischerweise unflektiert bleibt (vgl. Fuhrhop 2007: 56): (6) Karl spielt den ganzen Tag klavier/*klaviere. Karl ist gestern bei der Rennprobe den ganzen Tag mehrmals auto/ *autos gefahren. Außerdem hat sich der Grad der flexivischen Inaktivität auch bei den neu entstandenen komplexen Verbformen mindestens bezüglich der sogenannten kontextuellen Flexion (vgl. Booij 1996) erhöht, indem im Althochdeutschen vorkommende Flexionsmerkmale der Partizipien (forlegana) und der Infinitive (geronn-e) aufgegeben wurden: 50 (7) iogiuuelich, thie thar gisihit uuib sie zi geronne, iu habet sia forlegana in sinemo herzen ‚derjenige, der eine Frau nur anschaut, um sie zur eigenen Lust zu gewinnen, hat sie schon in sein Herz verlegt‘. Insofern erscheint die Zunahme an flexivischer Inaktivität in allen drei von Thurmair (1991) angenommen Bereichen der Klammerbildung, nämlich in der lexikalischen, grammatischen und in der Kopulaklammer, als ein konvergierender Entwicklungsprozess, der in Richtung Analytik geht. Abbau von Flexionseigenschaften bedeutet offensichtlich Zunahme an Analytik in dem Sinne, dass in den isolierenden Sprachen die Wörter flexionsmäßig vollkommen inaktiv bleiben, weil alle „flexivischen“ Merkmale (im Extremfall auch Pluralität) mittels analytischer Konstruktionen kodiert werden. Dagegen werden in den fusionierenden Sprachen normalerweise die einzelnen Wörter durch explizite morphologische Marker charakterisiert, die gleichzeitig auch ihre Wortart fixieren. Diese letzte Eigenschaft ist eben den isolierenden Sprachen fremd. Insofern spielt die Wortart im lexikalischen Sinne eine untergeordnete Rolle, was aber ihre
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Dass Flexionsabbau und Entwicklung von Periphrasen keine parallelen Prozesse sein müssen, zeigen die romanischen Sprachen, wo sich ähnliche Periphrasen entwickelt haben, in denen aber die Flexionsmerkmale der nicht-finiten Verbteile nicht notwendigerweise verloren gegangen sind.
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Relevanz als syntaktische Funktion nicht prinzipiell ausschließt (vgl. Vogel 1996: 227). Hier zeigt sich nun ein Paradox: durch die hohe Produktivität eines polysynthetischen Verfahrens wie Komposition entsteht als Konsequenz des typisch deutschen Merkmals der Klammerbildung eine einschlägige Zunahme an Analytik, weil das nominale Erstglied eines Verbkompositums flexivisch inaktiv wird. Wenn für ein Substantiv die flexivische Inaktivität merkwürdig erscheinen mag, so gilt das allerdings nicht für die genauso entstandenen unflektierten Adjektive, weil Adjektive im Deutschen bekanntlich nur positionsbezogen flexivische Aktivität aufweisen. Das ist typologisch gesehen eine hochinteressante diachrone Entwicklung: In der prototypischen, attributiven Verwendung hat sich die Flexionsvielfalt sogar vergrößert, und zwar mit einer Umgestaltung, die das Merkmal [± Definitheit] funktionalisiert bzw. grammatikalisiert hat (vgl. Lockwood 1968: 41-42). Andererseits ist in der prädikativen Verwendung die Flektierbarkeit immer mehr abgebaut worden. Im Althochdeutschen war die Flexion noch vorhanden, aber schon schwankend (vgl. (8a-b)) und relativ schnell, d.h. im Frühneuhochdeutschen, praktisch abgebaut (vgl. Lockwood 1968: 40): (8) a. sie sint ... wīsduames folle b. thie zīti sint sō heilag
‚sie sind voll der Weisheit‘ ‚die Zeiten sind so heilig‘
Das unterschiedliche Schicksal des Flexionsverhaltens bei attributiver und prädikativer Verwendung (Richtung Synthetik im ersten Fall und Analytik im zweiten) ist besonders auffällig und meines Wissens noch nicht richtig begriffen worden (vgl. allerdings Vogel 1997). Darüber hinaus wird diese divergierende Entwicklung von der kategorialen Neutralisierung der formalen Kodierung begleitet, indem der Adverbmarker -o (vgl. ahd. stark vs. starko usw.) genau in der gleichen Zeitspanne abgebaut wurde. Dass diese Entwicklung nicht notwendigerweise das Ergebnis einer rein phonologischen Schwächung und dann Tilgung des Markers darstellen muss, zeigt das Englische, wo sich in Anwesenheit einer ähnlichen phonologischen Reduzierung eine neue (agglutinierende!) Kodierung für Adverbien herausgebildet hat, nämlich das Suffix -ly. Trotz der in den beiden eng verwandten Sprachen nachweisbaren massiven Produktivität dieses Suffixes, das sogar an schon existierende Adjektive angehängt wurde, wodurch neue Adverbien entstanden (z. B.: wār > wārlīh > wārlīhho, vgl. Lockwood 1968: 51), und trotz der Spuren dieser adverbialen Funktion, die noch bei solchen Bildungen bestehen bleiben, indem z. B. schwerlich, wahrlich, füglich, neulich, bitterlich nur als Adverbien verwendet werden können (vgl. Henzen 1965: 230), haben sich Englisch und Deutsch in entgegengesetzte Rich-
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tungen entwickelt. 51 Dabei ist merkwürdig, dass das Deutsche in Richtung Analytik und das Englische in Richtung Synthetik gegangen ist, was in krassem Widerspruch zur generellen Entwicklung der beiden Sprachen steht. Die oben skizzierte Entwicklung der Klammerbildung, in der einem flektierten Glied ein unflektiertes Glied in Distanzstellung gegenübersteht, liefert vielleicht einen Hinweis zur Erklärung dieser Reihe von anscheinend widersprüchlichen Entwicklungen, nämlich Flexionsabbau bei prädikativen Adjektiven gegenüber Flexionsausbau bei den attributiven, und Abbau der Adverbmarker im Deutschen gegenüber Grammatikalisierung eines Adverbmarkers im stark zur Analytik neigenden Englischen. Tatsächlich erscheint ein bedeutsamer Parallelismus zu bestehen zwischen der Klammerbildung bei Verbkomposita und Partikelverben und der Dislozierung von prädikativ bzw. adverbial gebrauchten Adjektiven. Sicherlich kann die Flexionsinaktivität, die sich bei prädikativ bzw. adverbial gebrauchten Adjektiven und Verbkomposita herausgebildet hat, sprachtypologisch auf einen gemeinsamen Nenner zurückgeführt werden: Diese Fälle von Analytikzunahme schlagen sich in der deutschen Grammatik als Verwischung der Wortartengrenzen nieder, da der Verlust an Flexion auch die Verdunklung der Wortartzugehörigkeit – d.h. die Multifunktionalität (vgl. Vogel 1996: 231) – einschließt. Als Nebeneffekt wird dann die Klammerbildung von Multifunktionalität begleitet. Obwohl die Klammerbildung nicht einfach als analytisches Verfahren aufgefasst werden kann, trägt sie zu deutlicher Zunahme von isolierenden Merkmalen und insbesondere zur Multifunktionalität bei. Es sei hervorgehoben, dass Multifunktionalität bzw. flexivische Inaktivität und Distanzstellung sowohl in der prädikativen als auch in der adverbialen Funktion bzw. bei Verbkomposita und Partikelverben zu beobachten sind. 4. Die denominalen Adjektive Auf dem Hintergrund dieser Überlegungen ist nun eine kleine Gruppe von Nomina zu untersuchen, die augenfällig als Adjektive verwendet werden können. Traditionell sind sie unter dem Etikett von Konversionen erfasst. Henzen (1965: 247) listet unter Konversion bzw. „Klassenwechsel von Wörtern in ihrer Normalform“ eine erhebliche Menge von Fällen auf,
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Vgl. Lockwood (1968: 52): „The situation in this respect in OE was quite comparable to OHG, but the analogous possibilities were developed in reverse proportions. For whereas in modern German the uninflected adjective can always be an adverb and formation by suffix is rare, in English the latter is now virtually universal and the former very much restricted“.
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die hauptsächlich nach einem etymologischen Kriterium sortiert sind (vgl. die Tabelle im Anhang für das Gesamtbild): as. ahd. harm, ahd. durft, giwar, giwon, zweinzug – zwanzig usw., mhd. vrum (ahd. fruma Nutzen), ernst, gewalt, schult, schade, angst, wette, wēnec, teig, schach (und) mat, vī(e)nt feind (gesteigert vīnder, vīndest), nōt (Kompar. nœter), nhd. brach, fehl, schmuck, schnuppe, wurst, wrac (nd.), ekel, esel (vil esler pauren DWb. 3, 1148), abrede, bank(e)rott, rosa, lila, u. ä.
Trotzdem scheint vielen, wenn nicht allen, Forschern der Konversionsstatus von solchen denominalen Adjektiven fraglich zu sein. Die radikalste Stellungnahme kann man Motsch (2004: 179) entnehmen, der „keinen Grund [sieht], diese innerlexikalische Beziehung als ein Wortbildungsmuster zu beschreiben“. Sonst sprechen die meisten Forscher von Konversion bzw. Konvertaten, obwohl eingeräumt wird, „dass man statt eines Wortbildungsprozesses bei streng synchroner Betrachtung auch kategoriale Mehrfachmarkierung eines Lexems bzw. eines Stammes annehmen kann“ (Altmann & Kemmerling 2005: 150). Es ist auch nicht klar, „ob solche Wortbildungsprodukte überhaupt als Adjektive angesehen werden sollen“ (Donalies 2002: 133). Man beachte allerdings, dass Donalies ihnen trotz ihrer unsicheren Wortartzugehörigkeit den Status von Wortbildungsprodukten zubilligt. In diesem Zusammenhang möchte ich Motsch zustimmen und den Begriff Konversion – mindestens im morphologischen bzw. syntaktischen Sinne – für andere Wortbildungsmuster reservieren. 52 Unter morphologischer Konversion verstehen wir die klassischen Fälle von nominaler bzw. verbaler Wortbildung wie Ruf, Schlag bzw. buttern, ölen (vgl. Eschenlohr 1999: 46). Darüber hinaus verstehen wir unter syntaktischer Konversion bzw. Transposition solche Fälle, in denen ein Lexem als Kopf einer nominalen Phrase verwendet wird wie das Schöne bzw. das Begreifen. Somit bekommt es gewisse morphologische Eigenschaften, beispielsweise neutrales Genus, andere morphologische Eigenschaften bleiben ihm aber verschlossen, beispielsweise Pluralisierbarkeit. Das Hauptkennzeichen von syntaktischer Konversion ist eine uneingeschränkte Produktivität, die sie von der morphologischen Konversion unterscheidet. Nicht jedes Nomen kann Kopf einer verbalen Phrase werden, während jeder Infinitiv zum Kopf einer nominalen Phrase gemacht werden kann. Uneingeschränkte Produktivität scheint eher flexionsmorphologischer bzw. syntaktischer als derivationsmorphologischer Natur zu sein (vgl. Wurzel 1996b, Gaeta 2007, 2009).
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Allerdings scheint es auch fraglich zu sein, ob man bei der syntaktischen Konversion wirklich von einem Wortbildungsmuster sprechen sollte, weil dadurch kaum ein neues, wenn auch nur potentiell lexikalisierbares Lexem zustande kommt (vgl. Hohenhaus 2005).
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In diesem Licht ist der Terminus syntaktische Konversion bzw. Transposition für die denominalen Adjektive unangemessen, weil sie nicht uneingeschränkt produktiv sind, obwohl darauf hingewiesen werden muss, dass ihnen ein beschränktes Expansionspotential mindestens fachsprachlich zuerkannt werden muss (siehe unten). Andererseits sind die denominalen Adjektive auch nicht als morphologische Konversionen zu betrachten, weil ihr morphologisches Verhalten untypisch ist. Nur in Einzelfällen können sie beispielsweise attributiv, und dann begrenzt flektiert, verwendet werden. Man beachte, dass die attributive Funktion als prototypisch für die Adjektiva überhaupt angenommen wird. Insofern bilden die denominalen Adjektiva eine ganz untypische Gruppe. 53 Wenn man darüber hinaus unter Produktivität eines Wortbildungsverfahrens die Gesamtmenge der Einheiten versteht, auf die das Verfahren anwendbar ist, dann kann man den denominalen Adjektiven derivationsmorphologische Produktivität absprechen, weil keine offensichtlichen Beschränkungen vorliegen. Wenn sich nun der morphologische Weg als keine gängige Erklärung erweist, stellt sich die Frage nach der Entstehung dieser kleinen Gruppe. In diesem Zusammenhang scheint mir Eichinger voll zuzustimmen zu sein, wenn er (2007: 176) beobachtet, dass „es die Verwendung als Adkopula [ist], also im prädikativen oder zumindest im nichtnominalen Kontext, die den Weg vom Substantiv zum Adjektiv eröffnet“. Mit anderen Worten: die Verwendung dieser Nomina in prädikativer Funktion, wo Multifunktionalität bzw. Dekategorialisierung herrscht, ist dafür verantwortlich, dass eben diese Nomina als „Eigenschaftswörter“ umzukategorisieren sind. Allerdings ist fraglich, ob auch seiner Behauptung zuzustimmen ist, dass der im Vergleich mit der substantivischen Verwendung von Adjektiven weitaus weniger systematische Charakter dieser Art von Umkategorisierung damit zu tun habe, „dass an dieser Stelle die Möglichkeiten der desubstantivischen Derivation den wesentlichen Teil der Transpositionsarbeit leisten, wobei durch die Suffixe auch Probleme des morphologischen Anschlusses vermieden werden“ (Eichinger 2007: 176). Diese Vermutung erklärt nämlich nicht, wieso die durchaus produktive Substantivierung von Adjektiven nicht von den hochproduktiven nominalen Suffixen wie -heit (und Allomorphen) bzw. -ität beeinträchtigt wird, vgl. systematische Paare wie das Schöne/die Schönheit bzw. das Produktive/die Produktivität usw.
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Es sei am Rande angemerkt, dass bei den suffigierten denominalen Adjektiven gerade das Gegenteil zu beobachten ist: sie können normalerweise in attributiver Funktion verwendet werden, aber nur in beschränktem Maß können sie auch prädikativ bzw. adverbial sein.
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Darüber hinaus muss klarer gemacht werden, was mit ‚Adkopula‘ bzw. ‚adkopulativer Verwendung‘ gemeint ist, da sich nicht alle genannten denominalen Adjektive mit einer solchen Erklärung erfassen lassen. Während ein Fall wie feind durchaus über eine prädikative Verwendung erklärbar ist, scheint dieselbe Erklärung für klasse unangemessen, wie den folgenden Google-Beispielen zu entnehmen ist: 54 (9) a. Obgleich kein Feind mir feinder ist als jener lose Knabe, Gott weiss es, dass ich lieber ihn als meine Seele habe. b. deine Torte ist mir Klasse gelungen. c. Vor allem die Musik gefiel mir klasse. Man beachte einerseits, dass feind sogar eine Komparativform zulässt, und andererseits, dass klasse vornehmlich in adverbialer Funktion vorkommt, die eben feind fremd ist. Außerdem weist feind eine klare Argumentstruktur auf, wo ein Wahrnehmender im Dativ als Komplement kodiert ist, was bei klasse ungrammatisch ist: (10) a. Sie ist mir feind. b. *Sie ist mir klasse. Andererseits ist klasse in adverbialer Funktion üblich (vgl. (9b-c)), die für feind unmöglich ist, was nur schlecht mit einer strikten adkopulativen Verwendung zusammenpasst. Daher scheint mir der Terminus ‚Adkopula‘ generell unglücklich zu sein. Mit diesem Begriff bezeichnen Zifonun, Hoffmann & Strecker (1997: 55) diejenigen Komplemente einer Kopula, die „auf diese Funktion spezialisiert“ sind, d.h. eine Kategorie von Wörtern, die „also – anders als die auch in dieser Funktion vorkommenden Adjektive – nicht attributiv verwendet werden [können] und nicht flektierbar [sind]“. Sie sollen den „Grundausdruck der Kategorie Prädikativ“ bilden (vgl. Zifonun, Hoffmann & Strecker 1997: 979): Prädikative rekrutieren sich aus folgenden Ausdrucksklassen (z.T. durch Umkategorisierung): aus der Kategorie der Adkopula – diese (wie z.B. quitt, gewillt, leid) sind Grundausdrücke und erhalten somit direkt die Kategorie PRD; aus der Kategorie der Adjektivphrasen; aus der Kategorie der Nomina (Hans ist Bäcker).
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Außerdem machte mich Ewald Lang darauf aufmerksam, dass streng genommen solche denominalen Adjektive nur analytische Komparative bzw. Superlative bilden: Er ist mir mehr feind als du/von allen am meisten feind. In dem Beispiel soll die Vorerwähnung des Substantivs Feind die Bildung eines synthetischen Komparativs begünstigt haben.
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Das Problem der Postulierung einer solchen adkopulativen Wortart besteht darin, dass diese Klasse äußerst heterogen ist, weil sie nur als Restklasse definiert werden kann. Elemente dieser Klasse sind nämlich nur solche Lexeme – meistens verschiedener lexikalischer Natur, wie die drei angeführten Beispiele, die eben denominalen, departizipialen bzw. fremden Ursprung haben –, die nur in der prädikativen Funktion vorkommen. Es ist damit aber auch impliziert, dass ein Lexem, sobald es auch in attributiver Funktion vorkommt, seine adkopulative Mitgliedschaft einbüßt. 55 Trotz meiner persönlichen Präferenz für eine positive Aufwertung der in einer Sprache nachweisbaren Wortarten scheint mir der Begriff Adkopula bestenfalls eine Umbenennung der prädikativen Funktion zu sein, wobei allerdings zwischen syntaktischer Funktion und Wortart unterschieden werden muss (vgl. oben zum Chinesischen und Vogel 1996: 229230). In diesem Sinne kann man sicherlich von einer adkopulativen bzw. prädikativen Funktion sprechen. Die Postulierung einer eigenen Wortklasse, die allerdings im Unterschied zu Adjektiven und Nomina nicht durch Wortbildungsmuster erweitert werden kann, scheint mir aber eine wenig nützliche Verkomplizierung der Darstellung. Wenn wir uns nun wiederum die kleine Gruppe der denominalen Adjektive ansehen, können wir mindestens drei Typen feststellen. Den ersten Typ, in dem die Argumentstruktur eines typischen psychischen Verbs mit einem obliquen Wahrnehmenden vorkommt (vgl. Wegener 1999: 192), haben wir schon erwähnt: (11) angst, bange, ekel, elend, ernst, feind, freund, leid, panne, recht, schade, not, schuld Man beachte, dass dieser Typ ziemlich alt ist, mit Beispielen, die in die mittelhochdeutsche Zeit zurückreichen. Zum Teil weisen die älteren Beispiele andere Adjektiveigenschaften wie zum Beispiel Komparation auf (vgl. feind, aber auch esel). Außerdem lässt sich dieser Typ nicht nur mit Kopula (sein, werden, bleiben) bzw. einem anderen Funktionsverb (tun) beobachten, sondern auch als reines Verbprädikativ mit anderen kausativen Prädikaten und schon in älterer Zeit, wie in Es macht dir angst und bange. 56
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Zum Beispiel wird auch fit als Adkopula aufgefasst (vgl. Zifonun, Hoffmann & Strecker 1997: 986): sobald aber fit auch in attributiver Funktion verwendet wird, hört es offensichtlich auf, eine Adkopula zu sein, und wird zum normalen Adjektiv. Beispiele aus Google: Ich habe das erst zweimal probiert, denn ich möchte ja nicht als Gangsta enden, sondern ein fitter Junge bleiben. Oder sollen wir hier von einer ‚deadkopulativen Konversion‘ sprechen? Das ist ein weiterer Grund, weshalb der Begriff Adkopula unangemessen erscheint: soll etwa auch machen als Kopula aufgefasst werden?
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Neu hinzugekommen sind Formen wie panne, das eine Entlehnung aus dem Französischen im 20 Jh. ist. Die Tatsache, dass die Mitglieder dieses Typs eine prädikative Einheit mit der Kopula bilden, und andere Stützprädikate selegieren können, steht nicht unerwarteterweise in Übereinkuft mit der gesamten Klammer-Bildung dieser Konstruktion: (12) a. *Es ist mir feind sicherlich gewesen. b. Es ist mir sicherlich feind gewesen. Der zweite Typ ist auch alt und besteht aus Massennomina: (13) kacke, käse, mist, müll, sahne, scheiße, schmuck, schrott, schnuppe, wurst/ wurscht Bei diesen Wörtern findet über die Prädikation die Zuschreibung einer gewissen positiven bzw. negativen Bewertung statt, die konnotativ mit dem Massennomen assoziiert ist. Die Konnotation ist übrigens ein relevanter semantischer Bestandteil einer solchen askriptiven Prädikation (vgl. Pittner & Berman 2006). Als Untertyp der askriptiven Prädikation gilt die Variante mit Artikel, die bei Nomina, die zählbar sind, vorkommt. Dies kann entweder direkt bei pluralisierbaren Nomina durch einen GrindingProzess entstehen, die aber auch ohne Artikel als Massennomina aufgefasst werden können (vgl. (14a) unten mit Google-Beispielen); oder als Folge eines Packaging-Prozesses, der im Allgemeinen Massennomina pluralisierbar macht (vgl. (14b) unten und Jackendoff 1991 zu den beiden Prozessen). In einigen Fällen (vgl. (14c-d) unten) ist eine metaphorische bzw. idiombezogene Komponente vorhanden, die weitgehend verschwunden bzw. opak geworden sein kann: (14) a. b. c. d.
Der Typ ist echt Banane aber irgentwie [sic!] Geil. Das ist echt eine Scheiße/ein Schrott/eine Sahne. Dieser Lehrer ist echt eine Flasche. 57 Dieser Film ist der Hammer: echt sehenswert! 58
Als letzten Typ finden wir eine Reihe von reinen Evaluierungsausdrücken, die sich auf ursprüngliche Komposita zurückführen lassen:
__________ 57 58
Vgl. Paul [1897] (2002: 335): „ugs. übertr. neu ‚Versager‘ nach der hohlen leeren Flasche“. Vgl. Paul [1897] (2002: 448): „vielfältig als Fluch oder Ausruf ..., u.a. nach dem Hammer des Gottes Thor, noch heute Das ist ein Hammer ‚das ist großartig‘ v.a. ugs. (nd. schon 18. Jh. mit abgewandelter Bed.)“.
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(15) bombe, hölle, klasse, kult, spitze Dieser Typ ist relativ neu und wird bei Henzen (1965), aber auch bei Fleischer & Barz (1992) kaum erwähnt, wenn man von Farbausdrücken wie lila-, türkisfarben usw. absieht. 59 Ausdrücke wie bombe und klasse sind erst im 19. bzw. 20. Jh. bezeugt, in Komposita wie Bombenerfolg, Bombengedächtnis bzw. Klasseweib, Klassekäfer, denen eine feste Wendung wie (Weib) erster Klasse zugrundeliegt (vgl. Paul [1897] 2002: 535) und in Ausdrücken wie prima Leistung, die ebenfalls auf Wendungen wie Primasorte ‚von höchster Qualität‘ zurückgehen. Außerdem genießt dieser Typ heutzutage in gewissen Sprachregistern – z.B. der Jugendsprache, vgl. Androutsopoulos (1998) – ein begrenztes, sicherlich analogisch gesteuertes Expansionspotential. In dieser Sprachvarietät sind nämlich schon seit einiger Zeit solche Verwendungen beobachtet worden, wobei „Klasse die zeitlich älteste Konversion [ist] und offensichtlich als Vorbild für das gesamte Modell [diente]“ (Androutsopoulos 1998: 193). Bei den letzten Typen, die beide hauptsächlich die Evaluierungsfunktion teilen, wird nun die oben skizzierte Tendenz zur Rückbildung von trennbaren Verbkomposita, d. h. von einer die Distanzstellung bzw. Multifunktionalität favorisierenden Konstruktion, über den Mechanismus der Abkürzung sichtbar. Im Allgemeinen sind nämlich die meisten Formen dieser zwei letzten Typen auch als Erstglieder in Komposita als Intensivierer belegt (vgl. Androutsopoulos 1998: 108): (16) a. Hammerplatte, Kackplatte, Sahneteil, Scheißtag, Schrotttypen b. Bombenjob, Höllenlärm, Klassefrau, Kultgruppe, Spitzensound Offensichtlich ist der Mechanismus der Abkürzung gegenüber dem parallel laufenden Mechanismus der Rückbildung von trennbaren Verbkomposita favorisiert worden, insbesondere bei jenen Komposita, wo der Kopf ein deverbales Abstraktum ist und die Reverbalisierung des Kompositums favorisiert: (17) Klassefrau/Klassespiel Klassespiel/Klavierspiel klasse spielen/klavier spielen
__________ 59
Vgl. auch Altmann & Kemmerling (2005: 151): „Schließlich sei noch auf die verbreitete Konversion bei Farbwörtern hingewiesen: türkis, bordeaux, cognac, flieder, mango, sand, schilf, tabac, havanna. Bei attributivem Gebrauch ist die Kombination mit -farben (oft auch -farbig) notwendig, um Flektierbarkeit zu erreichen. An den Farbbeispielen sieht man, dass der Prozess synchron aktiv ist“.
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Außerdem sei hervorgehoben, dass – im Gegensatz zum ersten Typ – dieser letzte Typ keinen obliquen Wahrnehmenden erlaubt, aber systematisch in adverbialer Funktion vorkommt (vgl. (9) oben und Pittner & Berman 2006), wobei der zweite Typ ein gemischtes Verhalten aufweist: (18) a. Es ist mir käse. *Es ist mir käse gegangen. b. *Es ist mir schrott. Es ist mir schrott gegangen. Schwankungen unter den Typen sind sicherlich zu erwarten, wie der Fall panne zeigt. Außerdem ist in manchen Fällen die Zuschreibung zu einem der drei Typen fraglich, wie bei wurst/wurscht, wo es vielleicht nutzlos ist, argumenttragenden prädikativen Ursprung von einer Verwendung als askriptives Massennomen zu unterscheiden. Sicherlich ist die idiomatische Komponente ziemlich stark. 60 5. Fazit Aus einer sprachtypologischen Perspektive ist der oben dargestellte dritte Typ von hohem Interesse, da über den polysynthetischen Mechanismus der Komposition, der im Lauf der deutschen Sprachgeschichte immer mehr produktiv geworden ist, mit Hilfe eines Abkürzungsmechanismus, der von den naheliegenden Rückbildungen favorisiert bzw. beeinflusst wurde, ein nicht unproduktives Muster für die Schaffung von Evaluierungsausdrücken entstanden ist, welche hauptsächlich prädikativ bzw. adverbial verwendet werden können. Und wie in solchen syntaktischen Stellungen im Deutschen üblich sind diese Evaluierungsausdrücke unflektiert, wie schon von Eichinger angedeutet, und erhöhen deswegen den Grad an Multifunktionalität in der Sprache. Und dies wiederum ist ein typisches Merkmal von analytischen Sprachen. Ein altes Merkmal des Deutschen, das schon in den ältesten Sprachstufen seine Spuren hinterlassen hat, wurde also im Zusammenhang mit der aus der Klammerbildung entstandenen Dekategorialisierung zu einem fruchtbaren Ausdrucksmittel für besondere stilistische Effekte in einer Sprachvarietät, die stets auf der Suche nach expressiven, Gruppenidentität schaffenden Kodierungspotenzialen ist wie eben die Jugendsprache.
__________ 60
Vgl. Röhrich (1992: 1751): „vielleicht ist nur an die Gleichartigkeit gedacht, die sich bei der Wurst an beiden Enden zeigt ... Es ist gleichgültig, an welchem Ende die Wurst angeschnitten wird“.
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Anhang – Die denominalen Adjektive aus verschiedenen Quellen: H = Henzen 1965; KPW = Kühnhold, Putzer & Wellmann 1978, FB = Fleischer & Barz 1992; D = Donalies 2002; M = Motsch 2004; AK = Altmann & Kemmerling 2005; A = Androutsopoulos 1998; PB = Pittner & Berman 2006. abrede angst banane bang(e) bankrott barock bordeaux brach cognac dunkel durft ekel elend ernst esel fehl feind flasche flieder flop freund fromm gewalt giwar giwon Gott gram grimm hammer harm havanna hölle indigo kacke kaputt käse klasse knaller
H + +
KPW
FB
D
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M
AK
A + PB
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knigge knorke knüller koralle kult leid lila lind mango mist müll not orange panne piep pleite revolutionär rosa sahne sand schachmat schade scheiße schilf schmuck schnuppe schnurz schrott schuld spitze tabac teig toto türkis vanille wenig wette wrac wurst zimt zwanzig
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Renata Szczepaniak Wird die deutsche Nominalphrase wirklich analytischer? Zur Herausbildung von Diskontinuität als synthetische Verdichtung Abstract
This paper shows that the historical development of the noun phrase from Old to New High German (NHG) is characterised by an increasing syntheticity. Already in Middle High German (MHG), the phonologically induced syncretisms in the inflectional paradigms of the individual phrase elements (articles, adjectives and nouns) has been compensated on the syntagmatic level. Thus, the inflectional expression changed into a combining (discontinuous) one, in which morphosyntactic information arises out of the cooperation of ambiguous inflectional endings, e.g. NHG d-er schön-en Katze-n ‘the beautiful cats’ (genitive plural). In Early New High German, the cooperative inflection has been strengthened by the rise of morphologically driven adjective inflection, e.g. MHG ein-em guot-em > NHG ein-em gut-en Buch ‘a good book’ (dative singular). Hence, the history of German shows that the rise of new function words such as the definite or indefinite articles does not implicate an analyticisation. Instead of a clear “division of labour” between grammatical and lexical units, the ambiguous article forms in German contribute considerably to a syntagmatic condensation of the noun phrase.
1. Einleitung Der deutschen Nominalphrase (NP) wird generell eine diachrone Zunahme an Analytizität unterstellt. Explizit äußert sich dazu Ágel (1993, 1996), der von einer strukturellen Sprachwandeltendenz zur Analytisierung der NP spricht (s. auch Wolf 1981). Im Rahmen der Valenztheorie zeigt er, dass der NP-Kopf von einer synthetischen Substantivform (lexikalisches Morphem + Flexiv) zum analytischen Substantivflexiv wechselt (-er in der Teppich oder der Katzen). Dieser Wandel habe sich im 14./15. Jh. vollzogen. Doch ist diese offensichtlich diskontinuierliche Kodierungstechnik wirklich mit analytischer gleichzusetzen? Die grammatischen Informationen (v.a. Kasus und Genus) werden im heutigen Deutsch tatsächlich (fast) nur an nicht-substantivischen Gliedern der NP ausgedrückt: Der wichtigste Träger der nominalen Kategorien ist der Definitartikel und (größtenteils auch) der Indefinitartikel. Ihre Entwicklung wird als analytischer Zug des Deutschen ausgelegt. Jedoch sind die Artikelformen keine zuverlässigen Lieferanten der morphosyntaktischen Informationen, da sie uneindeutig/ ambig sind, z.B. der N.Sg.Mask./G./D.Sg.Fem./G.Pl. in der Teppich/Katze/
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Katzen. Ihre syntaktische Eigenständigkeit ist dem Stand der Grammatikalisierung geschuldet; die Zunahme an Fügungsenge hat aber in bestimmten Kontexten bereits zur Entwicklung des gebundenen Definitartikels geführt wie in zu=m Mond, nicht *zu dem Mond (s. Nübling 2005). Die folgende Analyse der NP-Entwicklung vom Althochdeutschen (Ahd.) zum Neuhochdeutschen (Nhd.) wird zeigen, dass man zu keinem Zeitpunkt von einer eindeutigen Analytisierung sprechen kann. Vielmehr wird der Grad an syntagmatischer Verdichtung kontinuierlich erhöht, dadurch dass morphosyntaktische Informationen zunehmend diskontinuierlich 61 , also in Kooperation von ambigen Flexionsendungen ausgedrückt werden, z.B. G.Pl. in d-er (ambig) schön-en (ambig) Katze-n (ambig). Das diskontinuierende bzw. kombinierende Verfahren wird hier in Anlehnung an Werner (1979) und Ronneberger-Sibold (1980, 1991) als vierte Kodierungstechnik – neben der isolierenden, agglutinierenden und flektierenden – betrachtet. 62 Sie besteht darin, dass „inhaltlich eng Zusammengehöriges im Ausdruck weit getrennt erscheint“ (Ronneberger-Sibold 1991: 207). Die Diskontinuität entwickelt sich nicht nur im Bereich der NP, sondern u.a. auch im Bereich der Verbalflexion zum Strukturmerkmal des Deutschen (vgl. Wurzel 1996). 2. Das sogenannte analytische Substantivflexiv In Analogie zu finiten und infiniten Verbformen unterscheidet Ágel (1993, 1996) zwischen finitem und infinitem Substantiv. Das finite Substantiv hat nur im Plural eine synthetische Form (Sie isst gerne Äpfel), während im Singular nur eine analytische Form möglich ist (Der Preis japanischen Stahls/des Stahls/*Stahls). Dabei setzt ein synthetischer Flexionsteil (Stahls) immer einen analytischen (-en in japanischen) voraus. Infinite Substantive (SI) mit und ohne Präposition sind nur in attribut- und artikellosen NPs möglich (MünchenSI, StadtSI mit HerzSI, eine Tasse TeeSI). Diese Beobachtungen führen zur Annahme eines analytischen Substantivflexivs wie -er in Abbildung 1.
__________ 61
62
Im quantitativ-typologischen Ansatz von Greenberg (1960: 189) werden diskontinuierliche Morpheme ausdrücklich von der Betrachtung ausgeschlossen. Ihr Beitrag zur Komplexität der Kodierung lässt sich nicht mit den von Greenberg vorgeschlagenen Indizes zur Bemessung des Synthetizitäts-/Analytizitätsgrades ermitteln. Zu anderen quantitativ-typologischen Ansätzen, die diskontinuierliche Kodierungstechniken berücksichtigen, s. Lehfeldt (1998), Kempgen & Lehfeldt (2004). Zum sprachökonomischen Aspekt der einzelnen Kodierungstechniken s. RonnebergerSibold (1980).
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SINFL'' (analytisch flektiertes Substantiv) DET-
d-
SINFL' SINFL
NP
-er
Teppich
Abbildung 1: Das analytisch flektierende Substantiv (Ágel 1993)
Als ein wichtiges Argument für die Existenz eines analytischen Flexivs im Deutschen führt Ágel an, dass es morphologisch „selbständig“ sei, da es sich vom Determinans „ablösen“ und in der Umgangssprache und in den Dialekten als Pro- oder Enklitikon an andere Wortarten treten könne, z.B. Sie hat’s große Los gewonnen oder Würden Sie bitte s’Fenster schließen. Diese Perspektive setzt eine gewisse Degrammatikalisierung der Flexive zu Enklitika voraus. Diachrone Studien zum Definitartikel sprechen jedoch dafür, dass hier nicht das Flexiv, sondern der Definitartikel klitisiert wird. Basierend auf diachronen Daten weist Nübling (1992, 2005) eine schon im Althochdeutschen beginnende Grammatikalisierung nach, in der sich über die Stadien der Allegroform und des Klitikons ein an Präpositionen gebundener, in bestimmten Kontexten (z.B. vor Unika) sogar obligatorisch gebundener Definitartikel entwickelt. Auf diese Weise lassen sich beim deutschen Definitartikel drei Grade der Fügungsenge feststellen, die sowohl von der Artikelform (dem ist die verschmelzungsfreudigste Form) als auch vom Grammatikalisierungsgrad der Präposition (primäre vs. sekundäre Präpositionen) abhängig sind: 1) freier Definitartikel, z.B. wegen dem Papst 2) einfaches, auflösbares Klitikon, z.B. für’n = für den Papst 3) spezielles, nicht-auflösbares Klitikon, z.B. zum (*zu dem) Papst Aus diachroner Perspektive muss man also viel eher von einer Zunahme an Fügungsenge als von einer Analytisierung sprechen. Aufgrund der hohen Kookkurrenz verschmilzt der Definitartikel mit der vorangehenden Präposition, die dabei auch in Mitleidenschaft gezogen werden kann, z.B. an dem > a=m, in dem > i=m, sogar mit dem > [mɪm]. Dies spricht zusätzlich gegen die Annahme einer Verselbstständigung des analytischen Substantivflexivs, da keine (hier zu erwartende) agglutinierende Form (Präposition + analytisches Substantivflexiv) gegeben ist. Es stimmt aber, dass der grammatische Ausdruck zumindest teilweise vom Substantiv syntaktisch entfernt wird. Im Folgenden wird gezeigt, dass der Syntheseschub auf der Ebene der Präpositionalphrase keine Ausnahme bildet. Vielmehr steht auch die Entwicklung der NP im Zeichen der kontinuierlichen Syntheti-
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sierung. Dabei wird der freie Artikel immer stärker in die kombinierende/ diskontinuierende Kodierung von Kasus, Genus und Numerus eingebunden. 3. Die Nominalphrase im Althochdeutschen Den Ausgangspunkt dieser Analyse bildet die althochdeutsche NP, deren hoher Synthesegrad unumstritten ist. Dies gilt vor allem für die artikellose Phase, die mit der Entwicklung des Definitartikels schon während des Althochdeutschen zu Ende geht (Oubouzar 1992, 1997). Vor der Herausbildung der Determinansphrase (DP) werden die grammatischen Informationen Kasus, Numerus und Genus nur am Substantiv selbst ausgedrückt. Die reiche Nominalflexion besteht aus Portmanteaumorphemen, die in vielen Flexionsklassen an den nur in gebundener Form vorkommenden Stamm herantreten (sog. Stammflexion), z.B. sunt(i)-a ‚Sünde‘ (N.Sg.F.) – sunt(i)-u (D.Sg.F.). Die (analytischere) Grundformflexion mit einer endungslosen N.Sg.-Form weisen jedoch schon u.a. die Maskulina der i-Stämme auf, z.B. gast (N.Sg.) – gast-es (G.Sg.)/gast-i-Ø (N./Akk.Pl.)/gast-i-o (G.Pl.) (Werner 1969). Auf der syntagmatischen Ebene zeigt das Althochdeutsche insgesamt einen hohen Synthesegrad, der sich 1) aus der Komprimierung der grammatischen Kategorien im Portmanteaumorphem, 2) aus der Existenz des gebundenen Stamms (in der Stammflexion) und 3) aus dem Umlaut ergibt, der am Ausdruck grammatischer Kategorien (Kasus und Numerus) mitbeteiligt ist, z.B. stat ,Stätte, Ort‘ (N.Sg.) – steti (G.Sg.), gast (N.Sg.) – gesti (N.Pl.) (s. Ronneberger-Sibold 1990). Das Althochdeutsche kennt 18 Deklinationsklassen. Diese Anzahl resultiert aus der phonologisch bedingten Aufspaltung der (indo-)germanischen Stämme, z.B. tag – tages (a-Stamm), aber hirti – hirtes (ja-Stamm). Außerdem bewirkt eine genusgesteuerte Analogie die Umstrukturierung und Vermehrung von Flexionsklassen. So übernehmen maskuline i-Stämme (gast) im Singular die Endungen der a-Stämme (tag), z.B. gast (N.Sg.) – gast-es (G.Sg.) wie tag – tag-es, während sie die (umlauthaltigen) Pluralformen beibehalten, z.B. gast – gesti ,Gäste‘. Insgesamt gibt es im Althochdeutschen 52 substantivische Flexionsendungen; in diese Zählung lässt Sonderegger (1979:246) auch das Nullmorphem einfließen. 63 Die beträchtliche Allomorphie ist ein idiosynkratischer Zug der Substantivflexion, zumal sich die korrekte Endung in vielen Fällen nur über die Zugehö-
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Für die Berücksichtigung von Nullmorphemen bei der Bemessung des Synthesegrades spricht sich auch Greenberg (1960: 189) aus.
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rigkeit zur Flexionsklasse (vgl. ahd. wort und lamb) und teilweise über das Genus ermitteln lässt. Dies erhöht den paradigmatischen Synthesegrad (s. Nübling in diesem Band). In einer erweiterten NP kongruieren die attributiven Adjektive mit dem (flektierten) Substantiv. Da dieses kaum Synkretismen aufweist, üben die insgesamt 47 Adjektivendungen nur selten eine disambiguierende Funktion aus. Der schwerwiegendste Fall ist die Homonymie zwischen N.Sg. und N.Pl. bei den Neutra (der a-Klasse), z.B. wort (N.Sg.) – wort (N.Pl.), die erst im Mittelhochdeutschen (Mhd.) die Pluralendungen (-er oder -e) aus anderen Deklinationsklassen übernehmen. Im Althochdeutschen hilft innerhalb der NP die (schwache) Adjektivform, z.B. guota wort ,gutes Wort‘ – guotun wort ,gute Worte‘. Doch sind die Adjektivformen auch nicht immer, sogar deutlich seltener eindeutig, daher guotun wort (N.Pl./A.Pl.), guota (N.Sg.N./N.Sg.F.). So schwächen die Synkretismen nur auf den ersten Blick den synthetischen Charakter des Althochdeutschen, und zwar wenn man nur eine Wortart betrachtet. Auf der Phrasenebene werden solche Ambiguitäten wieder aufgelöst. Entsteht eine eindeutige grammatische Information (z.B. N.Sg.N.) erst im Zusammenspiel (d.h. in der sog. kooperativen Flexion) zwischen zwei formal ambigen NPGliedern wie guota (N.Sg.N./N.Sg.F.) und wort (N.Sg.N./N.Pl.N.), sollte man vielmehr von einer (syntagmatischen) Synthesezunahme sprechen. guota 1. N.Sg.N. 2. N.Sg.F.
wort 1. N.Sg.N. 2. N.Pl.N.
Abbildung 2: Die kooperative Flexion
An diesem Beispiel sieht man, dass der formale Zusammenfall zu Verflechtungen auf der Phrasenebene führen kann. Seit dem Mittelhochdeutschen wird die NP auf diese Weise zunehmend syntagmatisch verdichtet, da ein immer geringeres Forminventar eine unveränderte Anzahl grammatischer Kategorien bedienen muss (s.u.). Die Analytisierung wird normalerweise durch den Abbau von grammatischen Kategorien gefördert. Im Althochdeutschen kommt es sogar zum Kategorienzuwachs – mit der Definitheit als vierter Nominalkategorie. Zwar entsteht mit dem Artikel eine (aus Grammatikalisierungsperspektive zwangsläufig) freie grammatische Form, doch ist diese (bis heute) weit vom analytischen Ideal, d.h. von einer 1:1 Zuordnung zwischen Morphem und Wort entfernt, da sie neben der Definitheit auch Kasus, Numerus und Genusinformationen (im Portmanteaumorphem) in sich vereint, z.B. d-as, d-ie (im Gegensatz zum Englischen).
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Dabei folgt dem emergierenden Definitartikel sowie allen anderen definiten Determinierern (Demonstrativa, Possessiva) die schwache (ursprünglich definite) Adjektivflexion, z.B. fone demo nideren puohstabe zu demo oberen ,vom unteren zum oberen Buchstaben‘ (N, B I 9,5), min liobo sun ,mein lieber Sohn‘ (T 14,5). Nach indefiniten Determinierern (darunter Interrogativa, Indefinita) treten hingegen starke Adjektivendungen auf, z.B. ein armaz wib ,eine gewisse arme Frau‘ (O 2,14,84), in einemo rotemo tuoche ,in einem roten Tuch‘ (N, MC 56,15). Für das Alt- und Mittelhochdeutsche lässt sich also eine Definitheitskongruenz zwischen Determinierer und Adjektiv feststellen. Nach Demske (2001) stehen die beiden NPElemente in semantisch gesteuerter Relation zueinander, die im Frühneuhochdeutschen (Fnhd.) in eine morphologische übergeht. Die Bedeutung dieses Wandels für die NP wird in Abschnitt 5 besprochen. 4. Die Nominalphrase im Mittelhochdeutschen Im Mittelhochdeutschen gibt es keinen klaren Syntheseabbau innerhalb der NP. Stattdessen führt die flexionsmorphologische Entwicklung ihrer Glieder zu weiterer syntagmatischer Verdichtung durch verstärkte grammatische Verflechtung, die es im Folgenden zu beleuchten gilt. Dazu trägt der Umstand bei, dass die (im Althochdeutschen noch) freie Stellung der NP-Glieder (Schrodt 2004) stufenweise unterbunden wird: Das attributive Adjektiv wird weitgehend auf die pränominale Position fixiert, in der es auch meist schon in flektierter Form vorkommt. Ein nachgestelltes Adjektiv ist selten und in der Regel endungslos, z.B. der winter kalt (Paul/Wiehl/ Grosse 231989: 357). Diese Tendenz zur Einklammerung flektierter und Ausklammerung unflektierter NP-Elemente äußert sich auch im Stellungswandel des adnominalen Genitivs, der zum Frnhd. hin stattfindet: frnhd. des hertzogen von Burgundien diener > nhd. der Diener des Herzogs von Burgund (s. Demske 2001). Die (zum Neuhochdeutschen hin zunehmend kooperative) Flexion verbindet also nur die internen Glieder der Nominalklammer, attributive Genitive oder Nominalphrasen werden dagegen ausgeklammert. Abbildung 3 zeigt die sich seit dem Mittelhochdeutschen verfestigende NP-Struktur: das
kleine
flektierbare Glieder
Häuschen nominaler Kern
auf dem Lande unflektierbare Glieder
Abbildung 3: Die Grundstruktur der neuhochdeutschen Nominalphrase
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Innerhalb der Nominalklammer trägt der folgende Flexionswandel zur Entwicklung des kombinierenden/diskontinuierenden Verfahrens und damit zur syntagmatischen Verdichtung bei: Erstens: Die Substantivflexion erfährt im Mittelhochdeutschen eine deutliche Schwächung, da die Anzahl der Endungen von 52 auf 16 drastisch sinkt (Sonderegger 1979). Die Reduktion der unbetonten Vokale zu Schwa ist der wichtigste Grund dafür. Dies schwächt den Kasus-, aber auch den Numerusausdruck in vielen Flexionsklassen. So bestehen die femininen ô-Stämme in Tabelle 1 nur noch aus zwei Formen: sünde und sünden. Im Althochdeutschen waren es noch fünf. Althochdeutsch
Mittelhochdeutsch
N. G. D. A.
sunti-a sunti-a sunti-u sunti-a
sünde sünde sünde sünde
N. G. D. A.
sunti-ā sunti-ōno sunti-ōm sunti-ā
sünde sünde-n sünde-n sünde
Sg.
Pl.
Tabelle 1: Der Formenzusammenfall vom Alt- zum Mittelhochdeutschen am Beispiel von ahd. suntia/mhd. sünde ,Sünde‘
In anderen Fällen bewirkt die Vokaltilgung den Formzusammenfall von Singular und Plural, z.B. mhd. nagel ,Nagel‘ (Sg.) – nagele > nagel (Pl.). Die Anzahl endungsloser Substantivformen steigt. Zweitens: Von diesem phonologisch bedingten Abbau der Endungen sind auch die restlichen NP-Glieder betroffen. Es gibt nur noch sieben (im Althochdeutschen zwölf) unterschiedliche Definitartikelformen; das schwache Adjektivparadigma schrumpft von acht auf zwei Formen, z.B. gute und guten. Diese Formen decken jedoch eine unveränderte Kategorienbreite (Kasus, Numerus, Genus und Definitheit) ab. Schon zu dieser Zeit konstituiert sich die eindeutige grammatische Information in einer definiten NP meist erst in Kooperation der einzelnen Mitglieder, die die kombinierende/diskontinuierende Kodierungstechnik ausmacht. Abbildung 4 illustriert die fortschreitende grammatische Verflechtung der definiten NP.
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Artikel ahd. ther N.Sg.M. ahd. thera G.Sg.F. ahd. theru D.Sg.F. ahd. thero G.Pl.
Adjektiv ahd. grōza N.Sg.M. ahd. grōzūn G.Sg.F. mhd. ahd. grōzūn D.Sg.F. der ahd. grōzōno G.Pl.
Nomen mhd. mhd. grôze ahd. suntia sünde ahd. suntiu mhd. grôzen ahd. sunteōno > sünden
Abbildung 4: Die kooperative Flexion in der mittelhochdeutschen Definit-NP
Die indefinite NP, die mit der Entstehung des Indefinitartikels immer seltener ohne Determinierer auftritt, zeigt im Singular kongruierende Züge. Aufgrund der noch vorherrschenden, semantisch gesteuerten Flexion haben der Indefinitartikel, der nur in sehr geringem Ausmaß von Synkretismen betroffen ist (einer G.Sg.F. = D.Sg.F.), und die stark flektierenden Adjektive (fast) identische Endungen, wobei dieser Zustand sich zum Frühneuhochdeutschen hin grundlegend ändern wird (s. Abschnitt 5). Im Plural bewirkt die e-Apokope ein Nebeneinander von flektierten und endungslosen Adjektiven. In letzterem Fall wird Numerus nur noch (wenn überhaupt) am Substantiv ausgedrückt. Drittens: Schon im Mittelhochdeutschen wird die Numerusmarkierung gestärkt: Neutra wie wort (a-Stämme), auch Maskulina wie das Wurzelnomen man, reichern ihre bis dato endungslosen Plurale mit dem Umlaut + er- oder e-Suffix an, heute Männer, Wörter/Worte. Die Phase des analogischen Umlauts setzt ebenfalls schon im Mittelhochdeutschen ein, z.B. mhd. stab (Sg.) – stabe > stäbe (Pl.) (Sonderegger 1979). Die Tendenz zur Numerusprofilierung, die im Frühneuhochdeutschen noch zunimmt, ist ein eindeutiger Syntheseschub. Auch im Singular nehmen die endungslosen Substantive wie vater (r-Stamm) oder man die starke Genitivendung an: ahd. fater > mhd. (des) faters. Dies spricht deutlich gegen eine Analytisierungstendenz, da sich hier gerade ein synthetischer Ausdruck durchsetzt. 5. Die Nominalphrase im Frühneuhochdeutschen Die im Mittelhochdeutschen einsetzenden Entwicklungstendenzen innerhalb der NP werden im Frühneuhochdeutschen fortgesetzt. Erstens: Die Numerusprofilierung tritt im Frühneuhochdeutschen in ihre entscheidende Phase (Wegera & Solms 2000) ein. Sie folgt einem Stadium der Variation zwischen numerusmarkierten und apokopierten/ endungslosen Formen. Neben der Restituierung der e-Plurale bei den endungslosen Maskulina und Neutra entwickeln schwache Feminina den
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Wird die deutsche Nominalphrase wirklich analytischer?
(e)n-Plural durch vollständigen Abbau der n-haltigen Kasusendungen im Singular: Sg.
Pl.
