Zwei Freunde – das sind Georg, die eigentlich Georgina heißt, und der Hund Tim. Noch bevor sie als Fünf Freunde weltber...
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Zwei Freunde – das sind Georg, die eigentlich Georgina heißt, und der Hund Tim. Noch bevor sie als Fünf Freunde weltberühmt werden, gehen Georg und Tim schon zusammen durch dick und dünn und lösen mutig ihre ersten Fälle. In diesem Band erleben sie ihr viertes Abenteuer. Der Vater von Georgs Freund Alf wird zu Unrecht verdächtigt, nicht der eigentliche Besitzer seines Fischerbootes zu sein. Aber wie kann er die Wahrheit beweisen? Bekümmert will Georg ihre Mutter um Rat fragen. Da diese keine Zeit hat, un ternehmen Georg und ihr Hund einen Spazier gang zum Felsenhof. Dort stoßen sie auf eine ge heimnisvolle Truhe – und finden unversehens ei nen Weg, Alfs Vater zu helfen.
Enid Blyton, 1897 in London geboren, begann im Alter von 14 Jahren, Gedichte zu schreiben. Bis zu ihrem Tod im Jahre 1968 verfasste sie über 700 Bücher und mehr als 10000 Kurzgeschichten. Bis heute gehört Enid Blyton zu den meistgelesenen Kin derbuchautoren der Welt. Ihre Bücher wurden in über 40 Sprachen übersetzt. Von Enid Blyton sind beim C. Bertelsmann Ju gendbuch Verlag und bei OMNIBUS folgende Se rien erschienen: »Zwei Freunde«, »Fünf Freunde«, »Fünf Freunde und Du«, »Die schwarze 7«, »Die verwegenen 4« und »Lissy im Internat«.
Zwei Freunde
und das Geheimins im Keller Aus dem Englischen von
Anna Claudia Wang
Illustriert von Lesley Harker
OMNIBUS
Der OMNIBUS Verlag gehört
zu den Kinder‐ & Jugendbuch‐Verlagen
in der Verlagsgruppe Random House
München Berlin Frankfurt Wien Zürich
www.omnibus‐verlag.de
Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform
1. Auflage 2001
© 2001 für die deutschsprachige Ausgabe
OMNIBUS/C. Bertelsmann Jugendbuch Verlag, München
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
© für den Originaltext 2000 Enid Blyton Limited, London
Enid Blytons Unterschrift ist ein eingetragenes Warenzeichen
von Enid Blyton Limited.
Die englische Ausgabe erschien unter dem Titel »Just George – George,
Timmy and the Secret in the Cellar « bei Hodder Headline Limited,
London, und wurde geschrieben von Sue Welford.
The right of Sue Welford to be identified as the Author of the Work
has been asserted by her in accordance with the Copyright,
Designs and Patents act 1998.
© für die Innenillustrationen 2000 Lesley Harker
Übersetzung: Anna Claudia Wang
Umschlagbild: Michael Braman/Which Art
Umschlagkonzeption und Reihengestaltung: Atelier Langenfass
st • Redaktion: Brigitta Taroni (Büro linguart, Zürich)
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
Druck: GGP Media, Pößneck
ISBN 3‐570‐12640‐0
Printed in Germany
Inhalt 1 Wieder einmal Hausverbot
9
2 Schlechte Nachrichten
19
3 Ein großes Problem
29
4 Lammfromm
40
5 Wo ist Tim?
50
6 Rettung naht
61
7 Der Brief
69
8 Eine gute Nachricht
78
9 Gestohlen!
87
10 Eine Spur
96
11 Zurück zum Felsenhof
105
12 Pech gehabt
113
13 Zum Glück gibt es Tim
123
1 Wieder einmal Hausverbot
»Es hat keinen Sinn, dich mit mir zu streiten, Ge orgina!«, brüllte Georgs Vater wieder einmal. »Der Hund bleibt draußen und damit basta!« »Aber Tim hat deine Aktentasche doch nicht mit Absicht zerkaut«, beharrte Georg. Ihre lebhaf ten blauen Augen blitzten vor Zorn. Ihr Vater hat te sie Georgina genannt, obwohl er wusste, dass sie das hasste! Und beim Gedanken, dass ihr klei ner Hund Tim in den Garten verbannt werden sollte, wurde ihr ganz übel. »Es ist mir völlig egal, ob er es absichtlich getan hat oder nicht«, entgegnete ihr Vater. Er war ein 9
groß gewachsener Mann mit dunklen Augenbrau en, die sich zu einem bedrohlichen Knäuel zu sammenballten, wenn er wütend war. »Tatsache ist, dass er meine schöne Aktentasche ruiniert hat. Und wenn es dir nicht passt, dass dein Hund draußen zu bleiben hat, dann musst du eben ein neues Zuhause für ihn suchen!« Mit diesen Wor ten stürzte er in sein Arbeitszimmer auf der ande ren Seite des Hauses zurück. Dort angekommen, schmiss er die Tür so kräftig ins Schloss, dass all die alten Fenster und Türen im Haus klirrten und bebten. Es gab keinen Zweifel, der arme Tim steckte wieder einmal in Schwierigkeiten. »Das ist ungerecht«, rief Georg hinter ihm her. Sie stampfte auf und schüttelte den Kopf, sodass ihre dunklen Locken flogen. »Findest du nicht, Tim?« »Wuff«, antwortete Tim. Der kleine Hund war eine zottige, braune Promenadenmischung und er verstand wie immer genau, was Georg sagte. Während ihr Vater herumgeschrien hatte, hatte er keinen Laut von sich gegeben. Georg hatte Tim vor einiger Zeit auf einem Spaziergang im Moor gefunden und schließlich behalten dürfen. Seither war er der glücklichste Hund auf der ganzen Welt. Der große Mann na mens Vater, der immer die Stirn runzelte, hatte 10
gesagt, er dürfe bleiben, aber nur solange er brav sei. Also gab sich Tim alle erdenkliche Mühe. Aber manchmal konnte er einfach nicht anders und musste auf etwas herumkauen. Alle jungen Hunde taten dies. Und als er das seltsame Ding auf dem Stuhl im Flur liegen sah, hatte er nicht gewusst, dass es Georgs Vater gehörte. Er hatte nur gesehen, dass sich bestens drauf rumkauen ließ … Nun schaute der kleine Hund mit den schmel zenden braunen Augen zu seiner Besitzerin hoch. »Wuff«, blaffte er erneut und trommelte mit sei nem zottigen Schwanz leise auf den Boden. »Wuff, wuff.« Georg bückte sich und drückte ihn fest an sich. Tim war ihr bester Freund. Sie liebte ihn mehr als alles auf der Welt, auch wenn er es nicht schaffte, ihren Vater nicht mehr zu verärgern. Es war ohnehin nicht schwierig, Georgs Vater zu verärgern. Er war ein bekannter Wissenschaft ler und steckte unzählige Stunden in seinem Ar beitszimmer. Dort beschäftigte er sich mit wichti gen Dingen und störte sich am kleinsten Geräusch und noch mehr, wenn jemand etwas von ihm wollte. Am allermeisten aber hasste er es, wenn Tim auf seinen Sachen herumkaute! »Komm Tim«, seufzte Georg. »Lass uns einen Spaziergang machen. Bis zum Abendessen hat Va 12