N. G. D. A.
Mittelhochdeutsch zunge zunge-n zunge-n zunge-n zunge-n
Frühneuhochdeusch zunge(n) zunge(n) zunge(n) zunge(n) Zungen
Neuhochdeutsch zunge zunge zunge zunge zungen
Tabelle 2: Die frühneuhochdeutsche Numerusprofilierung bei schwachen Feminina
Den (e)n-Plural übernehmen anschließend auch Feminina, die seit dem Mittelhochdeutschen keine eindeutige Numerusmarkierung haben (Typ sünde, s. Tabelle 1) und solche, die die starke Flexion (heute noch z.B. in Kraft – Kräfte) aufgegeben haben, z.B. mhd. tât – tæte > nhd. Tat – Taten (Poitou 2004). Zweitens: Die semantische Steuerung der Adjektivflexion geht im Frühneuhochdeutschen in eine morphologische über (Demske 1999). Im Alt- und noch im Mittelhochdeutschen ist die Definitheit eine Kongruenzkategorie: Dabei folgt den definiten Determinierern die schwache (definite) und den indefiniten die starke (indefinite) Adjektivform. Die schwache Adjektivflexion besteht seit dem Mittelhochdeutschen aus zwei extrem synkretistischen Formen: -e und -en. Ihr Anteil am Ausdruck von Kasus, Numerus und Genus ist sehr gering. Die starke Adjektivflexion verfügt über formale Möglichkeiten, Kasus, Genus und auch Numerus auszudrücken, wenngleich nicht immer eindeutig. Auch der Indefinitartikel, die Possessiva, Interrogativa und Indefinita deklinieren (wenn, dann) stark (s. Ebert et al. 1993: 224ff.). Ab dem Frühneuhochdeutschen ist die Adjektivflexion dahingehend reorganisiert, dass starke Flexionsendungen nur einmal in der NP auftreten: Entweder am einleitenden Determinierer oder am Adjektiv, daher der (stark) gute (schwach), aber ein (schwach) guter (stark), eines (stark) guten (schwach) (< eines gutes). Diese Strukturtendenz greift im Frühneuhochdeutschen sogar auf NPs über, die nicht von einem Determinierer eingeleitet werden und mehrere Adjektive enthalten, z.B. fnhd. in gewarer gotlichen gelassenheit (15. Jh.) oder nhd. auf schwarzem hölzernen Sockel parallel zu auf diesem hölzernen Sockel (s. Moulin-Fankhänel 2000). Aus typologischer Perspektive trägt die Reorganisation der Adjektivflexion ganz massiv zur Synthetisierung der NP bei. Es ändert sich zwar nichts an den formalen Möglichkeiten an sich. Auf der syntagmatischen Ebene jedoch erhöht sich der Anteil an ambigen Formen, da eben nur ein Element der Phrase stark flektiert. Allerdings führt dies auch nicht zur
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Monoflexion, weil die anderen Elemente (meist Adjektive) die Flexion nicht aufgeben und sogar in Kooperation mit dem (seinerseits ambigen) stark flektierten Element (meist dem Determinierer) relativ eindeutig, aber eben auf diskontinuierliche Weise, die grammatische Information zum Ausdruck bringen. Diese syntagmatische Verdichtung gilt gleichermaßen für das Neuhochdeutsche (s. Ronneberger-Sibold 1991, 1993, 1994). 6. Diskontinuierende Kodierung im Neuhochdeutschen Der hohe Synthesegrad der neuhochdeutschen NP ergibt sich aus der diskontinuierlichen (oder kooperativen) Flexion ihrer Elemente. Der Wandel von einer kongruierenden NP im Althochdeutschen zu einer diskontinuierlichen im Neuhochdeutschen hat dazu geführt, dass sich heute kaum noch Kongruenzfälle finden lassen. Nur noch im Singular tritt die eindeutige G.Sg.Nicht-Fem.-Form des neben der eindeutigen Substantivform Teppich-s auf. Im Dativ folgt der eindeutigen Artikelform dem eine (hinsichtlich Kasus) uneindeutige Substantivform Teppich, hier wegen des Abbaus der Substantivflexive. Solche Strukturen können als schwach diskontinuierend bezeichnet werden (Ronneberger-Sibold 1991: 221). Im Nominativ hingegen greift die kooperative Flexion voll ein, da die ambige Artikelform der auf eine ambige Substantivform Teppich trifft: 1) Kongruenz: des (eindeutig) Teppichs (eindeutig) 2) schwach diskontinuierend: dem (eindeutig) Teppich (ambig) 3) stark diskontinuierend: der (ambig) Teppich (ambig) Jede Erweiterung der NP erhöht den Grad an Diskontinuität, z.B. des (eindeutig) schönen (ambig) Teppichs (eindeutig). Damit kehren sich die Proportionen zwischen Kongruenz und Diskontinuität vom Alt- zum Neuhochdeutschen um: Im Althochdeutschen war die kooperative Flexion der Ausnahmefall, heute stellt die Diskontinuität das prägende Strukturmerkmal dar. Im Plural treten nur ambige Formen des Definitartikels auf (die, der, den und die), denen ambige Adjektivformen folgen. Oft bringt erst die Substantivform Klarheit über die Kasus- und Numerusinformation. Dies zeigt Abbildung 5 am Beispiel der Artikelform der, die 1) N.Sg.M., 2) G./D.Sg.F. und 3) G.Pl. markieren kann. Die Disambiguierung kann teilweise schon mit Hilfe der schwachen Adjektivform erfolgen. In Kooperation mit schöne ergibt sich eindeutig die Lesart N.Sg.M. (daher die durchgezogene Linie zwischen schöne und schönen). Die Verbindung zwischen der und schönen lässt immer noch zwei Lesarten offen: 2) G./D.Sg.F. oder 3) G.Pl. Sie ist hinsichtlich des Kasus und des Numerus uneindeutig. Zur
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Wird die deutsche Nominalphrase wirklich analytischer?
Disambiguierung muss hier die Substantivform herangezogen werden (deswegen die Linie zwischen Katze und Katzen). Die Kasusambiguität in 2) G./D.Sg.F. wird erst auf der syntaktischen Ebene außerhalb der NP aufgelöst. der
schöne
Kater
N.Sg.M.
Katze
G./D.Sg.F.
Katzen
G.Pl.
1) N.Sg.M. 2) G./D.Sg.F. schönen 3) G.Pl.
Abbildung 5: Die kooperative Flexion im Neuhochdeutschen
Hier muss noch einmal betont werden, dass gerade das (in der Terminologie von Ágel synthetische) Substantivflexiv im Plural in der schönen Katzen in den diskontinuierlichen Genitivausdruck eingebunden ist. der schönen ist hinsichtlich der Kasusinformation ambig (Genitiv/Dativ). 64 7. Zusammenfassung Ziel dieses Beitrags war es, die Entwicklung der deutschen NP hinsichtlich des typologischen Parameters der Synthetizitität/Analytizität zu untersuchen. Entgegen allgemeinem Handbuchwissen lässt sich keine Analytisierung feststellen. Zwar werden grammatische Informationen aus dem Substantiv ausgelagert, doch führen diese nicht zwangsläufig zu einer eindeutigen „Arbeitsteilung“ zwischen dem grammatischen und dem lexikalischen Element. So stellt auch Ágel (1996) in japanisch-en Stahl-s eine Abhängigkeit des synthetischen -s vom „analytischen“ Flexiv -en fest. Misst man den Grad der Synthese auf paradigmatischer und syntagmatischer Ebene, so ist festzustellen, dass in beiden Dimensionen die Synthetizität zunimmt. Auf der paradigmatischen Achse ist 1) der Kategorienzuwachs (Definitheit) und 2) die vermehrte Pluralallomorphie zu verzeichnen. Der Formzusammenfall ist hingegen maßgeblich an der syntagmatischen Verdichtung beteiligt. Er führt zum Wandel von der Kongruenz zur Diskontinuität, die die Struktur der neuhochdeutschen NP
__________ 64
Diachron verstärkt sich die Funktion von Genus als Konditionierungsfaktor für die Pluralallomorphie (s. Kürschner 2008). Auf diese Weise wird die Genusinformation immer stärker in die substantivische Pluralform integriert (Ágel 2006). Dies erhöht natürlich den Synthesegrad.
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bestimmt (Werner 1979). Da keine grammatische Kategorie abgebaut wird, müssen ambige Formen miteinander kooperieren. Versteht man also Synthese als Form der Informationsbündelung, so muss man folgern, dass die deutsche NP als Ganzes hochgradig synthetisch organisiert ist. Hier werden grammatische Informationen nicht isolierend, sondern diskontinuierend/kombinierend kodiert. Ebenso ist auch der Person/NumerusAusdruck am Verb kein analytischer (s. Nübling in diesem Band). Die Verbendungen -en und -t werden mit Hilfe des Subjektspronomens disambiguiert, z.B. wir/sie kommen, sie/ihr kommt. Ein klarer Kongruenzfall liegt in du komm-st vor. Literatur Ágel, Vilmos (1993), Valenzrealisierung, finites Substantiv und Dependenz in der deutschen Nominalphrase. Hürth-Efferen: Gabel. Ágel, Vilmos (1996), Finites Substantiv. Zeitschrift für germanistische Linguistik 24: 16-57. Ágel, Vilmos (2006), (Nicht)Flexion des Substantiv(s). Neue Überlegungen zum finiten Substantiv. Zeitschrift für germanistische Linguistik 34: 286-327. Demske, Ulrike (1999), Case compounds in the history of German. Germanistische Linguistik 141-142: 150-176. Demske, Ulrike (2001), Merkmale und Relationen. Diachrone Studien zur Nominalphrase des Deutschen. Berlin & New York: de Gruyter. Ebert, Robert Peter, Oskar Reichmann, Hans-Joachim Solms, & Klaus-Peter Wegera (1993), Frühneuhochdeutsche Grammatik. Tübingen: Niemeyer. Greenberg, Joseph Harold (1960), A quantitative approach to the morphological typology of language. International Journal of American Linguistics 26: 178-194. Kempgen, Sebastian & Werner Lehfeldt (2004), Quantitative Typologie. In: Booij, Geert, Christian Lehmann, Joachim Mugdan & Stavros Skopeteas (Hrsg.), Morphologie. Ein internationales Handbuch zur Flexion und Wortbildung. Bd. 17,2, Berlin & New York: de Gruyter, 1235-1246. Kürschner, Sebastian (2008), Deklinationsklassen-Wandel. Eine diachron-kontrastive Studie zur Entwicklung der Pluralallomorphie im Deutschen, Niederländischen, Schwedischen und Dänischen. Berlin & New York: de Gruyter. Lehfeldt, Werner (1998), Das System der Präsensformenbildung im Polnischen im Vergleich mit den anderen slavischen Sprachen. In: Rothe, Hans & Peter Thiergen (Hrsg.), Polen unter Nachbarn. Polonistische und komparatistische Beiträge zur Literatur und Sprache. XII. Internationaler Slavistenkongreß in Krakau 1998. Köln, Wien & Weimar: Böhlau, 29-53. Moulin-Fankhänel, Claudine (2000), Varianz innerhalb der Nominalgruppenflexion. Ausnahmen zur sog. Parallelflexion der Adjektive im Neuhochdeutschen. Germanistische Mitteilungen 52: 73-97. Nübling, Damaris (1992), Klitika im Deutschen – Schriftsprache, Umgangssprache und alemannische Dialekte. Tübingen: Narr. Nübling, Damaris (2005), Von in die über in'n und ins bis im: Die Klitisierung von Präposition und Artikel als “Grammatikalisierungsbaustelle”. In: Leuschner,
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Elisabeth Leiss Koverter Abbau des Artikels im Gegenwartsdeutschen Abstract The starting point of this paper is the covert erosion of the article system in modern German. This process of erosion is due to the growing redundant use of definite articles in clearly definite contexts. The central aim is to demonstrate that the overgeneralized use of articles triggers two processes of language change: first, the loss of the article system, and, second, the rise of light verb constructions. As verbal perfectivity and nominal definiteness are closely related functions, the compensation of article loss by aspect is by no means surprising. What we see in modern German is the third phase of an aspect-article-aspect cycle, with the clause-structural rhema area as the only possible locus of this process of grammaticalization.
1. Einleitung: Artikel-Aspekt-Zyklus Ziel dieser Arbeit ist es zu zeigen, dass sich der Artikel im Deutschen im Abbau befindet, ohne dass dies von den Sprechern wahrgenommen würde. Wahrgenommen wird dieser Sprachwandelprozess nicht, weil der Artikel hochfrequent verwendet wird und damit intakter zu sein scheint als in all den Jahrhunderten seit seiner Entstehung. Der Abbau des Artikels, und hier vor allem des definiten Artikels, ist jedoch, so die These dieser Arbeit, paradoxerweise gerade durch die übergeneralisierende Verwendung des definiten Artikels, also durch Hyperdetermination (vgl. Leiss 2000, Leiss 2007: 88-89) bedingt. Übergeneralisierende Verwendungen einer Kategorie haben paradoxerweise zur Folge, dass die Kernfunktionen einer solchen Kategorie relativ zur Gesamtzahl der Verwendungen seltener kodiert werden als vorher. Dadurch verändert sich die grammatische Gesamtbedeutung einer Kategorie. Ein übergeneralisierend verwendeter Artikel ist streng genommen kein Artikel mehr, sondern das Ergebnis der funktionalen Unifikation aller vorliegenden Verwendungen. Solche Erscheinungen führen auf lange Sicht zur Neukodierung der Kernfunktion des Artikels durch andere Mittel. Interessant ist nun, dass gegenwärtig im Deutschen der definite Artikel, der ursprünglich in rhematischer Position nach Abbau des germanischen Aspektsystems entstanden ist (vgl. Leiss 2000), in eben dieser Position funktionslos und durch neu entstehende Funktionsverbgefüge (FVG) ersetzt wird. Im Gegenzug zum funktionalen Abbau des Artikels etabliert sich mit den FVGn in thematischer Position erneut ein Aspektsystem. In Leiss (2000) wurde für frühere Stufen der germanischen Sprachen der umgekehrte Sprachwandelprozess nachge-
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zeichnet: die Entstehung des definiten Artikels als Folge des Abbaus verbalen Aspekts in den germanischen Sprachen. Wir haben es somit mit einem zyklischen Sprachwandelprozess zu tun, bei dem sich die nominale Definitheits-/Indefinitsheitskategorie des Artikels und die verbale Definitheits-/Indefinitheitskategorie des Aspekts abwechseln. Dieser ArtikelAspekt-Zyklus soll im Folgenden am Beispiel des Deutschen nachgezeichnet werden. 65 Dazu wird zunächst die diachrone Entwicklung des definiten Artikels kurz vorgestellt, dann werden die Folgen einer übergeneralisierenden Verwendung des Artikels (anaphorische Verwendung bis hin zur Verwendung bei Eigennamen) als Entfunktionalisierung des Artikels transparent gemacht. Schließlich wird die Etablierung eines neuen Aspektsystems als funktionale Kompensation für die funktionale Schwächung des Artikels im Deutschen als Erklärungsansatz vorgestellt. Abschließend wird darauf aufmerksam gemacht, dass der Abbau des Artikels und der Aufbau aspektueller Differenzierungen in nicht-normierten Varietäten des Deutschen wie in der sogenannten Kanak Sprak bereits sehr fortgeschritten sind. Im Ausblick wird am Beispiel des Persischen darauf hingewiesen, dass der Abbau des definiten Artikels in der Geschichte der indogermanischen Sprachen schon einmal mit dem Aufbau von Funktionsverb- und Nominalisierungsverbgefügen korrelierte. Auffassungen wie in Kolde (1996: 39), wonach sich die Entstehung des Artikels nicht rückgängig machen lasse und damit eine Art Höhepunkt der Sprachwandelgeschichte darstelle, erweisen sich somit als unhaltbar. Stattdessen ist von einem Artikel-Aspekt-Zyklus auszugehen, der sich allerdings nur in Sprachen von großer historischer Tiefe nachweisen lässt, da dieser Zyklus extrem langsam verläuft. 2. Aspektverlust und Artikelaufbau in früheren Sprachstufen 66 Eine der interessantesten Fragen der Sprachgeschichte ist die Frage nach dem Warum der Entstehung des Artikels. Wenn es voll funktionstüchtige Sprachen ohne Artikel gibt, warum grammatikalisiert sich dann ein Arti-
__________ 65
66
Van Gelderen (2007) beschreibt einen Definitheitszyklus für das Germanische, bei dem die Kategorie des Aspekts allerdings nicht berücksichtigt wird, dort aber m.E. integrierbar ist, sobald man ausschließlich formale Erklärungen verlässt und funktionale Erklärungen zulässt. Das ist allerdings nur möglich, wenn Sprache nicht ausschließlich als formaler Ausdrucksapparat definiert wird, während Inhalte den Gedanken zugeschrieben werden, die nach rationalistischer Auffassung schon als vor aller Sprache vorhanden postuliert werden, was allerdings nur eine von vielen möglichen Axiomatiken darstellt (vgl. dazu Leiss 2009). Die folgenden Ausführungen basieren auf Leiss (2000) und fassen einige Ergebnisse dieser Arbeit, auf der der vorliegende Artikel aufbaut zusammen, da sie nicht vollständig vorausgesetzt werden können.
Koverter Abbau des Artikels
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kelsystem heraus? Um diese Frage beantworten zu können, muss man die Funktion des Artikels kennen. In Genussprachen wie dem Deutschen sind die Sprecher in der Regel der Überzeugung, die Funktion des Artikels sei es, das Genus zum Ausdruck zu bringen. Selbst Germanistikstudenten äußern diese Auffassung relativ häufig, wenn man sie nach der Funktion des Artikels fragt; und sie tun dies, obwohl sie in der Regel Englisch und Latein als Schulsprachen gelernt haben. Das Englische verfügt allerdings über ein Artikelsystem, dies, ohne Genus zu transportieren, während umgekehrt das artikellose Latein Genus realisiert, und zwar als synthetischen Teil des Nomens. Das Japanische wiederum weist weder ein Genus- noch ein Artikelsystem auf. Man kann die Entstehung des Artikels ganz offensichtlich nur dann verstehen, wenn man weiß, worin seine Funktion besteht. Sie besteht mit Sicherheit nicht im Ausdruck von Genus oder weiterer von ihm transportierter Kategorien wie Numerus oder Kasus. Im Folgenden wird zu zeigen sein, dass der anaphorisch verwendete Artikel bereits eine Art der übergeneralisierenden Verwendung der ursprünglichen Kernfunktion des definiten Artikels darstellt. Der Prozess der Übergeneralisierung und seine Folgen lassen sich anschaulicher als am Beispiel des Artikels am bekannteren Beispiel des Perfekts illustrieren. Solange das Perfekt zu Beginn seiner Grammatikalisierung ausschließlich resultativ verwendet wird, ist es in seiner Kernfunktion als Perfekt einzuordnen. Sobald es jedoch übergeneralisierend mit imperfektiven Verben verwendet wird statt ausschließlich mit perfektiven Verben, verändert es seine Funktion: Das Perfekt wird zum (analytischen) Präteritum, ganz gleich ob es (noch) wie ein Perfekt aussieht (wie im Deutschen) oder nicht mehr (wie im Polnischen und Russischen). So wie der übergeneralisierend verwendete Artikel wird auch das nichtresultative „Perfekt“ häufiger verwendet als das resultative Perfekt. Gerade die hohe Frequenz, die durch die Aufgabe von Selektionsrestriktionen bedingt ist, führt aber auch zur kategorialen Reinterpretation einer Kategorie und damit in letzter Konsequenz zu ihrer Auflösung. Um die Kernfunktion des Artikels zu verstehen, ist es hilfreich, eine Sprache oder Sprachfamilie zu untersuchen, die einen Wechsel von einem artikellosen System zu einem Artikelsystem durchgeführt hat. Die Untersuchung der umgekehrten Entwicklungsrichtung, nämlich der Abbau des definiten Artikels, die ebenfalls dokumentiert ist (im Persischen), wäre selbstverständlich ebenso interessant. Da Artikelsysteme sehr langsam entstehen, kann man diesen Prozess am besten in Sprachen untersuchen, die über einen großen Zeitraum hin erfasst sind und somit über eine ausreichende historische Tiefe verfügen. In methodischer Hinsicht ist es dabei sinnvoll, zunächst nach Korrelationen Ausschau zu halten. Hier kommt die Kategorie des Aspekts mit ins Spiel.
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Ein Charakteristikum der germanischen Sprachen ist es, dass ein gut etabliertes Aspektsystem zusammengebrochen ist. Gleichzeitig grammatikalisiert sich in allen germanischen Sprachen ein Artikelsystem heraus. Der Aspekt schwindet zuerst in den nordgermanischen Sprachen; und dort setzt auch die Entstehung des Artikels zuerst ein. Eine wichtige Einsicht ist dabei, dass die Entstehung des definiten Artikels in rhematischer Position erfolgt. Das Rhema ist dabei als die Indefinitheitsregion des Satzes definiert. In dieser Position sind definite Aktanten die Ausnahme, so dass die Nichtmarkierung der Definitheits-/Indefinitheitsposition mit koverten Indefinitheitswerten einhergeht. Aus diesem Grund sind die ersten Artikelvorkommen, die in sich in einer Sprache herausgrammatikalisieren, sehr gering. Die niedrige Frequenz der ersten Artikelvorkommen löst regelmäßig Diskussionen darüber aus, ob es bei den ersten und wenigen Artikelvorkommen bereits gerechtfertigt ist, vom Vorhandensein des Artikels in einer spezifischen Sprache zu sprechen. Diese Fragestellung ist nur dann sinnvoll, wenn die ersten sporadischen Artikelvorkommen in zufälliger Verteilung vorkommen. Man ist nun tatsächlich lange von der zufälligen, d.h. arbiträren Verteilung des Artikels ausgegangen. Eine genauere Untersuchung der Distribution des Artikelvorkommen im Altisländischen (Leiss 2000) hat jedoch ergeben, dass der definite Artikel vollständig regelgeleitet nur in ganz spezifischen syntaktischen Umgebungen erscheint. Die Distribution des Artikels sowie die Erklärung der Distribution hängen dabei eng mit der Funktion des Artikels zusammen. Die Funktion des Artikels besteht in einer ersten Annäherung im Ausdruck der Opposition von Definitheit vs. Indefinitheit. Diese Funktion lässt sich auch über die Wortstellung zum Ausdruck bringen. Die thematische Position, hier definiert als die erste Satzgliedposition, ist inhärent definit; die rhematische Position kodiert im Gegenzug auf unsichtbare, koverte Art und Weise Indefinitheit. Die Serialisierung des Satzes bringt also ein Definitheitsgefälle bzw. Referenzialitätsgefälle zum Ausdruck (vgl. Leiss 1992: 150). Dieses besagt, dass die erstgenannten Inhalte immer definiter und stärker referentiell zu sein haben als die später genannten. Aus dieser natürlichen Informationsstruktur des Satzes lässt sich ableiten, dass der definite Artikel in thematischer Position zur Kodierung von Definitheit nicht erforderlich ist. Anders verhält es sich mit der rhematischen Position. Jede Abweichung von der natürlichen Definitheitskodierung muss dort signalisiert werden. Auch dies kann prinzipiell wieder durch die Reihenfolge der Satzglieder im Satz geleistet werden: Die Serialisierung SVO bringt in artikellosen Sprachen in der Regel zum Ausdruck, dass das Objekt indefinit ist. Die Umkehrung der VO-Reihung zeigt dagegen an, dass das Objekt definit ist: die SOV-Serialisierung wird gewählt. Diese Reihenfolge ist nicht arbiträr, sondern findet sich in
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allen Sprachen, die dieses Mittel nutzen, in dieser Form. Das ist beispielsweise im Chinesischen der Fall: „definite nouns, whether subject or object, tend to be placed before the verb, whereas indefinite nouns tend to follow the verb“ (Li & Thompson 1975: 165). Wenn die Wortstellung weniger variabel ist als in Sprachen wie dem Chinesischen, dann sind zusätzliche morphologische Mittel erforderlich, um ein definites Objekt zu signalisieren. Das war im Altisländischen der Fall. Da das Verb nie später als in V2-Position erscheinen konnte, war somit SOV zur Signalisierung von Definitheit ausgeschlossen. Ein alternatives Mittel zur Kodierung über Serialisierung von OV versus VO stellt die Verbalkategorie des Aspekts bereit. Gut untersucht ist dieser Bereich für das Russische und weitere slavische Sprachen: In der syntaktischen Umgebung von perfektiven Verben tendieren Akkusativobjekte zu Definitheit; umgekehrt löst die Nachbarschaft von imperfektiven Verben eine Indefinitheitslesart des Akkusativobjekts aus. Kombiniert man perfektive Verben mit Genitivobjekten, wird partitive Lesart kodiert. Es gibt also eine kombinatorische Symbolisierung von Definitheit, Indefinitheit und Partitivität unter der Beteiligung der Kategorien Aspekt und Kasus im Russischen und weiterer slavischer Sprachen. Dieser Effekt ist möglich, weil perfektive Verben im Grunde aspektuell definite Verben sind, während imperfektive Verben sich als indefinite Verben einordnen und bezeichnen lassen. Dieses alternative Mittel zur kombinatorischen Kodierung von Definitheitswerten in rhematischer Funktion steht für die germanischen Sprachen mit dem Verlust der aspektuellen Verbalpräfixe (zuerst im Altnordischen ab dem 7. Jh.) ebenfalls nicht mehr zur Verfügung. Damit haben wir eine erste Ursache der Entstehung des Artikels in den germanischen Sprachen ermittelt. In den germanischen Sprachen kam es seit dem 7. Jahrhundert es zu einem massiven Aspektabbau durch den Verlust der aspektuellen Präfixe. Etwa zeitgleich verändern sich die Wortstellungsregularitäten. Die variable Wortstellung des Verbs wird auf die zweite Position fixiert: Im Altisländischen entsteht in der Folge die „eiserne Regel der Verbzweitstellung“, wie es Heusler (1950) nennt. Sie besagt, dass das Verb nie später als in Zweitposition erscheint. Gegen diese Regel wird im Deklarativsatz grundsätzlich nicht verstoßen. Die Serialisierung SOV zur Kodierung eines definiten Objekts ist somit nicht mehr möglich, anders als noch in den altnordischen Runeninschriften. Es lässt sich nun interessanterweise zeigen, dass die scheinbar zufällig verteilten Artikelvorkommen im Altisländischen und Gotischen ausschließlich in rhematischer Position vorkommen (vgl. Leiss 2000: 37-43). Sie signalisieren ein definites Objekt. Der Artikel leistet somit die Kodierung von markierten (unerwarteten) Definitheitswerten im Rhema. Oder anders formuliert: Der Verstoß gegen die natürliche Informationsstruktur,
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die in den Präsuppositionen aller Sprecher fest verankert ist, muss durch eine explizite Markierung angezeigt werden. Hinzufügen bleibt: Der definite Artikel leistet dies im Altisländischen nur dort, wo dies auch notwendig ist. Der definite Artikel wird zu Beginn seiner Grammatikalisierung konsequenterweise nur dort verwendet, wo die Definitheit eines Nomens nicht präsupponiert werden kann, also im Rhema. Präsupponierbar ist sie dagegen in thematischer Position und bei Eigennamen. Damit lässt sich erklären, warum die ersten Artikelverwendungen in einer Sprache wie dem Altisländischen so selten sind. Der Grund ist nicht, dass der Artikel noch nicht grammatikalisiert gewesen wäre, wie vielfach aufgrund der wenigen Artikelvorkommen postuliert wurde; der Grund ist vielmehr, dass Definitheit nur dort signalisiert wurde, wo sie sonst nicht kovert durch die informationsstrukturelle Serialisierung inhärent vorhanden und erkennbar gewesen wäre. Diese Kodierungsform von Definitheit lässt sich als Hypodetermination einordnen. 3. Hyperdetermination und zunehmende Entfunktionalisierung des definiten Artikels Der definite Artikel konnte im Altisländischen auf Grund des Prinzips der Hypodetermination nicht in anaphorischer Funktion verwendet werden. Bei der thematischen Wiederaufnahme einer rhematisch gesetzten definiten DP 67 erscheint diese DP ohne definiten Artikel. Die thematische Position mit ihrem inhärenten Definitheitswert blockiert in der Frühphase der Grammatikalisierung des Artikels die redundante Kodierung von Definitheit. Hier stellt sich vielen die Frage, worin denn der Unterschied zwischen einem definiten Artikel in seiner Kernfunktion und dem anaphorisch verwendeten Artikel genau bestünde. Er besteht in der Redundanz der expliziten Definitheitsmarkierung des anaphorisch verwendeten Artikels. Diese Redundanz kann entweder als ungrammatisch verworfen werden, wie im Altisländischen; sie kann aber auch sekundär zur Herstellung von Textkohäsion genutzt werden. Das ist bereits im Althochdeutschen der Fall. Man hat also zwischen der satzgrammatischen Funktion des definiten Artikels und der textgrammatischen anaphorischen Funktion zu unterscheiden. Satzgrammatische Definitheit besteht funktional in der Sig-
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Mit DP (Determiner-Phrase) sind im Folgenden alle Nominalphrasen gemeint, die entweder definit oder indefinit referieren. Als NP (Nominalphrasen) werden dagegen alle nicht referierenden Nominalphrasen bezeichnet, wie z.B. in Er ist Lehrer, wo das prädikativ verwendete Nomen nicht referiert. Generisch verwendete Phrasen werden im Folgenden der Einfachheit halber mit NP abgekürzt, ohne damit in die Diskussion um den Status von generischen NPs sowie in die Abgrenzung von DP vs. NP eingreifen zu wollen.
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nalisierung neuer Information in unerwarteter syntaktischer Umgebung. Textgrammatische Definitheit besteht dagegen paradoxerweise in der Signalisierung „bekannter Definitheit“. Im Folgenden wird die Position vertreten, dass der anaphorisch genutzte definite Artikel nicht die Kernfunktion des definiten Artikels darstellt, anders als Heim (1988) annimmt, um nur einen repräsentativen und viel rezipierten Autor zu nennen. Auch andere grammatische Kategorien, wie beispielsweise Tempus, werden anaphorisch zur Erzeugung von Textkohäsion genutzt, ohne dass man diese textuellen Funktionen als deren Kernfunktion einordnen würde. Bei der Definition grammatischer Kategorien sollte man grundsätzlich immer von einer satzgrammatischen Funktion ausgehen, da die textgrammatischen Funktionen als sekundär einzuordnen sind. Hinzuzufügen bleibt, dass der anaphorische Artikel eine Refunktionalisierung von Redundanz darstellt. 68 Mit der Signalisierung definiter Definitheit durch den anaphorischen Artikel (Hyperdetermination) kommt es in späteren Phasen der Grammatikalisierung zu einer ganzen Welle an übergeneralisierenden Verwendungen des definiten Artikels. Da der anaphorische Artikel inhärente Definitheit nochmals explizit kodiert, werden alle Vorkommen von inhärent definiten DPs anfällig für doppelte Kodierung: Dazu gehören vor allem Eigennamen und Possessivpronomina. Auch die generische Verwendung des Artikels, d.h. seine neutralisierende Default-Verwendung wird in hyperdeterminierenden Systemen möglich. Besonders symptomatisch für Hyperdetermination ist die Verwendung von Artikel mit Eigennamen, was in süddeutschen Varietäten bereits Eingang in die Schriftsprache gefunden hat. Dies gilt zumindest für österreichische Autoren wie Walter Kappacher, die nicht die Norm, sondern die sprachliche Realität abbilden. Der Artikel wird in den süddeutschen und österreichischen Varietäten allerdings nicht obligatorisch mit Eigennamen gesetzt, wie das beispielsweise im hyperdeterminierenden Neugriechischen der Fall ist, sondern scheinbar regellos. Napoli (2009: 589-594) hat interessanterweise für die nicht-obli-
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In diesen Zusammenhang passen auch die von Abraham (2007) im Zusammenhang mit der Zentrierungstheorie ermittelten unterschiedlichen anaphorischen Funktionen von Demonstrativpronomina vs. Personalpronomina im Deutschen: Während Demonstrativpronomina auf zuvor im Rhema genannte Information zurückverweisen, nehmen Personalpronomina auf Information, die im Thema genannte wurde, Bezug. In textgrammatischer Hinsicht verweisen somit Demonstrativpronomina anders als Personalpronomina. Da Artikel regulär aus Demonstrativpronomina entstehen, liegt es auch aus diesem Grund nahe, zwischen unterschiedlichen Funktionen von Definitheit zu unterscheiden. Da es im Altisländischen keine Personalpronomina der dritten Person gibt, bzw. diese durch das Demonstrativpronomen im Neutrum kodiert werden, ist die anaphorische Verwendung des Artikels blockiert. Zumindest wäre das eine weitere mögliche Erklärung für die Resistenz gegen die anaphorische Verwendung des definiten Artikels.
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gatorische, aber häufige Setzung des definiten Artikels im Altgriechischen eine nicht-arbiträre Distribution ermittelt. Danach wurde der definite Artikel im Altgriechischen bei der Erstnennung eines Eigennamens nicht gesetzt, bei der anaphorischen Wiederaufnahme des Eigennamens dann aber verwendet. Diese Distribution würde darauf hinweisen, dass die anaphorische Verwendung des Artikels das Einfallstor für die Verwendung mit Eigennamen und vermutlich auch für die generische Verwendung darstellt. Anaphorische Artikelverwendung führt somit zum weiteren Ausbau von Hyperdetermination bis hin zur Entfunktionalisierung des Artikels. Offenbar lässt sich die Verwendung mit Eigennamen nicht refunktionalisieren. Allerdings muss man diesen Punkt offen lassen, solange keine ausführlichen Distributionsanalysen zu Hyperdetermination vorliegen. So konnte ich beispielsweise die von Napoli (2009) für das Altgriechische ermittelten Distributionsregularitäten bei der Setzung des bestimmten Artikels mit Eigennamen in Walter Kappachers Erzählung Der Fliegenpalast nicht wiederfinden, obwohl die erste Beschreibung der Verwendung von Artikeln mit Eigennamen als häufig, aber nicht obligatorisch, der des Altgriechischen entspricht. 69 Man mag sich fragen, was denn der relevante Unterschied zwischen einfach markierter Definitheit und übermarkierter definiter Definitheit bzw. Hyperdetermination sein soll; ob es sich überhaupt lohne, hier zu differenzieren. Ein Punkt wurde bereits genannt. Definite Artikel werden nicht in jeder Sprache anaphorisch genutzt und sind damit nicht unbedingt als Textverketter verwendbar. Ein weiterer entscheidender Punkt ist, dass definite Definitheit nicht mehr in Opposition zu Indefinitheit gebracht werden kann. Bereits inhärent definite DPs können nicht mit dem unbestimmten Artikel verwendet werden. Ein definierendes Merkmal für jede grammatische Kategorie ist es nun aber einmal, dass sie Oppositionen aufbaut, aus denen ausgewählt werden kann. In dem Augenblick, in dem die Wahlfreiheit zwischen Definitheit/Indefinitheit aufgehoben ist, kommt es zu einer Erosion der zentralen Funktion des Artikels (Signalisierung von Definitheit versus Indefinitheit). Ein weiterer interessanter Bereich, in dem die Wahlfreiheit bei der Setzung des Artikels aufgehoben ist, sind im Neuhochdeutschen die Funktionsverb- und Nominalisierungsverbgefüge. Diese sind wesentlich am dramatischen Sprachwandel, wie er sich Bereich des Artikels im Gegenwartsdeutschen, übrigens weitgehend unbeachtet und unerkannt, manifestiert, beteiligt.
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Kappacher verwendet auch bei Erstnennung eines Eigennamens häufig den definiten Artikel und nicht erst bei dessen anaphorischer Wiederaufnahme: Wie war er bloß am Vorabend dazu gekommen, der Alma Mahler zu schreiben? (Kappacher 2009: 104). Es handelt sich um einen inneren Monolog des Protagonisten H. (Hugo von Hoffmannsthal) und der Erstnennung von Alma Mahler.
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4. Abbau der Artikelopposition und Neugrammatikalisierung perfektiver Verben im Deutschen Ein Charakteristikum des Gegenwartsdeutschen ist die zunehmende Verwendung von FVGn. Der Artikel geht in FVGn zunehmend verloren: (1) zu Ende führen
für beenden
(2) in Bewegung setzen
für bewegen
(3) in Auftrag geben
für beauftragen
Viele FVG enthalten jedoch noch nichtfunktionale Reste von Artikelvorkommen, wozu auch die Verschmelzungen von Artikeln mit Präpositionen gehören wie in (2): (4) zur Aufführung bringen/kommen
für aufführen
(5) einen Neuanfang machen
für neu anfangen
Mindestens ebenso häufig wie FVG sind im Deutschen sogenannte Nominalisierungsverbgefüge (NVG). Kennzeichnend für FVG ist, dass ein Verb in ein Auxiliar (Funktionsverb) und in ein Nomen (Funktionsnomen) aufgespalten wird. NVG weisen dieselbe Struktur auf wie FVG, sind aber nicht von einem im Deutschen existierenden Verb abgeleitet. Man könnte (5) als FVG oder auch als NVG einordnen. Ein klares NVG liegt vor in: (6) sich auf den Weg machen (7) *sich auf einen Weg machen /*sich auf Weg machen Bei den in FVG und NVG vorhandenen Artikeln handelt sich möglicherweise um Artikelfossile. Kennzeichen für solche entfunktionalisierte Artikel ist, wie bereits im Zusammenhang mit dem anaphorisch verwendeten Artikel in thematischen DPs gesagt und in Beispielen (6) und (7) ebenfalls sichtbar, dass sie nicht in Opposition zum unbestimmten Artikel oder zum Nullartikel verwendet werden können. Bei FVGn steht der bestimmte Artikel nicht mehr in Opposition zum unbestimmten Artikel. Damit kommt es zu einer Entfunktionalisierung des Artikels auch in rhematischer Position, also dort, wo der (definite) Artikel entstanden ist. FVG schwächen somit die Artikelkategorie. Das ist jedoch nur auf den ersten
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Blick der Fall. Was tatsächlich passiert, ist die Ersetzung nominaler Definitheit durch verbale Definitheit in rhematischer Position. Verbale Definitheit ist ein Synonym für Perfektivität. Perfektive Verben können ihr verbales Definitheitsmerkmal auf ihre Umgebung übertragen. Damit können sie Objekte als definit kennzeichnen und zu alternativen Kodierern von Definitheit werden. Es liegt nahe anzunehmen, dass die Entstehung der FVG durch die Schwächung der Artikelopposition motiviert ist. FVG kompensieren die Marginalisierung der Kernfunktion des Artikels, welche durch die hyperdeterminierende Verwendung des definiten Artikels bedingt ist. FVG und NVG werden in unmarkierter Serialisierung in rhematischer Position verwendet. Somit wird das Merkmal der verbalen Definitheit genau dort neu aufgebaut, wo ursprünglich auch nominale Definitheit grammatikalisiert wurde. Das Rhema ist somit der Ort, an dem der Artikel-Aspekt-Zyklus jeweils neu angestoßen wird. Da die hyperdeterminierende und anaphorische Verwendung des definiten Artikels bereits im Althochdeutschen etabliert ist, müsste es, sollte die Kompensationsthese zutreffen, zu einer relativ frühzeitigen Grammatikalisierung von FVGn und NVGn kommen. Das ist der Fall: FVG treten bereits im Althochdeutschen auf, besonders gehäuft ab dem Mittelhochdeutschen, wie Tao (1997) gezeigt hat. Ein Beispiel für die Verwendung eines perfektiven Funktionsverbgefüges im Althochdeutschen ist: (8) fúarun sie thó iro pád fuhren sie da ihren Pfad ‚Sie machten sich auf den Weg‘ [Otfrid, Evangelienbuch, 4,4,13; Übersetzung von Gisela VollmannProfe] Was hier vorliegt, ist die lexikalische Verdoppelung der Bedeutung des Verbs durch ein Nomen, und zwar durch ein zählbares Nomen. Dadurch entsteht eine Art pseudotransitive Konstruktion; pad referiert hier nicht, sondern ist Teil einer analytischen Verbkonstruktion, deren Funktion die Perfektivierung 70 des Verbs darstellt. Perfektivierend wirkt sich das Nomen aus, das zu diesem Zweck inkorporiert wird. Als zählbares Nomen transportiert es die Merkmale der Heterogenität, Nichtteilbarkeit und Nonadditivität, die auch für perfektive Verben konstitutiv sind. Bereits im Mittelhochdeutschen kommt es zu einer Herausbildung von sogenannten Funktionsverben, die semantisch entleert sind und sich somit Auxiliaren
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Es soll hier nicht die Diskussion entfacht werden, ob auf diese Weise Aktionsarten oder Aspekt neu grammatikalisiert wird. Vieles weist jedoch auf die Grammatikalisierung einer binären Opposition und damit auf Aspekt hin. Genauer ausgeführt findet sich dieser Punkt in Leiss (2000: 208-215).
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annähern. 71 Die am häufigsten verwendeten Funktionsverben entsprechen bereits denen im Neuhochdeutschen, nämlich kommen und bringen wie Tabelle 1 zeigt: in/ze arbeit komen in dienest komen ze/an/ûf ende komen ze tôt komen ze touf komen in zwîvel komen
an/in arbeit bringen in dienest bringen ze/an ende bringen ûf/ze tôt bringen an touf bringen in/ze zwîvel bringen
Tabelle 1: Mhd. Funktionsverbgefüge mit kommen und bringen (Belege aus Tao 1997: 192-197)
Interessanterweise sind die von Tao aufgeführten mittelhochdeutschen Funktionsverbgefüge artikellos, während im Neuhochdeutschen Artikel weit häufiger vorkommen. Möglicherweise handelt es sich bei den heute vorkommenden scheinbaren Artikelrelikten in Funktions- und Nominalisierungsverbgefügen nicht einfach um Relikte, sondern bereits um das Ergebnis inzwischen weiter fortgeschrittener Hyperdetermination. Das müsste erst noch untersucht werden. Im Folgenden soll am Beispiel von Textausschnitten aus dem Deutschen gezeigt werden, dass die Mehrzahl der Artikelverwendungen heute nichtfunktional ist. 5. Artikel und Artikeloppositionen im Deutschen In Textbeispiel 1 (Zwei Mittelpunkte in: SZ 1./2. August 2009, Beilage „Beruf und Karriere“, S. 1) dominieren die generischen Verwendungen; sie sind auf Grund des Zwangs, eine grammatische Kategorie zu realisieren, selbst dann, wenn sie redundant oder neutralisiert ist, vorhanden. Wann ist das Arbeitszimmer von der Steuer absetzbar? Berufstätige klagen gegen die Neuregelung. Es betrifft Architekten und Anwälte, Gewerbetreibende, Lehrer und Außendienstmitarbeiter: Sie alle sind in ihrer Arbeit auf ein häusliches Arbeitszimmer angewiesen. Bis Ende 2006 konnten sie die Kosten dafür ganz oder zum Teil bei der Steuer geltend machen. Seit Anfang 2007 hat der Gesetzgeber einem Steuer-
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Vergleichbare Perfektivierungen scheinen bei Nominalisierungen vorzuliegen, wie sie im Spanischen vorkommen. Dam-Jensen (2008) behandelt Sätze wie: Puede ser peligroso (el) beber mucha agua? (,Kann viel Wasser trinken gefährlich sein?‘/,Kann das viele Trinken von Wasser gefährlich sein?‘) und untersucht den Einfluss des Artikels auf die Semantik verbaler Situationen.
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abzug enge Grenzen gesetzt: Die Kosten sind nur noch dann absetzbar, wenn der Raum den „beruflichen oder betrieblichen Mittelpunkt“ der Arbeit darstellt. (9) Wann ist das Arbeitszimmer von der Steuer absetzbar? Hier kann der bestimmte Artikel vor Arbeitszimmer auch durch den unbestimmten Artikel ersetzt werden: ein Arbeitszimmer. Der Grund dafür ist, dass es sich um eine generische Verwendung des Artikels handelt. Bei der Ersetzung durch den unbestimmten Artikel entsteht jedoch kein Bedeutungsunterschied. Der definite und der indefinite Artikel sind ohne Funktionsveränderung austauschbar. Die Opposition zwischen definitem und indefinitem Artikel ist somit neutralisiert. Beide werden als DefaultFormen verwendet. Generische Verwendungen referieren nicht; 72 Artikel haben jedoch die Funktion, entweder definite oder indefinite Referenz herzustellen. Der definite Artikel referiert auf ‚dieses Exemplar‘, während der indefinite Artikel auf ein ‚solches Exemplar‘ referiert. Keine der beiden Referenztypen liegt bei dieser Verwendung vor. Von einer Opposition zwischen dem definiten und indefiniten Artikel kann somit nicht die Rede sein. Austauschbarkeit ist qualitativ etwas anderes als das Vorliegen einer Opposition. Der zweite in (9) verwendete Artikel ist Teil eines Funktionsverbgefüges: von der Steuer absetzen als perfektives Korrelat zu versteuern. Eine Ersetzung durch den indefiniten Artikel ist nicht möglich. Bei Funktionsverbgefügen liegt grundsätzlich keine Opposition zwischen definitem und indefinitem Artikel vor. Warum der Artikel überhaupt verwendet wird, bleibt offen. Es liegt vielleicht ein Artikelfossil vor oder eine idiomatisierte, mehr oder weniger idiosynkratische Verwendung des Artikels. In diesem Fall dürfte der Artikel im Laufe der Sprachgeschichte des Deutschen bei Funktionsverbgefügen zunehmend abgebaut werden. (10) Berufstätige klagen gegen die Neuregelung. Hier wird der indefinite Plural und damit der Nullartikel mit Berufstätige verwendet. Diese NP kann ebenso mit dem bestimmten Artikel im Plural verwendet werden: Die Berufstätigen klagen gegen die Neuregelung. Hier liegt wieder generische Verwendung und damit Neutralisierung der Artikelopposition vor. Bei die Neuregelung entsteht bei der Ersetzungsprobe mit dem indefiniten Artikel (klagen gegen eine Neuregelung) eine echte funktionale Op-
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Napoli (2009: 578) schlägt vor, dass auch generische NPs referieren, und zwar auf spezifische Klassenbegriffe in Opposition zu anderen Klassenbegriffen. Wenn man den Begriff der Referenz so ausweitet, sagt er allerdings fast nichts mehr aus.
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position. Es handelt sich bei der Verwendung mit dem indefiniten Artikel um eine nicht weiter spezifizierte Neuregelung. Es ist allerdings zu beachten, dass trotz vorliegender Opposition zwischen Definitheit versus Indefinitheit, der bestimmte Artikel hier primär in stilistischer und textgrammatischer Funktion verwendet wird. Bei die Neuregelung hat der definite Artikel nämlich kataphorische Funktion. Er verweist auf Information, die noch nicht erwähnt wurde, und fingiert damit, dass die Information bekannt ist. Es handelt sich um eine sehr markierte textphorische Verwendung des definiten Artikels. Die unmarkierte phorische Verwendung liegt im Gegensatz dazu immer dann vor, wenn der definite Artikel anaphorisch verweist. Eine satzgrammatische, nichtphorische Verwendung des definiten Artikels ließe sich zwar ansetzen. Diese Funktion wird hier jedoch textgrammatisch genutzt. (11) Es betrifft Architekten und Anwälte, Gewerbetreibende, Lehrer und Außendienstmitarbeiter: Hier liegt wieder generische Verwendung vor, weshalb der indefinite Nullartikel genauso gut durch den definiten Artikel ersetzt werden kann. Dass tatsächlich kein Unterschied zwischen beiden Verwendungen vorliegt in dem Sinn, dass die indefinite NP auf eine unbestimmte Menge referieren würde, zeigt der nachfolgende Satz: (12) Sie alle sind in ihrer Arbeit auf ein häusliches Arbeitszimmer angewiesen. Durch die Wiederaufnahme mit anaphorischen Sie alle wird deutlich, dass nicht auf eine indefinite Menge referiert wird. Somit liegt generische Verwendung vor und dadurch Ersetzbarkeit durch den definiten Artikel. (13) Bis Ende 2006 konnten sie die Kosten dafür ganz oder zum Teil bei der Steuer geltend machen. Wieder kann die Kosten durch Kosten ersetzt werden, ohne dass ein Funktionsunterschied erkennbar wäre. In Bezug auf die Verwendung des definiten Artikels mit Steuer müsste man diskutieren, ob es sich um eine metonymische Verwendung für Steuererklärung oder Steuerbehörde handelt. Im ersten Fall wäre die Austauschbarkeit mit dem indefiniten Artikel gegeben und es würde sogar eine funktionale Opposition vorliegen. Da dies nicht der Fall ist, spricht das für die metonymische Verwendung von Steuerbehörde, und zwar in der Bedeutung einer unikalen Institution und nicht einer spezifischen Steuerbearbeitungsstelle. Unika sind funktional mit Eigennamen verwandt. Als solche benötigen sie keinen definiten Artikel. Der Arti-
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kel wird hier daher hyperdeterminierend gesetzt. Interessant ist auch die Verwendung des kontrahierten Artikels in zum Teil. In der Regel wird bei Kontraktionen von Artikel und Präposition von einem kontrahierten definiten Artikel ausgegangen. Hier ist ebenfalls eine Paraphrasierung mit indefinitem Artikel möglich: zu einem Teil. Auf jeden Fall liegt keine Opposition zwischen indefiniter und definiter Verwendung vor und damit keine Artikelfunktion. Wie kontrahierte Artikel wie zum aufgelöst werden, hängt vom Kontext ab. (14) Die Kosten sind nur noch dann absetzbar, wenn der Raum den „beruflichen oder betrieblichen Mittelpunkt“ der Arbeit darstellt. Hier liegt bei der ersten DP anaphorische Artikelverwendung vor. Dasselbe gilt für die zweite DP der Raum, wo der definite Artikel die anaphorische Wiederaufnahme von Arbeitszimmer signalisiert. Bei der Verwendung des definiten Artikels in der Arbeit handelt es sich ebenfalls um einen anaphorisch verwendeten definiten Artikel. Da Arbeit in diesem Text allerdings vorher nur in generischer Verwendung verwendet wurde und die NP durch von Arbeit ersetzbar wäre, liegt streng genommen anaphorisch wieder aufgenommene generische Artikelverwendung vor. Dasselbe gilt für die schon kommentierte DP der Raum, wo ebenfalls die anaphorische Wiederaufnahme einer generischen NP vorliegt. Anaphern koreferieren somit nicht nur mit definiter Definitheit. Dabei handelt es sich eher um einen Sonderfall. Anaphern beziehen sich vielmehr undifferenziert auf jede vorerwähnte Information, sei sie nun als bekannte oder unbekannte Information eingeführt worden oder sogar nur als generische Information. Zusammenfassend lässt sich zu Text 1 sagen, dass in einer hypodeterminierenden Sprache wie dem Altisländischen an keiner der kommentierten Stellen eine Artikelsetzung erfolgt wäre. Lediglich bei der kataphorischen Verwendung in (10) liegt potentiell eine echte Opposition zwischen der Verwendung mit definitem und indefinitem Artikel vor. Die phorischen Verwendungen gehören jedoch nicht zur satzsemantischen Kernfunktion des Artikels. Sogar bei der im obigen Text vorkommenden Setzung eines Funktionsverbgefüges kann kein Unterschied zwischen der Semantik des FVG und der des Ausgangsverbs festgestellt werden. Das dürfte durch die Verwendung des Funktionsverbgefüges in einem generischen Satz bedingt sein. FVG und NVG in generischen Sätzen können keine Opposition zwischen zwei verschiedenen Funktionen aufbauen. In dieser Hinsicht verhalten sie sich wie Artikel in generischen Sätzen, die das ebenfalls nicht können. Anders verhält es sich mit Funktionsverbgefügen, die in nicht-generischen Sätzen vorkommen. Dort bestehen funktionale Unterschiede:
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(15) Das Münchner Volkstheater will am kommenden Freitag Hamlet aufführen. (16) Das Münchner Volkstheater will am kommenden Freitag Hamlet zur Aufführung bringen. In Satz (16) dominiert die Lesart, dass das Stück Hamlet Premiere hat. In Satz (15) ist diese Lesart nicht ganz ausgeschlossen, es überwiegt jedoch die iterative Lesart. Es handelt sich bei der Lesart, die sich zuerst einstellt, um dieselbe Inszenierung, die am Freitag wieder aufgeführt wird. Es liegt somit ein Unterschied in der Quantifikation der Ereignisse vor. Dieser Unterschied bleibt auch erhalten, wenn man (15) und (16) mit dem iterativen Adverb wieder konstruiert: (17) Das Münchner Volkstheater will am kommenden Freitag wieder Hamlet aufführen. (18) Das Münchner Volkstheater will am kommenden Freitag wieder Hamlet zur Aufführung bringen. In (17) wird die iterative Bedeutung von (15) verstärkt. In (18) bleibt die nichtiterative Bedeutung erhalten. Während es sich in (17) nämlich um dasselbe Stück (in derselben Inszenierung) handelt, wird in (18) auf eine Neuinszenierung Bezug genommen. Der Unterschied besteht somit in der Homogenität vs. Inhomogenität der Qualität der Wiederholungen: In (17) wird ein Stück wiederholt aufgeführt. Es handelt sich um als identische und damit als homogen dargestellte Aufführungen, während in (18) auf nichtidentische und damit als heterogen dargestellte Inszenierungen Bezug genommen wird. Die Differenz zwischen FVG und Präfixverb wird auch in Konstruktionsproben mit dem Adverb stundenlang sichtbar, das nur mit imperfektiven bzw. homogenen (additiven und teilbaren) Verben konstruierbar ist: (19) Das Münchner Volkstheater führt Hamlet stundenlang auf. (20) *Das Münchner Volkstheater bringt Hamlet stundenlang zur Aufführung. Während sich (19) eine sinnvolle Bedeutung zuordnen lässt, wonach das Stück sich über (zu) viele Stunden erstreckt, lässt sich eine solche Lesart mit (20) nicht gut gewinnen. Leichter ist es, wenn man den Satz wie in (20) in einen vergangenen Kontext transponiert: (21) Das Münchner Volkstheater brachte Hamlet stundenlang zur Aufführung.