ter bestimmt vergessen, dass er dich nach draußen verbannt hat.« Ihr Vater war fürchterlich zerstreut und vergaß sogar oft, was für ein Tag gerade war. Georg hüpfte aus dem Haus und durch den Garten. Es war ein strahlend frischer Morgen. Die Blumen nickten in der leichten Brise mit ihren Blü tenköpfen, als sie und Tim an ihnen vorbeigingen. Das alte weiße Haus, in dem Georg lebte, hieß Felsenhaus. Es war groß und hatte eine schöne Haustür aus glänzendem, altem Holz. An den Mauern rankten sich Rosen hoch, manche reichten fast bis zu Georgs Zimmer, das ganz oben unterm Dach lag und von dem aus sie auf die Felsenbucht hinabblicken konnte. Der Garten war voll mit Blumenrabatten und Gemüsebeeten. Die Familie von Georgs Mutter lebte schon seit Generationen in der Gegend und weder Georg noch ihre Eltern konnten sich vor stellen, woanders zu wohnen. Georg war kein Bilderbuchmädchen. Rock und Bluse konnte sie nichts abgewinnen und Puppen fand sie öde. Sie war schnell wie der Wind und zu ihren Lieblingsbeschäftigungen zählten Segeln, Schwimmen und Pfeifen. Weil ihre langen Locken bei fast allem, was sie am liebsten tat, störten, hat te sie sich diese kurzerhand abgeschnitten. Ihre Himmelfahrtsnase war mit Sommersprossen über 13
sät und da sie fast immer draußen spielte, war sie braun wie eine Haselnuss. Georg liebte das Felsenhaus heiß und innig. Es blickte von einer malerischen Klippe auf die von einem goldenen Sandstrand eingefasste Felsen bucht hinab. Draußen lag eine kleine felsige Insel, die die Bucht viele hundert Jahre lang vor Ein dringlingen geschützt hatte. Davon zeugte immer noch eine Burgruine mit zwei Türmen, die stolz und geheimnisvoll emporragte. Die Insel gehörte seit vielen Jahren Georgs Mut ter und diese hatte Georg versprochen, sie ihr ei nes Tages zu schenken. Georg und Tim verließen den Garten durch das hintere Tor und machten sich auf den Weg. Georg bemühte sich, den Streit mit ihrem Vater zu ver gessen. Sie steckte die Hände in die Hosentaschen und pfiff ein fröhliches Lied. Wenn sie pfiff, fühlte sie sich immer gleich besser. Die beiden schlugen den schmalen Weg ein, der hinter dem Felsenhaus zum Moor führte und sich gabelte. In der einen Richtung führte er zur Bucht hinab, in der andern zum Dorf und in einer drit ten mündete er in die Landstraße, die zum Fel senhof führte. Auf diesem Bauernhof war Georgs Mutter aufgewachsen und mittlerweile lebte dort ein altes Ehepaar namens Sanders. Georg besuchte die beiden und ihre Tiere sehr gern und hatte Tim 14
versprochen, ihn so bald wie möglich einmal dorthin mitzunehmen. Heute beschloss sie jedoch, ins Dorf Felsenburg hinunterzuspazieren. Der Weg dorthin führte am kleinen Hafen vorbei und sie wollte ihren Freund Alf besuchen. Alf war der Sohn eines Fischers von Felsenburg. Der Junge mochte Tim sehr und es war lange her, seit der kleinen Hund von seinem Freund das letzte Mal geknuddelt und mit einem Leckerbissen verwöhnt worden war. Tim jagte voraus, nachdem sie beide den Weg zum Dorf eingeschlagen hatten. Es war wirklich ein wunderbarer Tag. Die Sonne schien und die Lerchen sangen. Kleine weiße Schäfchenwolken zogen über den blauen Himmel. Georg hörte zu pfeifen auf und nahm einen tie fen Atemzug voll würziger Meerluft. Es war ja viel zu schön heute, um lange böse zu sein. Der Vater würde seine Drohung bestimmt bald ver gessen und Tim wieder ins Haus lassen. Schließ lich hatte er dem kleinen Hund schon mehrmals Hausverbot erteilt und es am folgenden Tag jedes Mal wieder vergessen. Georg blieb nichts anderes übrig, als die Daumen zu drücken und zu hoffen, dass es auch diesmal so sein würde. »Oh, sieh nur, Tim«, rief das Mädchen, als ein rotschwarzer Schmetterling sich auf einem Strauch mit hellrosa Blüten am Wegrand nieder 15