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Ein solcher Satz wäre in der Besprechung einer Premiere von Hamlet denkbar. Vielleicht ist es aber auch nur ein Testartefakt, das hier durch das systematische Durchspielen aller Oppositionen akzeptabel und bedeutungstragend wird. Es ist bekannt, dass sich FVG und NVG bevorzugt mit präfigierten Verben konstruieren lassen, die bereits in Bezug auf ihre Aktionsart heterogen, nichtteilbar und nonadditiv sind und damit zum perfektiven Aspektpol tendieren. Es handelt sich damit bei FVG und NVG um Verstärkungskonstruktionen, die ursprünglich perfektive (aspektuell heterogene), aber aspektlabil gewordene Präfixverben auf eine perfektive Lesart festlegen. Natürlich kann verbale Determination, wie sie bei FVG und NVG vorliegt, nur die Kernfunktion des Artikels übernehmen, nicht die anaphorische, textverkettende Funktion. Mit dem Aufbau verbaler Determination und der semantischen „Kontamination“ der benachbarten nominalen Komplemente kommt es zur Differenzierung zwischen nominaler Definitheit im engen Sinn und Anaphorik. Was sich beobachten lässt, ist somit die Neugrammatikalisierung von Definitheit im Rhema, also dort, wie sie als Markierung benötigt wird, sobald gegen die grundlegende Präsupposition verstoßen wird, dass Rhemata natürlicherweise unbekannte Information transportieren. Es stellt sich die Frage, ob der definite Artikel mit der Grammatikalisierung von FVG und NVG überflüssig wird und abgebaut werden könnte. Für den rhematisch gesetzten definiten Artikel gilt das mit der Übergabe der Determinations- und Quantifikationsfunktion auf den verbalen Bereich auf jeden Fall. Es gilt potentiell auch für alle hyperdeterminierend gesetzte Artikel, wie definite Artikel bei Eigennamen und Artikel bei generischen Aussagen. Schwerer zu beantworten ist die Frage, ob das Einfallstor für Hyperdetermination, der anaphorisch gesetzte definite Artikel, ebenfalls abgebaut werden könnte und welche Zeiträume für den formalen Abbau längst funktionslos gewordener Grammeme anzusetzen sind. Interessant ist auf jeden Fall, dass der Artikel in nichtnormierten Soziolekten des Deutschen, wie in der sogenannten „Kanak Sprak“ zunehmend reduziert wird. Das erste kleinere Korpus dazu wurde von Füglein (2000) zusammengestellt. 73 Einige Belege daraus sollen abschließend genannt werden: (22) Ja, also meine Heimat ist Türkei. (Füglein 2000: 74)
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Weitere Belege zur Nichtverwendung von Artikeln in deutschen Ethnolekten finden sich auch in Bücker (2007: 41-44).
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Der definite Artikel wird nicht gesetzt, da ein Eigenname vorliegt, der bereits inhärent definit ist. (23) Normal gibt man normal ’nen shake, aber bei den besten Freunden, wo man weiß, ja der is halt cool und was weiß ich, der ist schon guter Freund, bei dem gibt man halt zwei Küsschen. (Füglein 2000: 74) In (23) findet man eine Artikelverwendung wie im Altisländischen. Der definite Artikel wird bei Superlativen verwendet; der indefinite Artikel fehlt in rhematischer Position, die inhärent indefinit ist. Es herrscht somit klar Hypodetermination vor. Dasselbe gilt für die Nichtverwendung des indefiniten Artikels in (24): (24) Du musst immer nur denken „Ah, jetzt muss ich morgen Probe schreiben“. (Füglein 2000: 75) Die Artikelsetzung erfolgt in der Kanak Sprak deutlich regelgeleitet. Hyperdetermination wird dort zunehmend reduziert, was möglich ist, weil sprachliche Normierung natürliche Phasen des Sprachwandels, hier des Artikel-Aspekt-Zyklus, nicht blockiert oder verzögert. Das ließe sich auch bei weiteren Charakteristika der Kanak Sprak nachweisen, z.B. bei der Auslassung von Präpositionen bei gerichteten Bewegungsverben, die auch als determinierte Bewegungsverben (etwa in der Grammatikschreibung des Russischen bezeichnet werden). Folgendes Beispiel kann das illustrieren: (25) Wenn ich Samstag nicht arbeite, dann geh’n wir Partys, Diskos oder Kinos. (Füglein 2000: 75) Das Verb gehen wird hier als Richtungsverb verwendet, so dass die Richtungspräpositionen nach dem Prinzip der Hypodetermination nicht mehr redundant kodiert werden. Sprecher von Kanak Sprak machen somit keine fehlerhaften Artikelsetzungen. Sie reduzieren lediglich ein System, dass längst funktionslos geworden und damit voll von Artikelballast ist. Dieselben Artikelauslassungen finden sich mittlerweile relativ frequent auch bei Sprechern des Standarddeutschen: ich fahre München; ich gehe Berg. Sie fallen interessanterweise in unmarkierter Aussprache nicht weiter auf. Der Grund dürfte sein, dass grammatische Morpheme in der Regel so automatisiert verarbeitet werden, dass Verstöße dagegen nicht auffallen, sobald die Aussprache dem lokalen Standard entspricht. Der Abbau des Artikels sowie von Richtungspräpositionen bei Richtungsverben (determinierten)
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Verben ist auch im gesprochenen Deutschen längst weiter fortgeschritten, als allgemein wahrgenommen wird. Mit dem Abbau des Artikels in der Kanak Sprak korreliert auffallenderweise die vermehrte Verwendung von FVGn. Auf die Zunahme von Funktionsverbgefügen in der Kanak Sprak hat Wiese (2006) aufmerksam gemacht, allerdings ohne auch nur im Ansatz einen Zusammenhang mit dem ebenfalls von ihr angesprochenen Abbau des Artikels zu vermuten. Sie spricht dagegen von einer pragmatischen Stützung der Interpretation wie sie für simplifizierte Register wie „Baby Talk“ und „Pet talk“ kennzeichnend sei. Obwohl Wiese (2006) bei der Beschreibung von FVG in der Kanak Sprak nach eigener Aussage vor allem die Kreativität dieser Varietät betonen will, verlegt sie die FVG in der Kanak Sprak in den sogenannten pragmatischen Bereich, während sie die FVG im Standarddeutschen als davon unterschiedenes grammatisches Phänomen deuten will. Im Gegensatz zu Wiese (2006) wird hier kein Unterschied zwischen der Funktion von FVG und NVG in nichtstandardisierten Varietäten und solchen im Standarddeutschen gemacht. Die nichtstandardisierten Varietäten weisen lediglich eine fortgeschrittenere Phase der Artikel-Aspekt-Zyklus auf. 6. Zusammenfassung und Ausblick Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich ein Definitheits-Zyklus bzw. ein Artikel-Aspekt-Zyklus für das Deutsche und seine germanischen Vorstufen belegen lässt. Dabei wechselt die Kodierung zwischen nominaler und verbaler Kodierung von Definitheit. Für das Gegenwartsdeutsche gibt es starke Hinweise darauf, dass die bislang für die Definitheitskategorie präferierte Artikelkodierung erneut durch aspektuelle Kodierung (verbale Definitheitskodierung) abgelöst wird. Die Mehrzahl der Artikelsetzungen ist im Gegenwartsdeutschen heute redundant und damit funktionslos. Diese Redundanz entstand zunächst durch die Verwendung des definiten Artikels in thematischer Position, die selbst inhärent Definitheit kodiert. Diese Redundanz wurde bereits im Althochdeutschen refunktionalisiert und zur Herstellung textgrammatischer Kohäsion genutzt. Im Zuge dieser Refunktionalisierung kam es zunehmend zur übergeneralisierenden Verwendung des Artikels, die, folgt man den Ausführungen von Napoli (2009) zum Altgriechischen und überträgt diese auf die Sprachgeschichte des Deutschen, durch die anaphorische Wiederaufnahme auch von Eigennamen und generisch verwendeten NPs ausgelöst worden sein dürfte.
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Abschließend stellt sich die Frage, wie sicher sich die Entstehung von Funktionsverbgefügen und Artikelabbau miteinander korrelieren lassen. Für die Nichtzufälligkeit dieser für die Sprachgeschichte des Deutschen zu beobachtenden Korrelation spricht eine parallele Sprachwandelerscheinung im Persischen: Im Persischen ist ein ursprünglich vorhandener definiter Artikel wieder verloren gegangen. Gleichzeitig wurden die einfachen Verben zunehmend durch Funktionsverbgefüge ersetzt. Ahadi (2001: 215280) gibt einen Forschungsüberblick zu diesen „zusammengesetzten Verben“ im Persischen und setzt sie mit den Funktionsverbgefügen im Deutschen gleich. Ein wesentlicher Unterschied besteht allerdings zwischen den FVG des Deutschen und Neupersischen. Während man im Deutschen noch Verbpaare von einfachen Präfixverben und den davon abgeleiteten FVG hat, gibt es im Neupersischen fast ausschließlich komplexe Verben bzw. FVG. Die einfachen Verben kommen fast nur noch als Funktionsverben vor. Der Bestand der einfachen Verben wurde im Persischen in den vergangenen Jahrhunderten zunehmend reduziert, was auf einen sehr fortgeschrittenen Grammatikalisierungsprozess schließen lässt. Allerdings scheint im Fall des Persischen längst ein Fall von übergeneralisierender Verwendung von FVGn vorzuliegen. Damit müsste es konsequenterweise zu einer Entfunktionalisierung der Aspektopposition und damit zur Neuentstehung eines Artikels kommen. Im Sinne des oben charakterisierten Grammatikalisierungszyklus von nominaler und verbaler Definitheit müsste erneut eine Artikelopposition in rhematischer Position aufgebaut werden. Das ist bei näherer Betrachtung tatsächlich der Fall: Es gibt im Persischen zwei Postpositionen, bei denen diskutiert wird, ob es sich um Kasusformen oder um postponierte Artikel handelt: die Postposition -rā versus die Postposition -i. Die Postposition -rā markiert definite direkte Objekte, während die Postposition -i indefinite Objekte markiert. Nichtreferentielle Objekte erhalten eine Nullmarkierung (Rastorgueva (1953/1964: 21). 74 Um zu ermitteln, ob es sich um ein Funktionsnomen bzw. ein Funktionsverbkomplement handelt, wird für das Persische der -rā-Test empfohlen. Diese Postposition sollte nämlich nicht in FVGn erscheinen, da Funktionsnomen nicht referieren. Allerdings gibt es Ausnahmen von dieser Regel, auf die Ahadi (2001: 220-221) aufmerksam macht. Diese Ausnahmen müssten ebenfalls wie die nichtfunktionalen
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Lyons (1999) entscheidet sich gegen die Einordnung von -rā als postponierten Artikel und setzt stattdessen als die Kasusfunktion Akkusativ an. Majidi (1990: 90) ordnet -rā als Markierung für definite direkte Objekte, und -i als Indeterminiertheitssuffix ein (Majidi 1990: 305-311). Eigennamen müssen bei Verwendung als direktes Objekt ausnahmslos mit -rā markiert werden. Das weist darauf hin, dass die Kennzeichnung als direktes Objekt noch mit dem Definitheitsmerkmal untrennbar verbunden ist. Man könnte von der Synkretisierung der Funktionen des Akkusativs und der Definitheitskategorie sprechen.
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Elisabeth Leiss
Artikelvorkommen in deutschen FVGn untersucht werden. Interessant ist auch die Frage, warum das Altpersische den Artikel aufgegeben hat, während für das Altgriechische zum Neugriechischen der gegenteilige Prozess, nämlich der weitere Ausbau des Artikelsystems zu beobachten ist. Für die Beantwortung solcher komplexer Fragen, die die Entwicklung des Deutschen überschreiten, deren Beantwortung aber den Artikel-Aspekt-Zyklus auch und nicht nur des Deutschen besser erklären ließe, müsste erst die Kompetenz von Iranisten, Graezisten und Sprachtypologen in einem Forschungsteam zusammengefasst werden. Literatur Abraham, Werner (2007), The discourse-functional crystallization of the historically original demonstrative. In: Stark, Elisabeth, Elisabeth Leiss & Werner Abraham 2007, 241-256. Ahadi, Shahram (2001), Verbergänzungen und zusammengesetzte Verben im Persischen. Eine valenztheoretische Analyse. Wiesbaden: Reichert. Bücker, Tanja (2007), Ethnolektale Varietäten des Deutschen im Sprachgebrauch Jugendlicher (Studentische Arbeitspapiere zu Sprache und Interaktion; 9). http://noam.unimuenster.de/SASI/Tanja_Buecker_SASI.pdf, aufgerufen am 19.8.2009. Dam-Jensen, Helle (2008), Determination, nominalisation and conceptual processing. In: Müller, Henrik Høeg & Alex Klinge (eds.), Essays on nominal determination. Amsterdam & Philadelphia: Benjamins (Studies in Language Companion Series 99), 287-308. Füglein, Rosi (2000), Kanak Sprak. Eine ethnolinguistische Untersuchung eines Sprachphänomens im Deutschen. Diplomarbeit im Studiengang Germanistik an der Universität Bamberg (Betreuung: Elisabeth Leiss). Gelderen, Elly van (2007), The definiteness cycle in Germanic. Journal of Germanic Linguistics 19: 275-308. Heim, Irene (1988), The semantics of definite and indefinite noun phrases. New York & London: Garland. Heusler, Andreas (1950), Altisländisches Elementarbuch. 4. Aufl. Heidelberg: Winter. Kappacher, Walter (2009), Der Fliegenpalast. Sankt Pölten & Salzburg: Residenz Verlag. Kolde, Gottfried (1996), Nominaldetermination. Eine systematische und kommentierte Bibliographie unter besonderer Berücksichtigung des Deutschen, Englischen und Französischen. Tübingen: Niemeyer. Leiss, Elisabeth (1992), Die Verbalkategorien des Deutschen. Ein Beitrag zur Theorie der sprachlichen Kategorisierung. Berlin & New York: de Gruyter (Studia Linguistica Germanica 31). Leiss, Elisabeth (2000), Artikel und Aspekt. Die grammatischen Muster von Definitheit. Berlin & New York: de Gruyter (Studia Linguistica Germanica 55). Leiss, Elisabeth (2007), Covert patterns of definiteness/indefiniteness and aspectuality in Old Icelandic, Gothic, and Old High German. In: Stark, Elisabeth, Elisabeth Leiss & Werner Abraham 2007, 73-102. Leiss, Elisabeth (2009), Sprachphilosophie. Berlin & New York: de Gruyter.
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Martina Werner Substantivierter Infinitiv statt Derivation. Ein ‚echter‘ Genuswechsel und ein Wechsel der Kodierungstechnik innerhalb der deutschen Verbalabstraktbildung Abstract
A gender change is taking place in German in the domain of action nouns: the derivatives suffixed with -ung are receding in front of the development of the nominalized infinitive. While previous investigations mainly focused on the role of -ung derivatives, the present chapter aims at clarifying how far the nominalized infinitive is capable of taking over the function of encoding abstract nouns. This will be implemented by making reference to gender, understood as a dimension of quantification. In the domain of deverbal nominalizations, the masculine represents countable nouns (der Lauf ‘the run’), the feminine collective or abstract nouns (die Lauferei, but *die Laufung), and the neuter uncountable mass nouns (das Laufen). The preference of the (neuter) nominalized infinitive over the feminine -ung derivatives for encoding action nouns implies an enhancement of the quantificational power of the neuter gender. On the basis of mereology, the chapter investigates how and when the infinitive started with playing this function and what the relation is between gender and abstract meaning.
1. Genus als Dimension der Quantifikation Wie jüngere und jüngste Forschungen beweisen, 75 ist die Unterscheidung von zählbaren und nicht-zählbaren Substantiven in den germanischen Sprachen funktional in der Kategorie Genus abgebildet (vgl. etwa Bittner 2002, Froschauer 2003, Leiss 1997, Siemund 2008, Weber 2001). 76 Im Deutschen ist das Genus eine teilmotivierte Kategorie, dessen Funktionalität im Nhd. von der Suffigierung, 77 dem substantivierten Infinitiv sowie der Pseudokomposition getragen wird (Leiss 2005). Alle übrigen Substantive besitzen inhärentes Genus, d.h. ihr Genuseintrag ist nicht paradigmatisch und damit unmotiviert. Zählbare Substantive (sog. Individuativa, wie etwa dt. der Schrei) stellt vor diesem Hintergrund das Maskulinum bereit. Das Neutrum hingegen liefert nicht-zählbare Massennomina (wie etwa dt.
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Der vorliegende Beitrag beruht auf Ergebnissen meiner Dissertation, vgl. Werner (im Ersch.) für weitere Ausführungen. Dasselbe gilt für vorgermanische Zeit, vgl. etwa Balles (2004) zum Indogermanischen. Der Terminus Suffigierung wird in diesem Beitrag als wortbildender Prozess verstanden und ist daher nicht gleichzusetzen mit dem Terminus Flexion.
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das Schreien). Nur zählbare Substantive können bekanntlich pluralisiert werden (der Schrei – die Schreie), nicht aber Massennomina (das Schreien – *die Schreien). 78 Das Phänomen der Opposition zwischen Zählbarkeit und Nicht-Zählbarkeit wird in der Literatur auch als nominaler Aspekt bezeichnet (vgl. z. B. Rijkhoff 1992). In der Genussystematik befindet sich das Femininum zwischen den beiden Polen dieser Konzeptualisierung. Unter Ausschluss des natürlichen Geschlechts (sog. Sexus), das davon funktional zu trennen ist und daher nicht weiterverfolgt werden soll, dient das Femininum der Bereitstellung von Kollektiva (wie etwa Burschenschaft) und Kollektivabstrakta (wie etwa die Schreierei ‚einzelne Schreie zusammengenommen‘; Schönheit ‚alle Vorkommnisse von schön zusammengenommen‘). Abbildung 1 fasst die Unterschiede zwischen den einzelnen Genera grafisch zusammen.
Maskulinum (Individuativum) Bsp.: der Schrei
Neutrum (Kontinuativum) das Schreien
Femininum (Kollektivum/Abstraktum) die Schreierei
Abbildung 1: Die quantifizierende Leistung des Genus
Formal gesehen muss das Femininum dem Konzept der Zählbarkeit zugeordnet werden, da die von ihm kodierten Bildungen prinzipiell pluralisierbar sind (die Schreierei – die Schreiereien). Semantisch betrachtet verhält es sich jedoch bei der Pluralisierung wie ein Massennomen. Werden Massennomina (wie etwa das Stoffnomen Mehl) in den Plural gesetzt, kommt es zur Lesart des Sortenplurals (wie etwa Mehle ‚Sorten von Mehl‘). Dies ist auch beim Femininum der Fall (wie etwa Schönheiten ‚Arten, Vorkommnisse von Schönheit‘). Zu beachten ist, dass nicht jedes beliebige abgeleitete Substantiv des Deutschen der gerade skizzierten Systematik gerecht werden kann, da im Einzelfall eine Lexikalisierung vorliegen kann. Um lexikalisierte von nicht-lexikalisierten Bildungen zu unterscheiden, muss zum
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In der Terminologie substantivierter Infinitiv sowie Nullderivation anstelle von Konversion folge ich Vogel (1996).
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einen die Produktivität des entsprechenden Suffixes 79 diachron geklärt werden. Zum anderen müssen die mit demselben Suffix produktiv gebildeten Substantive dieselbe grammatische (nicht lexikalische) Semantik zum Ausdruck bringen. Der Anteil an Lexikalisierungen bei abgeleiteten Substantiven darf nicht unterschätzt werden. Um der Gefahr zu entgehen, ein bereits lexikalisiertes Substantiv anstelle eines produktiv gebildeten, vollmotivierten Substantivs als Beispiel anzuführen, ist es besser, das Bildungsmuster eines Suffixes sowie dessen Semantik insgesamt zu betrachten. Bezogen auf die -ung-Derivation könnte also beispielsweise ein Wort wie nhd. Wohnung als Nomen loci ausgeschlossen und damit als lexikalisiert klassifiziert werden, da es inkompatibel mit dem durch das Femininum vorgegebenen Konzept der Abstraktheit/Kollektivität ist. Das bedeutet jedoch nicht, dass es stets mit diesem Konzept inkompatibel war (so bedeutete Wohnung einst ‚Tätigkeit/Art und Weise des Wohnens‘, vgl. Kluge 2002). Warum fallen Kollektiva und Abstrakta im Deutschen in einer Genusklasse zusammen? Kollektiva fassen in Zeit und Raum verortbare und zueinander auf eine bestimmte Art ähnliche Entitäten zusammen (Corbett 2000: 121, Mihatsch 2000) wie etwa bei Schafherde (vgl. dagegen ?Tierherde). Abstrakta fassen dagegen Vorkommnisse zusammen, die zueinander ähnlich auf eine bestimmte Art sind, aber in keinem räumlich-zeitlichen Zusammenhang stehen müssen (vgl. Abschnitt 2). Abstrakta können durch Einbettung in einen Situationskontext konkretisiert werden. Grammatische ‚Kontexte‘ sind z.B. die syntaktischen Leerstellen in einem Satz. Vor diesem Hintergrund wird auch ersichtlich, warum Abstrakta im Verlauf der Sprachgeschichte dazu tendieren, entsprechend ihrer frequentesten syntaktischen Verwendung zu lexikalisieren, etwa als Nomina instrumenti (> Instrumentaladverbiale, wie etwa nhd. Decke ‚x, mit dem man deckt‘), Nomina loci (> Lokaladverbiale, wie etwa Ausfahrt ‚x, wo man ausfährt‘) oder als Konkretum im Sinne eines Resultats oder eines Zustands eines Vorgangs (> Temporaladverbiale, Subjekt; Objekt; wie etwa Blüte ‚x, das blüht‘). Das Femininum ist im Deutschen jedoch nicht das einzige Genus zur Kodierung von Kollektiva. Innerhalb der Kontinuativität des Neutrums ist die neutrale Kollektivität eingebettet, die mit der Kontinuativität
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Die Unterscheidung zwischen nativen und nicht-nativen Suffixen ist für den vorliegenden Beitrag nicht relevant, da native Suffixe nicht-native Suffixe ersetzen können, aber nicht umgekehrt (wie etwa in Imaginierung statt Imagination, Grammatikalisierung statt Grammatikalisation). Umgekehrt können nicht-native Suffixe durch Aufgabe der Selektionsrestriktion, ausschließlich nicht-native Stämme abzuleiten, den Status eines nativen Suffixes annehmen, wie dies bei -erei (aus frz. -erie) beispielsweise der Fall ist (vgl. Husterei, Lacherei, Schreierei, usw.). An dem Vorgang einer Grammatikalisierung nehmen all diejenigen Suffixe teil, die entweder bereits nativ sind oder aber im Laufe der Sprachgeschichte den Status eines nativen Suffixes annehmen.
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das primäre Merkmal der Nicht-Zählbarkeit bzw. Nicht-Pluralisierbarkeit teilt. Feminine und neutrale Kollektiva lassen sich ihrerseits unterscheiden: Die neutrale Kollektivität unterscheidet sich von der femininen durch die Gewichtung der Merkmale [+zählbar] bzw. [–zählbar]. Die neutrale Kollektivität priorisiert das Merkmal [–zählbar], während die feminine Kollektivität das Merkmal [+zählbar] dominant setzt. Abbildung 2 gibt die Unterschiede der Konzeptualisierungen zwischen femininem und neutralem Genus grafisch wieder.
Kollektivität des Femininums Bsp.: die Lauferei
Kollektivität des Neutrums das Gelaufe
Abbildung 2: Feminines Kollektivum versus neutrales Kollektivum
Neutrale Kollektiva sind im Gegensatz zu den femininen Kollektiva nicht pluralisierbar. Als Gegeneinwand könnte man Bildungen wie nhd. Gebirge anführen, die ohne weiteres pluralisierbar sind. Dagegen kann man einwenden, dass Bildungen solcher Art lexikalisiert sind. Dies kann man bereits daran erkennen, da neutrale Zirkumfigierungen im Nhd. stets deverbal, nicht aber desubstantivisch sind (Ge-lach-e, Ge-lauf-e, Ge-hust-e, aber *Ge-tisch-e, *Ge-büch-e, *Ge-wald-e). Die deverbalen Zirkumfigierungen des Nhd. zeigen noch das traditionell nicht-pluralisierbare Verhalten des Neutrums. Dasselbe gilt beispielsweise auch für die neutralen Bildungen des Suffixes -tum, das im Nhd. noch zur Ableitung von Personenbezeichnungen produktiv ist: Okkasionell gebildete -tum-Derivationen sind nicht pluralisierbar (Studententum – *Studententümer, Professorentum – *Professorentümer, Ärztetum – *Ärztetümer). Lexikalisierte Bildungen des Suffixes -tum sind dagegen ohne Weiteres pluralisierbar (Herzogtum – Herzogtümer). Der von diesen Bildungen selegierte -er-Plural ist in dieser Form darüber hinaus eine Erscheinung des Fnhd. Zu dieser Zeit nämlich begann etwa der -er-Plural seine Produktivität stark auszuweiten (Ebert et al. 1993: 185), und zwar ausschließlich auf Substantive mit inhärentem und damit lexikalisiertem, nicht aber durch Suffixe kodiertem Genus. Um zu verstehen, inwieweit der neutrale substantivierte Infinitiv die Aufgabe der femininen -ung-Derivation, dem Sprachsystem Tätigkeits-
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abstrakta bereitzustellen, nachkommen kann, ist es zunächst einmal nötig, den Terminus ‚Abstraktum‘ unter dem Aspekt der nominalen, vom Genus erbrachten, Quantifikation zu erhellen. Bisherige Untersuchungen kommen dem nicht nach, obgleich deutliche Affinitäten zu bestimmten Genera bereits lange bekannt sind. Danach soll die diachrone Seite hinsichtlich der Wortbildung betrachtet werden. Gibt es im Deutschen ein bevorzugtes morphologisches Muster für die Kodierung von Verbalabstrakta? Diese Frage soll zunächst für die Derivation, insbesondere die femininen Verbalabstrakta (Abschnitt 3), anschließend für den substantivierten Infinitiv (Abschnitt 4) erbracht werden. Damit der substantivierte Infinitiv tatsächlich die Aufgabe der -ung-Nominalisierung zur Abstraktbildung erbringen kann, muss er – so die zu verfolgende Hypothese – mit dem Femininum gemeinsame Eigenschaften der nominalen Quantifikation bereitstellen. Welcher Zusammenhang zwischen Genus, Quantifikation und Abstraktheit besteht und welche Erkenntnisse daraus für die Morphologie des Deutschen gewonnen werden können, widmet sich der nächste Abschnitt. 80 2. Genus, Quantifikation und Abstraktheit Hinsichtlich der Frage, welches der drei Genera am „besten“ abstrahiert, scheint sich in der Literatur eine gewisse Tendenz zugunsten des Genus femininum bemerkbar zu machen. Es gilt als das typische, Abstrakta und Kollektiva erzeugende Genus (vgl. z. B. Mikkola 1964, Seiler 1986, Weber 2001). In sehr enger, funktionaler Verwandtschaft wird auch das Neutrum genannt (vgl. z. B. Le Bourdelles 1996). Einig sind sich die Autoren darin, dass zwischen Abstraktheit und Kollektivität eine enge Bindung besteht (vgl. zuerst hierzu Brugmann 1897). Lassen sich diese Beobachtungen unter dem Aspekt der nominalen Quantifikation erklären und wenn ja, wie? Das Konzept der Kollektivität beruht, vgl. Abschnitt 1, in Genussprachen wie dem Deutschen auf der Kombination der Merkmale [+zählbar] und [–zählbar]. Dasselbe muss für die Abstrakta gelten, wenn beide in einer Genusklasse zusammenfallen. Das nominale Merkmal [+zählbar] entspricht für die Wortart Verb dem Merkmal [+perfektiv], das nominale Merkmal [–zählbar] dem verbalen Merkmal [+imperfektiv]. Die Kombination der Merkmale [+perfektiv] und [+imperfektiv] wird in der Aspektologie traditionell als Iterativität bezeichnet (vgl. Dressler 1968). Nominale Kollektiva und Abstrakta sind hinsichtlich ihrer Quantifikationsleistung
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Ich danke Elisabeth Leiss und Sonja Zeman für hilfreiche Kommentare.
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also iterativ. Auch der distributive Plural (wie etwa Haus – Häuser) ist iterativ, agiert jedoch im Paradigma des Numerus, während die Kollektivität im Paradigma des Genus (Femininum bzw. Neutrum) mit jeweils unterschiedlicher Merkmalsgewichtung operiert. Für Husserl, der in der philosophischen Erforschung von abstrakten Substantiven Grundlegendes geleistet hat, waren Abstrakta „Ideen“. Ein Abstraktum umfasst alle potentiell möglichen Bewusstseinsinhalte. Die Abstraktion, also die Bildung von Abstrakta, ist nach Husserl (1922/ 41928: 219) ein Akt, […] durch welchen ein abstrakter Inhalt ‚unterschieden‘, d.h. durch den er zwar nicht losgetrennt, aber doch zum eigenen Objekt eines auf ihn gerichteten anschaulichen Vorstellens wird. Er erscheint in und mit dem betreffenden Konkretum, von dem er abstrahiert ist, aber er ist speziell gemeint und dabei doch nicht bloss gemeint (wie in einem ‚indirekten‘, bloss symbolischen Vorstellen), sondern als das, als was er gemeint ist, auch anschaulich gegeben.
Von einem bestimmten Gegenstand oder Sachverhalt kann ein bestimmtes Merkmal herausgegriffen werden. Dieses Merkmal muss nicht inhärent ontologisch gegeben sein, es genügt, dass es als Solches wahrgenommen wird. Eine Abstraktion liegt dann vor, wenn diese einzelnen Wahrnehmungsmomente (Token) zum Type zusammengefasst werden. Der Abstraktionsprozess meint jedoch nicht nur das „bevorzugte Beachten eines Inhalts“ im positiven Akt. Damit überhaupt etwas hervorgehoben werden kann, müssen auch (Perzept-)Token diskriminiert werden. Hier liegt ein negativer Akt vor, es findet ein Selektionsprozess statt („Absehen von gleichzeitig mitgegebenen Inhalten“, vgl. Husserl 1922/41928: 221). Es wird abstrahiert (> lat. abstrahere ‚wegziehen, fortschleppen, trennen‘). In einer Bildung wie etwa dt. Lauferei wird stets eine bestimmte Qualität aus der Verbalhandlung exzerpiert. Die Paraphrase ist daher nicht nur anzusetzen mit ‚Tätigkeit des Laufens‘, sondern auch mit ‚Art und Weise zu laufen‘. Ein Kollektivum ist relational dank ‚absoluter‘ Substantive, die wie Verben eine Argumentstelle eröffnen (*eine Herde, aber eine Herde Schafe), bzw. relational bzgl. des von ihnen zusammengefassten Inhalts. Kollekti va fassen Teile zusammen und können gleichzeitig ohne die Teile nicht existieren. Abstrakta sind ebenfalls relational, im Gegensatz zu den Kollektiva öffnen sie jedoch nicht nur eine, sondern (unendlich) viele Argumentstellen. Sie treffen eine Aussage über die Welt, sie sind also prädikativ. Abstrakta sind sogar maximal prädikativ, da sie – unter syntaktischem Aspekt betrachtet – prinzipiell alle Argumentstellen besetzen können (Iturrioz Leza 1982: 51ff.). Im Gegensatz zu einem finiten Verb jedoch kann einem Abstraktum kein Wahrheitswert zugeordnet werden. Alle Informationen, die zunächst durch das finite Verb und seine Argumente kodiert werden, werden durch die Nominalisierung neutralisiert. Das
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Abstraktum unterscheidet sich vom Kollektivum darin, dass diese Ähnlichkeitsbeziehung nur vermutet, aber nicht bewiesen werden kann. Die Elemente, die zusammengefasst werden, besitzen auf irgendeine generelle Art eine Ähnlichkeitsbeziehung zueinander (Husserl 1922/41928: 223f.). Die Zusammenfassung ihrer ‚Teile‘ entzieht sich jedoch – entgegen den Kollektiva – einer realen Fixierung in Zeit und Raum. Sie besitzen damit – wie man es nennen könnte – „ideelle“ Kohäsion. Abbildung 3 visualisiert den Unterschied zwischen Kollektivum und Abstraktum am Beispiel des Genus femininum. g a f o c d m h x t r j u y q Kollektivum
Abstraktum
Abbildung 3: Kollektivum vs. Abstraktum am Beispiel des Genus femininum
Während Kollektiva etwas zusammenfassen, das räumlich zusammensteht (Kriterium: spatio-temporale Kohäsion), fassen Abstrakta Inhalte (welcher Natur auch immer) zusammen, die weder räumlich, noch zeitlich, sondern allein ideell fassbar sind. Ein Abstraktum ist also eine Qualitätsexzerption zugunsten eines Type, der unendlich viele Token haben kann. Es entzieht sich der ontologischen Beweisbarkeit, da es nur potentiell faktisch, nicht zwingend faktisch ist. Propositional ist das Abstraktum in der Hinsicht, dass die Faktizität(sbeziehung) der Vereinigungsqualität und damit des Abstraktums nur vermutet, aber nie bewiesen werden kann. Das Abstraktum wird deswegen vom Hörer verstanden, weil der kompetente Hörer kognitiv über das geeignete Dekodierungsinstrument verfügt, um das Abstraktum als solches zu erkennen. Ein Abstraktum wie Schönheit bedeutet auch immer ‚Schönheit von etwas‘ (Boom 1982: 38). Abstrakta beziehen sich immer auf etwas und sind daher unselbständig. Nur selbständige Inhalte können getrennt vorgestellt werden, nicht aber unselbständige: ‚Abstrakte‘ Inhalte sind unselbständige Inhalte, ‚konkrete‘ Inhalte sind selbständige. Wir denken uns diesen Unterschied objektiv bestimmt; etwa so, dass die konkreten Inhalte ihrer eigenen Natur nach an und für sich sein können, während die abstrakten nur in oder an konkreten Inhalten möglich sind. […] Der phänomenale äußere Gegenstand […] ist als Ganzes konkret; die ihm innewoh-
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nenden Bestimmtheiten, wie Farbe, Form, usw., und zwar als konstitutive Momente verstanden, sind abstrakt. (Husserl 1922/41928: 218)
Abstrahieren bedeutet immer das Selegieren von Inhalten unter einem gemeinsamen Aspekt zugunsten des Aufbaus einer generellen Qualität. Während das Schöne ausschließlich referenziell ist, ist Schönheit inhärent prädikativ, was sich an einem Beispielsatz wie in (1) illustrieren lässt: (1) Hans hat (etwas) Schönes/*Schönheit gekauft. Das neutrale, substantivierte Adjektiv ist durch sich selbst verständlich, während das Femininum aufgrund seiner völligen Nicht-Bezogenheit-aufetwas unverständlich ist. Das neutrale, substantivierte Adjektiv kann daher als ‚Abstraktivum‘ (Terminus nach Vogel 1996) bezeichnet werden: Alle Kategorien vermitteln keinen Satzinhalt, der Bäcker korreliert nicht mit der Tatsache, ‚daß etwas gebacken wird‘, das Schöne nicht mit der Tatsache, ‚daß etwas schön ist‘. Diese Funktion wird von Schönheit wahrgenommen, es ist immer Schönheit-von-etwas. Das Schöne dagegen ist nicht schön-sein-von-etwas, sondern es ist selbst etwas Schönes. Schönheit wird deshalb als unselbständiger, das Schöne als selbständiger Gegenstand bezeichnet. (Vogel 1996: 135)
Abstrakta können nicht wie einfache, zählbare Individuativa pluralisiert werden (vgl. Schönheit – Schönheiten), da die Lesart des Sortenplurals zum Tragen kommt. Abstrakta sind damit den Massennomina ähnlich (wie Sand – Sände). Wird speziell ein Tätigkeitsabstraktum pluralisiert, wird eine Vielheit von Ereignissen impliziert, da Ereignisse zeitkonstituiert sind. Zur selben Zeit bzw. Gelegenheit können mehrere Ereignisse stattfinden, aber nicht umgekehrt. Ein Abstraktum im Plural spiegelt die Pluralität verschiedener Argumentstellen wider. Darin liegt der Unterschied von den Tätigkeitsabstrakta zu den Massennomina (Iturrioz Leza 1982: 54). Man vergleiche Beispiele (2)–(4) (aus Iturrioz Leza 1982: 54ff.): (2) Wir hatten jetzt einige Anschaffungen. (3) Das Buch beschreibt 8 Vermisstenschicksale von Regimekritikern. (4) In diesem Spiel hatte die deutsche Mannschaft 5 Hinausstellungen. Im Gegensatz zu Massennomina richtet sich ein Abstraktum auf die (möglichen) Argumente bei der Pluralisierung aus. Die Reduktionsfähigkeit von Abstrakta ist ein grundlegendes Charakteristikum. Die inhärente Generizität des Abstraktums wird durch die Pluralisierung aufgehoben. Ein Abstraktum kann nur dann generisch sein, wenn es einmal und in einer Form vorhanden ist. Die Pluralisierung der Abstrakta erlaubt Instan-
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zierungen innerhalb der ansonsten fehlenden Zeitkonstitution des Abstraktums. Das Femininum ist aufgrund seiner Eigenschaft, [+zählbar] zu sein, monosemierbar auf einen Situationskontext, der spatio-temporale Abgeschlossenheit voraussetzt, es ist also reduzierbar. Dies leistet das Neutrum nicht im selben Umfang vgl. (5) und (6): (5) Gab es eine Schlägerei?/* ein Geschlage?/?ein Schlagen ? (6) Als die Polizei eintraf, kam es zu einer Schießerei/?einem Geschieße/ ?einem Schießen. Wie an (5) und (6) sichtbar, kippt die an sich imperfektive Semantik des substantivierten Infinitivs um in iterative Semantik. Damit kann der kontextuell evozierte Verstoß gegen eine grammatische Präsupposition sekundär gelöst werden. Das Kontinuativum, die primäre Lesart des Neutrums, kann die Nebenlesart der Iterativität offenbar sekundär, unter bestimmten Kontextualisierungen entwickeln. Um als ‚echtes‘ Abstraktum im Deutschen zu fungieren, muss der substantivierte Infinitiv anstelle der kontinuativen Semantik sekundäre Iterativität zulassen, damit er einerseits potentielle Argumentstellen inhärieren kann und andererseits reduziert werden kann. Wie an (6) sichtbar, kann er bereits in gewissem Umfang Iterativität realisieren, jedoch existieren offenbar noch Restriktionen, die einer uneingeschränkten Reduzierbarkeit noch im Wege stehen (Iturrioz Leza 1982: 62ff.). Die Entwicklung einer sekundären, iterativen Semantik sollte sich – so die Überlegung, die in Abschnitt 4 verfolgt werden soll – auch sprachhistorisch nachweisen lassen, damit die Annahme aufrecht erhalten werden kann, dass der substantivierte Infinitiv im Nhd. der Kodierung von Verbalabstrakta dient. Es bleibt nun noch das Maskulinum als letztes Genus übrig für die Kodierung von Abstraktheit. Produktiv sind im Nhd. im Bereich der Derivation die Nullsuffigierungen (wie der Dreh, der Hau, der Schlag) sowie die Suffigierungen (wie der Ausrutscher, der Knaller, der Lacher). Maskulina exzerpieren aus den bereitgestellten Token zwar auch einen Type, aber dieser Type hat die Qualität eines Token. Strenggenomen wäre daher folgender Satz nicht verständlich, wenn man ihn generisch auffassen wollte: Er beschäftigt sich mit Betrug. Gemeint ist: ‚Er beschäftigt sich (generell) mit der Betrügerei‘ (nicht mit einem bestimmten Einzelfall von Betrug). Damit der Satz generisch verständlich wird, wird ein metonymisches Verhältnis erzeugt. Maskuline Nomina actionis dieser Art sind also Einzelvorkommen (Instanzen) eines bestimmten Sachverhalts. Sie sind Individuativa und als solche charakteristische Repräsentanten eines Teils. Maskuline Substantive wie Lauf, Wurf und Ausrutscher stellen nicht die Frage nach
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Subarten ihrer selbst. Sie sind in sich nicht reduzierbar auf einzelne Argumentstellen. Sie stehen für sich selbst und stellen die Situation nicht in ihrer Gesamtheit dar. Sie sind auch relational, aber umfassen stets nur einen einzigen Ausschnitt aus der Situation. Das ist bei den femininen Abstrakta anders. Feminine Abstrakta sind gepackte Syntax – das schließt neben der Prädikation eine Neutralisation syntaktischer Rollen mit ein. Diese geben inhärierte Pluralität wieder. Nach der hier zugrunde gelegten Definition fallen damit suffigierte Maskulina nicht unter die unbegrenzte Unendlichkeit erzeugenden Abstrakta. Einen Sonderfall stellen im speziellen die Personenbezeichnungen (sog. Nomina agentis) und Instrumentbezeichnungen (sog. Nomina instrumenti) dar (wie Jäger, Schüler; Bohrer), die sehr wohl prädizieren (Paraphrase: ‚x, das jagt/an der Schule ist/bohrt‘). Aufgrund ihrer Eigenschaft, nicht auf beliebige Argumentstellen reduziert werden zu können bzw. diese zu inhärieren, ist ihre Möglichkeit allerdings zur Abstraktion nicht gegeben. Die von ihnen getroffene „Aussage“ hat daher stets punktuellen Bezug. Im Gegensatz zu den ‚echten‘ Abstrakta steht beim Maskulinum die Abgeschlossenheit des Vorgangs im Vordergrund (einziges Kriterium: [+zählbar]). Die Abgeschlossenheit ist absolut. Maskuline Bildungen sind daher stets inhärent „konkreter“ als feminine (vgl. bereits Grimm 1831/1890: 478 sowie 530). Da der substantivierte Infinitiv gegenwärtig die femininen -ung-Suffigierungen verdrängt, um dem Sprachsystem Tätigkeitsabstrakta bereitzustellen, muss es zwischen Femininum und Neutrum Überschneidungsbereiche quantifikativer Natur geben. Der Überschneidungsbereich innerhalb der Quantifikation ist, wie in diesem Abschnitt gezeigt wurde, die Iterativität, die im substantivischen Bereich eine Merkmalskombination aus [+zählbar] und [–zählbar] darstellt. Während das Femininum das Merkmal [+zählbar] dominant setzt, setzt das Neutrum das Merkmal [-zählbar] dominant. Vor dem Hintergrund nominaler Quantifikation kann das Maskulinum als Konkurrent zu (femininen) Abstrakta ausgeschlossen werden. Um zu verstehen, warum das Neutrum im Bereich der Tätigkeitsabstrakta dem Femininum Konkurrenz macht, und warum dies einem Wechsel der Kodierungstechnik gleichkommt, lohnt im Folgenden ein Blick in die Diachronie der Derivation. 3. Diachronie der derivierten Verbalabstrakta Im Nhd. hat sich innerhalb der femininen Substantivderivation ein zunehmend motiviertes System herausgebildet: So werden Adjektive und Partizipia II durch das Suffix -heit abgeleitet, während (pseudo-)suffigierte
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Adjektive 81 durch das Suffix -keit abgeleitet werden (Oberle 1990). Die Partizipien werden seit ihrer Entstehung wie Adjektivsimplizia behandelt und folglich im Nhd. mit demselben Suffix, nämlich mit dem Suffix -heit, abgeleitet. Erste, spärliche Belege finden sich im Ahd. (wie etwa trunkenheit, fermezzenheit), häufige Belege finden sich im Mhd. wie etwa verdrozzenheit, verworrenheit, un-gezogenheit (Wilmanns 1896: 388). Das Suffix -keit ist entstanden aus der Verschmelzung von -heit und dem Adjektivsuffix -ig (mhd. -ec), woraus sich -ec-heit –> -(e)keit ergab. Derselbe Verschmelzungsprozess wie bei -keit ist beim Suffix -igkeit geschehen, dessen Konstituenten -ig und -keit noch erkennbar sind. Teilweise lassen sich semantische Ausdifferenzierungen von Suffixmustern erkennen (wie Neuheit vs. Neuigkeit ‚Neue Nachricht‘ oder Kleinheit vs. Kleinigkeit ‚etwas Kleines‘), aus denen synchron eine Tendenz des Suffixes -igkeit zur Lexikalisierung herausgelesen werden kann. Noch im Fnhd. waren -heit, -keit und -igkeit hinsichtlich ihrer Distribution meist aufgrund von Interpretationsschwierigkeiten der Graphemik nicht immer eindeutig voneinander zu unterscheiden (Brendel et al. 1997: 337f.). Das Suffix -ung leitet bereits im Ahd. fast ausschließlich Verben ab, zunächst Simplizia (noch erhalten in Drehung), später präfigierte Verben (wie Bedrängung), schließlich Partikelverben (wie etwa Umleitung). Da gegenwärtig keine Simplizia, keine Präfixverben und nur noch eingeschränkt Partikelverben abgeleitet werden können, liegt die Annahme nahe, dass das Suffix – trotz seiner einst hohen Produktivität – allmählich unproduktiv wird (Demske 2000). Bildungen wie *Schlafung, *Chattung, *Herumgehung zur Bezeichnung eines Tätigkeitsabstraktums werden zunehmend bzw. sind bereits ersetzt durch den substantivierten Infinitiv: (das) Schlafen, Chatten, Herumgehen. Das Suffix -erei bildet pejorative Tätigkeitsabstrakta, weshalb sein Einsatz restringiert ist. 82 Da das Suffix -ung gegenwärtig schwindet und das Suffix -erei nicht der Aufgabe der Kodierung femininer Tätigkeitsabstrakta gerecht werden kann, kann man annehmen, dass sich gegenwärtig ein Wandel innerhalb der Kodierungstechniken vollzieht: Die Bereitstellung von femininen Tätigkeitsabstrakta wird abgebaut, während die femininen Eigenschaftsabstrakta (wie etwa Schönheit, Grünlichkeit,
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Der Terminus pseudosuffigiert bezieht sich in diesem Zusammenhang auf Lexeme, wie das Adjektiv lecker, das zwar etymologisch tatsächlich zu lecken gehört, aber hinsichtlich seiner Bildungsweise synchron opak ist. Solche Lexeme verhalten sich morphologisch stets wie morphologisch markierte Bildungen und selegieren entsprechende Suffixe. Es gibt wenige Ausnahmen zu dieser Regel wie z. B. locker -> Lockerheit, nicht aber *Lockerkeit. Die wenigen, noch erhaltenen Fälle dieser Art sind jedoch gegenwartssprachlich bereits im Untergang begriffen und werden von dem jüngeren Muster zunehmend verdrängt. Dasselbe gilt für das Suffix -e, vgl. Bildungen wie (die) Schalte/Lache/Schreibe. Das Suffix kann synchron keine Präfix- oder Partikelverben mehr ableiten, vgl.: Die *Zertrete/?Zertreterei/das Zertreten der Blume, die *Ausblase/?Ausblaserei/das Ausblasen von Kerzen.
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Weisheit) erhalten bleiben. Es findet sich kein substantivisches Suffix im Nhd., das produktiv sowohl Adjektive als auch Verben ableitet. Die Unterscheidung zwischen Eigenschaftsabstrakta (wie Schönheit) und Tätigkeitsabstrakta (wie Dreherei) wurde erst im Laufe der Sprachgeschichte etabliert. Das Schweizerdeutsche bildet noch den historischen Zustand ab: Eine Bildung wie schweizerdt. lämi muss im Standarddeutschen mit ‚Lähmung‘ und mit ‚Lahmheit, Gelähmtheit‘ wiedergegeben werden (Szadrowsky 1933). Die schweizerdeutsche Form ist diesbezüglich unterspezifiziert. Welche Bedeutung jeweils vorliegt, entscheidet der jeweilige Aktualisierungskontext. Innerhalb der einzelnen derivativen Kodierungsmöglichkeiten des Neutrums gibt es synchron einige formale Restriktionen: So ist die neutrale Zirkumfigierung nur zu Simplizia und Partikelverben möglich (wie in das (ewige) Herumgestehe, Angerufe, Herumgeklage), nicht jedoch zu Präfixverben (das *Verstehe, *Geverstehe, *Vergestehe) und Adjektiven (das *Gehässliche, *Gegehorsame, *Gedumme). Auch das Bildungsmuster der Suffigierung ist restringiert. Das Suffix -tum leitet gegenwärtig ausschließlich Personenbezeichnungen, also nicht alle Substantivarten ab. Das Suffixoid -wesen ist dem Suffix -tum semantisch wie formal annähernd synonym geworden. Ältere, mittlerweile als lexikalisiert einzustufende Abstraktionsbildungen wie Kreditwesen, Meldewesen, Schulwesen mit nicht-persönlicher substantivischer, verbaler oder adjektivischer Basis sind nicht mehr synchron nachzubilden (*Schrankwesen, *Lernwesen, *Schönwesen). Das Suffixoid -zeug ist nur sehr eingeschränkt produktiv und bildet gegenwärtig überwiegend Kollektiva (wie Schminkzeug, Bettzeug, Zahnputzzeug). Der Anteil lexikalisierter Bildungen ist hoch (wie etwa Fahrzeug), weshalb man vermuten kann, dass das Suffixoid, sofern keine Stützungsprozesse einsetzen, derzeit unproduktiv wird. Die Diskussion der Frage, welche Suffixe in der Diachronie die des Neutrums mittrugen, reduziert sich synchron auf die Frage nach der Entwicklung des Suffixes -tum, das im Ahd. als eigenständiges Lexem belegt war. Ein zunächst eigenständiges Lexem wird zum funktionalen Kopf eines Determinativkompositums, durch Desemantisierung und Reihenbildung zum Suffixoid und schließlich zum Suffix. Das Suffix -tum dient in ahd. Zeit noch der Bildung von Eigenschaftsabstrakta. Bereits in mhd. Zeit zeichnet sich jedoch bereits eine wahrnehmbare Abnahme der Produktivität des Suffixes ab: So zeigen sich im Mhd. im Vergleich zum Ahd. wenig produktiv gebildete Wörter mit eigenschafts- oder verbalabstrakter Bedeutung (Piltz 1951: 47ff.). Die mhd. Bildungen mit -tuom als Determinatum zeigen keine Hinweise von ‚eindeutig‘ verbalen Erstelementen, vgl. etwa mhd. klagetuom ‚Klage, Anklage‘, dessen Determinans dem Femininum klage ‚Ärger, Streit‘ zugeordnet werden kann. Es lässt sich erkennen,
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dass die Möglichkeiten zur Suffigierung bereits in mhd. Zeit sich einzuschränken beginnen, denn auch die Suffixe -nis und -sal werden zu dieser Zeit inproduktiv. Dazu passt die Annahme Kloockes (1974), wonach der substantivierte Infinitiv in mhd. Zeit stark zunimmt. Bislang wurde keine funktionale Erklärung der Produktivwerdung des substantivierten Infinitivs vorgelegt. Kloocke (1974) selbst nimmt einen Einfluss des Französischen für diesen Zeitraum an. Sprachwandelphänomene müssen jedoch zum einen aus sich selbst heraus erklärbar sein; zum zweiten ist durch einen solchen Erklärungsversuch die Frage nach der Genusselektion nicht hinreichend geklärt, da das Französische bekanntlich nur zwei, nicht wie das Deutsche drei Genera und vor allem kein Neutrum besitzt. Eine solche 1:1-Übertragung ist somit nicht möglich. Im Neufranzösischen ist die Substantivierung von Infinitiven nicht mehr produktiv (vgl. *le participer/ *le lire, etc.), im Nhd. dagegen schon. Lexikalisierungen (wie le rire, le sourire) sind im Französischen nur noch in Relikten erhalten. Offenbar fand in mhd. Zeit beim Neutrum eine Änderung der Kodierungsstrategie statt, was die deverbale Substantivbildung betrifft. Dieser Überlegung soll im folgenden Abschnitt genauer nachgegangen werden. 4. Die Etablierung des substantivierten Infinitivs Bezüglich der Produktivwerdung des substantivierten Infinitivs sind diachron zwei Formen zusammengefallen (zu Details vgl. Wilmanns 1896: 403ff.): das Gerundium sowie der eigentliche Infinitiv. In spätmhd. Zeit kam es durch Formzusammenfall von Nominativ und Akkusativ zum Synkretismus von Gerundium und Infinitiv. Der eigentliche Infinitiv entstand in vorahd. Zeit vermutlich aus dem Akkusativ eines mit -n-Suffix gebildeten Verbalabstraktums. Das Gerundium dagegen war ein mit einem j-Suffix erweiterter Stamm (ahd. -anne(s) aus germ. *-anias, *-ania). Der eigentliche Infinitiv unterliegt in (vor)ahd. Zeit deutlichen Selektionsrestriktionen (mangelnde Flexionsfähigkeit, keine nominale Satzgliedbindung, keine Kompatibilität mit Artikeln und Attributen). Das Gerundium verhält sich diesbezüglich nicht restringiert: So ist bis in mhd. Zeit die Kombination mit Pronomina und Attributen sowie die Setzung in den Dativ durchaus möglich (vgl. mhd. von ir schrîenne ich erschrac wörtl. ‚von ihrem Schreien erschrak ich‘). Im Ahd. kann der Infinitiv sehr selten im Nominativ oder Akkusativ auftreten, was man daran ersehen kann, dass er mit Pronomina oder Attributen auftritt (wie etwa bei Otfrid thaz wesan mīn; sīnes bluotes rinnan). Im Mhd. kann der Infinitiv zusätzlich mit dem indefiniten Artikel auftreten (wie in ein küssen und ein umbefâhen, ein lachen, ein loben, ein schelten). In einigen Fällen regierte der substantivierte Infinitiv Attribute
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entsprechend der ursprünglichen, verbalen Rektion (wie etwa mhd. durch mîden en wîp; durch behalten den lîp, Beispiele aus Koning 1933: 91). Diese Eigenschaft hat sich im Nhd. noch bei attributiven Präpositionalphrasen, die auf einstige Adverbialen zurückgehen, erhalten wie etwa x springt vom Zug ab –> das Abspringen vom Zug. Man kann diese Überlegung unter dem Aspekt der Bildung von Tätigkeitsabstrakta weiterführen: das Abspringen vom Zug –> das Abspringen. Der substantivierte Infinitiv kann damit im Nhd. potentielle Argumentstellen in sich aufnehmen. Argumentstellen verankern ein Abstraktum in der realen Welt. Durch die Inhärierung potenziell möglicher Argumentstellen kann der Infinitiv Iterativität entwickeln. Iterativität ist, wie in Abschnitt 2 herausgearbeitet wurde, im System der nominalen Quantifikation des Deutschen notwendig, damit von einem ‚echten‘ Abstraktum überhaupt gesprochen werden darf. Umgekehrt kann der Infinitiv gleichsam die Rolle einer Argumentstelle bekleiden, vgl. (7– 10): (7) Das Lesen des Buches machte viel Spaß. (Subjekt) (8) Hans hörte das Auflachen des Kindes. (Akkusativobjekt) (9) Beim Baden stach ihn eine Biene. (lokale/temporale Adverbiale) (10) Durch das Lesen des Buches bestand Hans die Prüfung. (modale/kausale Adverbiale) Streng genommen handelt es sich beim Aufbau der Iterativität um den Verstoß gegen eine grammatische Präsupposition, da substantivierte Infinitive als Neutra per se kontinuativ sind. Die ersten Substantivierungen verbaler Infinitive trugen noch ausnahmslos diese ursprüngliche Semantik. Auch die heutigen Infinitive besitzen diese Eigenschaft, doch können sie sekundär iterative Semantik erhalten. Möglicherweise haben bereits in mhd. Zeit die Pronomina diese sekundäre Iterativierung befördert, da sich streng genommen ein imperfektiver Infinitiv nicht mit einem ‚zählbar machenden‘ Possessivpronomen kombinieren dürfte. Gleiches gilt für die Kombination von Artikel und Infinitiv. Die Entwicklung einer sekundär iterativen Semantik des substantivierten Infinitivs dürfte durch den Zusammenfall mit dem Gerundium in spätmhd. Zeit gestärkt worden sein. Kloocke (1974) liefert zahlreiche Beispiele aus dem Mhd., die Theorie einer sekundären Iterativierung stützen, so etwa aus dem Nibelungenlied [4, 208] wie in (11) oder aus dem Iwein [1020f.] wie in (12) (aus Kloocke 1974: 35f.):
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(11) dô wart ein michel dringen und grôzer swerte klanc da wurde ein großes Drängen-INF. und großer Schwerter Klang ‚dann entstand eine gewaltige Drängelei und einen großen (lauten) Klang von Schwertern‘ (12) hie huop sich ein strîten hier erhob sich ein Kämpfen-INF. ‚nun erhob sich ein Kämpfen‘ An beiden Beispielen (11) und (12) kann man ersehen, dass die Infinitive in zeitinstabile Situationstypen eingegliedert werden, was hinsichtlich der kontinuativen Grundsemantik des substantivierten Infinitivs streng genommen ein Verstoß gegen eine grammatische Präsupposition darstellt. Marker für die Signalisierung der Zeitinstabilität sind: in Beispiel (11) der Einsatz von dô ‚dann‘, was eine Abfolge im Geschehen vordergrundierter Handlungen anzeigt, sowie die Koordinierung des Infinitivs mit einem einen Einzelvorgang bezeichnenden, maskulinen Nomen actionis (klanc). In Beispiel (12) liegt der Einsatz von hie in temporaler Verwendung (‚nun‘) in Kombination mit der Verbalform huop vor, was Inchoativität anzeigt. Aus den bei Kloocke (1974) angeführten Belegen fällt des Weiteren auf, dass vor allem zunächst Simplex-Verben substantiviert werden. Die Präfix- und Partikelverben kommen später dazu, was zu der gerade getroffenen Beobachtung passt, dass die ersten substantivierten Infinitive semantisch reine Kontinuativa waren. Präfigierte Verben und auch Partikelverben sind per se inhomogen hinsichtlich ihres Verlaufs. Die Restriktion zur Substantivierung hinsichtlich des Handlungsverlaufs inhomogener Verben musste also ebenfalls, aber chronologisch gesehen nach der Substantivierung der verbalen Simplizia, beseitigt werden. Im Nhd. sind sie problemlos substantivierbar (wie das Zerschlagen, das Entkommen, das Einbrechen, das Auslaufen). Auch hier kommt Iterativität zustande. Durch die Etablierung dieses semantischen Konzeptes wird auch verständlich, warum gegenwärtig -ung-Nominalisierungen schwinden: Zur Bereitstellung von Tätigkeitsabstrakta eignet sich der substantivierte Infinitiv mittlerweile ohne Weiteres, obgleich synchron (noch) einige Restriktionen vorliegen. So steht die -ung-Nominalisierung bevorzugt noch in modalen Kontexten. Das Muster scheint gegenwärtig besonders bei Simplizia, die seit fnhd. Zeit keine -ung-Nominalisierung mehr bilden können, im Umbruch zu sein, vgl. (13): (13) Er bebte vor Lachen/*Lacherei.
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Offenbar vermeiden substantivierte Infinitive derzeit in gewissem Umfang auch die Bildung aus reflexiven Verben, vgl. folgende Beispiele (14–15): (14) Aus *Verzweifeln/Verzweiflung ging er ins Kloster. ‚Weil er verzweifelt war, ging er ins Kloster.‘ (kausale Interpretation) (15) Der Fuß schmerzt vor Anstrengung/?vom Anstrengen. ‚Da der Fuß sich angestrengt hat/angestrengt wurde, schmerzt er.‘ (kausale Interpretation) Es bleibt im Bereich des Neutrums in Bezug auf die Bereitstellung von Verbalabstrakta noch die Rolle der Zirkumfigierung zu klären. Synchron ist das Bildungsmuster der Zirkumfigierung bereits restringiert: Zum einen können nur Simplizia und Partikelverben, nicht jedoch Präfixverben abgeleitet werden. Ein zweiter ‚Nachteil‘ ergibt sich durch den taxativen Gehalt der Bildungen: Sie sind stark pejorativ. Erste, ‚echte‘ deverbale Zirkumfigierungen treten erst seit mhd. Zeit auf (Wilmanns 1896: 244). Dies passt zu der Beobachtung, dass die Muster zur Bildung von Verbalabstrakta im Mhd. sich umkodiert haben müssen. Das Bild fügt sich also – in Bezug auf die Bereitstellung von Verbalabstrakta im Sprachsystem – zusammen. Bei Rekapitulation aller bisherigen Beobachtungen lässt sich damit Folgendes festhalten: Es werden gegenwärtig mit zunehmender Tendenz Tätigkeitsabstrakta zu Infinitivstämmen mit dem substantivierten Infinitiv realisiert, während die Eigenschaftsabstrakta von Partizip-II-Stämmen mit der Suffigierung des Femininums realisiert werden. Allerdings kann man an dieser Stelle vermuten, dass auch hier bereits der substantivierte Infinitiv eindringt, vgl. etwa (die) Verliebtheit/(das) Verliebtsein, (die) Angeschlagenheit/(das) Angeschlagensein, (die) Betrübtheit/(das) Betrübtsein. Sollte die Produktivität des substantivierten Infinitivs an dieser Stelle zunehmen und im Sinne einer Analogie der Infinitiv ebenfalls Iterativität zum Ausdruck bringen können, ist anzunehmen, dass auch die Adjektive nachziehen. Die Konsequenz wäre aufgrund der funktionalen Gleichheit von Adjektiv und Partizip II vermutlich ein Untergang des Genus femininum im Bereich der Derivationsbildungen, sofern keine speziellen Renovationsstrategien vom Sprachsystem an dieser Stelle ins Leben gerufen werden. Wie der Sprachwandel in Zukunft für das Deutsche verlaufen wird und inwieweit diese Entwicklung Konsequenzen für das gesamte Genussystem haben könnte, lässt sich an dieser Stelle nicht prognostizieren.
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5. Zusammenfassung und Ausblick Gegenwärtig vollzieht sich im Bereich der Bildung von Tätigkeitsabstrakta ein Wechsel der Kodierungstechnik, der gleichzeitig ein Genuswechsel ist. Der substantivierte Infinitiv tritt zunehmend auf, die Suffigierungen mit verbalen Basen, wovon vor allem die feminine Derivation betroffen ist, schwinden (vgl. (die) Mitnahme/Zerreißung/Ausschmückung > (das) Mitnehmen/Zerreißen/Ausschmücken). Die gegenwärtig produktive Zirkumfigierung, die seit nhd. Zeit vermehrt ausschließlich deverbal auftritt, weist deutliche Restriktionen auf: So kann sie nicht von Präfixverben gebildet werden. Bei Partikelverben existiert diese formale Restriktion nicht. Ein weiterer, diese Bildungen betreffender, hemmender Faktor ist die pejorative Semantik der Bildungen, was auch für das Feminina bildende Suffix -erei gilt. Diesbezüglich neutral ist der substantivierte Infinitiv, der diachron als Gewinner des Rennens um die Bereitstellung von Tätigkeitsabstrakta hervorgeht: Seine Produktivität nimmt seit mhd. Zeit stetig zu. Möglich wurde dies durch die Erweiterung seiner primären Grundfunktion, welche ursprünglich in der Bereitstellung von Kontinuativität bestand. Seit mhd. Zeit kann das Bildungsmuster zunehmend (potentielle) Argumentstellen inhärieren. Die Folge ist unter dem Aspekt der nominalen Quantifikation eine Etablierung von verbaler Iterativität. Da Iterativität im nominalen Bereich die Inhärierung von bzw. Reduzierung auf potentiellen Argumentstellen umfasst, kann der substantivierte Infinitiv seit mhd. Zeit dem Sprachsystem zunehmend deverbale Abstrakta durch Erweiterung seiner quantifikativen Möglichkeiten bereitstellen. Damit kann auch erklärt werden, warum gegenwärtig feminine -ung-Nominalisierungen durch neutrale Infinitivsubstantivierungen ersetzt werden. Beide Quantifikationstechniken, die kollektiv-abstrakte Derivation des Femininums und die hinsichtlich der Produktivität bereits stark eingeschränkte Derivation des Neutrums sowie der um Iterativität erweiterte, substantivierte Infinitiv dienen also im Nhd. der Bereitstellung von ‚echter‘ Abstraktheit. Der konzeptuelle Unterschied zwischen femininen und neutralen Abstrakta besteht darin, dass feminine Verbalabstrakta pluralisierbar sind, nicht aber neutrale. Der Prozess der Umstrukturierung hat durchaus nicht in neuerer Zeit begonnen; er ist bereits weit fortgeschritten. Er beginnt im Mhd. Zu jener Zeit werden die Neutra kodierenden Suffixe zunehmend inproduktiv, die verbale Zirkumfigierung entsteht und das Bildungsmuster des substantivierten Infinitivs zur Bereitstellung von reiner Kontinuativität erweitert sich um die Funktion der Bereitstellung von Iterativität. Diese Entwicklung macht aus synchroner Sicht die -ung-Nominalisierung im Sprachsystem ‚überflüssig‘. Ihr Untergang und das parallele Aufkommen des
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substantivierten Infinitivs ist als ‚echter‘ Genuswechsel im Sinne eines Wechsels der Kodierungstechnik zu interpretieren. Noch steht – nach wie vor – das Femininum zur Kodierung von Tätigkeitsabstrakta, nämlich in Form des Suffixes -erei zur Verfügung. Gegenwärtig gewinnt jedoch das Neutrum in der Bereitstellung von Tätigkeitsabstrakta stark an Produktivität. Das Femininum profiliert sich in seiner Funktion als Eigenschaftsabstraktum. Einen Mischbereich stellen die departizipialen Eigenschaftsabstrakta mit dem Suffix -heit dar (wie etwa Abgeschlagenheit, Zerfahrenheit, Zerrissenheit) die stativ sind und ein Geschehen bezeichnen. Eine Bildung wie Vergessenheit umfasst die ‚Tatsache, dass etwas vergessen ist‘. Ihnen gegenüber stehen die Bildungen des Suffixes -keit, die die Eigenschaft eines Agens implizieren, wie etwa Vergesslichkeit ‚Tatsache, dass jmd. etwas vergisst/ vergessen hat; Eigenschaft, vergesslich zu sein‘. Das Deutsche ist eine der wenigen germanischen Sprachen, die das aus dem Indogermanischen ererbte Genussystem von drei Klassen über die Sprachepochen hinweg erhalten hat. Gegenwärtig kommt es jedoch zu funktional gestützten Umkodierungen im System, die auf lange Sicht im Schwinden des Femininums münden könnten. Sollte der gegenwärtig ablaufende Sprachwandelprozess sich fortsetzen, ohne dass vom Sprachsystem Maßnahmen zur Stützung der Bereitstellung von femininen Tätigkeits- und Eigenschaftsabstrakta ergriffen werden, könnte sich das Deutsche, wenn Prinzipien der Analogie greifen, zu einer Sprache mit zweigliedrigem Genussystem entwickeln wie viele (indo)germanische Sprachen. Literatur Balles, Irene (2004), Individuativa-Kontinuativa-Unterscheidung im Indogermanischen. In: Fritz, Matthias & Ilse Wischer (Hrsg.), Historisch-Vergleichende Sprachwissenschaft und germanische Sprachen. Akten der 4. Neulandtagung der Historisch-Vergleichenden Sprachwissenschaft in Potsdam 2001. (Innsbrucker Beiträge zur Sprachwissenschaft 113), 9–34. Bittner, Dagmar (2002), Semantisches in der pronominalen Flexion des Deutschen. Zeitschrift für Sprachwissenschaft 21: 196–233. Boom, Holger van den (1982), Zur Theorie sprachlicher Apprehension von Gegenständen am Beispiel der Technik ABSTRAKTION. In: Seiler, Hansjakob & Christian Lehmann (Hrsg.), Apprehension. Das sprachliche Erfassen von Gegen-ständen. Teil I. Tübingen: Narr, 34–45. Brendel, Bettina & Regina Frisch & Stephan Moser & Norbert R. Wolf (1997), Wortund Begriffsbildung in frühneuhochdeutscher Wissensliteratur. Substantivische Affixbildung. Wiesbaden: Dr. Ludwig Reichert. Brugmann, Karl (1897), The nature and origin of the noun genders in the Indo-European languages. A lecture delivered on the occasion of the sesquicentennial celebration of Princeton University. New York: Charles Scribner’s Sons.
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Helmut Spiekermann Pronominaladverbien im Niederdeutschen und in der norddeutschen Regionalsprache Abstract The topic of the paper is the use of continuous and discontinuous forms of „Pronominaladverbien“ (that is: combinations of adverbs and prepositions, such as davon vs. discontinuous da … von or da … davon) in regional varieties in the North of Germany. The different forms are described within the theory of Generative Grammar as diverse DP-movements out of a PP containing an adverb (e.g. von da). Empirical investigations on Low German dialects and Northern German regiolects suggest that a development towards an analytic representation of “Pronominaladverbien” has to be assumed. This result supports the theory of a drift towards an analytic language type. But another form has to be taken into account: isolated prepositions (e.g. von in weiß ich nichts von) appear in place of discontinuous combinations of adverb and preposition and have to be treated as a new development contradicting a general drift towards analytic forms.
1. Einleitung Der Gebrauch von Pronominaladverbien im Deutschen zeigt Anzeichen eines Wandelprozesses von einer synthetischen zu einer analytischen Bildung. Der Wandelprozess lässt sich am Beispiel unterschiedlicher Varietäten des Deutschen synchron und diachron beobachten. Während nach der Normgrammatik der Gebrauch der zusammengesetzten Formen nahezu obligatorisch ist, wird in den deutschen Dialekten und in den Regionalsprachen die Verwendung getrennter Formen durchaus toleriert. Folgende Beispiele zeigen, um welche Formen es sich handelt: (1) Gebrauch von Pronominaladverbien im Standarddeutschen a. Ich habe ihm von dem Spiel/davon erzählt. b. ?Da habe ich ihm gestern von erzählt. c. *Da davon habe ich ihm gestern erzählt. oder: *Da habe ich ihm gestern davon erzählt. Das Beispiel (1a) zeigt den Gebrauch von synthetisch gebildeten Pronominaladverbien im Standarddeutschen. Hier ist (nach Duden 72005: 587) die Verwendung der getrennten Formen nicht gestattet bzw. regional markiert. Explizit nicht standardsprachlich sind nach dieser Sicht Doppelfor-
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men wie in Beispiel (1c) da davon oder da drauf (im Duden als dadrauf verschriftet), die in erster Linie in süd- und mitteldeutschen Dialekten verortet werden. Die Distanzstellung ohne Verdopplung des Adverbs (Bsp. (1b) wird als Merkmal der niederdeutschen Dialekte und der norddeutschen Regionalsprache beschrieben. Zu den normabweichenden Bildungsweisen gehört außerdem eine dritte, in der das Adverb getilgt werden kann. Es lassen sich daher insgesamt drei Typen unterscheiden, in denen die nieder- und hochdeutschen Dialekte von dem standarddeutschen Muster abweichen. (2) Dialektaler Gebrauch von Pronominaladverbien a. Distanzstellung von Adverb und Präposition: Da weiß ich nicht von. b. Dopplung des Adverbs: weit: Da weiß ich nichts davon. eng: Da davon weiß ich nichts. c. Tilgung des Adverbs: Weiß ich nichts von. Zwei dieser Typen sind für die Frage, ob bei den Pronominaladverbien eine Entwicklung von einer synthetischen hin zu einer analytischen Bildungsweise vorliegt, von besonderem Interesse: Die Distanzstellung und die (weite) Dopplung des Adverbs. Beide werden im Folgenden sowohl in einer theoretischen Modellierung als auch in ihrem empirisch messbaren Vorkommen ausführlich betrachtet. Die Hauptthese, der im Beitrag nachgegangen werden soll, lautet, dass abweichend vom normstandardsprachlichen Gebrauch, der Distanzstellungen, Dopplungen und Tilgungen des Adverbs als regionalsprachliche Phänomene ablehnt, der Gebrauch dieser Formen in den Dialekten durchaus möglich und üblich ist, in den Regionalsprachen zunehmend an Bedeutung gewinnt und selbst in standardnahen Sprechweisen beobachtbar ist. Um diese These zu überprüfen werden Daten aus niederdeutschen Dialekten und norddeutschen Regionalsprachen (sowohl standardfernen als auch standardnahen) untersucht.
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2. Grundlagen 2.1 Formen und Funktionen der Pronominaladverbien im Deutschen Die Pronominaladverbien (auch: Präpositionaladverbien) werden gebildet, indem Präpositionen mit den Adverbien da, hier und wo (letztere in Erststellung) verbunden werden. (3) Bildung von Pronominaladverbien da(r) + Präposition darauf, daran, dadurch, dabei etc. hier + Präposition hierauf, hieran etc. wo(r) + Präposition worauf, woran, wodurch, wobei. etc. Zwischen den Adverbien da und wo und den Präpositionen wird dann ein r eingefügt, wenn die Präpositionen vokalisch anlauten. Auf diese Weise wird die Bildung von Hiaten umgangen. In dieser engen Definition von Pronominaladverbien gehören Konstruktionen wie deswegen, demgegenüber, hinauf, nachher und andere nicht zu der Gruppe der Pronominaladverbien (vgl. hierzu aber: Grundzüge 21984: 406f.). Funktional stellen Pronominaladverbien Pro-Formen mit interrogativer und relativer (vorzugsweise bei wo) bzw. deiktischer, anaphorischer oder kataphorischer Funktion dar. Sie ersetzen Präpositionalphrasen, z.T. auch Nebensätze (vgl. Bsp. 4). (4) Pronominaladverbien als Pro-Formen a. Nebensatz: Hans zweifelte, dass die Aussagen richtig waren/daran. b. NP (unbelebt): Hans verzweifelte an der Aufgabe/an ihr/daran. c. NP (belebt): Hans zweifelt an dem neuen Mitarbeiter/an ihm/*daran. Als Pro-Formen konkurrieren Pronominaladverbien mit Präpositionalphrasen, die Pronomen enthalten, z.B. er zweifelt daran vs. er zweifelt an ihr (vgl. Bsp. (4)b.). Für Präpositionalphrasen mit einer Nominalphrase, die auf eine Person oder etwas Belebtes verweist, gilt grundsätzlich, dass eine Ersetzung durch Pronominaladverbien im Standarddeutschen nicht möglich ist (vgl. Bsp. (4)c., Ausnahmen s. Duden 72005: 588f.). Dies hat u.a. stilistische Gründe. Thun (1985) zeigt für das Westfälische, dass von dieser Einschränkung in den niederdeutschen Dialekten unter Umständen abgewichen werden kann. Ähnliches gilt sicherlich für weitere Dialekte. Im Standarddeutschen sind die Distanzstellung und die Dopplung des Adverbs grundsätzlich nicht zugelassen (s.o.), in den niederdeutschen Dialekten dagegen sehr wohl. Die Distanzstellung, die vor allem in Nord-
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deutschland zu finden ist, steht zu den Doppelformen im Kontrast, die vor allem in Süddeutschland gebraucht werden (s.u.). Beide Bildungsweisen weichen deutlich vom Normstandard ab (Beispiele nach Durrell 1990, Goltz & Walker 1990, Lindow et al. 1998, Saltveit 1983, Wossidlo 1985). Die Beispiele in (5) zeigen, dass nach Durchsicht von Dialektgrammatiken und Dialektwörterbüchern eine ganze Reihe von normabweichenden Bildungsweisen in den niederdeutschen Dialekten vorzukommen scheint. Hierzu gehört die Sonderbildung der gedoppelten Präpositionen (daarbi … bi), zu der auch Fälle wie Un bi dat Peerd steiht ’n windhund bi (Nordniedersächsisch, nach Fleischer 2002: 358) gezählt werden können, also solche, die eine Verdopplung der Präposition bei Auslassen des Adverbs aufweisen. (5) Bildungsweisen in niederdeutschen Dialekten Distanzstellung: Dor weet ik nix vun. Da hast’e ganss recht inne. (Nordniedersächsisch) Dopplung des Adv.: Dao häter nich künnt dran jlowen. (Brandburgisch) Tilgung des Adv.: Un uns’ Vadder wuu’r nix von weten. (Hamburg) Dopplung der Präp.: Daarbi kannst du min ich bi helpen. (Westrhauderfehn) Die umfangreichste Untersuchung zu Formen der Pronominaladverbien in deutschen Dialekten hat Jürg Fleischer (2002) vorgelegt. Auf der Basis von Dialektgrammatiken und Dialektwörterbüchern sowie Dialektliteratur hat er die Verbreitung der unterschiedlichen Verwendungsformen der Pronominaladverbien kartographisch aufgearbeitet. Ein wesentliches Ergebnis seiner Arbeit ist, dass in Bezug auf die Distanzstellung und die Dopplung der Adverbien ein Nord-Süd-Gegensatz festgestellt werden kann. Die wesentlichen Ergebnisse lassen sich wie folgt zusammenfassen: – Die Distanzstellung ist sowohl bei vokalisch als auch bei konsonantisch anlautenden Präpositionen in den niederdeutschen Dialekten weit verbreitet. – Die (weite und enge) Distanzstellung des Adverbs ist regelhaft in den mittel- und oberdeutschen Dialekten, im Niederdeutschen allerdings nur in den südlichsten Varietäten zu finden. – Die Tilgung des Adverbs ist in den niederdeutschen Dialekten nicht unüblich.
Pronominaladverbien im Niederdeutschen und in der norddeutschen Regionalsprache
183
Zu dem Sonderfall der Dopplung der Präpositionen schreibt Fleischer (2002: 357), dass das Kerngebiet der Konstruktion im Niederdeutschen zu suchen ist. Da sie aber insgesamt sehr selten vorzukommen scheint, wird die Dopplung der Präpositionen im Weiteren nicht mehr behandelt. 2.2 „Preposition stranding“ in germanischen Sprachen Eine mit der Distanzstellung im Deutschen vergleichbare Erscheinung lässt sich in einigen germanischen Sprachen finden. Das Phänomen der trennbaren Pronominaladverbien wird in der Forschungsliteratur auch unter dem Stichwort „preposition stranding“ behandelt. Dies ist u.a. für das Friesische, Niederländische und Englische gut beschrieben. Im Rahmen der „government & binding“ theory wird das „preposition stranding“ im Englischen als Extraktion einer Determiniererphrase (DP) aus einer Präpositionalphrase (PP) beschrieben (Fanselow & Felix 1987, Haegemann 1991). In dem Satz What did he talk about liegt genau so eine Extraktion vor:
(6)
PP P’ P0
DP D0
Whati did he talk about
ti
[DP what]i did he talk [PP about ti]
Im Kontext von W-Fragen (oder: „wh-constructions“), in denen der Gebrauch von Pronominaladverbien im Deutschen durchaus üblich ist, ist in vielen germanischen Sprachen ein „Stranden“ von Präpositionen möglich, wie der folgende Überblick zeigt (vgl. hierzu und zu den folgenden Beispielen die Arbeiten von Barbier et al. 2005, Boas 1997, Hoeckstra 1995, Hornstein & Weinberg 1981, Riemsdijk & Zwarts 1997 und Zwarts 1997):
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Helmut Spiekermann
(7) „Preposition stranding“ in „wh-constructions“ in germanischen Sprachen Englisch: What are you talking about? ‚Über was sprichst du?‘ ‚Wovon/von was sprichst du?‘ Schwed.: Vad prater du om? Dänisch: Hvad snakker du om? ‚Wovon/von was sprichst du?‘ ‚Woran denkst du?‘ Norweg.: Hva tenker du på? Friesisch: Wer wachtsje jimme op? ‚Auf wen wartet ihr?‘ Niederlnd.: Waar pratten wij over? ‚Worüber haben wir gesprochen?‘ ,Wovon sprichst du?‘ Niederdt.: Wo proots du van? Es ist bemerkenswert, dass das Standarddeutsche „preposition stranding“ in diesem Kontext grundsätzlich nicht zulässt. 83 Konstruktionen wie ?Wo sprichst du von? oder *Wo sprichst du über? sind im Standard bzgl. ihrer Grammatikalität zumindest zweifelhaft wenn nicht ungrammatisch. Eine Ursache für die Unterschiede in den Gebrauchsmöglichkeiten in den Sprachen kann in der kategorialen Füllung der Konstruktion liegen. Während im Englischen und in anderen germanischen Sprachen Pronomen (z.B. what, who, whom) aus der PP extrahiert werden, handelt es sich im Fall des Deutschen um (Pro)Adverbien (nämlich im Fall der „wh-constructions“ um wo), die auf andere syntaktische Einheiten (nämlich auf Adverbiale) verweisen als Pronomen. Pronominaladverbien können im Deutschen auch auf syntaktische (Präpositional-)Objekte referieren, sind in dieser Verwendung jedoch eingeschränkt (s.o.). Hinzu kommt, dass Präposition und Adverb in Pronominaladverbien im Deutschen eine morphosyntaktische Einheit bilden, während im Englischen eine syntaktische Phrase vorliegt, die eine Extraktion von Einzelelementen im Vergleich zur Bildung im Deutschen erleichtert. Abgesehen von „wh-constructions“ gibt es zwei weitere syntaktische Kontexte, in denen in vielen germanischen Sprachen eine Extraktion einer DP aus einer PP möglich ist. Das ist zum einen in Relativsätzen, zum anderen im sogenannten Pseudopassiv der Fall, wie es im Englischen gebräuchlich ist. (8) „Preposition stranding“ in Relativsätzen Englisch: The man, whom we talked to, … Schwedisch: Mannen, som vi talede med, …
__________ 83 In Beispielen wie Wo gehst du hin? oder Wo kommst du her? ist die Distanzstellung von wo und her/hin (aus woher bzw. wohin) auch im Standarddeutschen möglich. Es handelt sich dabei jedoch nicht um Pronominaladverbien in dem hier besprochenen Sinne, da nicht Präpositionen, sondern Adverbien mit wo verbunden sind. In diesem Fall gelten andere Regeln als bei Pronominaladverbien im engen Sinne.
Pronominaladverbien im Niederdeutschen und in der norddeutschen Regionalsprache
185
Dänisch: Niederdeutsch:
Manden, (som) vi snakkede med, … De Saak, wo wi öwer snackt hebbt, … ‚Die Sache, über die wir gesprochen haben, …‘ Standarddeutsch: ?Der Mann, wo wir mit gesprochen haben, …
(9) „Preposition stranding“ im Pseudopassiv (Extraktion einer nominalen DP) Englisch: The chair was sat on. Dänisch: *Stolen har väret siddet på. Niederländisch: *De stoel was up gezeten. Niederdeutsch: *De stool was setten up. Standarddeutsch: *Der/dem Stuhl wurde gesessen auf. In beiden Kontexten haben wir es formal mit Konstruktionen zu tun, die so im Standarddeutschen nicht vorkommen. Ein „Stranden“ von Präpositionen im Pseudopassiv scheint darüber hinaus auch in vielen anderen germanischen Sprachen nicht üblich zu sein. Das Englische hat in dieser Hinsicht eine Sonderrolle inne und erlaubt – zumindest in Bezug auf die hier behandelten Fälle – in mehr Kontexten als andere germanische Sprachen die Extraktion einer DP aus einer PP. Das Phänomen des „preposition stranding“ bereitet für das Standarddeutsche einige Probleme, da zum einen die syntaktischen Kontexte, in denen ein „Stranden“ der Präpositionen im Englischen (und in vielen anderen germanischen Sprachen) problemlos möglich ist, im Standarddeutschen eine Distanzstellung von Präposition und Adverb nicht gestattet. Wie oben erklärt, sind auch die kategorialen Füllungen in den beiden Sprachen unterschiedlich und nicht direkt aufeinander beziehbar. Die theoretische Modellierung der beobachtbaren Phänomene als einfache Extraktion einer DP aus einer PP ist im Deutschen – vor allem vor dem Hintergrund der dialektalen Variationsmöglichkeiten in diesem Bereich – eine komplexe Angelegenheit. Die Analyse der Pronominaladverbien im Kontext der „preposition stranding“-Phänomene wird deshalb auch von einigen Autoren abgelehnt (u.a. Oppenrieder 1990). Einen interessanten Vorschlag zur Modellierung der Verhältnisse im Deutschen hat Gallmann (1997) vorgelegt. Er geht davon aus, dass die
186
Helmut Spiekermann
Extraktion der DP 84 aus der PP erst dann geschieht, wenn zuvor eine Verschiebung der DP zunächst in die Kopf-Position der PP und anschließend in die Specifier-Position vollzogen wird. Durch diese Modellierung wird es möglich, sowohl Distanzstellungen als auch die Dopplungen des Adverbs zu erklären, die in den Dialekten und Regionalsprachen vorkommen. (10) Modellierung der Verhältnisse im Standarddeutschen Ausgangsstruktur – Struktur I: P0 Inkorporation – Struktur II Spec PP Position
PP
PP
P’
P’ DP
P0
P’ DP
D0
von da-
PP
P0 D0
DP
D0
DP
P0
da- von dr- an dar- an
P0 t
Ich weiß nichts davon. Davon weiß ich nichts.
D0
D0
D0
P0
da-
[e] von
t
Da weiß ich nichts von. Ich weiß nichts da davon. Da weiß ich nichts davon.
__________ 84 Bezüglich der kategorialen Bestimmung von da, wo und hier als Bestandteile der Pronominaladverbien gibt es in der Forschungsliteratur durchaus Uneinigkeit. In vorliegendem Beitrag werden sie als Adverbien beschrieben, was sicherlich auch der ursprünglichen Herkunft der Wörter am ehesten entspricht und sich darüber hinaus auch in der Verwendung als Pro-Formen adverbialer Präpositionalphrasen spiegelt. Die Ersetzung von Präpositionalobjekten durch Pronominaladverbien spricht dagegen für eine Wertung als Pronomen. In diesem Sinn erklärt sich die Bestimmung von da als DP in der Analyse bei Gallmann. Im Übrigen liegt hier eine parallele Analyse zu der in (6) vorgestellten Modellierung des „preposition stranding“ im Englischen vor.
Pronominaladverbien im Niederdeutschen und in der norddeutschen Regionalsprache
187
In (10) werden die einzelnen Entwicklungsschritte nachgezeichnet: Als Ausgangspunkt kann man eine PP annehmen, in der das Adverb als Komplement zum präpositionalen Kopf fungiert. Die Ausgangsstruktur ist wie eine PP mit nominalem Komplement gebildet. Diese kann als Pronominaladverb realisiert sein, in dem das Adverb an die Spitze gestellt wird. Dies erfolgt in Struktur I als eine Herauslösung des Adverbs (im Beispiel da-) aus der Komplement-Position und eine Inkorporation in den Kopf der PP. In Struktur II schließlich ist da- in die Specifier-Position der PP angehoben. Aus dieser Position ist die Herauslösung der DP aus der PP möglich, was zu den in den Dialekten vorkommenden Distanzstellungen (und Distanzierungen des Adverbs bei einer weiten Dopplung) führen kann. Wie schon in (6) am Beispiel des Englischen what gezeigt, kann hier die DP da in die Topikposition des Satzes gehoben werden, so dass Fälle wie Da weiß ich nichts von. und Da weiß ich nichts davon. ableitbar werden. Aus Struktur II ist die Kopie des Adverbs nach [e], also in den Kopf der PP möglich. Auf diese Weise ist die Dopplung von Adverbien beschreibbar. Die Varietäten des Deutschen unterscheiden sich in der Frage, ob eine Kopie nach [e] möglich bzw. obligatorisch ist (obligatorisch ist sie nach Fleischer 2002 in den mittel- und oberdeutschen Dialekten) bzw. ob es zu einer Extraktion der DP kommt oder nicht (häufig in den niederdeutschen Dialekten). 3. Empirische Befunde In der empirischen Untersuchung wird es um die Analyse dialektaler und regionalsprachlicher Varietäten gehen. Unter „Regionalsprache“ verstehe ich dabei die regionalen Ausgleichsvarietäten, die durch Zusammenfall dialektaler und unter Einfluss standardsprachlicher Varietäten entstanden sind. Nach Dittmar (1997: 195) fallen darunter alle regionalen Varietäten im Zwischenbereich zwischen Standardsprache und (lokalen) Dialekten. Der Terminus Regionalsprache umfasst damit eine gewisse Bandbreite an regionalen Varietäten, die mehr oder weniger standardnah sein können. Innerhalb der Regionalsprache lassen sich also Differenzierungen bzgl. der Standardnähe der sprachlichen Ausdrucksformen vornehmen. 3.1 Daten und Methoden Die ausgewählten Daten stammen aus drei unterschiedlichen Korpora, wovon zwei im Institut für Deutsche Sprache (IDS) in Mannheim und eines am Deutschen Seminar der Universität Freiburg situiert sind. Es handelt sich dabei um das Zwirner-Korpus, das Pfeffer-Korpus (beide am
188
Helmut Spiekermann
IDS) sowie um Daten des DFG-Projekts „Regionale Intonation“. 85 Alle drei Korpora enthalten Interviewdaten, die zum einen als dialektal (Zwirner-Korpus) und zum anderen als regionalsprachlich beschrieben werden können. Die Daten des Pfeffer-Korpus enthalten unterschiedlich standardnahe Interviews, so dass hier zwischen einer (standardfernen) norddeutschen Regionalsprache und einer standardnahen Regionalsprache unterschieden werden kann. Das Gesamtkorpus hat einen Umfang von mehr als 20 Stunden. (11) Datenkorpora: a. Zwirner-Korpus (1955ff.): - Dialektdaten b. Pfeffer-Korpus (1961): - norddeutsche Regionalsprache - standardnahe Regionalsprache c. Projekt „Reg. Intonation“ (2000): - standardnahe Regionalsprache Bzgl. der Auswertung der Daten sind zwei Einschränkungen zu machen: − Ausgewertet wurden ausschließlich Pronominaladverbien mit dem Adverb da, da sich hier die häufigsten Treffer in den Suchabfragen zeigten. − Es wurde ausschließlich das Nordniedersächsische untersucht, da die Daten des Projekts „Regionale Intonation“ als Aufnahmeort Hamburg aufweisen, das im nordniedersächsischen Dialektgebiet liegt. Die Daten, die aus dem Zwirner- und dem Pfeffer-Korpus entnommen wurden, haben ihren dialektgeographischen Schwerpunkt ebenfalls im Hamburger Raum und darüber hinaus im Raum Oldenburg. Die Untersuchung wird auf zwei Ebenen Aussagen über die Entwicklung des Gebrauchs der Distanzstellung und der Verdopplung und Tilgung des Adverbs zulassen: Zum einen in Echtzeit, d.h. im Vergleich der zeitlich aufeinander folgenden Korpora, zum anderen im Vergleich der Varietätenebenen. Die zu untersuchende Hypothese ist in diesem Zusammenhang, dass im Dialekt (also in den Daten des Zwirner-Korpus) normabweichende Bildungen im Vergleich der Varietäten untereinander am häufigsten vorkommen, in den Regionalsprachen nimmt ihr Gebrauch
__________ 85 Durchgeführt in den Jahren 1997 bis 2003 unter der Leitung von Peter Auer (Freiburg) und Margret Selting (Potsdam) – Au 72/13-1, Au 72/13-3, Au 72/134 und Se 699/2-1, Se 699/2-2, Se 699/2-3. Ich danke für die Möglichkeit, die Daten für die vorliegende Untersuchung auswerten zu können.
Pronominaladverbien im Niederdeutschen und in der norddeutschen Regionalsprache
189
sukzessive zur standardnächsten Varietät hin ab. Dieses Ergebnis würde die nichtnormtreuen Bildungen als Dialektmerkmale 86 erkennbar werden lassen. Diachron ist nach der Ausgangshypothese ein Anstieg des Gebrauchs der normabweichenden Formen in der standardnahen Regionalsprache (nur dies lässt sich auf der Basis der vorliegenden Daten diachron untersuchen) zu erwarten. 3.2 Ergebnisse der Untersuchung In den untersuchten Daten finden sich Beispiele sowohl für die Distanzstellung als auch für die Dopplung des Adverbs. Folgende Belege (allesamt in den Daten des IDS Mannheim und des Projekts „Regionale Intonation“ standarddeutsch transliteriert) geben einen Eindruck von den Formen, die in den unterschiedlichen Korpora vorzufinden waren: Beleg 1: Distanzstellung in der Regionalsprache (Aufnahme ZW0D1 – Dötlingen, Kreis Oldenburg) Wir hatten einen netten Lehrer, der war gut mit uns, allerdings überlang auch streng, wenn wir es rein zu schlimm machen taten, aber wir hatten es anders, wir hatten auch ganz schön was gelernt, da sind wir gut mit zurecht gekommen im Leben. Im niederdeutschen Dialekt ist die Distanzstellung bei konsonantischen anlautenden Präpositionen durchaus nicht ungewöhnlich (Beleg 1). Es kommt auch die Distanzstellung bei vokalisch anlautenden Präpositionen vor. Hier finden sich auch Belege aus der Regionalsprache (Beleg 2). Beleg 2: Distanzstellung bei vokalisch anlautenden Präpositionen in der Regionalsprache (Sprecher PF025 – Hamburg-Marmstorf) [Aufbau einer Pfadfindergruppe] Die sagten dann: Peter, wir halten zu dir, wir bauen ’ne neue Gruppe auf. Na, und das hat mir Mut gegeben. Da hab ich mich so über gefreut dann, daß diese Kleinsten, die Unbeholfensten aus der Gruppe zu mir kamen und sagten: Peter, wir wollen ’ne Gruppe aufbauen, ja?
__________ 86 Neben Dialektmerkmalen gibt es (mindestens) noch eine zweite Gruppe von Merkmalen, in denen vom Normstandard abgewichen werden kann: die „Allegroformen“ (vgl. u.a. Spiekermann 2008), die überregional gebräuchlich sind und vor allem in der gesprochenen Sprache vorkommen. Hierzu gehört u.a. die Tilgung von auslautenden /t/ in Wörtern wie nicht oder ist. Die Distanzstellung und Dopplung bei Pronominaladverbien ist aufgrund der nach Fleischer (2002) erkennbaren kleinräumigen Verbreitung als ursprüngliches Dialektmerkmal gut erkennbar. Vgl. hierzu aber Fußnote 7.
190
Helmut Spiekermann
Der Gebrauch der Distanzstellung bei vokalisch anlautenden Präpositionen ist jedoch der markierte Fall. Häufiger ist hier die (weite) Dopplung des Adverbs, wie Beleg 3 (ein Beispiel aus einem Cloppenburger Dialekt) zeigt. Beleg 3: Dopplung des Adverbs im Dialekt (Aufnahme ZW0M6 – Ermke, Kreis Cloppenburg) [Futtergeld für die Aufzucht von Schweinen, Wiedergabe eines Gesprächs zwischen Vater und Tochter] Ach, ich sagte, Kind das brauchst du auch ja nicht, die füttern wir ja mit, wie kommst du da denn drauf? Ja, sagt unser Mädchen da zu mir, sie habe sich schon überlegt, Papa, ich brauche ja gar kein Futtergeld, dann nehme ich die hintere Hälfte, die frisst auch ja nicht. Es ist in der Regel so, dass die Dopplung des Adverbs mit einer gleichzeitigen Distanzierung des ersten Adverbs verbunden ist, d.h. es liegt grundsätzlich weite Dopplung vor. Die enge Dopplung ist in den hier vorgestellten Daten selten belegt. Gleiches gilt für die Tilgung des Adverbs, wie sie in folgendem Beispiel vorliegt. Beleg 4: Tilgung des Adverbs in der Regionalsprache (Aufnahme PF025 – Hamburg-Marmstorf) [Bericht über Gespräch zwischen zwei Jungen, die Indianer gespielt haben] Im Winter Spurenlesen, ja? Und ... da sagt er: Da hab ich Federn drinne, und sag ich: Ja, was willst du mit? Ja ich will tauschen. Beleg 4 aus einem regionalsprachlichen Interview aus Hamburg-Marmstorf ist das einzige Beispiel für die Tilgung eines Adverbs aus Pronominaladverbien in den von mir untersuchten Daten. Aus diesem Grund wird diese Bildungsweise im Folgenden nicht mehr bei der Darstellung der empirischen Ergebnisse berücksichtigt. 87 In der folgenden quantitativen Auswertung werden drei unterschiedliche Verwendungsweisen von Pronominaladverbien unterschieden:
__________ 87 Ich komme darauf aber in Abschnitt 4 zurück. Dass die Bildung durchaus gebräuchlich ist, zeigt ein 2006 in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ abgedrucktes Interview mit dem Bremer Musiker, Bandleader und Komponisten James Last. Obwohl es sich bei dem abgedruckten Text um ein redigiertes Manuskript handelt, wimmelt es geradezu von normabweichenden Gebrauchsweisen der Pronominaladverbien, wie sie in der Regionalsprache um Bremen, das dialektologisch im nordniedersächsischen Gebiet verortet werden kann, üblich zu sein scheinen. Es lassen sich zahlreiche Distanzstellungen belegen wie Da kann ich nichts für aber eben auch Tilgungen des Adverbs wie Gibt’s keine Regeln für (Mingels 2006: 27).
Pronominaladverbien im Niederdeutschen und in der norddeutschen Regionalsprache
191
−
Kontaktstellung, d.h. die normsprachliche Bildung ohne Distanzierung oder Dopplung des Adverbs. − Distanzstellung, d.h. die Distanzierung des Adverbs ohne Dopplung. − Dopplung, d.h. die weite Dopplung des Adverbs. Die empirischen Ergebnisse der Untersuchung zeigen im Gesamtüberblick (vgl. Abbildung 1) zunächst einmal, dass in den untersuchten Daten mit Ausnahme des Dialekts die normtreue Kontaktstellung die am weitesten verbreitete Bildungsweise darstellt. Sie kommt im Dialekt zu einem Drittel der Fälle vor und ist in der Regionalsprache mit zwischen 67% und 93% (bei der standardnahen Realisierung im Pfeffer-Korpus) belegt.
Häufigkeit in %
100 80 60 40 20 0
Kontaktste llung Distanz ste llung
Dopplung
Diale kt (n= 138)
33,33
49,27
18,84
Re gionalsprache (n=110)
67,27
23,64
9,09
stand. R. (1961) (n=94)
93,62
2,27
4,55
stand. R. (2000)
77,78
13,89
8,33
Abbildung 1: Realisierungen von Pronominaladverbien mit da(r) abhängig von der Sprachschicht
Die Distanzstellung und die Dopplung des Adverbs sind besonders häufig im Dialekt sowie – allerdings mit deutlichem Unterschied zu diesem – in der norddeutschen Regionalsprache gebräuchlich. Im Dialekt bilden die normabweichenden Formen die Mehrheit der Verwendungsweisen, was als deutlicher Beleg dafür gewertet werden kann, dass die normabweichenden Formen ursprünglich aus dem Dialekt stammen. Interessant ist die Entwicklung in der standardnahen Regionalsprache: Während diese im Jahr 1961 (also im Pfeffer-Korpus) noch eine deutliche Tendenz zum Normstandard zeigt und sich deutlich von der norddeutschen Regionalsprache unterscheidet, gibt es im Jahr 2000 in den Realisierungshäufigkeiten der Distanzstellung und Dopplung eine klare Tendenz zur Öffnung
192
Helmut Spiekermann
der Varietät für diese Bildungsweisen. Mit anderen Worten breiten sich die normabweichenden Formen in die standardnahen Varietäten aus. Die Ergebnisse lassen sich eindeutiger interpretieren, wenn man unterschiedliche Kontexte berücksichtigt. Hier sind vor allem die formalen Ausprägungen der Präpositionen zu betrachten, d.h. die Frage, ob diese vokalisch oder konsonantisch anlauten. Die Grundthese dabei lautet nach Durchsicht der Forschungsliteratur, dass in den niederdeutschen Dialekten dann eine Dopplung des Adverbs erwartbar ist, wenn die Präposition vokalisch anlautet. D.h. eine Bildung wie da … drauf ist bevorzugter als da … auf. Für konsonantisch anlautende Präpositionen ergibt sich zunächst ein Bild, das der Erwartung zumindest zum Teil entspricht: Die Dopplung kommt in deutlich weniger Fällen in den Daten vor als die Distanz- und die Kontaktstellung, vgl. Abbildung 2.