ließ. Sie beugte sich hinunter. »Komm und sieh dir das an!« Tim kam angerannt. »Wuff«, sagte er. Er stellte die Ohren auf und betrachtete das seltsame Tier mit den großen Flügeln. Auf beiden leuchtete ein Punkt, wie Augen, die ihn anstarrten. Tim legte den Kopf schief, dann schreckte er mit einem et was bangen Winseln zurück. Er war sich nicht si cher, ob er diese zwei Glotzaugen mochte. »Dummer alter Tim«, lachte Georg und um armte ihn. »Der tut dir doch nichts.« Tim schlich vorsichtig wieder näher, um den Schmetterling zu beschnuppern. Aber gleich dar auf schreckte er erneut zurück, denn in diesem Augenblick flog der Schmetterling flatternd auf und verschwand in der lauen Luft. »Dummer alter Tim«, kicherte Georg noch ein mal und erhob sich. »Los! Wer zuerst am Hafen ist!« Bald hatten sie den Hafen erreicht, wo der Weg endete. Sie sprangen von der Böschung auf den Strand und rannten zu der Stelle hin, an der die Fischerboote lagen. Es waren sechs, alle in leuch tenden Farben gestrichen und mit einem kleinen Steuerhäuschen auf dem Deck. Ihre hohen Masten klirrten leise in der sanften Brise. Weiter oben am Strand ragten die riesigen Stahlseilwinden empor, mit denen die Boote aus 16
dem Wasser und hinauf zur Hafenmauer gezogen wurden. Dort waren sie vor der Flut in Sicherheit, bis sie wieder in See stachen. Alfs Vater besaß ein Boot namens Sally Ann. Georgs Großvater hatte es Alfs Großvater vor vie len Jahren zum Dank dafür geschenkt, dass er ihm in einem Seesturm das Leben gerettet hatte. Plötzlich blieb Georg, die Hände in die Hüften gestemmt, mit einem verwirrten Blick stehen. Es war seltsam still. In der Regel wimmelte es hier von Fischern, die ihre Winden ölten, Netze flick ten, Decks schrubbten oder sich anschickten, mit der nächsten Flut in die Fischgründe vor Felsen
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burg auszulaufen. Sie schaute ihnen bei ihrer täg lichen Arbeit gern zu. Oft saß sie hier und plau derte mit Alf, während er seinem Vater half. Doch an diesem Morgen lagen der Strand und der kleine Hafen wie ausgestorben da. Nur das leise Schwappen der Wellen und das Gekreisch der Möwen war zu hören, die über Georg und Tim hinwegflogen. Das war wirklich sehr seltsam. »Wo sind sie denn bloß alle abgeblieben, Tim?«, fragte Georg ganz verblüfft. »Wuff, wuff«, antwortete Tim und es klang e benfalls ziemlich ratlos. Er hatte sich darauf ge freut, seinen Freund Alf zu sehen und jetzt war keine Menschenseele hier. Wo waren sie denn al le? Wenn sie nicht bald auftauchten, konnte er seinen Leckerbissen für heute wohl vergessen.
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2 Schlechte Nachrichten
Georg und Tim blieben noch ein wenig am Strand und warteten auf Alf. Als sie am Ufer ent langschlenderten, um sich die Zeit zu vertreiben, fand Georg ein Stück Treibholz. »Hol es!«, rief sie Tim zu und warf das morsche Ding ein Stück weit ins Meer. Der kleine Hund schoss über den Kies und – platsch! – ins Wasser. Er konnte noch nicht wirk lich schwimmen, aber im Wasser zu plantschen 19