Anzahl
70 60 50 40 30 20 10 0
Kontaktste llung Distanz ste llung
Dopplung
Diale kt
28
60
13
Re gionalsprache
46
24
0
stand. R. (1961)
46
2
2
stand. R. (2000)
42
10
0
Abbildung 2: Realisierung von Pronominaladverbien mit da bei konsonantisch anlautenden Präpositionen
Die Dopplung des Adverbs ist allerdings auch bei konsonantisch anlautenden Präpositionen durchaus möglich, wie die 13 Belege aus dem Dialekt und die zwei Belege aus der standardnahen Regionalsprache (1961) zeigen. Dieses Ergebnis stellt einen Widerspruch zu der eingangs formulierten These dar. Bei vokalisch anlautenden Präpositionen zeigt sich, dass die Distanzstellung bei da(r) – anders als bei da, siehe Abbildung 4 – nicht möglich ist, d.h. Bildungen wie Da habe ich keine Lust rauf kommen in den Daten nicht vor. Dies könnte man als Indiz dafür deuten, dass die Distanzstellung (ohne Dopplung des Adverbs) initiiert wird, bevor Adverb und Präposition eine morphologische Einheit bilden. Es zeigt sich darüber hinaus, dass die Dopplung des Adverbs bei vokalisch anlautenden Präpositionen besonders im Dialekt und in der norddeutschen Regionalsprache durchaus
Pronominaladverbien im Niederdeutschen und in der norddeutschen Regionalsprache
193
üblich ist. Diachron zeigt sich in der standardnahen Regionalsprache darüber hinaus tendenziell eine Zunahme der Gebrauchsfrequenz (Abbildung 3).
70
Anzahl
50 30 10 -10
Kontaktste llung Distanz ste llung
Dopplung
Diale kt
18
0
12
Re gionalsprache
22
0
12
stand. R. (1961)
42
0
2
stand. R. (2000)
14
0
6
Abbildung 3: Realisierung von Pronominaladverbien mit da + [r] bei vokalisch anlautenden Präpositionen
Abbildung 4 zeigt, dass eine Dopplung bei vokalisch anlautenden Präposition mit da (d.h. ohne [r], also z.B. Da habe ich keine Lust da auf) auch im niederdeutschen Dialekt und in der Regionalsprache nicht möglich ist. Hier gelten also die oben besprochenen Bildungsregularitäten, die auch im Standard bei vokalisch anlautender Präposition die Epenthese eines [r] erforderlich machen. Die Distanzstellung ist – wie oben mit Beleg 2 illustriert – auch bei vokalisch anlautender Präposition durchaus möglich. Allerdings scheint diese Verwendungsweise auf den Dialekt und die norddeutsche Regionalsprache beschränkt zu sein.
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Helmut Spiekermann
70
Anzahl
50 30 10 -10
Kontaktste llung Distanzstellung
Dopplung
Diale kt
0
7
0
Re gionalsprache
0
6
0
stand. R. (1961)
0
0
0
stand. R. (2000)
0
0
0
Abbildung 4: Realisierung von Pronominaladverbien mit da bei vokalisch anlautenden Präpositionen
Insgesamt lassen sich die Ergebnisse der empirischen Untersuchung wie folgt zusammenfassen: − Entgegen der Erwartung nach Durchsicht der Forschungsliteratur (Fleischer 2002) ist die Dopplung des Adverbs in nordniedersächsischen Dialekten durchaus üblich. Dies gilt in erster Linie dann, wenn die Präposition vokalisch anlautet. 88 − In der standardnahen Regionalsprache überwiegt die normsprachliche Form („Kontaktstellung“) deutlich. − Die Distanzstellung bei vokalisch anlautenden Präpositionen ist ein Kennzeichen der Dialekte und standardfernen Regionalsprachen. − Die Distanzstellung von konsonantisch anlautenden Präpositionen wird in der standardnahen Regionalsprache diachron immer gebräuchlicher. Die Entwicklungstendenz deutet dialektologisch darauf hin, dass wir es mit einem dialektsyntaktischen Phänomen – also einer syntaktischen Bildungsweise, die in ihrem Vorkommen regional eingeschränkt ist – zu tun
__________ 88 Dies entspricht auch weitestgehend den Ergebnissen einer Befragung von Elspaß & Möller (2003ff.), die im Rahmen ihrer Erhebungen zu einem „Atlas der deutschen Alltagssprache“ (ADA) die Verwendung der Pronominaladverbien davon und darauf untersucht haben. Während bei konsonantisch anlautenden Präpositionen (also von) in Norddeutschland neben der Kontaktstellung die Distanzstellung bevorzugt wird, häufen sich bei vokalisch anlautenden Präposition wie auf in darauf die Fälle der (weiten) Dopplungen des Adverbs (vgl. die Karten unter: http://www.philhist.uni-augsburg.de/lehrstuehle/germanistik/sprachwissenschaft/ada/runde_1/ f11_f12/).
Pronominaladverbien im Niederdeutschen und in der norddeutschen Regionalsprache
195
haben, das sich zu einem Merkmal der Regionalsprache entwickelt, dessen Verbreitung nicht mehr dialektgeographisch eingeschränkt ist. Auer (2004) diskutiert Phänomene wie diese unter der Perspektive von gesprochensprachlichen, syntaktischen Merkmalen, die nicht als dialektsyntaktische Erscheinungen aber auch nicht als „typische“ Merkmale der gesprochenen Sprache analysiert werden können, da sie nicht als „structural consequences of orality“ (Auer 2004: 72) aufgefasst werden können, worunter Auer u.a. Ellipsen oder Klitisierungen versteht. Der dritte Typ syntaktischer Variation umfasst nach Auer Phänomene, die in allen Dialekten des Deutschen (also nicht regional eingeschränkt) vorkommen aber nicht im Standard. Hierzu zählt Auer u.a. die tun-Periphrase. Man möchte dieser Typologie einen vierten Typ hinzufügen, nämlich denjenigen, der ursprüngliche syntaktische Phänomene des Dialekts berücksichtigt, die sich zu Merkmalen der Regionalsprache und zu Merkmalen der (regionalen) Standardvarietäten entwickeln. 89 Die Ergebnisse der vorliegenden empirischen Untersuchung deuten an, dass dies für die normabweichenden Verwendungsweisen der Pronominaladverbien zumindest perspektivisch der Fall ist. 4. Fazit: Von der Synthese zur Analyse (und zurück?) Die Ergebnisse der empirischen Untersuchung zu Pronominaladverbien zeigen, dass in der (standardnahen) Regionalsprache in Norddeutschland eine Zunahme der normabweichenden Formen – insbesondere der Distanzstellung – zu beobachten ist. Diese Entwicklung bringt mit sich, dass eine synthetische Form durch eine analytische ersetzt wird, bzw. dass die analytische Bildung sich mehr und mehr gegen die synthetische Variante auch in standardnahen Varietäten durchsetzt. Erklärbar wird der Befund durch zwei soziolinguistische Faktoren: Zum einen durch den Kontakt zwischen Varietäten des Deutschen, die auf unterschiedliche Art und Weise mit Pronominaladverbien umgehen und mehr oder weniger restriktiv die Kontaktstellung von Präposition und Adverb fordern, der Standard stärker, Dialekte und Regionalsprachen schwächer. Zum anderen spielen für die hier beobachtbare Entwicklung die seit etwa Mitte des 20. Jahrhunderts zu beobachtenden Destandardisierungstendenzen im Deutschen eine wichtige Rolle (vgl. Bellmann 1983, Mattheier 2003). Diese ermöglichen die Aufnahme normabweichender Bildungen in Standardvarietäten. Hier konkurrieren sie mit den norm-
__________ 89 Genau in diesem Punkt weichen die normabweichenden Bildungen der Pronominaladverbien mehr und mehr von dem Bild „typischer“ Dialektmerkmale ab, vgl. Fußnote 4.
196
Helmut Spiekermann
treuen Formen und sind unter Umständen in der Lage, diese zu ersetzen. Das Auftreten der Distanzstellung und der Dopplungen der Adverbien bei Pronominaladverbien auch in standardnahen Varietäten lässt sich also aufgrund allgemeiner sprachhistorischer Entwicklungen und mittels soziolinguistischer Parameter beschreiben und erklären. Dabei ergänzen sich Sprachkontaktphänomene und Destandardisierungstendenzen. Der Wandel von der synthetischen hin zur analytischen Bildung ist aus dieser Sicht das Ergebnis eines soziolinguistisch motivierten Wandels. Ist aber der Wandel schon an seinem Endpunkt angelangt? Ist zu erwarten, dass sich die analytischen Formen stabilisieren werden? Darüber kann man nur spekulieren. Interessant sind in diesem Zusammenhang jedoch die in den niederdeutschen Dialekten und norddeutschen Regionalsprachen nach Maßgabe der Forschungsliteratur nachgewiesenen Bildungen, in denen Adverbien getilgt werden, wie z.B. in Weiß ich nichts von. Hier zeigt sich in einigen Varietäten die Tendenz zur Aufgabe analytischer Formen zugunsten einfacher Bildungen. Die Tilgung der Adverbien, d.h. die morpho-phonologische Reduktion der „Ausgangsform“ davon wird durch die Umstrukturierung der synthetischen Form in die analytische erleichtert. Im alltagssprachlichen Diskurs ist eine syntaktische Vereinfachung der Form (Da) weiß ich nichts von durchaus möglich (als Topik drop). Hierauf geht Oppenrieder (1990: 167f.) ausführlich ein. Er argumentiert, dass da besonders dann ausgelassen werden kann, wenn es im Vorfeld eines Verb-Zweit-Satzes steht. Die Tilgung des Adverbs ist unter Umständen leichter durchzuführen, als dies bei einer synthetischen Bildung wie (Da)von weiß ich nichts denkbar wäre. Um weiter zu spekulieren könnte man erklären, dass aus dieser Perspektive die Übernahme der analytischen Bildungsformen nur als Zwischenstufe zu einer syntaktischen Vereinfachung zu sehen ist, an deren Ende die Ersetzung der Pronominaladverbien durch einfache Präpositionen steht. 90 Die unterschiedlichen Phasen des Wandels im Deutschen würden in diesem Fall so aussehen: synthetische Form davon
Æ
analytische Form da … von da … davon
Æ
Tilgung des Adverbs von
Die analytischen Formen kommen durch Kontakt mit dialektalen Varietäten in das Standarddeutsche hinein und verdrängen mit der Zeit die synthetischen Formen. Durch Tilgung des Adverbs, wie sie schon jetzt in den
__________ 90 Ähnliche Entwicklungen lassen sich bei diskontinuierlichen Konstruktionen auch in anderen Sprachen finden, u.a. im Französischen bei der Negation ne …pas, die gesprochensprachlich zu pas reduziert werden kann (Hopper & Traugott 2003: 65-66).
Pronominaladverbien im Niederdeutschen und in der norddeutschen Regionalsprache
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Vilmos Ágel +/−Wandel. Am Beispiel der Relativpartikeln so und wo. Abstract
Theories of language change usually focus on the question of change. Not less interesting is, however, the question of what does not change, which comprehends two aspects: (i) the general problem of stability, i.e. the general question of what conditions obtain when no change takes place, and (ii) the concrete historical problem of why a certain change X at a certain time and in a certain variety did not take place. The chapter will approach these questions by making reference to the relative particles so and wo, which underwent opposite developments: five conditions – two of a general and three of a rather specific historical nature – can be made responsible for their development, which shows that language change can only be understood by taking into consideration sociopragmatic and variation-related factors.
1. +/−Wandel Sprachwandeltheorien befassen sich mit Prozessen der sprachlichen Veränderung in der Zeit. Coseriu (1974: 56f.) unterscheidet drei Probleme des Sprachwandels: 1. das rationale Problem des Sprachwandels: Warum verändern sich die Sprachen, warum sind sie nicht unveränderlich? 2. das generelle Problem der Veränderungen: Unter welchen Bedingungen treten gewöhnlich Veränderungen auf? 3. das historische Problem eines bestimmten Wandels: Warum trat der Wandel X zu einer bestimmten Zeit und in einer bestimmten historischen Sprache (Varietät) ein? 91 Coseriu verwendet eine sehr plastische Analogie, um die drei Probleme dem Leser näher zu bringen: 1. das rationale Problem: Warum sterben die Menschen, warum sind sie nicht unsterblich? 2. das generelle Problem: Woran sterben die Menschen, welche Krankheiten führen generell zum Tod?
__________ 91
Das rationale und das generelle Problem gehören zur Sprachtheorie und zur Theorie des Sprachwandels, das historische Problem ist die Domäne der Sprachgeschichtsschreibung (s. Jäger 1998: 818f.).
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Vilmos Ágel
3. das historische Problem: Woran ist X gestorben? Coseriu, so wie auch andere Sprachwandeltheoretiker, konzentriert sich auf die Problematik des Wandels. Sein Interesse gilt einem Instrumentarium für die Beschreibung und Erklärung von sprachlichen Veränderungen (= +Wandel). Nicht weniger interessant scheint mir allerdings auch der ‚spiegelverkehrte‘ Blick auf das generelle und das historische Problem (= −Wandel): 92 2a. das generelle Problem der Stabilität/der Nichtveränderungen: Unter welchen Bedingungen treten gewöhnlich keine Veränderungen auf? 3a. das historische Problem eines bestimmten Nichtwandels/Sogeblieben-Seins: Warum trat der Wandel X zu einer bestimmten Zeit und in einer bestimmten Varietät nicht ein? Die ‚spiegelverkehrte‘ Übertragung von Coserius’ Analogie ergibt Folgendes: 2a. das generelle Problem: Woran sterben die Menschen nicht, welche Krankheiten führen generell nicht zum Tod? 3a. das historische Problem: Woran ist X nicht gestorben? Noch interessanter wird die Problematik, wenn die zu erklärenden Phänomene sowohl die +Wandel- als auch die −Wandel-Perspektive notwendig machen, wenn also eine ‚kontrastive‘ Erklärung vielversprechender ist als isolierte +Wandel- oder −Wandel-Erklärungen. Es ist diese ‚kontrastive‘ Perspektive, der der vorliegende Beitrag gewidmet ist: Wieso ist X am Leben geblieben und ist Y gestorben, obwohl beide dieselbe Krankheit hatten? Diese Fragestellung ist zugleich ein Plädoyer dafür, • dass sich Sprachwandeltheorien stärker auch dem generellen Problem der Nichtveränderungen zuwenden könnten, und • dass sich auch die Sprachgeschichtsschreibung intensiver mit dem historischen Problem eines bestimmten Nichtwandels beschäftigen könnte, da sich die generellen und historischen Bedingungen der Stabilität nicht einfach aus den generellen und historischen Bedingungen der Veränderungen ermitteln lassen. 93 Hieraus folgen drei Thesen: 1. Die Erforschung der generellen Bedingungen der Stabilität trägt zum besseren Verständnis der generellen Bedingungen der Veränderungen bei.
__________ 92 93
Das rationale Problem wurde schon immer aus beiden Perspektiven formuliert. Der Begriff ‚−Wandel‘ wird in Abschnitt 5 noch zu präzisieren sein.
+/–Wandel
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2. Die Erforschung von historisch stabilen Erscheinungen trägt zum besseren Verständnis konkreten historischen Wandels bei. 3. Historischer Wandel und Nichtwandel sind auf der Folie genereller Bedingungen von Veränderungen und Nichtveränderungen zu erklären. 2. Fragestellung: ein historischer +/−Wandel Untersuchungsgegenstand des vorliegenden Beitrags sind die Relativpartikeln so und wo. 94 Folgende Belege sollen die relevanten grammatischen Distributionstypen illustrieren: 95 (1) Augustin Gintzerr vonn Oberehnheim auß dem Elsoß, 3 Meill von Straßburck geloe gen, der 10 Reichstetten eine, so under die Land[v]ugty Hagenaue gehoe hren. (Güntzer I: 4r) (2) In deme kame das Rindtfich auß den Heißern, so der Hirdt mit auff die Weide wolt fahren. (Güntzer I: 10r) (3) […] und dabei kam nun dieses Erlebnis, wo an und für sich selten ist. (Pfeffer-Korpus, zit. nach Pittner 2004: 366) (4) Itzt avanzierten wir bis unter die Kanonen, wo wir mit dem ersten Treffen abwechseln mußten. (Bräker III: LV) (5) der meister nimmt das schlechteste messer, wo er hat (Hebel, zit. nach DWB)
__________ 94 95
Zu den Relativa im Gegenwartsdeutschen s. Pittner (2007), in deutschen Dialekten Fleischer (im Druck). Belege, die mit römischen Ziffern von I bis VII indiziert sind, entstammen einem im Aufbau befindlichen Nähekorpus des Nhd. Dabei wurde der Zeitraum 1650–2000 in sieben Abschnitte à 50 Jahre (I = 1650–1700; II = 1700–1750 ... VII = 1950–2000) eingeteilt. Der jeweilige Entstehungsabschnitt ist den Zitierformen der Korpustexte zu entnehmen. „Güntzer I“ ist beispielsweise ein Nähetext aus der Zeit zwischen 1650 und 1700. Die Erstellung eines Nähekorpus ist Teil des Langfristprojekts „Sprachstufengrammatik des Neuhochdeutschen“. Konzeptionelles Leitprinzip der geplanten Grammatik ist die besondere Fokussierung auf die grammatischen Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Näheund Distanzsprachlichkeit. Der variationslinguistischen Begründung dieses konzeptionellen Leitprinzips dient das Nähe-Distanz-Modell, das eine Theorie des Nähe- und Distanzsprechens und deren an historischen Texten erprobte Operationalisierung umfasst (s. Ágel & Hennig 2006).
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Vilmos Ágel
Die Relativpartikel so (s. Behaghel 1928: 730, Dal 1962: 206, Erben 1985: 1342, Ebert/Frnhd. Grammatik 1993: 447, Brooks 2006: 131ff.), die sich aus dem komparativen Subjunktor entwickelt, kommt historisch in der Funktion des Subjekts (= SU) und des direkten Objekts (= DO) vor. 96 Die Kombination der Relativpartikel mit einer Präposition „scheint unüblich zu sein” (Lefevre 1996: 71). Die ersten sicheren Belege stammen aus dem 12. Jh. Ihre Blütezeit ist die zweite Hälfte des 15. bis Ende des 17. Jhs mit einem Höhepunkt im Hochbarock. 97 Im 18. Jh. geht ihre Verwendung − stärker im Ostmitteldeutschen als im Oberdeutschen − zurück (Semenjuk 1972: 145, Ebert 1986: 163, Brooks 2006: 132f.), im 19.Jh. wird sie nur noch bewusst archaisierend verwendet. Die Relativpartikel so ist überregional und tendenziell der kanzlei- und amtssprachlichen Diskurstradition zuzurechnen (Brooks 2006: 135). Hennig (2007: 261) belegt es bei Harsdörffer, Gottsched und auch bei Kant. Die Relativpartikel wo kommt außer in den SU- und DO-Funktionen auch in der Funktion des indirekten Objekts (= IO) vor (Behaghel 1928: 736f.; Pittner 2004: 365ff.; Fleischer 2005: 8f.). 98 Außerdem ließ und lässt sie sich mit einer Präposition kombinieren (Lefevre 1996: 73). 99 Der erste Beleg der Relativpartikel wo im DWB stammt aus dem Jahre 1530. Die Verwendung des Relativums ist dialektal stark eingeschränkt, nach Behaghel (1928: 736) auf die „Mundarten der südwestlichen Gebiete“. 100 Die Relativpartikel wo gibt es − außer im Alemannischen − auch im Bairischen, wo sie allerdings nach Pittner (1996) als Reduktionsvariante des Relativpronomens d- (der/die/das) mit wo zu gelten hat (Typ: das Messer, das wo er hat). Beides − einfaches wo und der Kombinationstyp d- + wo − ist im Ost- und im Moselfränkischen belegt (Fleischer 2005: 4 und 8). Wir fassen die wichtigsten Merkmale von so und wo in Tabelle 1 zusammen:
__________ 96
Alle Verwendungen des Sprachzeichens so im Gegenwartsdeutschen und im Nhd. fasst Hennig (2007: 251ff.) zusammen. 97 In Güntzer I (1657) gibt es noch sechs Belege für SU und sieben für DO. 98 S. Beleg (22) im Abschnitt 4.3. 99 S. Beleg (23) im Abschnitt 4.3. 100 Im Nähekorpus ist wo einmal in einem alemannischen Text, Bräker I (1789), belegt (s. (4) oben).
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+/–Wandel
syntaktische Funktion im Relativsatz Kombination mit einer Präposition Raum
Zeit Blütezeit Varietät/Diskurstradition
Relativpartikel so SU, DO
Relativpartikel wo SU, DO, IO
−
+
überregional
Westoberdeutsch, auch Ost- und Moselfränkisch 16. Jh. bis heute keine Angabe Dialekt
12.–18. Jh. 15.–17. Jh. Kanzlei- und Amtssprache
Tabelle 1: Die Relativpartikeln so und wo im Vergleich
Die in Tabelle 1 angegebenen syntaktischen Funktionen beziehen sich auf die relativischen Verwendungen der Zeichen so und wo. Die Zeichen fungieren, in Anlehnung an die Begrifflichkeit von Lehmann (1993) formuliert, als ‚Kongruenten‘, die im übergeordneten Satz jeweils einen ‚Kontrolleur‘ haben. 101 Ich spreche hier von gebundenen syntaktischen Funktionen. Es stellt sich nun die Frage, ob sich die Zeichen aus ihrer syntaktischen Gebundenheit ‚befreien‘ lassen, ob sie also die syntaktischen Funktionen, die sie gebunden wahrnehmen, auch frei − ohne ‚Kontrolleur‘ − ausüben können. Da so und wo im ‚Konzert‘ der Relativa mitspielen bzw. mitgespielt haben, sollen auch d- und welch- in den Vergleich einbezogen werden. Die jeweiligen a-Varianten illustrieren gebundene syntaktische Funktionen, die b-Varianten freie syntaktische Funktionen: 102 (6) a. das Messer, das er hat b. das [Messer] hat er (7) a. das Messer, welches er hat b. welches [Messer] hat er (?) (8) a. das Messer, so er hat b. *so [Messer] hat er (?)
__________ 101 Die Begriffe ‚Kontrolleur‘ und ‚Kongruent‘ werden weiter unten noch zu präzisieren sein. 102 Die IO-Funktion, die bei so nicht belegbar ist, wird ausgeklammert.
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Vilmos Ágel
(9) a. das Messer, wo er hat b. *wo [Messer] hat er (?) Während die Zeichen d- und welch- auch in freien syntaktischen Funktionen vorkommen, sind die Verwendungen der Zeichen so und wo auf die gebundenen syntaktischen Funktionen eingeschränkt. Das Zeichen wo kann lediglich als Relativadverb ‚befreit‘ werden, aber auch hier nur mit der Einschränkung, dass sich die (lokale) Default-Interpretation einstellt: (10) a. Am nächsten Huheijatag, wo Aennchen auch gegenwärtig war, sah sie, daß ich allein trank. (Bräker III: XXXII) b. Wo war Aennchen auch gegenwärtig? Bei den Zeichen d- und welch- korrelieren die freien syntaktischen Funktionen mit interner formaler Kongruenz des Kongruenten bei den gebundenen Funktionen. 103 Der Kongruent wird intern auf Genus, Person und Numerus des Kontrolleurs festgelegt. Nicht übernommen wird allerdings die Kasuskategorie des Kontrolleurs, weil Kasus extern − vom Relativsatzprädikat − regiert wird. Bei den Zeichen so und wo wird intern lediglich der Bezug zum übergeordneten Ausdruck signalisiert, jedoch kein formales oder semantisches Merkmal festgelegt. Deshalb ziehe ich hier den Terminus ‚Bezugsausdruck‘ dem Terminus ‚Kontrolleur‘ vor. Die Relativpartikeln so und wo kongruieren nicht, sondern werden funktional regiert: Sie sind Rekta, die extern − vom Relativsatzprädikat − auf eine potentielle syntaktische Funktion des Bezugsausdrucks festgelegt werden. Die Rektion basiert nicht auf formalen Merkmalen des Rektums, sondern auf einer funktionalen Analogie zwischen Rektum und Bezugsausdruck: Da der ‚befreite‘ Bezugsausdruck in der freien syntaktischen Funktion A stehen würde, wenn er formal vom selben Prädikat regiert werden würde, wird dem formal unspezifischen Rektum (wo oder so) dieselbe gebundene syntaktische Funktion A zugeordnet wie dem formal spezifischen Rektum in derselben freien syntaktischen Funktion. 104
__________ 103 Die Unterscheidung zwischen interner, d.h. NP-interner, und externer Kongruenz stammt ebenfalls von Lehmann (1993: 725). 104 Nach Pittner (2007: 745) haben Relativpartikeln „eine rein subordinierende Funktion und übernehmen im Gegensatz zu anderen Relativa keine syntaktische Funktion in dem Relativsatz, den sie einleiten“. Diese Auffassung impliziert, dass wo- und so-Relativsätze subjektoder objektlos sind, obwohl die Prädikate dieser Relativsätze ein Subjekt oder ein Objekt fordern. Das Problem ist formalgrammatisch, wo syntaktische Funktionen, soweit sie überhaupt eine Rolle spielen, auf formalen Merkmalen basieren müssen, nicht zu lösen. Die Unterscheidung zwischen freien und gebundenen syntaktischen Funktionen und die
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+/–Wandel
Der Vollständigkeit halber soll hier kurz auch das Relativadverb wo eingeordnet werden: Das Adverb wird extern auf eine adverbiale Funktion (lokal, temporal usw.) festgelegt, die sich intern auf entsprechende basale semantische Merkmale des Bezugsausdrucks (‚Ort‘, ‚Zeit‘ usw.) stützt. Man könnte hier von interner semantischer Kongruenz und externer (funktional-)semantischer Kontrolle sprechen. Wir fassen die Überlegungen zu den freien und gebundenen Funktionen der Relativa in Tabelle 2 zusammen: d-
welch-
so wo (wo als Rel.adv.)
gebundene synt. Funktion interne formale Kongruenz (Genus, Person, Numerus), externe formale Rektion (Kasus) interne formale Kongruenz (Genus, Person, Numerus), externe formale Rektion (Kasus) externe funktionale Rektion (SU, DO) externe funktionale Rektion (SU, DO) interne semantische Kongruenz, externe semantische Kontrolle
freie synt. Funktion +
+
– – (+) (lokal)
Tabelle 2: Relativpronomina und –partikeln in gebundener SU- und DO-Funktion
Ausgehend von diesen Überlegungen lässt sich nun die Fragestellung des vorliegenden Beitrags präziser fassen: Warum ist der ‚historische Patient‘ so gestorben und wo am Leben geblieben, obwohl beide dieselben grammatischen ‚Krankheiten‘ − keine interne formale Kongruenz, keine externe formale Rektion, keine freien syntaktischen Funktionen − haben/ hatten? Überhaupt: Woran sterben Relativpartikeln und woran sterben sie nicht? Im Folgenden soll zuerst auf generelle (Abschnitt 3), anschließend auf historische Bedingungen des +/−Wandels (Abschnitt 4) eingegangen werden. Diese zusammen sollen eine Antwort auf die obige Frage ermöglichen (Abschnitt 5).
__________ funktionale Analogie zwischen Rektum in der gebundenen und Bezugsausdruck in der freien Funktion bieten hier einen Ausweg.
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Vilmos Ágel
3. Generelle Bedingungen von +/−Veränderungen 3.1 Die Parameter ,Aggregation‘ und ,Integration‘ Ich habe an anderer Stelle dafür argumentiert, dass unter den „Prinzipien der Grammatik“ die kognitiv-kulturgeschichtlich motivierbaren Parameter ‚Aggregation‘ und ‚Integration‘ eine zentrale Stelle einnehmen (Ágel 2003 und 2007). 105 ‚Aggregation‘ und ‚Integration‘ stellen zwei grundverschiedene grammatische Organisationstypen dar, deren Relation je nach Varietät unterschiedlich und historisch einem steten Wandel unterworfen ist. 106 Statt langer Erklärungen soll Aggregativität an einer Reihe von Beispieltypen, deren integrative Pendants die entsprechenden schriftsprachlichen Strukturen des Gegenwartsdeutschen sind, illustriert werden: 107 (11) Dan es ist verbodten, kein geladten Rohr in dißem Walt zu tragen… (Güntzer I: 41r) (12) Beynoe ben hatte ich auch 12 fl., so ich zusamengelegt hab, waßnom mihr zu Zeitten von meinen Frindten ist vererdt worden undt [waßakk] [ich] mitt Zinstechen verdienet habe. (Güntzer I: 40v) (13) Felet mihr noch ein halben Batzen, [ich] gabe dem Schuster darfihr mein zerrißen Paternoster. (Güntzer I: 63r) (14) Das Hanaw war belägert von kaiserischem Volk und war besetzet mit Schweden. (Bauernleben I: 35)
__________ 105 Die Einführung der beiden Parameter ist in enger Anlehnung an verschiedene Arbeiten von Wilhelm Köller zur Perspektivität im Allgemeinen und in der Grammatik im Besonderen (zuletzt Köller 2004) erfolgt. Köller (1993: 21) stellt in Anlehnung an den Kunsthistoriker Erwin Panofsky den aspektivischen „Aggregatraum“, in dem die Elemente des Raumes eher „eigenständige Monaden“ (Köller 1993: 21) darstellen, dem zentralperspektivischen „Systemraum“ (Köller 1993: 24), in dem sie von einem Punkt aus organisiert sind, gegenüber. Mit dem Begriffspaar ‚Aggregatraum/Systemraum‘ fasst Köller Unterschiede, die in der linguistischen Theoriebildung vereinzelt auch mit dem Begriffspaar ‚Aggregativität/Integrativität‘ erfasst wurden (Koch & Oesterreicher 1990: 11 und 96, Raible 1992). Grammatiktheoretisch verwandt mit diesem ist auch das Begriffspaar ‚Kontextgrammatik/ Symbolgrammatik‘, das Peter Eisenberg (1995) in Anlehnung an Eckart Scheerers bahnbrechende kognitionspsychologische Überlegungen (Scheerer 1993) eingeführt hat. 106 Subsumiert werden ‚Aggregation‘ und ‚Integration‘ unter dem Oberbegriff der Junktion. Präzisiert wird der Junktionsbegriff in Ágel & Diegelmann (2009), indem drei Extensionen der Junktion unterschieden werden. Im vorliegenden Beitrag − und in den oben genannten Arbeiten von mir − geht es um dieselbe Extension. 107 Dabei sollte betont werden, dass Aggregation/Integration kein dichotomisches, sondern ein skalares Konzept ist.
+/–Wandel
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(15) Düsseldorf und Gegend bis Eichelkamp am Rhein war in früheren Jahren Churpfälsisch und [war] von den Franzosen occupiert. (Haniel IV: 48) (16) Da mach doch Gott geben da die Zeit nun endlich mahl komme des Wiedersehns (Briefwechsel V: 117) (17) … Zog mit mihr biß an das Landts zu Meren zu dem Ende, mich als ein junger Gesell um daz Gelt zu pringen. (Güntzer I: 45r) (18) welche du an mihr armer Sindter bewißen hast (Güntzer I: 66r) (19) [...] meine Mutter mit ihren Kindern stehen an der Hausthüre… (Haniel IV: 19) (20) Keins von allen seinen zehn Kinder wollten ihm recht ans Rad stehn (Bräker III: LIX) Beim Typus (11) handelt es sich um syntaktische Subordination. Dieser entspricht jedoch keine semantische Subordination, da die Proposition der Infinitivkonstruktion assertiert ist: Die Setzung des Negationsartikels ist von der Realisierung der Direktivhandlung durch das negative Matrixverb verbieten unabhängig. Im Gegensatz dazu wäre die Proposition der entsprechenden Infinitivkonstruktion im Gegenwartsdeutschen präsupponiert und die Setzung des Negationsartikels nicht möglich. Typus (12) ist doppelt aggregativ. Einerseits wird akkusativisches waß im letzten Elementarsatz elliptisch ausgelassen, obwohl waß im Bezugskonnekt im Nominativ steht. Andererseits wird im letzten Elementarsatz kein Subjektsnominativ (ich) realisiert, obwohl die Bezugsnominalgruppe im Dativ steht (mihr). Typus (13) stellt gewissermaßen eine Verschärfung von (12) dar, da hier die „kategoriale aggregative Koordinationsellipse” (Hennig im Druck) trotz des verbtypologischen Unterschiedes − ergativsprachliche Valenzrealisierungsstruktur bei fehlen, akkusativsprachliche bei geben − zustande kommt. Die Typen (14) und (15) sind deshalb besonders aufschlussreich, weil sie unauffällig sind. Aggregativ ist (14), weil die (heute erwartbare) Nichtrealisierung der Kopula, die zur ‚Straffung‘ der Koordination beitragen könnte, ausbleibt. Aggregativ ist (15) dagegen aus dem umgekehrten Grund: Trotz semantischer Diskordanz zwischen den beiden Subjektsprä-
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Vilmos Ágel
dikativa liegt Koordinationsellipse vor. 108 Während die und-Koordination in (14) durch − aus heutiger Sicht − pleonastische Kategorienrealisierung ‚geschwächt‘ wird, wird sie in (15) durch fehlende kategoriale ‚Straffung‘ aggregiert. Beides geht auf Kosten der syntaktischen Kohäsion. Die restlichen Typen sind allgemein bekannt und relativ unproblematisch: (16) steht für den aggregativen − da diskontinuierlichen − Anschluss des Genitivattributs, (17) und (18) illustrieren die lose Apposition ohne Kasuskongruenz, (19) und (20) die Constructio ad sensum. 109 Den Beispieltypen (11) bis (20) (und anderen mehr), die alle Instanzen des Aggregationsparameters sind, ist gemeinsam, dass die Regeln der syntaktischen Konstruktionsbildung weniger formal sind als im heutigen Standard. Formale Regulierungen von syntagmatischen Relationen (Rektion, Kongruenz, Positionsbezug) können von semantischen oder pragmatischen überschrieben werden. Das heißt: 1. Bei elliptischen Konstruktionen, wo also Formen fehlen, würde eine rein formale Rekonstruktion von syntagmatischen Relationen zu inhaltlicher Diskordanz führen, sodass ‚Großzügigkeit‘ bei der Interpretation der rekonstruierten grammatischen Formen erforderlich ist, um die grammatischen Inhalte zu erfassen. 2. Bei expliziten Konstruktionen, wo also die Formen da sind, existiert bereits formale Diskordanz, sodass ‚Großzügigkeit‘ bei der Interpretation der vorhandenen grammatischen Formen erforderlich ist, um die grammatischen Inhalte zu erfassen. Aggregative Belege finden sich im 17. Jh. noch quer durch alle Textsorten. Ab dem 18. Jh. kommen sie zunehmend nur noch in Texten vor, die dialektal geprägt sind, von einfachen Leuten verfasst wurden und/oder nähesprachlich sind, d.h. Merkmale konzeptioneller Mündlichkeit aufweisen. 110 Was sich wandelt, sind weniger die Sprachfakten (= Regulata), sondern das Regulans „die Bedingungen, die die Verwendung des Regulatums «regeln».“ (Koch 2005: 232) Beschränkt man den Blick auf eine Varietät, etwa auf die Schriftsprache, hat man den Eindruck eines Sprachsystemwandels, da in der Schriftsprache die aggregativen Typen zunehmend durch integrative ersetzt/ verdrängt wurden. Weitet man jedoch den Blick auf die „Architektur“
__________ 108 ‚X war Churpfälsisch‘: Einordnung in eine Klasse/Menge als Element; ‚X [war] occupiert‘: (je nach theoretischer Position) Zustandspassiv oder Charakterisierungslesart. 109 Schrodt (2005: 236) spricht in solchen Fällen vom „Nachbarprinzip: Das Verb kongruiert mit dem nächsten Substantiv aus dem Subjektsbereich.“ 110 Zur Begründung einer nähesprachlichen Herangehensweise an die nhd. Grammatik, s. Ágel & Hennig (2006).
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(Coseriu 1988: 265) von Standard- und Substandardvarietäten, Dialekten, Sprachniveaus und Sprachstilen aus, bekommt man eher den Eindruck, dass noch fast alles da ist, was im 17. Jh. vorhanden war. Je nach Aggregations-/Integrationsgrad des Phänomens scheinen aber nun teilweise oder vollkommen andere Regulantien am Werk zu sein. Wir müssen also die Varietätenarchitektur näher betrachten. 3.2 Vertikalisierung des Varietätenspektrums Der Schlüsselbegriff ist Vertikalisierung, die Umschichtung eines bis zum beginnenden 16. Jh. horizontal gelagerten Varietätenspektrums im Zuge der zunehmenden Orientierung an der sich herausbildenden Leitvarietät. 111 Vertikalisierung als solche gehört nicht zu den historischen, sondern zu den generellen Bedingungen des Sprachwandels, weil sie in einem kognitiv-kulturgeschichtlichen Kontext erfolgt, der jede Sprachgemeinschaft auf dem Wege zur Standardsprache begleitet (Ágel 2007). Diese generellen kognitiv-kulturgeschichtlichen Bedingungen des Sprachwandels stellen erworbene Eigenschaften des kognitiven Systems dar, die an großformatige kulturhistorische Entwicklungen gebunden sind (Scheerer 1993). Als relevante Vertikalisierungsdimensionen kommen nach Reichmann (2003: 38ff.) die folgenden sechs in Betracht: a) sprachsoziologische Umschichtung; b) mediale Umschichtung; c) strukturelle Umschichtung (Vertikalisierung als Strukturwandel); d) sprachgebrauchsgeschichtliche Umschichtung; e) sprachbewusstseinsgeschichtliche Umschichtung; f) sprachkontaktgeschichtliche Umschichtung. 112 Ad (a). Die horizontal-polyzentrische Varietätenorganisation weicht einer vertikal-unizentrischen, die sich an der Prestigevarietät (Leitvarietät) orientiert. Während Sprachwandel bis ins 15. Jh. vornehmlich im geographischen Raum stattfand, findet ab dem 16.Jh. kein großflächiger Sprachwandel mehr statt, da durch die sprachsoziologische Umorientierung die horizontalen Varietätenkontakte geschwächt werden. Ad (b). Hier geht es um die Nähe-Distanz-Dimension. Vertikalisierung ist nicht nur eine soziologische Umschichtung, „sondern auch (mög-
__________ 111 Eingeführt und ausführlich begründet wurde der Begriff ‚Vertikalisierung‘ in Reichmann (1988) und (1990). Besch (2007) zieht die Anwendbarkeit des Reichmann’schen Begriffs auf ein plurizentrisches Land wie Deutschland in Zweifel. 112 Da die sprachkontaktgeschichtliche Umschichtung für unsere Fragestellung irrelevant ist, wird sie nicht weiter behandelt.
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licherweise sogar: eher noch) eine Entwicklung aus der nicht nur medialen, sondern auch konzeptionellen Mündlichkeit heraus in die konzeptionelle Schriftlichkeit als sprachkulturelles Orientierungszentrum hinein.“ (Reichmann 2003: 42) Ad (c). Vertikalisierung als Strukturwandel wird von Reichmann als Folge der medialen Umschichtung beschrieben. Reichmanns lange Liste aus der Syntaxgeschichte der nhd. Schriftsprache (Reichmann 2003: 47) enthält zum Großteil Phänomene, die einer integrativen Umparametrisierung der Leitvarietät zuzuordnen sind. Ad (d). Hier geht es um die Veränderungen der Wahlmöglichkeiten von Sprechern/Schreibern. Die Wahl der jeweiligen Varietät wird zunehmend (auch) ausdrucksfunktional motiviert. Ad (e). Die Zeit der Vertikalisierung (16.–18. Jh.) fällt mit der der nationalkulturellen und patriotischen Instrumentalisierung von Sprache, einem neuen sprachreflexiven Denken, zusammen (wichtige Stichworte sind Spracharbeit, Philologisierung und Sprachpflege). Der Leitvarietät werden dabei besondere Gütequalitäten zugeschrieben, die anderen Varietäten nicht zukommen. Diese sprachbewusstseinsgeschichtliche (sprachreflexive) Umschichtung wird bereits in der Barockzeit – insbesondere durch die Begriffe ‚Deutlichkeit‘, ‚Eigentlichkeit‘ und ‚Eindeutigkeit‘ der rationalistischen Sprachtheorie – sichtbar (z. B. Gardt 1994, Reichmann 1995). Nach der rationalistischen Auffassung von einem möglichst ungebrochenen Entsprechungsverhältnis zwischen Sachen/Sachverhalten, Gedanken und Sprachzeichen setzt das deutliche und eindeutige Sprechen und Schreiben aufgeklärter, gebildeter Bürger u.a. deutliche syntaktische Regeln voraus, die u.U. eine natürliche, sich aus der Ordnung der Sachen in der Natur ergebende, Begründung („ordre direct“) haben können (Reichmann 1995: 188). Bezeichnend für die Dominanz der rationalistischen Sprachtheorie ist die wenig überzeugende Verteidigung der aggregierenden Relativpartikel so durch Adelung, der nebenbei zugeben muss, dass welch- dem integrativen Ideal des Rationalismus eher entspricht: Dieses relative so hat in den neuern Zeiten viele sehr harte Feinde bekommen, welche es schlechterdings aus der Deutschen Sprache verbannet wissen wollen. Ich sehe indesen keinen Grund dazu, indem es von allen auch den besten Schriftstellern unzählige Mahl gebraucht wird; wenn gleich richtig ist, daß welcher die Beziehung vollständiger und oft auch würdiger bezeichnet. Wenigstens kann man es alsdann nicht entbehren, wenn in einem und eben demselben Satze das welcher mehrmals stehen sollte, da denn dessen öftere Wiederhohlung einen Übelklang machen würde. Der Brief ist verlohren, welchen ich dem Manne mitgab, der gestern mit der Post, so nach Berlin ging, abreisete. Dergleichen Fälle beständig vorkommen. (Adelung 1801: 117)
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Die Vertikalisierung des Varietätenspektrums hat handfeste Konsequenzen für die varietätenbezogene Funktionalisierung von Aggregation/Integration: 1. Das ursprüngliche Nebeneinander von aggregativen und integrativen Phänomenen verwandelt sich zunehmend in ein Übereinander: Maximal integrativ ist die Leitvarietät, maximal aggregativ sind die Dialekte. Entsprechend hoch ist das Prestige von integrativen und entsprechend niedrig das von aggregativen Strukturoptionen. 2. Infolgedessen beschränken sich aggregative Strukturen auf den Substandard oder fallen ‚unten durch‘, d.h. verschwinden. 3. Umgekehrt sind die neuen Strukturen, die in der Vertikalisierungszeit entstehen, integrativ und verbreiten sich von oben nach unten. 4. Infolge des Drucks zu Integration werden nähesprachliche Konstruktionen strukturell literalisiert (Literoralisierung/literoralisiertes Nähesprechen, s. Ágel 2005). 4. Historische Bedingungen des +/−Wandels Wir machen für den +/−Wandel von so und wo insgesamt drei historische Bedingungen verantwortlich: 1. den Systemwandel bei d/s- und w-Junktoren, 2. die Konkurrenzsituation zwischen aggregierenden Relativpartikeln und integrierenden Relativpronomina und 3. die unterschiedliche funktionale Reichweite von so und wo. Ausschlaggebend ist dabei die erste Bedingung, 2 und 3 stellen zusätzliche Faktoren dar. 113 4.1 Systemwandel bei d/s– und w–Junktoren Noch im Frnhd. wurden d/s- und w-Junktoren wie z. B. dafür, daher, darum und so einerseits und weswegen, wofür, wie − wie auch die formal nicht d/s/wJunktoren sonst, also, insofern, insoweit, inwiefern und inwieweit − andererseits regelmäßig sowohl mit Verbzweit als auch mit Verbletzt gebraucht (s. Fleischmann 1973: 115–119 mit vollständiger Liste der einschlägigen Junktoren). Folglich konnten sowohl die d/s- als auch die w-Junktoren relativisch eingesetzt werden. Man vergleiche folgenden Beleg aus dem Jahre 1700:
__________ 113 Ich danke Jürg Fleischer, der mich auf den dritten Faktor aufmerksam gemacht hat.
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(21) Habt ihr keine Truhe, darin ihr die Sachen hättet halten können? (Hexe Schnell I: 769) Der Systemwandel, der zu einer paradigmatischen Trennung von d/s-Adverbien (mit Verbzweit) und w-Relativa (mit Verbletzt) führt, findet nach Fleischmann (1973: 142 und 204) bis Mitte des 16. Jhs. statt, doch finden sich Ausläufer des alten Systems, d.h. relativisch verwendete d/sJunktoren, noch am Ende des 18. Jhs (s. (21)). Relativische d/s-Junktoren (vor allem daher) sind im 18. Jh. nur noch im konservativen Sprachgebrauch – besonders in der Kanzleisprache – üblich. 114 Aus der Sicht unserer Fragestellung ergibt sich folgendes Fazit. Da, wie erwähnt, d-Junktoren und s-Junktoren, also auch so, denselben Weg − weg vom Relativum, hin zum Adverb − gehen, bewirkt insgesamt dieser Systemwandel, dass so als Relativum systemwidrig wird. Demgegenüber bleibt die relativische Verwendung des w-Junktors wo systemkonform. Entscheidend ist des Weiteren, dass sich die systemwidrigen (relativischen) d/s-Junktoren nicht etwa im Substandard, sondern überwiegend in der Kanzlei- und Amtssprache halten. Demgegenüber beschränkt sich der Gebrauch des systemkonformen (relativischen) w-Junktors wo auf den Substandard. 4.2 Konkurrenz der Relativa im Nhd. Da auf die Relativpartikeln so und wo in Abschnitt 2 eingegangen wurde, konzentriere ich mich hier auf die Konkurrenten welch- und d- im Neuhochdeutschen. 115 Das einzige Relativpronomen, das „fest in der gesprochenen Sprache verankert ist“ (Brooks 2006: 122), ist d-. Bis ins 16.Jh. dominiert es alle Sprachlandschaften, danach erfolgt allerdings ein „dramatischer Einbruch“ (Brooks ebd.) Von diesem Einbruch erholt sich das Ostmitteldeutsche, in dem bereits in der zweiten Hälfte des 18.Jhs. d- erneut deutlich dominiert (Semenjuk 1972), wesentlich schneller als das Oberdeutsche, wo welch- auch noch im 18.Jh. häufiger ist (Brooks 2006: 124ff.). Das Relativpronomen welch-, das im 15.Jh. aus dem Niederdeutschen ins Hochdeutsche vordringt (Brooks 2006: 123), ist entsprechend seiner Herkunft ursprünglich im Mitteldeutschen stärker verankert als im Oberdeutschen. Ein starker Beleg für Reichmanns Vertikalisierungsthese ist, dass jedoch die sprachgeographische Herkunft ab ca. 1600 keine Rolle mehr spielt: Welch-, das in der Mitte des 16.Jhs. im Oberdeutschen noch
__________ 114 Sehr häufig sind sie bei Gottsched (s. Hundsnurscher 1990: 426ff.). Zu einem knappen Überblick über den Systemwandel s. Ágel (2000). 115 Zu einem Überblick s. Ágel (2000) und Brooks (2006: 121ff.).
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völlig unbedeutend war − d- war in etwa viermal häufiger −, zieht nur 50 Jahre später mit d- gleich. Das Relativum welch-, das also im 17. und 18.Jh. (mindestens) genauso bedeutend ist wie d-, ist im 18. Jh. „eher die gelehrte und bildungssprachliche Variante“ (Ebert 1986: 161). Die Konkurrenz von welch- und d- ist in den periodischen Schriften der ersten Hälfte des 18. Jhs. gut nachvollziehbar (Semenjuk 1972: 147, 149– 151): In den moralischen und literarischen Zeitschriften herrscht d- vor, in den historisch-politischen Zeitschriften und in den Zeitungen welch-. In den wissenschaftlichen Zeitschriften gibt es im Durchschnitt ein Gleichgewicht, aber die Schwankungen sind groß. Das Gleichgewicht (mit territorialen und funktionalstilistischen Unterschieden) hält wenigstens bis Mitte des 19. Jhs. an, wobei welch- in künstlerischen Texten häufiger war als sein Konkurrent (Sommerfeldt 1983: 162f). Nach Dal (1962: 203) hätte welch- im 19. Jh. d- sogar beinahe aus der Schriftsprache verdrängt. Der normative Kampf gegen das als schwerfällig eingeschätzte welch- (Dal ebd.) führte schließlich zu seiner fast völligen Verdrängung. Heute entfällt auf 99 Relativanschlüsse mit d- höchstens einer mit welch- (Sommerfeldt ebd.). Das variationslinguistische Fazit von Brooks (2006: 135) in Bezug auf das 16. bis 18.Jh. ist, dass d- die „volkstümlichste” und welch- die „eher bildungssprachliche” Variante ist. Übersetzt in Nähe-Distanz-Begrifflichkeit heißt das, dass d- tendenziell nähesprachlich − genauer: konzeptionell mündlich bis indifferent − ist, während welch- eindeutig distanzsprachlich ist. In dieser (und nur in dieser) Hinsicht ist d- mit dem dialektalen wo und welch- mit dem überregionalen, kanzlei- und amtssprachlichen so vergleichbar. 4.3 Funktionale Reichweite Unter funktionaler Reichweite verstehe ich die Anzahl der grammatischen Distributionstypen, in denen ein Sprachzeichen in einer bestimmten Funktion vorkommt. Wie erwähnt, tritt die Relativpartikel so in zwei Distributionstypen auf: als SU und als DO. Zusätzlich zu diesen beiden Distributionstypen kommt die Relativpartikel wo in weiteren Distributionstypen vor, von denen hier IO und die Kombination mit einer Präposition erwähnt werden sollen: 116
__________ 116 Zu einem Überblick über alle Distributionstypen in deutschen Dialekten s. Fleischer (im Druck: 224ff.).
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(22) Mr hán scho zwe soonigi, wo-mr nid därf gläubá wir haben schon zwei solche, wo man nicht darf glauben (Niederalemannisch, Beleg nach Noth 1993: 419, zit. nach Fleischer 2005: 8) (23) einen menschen zu kopffen wollen, wegen einer sache wo er nicht vor kann (Liselotte von der Pfalz, Beleg nach Lefevre 1996: 73) 117 Es lässt sich festhalten, dass die Relativpartikel wo eine größere funktionale Reichweite hatte/hat als die Relativpartikel so. 118 5. Abstieg des wo, Ausstieg des so Ich habe dafür argumentiert, dass insgesamt fünf Bedingungen − zwei generelle und drei historische − für den +/−Wandel bei den Relativpartikeln so und wo verantwortlich sind. Dabei hat sich gezeigt, dass der Sprachsystemwandel nur unter Einbeziehung soziopragmatischer − inklusive variationslinguistischer − Faktoren betrachtet werden kann (s. hierzu von Polenz 1995). Tabelle 3 fasst die Argumentation zusammen:
so wo
Parameter
Regulans
Junktionsstruktur
Funktionale Reichweite
Aggregation Aggregation
Distanz
systemwidrig
SU, DO
Nähe
systemkonform
SU, DO, IO, Kombination mit P
sprachreflexiver Status undeutlich, +reflexiv undeutlich, –reflexiv
Tabelle 3: +/−Wandel der Relativpartikeln so und wo
Wie ersichtlich, hat die Relativpartikel so alle Merkmale, die ein (überregionales) Distanzzeichen nicht haben sollte: 1. Es ist aggregierend, d.h. bewirkt einen aggregativen Relativanschluss. 2. Es ist bezüglich der Junktionsstruktur systemwidrig.
__________ 117 Der Beleg entstammt dem von Michel Lefevre transkribierten Briefkorpus der Liselotte von der Pfalz (1652–1722). 118 Dagmar Bittner, der ich für eine kritische Lektüre danke, weist zu Recht darauf hin, dass auch die Funktionsbreite der Formen über Relativkonstruktionen hinaus, d.h. das Homonymiespektrum, ein wandelrelevanter Faktor sein kann.
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3. Es ist im Sinne der rationalistischen Sprachauffassung undeutlich und deshalb negativen sprachreflexiven Urteilen ausgesetzt. Darüber hinaus hat so eine verhältnismäßig eingeschränkte funktionale Reichweite. Dies ist allerdings ein nachrangiges Argument, da die zusätzlichen Distributionstypen von wo lokal sehr stark restringiert sind. Demgegenüber hat die Relativpartikel wo Merkmale, die alle im (dialektalen) Nähebereich zulässig sind: 1. Es ist aggregierend. 2. Es ist bezüglich der Junktionsstruktur systemkonform. 3. Es ist zwar undeutlich, aber als (dialektales) Nähezeichen (negativen) sprachreflexiven Urteilen nicht ausgesetzt. 119 Als Fazit lässt sich die in Abschnitt 2 gestellte Frage wie folgt beantworten: Der ‚historische Patient‘ so ist gestorben, während wo am Leben geblieben ist, weil ihre gemeinsame ‚grammatische Krankheit‘ − die Aggregativität − in unterschiedliche sprachsytematische und soziopragmatische Kontexte eingebettet war. Während in einer vertikalisierten Varietätenarchitektur der eine Kontext lediglich zum Abstieg führt, führt der andere Kontext zum Ausstieg.
Natürlich ist der Abstieg des wo nicht als ‚individueller‘ Abstieg zu verstehen, sondern als Teil der generellen vertikalen Umschichtung, in deren Folge Dialektmerkmale medial, soziologisch, strukturell, sprachgebrauchsgeschichtlich und sprachbewusstseinsgeschichtlich ‚unten‘ ankommen. Die Redeweise von einem ‚−Wandel‘ ist demnach zu präzisieren. ‚−Wandel‘ bedeutet nicht Statik, sondern eine Art dynamischer Stabilität, die den Erhalt einer funktionalen Einheit ermöglicht, die also die sprachsystematischen und soziopragmatischen Grundlagen des Weiterbestands der Einheit nicht zerstört. 6. Aggregation/Integration, Analyse/Synthese und Grammatikalisierung Da der Text, auf dem der vorliegende Beitrag basiert, in der Römer AG „Das ewige Pendel von synthetisch zu analytisch zu synthetisch ... − aktuelle Sprachwandeltendenzen im Deutschen“ vorgetragen wurde, mag manch ein Leser enttäuscht sein, dass hier zwar von „aktuellen Sprachwandeltendenzen im Deutschen“, nicht jedoch von Analyse oder Synthese
__________ 119 Bezeichnenderweise widmet Adelung, der in seinem Wörterbuch der „Hochdeutschen Mundart“ die Relativpartikel so zu verteidigen sucht (s. 3.2), der Relativpartikel wo kein Wort.
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die Rede war. Ich versuche diese Enttäuschung wenigstens zu mildern, indem ich knapp und tentativ eine mögliche Verbindung zwischen Integration und Analytisierung herstelle. Dabei möchte ich aber betonen, dass ich nicht der Auffassung bin, dass Integration und Analytisierung massiv und systematisch zusammenhängen würden. An- und abschließend soll die sicherlich akutere Frage nach der Relation von Aggregation/Integration zur Grammatikalisierung kurz angerissen werden. Analytisierung habe ich an anderer Stelle (Ágel 2006) als den formalen Prozess der Entstehung von Kopfmarkierung und einer exzentrischen Beziehung zwischen Kopf und Kern definiert. 120 Analytisierung impliziert also die strukturelle Trennung von syntaktischem Kopf und lexikalischem Kern. Mit ‚exzentrisch‘ ist gemeint, dass zwischen Kopf und Kern ein einseitiges Abhängigkeitsverhältnis besteht: das Vorkommen des Kerns inklusive des eventuellen Kernflexivs setzt das Vorkommen des Kopfes inklusive des eventuellen Kopfflexivs voraus, aber nicht umgekehrt. In der Geschichte der Nominalgruppe lässt sich die Zeit vor der Analytisierung − also in etwa die Zeit vom Alt- bis Frühnhd. − als eine ‚NPPeriode‘ vorstellen: Es gab keine Trennung zwischen syntaktischem Kopf und lexikalischem Kern, sondern das syntaktisch-lexikalische Zentrum war das Substantiv. In einer solchen Situation besteht viel stärker die Möglichkeit, den syntagmatischen Anschluss der NP nicht nur als eine syntaktische, sondern auch als eine semantische Option wahrzunehmen. Ich denke natürlich an die Constructio ad sensum: (19) [...] meine Mutter mit ihren Kindern stehen an der Hausthüre… (Haniel IV: 19) Meine Hypothese ist also, dass der Abbau dieser aggregativen Struktur von der Analytisierung der Nominalgruppe nicht unabhängig ist. Abschließend soll dem Problem nach der Relation von Aggregation/ Integration zur Grammatikalisierung kurz nachgegangen werden. Denn möglicherweise stellt sich für den Leser weniger die Frage, ob Aggregation/Integration und Analyse/Synthese zusammenhängen, sondern vielmehr die, ob ‚Integration‘ nicht einfach nur ein neuer Name für ‚Grammatikalisierung‘ ist. Etablierte Grammatikalisierungstheorien sind in der Regel zeichenbezogen-kategorial und semasiologisch ausgerichtet. Zeichenbezogen-kategorial, weil durch ihre Parameter Grammatikalisierungspfade rekonstruiert werden, die auf skalierbare Autonomieverluste von einzelnen Sprachzei-
__________ 120 Der Unterschied zwischen Analyse und Periphrase, auf den in dem genannten Beitrag eingegangen wird, soll hier ausgeklammert bleiben.
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chen, die grammatischen Kategorien oder Kategorisierungen subsumiert werden, zurückgehen. Semasiologisch, weil im Zentrum des Forschungsinteresses weniger die möglichen Verbindungen zwischen verschiedenen Pfaden und deren Kategorien/Kategorisierungen stehen, sondern Fragen, die jeweils einzelne Grammatikalisierungspfade betreffen. Ad ‚zeichenbezogene Kategorialität‘. Der primäre Zugriff auf Kategorien und Kategorisierungen über Sprachzeichen ist eine mögliche, jedoch keine zwingende methodologische Option. Man kann im Sinne von Himmelmann (1997) auch der Auffassung sein, dass sich Kategorien und Kategorisierungen erst im Zusammenhang mit der Grammatikalisierung von Elementen (Sprachzeichen) und Konstruktionen verändern. Hinzu kommt, dass Konstruktionen auch entstehen oder sich verändern können, ohne dass man den Wandel auf herkömmliche grammatische Kategorien/Kategorisierungen abbilden könnte. Wenn z. B. ein bestimmter Typ von Vorwärtsellipse im Laufe des Nhd. obligatorisch wird, so ist es durchaus sinnvoll, diesen Wandel als eine Instanz aufgegebener paradigmatischer Variabilität anzusehen, ohne dass hierfür einzelne Sprachzeichen und deren Kategorien verantwortlich gemacht werden könnten. Ad ‚Semasiologizität‘. Grammatikalisierungstheorien beschäftigen sich im Sinne der Sprachwandeltheorie von Eugenio Coseriu mit dem generellen Problem sprachlicher Veränderungen. Für das historische Problem des Sprachwandels, d.h. für die Frage, warum in einer Einzelsprache ein bestimmter Wandel oder eine theoretisch vernetzbare Gruppe von sprachlichen Veränderungen auftritt, sind sie nicht zuständig. Besonders interessant sind dabei historische ‚Vernetzungen‘ von sprachlichen Veränderungen, die oft auch Konstruktionen betreffen und daher nicht oder nur partiell Grammatikalisierungskanälen zugeordnet werden können. Diese Vernetzungen machen eine onomasiologische Herangehensweise erforderlich. Wie am Beispiel der Relativpartikeln so und wo gezeigt, müssen sich historische Erklärungen sowohl mit generellen als auch mit historischen Bedingungen des Sprachwandels oder der dynamischen Stabilität auseinandersetzen. Dabei kommt es notwendigerweise zu einer Verzahnung von sprachsystematischen und soziopragmatischen Erklärungskomponenten. Die Parameter ‚Aggregation‘ und ‚Integration‘ sind kognitiv-kulturgeschichtlich motivierbar (Ágel 2007). Die Beschäftigung mit ihnen ist konstruktionsbezogen und onomasiologisch ausgerichtet. 121 Gegenstand und Herangehensweise stehen somit ‚quer‘ zum Untersuchungsgegenstand und zur Herangehensweise etablierter Grammatikalisierungstheorien.
__________ 121 Mit ‚Konstruktionsbezogenheit‘ ist kein konstruktionsgrammatischer Hintergrund gemeint.
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Schnittmengen zwischen Integration und Grammatikalisierung sind am ehesten als Kondensstreifen zu denken, die sich am methodologischen Himmel der Beschäftigung mit Grammatik kreuzen. 122 Quellen und Literatur Quellen Bauernleben I = Bauernleben im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges. Die Stausebacher Chronik des Caspar Preis 1636–1667. Hg. v. Wilhelm A. Eckhardt und Helmut Klingelhöfer. Mit einer Einführung von Gerhard Menk. Trautvetter & Fischer Nachf.: Marburg/Lahn 1998 (Beiträge zur Hessischen Geschichte 13). Bräker III = Bräker, Ulrich (1789), Lebensgeschichte und natürliche Abenteuer des Armen Mannes im Tockenburg. Berlin: Neues Leben 1985. Briefwechsel V = „Wenn doch dies Elend ein Ende hätte“: ein Briefwechsel aus dem DeutschFranzösischen Krieg 1870/71. Hg. v. Isa Schikorsky. Köln & Weimar: Böhlau 1999 (Selbstzeugnisse der Neuzeit 7). Güntzer I = Güntzer, Augustin (1657): Kleines Biechlin von meinem gantzen Leben. Die Autobiographie eines Elsässer Kannengießers aus dem 17. Jahrhundert. Hg. v. Sebastian Brändle. Köln/Weimar: Böhlau 2002 (Selbstzeugnisse der Neuzeit 8). Haniel IV = Haniel, Franz 1779–1868. Materialien, Dokumente und Untersuchungen zu Leben und Werk des Industriepioniers Franz Haniel. Von Bodo Herzog und Klaus J. Mattheier. Bonn: Röhrscheid 1979 (Veröffentlichungen des Instituts für Geschichtliche Landeskunde der Rheinlande der Universität Bonn). Hexe Schnell I = Prozeß gegen die Frau des Simon Schnell (1700). In: Magyarországi Boszorkányperek. Kisebb forráskiadványok gyűjteménye 2. Hg. v. Gábor Klaniczay, Ildikó Kristóf und Éva Pócs. Budapest: MTA 1989, 754–774.
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__________ 122 Methodische Annäherung und eine Vergrößerung der Schnittmengen sind in erster Linie von der konstruktionsgrammatischen Beschäftigung mit Grammatikalisierung zu erwarten (Diewald 2006).
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+/–Wandel
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Dagmar Bittner Die deutsche Klammerstruktur. Epiphänomen der syntaktischen Realisierung von Assertion und Thema-Rhema-Gliederung Abstract
In opposition to explanations claiming that the Klammerstruktur has the function to guide sentence perception in terms of signalling the boundaries of phrases and to attract the hearer’s attention until the end of the clause it is argued that the Klammerstruktur is an epiphenomenon of the language-specific realization of at least two maxims of information structure: (i) the realization of assertion – [+assertion] is specified by Vfin2 and [-assertion] by Vfin1; (ii) the realization of the theme-rheme structure – the most rhematic constituent is the lexical verb and the unmarked position of the rheme is at the end of the clause. The Klammerstruktur is the by-product of the “contradicting” structural solutions (techniques) for both of these maxims. Further, it will be argued that several processes of language change usually seen as motivated by the assumed perceptual functions of the Klammerstruktur can be explained as consequences or optimizations of these structural solutions.
1. Fragestellung und Hintergründe Es soll hier dafür argumentiert werden, dass das „klammerbildende Verfahren“ des Deutschen (Ronneberger-Sibold 1994), das auch als „parametrisches Merkmal“ (Eroms 2000: 66) der deutschen (und niederländischen) Syntax gilt, ein Resultat der sprachspezifischen Realisierung bestimmter informationsstruktureller Maximen 123 ist. Zentral beteiligt sind m.E.: a) die Maxime, den Illokutionstyp sprachstrukturell zu kennzeichnen, b) die Maxime, die Thema-Rhema-Gliederung sprachstrukturell zu kennzeichnen, c) die Maxime, die Informationsgliederung (Determinationshierarchie) innerhalb von Konstituenten sprachstrukturell zu kennzeichnen. Die genannten Maximen repräsentieren universelle Anforderungen, die durch jede Sprache zu realisieren sind. Sie können unabhängig aus kommunikativen Erfordernissen begründet werden. Im Gegensatz dazu ist eine klammerbildende Syntax eine sprachspezifische Kodierungstechnik.
__________ 123 Ich verwende den Terminus Maxime, um theorieabhängigen Festlegungen des Terminus Prinzip zu entgehen.
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Sie kann nur einen semiotischen Informationswert im Sinne einer systemspezifisch erwartbaren (präsupponierbaren) Informationsverteilung besitzen, jedoch keinen informationsstrukturellen Eigenwert. Dies ist bei der Suche nach der Funktion der Klammer zu bedenken. Damit ist gesagt, dass hier der Annahme widersprochen werden soll, die Klammer diene der Realisierung eines Spannungsbogens im deutschen Satz (s. u.a. Eroms 1993, 2000) bzw. der Aufrechterhaltung der Aufmerksamkeit des Hörers und der Markierung von Phrasengrenzen (Ronneberger-Sibold 1991, 1994, Dalmas & Vinckel 2006, Nübling et al. 2006). Sollte dies zutreffen, wäre in nichtzirkulärer Weise zu zeigen, durch welche Eigenschaften Sprachen wie das Deutsche und das Niederländische dem Hörer das Verständnis der meisten syntaktischen Phrasen so erschweren, dass entsprechende unterstützende Mittel nötig sind. Warum es per se ein rezeptiver Vorzug sein soll, inhaltliche Informationen bis zum bitteren Ende vorenthalten zu bekommen, wäre auch erst noch konfrontativ, d.h. in Gegenüberstellung mit nicht-klammernden Sprachen, zu begründen. 124 Die Diskussion dieser Thematik im Rahmen dieses Sammelbandes resultiert aus dem Faktum, dass die Klammerbildung – genauer die Durchsetzung analytischer Strukturen mit Distanzstellung – häufig als primäre Motivation für aktuell verlaufende Sprachwandelprozesse betrachtet wird (s. u.a. Thurmair 1991, Nübling et al. 2006). Die jeweiligen Wandelprozesse fänden statt, weil ein struktureller Zwang zur Durchsetzung der Klammerstruktur bestünde. Wenn Spannungsbogen und Grenzmarkierung als Funktionswerte der Klammer bezweifelt werden, wie ich es tue, bliebe nur die Annahme, es handelt sich um die Grammatikalisierung einer zufällig entstandenen Realisierungsform analytischer Strukturen. Hier stimme ich nun aber mit Ronneberger-Sibold (1991: 207) in der Annahme überein, dass der Aufbau einer solchen syntaktischen Struktur ohne funktionale Motivation schwer vorstellbar ist. Zwar ist eine Grammatikalisierung der Klammer im Interesse einer einheitlich organisierten Syntax prinzipiell vorstellbar – Vergleichbares findet sich z.Bsp. bei der Setzung des definiten Artikels bei Unika und Eigennamen (der Mond, die Maria) oder bei der Ausdehnung der Perfektbildung auf additive Verben (Leiss 1992: 271ff.) -, die Ablösung der Klammerbildung von – noch genauer zu bestimmenden – informationsstrukturellen Bedingungen müsste aber erst gezeigt werden. Der Zusammenhang von Klammerstruktur und analytischer Strukturbildung wird im Folgenden nicht weiter verfolgt. Die Kopplung an die Herausbildung von Artikel und analytischen Verbformen wird als gesi-
__________ 124 Thurmair (1991) argumentiert schlüssig gegen die Annahme besonderer Kapazitätsprobleme für das Kurzzeitgedächtnis, unterstützt jedoch die Auffassung, die Klammerstruktur biete einen speziellen Spannungsbogen.
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chert betrachtet. Damit ist nicht gesagt, dass jede analytische Struktur in eine Klammerbildung mündet. Die historischen Prozesse – u.a. die primären Entstehungszusammenhänge und die Schritte zu einer „parametrischen“ Durchsetzung der Distanzstellung bei nahezu allen determinierten Phrasen – müssen noch im Detail untersucht werden (für einen Überblick vgl. Primus 1997). In der vorliegenden Arbeit wird der Blick ganz und gar auf das Gegenwartsdeutsche gerichtet sein. Auch die m.E. durchaus problematische Definition der Klammer und die damit verbundene Heterogenität der postulierten Klammertypen wird im folgenden nicht diskutiert – eventuell ergibt sich aber aus den angeführten informationsstrukturellen Hintergründen eine Perspektive auf eine tragfähige(re) Definition. Es wird hier darum gehen zu motivieren, dass die sprachspezifischen Kodierungstechniken für die in a) bis c) genannten informationsstrukturellen Maximen zur Klammerbildung führen (Abschnitt 2). Die einschlägigen Argumente können aktuellen Arbeiten zu diesen Strukturphänomenen entnommen werden. Ich werde in Abschnitt 2.1 auf W. Kleins Arbeiten zur Realisierung von Finitheit und Assertion (Klein 1998, 2006) und in Abschnitt 2.2 auf W. Abrahams sowie W. Abrahams und A. Fischers Ausführungen zu Thema-Rhema-Gliederung und Klammerstruktur (Abraham in diesem Band, Abraham & Fischer 1998) zurückgreifen. Nach einer Zusammenfassung der gewonnenen Einsichten, die insbesondere die sogenannte Verbklammer betreffen (Abschnitt 2.3), wird in Abschnitt 3 die Distanzstellung in den übrigen Konstituenten in den Blick genommen. Dazu werde ich u.a. auf L. M. Eichingers Arbeit zur Nominalklammer (Eichinger 1993) sowie auf B. Primus (1997) zurückgreifen. Es ließen sich noch zahlreiche weitere Quellen nutzen bzw. die hier verwendeten auf frühere Arbeiten zurückführen; die Konzentration auf die jüngere Literatur dient der Einbettung der Überlegungen in aktuelle Debatten. In Abschnitt 4 werden aktuelle Sprachwandelprozesse daraufhin untersucht, ob sie durch die aufgezeigten Kodierungstechniken für die Maximen a) bis c) determiniert sind oder ob eine Tendenz zur Loslösung von diesen informationsstrukturellen Hintergründen durch die Grammatikalisierung der syntaktischen Stellungsoptionen erkennbar ist. Abschnitt 5 fasst die Ergebnisse zusammen und enthält das Resümee. 2. Syntaktische Realisierung von Assertion, Finitheit und Thema-Rhema-Gliederung 2.1 Assertion und Finitheit In Bezug auf die hier verfolgte Fragestellung kann die Quintessenz von Kleins Ausführungen zur Realisierung von Finitheit und Assertion im
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Deutschen (Klein 1998, 2006) folgendermaßen verstanden werden: Die syntaktische Festlegung der Position des finiten Verbs dient der Symbolisierung von [+/–Assertion]. 125 Die Opposition von Verb-Erst- und Verb-Zweitstellung realisiert die illokutive Basisopposition [+/–Assertion]. Verb-Zweitstellung signalisiert die Assertion der Prädikation (bei Klein „sentence base“) für das präverbal gesetzte Topik („topic component“) bzw. die Frage nach der Assertionsdomäne der Prädikation. Im ersten Fall ist der resultierende Satz ein Deklarativsatz (1), im zweiten Fall ein W-Fragesatz (2). (1) a. Das Laub fällt im Herbst auf die Straße. b. Im Herbst fällt das Laub auf die Straße. (2) a. Was fällt auf die Straße? b. Wann fällt das Laub auf die Straße? In Opposition dazu signalisiert Verb-Erststellung Nicht-Assertion, wobei mit Hilfe weiterer struktureller Mittel wiederum verschiedene Typen nicht-assertiver Illokutionen unterschieden werden. Ja-Nein-Fragesätze erfragen das Nicht/Vorliegen von Assertion (3); Imperativsätze benennen einen nicht/erwünschten jedoch faktisch nicht existierenden Sachverhalt (4); und der von Klein angeführte dritte Typ mit konjunktivischem finiten Verb benennt hypothetische Sachverhalte (5). 126 (3) a. Fällt das Laub im Herbst auf die Straße? (4) a. Fall (nicht) auf die Straße.
__________ 125 Unter Assertion wird die vom Sprecher unterstellte Gültigkeit der Satzaussage (sentence base) in einer möglichen Welt verstanden (Klein 2006: 261f.). 126 Auch die drei folgenden Satzstrukturen zeigen m.E. die beschriebene Korrelation von Verbstellung und Assertion: a) Verb-Zweit-Fragesätze wie Er schreibt Bücher?. Man kann argumentieren, dass der Sprecher einen vom Adressaten assertierten Sachverhalt wiedergibt und diesen hinterfragt: Ist es wahr: er schreibt Bücher? (vgl. Gunlogson 2001 für das Englische). b) Sätze mit Modalverb in Verb-Zweit-Position wie Peter will/soll schnell laufen. In nichtepistemischer Lesart wird die Kenntnis eines Sachverhalts assertiert: Es ist wahr, dass Peter beschlossen hat schnell zu laufen bzw. Es ist wahr, dass X von Peter fordert schnell zu laufen. In epistemischer Lesart wird wie in a) die Annahme eines Sachverhalts durch eine dritte Person assertiert, Ich weiß, dass X annimmt, dass Peter schnell laufen kann. c) Verb-Erst-Stellung in Sätzen wie Hat sie mich doch/also angelogen! Hier ist eine fakultativ leerbleibende Satzerstposition annehmbar: So/da hat sie mich doch angelogen; so dass das finite Verb auch hier in V2 steht.
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(5) a. Fiele das Laub auf die Straße, gäbe es Ärger mit den Nachbarn. b. Fiele das Laub nur (nicht) auf die Straße! Subordinierte Sätze mit dem finiten Verb in Letzt-Stellung haben keinen festgelegten Assertionswert (Klein 2006: 264). Typischerweise sind sie Argumente des übergeordneten Satzes, der auch die Illokution des Gesamtsatzes determiniert. Die Verb-Letzt-Stellung ist somit neutral hinsichtlich Assertion. Dieser Befund ist in zweierlei Hinsicht interessant. Er stützt zum einen die Annahme, dass die Letzt-Position die topologische Grundstellung des Verbs ist; jede andere Stellung des finiten Verbs hat klar determinierte grammatische Funktionen – im Deutschen die Funktion der Assertionsanzeige. Desweiteren motiviert diese Neutralität Abweichungen von der Letzt-Position des finiten Verbs wie sie z.Bsp. in dreigliedrigen Verbkomplexen auftreten, vgl. dass er es sollte vergessen haben; ob sie es ihm wird sagen müssen; wann er ihn hat kommen hören. Für die Standardsprache wird die Verstärkung der Letzt-Stellung der finiten Formen von werden und Modalverben seit dem 18. Jh. berichtet (6), vgl. Härd (1981, 2003). Inzwischen ist dies auch für die finiten Formen von haben zu beobachten (7) (vgl. auch Mortelmanns & Smirnova, in diesem Band, zu Verbkomplexen mit würde). In den Dialekten finden sich regulär alle Positionsmöglichkeiten (8), vgl. Eroms (1993). (6) a. dass er es sollte vergessen haben > dass er es vergessen haben sollte b. ob sie es ihm wird sagen müssen > ob sie es ihm sagen müssen wird (7) a. dass er es hätte vergessen können > dass er es vergessen können hätte b. warum er ihn hat kommen lassen > warum er ihn kommen lassen hat (8) a. obwohl man sie hat singen hören b. obwohl man sie singen hat hören c. obwohl man sie singen hören hat Die relative Stellungsvariabilität motiviert die Annahme, dass die LetztPosition nicht exakt dem finiten Verb zugedacht ist, sondern der gesamten Verbform – und damit wie bei klammernder Erst- und Zweit-Stellung des finiten Verbs – primär dem lexikalischen Teil der Verbform. Dies wird
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auch in der topologischen Beschreibung des Satzes mit der Einordnung der gesamten Verbform in die rechte Klammerposition unterstellt. Es ist für unsere Überlegungen wichtig, den von Klein aufgezeigten Zusammenhang von Finitheit und Assertionssymbolisierung zu betonen. In analytischen (inklusive periphrastischen) Verbkonstruktionen steht bekanntermaßen allein das Auxiliar in der Finitheitsposition, in Kopulakonstruktionen allein die Kopula. Für die Symbolisierung von [+/–Assertion] ist die Besetzung der Erst- oder Zweit-Position durch die finite Verbeinheit entscheidend, es besteht keine strukturelle Notwendigkeit hier lexikalische Einheiten der VP zu realisieren. In noch radikalerer Sicht nimmt Abraham eine generelle Filterbedingung „Vermeide lexikalische Merkmale in Comp“ für das gesprochene Deutsch an (Abraham in diesem Band: 266). Akzeptiert man die These von der Satz-Letzt-Position als Basisposition des lexikalischen Verbs (dazu mehr in Abschnitt 2.2), ist jede andere Position für den lexikalischen Teil der VP markiert. Analytische Verbkonstruktionen erlauben es, beiden strukturellen Anforderungen – Assertionssymbolisierung am linken und Positionierung der lexikalischen Verbinformation am rechten Satzrand – gerecht zu werden. Synthetische Verbkonstruktionen erzwingen die Verletzung einer der beiden Anforderungen. Die konsistente Lösung dieses Konflikts zugunsten der Assertionssymbolisierung zeigt die stärkere Grammatikalisierung der informationsstrukturellen Maxime a) an. 127 Auch die seit dem Althochdeutschen beobachtbare Tendenz zur Ersetzung synthetischer durch analytische Verbformen verweist auf eine zunehmende Grammatikalisierung der Finitheitsposition 128 – und in der Folge möglicherweise auch der SatzLetzt-Position, sollte diese damit einhergehend stets durch die nichtfiniten Verbeinheiten zu besetzen sein. Für die gegenwärtigen Verhältnisse wäre letzteres aber – wie unten zu sehen – ein voreiliges Postulat.
__________ 127 Beim finiten Verb dominiert die Assertionsanzeige auch klar über die Tempusanzeige. Tempus wird in Futur- und Passivformen erst in der Kombination der finiten und nichtfiniten Einheiten disambiguiert, vgl. er wird das Buch lesen vs. … gelesen haben; er wird gefragt vs. er wird gefragt werden vs. er wird gefragt worden sein. Dagegen ist mit jeder finiten Verbeinheit via toplogischer Position klar +Assertion oder –Assertion oder assertive Neutralität spezifiziert. 128 Es sei hier auf die Annahme verwiesen (vgl. z.B. Abraham in diesem Band, Abraham & Fischer 1998, Eroms 1984 für das Bairische), dass synthetische Verbformen in der gesprochenen Sprache der deutschen Dialekte schon historisch nur in sehr eingeschränkten Kontexten existier(t)en. Ihre relativ starke Präsenz im Präsens und Präteritum der deutschen Standardsprache wird als Rückwirkung der stark normierten Schriftsprache auf die gesprochene „Standardsprache“ betrachtet.
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2.2 Thema-Rhema-Gliederung Sätze ohne Kontrastmerkmale weisen bekanntlich ein von links nach rechts verlaufendes Definitheitsgefälle bei den syntaktischen Einheiten auf (vgl. u.a. Leiss 1992). Die „indefiniteste“ Einheit des Satzes ist das lexikalische Verb, womit sich auch und primär aus dieser Perspektive die LetztPosition als seine topologische Grundposition ergibt. Im Deutschen, „das diskursgrammatische Voraussetzungen direkt wortstellungsgrammatisch übersetzt“ (Abraham in diesem Band: xx) korrespondiert diese natürliche Serialisierung mit der syntaktischen Thema-Rhema-Gliederung. „Links dürfen im unbetonten Satz des Deutschen nur Themata stehen, das Verbprädikat ist ununterschiedlich rhematisch, muss demgemäß … weit rechts stehen.“ (ebd.). 129 Abraham & Fischer (1998) führen den oben bereits angedeuteten Zusammenhang von Klammerbildung und Thema-RhemaGliederung noch etwas weiter aus. Diskutiert wird die strukturelle Funktion der analytischen Verbformbildung am Beispiel der oberdeutschen Verwendung von tun als Hilfsverb (s. auch Eroms 1984). Die für unseren Zusammenhang zentrale Aussage ist: „Andererseits erlaubt auxiliares tun die Besetzung der grammatischen Rhemaposition durch die infinite Vollverbform (gegen eine unbesetzte Rhemaposition)“ (ebd.: 41) und weiter: „Das Satzende ist unter Fokusneutralität ausnahmslos ein akzentprominenter Ort, …, [dort] steht […] das Satzrhema, sofern es nicht aufgrund von Kontrastfokus aus dieser Stelle herausgerückt ist.“ (ebd.: 42). 130 Damit kann auf die oben bereits ausgeführte Gegensätzlichkeit der satzsyntaktischen Realisierungsbedingungen von Assertions- und Rhemainformation zurückverwiesen werden – und auf die Feststellung, dass diese sich durch klammerbildende analytische Verbformen kodierungstechnisch beherrschen lässt. Aus dieser Perspektive und ganz im Sinne von Abrahams Filterbedingung „Vermeide lexikalische Merkmale in Comp“ motiviert sich auch die Klammerstellung von Partikel- (9) und „unfesten“ (Wurzel 1993) Inkorporierungsverben (10). Ist keine analytische Verbform verfügbar, muss das Vollverb aufgrund der syntaktischen Priorität der Assertionssymboli-
__________ 129 Aus dem bisher Gesagten ergibt sich eine Motivation für die „Prädikatisierung“ bzw. Entnominalisierung von ehemals nominal flektierenden Einheiten wie dem Partizip und prädikativen Adjektiven, vgl. ahd. si eigun inan ginomanan > nhd. sie haben ihn genommen (zitiert aus Härd 2003: 2576; vgl. auch die dortigen Ausführungen), ahd. der man ist blinter > nhd. der mann ist blind. Diese Einheiten werden nach der Entfernung des Verbs aus der rhematischen Letzt-Position gewissermaßen ersatzweise verbartig (indefinit) gemacht und füllen so die entstandene Leerposition in der informationsstrukturell erwarteten Weise. 130 M.a.W., die Satz-Letzt-Position ist die ultimative Rhemaposition. Dies verweist auch darauf, dass die Markierung von Kontrastfokus durch Kontrastakzent erst notwendig wird, wenn das Vollverb nicht mehr aus der Letzt-Position versetzt werden kann; d.h. wenn es keine Alternative zu analytischen Verbformen gibt.
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sierung in die Erst- oder Zweit-Position gestellt werden. Jedoch nur soviel Verb wie zur Realisierung von Finitheit unvermeidbar! (9) a. Das Laub fällt im Herbst von den Bäumen ab/runter. b. Fällt das Laub im Herbst von den Bäumen ab/runter? (10) a. Gustav fährt mit der lieben Kerstin am Müggelsee Rad. b. Fährt Gustav mit der lieben Kerstin am Müggelsee Rad? (Bsp. adaptiert aus Wurzel 1993: 114) Die akzentuierten lexikalischen Prädikatseinheiten folgen den Regeln der natürlichen Serialisierung (Definitheitsgefälle) und der Thema-RhemaGliederung und verbleiben am Satzende. In Abraham & Fischer (1998) finden sich weitere Hinweise darauf, dass – zumindest in den oberdeutschen Dialekten – die Endstellung des Vollverbs nicht durch ein „Satz- oder Verbklammer-Prinzip“ erzwungen wird, sondern diese aus der satzstrukturellen Realisierung der ThemaRhema-Gliederung folgt: a) „Ist jedoch VP zumindest durch ein Element in der Basisposition [= im grammatischen Satzakzent, DB.] besetzt, dann braucht das Verb nicht in der 2. Verbklammer stehenzubleiben; demzufolge unterbleibt tun zur Sicherung der Fin-Besetzung.“ (ebd.: 41). M.a.W. wenn das Rhema nicht durch das lexikalische Verb, sondern durch eine NP, PP oder ein Adverbial realisiert wird, kann die Fin-Besetzung – ohne Verletzung einer der beiden informationsstrukturellen Maximen – durch das Vollverb erfolgen. b) Neben analytischen Konjunktiven mit tun stehen „synthetische Konkurrenzformen“: Hochalemann. ’r hot gset, ’r tet ko / ’r kemi; Bairisch/Österreich. ea hot gsogt, ea dad kumma / ea kamat ‚er hat gesagt, er würde kommen‘ (ebd.: 37). Nach den vorgestellten Annahmen ist zu erwarten, dass – solange beide Konstruktionen gleichwertig sind - in komplexeren Sätzen die Wahl in Abhängigkeit vom rhematischen Schwerpunkt erfolgt: er hat gesagt, er käme morgen vs. …, er tät morgen kommen. c) Hinsichtlich der Akzeptanz der tun-Periphrase „[i]n abhängigen Sätzen … - übrigens quer über alle semantischen Verbklassen hinweg – beobachtet Eroms prinzipiell stärkere Reserviertheit unter seinen Informanten des Bairischen … (Eroms 1984:130).“ (ebd.: 40). Die Vermeidung der analytischen Konstruktion erspart die „anti-rhematische“ Besetzung der Letzt-Position durch die finite Verbeinheit im Nebensatz.
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Einen dazu passenden Befund präsentiert Schwarz (2004). Seine aktuelle Erhebung zur Verwendung der tun-Periphrase im Mittelalemannischen zeigt u.a., dass die Periphrase deutlich seltener in Verbindung mit Partikelverben produziert (30% gegen 70%) bzw. akzeptiert wird (nicht akzeptiert: Siäsch doch, er duet grad d’Stägä abikaiä – akzeptiert: Siäsch doch, er kait grad d’Stägä abi ‚Siehst doch, er tut grad die Stiege runterfallen - …, er fällt grad die Stiege runter.‘). Enthält das Vollverb die für die Besetzung der Finitheits- und der Rhemaposition erforderlichen Elemente, ist die Periphrase – solange synthetische und analytische Konstruktion gleichbedeutend sind – nicht erforderlich. Die Dominanz der Thema-Rhema-Gliederung über die Klammerstruktur wird auch in verschiedenen standardsprachlichen Konstruktionen deutlich, vgl (11). Rhematisch gesteuerte Letzt-Stellung ohne artikulatorisch angezeigte Ausklammerung wie in sie hat den Artikel fertig geschrieben, endlich ist kein Sonderfall. (11) a. Er war vergnügt an diesem Abend. b. Setz dich her zu mir. c. Wir Frauen müssen weitergehen auf dem Marsch durch die Institutionen. (Zitat Angela Merkel; aus Nübling et al. 2006: 93) In Kontraststrukturen werden – ganz der syntaktischen Realisierung der Thema-Rhema-Gliederung folgend – topikalisierte (=thematische) Einheiten an den linken Satzrand (12) und fokussierte (=rhematische) Einheiten durch Ausklammerung an den rechten Satzrand verschoben (13). (12) a. Den Vater sucht das Kind seit einer Stunde. b. Mit Steinen hat Hans die Mauer beworfen. (13) a. Er ist ins Schleudern gekommen, mit dem Opel. b. Irene hat ihm den Stern gezeigt, heute morgen. Die Thema-Rhema-Abfolge dominiert nicht nur auf der Satz- sondern auch auf der Phrasenebene, vgl. die Möglichkeit der NP-Spaltung wenn das Nomen topikalisiert, die Adjektiv- bzw. Determiniererinformation aber rhematisiert ist (14) (s. a. Duden-Grammatik 2006: §1380). (14) a. Kartoffeln benötige ich mindestens 3 Kilo. b. Bananen isst Vroni keine reifen. c. Reife Bananen hat Vroni keine gegessen.
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d. Ein Kleid hat sie sich ein blaues gewünscht. Scheinbar im Widerspruch zur postulierten Korrelation von LetztPosition und Satzrhema stehen Kontexte, in denen nicht das letzte Wort des Satzes den rhematischen Informationsschwerpunkt bildet. Dies sind alle Nebensätze mit Auxiliar oder Kopula in Letzt-Position (15) sowie alle Sätze mit analytischen Verbformen, in denen nicht das lexikalische Verb das Rhema bildet (16). (15) a. Ich weiss, dass das Laub im letzten Herbst verBRANNT wurde. b. Ich weiss, dass das Laub im letzten Herbst sehr BUNT war. (16) a. Das Laub wird erst im HERBST verbrannt. b. Das Laub wird im HERBST bunt. Für die Fälle mit Letzt-Position von Auxiliar oder Kopula lässt sich postulieren, dass die Regularitäten der Thema-Rhema-Gliederung für Einheiten gelten, die lexikalische Information transportieren, und damit durch die genannten Strukturen nicht verletzt werden. Abraham & Fischer (1998: 42f.) weisen auf die Unbetontheit von Auxiliar und Kopula in diesen Strukturen hin. Sie erhalten nicht den grammatischen Satzakzent. Mit Verweis auf die Möglichkeit der Ausklammerung (13), die ebenfalls bewirkt, dass der Einheit mit dem grammatischen Satzakzent eine weitere Einheit folgt, schlagen Abraham & Fischer vor zu überprüfen, ob dies „der Sicherung [ein]er daktylischen bzw. trochäischen Satzendprosodie“ (ebd.: 42) dient. Dies sollte dann aber auch für Sätze gelten, in denen das Vollverb in Letzt-Position einer akzentuierten rhematischen Einheit folgt (16). In diesen Fällen nehmen Abraham & Fischer aber Kontrastakzent an (ebd.: 42, Bsp (23a)). Mir scheint die Annahme der Bindung des Satzakzents an die Rhemaauszeichnung erklärungskräftiger, da z.B. Ausklammerungen nicht in gleicher Weise unbetont sind wie die Verbeinheiten in (15) und (16). Eher kann man auch hier von einem – zusätzlich zum grammatischen Satzakzent auftretenden – Kontrastakzent sprechen. 2.3 Fazit: Status der Verbklammer Wenn die angeführten Feststellungen zur syntaktischen Kennzeichnung von Assertion und Rhema zutreffen, muss die Verbklammer des Deutschen als Resultat dieser sprachspezifischen Kodierungsfestlegungen gesehen werden. Sie resultiert dann zwangsläufig (und damit sekundär) aus der gegensätzlichen syntaktischen Kodierung von Nicht/Assertion und
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Thema-Rhema-Gliederung. Die in den genannten Arbeiten postulierten Kodierungsbedingungen sind kurz zusammengefasst: a) Die illokutive Opposition [+/– Assertion] wird durch Zweit- vs. ErstPosition des finiten Verbs realisiert (Klein 2006). b) Die Thema-Rhema-Gliederung ist an die natürliche Serialisierung und damit ein vom Satzanfang zum Satzende verlaufendes Definitheitsgefälle gekoppelt. Das lexikalische Verb ist die indefiniteste und damit prototypischerweise die rhematischste Einheit des Satzes. Daraus ergibt sich die Letzt-Position als topologische Grundposition des lexikalischen Verbs. Es wird nur dann aus dieser Position versetzt, wenn eine andere Satzeinheit als Rhema fokussiert wird (Leiss 1992, Abraham & Fischer 1998, Abraham in diesem Band). Die Trennung von finiten und lexikalischen Verbeinheiten, d.h. die analytische Verb- bzw. Prädikatskonstruktion repräsentiert die einzig mögliche kodierungstechnische Lösung für diese widerstreitenden Realisierungsbedingungen. Unter der funktionalen Prämisse, dass Kodierungsregularitäten außersprachliche, in diesem Fall informationsstrukturelle Anforderungen umsetzen, ist die Verbklammer ein Epiphänomen der sprachspezifischen syntaktischen Realisierung der genannten informationsstrukturellen Maximen. Sie hat aus diesem Grund keine eigenständige Funktion, d.h. keinen spezifischen Informationswert. Es sei noch einmal darauf verwiesen, dass die Assertionskennzeichnung durch Verb-Erst- bzw. -Zweit-Stellung stärker syntaktisiert ist als die assertiv neutrale Verb-Letzt-Stellung im Nebensatz, vgl. (6) und (7) sowie auch die rhemaorientierte Verbstellung in nicht-komplexen Prädikaten in etlichen Dialekten, vgl. ob er’s hat gemalt; ob er hat gemalt das Bild. 3. Informationsgliederung innerhalb von Konstituenten Auch wenn Eroms (1993: 18) davor warnt, die Verbklammer als Modell für die anderen Klammertypen des Deutschen zu benutzen, so scheinen doch hier die Hintergründe für die Distanzstellung am klarsten erfassbar zu sein. Hinsichtlich der historischen Etablierung der verschiedenen Typen von Distanzstellung (Klammertypen) geht die weniger prototypische Präpositionalklammer 131 (voralthochdeutsch) der Artikel- und der Neben-
__________ 131 Einerseits sind die Präpositionen Funktionswörter mit lexikalischen Bedeutungsanteilen, die eben bei den übrigen klammeröffnenden Einheiten nicht vorliegen. Andererseits teilen sie sich bei nachfolgendem Determinierer mit diesem den gleichen lexikalischen Kopf. Hier stößt man auf die Problematik einer einheitlichen Klammerdefinition, s. auch Primus’
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satzklammer (althochdeutsch) voraus. Sie kommt jedoch schon wegen der inhaltlichen und numerischen Marginalität von Präpositionalausdrücken nicht als prägendes Muster in Frage. Die Verbklammer scheint erst zum Ausgang des Althochdeutschen obligatorisch zu werden. 132 Für die empirische Beantwortung der Frage, ob es historisch modellbildende Wirkungen früher Formen von Distanzstellung auf spätere gegeben hat, fehlt eine detaillierte Zusammenschau der Entstehungsphasen und -bedingungen. Theoretisch kann man davon ausgehen, dass die Umstrukturierung des syntaktischen Systems auch durch Tendenzen zu einer einheitlichen syntaktischen Strukturierung von Phrasen – im Sinne der Einheitlichkeit und Systematizität der Strukturbildung (s. Wurzels Begriff „systemdefinierende Struktureigenschaften“; Wurzel 1984) bestimmt wurde. Noch zu klären sind die Gründe und Auslöser für diesen Wandelprozess. Konstatieren kann man im Moment, dass mit der Herausbildung und zunehmenden Obligatorizität der Artikel und subordinierenden Konjunktionen bestimmte syntaktische Phrasen ein grammatisches Auftaktelement erhielten. Die Links-Stellung solcher Elemente dominiert sprachübergreifend und war im Deutschen bereits bei den Präpositionen etabliert. Rechts-Stellung ist vielfach als Suffigierung realisiert. Eine kognitive Präferenz für eine der beiden Positionen ist m.E. nicht zu unterstellen. 133 Kognitiv nicht präferiert ist eine Mittelposition von grammatischer Information, die die gesamte Phrase im Skopus hat. Im Deutschen ist Prädetermina-tion oder, wie Sonderegger es nennt, progressive Steuerung (Sonderegger 1979: 243f.) die gewählte Kodierungsvariante. Dies kann als arbiträre Wahl zwischen zwei möglichen Kodierungstechniken verstanden werden. Akzeptiert man jedoch die in Abschnitt 2 dargelegten Hintergründe der Klammerbildung im Hauptsatz, kann über eine entsprechende Parallelität in der Syntax der übrigen klammerbildenden Konstituenten nachgedacht werden. Die größte Parallelität besteht in der Besetzung der Letzt-Position mit dem lexikalische(re)n Teil der Klammerkonstituente. (17) gibt die ein-schlägigen, in Eroms’ (1993) aufgelisteten Klammertypen und Beispiele. (17) a. Nominalklammer: der schöne neue hölzerne Tisch b. Präpositionalklammer: auf dem schönen neuen hölzernen Tisch aus Spanien
__________ Einschränkung nur grammatikalisierte Präpositionen als funktionale Köpfe zu werten (Primus 1997: 139). 132 Für einen Überblick mit Bezug auf die Klammerstellung vgl. Thurmair (1991), Primus (1997). 133 Vgl. dagegen für die Wortebene die Überlegungen zu Wortstrukturregularitäten von Leiss (1995).
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c. Konjunktionalklammer: obgleich er das gelesen hatte d. NP-Negationsklammer: keine große blumengeschmückte Vase e. Satz-Negationsklammer: man darf hier nicht auf den Stühlen stehen/ dass man hier nicht auf den Stühlen stehen darf f. Adverbialklammer:: da werde ich viel von erzählen / dass ich da viel von erzählen werde g. Fragesatzklammer(?) 134 : wo kommt die Pistole her? In den Klammern auf Satzebene (Konjunktional-, Satz-Negations- und Fragesatzklammer) fällt der rechte Klammerteil mit dem der Verbphrase zusammen. Er enthält somit auch in diesen Fällen das prototypische Satzrhema. Dass auch in den anderen Klammertypen, der Informationsschwerpunkt im rechten Phrasenteil liegt, hier also „phrasenrhematische“ Information steht, wurde bereits in Abschnitt 2.2 angemerkt. Neben den ausgesprochenen Kontraststrukturen in (14) gibt es „unmarkiertere“ Möglichkeiten, die klammerschließende Einheit anders zu positionieren, wenn der Informationsschwerpunkt nicht auf dieser Einheit liegt. (18) a. b. c. d. e.
der hölzerne Tisch – der Tisch aus Holz auf Omas altem Tisch – auf dem alten Tisch von (der) Oma sie mag keine grünen Bananen – grüne Bananen mag sie nicht weil er mit den Nerven fertig ist – weil er fertig ist mit den Neven da hat er lange gekämpft für – da hat er lange für gekämpft
Alle postulierten Klammertypen weisen damit die gleiche syntaktische Kodierungstechnik für die Kennzeichnung der „rhematischsten“ Informationseinheit auf. Sie steht in Letzt-Position. Nur prototypischerweise handelt es sich dabei um den klammerschließenden lexikalischen Kopf (Primus 1997), andere Einheiten sind möglich. Die sich andeutende Parallelität der Thema-Rhema-Gliederung auf Phrasen- und Satzebene wird durch Untersuchungen zu Stellungsregularitäten innerhalb der postulierten nominalen Klammertypen bestätigt. Das primär für die Bildung von Komposita geltende Kopf-Rechts-Prinzip wiederholt sich in diesen Phrasen als Links-Rechts-Determinationsrichtung (u.a. Eichinger 1993, Eisenberg 2004). Die vorangehenden Einheiten determinieren die nachfolgenden und insgesamt die typischerweise rechts stehende klammerschließende Einheit. Eichinger (1993: 89) hebt die
__________ 134 Dieser Klammertyp wird von Eroms (1993: 17) als separater Typ angeführt, aber nicht benannt.
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strukturelle Parallelität beider primärer Klammertypen (satzwertige und nominale) hervor und verweist zugleich auf die funktionalen Gemeinsamkeiten der klammeröffnenden und –schließenden Einheiten: Tatsächlich sind aber weder die Satz- noch die Nominalklammer Rahmen mit keinem oder beliebigem Inhalt, … . […] … beide Arten von Klammern haben als linken Pol einen, an den sich die in der Wirklichkeit oder im Text situierenden Elemente anhängen, und als rechten Teil das eigentlich informative Element mit seinen typischen Modifikatoren.
Die Überlegungen zu strukturellen Gemeinsamkeiten der verschiedenen Klammertypen, insbesondere zur Bedeutung und partiellen Parallelität von Finitheit und Definit, die eine Voraussetzung der Klammerbildung zu sein scheinen, ließen sich weiter vertiefen. Dies soll jedoch hier nicht verfolgt werden. Wir sind bereits jetzt in der Lage, eine Antwort auf die Frage zu geben, wodurch die Distanzstellung in den neben der Verbklammer auftretenden bzw. postulierten Klammertypen motiviert ist. Aus den Ausführungen ergibt sich zunächst, dass die Besetzung der klammerschließenden Position der Kodierungsregel „Rhema-Rechts“ bzw. - bei nicht-satzwertigen (= nominalen) Klammern - der Kodierungsregel „Links-Rechts-Determination“ unterliegt. Damit ist der rechte Rand der Phrasen funktional besetzt und für die phrasenmodifizierenden Funktionswörter nicht zugänglich. Für letztere bleibt als topologischer Landeplatz nur die linke, klammeröffnende Position. Das zugrundeliegende informationsstrukturelle Prinzip ist die natürliche Serialisierung von Informationseinheiten, die sich in der Anordnungsfolge vom Thema zum Rhema bzw. der Links-Rechts-Determination manifestiert. Die logische Folge der Linksstellung funktionaler Elemente, die die gesamte Phrase im Skopus haben, führt zwangsläufig zur Klammerstruktur. Die Klammerstruktur erweist sich damit auch beim Blick auf die Gesamtheit der postulierten Klammertypen als Epiphänomen der kodierungstechnischen Umsetzung informationsstruktureller Maximen. Und deshalb noch mal: Die für das Deutsche tatsächlich parametrische Klammerstruktur schöpft ihre Daseinsberechtigung nicht aus einer speziellen, nur ihr eigenen Funktion. Sie hat als Kodierungs t e c h n i k so wenig eine eigenständige Funktion wie Präfigierung oder Suffigierung. 4. „Klammerstärkende“ Wandelprozesse? Es ist bereits deutlich geworden, dass sich einige – nach meinem Eindruck gegenwärtig kulminierende – Veränderungen in der überregionalen Sprachvarietät des Deutschen (= Standardsprache) auf die syntaktische Realisierung der Thema-Rhema-Gliederung zurückführen lassen. Im Fol-
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genden sollen nun Sprachwandelprozesse, die in den letzten 20 Jahren häufig als Beweis für die strukturierende Funktion der Klammer angeführt wurden, genauer auf ihre treibenden Kräfte hin betrachtet werden. Zu klären ist vor allem, ob sich die Klammerstruktur durch voranschreitende Grammatikalisierung der syntaktischen Stellungsregularitäten von den zugrundeliegenden informationsstrukturellen Maximen löst und Klammern, im Interesse einer einheitlichen Phrasenstruktur, auch unabhängig von Rhema- und/oder Assertionsmarkierung auftreten. 135 Ausschließen kann man gegenwärtig Tendenzen zur Loslösung der Stellung des finiten Verbs von der Assertionsmarkierung im unabhängigen Satz. Auch in Fällen, in denen die Assertionsmarkierung durch intonatorische Mittel unterstützt wird, bleibt die Verbstellung primär. Verbkomplexe mit 3 und mehr verbalen Einheiten. Eine Tendenz zur Grammatikalisierung der Verbstellung zeigt sich in den abhängigen Sätzen, indem hier auch bei den drei- und mehrgliedrigen Verbkomplexen die Letzt-Position des finiten Verbs zunimmt (s. (6), vgl. Härd 1981, 2003). Diese „Übergeneralisierung“ der Letzt-Stellung betrifft aber „nur“ die innere Topologie des Verbkomplexes, der als Ganzes die rechte Klammer bildet. Die Möglichkeiten der Nachstellung (11)/(12) und Ausklammerung (13) von rhematischen oder kontrastfokussierten Informationseinheiten werden durch diesen Prozess nicht eingeschränkt. Er ist somit nicht als klammerverstärkend einzuordnen. Als Grammatikalisierung der Klammerstruktur könnte der Wegfall von Wahlmöglichkeiten zwischen synthetischen und analytischen Konstruktionen bzw. distanzstellungsfähigen vs. nichtfähigen Verbkonstruktionen betrachtet werden. In diesen Fällen ginge die Möglichkeit verloren, das Satzrhema kontrastfrei mit einer anderen Einheit als dem lexikalischen Verb zu besetzten. Hier sind die folgenden Prozesse zu betrachten: der Wegfall synthetischer Tempus- und Modusformen (er kam > er ist gekommen; er ginge > er würde gehen), die postulierte Zunahme an Partikelverben (abchecken), die Ausbreitung von sogenannten Progressivformen (am Arbeiten sein) und Funktionsverbgefügen (zur Aufführung bringen). Abbau synthetischer Tempus- und Modusformen. Zunächst wäre zu klären, inwieweit ein Nebeneinander von synthetischen und analyti-
__________ 135 Als Modellfall kann die Grammatikalisierung des definiten Artikels bei Konkreta gelten. Die Funktion des definiten Artikels ist die Aktualisierung des nominalen Konzepts als konturiertes und individuiertes Ganzes (Coseriu 1975). Eigennamen und Unika wie Elsa und Sonne sind nicht wie Ball oder Kopf als Konzeptbegriffe verwendbar, sie bezeichnen stets konturierte, individuierte Ganze. Daher ist die Setzung des Artikels überflüssig. Mit der voranschreitenden Generalisierung der Artikelsetzung, die letztlich eine Übergeneralisierung ist (vgl. Leiss in diesem Band), wird diese auf alle Konkreta ausgedehnt. Die aktuelle Regel ist: Ausdrücke für individuierte Ganze werden mit Artikel konstruiert. In einigen Sprachgebieten sind die Eigennamen davon noch ausgenommen.
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schen Konstruktionen sprachgeschichtlich überhaupt jemals verfestigt war. 136 Möglicherweise ist sie ein „kurzzeitiges“ Phänomen der Übergangsperioden bzw. der Dialekt- und Varietätenmischung (s. auch Fußnote 7). Die Durchsetzung analytischer Verbformen kann dann nicht auf eine formale Grammatikalisierung der Klammerstruktur zurückgeführt werden, sondern resultiert wie oben dargestellt aus der syntaktischen Umsetzung der Assertions- und Rhemakennzeichnung. Zunahme an Partikelverben. Auch diese in einigen Arbeiten postulierte Entwicklung auf Kosten von Simplex- und Präfixverben (s. u.a. Thurmair 1991, Nübling et al. 2006) muss erst noch empirisch nachgewiesen werden. Zusätzlich zu den hier verhandelten informationsstrukturellen Faktoren ist dabei mindestens noch der Aspekt der Bildung nichtadditiver Aktionsartpartner zu additiven Simplexverben (verhält sich checken – abchecken wie blühen – aufblühen?) sowie der der verdunkelten Semantik der nichttrennbaren Präfixe 137 in Rechnung zu stellen. Der Zwang, den finiten Verbteil in Erst- oder Zweit-Stellung zu positionieren und das Desinteresse an lexikalischer Verbinformation in dieser Position trägt möglicher-weise zur semantischen Entleerung von Verbstämmen bei. Das könnte in der Tat das Verbsystem des Deutschen dahingehend verändern, dass der rhematisch bedeutsame Teil in trennbare Präfixe verpackt wird, welche analog zu Adverbien, nominalen Prädikativen und nominalen Teilen von Funktionsverbgefügen in der Satz-Endstellung verbleiben können. Wie gesagt müssten diese hypothetischen Zusammenhänge aber erst überprüft werden (s. auch unten zu Inkorporierungsverben und Fußnote 7). Prinzipiell ist es nicht notwendig, die Klammerstruktur als den treibenden Motor für die Bildung von Partikelverben anzusetzen, wie es in Thurmair (1991: 193ff.) und Weinrich (1993) geschieht. Die Motivation liegt m.E. genau umgekehrt: Präferiert ist die kontrastfreie „Sättigung“ beider syntaktischer Bedingungen (Assertionsmarkierung links – Rhema rechts). Dafür sind Partikelverben analog zu analytischen Verbformen die passende Konstruktion. 138
__________ 136 Unterstellt man eine Funktionsidentität von Perfekt und Präteritum im (Standard)Gegenwartsdeutschen (so Leiss 1992, dagegen aber Klein 2000), könnte man erwarten, dass das Präteritum bei nichtverbalem und das Perfekt bei verbalem Satzrhema genutzt wird. Dies scheint aber nicht der Fall zu sein, ganz im Unterschied zu den oberdeutschen Alternationen von präsentischer tun-Periphrase und synthetischer Verbform (s. Abschnitt 2.2). 137 Bei Neubildungen ist transparente Semantik präferiert, daher auch schon sich auskleiden statt sich entkleiden; den Brief abschicken statt verschicken. Wie man sieht, gibt es auch Bedeutungsnuancen. 138 Eine Richtigstellung zum Erwerb von Partikelverben sei angefügt: Kinder produzieren zunächst, wie Thurmair (1991: 197) sagt, die Partikel ohne ein dazugehöriges Verb (auf statt aufmachen usw.), danach geht aber eine Phase der ungetrennten Verbverwendung (mal tür
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Ausbreitung von Progressivformen und Funktionsverbgefügen. Für diese Entwicklung hat Leiss (1992, 2002) den Neuaufbau von Aspektalternationen und die informationsstrukturellen Maximen für den morphologischen Aufbau des Wortes (Wortstrukturregularitäten, vgl. auch Bybee 1985, Bybee et al. 1994) als motivierende Hintergründe aufgezeigt. Da in diesem Prozess – aus wortstrukturellen Gründen - analytische Konstruktionen entstehen, die in einen finiten und einen lexikalischen Teil gliederbar sind, ist es nur natürlich, dass sie sich syntaktisch entsprechend der Kodierungsbedingungen für Assertion und Rhema verhalten. Wenn es aufgrund dieser Kodierungsbedingungen eine Tendenz zur semantischen Entleerung der Finitheitsposition gibt, wird die Herausbildung der beiden Verbstrukturen auch von dieser Seite unterstützt. Ob sich (sekundär) eine Wahlmöglichkeit zwischen synthetischen und analytischen Konstruktionen entwickelt, ist wiederum empirisch zu klären. Inkorporierung von Substantiven ins Verb. Dieses Phänomen ist zwar ein Prozess anderer Natur, führt aber ebenfalls zur Bildung von distanzstellungsfähigen Verben führt, vgl. z. Bsp. Rad fahren/radfahren, Fußball spielen/fußballspielen, Staub saugen/staub-saugen. Wurzel (1993) stellt fest, dass im Gegenwartsdeutschen sowohl feste als auch trennbare Inkorporierungen zunehmen, wobei die trennbaren überwiegen. Für die Trennbarkeit der Verben wird sogar eine Verletzung der „Wortigkeitsprinzipien“, nämlich genau des Prinzips der Nichtunterbrechbarkeit eines Wortes durch andere Einheiten, in Kauf genommen (ebd.: 120f.). Die Motivation dafür kann wie bei den Partikelverben in der Bereitstellung von Verben gesehen werden, die eine kontrastfreie „Sättigung“ von Assertions- und Rhemaposition erlauben. Es wird deutlich, dass sich eine ganze Reihe von Veränderungsprozessen beim Verb und auch bei potentiell rhematischen nominalen Einheiten aus den hier diskutierten Hintergründen für die Klammerbildung motivieren lassen (vgl. Punkt 3. in 5.2). Für keine der Entwicklungen, die die Klammerbildung durch Verben berühren, kann im Moment die Klammerstruktur als das primär auslösende Moment gelten. Stets lässt sich die Entwicklung auf die kodierungstechnische Lösung von Assertions- und Rhemakennzeichnung, und damit auf die Realisierung informationsstruktureller Maximen mit syntaktischen Mitteln zurückführen. 139
__________ aufmachen, ich saft eingießen) der Phase der getrennten Verwendung voraus (mach mal (die) tür auf). Die Klammerstruktur, bzw. eben die syntaktischen Regeln der Assertionsmarkierung, werden erst nach dem Erwerb der unmarkierten Verbposition in Satzendstellung erworben. 139 Um es im Vergleich zu verdeutlichen: Die übergeneralisierte Verwendung des definiten Artikels trägt eben nicht zur Kodierung des Merkmals [+individuiertes Ganzes] bei.
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Distanzstellung von Pronominaladverbien. Eine verbunabhängige Entwicklung ist die Übernahme von Konstruktionen wie da weiss ich viel von usw. aus den Dialekten in die überregionale Umgangssprache (Bsp. (17f), (18e), Fleischer 2002, Spiekermann in diesem Band). Bereits Oppenrieder (1990) interpretiert diese Stellungsoption im Sinne von Definitheitsgefälle und Thema-Rhema-Gliederung: Die favorisierte Position des pronominalen Teils ist der für thematische Einheiten reservierte linke Satzbereich, diejenige für die rhematische Präposition der rechte Satzbereich. Eroms (2000) verweist auf den Zusammenhang mit der oben als Fragesatzklammer (17g) wiedergegebenen Distanzstellung bei Interrogativpronomen (19a-b)/(20a-b), Ronneberger-Sibold (1991: 216f.) auf die variable Zuordenbarkeit des präpositionalen Teils zum Fragepronomen oder zum Verb (20b-c). Der Phänomenbereich dieses Distanzstellungstyps ist damit recht breit und potentiell unterschiedlichen Klammertypen zuzuordnen. Letzteres macht skeptisch. (19) a. Da gehe ich nicht hin. b. Dahin werde ich nicht gehen. c. Da werde ich nicht hingehen. (20) a. Wo kommt er her? b. Woher kommt er? c. Wo er wohl herkommt? (21) a. Daran halte ich unbedingt fest. b. Da halte ich unbedingt dran fest. c. Da halte ich unbedingt fest dran. Die hier anzutreffende Stellungsvariabilität im rechten Satzrand bei mehreren potentiell rhematischen Elementen, auf die ebenfalls RonnebergerSibold (ebd.: 217) hinweist (21), unterstreicht, dass die Besetzung des rechten Satzrandes nicht grammatikalisiert – oder besser, nicht syntaktisiert – ist, sondern eine variable Besetzung mit dem jeweils rhematischeren Element gestattet. Abbau des Artikels. Abschließend soll noch die gegenwärtig beobachtbare Tendenz zum Artikelabbau betrachtet werden. Vgl. dazu auch Leiss (in diesem Band). (22) a. Ich hab Karte mit. (Kreditkarte) b. …, weil ich in Erdkunde Prüfung schreibe.
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c. Er war Buch kaufen. d. Ich fahr mit Zug. Aus der Klammerperspektive ist dieser Prozess als Abbau der Nominalund Präpositionalklammer 140 zu werten. Es gibt sehr wahrscheinlich unterschiedliche Gründe für den Artikelabbau in beiden Phrasentypen. Für die Präpositionalphrase kann argumentiert werden, dass die kasusregierende Präposition eine overte Anzeige des Kasus überflüssig macht. Der Artikel muss nur gesetzt werden, wenn die In/Definitheit des Referenten relevant ist. Es wird gewissermaßen eine Übergeneralisierung der Artikelsetzung abgebaut. Ähnliches ist in den Funktionsverbgefügen zu beobachten (Leiss 2002: 208ff.). Bei den Verschmelzungen von Artikel und Präposition (ins, aufs, aufm, …) bleibt zwar die Kasusmarkierung erhalten, es wird aber gleichermaßen eine übergeneralisierte Anzeige von In/Definitheit vermieden. In der Nominalphrase unterbleibt die Artikelsetzung nur in rhematischen Positionen. Hier treffen wir wieder auf den auffallenden Prozess der „Verbartigmachung“ rhematischer Informationseinheiten. Die Beispiele in (22a-c) haben den Charakter von okkasionellen Inkorporierungen. Es entsteht ein Prädikat karte-mithaben, buch-kaufen bzw. prüfung-schreiben. Offenbar wird die Artikelsetzung im Prädikat (wieder) auf spezifische grammatische Informationen reduziert. Bestünde eine generelle strukturelle Präferenz für die Klammerstruktur, sollte dieser Abbau nicht möglich sein. Wir können abschließend feststellen, dass auch die zur Zeit auffälligsten verbunabhängigen Veränderungstendenzen nicht durch eine Tendenz zum Ausbau der Klammerstruktur bzw. eine Grammatikalisierung der Klammerstruktur motiviert werden. Eher im Gegenteil. Im Falle des Artikelabbaus werden Klammerstrukturen im Interesse optimaler strukturierter Rhemakonstituenten reduziert. Die Distanzstellung von Pronominaladverbien und ihre Überkreuzung mit derjenigen von komplexen Interrogativpronomen und Partikelverben, vgl. (19)-(21), erschwert die Identifikation des linken Klammerteils durch uns Grammatiker. Dahinter könnte stehen, dass es für den Hörer irrelevant ist (und daher auch für die Kodierungsanstrengungen des Sprechers), welche dieser Konstituenten klammert, und folglich ob und wie sie klammern. Wichtig ist, dass am Ende die relevante rhematische Information geliefert wird.
__________ 140 Bei der Präpositionalklammer kann ohne Artikel kein Adjektiv eingefügt werden, vgl. *mit schnellem Zug. Präposition und Nomen klammern damit nichts mehr ein.
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5. Fazit 5.1 Die Klammer ist Epiphänomen syntaktischer Kodierungsbedingungen Die hier vorgestellten Überlegungen gingen von der Annahme aus, dass die für das Deutsche so typische Distanzstellung von funktionalem und lexikalischem Kopf einer syntaktischen Konstituente, keinen informationsstrukturellen Eigenwert besitzt. Insbesondere wurde bezweifelt, dass die „Funktion der Klammer“ in der Aufrechterhaltung eines Spannungsbogens, m.a.W. der Aufmerksamkeit des Hörers, bzw. der Markierung von Grenzen syntaktischer Konstituenten besteht. Sollten entsprechende Markierungen notwendig sein, müssten sich diese in der einen oder anderen Art in allen Sprachen finden bzw. es müsste bestimmte Schwierigkeiten in der deutschen Syntax geben, die Klammern als regulierendes Mittel notwendig machen. Für beides gibt es m.E. keine Evidenz. Unter Zugrundelegung einer funktionalen Perspektive, d.h. der Annahme, dass die syntaktische Struktur zur Kodierung von informationsstrukturellen Merkmalen genutzt wird, wurden in der Forschung diskutierte Funktionen der Elemente in den beiden Klammerteilen bzw. Funktionsverteilungen zwischen den Klammerteilen daraufhin betrachtet, ob sich aus ihnen eine Motivation für die Distanzstellung ableitet. Weiterhin wurden im Gegenwartsdeutschen zu beobachtende Sprachwandelprozesse daraufhin betrachtet, ob sie mit diesen Funktionen/Funktionsverteilungen im Einklang stehen oder sich eine Tendenz zur Ablösung von diesen Bedingungen und damit zur Verselbständigung/Grammatikalisierung der Distanzstellung feststellen lässt. Im Ergebnis steht folgende Argumentation: Die (Möglichkeit der) Distanzstellung von funktionalem und lexikalischem Kopf auf der Satzebene (Verb-, Fragesatzklammer) ergibt sich im Deutschen aus den unterschiedlichen Kodierungstechniken für die Kennzeichnung der illokutiven Basiskategorie Assertion sowie der Kennzeichnung des Satzrhemas. Die Kennzeichnung von Nicht/Assertion erfolgt durch die Erst- bzw. Zweit-Stellung des finiten Verbs (s. Klein 2006), d.h. im linken Satzrand. Die Kennzeichnung des Satzrhemas folgt der natürlichen Serialisierung syntaktischer Konstituenten, die ein Definitheits- und Alt-Neu-Gefälle beinhaltet. Das lexikalische Verb als indefiniteste und zugleich neue Information bildet prototypischerweise den Kern des Satzrhemas und steht deshalb am rechten Satzrand. Da beide Kodierungstechniken die Position des Verbs betreffen, ergibt sich ein Konflikt. Dieser Konflikt ist durch analytische Verbformen auflösbar. Sprachgeschichtlich befördern sich somit die Festlegung der syntaktischen Realisie-
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rung von Assertions- und Rhemakennzeichnung und die Etablierung analytischer Verbformen gegenseitig. 141 Die Distanzstellung von funktionalem und lexikalischem Kopf im Nebensatz und in den nominalen Klammern resultiert aus der Besetzung des rechten Phrasenrandes mit der rhematischsten Phraseneinheit. Parallel zur natürlichen Serialisierung auf der Satzebene läuft die Determinationsrichtung innerhalb nicht-satzartiger Phrasen von links nach rechts. Der lexikalische Kopf ist die Einheit, die erst determiniert werden muss. Er ist schon daher prototypischerweise die „rhematischste“ Einheit, vgl. aber (14). Für den die gesamte Phrase in seinen Skopus nehmenden funktionalen Kopf bleibt damit nur die syntaktische Position am linken Phrasenrand. Die Adverbialklammer, als eine Form der Rechts-Stellung von präpositionalen Phrasenelementen, resultiert aus den Bedingungen der natürlichen Serialisierung. Bekanntes aufnehmende Einheiten stehen links, auf neues verweisende Einheiten rechts im Satz. Alle gegenwärtig verlaufenden syntaktischen Veränderungen, 142 die die Frage der Distanzstellung berühren, erfolgen im Einklang mit den syntaktischen Regeln der Assertions- und Rhemakennzeichnung. Es konnten keine Veränderungsprozesse identifiziert werden, die auf eine Loslösung von diesen Stellungsregularitäten und auf eine Verselbständigung der Klammerstruktur hindeuten. Die Klammerstruktur des Deutschen muss daher als Epiphänomen der syntaktischen Realisierung informationsstruktureller Maximen eingeordnet werden. Sie erfüllt keine eigenständige Funktion. Man kann lediglich annehmen, dass diese Strukturfestlegungen nach ihrem Erwerb mit bestimmten Präsuppositionen, d.h. Erwartungen hinsichtlich der syntaktischen Struktur von Äußerungen verbunden werden. Diese ermöglichen potentiell die Loslösung von den informationsstrukturellen Maximen, was aber, wie gezeigt, bisher nicht geschehen ist. Als eine entsprechende Systematisierung kann die Festigung der Letzt-Stellung des finiten Verbs im Verbalkomplex des Nebensatzes gewertet werden. Die Letzt-Stellung von Auxiliar, Kopula und Hilfsverb verstößt streng genommen gegen die Reservierung des rechten Satzrandes für das Satzrhema. Dies wird einerseits durch die Unbetontheit dieser Einheiten kompensiert, der Satzakzent bleibt auf dem Satzrhema. Andererseits scheint der Verbalkomplex als Ganzes den rechten Satzrand zu bilden, so dass auch aus dieser Sicht die
__________ 141 Über die Bedingungsrichtung wird hier bewusst keine Aussage gemacht. Die ursächlichen Auslöser für die jeweiligen Prozesse, feste Positionierung des Verbs sowie Herausbildung analytischer Verbformen, können auch ganz unabhängiger Natur sein (z.B. eben Wortstrukturregularitäten). In jedem Fall greifen beide Prozesse irgendwann ineinander. 142 Soweit alle relevanten Prozesse erfasst wurden.
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Letzt-Stellung der genannten Einheiten tolerierbar ist. Eine klare Loslösung von den Bedingungen der Rhemakennzeichnung liegt nicht vor. Die häufig vertretene Auffassung, die Klammerbildung bzw. die umfassendere Durchsetzung der Klammerstruktur sei ein treibendes Motiv aktueller Sprachwandelprozesse kann hiermit abgewiesen werden. 5.2 Desemantisierung von Verben und Verbartigmachung von nominalen Einheiten Im Zuge der Überlegungen zu dieser Arbeit wurde in immer stärkerem Maße deutlich, dass mit der Festlegung der syntaktischen Kodierungstechniken für die Rhema- und vor allem aber die Assertionskennzeichnung grundlegende Veränderungsprozesse in der deutschen Sprachgeschichte verbunden sein dürften: 1. wurde die möglicherweise aus wortstrukturellen Gründen erfolgende Analytisierung der Verbformen durch die Kodierungsbedingungen für Assertion und Rhema zumindest massiv unterstützt. Wie mehrfach betont, stellen analytische Verbformen die optimale Lösung für die in verschiedene Richtungen weisenden Kodierungsregularitäten dar. 2. scheint mit der Bindung der Assertionskennzeichnung an die Erstund Zweit-Position des finiten Verbs eine semantische Entleerung vieler Verbstämme und eine kompensatorische Verlagerung der semantischen Information in abtrennbare Prä-Teile des Verbs einherzugehen. Um dies genauer zu prüfen, muss der sprachhistorische Prozess der Bildung von Partikelverben und Inkorporierungen von Substantiven ins Verb sowie auch der Bildung von Progressivformen und Funktionsverbgefügen auf semantische Verlagerungsprozesse hin untersucht werden. 3. ist eine Prädikatisierung bzw. Entnominalisierung von nominalen Einheiten zu beobachten, die möglicherweise durch den partiellen Ausfall des rhematischen Verbs im rechten Satzrand erzeugt wird. Die Positionierung des Verbs im linken Satzrand zur Assertionsmarkierung verursacht eine Leerstelle im rhematischen Prädikat und erzeugt zugleich eine Verletzung des Definitheitsgefälles im Satz. Mit der Entnominalisierung von rhematischen nominalen Einheiten u.a. durch Kasusabbau (vgl. die in Fußnote 7 angemerkte Verbalisierung des Partizips und den Flexionsabbau bei prädikativen Attributen) und Artikelabbau werden diese Einheiten indefiniter und damit „bessere“ rhematische Satzendglieder (s. auch die von Gaeta in diesem Band behandelten Prozesse. Auch wenn das Festhalten des Deutschen an der Klammerstruktur weniger ein Geschenk an den Hörer ist und auch weniger geheimnisvoll als
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vielfach angenommen, sind mit der – hier hoffentlich vorangetriebenen – Aufdeckung der informationsstrukturellen und kodierungstechnischen Hintergründe der Klammerbildung offenbar noch längst nicht alle Aspekte und Auswirkungen dieser Strukturbildung erfasst. Literatur Abraham, Werner (in diesem Band), Methodische Überlegungen zu Grammatikalisierung, zyklischem Wandel von Analytik zu Synthetik – und zyklisch weiter zu Analytik (?). Abraham, Werner & Annette Fischer (1998), Das grammatische Optimalisierungsszenario von tun als Hilfsverb. In: Donhauser, Karin & Ludwig M. Eichinger (Hrsg.), Deutsche Grammatik – Thema in Variationen. Festschrift für Hans-Werner Eroms zum 60. Geburtstag. Heidelberg: Winter, 35-47. Bybee, Joan (1985), Morphology: A Study of the Relation Between Meaning and Form. Amsterdam: Benjamins. Bybee, Joan L., Revere Perkins & William Pagliuca (1994), The Evolution of Grammar. Tense, Aspect, and Modality in the Languages of the World. Chicago & London: The University of Chicago Press. Coseriu, Eugenio (1975), Determinierung und Umfeld. In: ders., Sprachtheorie und Allgemeine Sprachwissenschaft. 5 Studien. München: Fink, 253-90. Dalmas, Martine & Hélène Vinckel (2006), Wenn die Klammer hinkt … Ein Plädoyer für das Prinzip ‚Abgrenzung‘. In: Fries, Norbert & Christiane Fries (Hrsg.), Deutsche Grammatik im europäischen Dialog. Beiträge zum Kongress Krakau 2006. Online-Ressource: http://krakau2006.anaman.de. Eichinger, Ludwig M. (1993), Vom Nutzen der Nominalklammer. Eine funktionale Erklärung für die Reihenfolge gestufter Adjektivattribute im Deutschen. In: Vuillaume, Marcel, Jean Francois Marilleir & Irmtraud Behr (Hrsg.), Studien zur Syntax und Semantik der deutschen Nominalgruppe. Eurogermanistik 2. Tübingen: Narr, 85-104. Eisenberg, Peter (2004), Grundriss der deutschen Grammatik. Der Satz. Stuttgart & Weimar: Metzler. Eroms, Hans-Werner (1984), Indikativische periphrastische Formen mit doā im Bairischen als Beispiel für latente und virulente syntaktische Regeln. In: Wiesinger, Peter (Hrsg.), Beiträge zur bairischen und ostfränkischen Dialektologie. Göppingen: Kümmerle (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 409), 123-135. Eroms, Hans-Werner (1993), Hierarchien in der deutschen Satzklammer. In: Marillier, Jean-Francois (Hrsg.), Satzanfang – Satzende. Syntaktische, semantische und pragmatische Untersuchungen zur Satzabgrenzung und Extraposition im Deutschen. Tübingen: Narr, 17-34. Eroms, Hans-Werner (2000), Syntax der deutschen Sprache. Berlin: de Gruyter. Gaeta, Livio (in diesem Band), Polysynthese, Multifunktionalität und die denominalen Adjektive im Deutschen. Gunlogson, Christine. 2001. True to form: rising and falling declaratives as questions in English. Diss., University of California. http://www.ling.rochester.edu/people/gunlogson/gunlogson.html
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Dagmar Bittner
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Werner Abraham Methodische Überlegungen zu Grammatikalisierung, zyklischem Wandel und dem Wechsel von Analytik zu Synthetik im Deutschen – und zyklisch weiter zu Analytik (?) Abstract
The first part of this discussion is devoted to methodological considerations concerning cycles of grammaticalization and their empirically confirmed paths of change. Quite obviously, there are directions in modern linguistics that are amenable to such analytical questions and goals, while there are also others that are less so. For illustration of these premises, we offer exemplary discussions about the modern preterit demise in substandard German, stranding phenomena and weil in the status of a coordinator and as a subjunction.
1. Entwurf Es hat sich methodisch als sinnvoll und erkenntnistheoretisch als zielführend erwiesen, Sprachwandel daraufhin zu prüfen, ob einzelne beobachtbare Schritte nicht als Teile von Reihenentwicklungen zu sehen sind. Dies erhöht die Generalisierbarkeit und damit die Erklärkraft nicht nur von diachronen, sondern auch synchronen Phänomenen und deren Ableitbarkeit aus Ausgangssachlagen, die möglicherweise unterspezifiziert sind. Dies trifft in der Geschichte der Sprachwissenschaft vor allem auf die Phonologie zu. Wir kennen dies z.B. aus der historischen Sprachwissenschaft, was die martinetschen Schub- und Zugprozesse sowie reihenschrittliche Entwicklungen in der Dialektologie (Wiesinger 1970) betrifft. Was die Syntax diachroner Prozesse anlangt, kodiert man heutzutage Prozesse der Reduktion lexikalischer Einheiten zu grammatisch-morphologischen – oder zumindest paradigmatisch eingeschränkten Morphemen unter dem Prozess der ‚Grammatikalisierung‘ (GR). Methodologie und Erkenntnisinteresse richten sich dabei auf die folgenden Fragen: (1) Was sind die regelhaft und damit generalisierbaren Schritte solcher Grammatikalisierungen? Wie sind diese formal fassbar – d.h. ohne den Rückgriff auf intersubjektiv stets problematische Alltagsversprachlichungen und vor allem unter ableitungsverallgemeinernder Sicht, also unter Bezug auf ubiquitär beobachtbare synchrone Ableitungsprozesse?
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(2) Wie sieht der Anfangsstand (Input) zu einem solchen Grammatikalisierungsprozess, wie der Endstand (Output) aus? Wie sind Anfangsund Endstand generalisierbar miteinander verbunden? (3) Können wir in plausibler Weise Auslöser zu solchen GR-Prozessen ausmachen? Und wenn zyklischer GR-Wandel stattfindet: Was sind die Auslöser für den Neubeginn eines GR-Zyklus? Es bietet sich für solche Fragen aufs erste der Rückgriff auf methodische Begriffe wie „Frequenz“ und „Entrenchment“, die im schulischen Denken der Konstruktionsgrammatik (KxG) eine bedeutsame, ja alles auslösende und regelnde Rolle spielen, an (vgl. etwa Ungerer & Schmid 2006; oder sehr viel konkreter Goldberg (2006: 94): „[…] entrenchment [equals; Einschub WA] hearing a pattern with sufficient frequency”). Es wäre von vornherein nicht unplausibel zu erwägen, dass das häufige Auftreten (Frequenz) einer lexikalischen oder grammatischen Struktur gleich Entrenchment ist, während weniger häufiges Auftreten anzeigt, dass eine Form in Gefahr ist zu verschwinden. Jedoch: Abgesehen davon, dass Bornkessel et al. (2002) in einer ERP Studie gezeigt haben, dass grammatische Regeln und Frequenz einer Konstruktion nicht zwei Seiten derselben Medaille sind, wovon Konstruktionsgrammatiker im allgemeinen 143 ausgehen. So wiegt noch stärker die methodische Intransparenz – oder besser die vortheoretische Denkhaltung und die methodische Undurchsichtigkeit und Unklarheit – , die sich an diese Begriffe binden. Angenommen, wir möchten ausgehend von einem lexikalischen Element den Schritt zum Flexionsmorphem charakterisieren: Wo sind dann Häufigkeit und Entrenchment (Konventionalisierung) als „Declarantes“ einzubringen? Mit anderen Worten: Die in (1)-(3) oben gestellten Fragen sind über Begriffe wie Häufigkeit und Konventionalisierung überhaupt nicht beantwortbar. Ihre Beantwortung wird von der Konstruktionsgrammatik (KxG) möglicherweise implizit vorausgesetzt: Irgendeine Konventionalisierung muss bei Input ebenso wie Output ja vorliegen. Die Begriffe „Häufigkeit“ und „Konventionalisierung“ sind somit nicht falsch oder unnötig. Aber konkretere Analyseschritte sind damit nicht durchführbar. Und dies ist durch-
__________ 143 Dies gilt freilich weder querbeet für jegliches schulische Denken, das unter „Kognitivismus“ und „Konstruktionismus“ läuft. Noch stimmen auch deutlich empirisch arbeitende Forscher im Gefolge des Konstruktivimus der radikalen These von Bornkessel zu, wonach die Grammatikalisierungsalternativen über Daten nicht nach Häufigkeit entschieden werden. Im Detail geht es um die Art, wie die Häufigkeit einer Konstruktion erfasst wird, was die sprachlichen Oppositionspartner sind, anhand welcher größere gegen niedrigere Häufigkeit – und damit der Konventionalisierungsgrad – erhebbar wird und wie überhaupt vergleichend-frequentative, wenn schon nicht statistische Signifikanz erreichbar wird . Kempen & Harbusch (2003) z.B. argumentieren, dass sich bei korrekter Interpretation der Frequenzdaten die bornkesselsche These in dieser Form nicht halten ließe. Wesentlich ist dabei „in dieser Form“ – aber es ist hier nicht der Ort, darauf näher einzugehen.
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aus im Einklang mit den Grundannahmen des Konstruktionismus: Sprachliche Konstruktionen sind in der KxG unanalysierbare, holistisch zu sehende Idiome; die bei Goldberg (1995, 1996, 2006) entwickelten formalen Ableitungsstrukturen – die in der Praxis des kurrenten Konstruktionismus kaum eine Rolle spielen – sind weit jenseits jener Analysetiefe und Aussagegenauigkeit, die wir für GR-Prozesse zu fordern gelernt haben – und auf die wir im einzelnen eingehen werden. 144 Es ist mit Nachdruck darauf hinzuweisen, dass auch nach Goldberg (1995, 1996, 2006) der entscheidende Unterschied aller konstruktionsgrammatischen Ansätze im Beitrag und in der Struktur des Lexikons und darin weiter bei der Frage liegt, wie weit im Lexikon Wortarten bereits ausdifferenziert sind. Vgl. etwa solche grammatischen Homonymien wie englisch dog als Nomen neben to dog als Verb oder deutsch grün, das Grün sowie grün(-en). Das Hauptargument Goldbergs ist, dass der Bedeutungsunterschied bei Konversionen dieser unterschiedlichen Wortarten zu groß ist, als dass Ableitbarkeit aus einer der grammatischen Grundlagen denkbar und plausibel wären (Goldberg 2006: 212f.). Die Krux liegt damit freilich deutlich in dem Umstand, dass bei solchen Generalisierungen Goldbergs Lücken in der Bildung zur historischen Entwicklung der Sprachwissenschaft und ihrer philosophisch-axiomatischen Begründung ebenso wie ihre ausschließlich am generativen Nativismus orientierte Methodenkritik zum Vorschein kommen. 145 Denn ein archelexematisches, vorkategorial strukturiertes Lexikonkonzept ist bereits bei den Modisten des Mittelalters angelegt (Bursill-Hall 1971, Jakobson 1985). Die moderne Theorie der distribuierten Morphologie führt diese grundlegenden Ideen über den Begriff der Unterspezifikation weiter (vgl. Embick 2004, Halle & Marantz 1993, Marantz 1984), allerdings ebensowenig unter Kenntnis (nahme) der modistischen sprachphilosophischen Theorie. Dies gilt natür-
__________ 144 Einer der Gutachter macht mich darauf aufmerksam, dass diese Darstellung des Konstruktivismus und der KG unangemessen ist, da Frequenz und regelhafte Grammatik einander nicht ausschlössen, dass vielmehr Grammatikalisierung mit der Zunahme der Frequenz verschiedener Satz- und Konstituentenmuster zusammenhängt – so bei der Entstehung von Affixen bzw. Affixoiden (-mente, -erweise, -los usw.), dies sowohl bezüglich der Typenals auch der Token-Zahl. Doch bleibe ich bei meiner Darstellung, vor allem angesichts der Diskussion zwischen Bornkessel et al. (2002) und Kempen & Harbusch (2003). 145 Mit Blick besonders auf den methodenkritischen Argumentationsgang von Goldberg (2006) kann man sich dem Urteil Welkes (2008: 565f.) keineswegs anschließen: „[…] die Konstruktionsgrammatik anders als die meisten gängigen Grammatiktheorien dazu einlädt, den Graben zwischen Systemlinguistik und offeneren Sprachbeschreibungen zu schließen.“ Zu einer umfassenderen kritischen Sichtung der KG im heutigen akademischen Linguistikbetrieb unter sprachphilosophisch-axiomatischer Grundlegung siehe Leiss (2009a, b).
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lich erst recht für diachron-longitudinale Überlegungen zur Grammatikalisierung. 146 Welche formalen und empirisch geeichten Vorannahmen sind also für GR-Prozesse zu setzen? 2. Empirische und intersubjektivierte Vorannahmen zum GR-Prozess Die folgenden Vorannahmen zum GR-Prozess sind den definitorischen Beschreibungen Lehmanns (1985, 1995) entlehnt und beantworten die Untersuchungsziele in (1)-(3) so genau wie möglich. Doch sehen wir zuerst, von welchen GR-Schritten wir im Allgemeinen sprechen. Nach Heine & Kuteva (2002) sind die GR-Quellen und GR-Pfade u.a. folgende: Ausgangspunkte für grammatische Neubildungen sind jeweils, dass in diesen GR-Schritten neue semantische Eigenschaften entstehen, die dasjenige ersetzen, was über semantische Ausbleichung und totale Formenerosion weggrammatikalisiert wurde. (4) gibt eine Übersicht darüber, woraus grammatische Person und Numerus (phi-Merkmale) bei Verb- und Kopulakongruenz, Negativmerkmale bei Negation, Raummerkmale bei Präpositionen usw. neu entstanden sind. (4) a. b. c. d.
Kongruenz: aus emphatischem Pronomen oder Nomen Kopula: Demonstrativ bzw. Verb Modal: aus Verb bzw. Adverb Negationselement: aus Minimierer, negativem DP bzw. negativem AP e. Präposition: aus Nomen
GR bedeutet vornehmlich, dass ein lexikalisches Element seine semantischen Merkmale zugunsten grammatisch-formaler, funktionaler Merkmale aufgibt. Dabei entsteht ein Prozessvakuum, nämlich eine Periode, in der das Element seine alte semantische Interpretierbarkeit bereits aufgegeben
__________ 146 Lehmann (2005: 1) beansprucht, den Grammatikalisierungspfad zwischen zwei unterschiedlichen Wortarten zum ersten Mal zu thematisieren. Aber davon kann natürlich weder angesichts des bei den universalistischen Modistengrammatikern des Mittelalters noch angesichts der modernen distribuierten Morphologie der Generativistik deswegen keine Rede sein, weil das Lexikon dort wie da archilexematisch – d.h. noch ohne Wortartzuordnung – strukturiert ist. Es ist dabei zu beachten, dass dies ein wesentlicher Schritt nicht nur zu dem auch von Lehmann eingeforderten universalistischen Strukturzugriff ist; vielmehr sind dadurch auch die Module des Lexikons und der Morphosyntax einwandfreier aufeinander abzustimmen. Vgl. Ramchand (2008).
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hat, aber noch keine neue Interpretierbarkeit ausgebildet hat bzw. sich noch nicht entschieden hat, welchem neuen Selektions- bzw. Subkategorisierungskopf es sich anschließen wird 147 (vgl. dazu ganz explizit Abraham 2004 zur diachronen Ausbildung des Gerundiums und des Präpositionsinfinitivs im Deutschen). Hat ein funktionales Element einmal seine semantischen und damit interpretierbaren Merkmale verloren, dann muss es wie ein Rektionssucher („probe“) nach einem anderen, neuen subkategorisierenden bzw. selegierenden Kopfelement (ähnlich einem Valenzträger) Ausschau halten und sich diesem zur Merkmalsneubewertung („valuation“) stellen. Dies ist der mechanische Vorgang der Minimalismussyntax. Es gibt direkte Erneuerer im Grammatikalisierungsprozess. Demonstrativa etwa verfügen selbst über phi-Merkmale, besitzen somit die Kraft zur Neuausbildung von flektivischer Kongruenz; Adverbien verfügen über Zeit- und Raummerkmale und vermögen Präpositionen und Complementizer (Nebensatzkonjunktionen) auszubilden. In diesem so beschriebenen Prozess liegt gleichzeitig der auslösende Faktor für GR eingebettet: Nichtinterpretierbare („unvalued“) Merkmale sind in gewisser Weise instabil, da sie unselegiert bzw. nicht subkategorisiert („unregiert“) sind und diesen grammatisch instabilen Zustand aufzuheben versuchen. Wir können somit sagen: Es sind gerade die instabilen, uninterpretierbaren, nach Subkategorisierung und Selektion noch nicht zu bewertenden Elemente, die sich Sprachwandelprozessen unterwerfen (müssen), um interpretierbar zu werden. Das sind klare, wenn auch noch nicht komplette Antworten auf die Fragen in (1)-(3) oben. Über zyklische GR ist freilich noch nichts gesagt, damit ebensowenig über Zyklen der Analytik und Synthetik. Aber dazu kommen wir noch. 3. GR ist Wandel von Komplex- zu Kopfstatus Formal gesehen ist der GR-Prozess der verarbeitungs- und damit auch erwerbserleichternde Projektionswandel von einer maximalen zu einer Nullprojektion, somit ein Ökonomisierungsprozess. Was an formalen
__________ 147 Wenn, wie unten in Zusammenhang mit (10) konkreter diskutiert, die Präpositionalphrase[PP nach [DP dem [NP e]] zu Comp, [COMP nachdem], führt, dann tritt Reanalyse zwischen altem PP und neuem Comp ein. Während das alte PP jedoch Maximalprojektion in beliebiger grammatischer Abhängigkeit (als Adjunkt, als Rektionsglied) ist, muss bei Comp angenommen werden, dass es sich einen neuen grammatischen Selektor finden muss: eben das CP bzw. das finite V des unabhängigen, regierenden Satzes. Solange diese Suche (Probe) stattfinden muss, ist nachdem uninterpretierbar; erst wenn die neue grammatische Abhängigkeit im Sinne einer neuen Kopfrelation (finites Matrix-V) etabliert ist (die „Probesuche erfolgreich ist“), ist nachdem interpretierbar (d.h. mit allen grammatischen und lexikalischen Merkmalen abgesättigt).
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Konstanten an diesem Erleichterungsprozess teilhat, ist in der Konzeption des Minimalismus konkret bestimmbar (Chomsky 1995). Diese und andere Einsichten sowie die entsprechenden ersten empirischen Illustrationen zu dieser Formalisierung verdanken wir van Gelderen (2004, 2008). Es geht also bei GR in erster Linie um die folgenden zwei syntaxformalen Schritte in synchroner Ableitung und diachroner GR. (5) Kopfpräferenzprinzip (KPP) Lass lieber Köpfe statt komplexe Konstituenten entstehen! (6) Spätmergeprinzip (SMP) (Merge = Verkettung) Merge (setze aus dem Lexikon in die Syntaxstruktur ein) so spät (so hoch) wie möglich bzw. vermeide Merge wenn möglich überhaupt! Die beiden Prinzipien in (5)-(6) sind also optimierende Präferenzgrundsätze. Sie geben jene diachrone Wandelrichtung voraus, die unter Parsingund Erwerbsbedingungen am leichtesten durchführbar ist. Mit (6) ist auch gesagt, dass Versetzung (Movement) unökonomischer ist als direkter Struktureinsatz eines Lexems aus dem Lexikon. Selbst wenn man Versetzung (Movement) als eine Art von Merge (nämlich internes Merge, nach Chomsky 2004) betrachtet, ist Versetzung unökonomischer, da es zwei Schritte umfasst: Kopieren sowie Neumerge eines lexikalischen Elements im Laufe der Ableitung. Externes Merge (direkter Lexemeinsatz aus dem Lexikon, völlig ohne Verschiebungsoperation) beinhaltet keinen Kopierprozess, ist somit ökonomischer und verarbeitungsökonomischer (van Gelderen 2008b). Dies ist wie gesagt, was (6) besagt. Andererseits: Wenn Kinder Sprache erwerben, dann suchen sie, vor ambige, noch nicht eindeutig analysierbare Alternativen gestellt, nach jenem Input, der den am wenigsten komplexen Output liefert: ein fertig interpretierbares Morphem oder einfaches Wort – somit strukturell einen Kopf (Xo) – lieber als ein komplexes Kompositum oder gar eine Konstituente (XP). Dies ist, was (5) besagt. 148 Beispiele für KPP und SMP sind leicht beizubringen (van Gelderen 2008b, Lohndal 2009, Leiss 2008). (7) a. Präposition > Complementizer: vgl. eng. for (to see everything) b. Modalverben: v > Aspekt > Tempus (shall, will)
__________ 148 Es ist nicht unwichtig darauf hinzuweisen, dass KPP im Unterschied etwa zu methodischen Konzepten wie dem Effizienzprinzip bei Hawkins (2004) oder Formminimierungsszenarien wie ‘Stay’ der Optimierungstheorie ein spezifisches, invariantes Arbeitsprinzip darstellt (so van Gelderen 2008b).
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c. Präposition > Aspekt: vgl. eng. on in agoing d. vP-Adverbiale > TP/CP-Adverbialen e. Negative Objekte > Negativelementen (German niwiht > nicht) Eines der Standardbeispiele für solchen Wandel ist, dass sich lexikalische Vollverben im Englischen zu Modalverben entwickeln (siehe dazu Traugott 1972, Lightfoot 1974, 1979, 1999, 2006, Plank 1984, Roberts 1985, 1993, Kroch 1989, Warner 1993, Abraham 2002). Im Mittelenglischen hatten can, could, may, might, will, would, shall Vollverbstatus. Lightfoot (2006: 90) hat die folgenden Daten zusammengestellt (nach Lohndal 2009: 7; zum Vergleich der englischen Entwicklung mit der des Deutschen und Niederländischen s. Abraham 2002). (8) a. b. c. d. e. f. g. h. i. j.
*He has could understand chapter 4. He has understood chapter 4. *Canning understand chapter 4, … Understanding chapter 4, … *He wanted to can understand. He wanted to understand. *He will can understand. He will try to understand. *He can music. He understands music.
(8a-j) zeigt den Distributionsunterschied zwischen lexikalischen Vollverben (VV) und Modalverben (MV) im Englischen. Als MV noch VV waren, waren sämtliche der Strukturen in (8a-j) möglich – wie heute noch im Deutschen und Niederländischen. Nach SMP sind diese Unterschiede bzw. dieser Wandel direkt einsichtig: (9a) kodiert direkte Einsetzung aus dem Lexikon, (9b) dagegen Versetzung (Movement); (9a) wird (9b) deshalb vorgezogen, weil das MV-Auxiliar strukturell höher basisgeneriert (‚gemerged‘) wird als das Vollverb in (9b) – Versetzungen sind formalprozessual anspruchsvoller als direkte Einsetzungen (nach Lohndal 2009: 8).
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(9) a.
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TP T might
b. vP
TP T
vP
v’ v
v’ v might
…
Die Wandelprinzipien in (5)-(6) lassen sich nach van Gelderen (2007b, 2008b) zu einem einzigen und noch allgemeineren und konkreteren Wandelprinzip zusammenfügen. Vgl. (10). (10) Prinzip der Merkmalsökonomie im GR-Prozess a. Verringere in einer Ableitung die semantischen, interpretierbaren Merkmale (iM) und lasse uninterpretierbare Merkmale (uM) entstehen. Etwa wie in dem GR-Wandel: b. Adjunkt Spezifizierer Kopf > Comp semantisch = [iM] > [uM] > -(11b) skizziert den GR-Weg von einem lexikalischen Adjunkt – etwa in vP-Adjunktion, damit durch vP subkategorisiert und mit [iM] voll interpretiert. Semantische Ausbleichung führt zu Uninterpretierbarkeit, d.h. zu [uM] und gleichzeitig zu strukturellem Kopfstatus. Daraus wird auf der Suche nach einem neuen Subkategorisierer ein Verbaffix: Der GR-Pfad beginnt bei vP-Status und endet mit V-Status, kennzeichnend z.B. für [XP nach dem [NP e]]) zur Nebensatzkonjunktion [Xo nachdem], die ja im Deutschen in der Satzstrukturposition des flektierten V (in der ersten Verbklammer) steht. Uninterpretierbare Merkmalskonfigurationen sind sozusagen offen für jede mögliche neue Dependenz (vgl. zu diesem Gedanken Abraham 2004), d.h. Interpretation und Subkategorisierung: Sie maximieren sozusagen die Merkmalsökonomie. Dies gilt auch für Kongruenz-GR unter Subjektdependenz (welches so oft in der Indogermanistik aus Affigierung von Personalpronomina entsteht): Die interpretierbaren Personund Genusmerkmale eines Vollpronomens (Maximalprojektion) lassen sich als uninterpretierbar umdeuten, sobald sie Kongruenzmerkmale (der 1., 2. und 3. Person) werden (so Hicks 2008: 220, van Gelderen 2009: 10). (11) Emphase > Vollpronomen > Klitikpronomen > Kongruenz > 0 [i-phi] [i-phi] [u-1/2] [i-3] [u-phi]
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Nach Chomsky (1995: 230, 381) haben formale Merkmale semantische Korrelate; sie spiegeln semantische Eigenschaften, so wie etwa der (strukturelle) Akkusativ Transitivität spiegelt. Die Grundannahme zu (10) und (11) stützt sich auf Radfords (2000) Argument, dass interpretierbare Merkmale im L1-Erwerb früher erworben werden als uninterpretierbare Merkmale und dass die uninterpretierbaren den GR-Wandel im grammatischen System auslösen: Es muss ja etwas – eben Uninterpretierbarkeit an einem grammatikalisierenden Element – gelöst werden. 149 Wenn man davon ausgeht, dass nur strukturelle Köpfe als Selektoren („Probes“) fungieren (Chomsky 2005), dann bedeutet (9), dass jedesmal, wenn KPP zur Anwendung kommt, eine neue „Probe“Selektion ausgelöst wird. Und die Ingredienzen von (10) und (11) oben stellen den definitorischen Kern des GR-Prozesses dar: nämlich den Wandel, in welchem etwas ökonomischer wird – d.h. wo semantische Merkmale verringert bzw. getilgt werden. Uninterpretierbare (unevaluierte) Merkmale sind zwar ökonomischer als interpretierbare, aber sie müssen letztlich getilgt werden. Und genau diese Form vollzieht der Wandel in (10b) und (11) oben. 4. Zyklisch verlaufende GR Unter Sprachzyklus bzw. zyklisch verlaufender GR versteht man, dass Konstituenten oder Wörter schrittweise verschwinden und von neuen sprachlichen Elementen abgelöst werden. Am intensivsten ist der sog. Negationszyklus (auch Jespersenzyklus; nach Jespersen 1922) diskutiert worden, in dem ein anfängliches einfaches Negationselement durch einen zweiten Negationsausdruck verstärkt wurde, der schließlich alleine die Negationsfunktion übernimmt (mhd.>nhd. [ne/en-V] > [ne/en-V + niwiht] > [V + niht]; mfrz.>nfrz. [ne + V] > [ne + V + pas/point/mie] „Brösel“/gote „Tropfen”/amende „Mandel(chen)”/areste „Gräte”/beloce „Schlehe”/eschalope „Erbschen“) > [V + pas(/point)]; vgl. Hopper 1991, Leiss 1998: 856). Frühe Beobachtungen zur Zyklizität sprachlichen Wandels finden sich bei de Condillac (1746), Tooke (1786-1805), von Humboldt (1822) und Bopp (1816). Von der Gabelentz (1901: 256) spricht allerdings von einer Spiralentwicklung, da sich neue Zyklen nie mit den alten decken: […] immer gilt das Gleiche: die Entwicklungslinie krümmt sich zurück nach der Seite der Isolation, nicht in die alte Bahn, sondern in eine annähernd parallele. Darum vergleiche ich sie der Spirale. (von der Gabelentz 1901: 256)
__________ 149 Vgl. zu diesem Interpretationsgang Fußnote 3 oben.
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Das wiedererwachende Interesse für die Diachronie und GR-Prozesse der frühen 80er Jahre griff allerdings zyklischen Wandel kaum auf (Lehmann 1985, 1995, Traugott & Heine 1991), erst recht nicht die formale Syntax (mit Ausnahme des jespersenschen Negationszyklus; vgl. etwa Abraham 2003). Die folgende thematische Liste zum zyklischen Sprachwandel ist der Aufsatzsammlung aus van Gelderen (2009) entnommen. (12) a. Negation: Negativargument > Negativadverb > Negativpartikel > Nullmorphem negatives Verb > Auxiliar > Negativelement > Nullmorphem b. Subjekt (und Objekt) Kongruenzzyklus: Demonstrativ/emphatisch > Pronomen > Kongruenz > Nullmorphem c. Copulazyklus: Demonstrativ > Copula > Nullmorphem Verb/Adposition > Copula > Nullmorphem d. Definitheit (siehe auch Lyons 1999, van Gelderen 2007): Demonstrativ > definite Artikel > Kasus > Nullmorphem e. Futur und Aspektauxiliar (vgl. Leiss 2008): A/P > M > Comp f. Ort/Zeit: N > P > Comp Die Übersicht verzeichnet komplette, also bis zum grammatischen Morphem bzw. zu Nullvertretungen führende GR-Pfade. Wo die jeweiligen Kategorienüberlappungen anzusiedeln sind – wo also GR einer Form endet und wo ein neuer Zyklus beginnt – , ist allerdings offengelassen. Die Merkmalsökonomie des Minimalismus legt allerdings den Finger auf diesen Wechselpunkt: Ist ein Merkmal einmal als uninterpretierbar reanalysiert, dann wird es zum Subkategorisierungssucher („Probe“) und benötigt neue semantische Merkmale. Die Alltagslogik alleine schon verlangt, dass das Konzept zyklischen Wandels Unidirektionalität bei GR voraussetzt. Wer Unidirektionalität bestreitet (u.a. Newmeyer 1998: 263-275, Lightfoot 2006: 38), kann an zyklischem Wandel nicht festhalten – und begibt sich in des Teufels Methodikküche, sobald empirische Phänomene für solche Zyklizität sprechen.
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5. Die einzelnen Zyklusstufen als unterschiedliche Typen In van Gelderen (2009) werden verschiedene Zyklustypen angedeutet und teilweise durchdiskutiert. Jespersens Negationszyklus besteht aus einer Prozessreihe, innerhalb derer Negationsmorpheme umgebildet werden. Hoeksema (2009) unterscheidet in Jespersens Negationszyklus 4 Stufen, wie im folgenden Bild, (14), zu erkennen ist. (13) Jespersens inhaltlich gestufter Negationszyklus: I: Solitary Negation: A
IV: Optional double negation: (A)+B
II: Optional Double negation: A+(B)
III: Obligatory double negation: A+B ,Doppelte Negation‘ bezieht sich hier bloß auf formale Doppelkodierung; die Interpretation ist ja die der einfachen Negationslesart. ‚Doppelte Negation‘ für einfache Negationsbedeutung findet sich auch unter der Terminologie des ‘Negative Concord’ (Labov 1972, Ladusaw 1992). Der Zyklus geht aus von einfacher Negation zu fakultativ verstärkter zu notwendig verstärkter, zu schließlich wieder fakultativ einfacher. Die letzte Stufe, IV, schließt den Zyklus, aber nur formal mit einer einfachen Form, die aber in der Regel eine neue Form mit identischem Negationsinhalt ist. Diese Zykluskodierung weitet Van der Auwera (2009: 11) auf 7-8 mögliche Zyklusschritte aus, in denen Kriterien wie Betonungsstrategie, Neutralisierungsstrategie, formale Schwächung, semantische und formale Stärkung, semantische Reanalyse, formale Stärkung sowie formale und semantische Schwächung entscheidende trennende Rollen spielen. Sowohl Van der Auwera (2009) als auch Biberauer (2009) zum Afrikaans weisen im besonderen auf die wiederholte satzfinale Negation wie in (14a-b) hin, deren Rolle gerade nicht Betonung ist und die deshalb keine pragmatische Neubildung sein kann. (14b) ist die direkte bairische Entsprechung zum ndl. (14a).
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(14) a. Ik heb niets gekregen niet ich habe nichts gekriegt nicht ,Ich habe nichts erhalten.‘ b. I hob nix gseng net
Werner Abraham
ndl. Varietät (van der Auwera 2009)
Nach Biberauer (2009) können Strukturhöhe (im funktionalen Bereich) ebenso wie unzureichende Merkmalseigenschaften verhindern, dass ein negatives Concordelement (das zweite schwächere Negationselement wie in (14a-b) als vollwertiger Negator reanalysiert. Und Tsurska (2009) schließlich stellt eine strenge nichtdoppelnegierende Sprache, in der präverbale n-Morpheme ohne ausdrückliche präverbale Negationsmarker den Satz negieren, einer ebenso strengen Doppelnegationssprache gegenüber, in der n-Morpheme alleine Negation nicht zum Ausdruck bringen können. Solche beobachteten Schrittfolgen lassen sich in Merkmalswandel übersetzen. Ganz anderer Art sind Zyklenschritte für andere Wortarten. So kommt Waters (2009) für Präpositionen im Englischen unter Verwendung von PP-Expansion zu dem Schluss, dass Nomina strukturhöher reanalysiert werden. Bei diachroner Sicht auf englisch rather kommt Gergel (2009) zu dem Schluss, dass der GR-Pfad von strukturniedrigeren Adverbien zu höheren Modalen führen kann. Mit einiger Sicherheit lässt sich verallgemeinern, dass ein entscheidender Faktor für einen erfolgreichen GR-Schritt die Strukturhöhe des Outputelements ist: Sowohl Biberauer (2009) wie auch Lohndal (2009) erkennen, dass jenes Element, das (über Probe) als Zielkandidat (GR-Output) in Frage kommt, für die nötigen Reanalyseschritte zu hoch und der Zielkandidat damit unerreichbar sein kann – der GR-Pfad also zu keinem Resultat führt – der entworfene Grammatikalisierungspfad „bricht zusammen“. 6. Zyklustypen – Grammatikalisierungszeitspannen Dieser Abschnitt widmet sich der Frage nach Grammatikalisierungszeitspannen – was ja in der neueren Literatur zur GR des öfteren angesprochen ist, aber noch nirgends in konkreter Form gelöst wurde (Heine, Claudi & Hünnemeyer 1991: 244). Van Gelderen (2009) meint schnelle derartige Prozesse erkennen zu können: etwa die Reanalyse vom Vollverb zum Hilfsverb (Auxiliar). Der vielleicht am gleichmäßigsten und schnellsten in der Entwicklung verlaufende ist der Negationszyklus – wahrscheinlich deshalb, weil Negation pragmatisch so wichtig ist. Wandel bei Kongruenzmarkern scheint ebenfalls gleichmäßig zu verlaufen. Der Wandel bei Kongruenzmarkierung ist ebenfalls gleichmäßig und rasch, vermutlich aufgrund der pronominalen Quelle. Vgl. (12b) oben. Unklar ist noch, wel-
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ches Pronomen die Zyklusbewegung auslöst: Givón (1976) zufolge sollte es die 3. Person sein; Daten aus dem Französischen weisen jedoch auf die 1. Person hin. Vgl. (15) (nach van Gelderen 2009: 6f.). (15) a. Moi, j’ai vu ça. ICH ich-habe gesehen das b. *Je lis et écris Ich lese und schreibe c. *Je probablement ai vu ça ich wahrscheinlich habe gesehen das
gesprochenes Frz. gesprochenes Frz. Standardfrz.
Der Objektzyklus nimmt seinen Ausgang im Allgemeinen von belebten definiten Objekten. Modus- und Modalitätsmarker sind offensichtlich wie Negativmarker schnellerer Entwicklung ausgesetzt (vgl. etwa Traugott & Dasher 2002), ebenso Aspektmarker (Brinton 1988). Die Ausgangskategorie ist im Allgemeinen ein Lexemkopf, kann aber auch Konstituentencharakter haben (in (12) ausgespart). Van Gelderen (2009: 7) weist darauf hin, dass in der Literatur oftmals beschriebene als Auxiliare reanalysierte Vollverben an Futurzyklen im Romanischen, Germanischen und Urdu bzw. Hindi teilhaben. Aspektmarker entstehen oft im Aspektzyklus aus Adverbien, die in Einzelverben zu Phrasenverben inkorporiert werden. Anderer Wandel dagegen wie der des chinesischen Verbs ba ‚(er)greifen, (er)fassen‘ das sich zum Objektmarker bzw. Aspektmarker entwickelt, nimmt eine viel längere Zeitspanne in Anspruch. Darüber hinaus lassen sich klare Entwicklungsunterbrechungen beobachten. 7. Quellen – Ausgangskategorien grammatikalisierender Neubildung Wie in (12a-f) vorgezeichnet sind GR-Quellen Konstituenten ebenso wie einzelne lexikalische Elemente. Solche Quellen sind in der zahlreichen Literatur zur GR gut belegt (Heine & Kuteva 2002). Zu einigen solchen Quellen vgl. (16) unten. Der GR-Ausgangsstatus dieser Kategorien rührt daher, dass sie neue semantische Merkmale dafür schaffen, was weggrammatikalisiert wurde: Merkmale für Person und Numerus (eben phi-Merkmale) für Kongruenz und Kopulae, Negativmerkmale bei Negation, Raummerkmale bei Präpositionen usw. (van Gelderen 2009: 9). (16) Beispiele für GR-induzierte Neubildung: a. Kongruenz: betontes Pronomen bzw. Nomen
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b. Kopula: Demonstrativ bzw. Verb c. Modalverb: Verb bzw. Adverb d. Negativelement: Minimierer/“Downtoner“, negatives DP bzw. negatives AP e. Präposition: Nomen Die Beispiele in (16) konkretisieren also Grammatikalisierungsquellen für grammatische Funktionen. Jegliche Diskussion von Grammatikalisierungsprozessen und existierenden grammatischen Funktionen und deren morphematischen Formen muss sich diesen Fragen stellen. 8. Wieso gibt es überhaupt Wandel – wieso sind da Zyklen? Zum Sprachwandel erkennt man vielerseits 2 Faktoren: interne, die durch Ökonomieprinzipien (van Gelderen 2004) oder ‘Ease’ (Jespersen 1922) eingeleitet werden und welche zum Großteil artikulatorische Erleichterung, also die phonetische Form betreffen. Van Gelderen (2009: 11) geht davon aus, dass L1 bzw. die Analyse der Höreingabe durch solche Prinzipien gesteuert ist. Prinzipien wie (10) und das „Strandingprinzip“ in (17) unten illustrieren diesen Faktor. Daneben steuern Sprachwandel externe Faktoren: etwa des Sprechers Veranlagung oder Absicht, innovativ, kreativ oder konservativ zu sein (vgl. etwa Vedovato 2009). Zu diesen externen Faktoren gehören pragmatische derart, dass vom Sprecher neue, nur lose verknüpfte Elemente strukturell verankert werden. Dafür hat z.B. Hagège (1993: 153) den Ausdruck „Expressive Neubildung“ ins Gespräch gebracht. Dabei versucht der Sprecher besonders explizit zu sein und wählt komplexere Strukturen statt einfache Wörter (van Gelderen 2009: 10). Neue komplexe Einheiten im Spezifikatorstatus und Wortstatus sind über Entlehnung eingeführt. Heine & Kuteva (2005: 3) verzeichnen Beispiele dafür, wie Wortfragen (wInterrogative) zu Relativstrukturen erweitert werden (etwa das Tariana unter dem Einfluss des Portugiesischen) – d.h. wo Interrogativa und Relativa ein und dieselbe Form haben. Nach diesem Muster hat sich auch das Englische gewandelt: wh-Pronomina wurden bereits sprachintern in Fragen verwendet, fanden sich aber später unter dem Einfluss des Französischen auf Relativkontexte erweitert (so van Gelderen 2004). Heine & Kuteva (2005: 73) verzeichnen viele andere Beispiele hierfür. Ein ganz anderer externer Faktor steckt in dem Bemühen konservativ und präskriptiv zu bleiben. Dabei kann Wandel zu einem totalen Halt kommen. Van Gelderen (2009: 11) nennt als Beispiele für präskriptives
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Verharren das sog. „Stranding“ sowie Negation. Kann man wirklich von einem Zyklus Analytik/Synthetik sprechen? Die Idee ist ja ziemlich alt (Schlegel usw.), hat sich aber nie wirklich als überzeugend erwiesen. Könnte das eher als Nebeneffekt der Grammatikalisierung verstanden werden? 150 Ökonomieüberlegungen lassen (17) erwarten. (17) Strandingprinzip Verschiebe („Move“) so wenig wie möglich Beispiele wie (18) entstehen unter dem Druck dieses Prinzips – das Ökonomieveralten nach (17) erklärt, warum Englisch- und Norddeutschsprecher in Wortfragen eine DP an die Satzspitze stellen und nicht die gesamte PP wie in (18). (18) Who did you talk to who?
– Was hast du für was gestimmt?
(19) To whom did you talk to whom?
– Für was/Wofür hast du für was gestimmt?
Nach Denison (1993: 125ff.) findet sich „Präpositionsstranden“ bereits im 13. Jh., lässt sich also keinesfalls als Neuerung unter externem Zwang, sondern vielmehr als genuin ökonomisierendes Muster im Sinne von (17) erklären. Denison schätzt, dass sich im gesprochenen Englisch in 86% der Fälle „P-Stranden“ verzeichnen lässt, in der Schriftsprache dagegen bloß 7%. Ein solches Verhältnis zwischen gesprochenem und schriftlichem Ausdruck verweist auf außerordentlich starken präskriptiven Druck. Das gilt für die Geschichte des Englischen (Yáñez-Bouza 2007) ebenso wie fürs Deutsche: Für viele Varianten des Deutschen fand sich „P-Stranden“ nach Fleischer (2002) sehr häufig dort, wo es als älter oder umgangssprachlich galt (Fleischer 2002: 137). Vgl. die norddeutschen Varianten in (18) und (19) oben. Gesprochene oder Umgangssprache sowie Dialekte gelten als Sprechsprachen also in weit verstärkter Form als Hüter solcher ökonomisierender Prinzipien als konservative Schriftkodierungen. Das gesamte Verfügungsinventar des Parsens, Satzverarbeitens und deren Erleichterung unterliegt diesem Unterschied der Kodierung und zwar unter konkreteren Kriterien des „Looking forward“ und „Backtracking“, das den schriftlichen Kode im Gegensatz zur akustischen Perzeption auszeichnet. Akustische Perzeption kann es sich nicht leisten ‚vorauszuschauen‘ bzw. ‚Voriges nochmals nachzuvollziehen‘: der gesprochene Kode ist
__________ 150 Hinweis durch Livio Gaeta (pers. Mitteilung)
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dekodierbar und interpretierbar bloß ‚online‘, nur (durch das Arbeitsgedächtnis) beschränkt post hoc erinnerbar und interpretierbar – der schriftliche Kode dagegen steht jederzeit zu Nachprüfung zur Verfügung. Auf solchen Grundlagen stehen die grundsätzlich verschiedenen Interpretationen morpho-syntaktischer Strukturen und Unterschiede in Sprachen und Dialekten mit Häufung mündlich-sprachlicher Traditionen in Diachronie und Synchronie (Abraham 2004, 2005, 2006, Abraham & Conradie 2001). 9. Der Synthetik-Analytik-Zyklus Es sollen in diesem Abschnitt einige Grammatikalisierungspfade skizziert werden, die möglicherweise zyklisch verlaufen. Dabei lässt sich definitiv nicht davon ausgehen, dass sich auch nur irgendeiner der GR-Zyklen als Nebeneffekt eines Grammatikalisierungsprozesses verstehen lässt. 151 Während GR als terminativer Prozess unter Ökonomiedruck abläuft, ist der Abschluss zu einem Neuanfang unter zyklusähnlichem Verlauf dem Bemühen nach analytischer Klarheit verpflichtet. Weder analytische Klarheit noch Ökonomie lassen sich als Nebeneffekte von GR verstehen – sie sind vielmehr die bewegenden Indizien für GR. 9.1 Futurbildungen Zyklischer Wandel zwischen synthetischen und analytischen Formen ein und derselben Funktion ist etwas Besonderes, wenn auch nicht so oft Beobachtetes. Leiss (1998: 852) nennt im besonderen und stellvertretend für diesen besonderen GR-Zyklus (20). (20) lat. cantābo „ich werde singen“ > vulgärlat. cantāre habēō ‚singen.INF/Singen.N habe-ich‘ > frz. (je) chanterai „ich werde singen“ > modern. gesproch. Frz. je vais chanter ‚ich gehe singen‘ Ähnliches lässt sich für die Futurbildungen im hochalemannischen Montafonerischen beobachten (Abraham 1965). Die zyklischen Abrundungen dazu allerdings lassen sich nicht beobachten. Und die Annahme, dass vor diesen analytischen Zukunftsformen synthetische existierten, ist für diesen germanischen Dialekt schwer vorauszusetzen – dies aus typologischen Erwägungen und sicherlich nicht nur aufgrund fehlender Zeugnisse.
__________ 151 Wie einer der Gutachter mutmaßt.
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(21) a. es gǭt ga regna es geht gen Regnen b. es kunt ga regna es kommt gen Regnen c. es würd regna es wird regnen
unverfälscht dialektal unverfälscht dialektal hochsprachlich beeinflusst
Grammatischer Calque aus dem Rätoromanischen, das im Montafonerischen vorwalserisch einmal gesprochen wurde, ist allerdings nicht auszuschließen. 9.2 Präteritumschwund Unser Blick fällt bei dieser speziellen Thematik des Synthetik-AnalytikWandels in jedem Fall auf den ‚oberdeutschen Präteritumschwund‘ (genauer ‚Schwund des einfachen Präteritums‘ und die Ausbildung der Präteritumperiphrastik) – die diachrone und dialektal-germanistische Literatur ist sich darin einig, dass dieser Titel auch die diachrone Entwicklung sachgerecht beschreibt (Lindgren 1957, 1963). Aber dies steht keinesfalls fest – stehen doch verschriftlichtes, hoch stilisiertes Mittelhochdeutsch und die konservativen Dialekte unter unterschiedlichen Verarbeitungsbedingungen derart, dass sich verteidigen lässt, dass es vor der oberdeutschen Dialektperiphrastik gar keine einfachen synthetischen Präteritalformen existierten. Der frühe Dialektsprecher, der sicherlich nicht lesen und schreiben konnte, hat überhaupt nie einfache Präterita verwendet – aus sehr guten, nämlich verarbeitungsleichternden Gründen (Abraham 2004, 2005, 2006, Abraham & Conradie 2001). Zu diesem Schluss gibt es konkrete Gründe, nämlich die Tatsache, dass die einfachen Verbflexionen nicht nur im Präteritum, sondern auch im Präsens vorherrschen und – sofern nicht hochsprachliche Varianz vorauszusetzen ist – bloß diskursgrammatischer Varianz unterliegt: nämlich die ubiquitäre tun-Periphrase in den (ober) deutschen Dialekten (Abraham & Fischer 1998). Diese Beobachtung zur totalen, tempus- und modusunabhängigen Verbperiphrase gibt Anlass zu folgender morphologischer Filterbedingung. (22) Vermeide lexikalische Merkmale in Comp Die Bedingung in (22) gilt nur für den unverfälschten, ausschließlich mündlich kodierten Substandard und die Dialekte des Deutschen. Sie besagt, dass in Comp (der ersten, linken Verbklammer im deutschen Satzfeld) nur grammatische Flexionselemente stehen dürfen. Der Grund dafür wiederum scheint ein diskursgrammatischer zu sein: Links dürfen im un-
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betonten Satz des Deutschen nur Themata stehen; das Verbprädikat jedoch ist ununterschiedlich stets rhematisch, muss demgemäß – in einer Sprache wie dem Deutschen, das diskursgrammatische Voraussetzungen direkt wortstellungsgrammatisch übersetzt – weit rechts stehen (Abraham 1994, 2005). Man vergleiche, was für praktische Folgen solche diskursgrammatisch unkippbaren Voraussetzungen wie (22) haben. Es geht um die Präteritumformen von zusammengesetzten Prädikaten wie staubsaugen. (23) a. b. c. d.
*Wir staubsaug(t)en #Wir saug(t)en Staub Wir haben staubgesaugt Wir tun staubsaugen
(23b), wenn überhaupt als grammatisch eingestuft, bedeutet natürlich nicht dasselbe wie (23c-d). Das heißt, es sind auf der Grundlage von (23ad) – welches hinter der ‚Nichtexistenz des einfachen Präteritums‘ in dem verarbeitungsempfindlichen Sprachkode steht – Verbformen wie staubsaugen erst vollständig verwendbar. Im Standarddeutschen, dem der Filter in (22) fehlt, müssen stets Modalverben zur Präteritalverwendung eingesetzt werden. Die solitäre Präteritalverwendung von staubsaugen liefert kein akzeptables Ergebnis. 9.3 Der vermeintliche weil-Zyklus Dieser Abschnitt geht von der diachronen Stufe mit adverbiellem derweil aus, aus dem sich (‚simul ergo propter‘) kausale Bedeutung entwickelte und schließlich die unterordnende Konjunktion. Es wurde verschiedentlich argumentiert, dass dieses unterordnende weil wieder nebenordnende Satzstruktur unterstützt – somit in zyklischer Weise reanalysiert wird. Aber einen weil-Zyklus, das sei gleich vorausgesetzt, gibt es nicht. Linguistikvertreter einer solchen Position (etwa Lehmann 1991, neben anderen) schauen nicht richtig hin. Die Behauptung ist, dass unterordnendes weil durch nebenordnendes ersetzt wird – was wiederum darauf zurückzuführen sei, dass die Nebensatzstellung des Deutschen langsam der Hauptsatzstellung weicht – ganz im Sinne der Entwicklung im Englischen, das ja einmal – im Altenglischen – dem Deutschen mit der grundsätzlichen Haupt-Nebensatz-Wortstellung außerordentlich ähnelte, die V-Letztstellung aber seit dem Mittelenglischen völlig verloren hat. Die empirischen Argumente dieser Richtung sind dünn; wenn das weil-Argument fällt, werden sie verschwindend.
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Das weil-Argument ist jedoch völlig unhaltbar. Vgl. die folgenden Distributionen mit den Personalklitika in der Wackernagelposition nach der Comp-Füllung durch weil. (24) a. weil-a/er-n gesehen hat „weil er ihn gesehen hat“ b. weil-a/er hat-n gesehen c. *weil-a/er-n hat gesehen Wieso ist (24c) ungrammatisch, und was hat dies mit der weil-Frage zu tun? Vgl. das deutsche Satzfeld in (25). (25) Die berechenbare Beziehung zwischen Satzstruktur und Diskursfunktionen im Deutschen (schattierte Felder markieren die beiden Verbklammerpositionen) Koord Diskurs- erste V- ⇐ Thema Thema/ Klam- ⇒ Mittelfeld Rhema mer
⇐
Rhema
VKlammer
[CPSpez,CP [Comp WP DP/ [VP Adver- [VP (Pro- Vollpro- bianomi- nomina le/Modalp nalklitiartikel ka) Ob
-ts -st
Aber
Sie Wieso
(es) mir des du
gibt
SIE
‘s ‘m
⇒ zweite
denn
Nachthema
Vo ]]]
Rechtsherausstellung
SAG-TS
heut
ab
gerne
ABGEBEN?
(24a) ist ein eingebetteter Satz mit entsprechendem Vletzt; das pronominal-klitische -n „ihn“ steht in der Wackernagelposition, WP. Es ist an Comp, die erste flektierte Verbposition adjungiert. Wenn wir festhalten, dass klitische Pronomina im deutschen Satz ausnahmslos an Comp, oder die erste Verbklammer, rechtsadjungiert sind, dann ist dies nur dann richtig, wenn -n als Objektpronomen auch in Comp/V2 steht. Dann aber steht weil nicht in der für unterordnende Konjunktionen reservierten Comp/V2-Position wie in (24a), sondern in der Position für Koordinatoren – also Satzneben-, nicht Satzunterordner. (24c) ist dieser Logik fol-
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gend nicht mehr einzuordnen – es können ja nicht die klitischen Pronomina und weil gleichzeitig in Comp/V2 bzw. in WP stehen – es steht ja das flektierte Verb dazwischen, auf jeden Fall in Comp/V2. (24c) ist deshalb ungrammatisch. Und der langen Rede kurzer Sinn ist: weil mit Hauptsatzstellung ist eben nicht dieselbe Kategorie wie weil mit Nebensatzstellung: Das erste weil steht als Koordinator in der ersten Satzfeldspalte, weil mit Nebensatzstellung dagegen in Comp/V2. Die feste Stellung des klitischen Objektpronomens -n „ihn“ zeigt dies über jeden Zweifel hinaus. Auf eine typologische Wortstellungsänderung des Deutschen hin zu SVO kann also über die weil-Distribution nicht geschlossen werden. 9.4 Diskurskriterien und Rektionsrichtung Auch die „Stranding“-Erscheinungen – siehe (17) oben – des sogenannten Pronominaladverbs da – (da)für mögen unter Zykluswandelbedingungen gesehen werden. Vgl. die unter externen Wandelkriterien gültigen Varianten im Deutschen in (26). (26) a. [CP Er hat [da [dafür [gewettet]]]] oberdeutsche (*norddeutsche) Regelform b. [CP Da hat er [da [dafür [gewettet]]]] Frontverschiebung c. [CP Da hat er [da [dafür gewettet]]]] „P-Stranden“ Wir haben gesehen, unter welchem Druck (26c) – die extremste regionale Variante (die auch das Niederländische charakterisiert: Daar heeft die op gezet) – entsteht: (27) a. freies da in (26a) ist als thematisches Deiktikum an die Satzspitze verschoben; diese Diskursthemavoraussetzung gilt allgemein für die Satzspitzenverschiebung, also auch für volle DPs; b. gebundenes da rückt als Pronomen an die Satzspitze und ersetzt dort freies da (furor aequi); c. die Präposition bleibt gestrandet in der Basisposition. Nun sieht es so aus, als wäre das durch P regierte da leichter aus der PPInsel zu lösen, um an die Satzspitze zu rücken. Es gibt aber Gründe davon auszugehen, dass das (im Deutschen) gebundene da gar nicht mehr im Rektionsbereich unter k-Kommando von P steht, sondern dass sich da bereits herausgelöst hat. P-Rektion gilt im Deutschen ausschließlich nach rechts (für viele – *viele für). D.h. für Pronominaladverbien wie dafür gilt (28).
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(28) [PP da [PP fürda]] Ursprünglich gebundenes da ist also bereits aus der unmittelbaren Rektionsdomäne der Präposition für gelöst – dies aus gutem Grund: Es ist als hochthematisches Deiktikum und leichtes Pronomen Diskursregularitäten unterworfen. Die sind im diskursprominenten Deutschen grammatisch direkt errechenbar. 152 Vgl. (25) oben. Das Niederländische hat bei ebendemselben „Stranden“ auch orthographisch die entsprechende Konsequenz gezogen. Dies geht eindeutig aus der Variante in (29c) hervor. (29) a. Hij heeft er voor/*ervoor gezorgd er hat da für/*dafür gesorgt b. Hij heefter gezorgd voor c. ??Da hat er gesorgt für (29c) hat wohl keine akzeptable Entsprechung, weil das Deutsche nach links verbregiert. Das gilt auch für den mündlichen Kode (was wiederum gegen die These spricht, das Deutsche sei auf dem Wege zu SVO – vgl. die Argumentationslinie in 9.3. oben). 9.5 Innermorphemische Universalabfolge ATM Leiss (1998: 852) lenkt den Blick zum zyklischen Synthetik-AnalytikWandel allerdings auf Beschränkungen innerlogischer und typologischuniversalistischer Natur. Aller synthetischer Wandel unterliege festen, unverwechselbaren morphematischen Kategorienabfolgen, nämlich ATM/ A(spekt)T(empus)M(odalität). Diese kategorial bestimmte Morphemabfolge lasse sich nur durch analytische Neubildungen durchbrechen (siehe auch Leiss 2000: 198ff., bes. konkret illustriert 208ff.). Man kann also vom besonderen Analytikauslöser für solche Fälle ausgehen, dass das innerwortliche Prinzip ATM nicht mehr gewährleistet ist. Eine größere Sichtung und Überprüfung anhand mehrerer Sprachen steht allerdings dazu noch aus. Doch vgl. bereits Vorliegendes bei Leiss (2000) sowie neuerdings Leiss (2008).
__________ 152 Einer der Gutachter wirft ein, dass es ja auch linksregierende Postpositionen gäbe – womit meine empirische Voraussetzung zur Rektionsrichtung von P nicht erfüllt sei. P ist aber als Kategorie im Deutschen durchgehend rechtsregierend: Es gibt in Wirklichkeit kein einziges Präpositionsadverb für Postpositionen: da … *deswegen/*-halb. nach ist z.B nur Postposition bei abstrakter Selektion wie in dieser Annahme nach, also keine vollgültige Option. Stranden ist somit möglich unabhängig von den Optionen prae bzw. post.
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10. Schluss und Folgerung Es wurden Beispiele der Art ausgesucht, die nach grammatikalisierenden Verläufen tatsächlich zyklisch zu Quasianfängen zurückführten. Die neue Form nach der Versetzung ‚XP ⇒ X ⇒ YP‘ bzw. ‚XP ⇒ X ⇒ XP‘ entsteht unter Druck nach neuer strukturkomplexer Verständnistransparenz. Sowohl der GR-auslösende Öknomiedruck zur einfach zu speichernden Form wie auch der Druck nach neuer analytischer Transparenz sind lernerleichternde Mechanismen; jeder solcher GR-Schritt folgt somit Druck nach Vereinfachung: Lern – und Behaltensvereinfachung im inzeptiven Bildungsprozess ebenso wie Verständnisvereinfachung im terminativen, auslaufenden Prozess. Es sind genau die für GR-Prozesse neu und formal eingeführten Grammatikbedingungen wie die der interpretierbaren und uninterpretierbaren Merkmale sowie der Selektordruck („Probe“, dt. auch „Sondierer“), die solche tieferen Überlegungen zum Wechsel zwischen Synthetik des Wandels und darauf folgender Analytik überhaupt erst möglich gemacht haben. Literatur Abraham, Werner (1965), Die Phonologie von Tschagguns im Montafon/Vorarlberg. Maschinenschriftliche Dissertation Universität Wien. Abraham, Werner (1994/22005), Deutsche Syntax im Sprachenvergleich. Grundlegung einer typologischen Syntax des Deutschen. Tübingen: Narr/Stauffenburg [Studien zur deutschen Grammatik 41]. Abraham, Werner (2001), How far does semantic bleaching go? About grammaticalization that does not terminate in functional categories. In: Faarlund, Jan T. (eds.), Grammatical relations in change. Amsterdam & Philadelphia: Benjamins (Studies in Language Companion Series 56), 15-64. Abraham, Werner (2002), Modal verbs: epistemics in German and English. In: Barbiers, Sjef, Frits Beukema & Wim van der Wurff (eds.), Modality and its interaction with the verbal system. Amsterdam & Philadelphia: Benjamins (Linguistik Aktuell/Linguistics Today 47), 19-50. Abraham, Werner (2003), Autonomous and non-autonomous components of ‚grammatic(al)ization’: Economy criteria in the emergence of German negation. Sprachtypologie und Universalienforschung (STUF) 56.4: 325-365. Abraham, Werner (2004), The grammaticalization of the infinitival preposition – toward a theory of ‚grammaticalizing reanalysis’. Journal of Comparative Germanic Linguistics 7.2: 111-170. Abraham, Werner (2005), Präteritumschwund und das Aufkommen des analytischen Perfekts in den europäischen Sprachen: Sprachbundausbreitung oder autonome Entfaltung? In: Eggers, Eckhard, Jürgen Erich Schmidt & Dieter Stellmacher (Hrsg.), Moderne Dialekte – neue Dialektologie. Akten des 1. Kongresses der Internationalen
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Werner Abraham
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Sachregister Abstraktum 104, 161, 163-176 Adjektiv 1, 10, 16, 84-91, 9395, 101, 103, 108, 111, 113, 127-132, 166, 168-170, 174, 231, 241 Adjektiv, attributive 84, 86-89, 94-95, 100, 109, 111-112, 115, 128 Adjektiv, denominale 99, 101, 109-113, 115-116 Adjektiv, prädikative 85, 88, 91, 94, 96, 109, 111-112, 116 Adjektivflexion, analytische 10 Adkopula 111-114 Adverb 87-88, 109, 112, 116, 151, 182, 184-187, 192, 195, 205, 212, 252, 261-262 Adverb, Dopplung 180-182, 186-194, 196 Adverb, Tilgung 180, 182, 188, 190-191, 196 Aggregation 206, 209-211, 214217 Analogie, analogisch 14, 16, 52, 61, 104, 115, 126, 130, 174, 176, 204 Analyse, analytisch (Analytik, Analytizität) 2-8, 12-14, 1820, 23-24, 44, 51, 53, 57, 68, 85, 89-90, 94, 96-97, 100-101, 105, 107-109, 123-125, 127, 133-134, 179-180, 195-197, 215-216, 224-225, 228, 230, 238, 249, 253, 263-265, 269270 Analytisierung 123-125, 127, 130, 133, 215-216, 244 Artikel 1-3, 8, 17-19, 85, 90-93, 95-96, 105, 109, 123-132,
137-156, 171-172, 224, 233234, 237, 241 Artikel, Abbau 137-139, 145, 154-155, 240-241 Artikel, anaphorischer 138-139, 142-146, 150, 152 Artikel-Aspekt-Zyklus 137-138, 146, 153-154, 156 Aspekt 15, 43, 137-141, 146, 152-156, 239, 255, 258, 261 Aspekt, nominaler 160 Assertion 213, 225-229, 232233, 237-239, 242-244 Ausbleichung, semantische 252, 256 Ausklammerung 128, 231-232, 237 Auxiliar 25-26, 33, 44, 47-48, 62, 145-146, 228, 232, 243, 255, 258, 260-261 Definitheit 8, 19, 85, 89-91, 9396, 108, 127-128, 131, 133, 138, 140-144, 146, 149-150, 152, 154-155, 236, 241, 258 Definitheitsgefälle 140, 229-230, 240, 242, 244 Definitheitszyklus 138 Degrammatikalisierung 125 Derivation 93-94, 110-111, 159, 161-163, 167-168, 174-175 Determinationshierarchie 223 Diathese 67, 76-77 Disambiguierung 132-134 Diskontinuität, diskontinuierlich 105-106, 123-124, 132-133, 208 Distanz (vs. Nähe) 201, 209, 213-214
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Distanzstellung 7, 10, 51, 106, 109, 115, 180-182, 184-185, 187-196, 224-225, 233-234, 236, 239-240, 242-243 Elativ 84-86, 89-90, 94-97 epistemisch 49-50, 55, 64 Faktizität 56, 58, 64, 165 Finitheit 225, 228, 230-231, 236 Flexion 10, 14-15, 19, 28, 33, 36, 41-42, 91-95, 100, 107, 109-110, 124, 126-128, 131134, 171, 250, 265 Flexion, kooperative 127-128, 130, 132-133 Flexionsabbau 107, 109, 244 Funktionsverbgefüge, FVG 7, 105, 137, 144-148, 150-152, 154-156, 241 Futur, analytisches 2, 20, 105, 228, 258, 261, 264 Genus 1, 4, 8, 13, 19, 91-94, 96, 110, 123, 126-127, 129, 131, 133, 138, 159-167, 174-176, 204-205, 256 Genus verbi: siehe Diathese Grammatikalisierung 2, 16, 1819, 27, 42, 44, 90, 92, 109, 123, 125, 127, 138, 142-143, 146, 152, 155, 161, 215-217, 224-225, 228, 237-238, 241242, 249-254, 256-258, 260264 Grammatikalisierungszyklus 155, 250, 253, 258-262, 264, 266 Hyperdetermination 137, 143144, 147, 151, 153 Hypodetermination 142, 153
Sachregister
Illokution, illokutiv 223, 226, 233, 242 Implikatur 58-61 Indikativ 24-27, 29-33, 36, 3839, 41, 44, 47, 49, 53, 57-61, 63 Individuativa 63, 166-167 Infinitiv, substantivierter 159160, 171-176 Informationsstruktur, informationsstrukturell 140-141, 223225, 228-229, 233, 236-238, 242-244 Inkorporation 15, 100-102, 105106, 186-187, 229, 238-239, 244 Integration 206, 209-211, 215217 Jespersenzyklus 257 Jugendsprache 115, 117 Junktion, Junktor 206, 211-212, 214-215 Kasus 1-2, 8, 12, 17-19, 70, 72, 75, 78, 94, 100, 105, 123, 126-127, 129, 131-133, 139, 141, 155-156, 204-205, 208, 241, 244, 258 Kasusabbau 17, 244 Klammer(struktur) 10, 47, 51, 101, 105-107, 109, 114, 128, 129, 223-225, 228-239, 241244, 267 Klammertyp 225, 233, 235-236, 240 Klitikon, klitisch 18, 76, 125, 256, 267-268 Klitisierung 18, 195 Kodierungstechnik 100, 124, 159, 168-169, 175-176, 223, 225, 234-236, 242
Sachregister
Kodierungstechnik, diskontinuiered 105, 124, 129, 132, 134 Kodierungstechnik, kombinierend 9-11, 14, 18, 124, 129, 134 Kollektiva 160-165, 170 Komposition 93-94, 100-104, 106-108, 115-116 Kongruenz 4-5, 9, 11-12, 20, 91, 105, 128, 131-134, 204-205, 208, 252-253, 256, 258, 260261 Konjunktiv 2, 16, 23-27, 29-40, 42, 44, 47, 49-53, 56, 62-63, 230 Konstruktionsgrammatik 217, 250-251 Kontrafaktizität: siehe Nichtfaktizität Konversion 109-111, 113, 115, 160, 251 Kopfpräferenzprinzip (KPP) 254 Kopf-Rechts-Prinzip 235, 257 Lexikalisierung 74-75, 110, 160161, 169 Massennomina 114, 159-160, 166 Medium 76-77 Merge 254 Modalverb 47-51, 53-59, 61-64, 226-227, 252, 255, 262, 266 Morphologie, Ableitungsbasis (-richtung) 23, 28, 30-33, 36-39, 41, 44 Morphologie, Affix Ordering 42 Morphologie, Allomorphie 8, 13-14, 17, 20, 126, 133 Morphologie, Präfigierung 141, 236
277
Morphologie, Suffigierung 38, 159, 167, 170-171, 174, 234, 236 Multifuntkionalität 99, 109, 111, 116 Nähe (vs. Distanz) 201, 201, 208-209, 211, 213-215 Negation 89, 100, 207, 235, 252, 255, 257-261, 263 Nichtfaktizität 48, 51, 54, 5657, 60, 62-64 Nomen 17-18, 100, 101, 110, 114, 130, 138, 142, 145-146, 231, 241, 251-252, 261-262 Nomen actionis 167, 173 Nomen agentis 168 Nomen instrumenti 161, 168 Nominalisierung 147, 163-164, 173, 175 Nominalisierungsverbgefüge, NVG 138, 144-146, 150, 152, 154 Nominalphrase 123, 126, 128130, 180, 241 Numerus 2-3, 8, 13, 15-17, 19, 26, 91, 94, 100, 126-127, 129132, 134, 139, 164, 204-205, 252, 261 Ökonomie 253-254, 256, 258, 262-264 Optimierung, optimierend 40, 254 Parsing 254 Partikelverb 7, 93, 106-107, 109, 169-170, 173-175, 229, 231, 238-239, 241, 244 Passiv 2, 11, 105 Perfekt 2, 8, 14, 41, 43, 52-53, 58-59, 61, 105, 139, 224, 238
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Person 2-3, 8, 13, 25-26, 70, 134, 143, 204-205, 252, 256, 261 Plural, Pluralität 9, 15, 107, 114, 124, 127, 129, 130-133, 148, 160, 162, 164, 166, 168 Plusquamperfekt 2, 43, 47, 53, 59, 61, 105 Präposition 2, 18-19, 93, 105, 107, 124-125, 150, 153, 180185, 192-196, 202-203, 213, 234, 240-241, 252, 254, 261262, 268-269 Präposition, Dopplung 182-183 Präposition, Stranding 183-186, 262-263, 268-269 Präpositionen, flektierende 1, 107 Präteritumschwund 2, 33, 39, 41-42, 44, 265 Pronominaladverb 179-184, 186-187, 189-196, 240, 268 Pseudopassiv 184-185 Quantifikation, nominale 159, 163-164, 172, 175 Reanalyse 27, 42, 76, 104, 253, 259-260 Reflexivität 67-69, 74-77 Reflexivpronomen 68-70, 75 Regionalsprache 179-180, 185, 187-197 Relativum 202-203, 212, 262 Relativpartikel 199, 201-205, 210-215, 217 Relativpronomen 202, 205, 211-212 Rhema 140, 142-143, 145-146, 151, 153, 223, 225, 229-233, 235, 237-240, 242-244, 267
Sachregister
Rückbildung 103-104, 106, 115-116 Schema (Musterbildung) 23, 31-33, 36-37 Sprachtyp 100-101 Sprachtyp, agglutinierend 8-9, 14, 99-100, 102, 108, 124-125 Sprachtyp, fusionierend 3, 9, 14, 99 Sprachtyp, introflektierend 99 Sprachtyp, isolierend 9, 99-100, 109, 124, 134 Sprachtyp, polysynthetisch 99, 101-102, 104-105, 108 Superlativ 83-91, 93-97, 112, 153 Synkretismus 8, 12, 14, 25-26, 49, 127, 129, 171 Synthese, synthetisch (Synthetik, Synthetizität) 2-8, 12-20, 2324, 33, 43-44, 86, 89-90, 94, 96-97, 100-101, 105, 108-109, 123-127, 133-134, 179-180, 195-196, 215-216, 228, 230, 237-238, 249, 253, 263-265, 269-270 Syntheseindex 1, 3-5, 15, 17 Synthesezunahme 6, 127, 131 Synthetisierung 126, 131 Thema 143, 223, 225, 229-233, 235, 240, 266-267 Umlaut 1, 13, 15-17, 23-24, 31, 37, 39, 41, 44, 100, 126, 130 Unidirektionalität 8, 258 Variantengrammatik 68, 78 Variation 68, 78, 130, 185, 195
279
Sachregister
Varietäten 14, 25, 38-39, 138, 143, 154, 179, 182, 187-188, 192, 195-196, 208-210, 238 Verb, A(spekt)T(empus)M(odalität), Universalabfolge 269 Verb, analytisch 233, 238, 243244 Verb, Stellung 226-228, 231, 233, 237-239, 242-244 Verb, tun-Periphrase 26, 195, 230-231, 238, 265 Verbgefüge: siehe Funktionsverbgefüge Verbkompositum 103, 106109, 115
Verbperiphrase 265 Verschmelzungen 8, 18, 83, 85, 91, 93, 95-96, 125, 169, 241 Vertikalisierung, Varietätenspektrum 209-212 Vollzugsimplikatur: siehe Implikatur Wackernagelposition 267 Zählbarkeit / Nicht-Zählbarkeit 146, 159-160, 162, 166, 168 Zusammensetzung: siehe Komposition
Personenregister Abraham, W. viii, 26, 33, 42-43, 143, 225, 228-230, 232-233, 253, 255-256, 258, 264-266 Ackema, P. 77 Adelung, J. 210, 215 Admoni, W. 105 Ágel, V. v, viii, 68, 71, 76, 124125, 133, 199, 201, 206, 208209, 211-212, 216-217 Ahadi, Sh. 155 Aikhenvald, A. 102 Altmann, H. 110, 115 Ammon, U. 73 Androutsopoulos, J. 115 Askedal, J. 47 Auer, P. 188, 195 Augst, G. 14 Auwera, J. v. d. 259 Balles, I. 159 Barbier, S. 183 Bartnitzky, H. 24 Barz, I. 115 Behaghel, O. 202 Beißwenger, M. vii Bellmann, G. 195 Berman, J. 114 Berruto, G. 78 Besch, W. 2, 209 Biberauer, Th. 259-260 Birkmann, Th. 49 Bittner, A. viii, 2, 23, 27, 30-31, 52 Bittner, D. viii, 42, 44, 51, 92, 159, 214, 223 Boas, H. 183 Booij, G. 101, 107 Boom, H.v.d. 165 Bopp, F. 257
Bornkessel, I. 250, 251 Braune, W. 87, 89 Bredel, U. 42 Brendel, B. 169 Brinker, K. 68 Brinton, L. 261 Brooks, Th. 202, 212-213 Brugmann, K. 163 Bücker, T. 153 Bühler, K. 42 Bursill-Hall, G. L. 251 Buscha, J. 68-71 Bybee, J. 6, 42, 239 Chomsky, N. 70, 254, 257 Claudi, U. 260 Condillac, E. B. de 257 Conradie, C. J. 264-265 Corbett, G. 161 Coseriu, E. 199-200, 209, 217, 239 Curme, G. 90 Dahl, Ö. 90 Dal, I. 202, 213 Dalmas, M. 224 Dam-Jensen, H. 147 Dasher, R. 261 Davide, R. 106 Demske, U. 128, 169 Denison, D. 263 Diegelmann, C. 206 Diewald, G. 47-50, 54 Dittmar, N. 187 Donalies, E. 110 Dressler, W. U. 40, 163 Durrell, M. 182 Ebert, R. 131, 162, 202, 213
282
Ebner, J. 69, 73 Eichinger, L. 111, 225, 235 Eisenberg, P. vi, 47, 52, 70-71, 77, 92-93, 106, 206, 235 Elspaß, S. 194 Embick, D. 251 Engel, U. 68 Erben, J. 202 Eroms, H.-W. vi, 68, 223-224, 228-230, 233-235, 240 Eschenlohr, S. 106, 110 Fanselow, G. 183 Felix, S. 183 Feuillet, J. 106 Fischer, A. 26, 225, 228-230, 232-233, 265 Fleischer, J. 182-183, 187, 189, 194, 201-202, 211, 213, 240, 263 Fleischer, W. 115 Fleischmann, K. 211-212 Földes, Cs. vii Fritz, G. 49 Froschauer, R. 159 Füglein, R. 152-153 Fuhrhop, N. vii, 83, 106-107 Gabelentz, v.d. 257 Gaeta, L. viii, 99, 102-103, 106, 110, 263 Gallmann, P. 38, 84, 185-186 Gardt, A. 210 Gelderen, E. v. 138, 254, 256, 258-262 Gergel, R. 260 Givón, T. 261 Goldberg, A. 250-251 Goltz, R. 182 Greenberg, J. vii, 4-5, 124, 126 Grimm, J. 168 Grosse, S. 128
Personenregister
Gunkel, L. 68 Haarmann, H. 5 Haegemann, L. 183 Hagège, C. 262 Halle, M. 251 Harbusch, K. 250-251 Härd, J. 227, vi, 229, 237 Harnisch, R. vi Hawkins, J. A. 254 Heim, I. 143 Heine, B. 252, 258, 260-262 Helbig, G. 68, 71 Hennig, M. 201-202, 208 Hentschel, E. 68 Henzen, W. 103-104, 108-109, 115 Heusler, A. 141 Hicks, G. 256 Himmelmann, N. 217 Hoeksema, J. 259 Hoekstra, J. 183 Hoffmann, L. 24, 68, 112-113 Hohenhaus, P. 110 Hopper, P. 196, 257 Hornstein, N. 183 Hünnemeyer, F. 260 Humboldt, W. v. 257 Hundsnurscher, F. 212 Husserl, E. 164-166 Ineichen, G. 101 Iturrioz Leza, J. 102, 164, 166167 Jackendoff, R. 114 Jäger, L. 199 Jakobson, R. 251 Janich, N. vii Jespersen, O. 89, 257, 259, 262 Kappacher, W. 144
283
Personenregister
Kemmer, S. 75-76 Kemmerling, S. 110, 115 Kempen, G. 250-251 Kempgen, S. 124 Klein, W. 225-228, 233, 238, 242 Kloock, M. 171 Kloocke, H. 171-173 Kluge, F. 161 Koch, P. 206, 208 Kolde, G. 138 Koller, E. 84-85, 94-95 Köller, W. 206 Koning, W. 172 Köpcke, K.-M. viii, 2, 16, 23, 27, 30-31, 52, 78 Kotin, M. 77 Kroch, A. 255 Krömer, G. 89 Kürschner, S. 133 Kunze, J. 68, 71 Kuteva, T. 252, 261-262 Labov, W. A. 259 Ladusaw, W. A. 259 Lang, E. 99 Le Bourdelles, H. 163 Lefevre, M. 202, 214 Lehfeldt, W. 124 Lehmann, Ch. vi, 203-204, 252, 258, 266 Leirbukt, O. 47, 54 Leiss, E. vi, viii, 6, 42, 137-138, 140, 146, 159, 224, 229, 233234, 237-241, 251, 254, 257258, 264, 269 Li, Ch. 141 Lightfoot, D. 255, 258 Lindgren, K. B. 265 Lindow, W. 93, 182 Lockwood, W. 108-109 Lohndal, T. 254-255, 260
Lohnstein, H. 42 Lyons, Ch. 156, 258 Majidi, M.-R. 156 Marantz, A. 251 Marti, W. 34 Mattheier, K. 195 Mayerthaler, W. 42 Merkle, L. 40 Mihatsch, W. 161 Mikkola, E. 163 Mingels, G. 190 Möller, R. 195 Mortelmans, T. viii, 47, 50, 54, 59, 227 Motsch, W. 110 Moulin-Fankhänel, C. 131 Müller, G. 68 Muhr, R. 69 Napoli, M. 143-144, 148, 155 Newmeyer, F. 258 Noth, H. 213 Nübling, D. vii-viii, 1, 14, 1819, 34, 105, 107, 123-125, 127, 134, 224, 231, 238 Nuyts, J. 49-50, 56 Oberle, B. 169 Oesterreicher, W. 206 Oppenrieder, W. vi, 185, 196, 240 Oubouzar, E. 126 Paul, H. 88, 114-115, 128 Payne, T. 76 Piltz, G. 170 Pittner, K. 114, 201-202, 204 Plank, F. 255 Pohl, H.-D. 68-69 Poitou, J. 131 Polenz, P. v. 2, 11
284
Ponten, P. 47 Primus, B. vi, 17, 19, 100, 225, 234-235 Rabanus, S. 12 Radford, A. 257 Raible, W. 206 Ramat, P. 87 Ramchand, G. C. 252 Rastorgueva, V. S. 155 Reichmann, O. 209-210, 212 Reis, M. 57 Ricca, D. 106 Riemsdijk, H. v. 183 Rijkhoff, J. 160 Roberts, I. 255 Roelcke, Th. vi, 3, 15, 100 Ronneberger-Sibold, E. vi, 3, 8, 10, 51, 68, 105, 124, 126, 132, 223-224, 240 Rosengren, I. 61 Saltveit, L. 182 Scheerer, E. 206, 209 Scheuringer, H. 69 Schmid, H.-J. 250 Schmidt, K. H. 2 Schmidt, W. 2 Schoorlemmer, M. 77 Schrodt, R. 128, 208 Schwarz, Ch. 231 Schwegler, A. 1, 4-9, 13-14, 16, 19-20 Sedlaczek, R. 69 Seiler, H.-J. 163 Selting, M. 188 Semenjuk, N. 202, 212-213 Siemund, P. 68, 159 Siever, T. vii Skalička, V. 102 Smirnova, E. viii, 47, 51, 227 Solms, H.-J. 130
Personenregister
Sommerfeldt, K.-E. 213 Sonderegger, S. 2, 126, 129130, 234 Spiekermann, H. viii, 7, 179, 189, 240 Springer, O. 90 Stedje, A. 1 Steinbach, M. 68, 76 Strecker, B. 68, 112-113 Szadrowsky, M. 170 Szczepaniak, R. vii-viii, 9, 97, 123 Tagliamonte, S. 50 Tao, J. 146-147 Tatzreiter, H. 69 Thim-Mabrey, Ch. vii Thompson, S. 141 Thun, H. 181 Thurmair, M. 106-107, 224, 234, 238 Traugott, E. C. 255, 258, 261 Tsurska, O. 260 Ungerer, F. 250 Vedovato, D. 262 Viechelmann, I. 93 Vinckel, H. 224 Vogel, P. M. vii, 83, 108-109, 113, 160, 166 Walker, A. G. H. 182 Warner, A. 155 Waters, C. 260 Weber, D. 159, 163 Wegener, H. 113 Wegera, K.-P. 130 Weinberg, A. 183 Weinrich, H. vi, 106, 238 Welke, K. 251 Werner, M. viii, 159
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Personenregister
Werner, O. 3, 9-10, 105-106, 124, 126, 134 Westvik, O. 47-49 Weydt, H. 68 Wiehl, P. 128 Wiese, H. 154 Wiesinger, P. 69, 249 Wilmanns, W. 169, 171, 174 Wolf, N. 2, 123 Wossidlo, R. 182
Wurzel, W. U. 13-15, 27, 44, 99-100, 104-106, 110, 124, 229-230, 234, 239 Yáñez-Bouza, N. 263 Ziegler, A. viii, 67, 78 Zifonun, G. 68, 70, 112-113 Zwarts, J. 183