und die Wellen zu jagen gehörte zu seinen Lieb lingsspielen. »Wurf, wurf«, bellte er das Treibholz so laut wie möglich an. Es tanzte knapp außer Reichweite auf den Wellen. »Na, hol es!«, rief Georg aus voller Kehle und hüpfte auf und ab. »Sei doch kein Angsthase!« Und kaum schwappte das Treibholz mit einer Welle in Griffnähe, stürzte sich Tim darauf. Er packte es, drehte sich um und kam stolz damit im Maul angetrabt. »Gut gemacht! Ach Tim, du bist so mutig! He, du spritzt mich ganz nass«, rief Georg lachend, als Tim sich neben ihr kräftig schüttelte. Sie spielten noch eine Weile. Dann setzte sich Georg in den Schatten der Sally Ann. »Komm, mach Platz, Tim. Ich bin ganz kaputt«, stöhnte sie und streichelte ihm über den zottigen Kopf, als er sich neben sie legte. Seine rosa Zunge hing ihm aus dem Maul und er hechelte wie eine Dampf lok. »Ach Mensch«, sagte Georg schließlich un gehalten, weil ihr Freund Alf nicht da war, um mit ihr zu plaudern. »Wo bleiben sie nur alle? Wir können doch nicht den ganzen Tag auf sie warten!« Plötzlich knurrte Tim leise und tief und Georg entdeckte einen Mann im dunklen Anzug. Er kam über den Strand und ging auf die Sally Ann zu. Ge 20
org kannte die meisten Leute, die in Felsenburg leb ten, aber diesen Mann hatte sie noch nie gesehen. Der Fremde blieb stehen und blickte stirnrun zelnd zum Deck hoch. Dann ging er um das Boot herum. »Ist da jemand?«, hörte Georg ihn rufen. Sie packte Tim am Halsband, um zu verhin dern, dass er auf den Mann zurannte und ihn an bellte. Sein Nackenfell war gesträubt und sie spür te, dass ihm der Fremde ganz und gar nicht ge heuer war. »He, junger Mann, weißt du, wo der Fischer ist, dem das Boot hier gehört?«, fragte der Fremde nun Georg, als er sie dort sitzen sah.
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»Nein, tut mir Leid«, antwortete Georg und grinste, weil der Mann sie für einen Jungen hielt. Sie fand es stets spaßig, wenn das passierte. »Wir suchen ihn ebenfalls. Sieht ganz so aus, als wären heute Morgen alle verschwunden. Ich habe keine Ahnung, wo sie sein könnten.« »Naja, ich bin sicher, dass er bald kommt«, meinte der Mann. »Ich warte mal hier.« Er ging zur Hafenmauer hoch und setzte sich. Georg sah, wie er einen Blick auf seine Armbanduhr warf und mit den Fingern ungeduldig auf seiner Ak tentasche herumtrommelte. »Komm Tim«, sagte Georg nach einer Weile und stand auf. Sie hatte die Warterei satt. »Lass uns ein Eis kaufen, ja? Wenn wir Alf nicht finden, müssen wir uns für heute Morgen eben was ande res Gutes einfallen lassen.« »Wurf«, erwiderte Tim und preschte begierig los. Er liebte Eis über alles, noch mehr als die Kleinigkeiten, die sein Freund Alf ihm jeweils zu steckte. Er hüpfte neben Georg her, die zur Ha fenmauer hochlief. Georg sprang darüber, er ihr nach, dann hielten beide am Straßenrand an. »Sitz«, befahl sie dem kleinen Hund und Tim setz te sich gehorsam bei Fuß. Georg wusste, dass sie vorsichtig sein musste. Felsenburg war zwar ein schläfriges Nest, aber trotzdem kam hin und wieder ein Auto angerast. 22
»Brav«, lobte sie ihn. Nachdem sie sich vergewis sert hatte, dass kein Auto kam, sagte sie: »Dann lass uns gehen.« Aber die beiden kamen nicht bis zum Eisver käufer. Als sie am kleinen Strandcafé vorbeiliefen, machten sie eine ungewohnte Entdeckung. Dort drin saßen sämtliche Fischer von Felsenburg ver eint an einem Tisch und unterhielten sich. Dabei wirkten sie sehr ernst. »Was da wohl los ist?«, fragte Georg, die hin einspähte. »Wurf«, antwortete Tim, was wohl hieß: »Lass uns reingehen und es herausfinden.« Durch das Fenster sah Georg, dass Alf und sein Vater ebenfalls da waren. Sie sahen einander sehr ähnlich. Beide hatten dichtes dunkelbraunes Haar und von Sonne und Salzluft wettergegerbte Ge sichter. »Los Tim«, sagte Georg, kaum hatte sie ihren Freund entdeckt. »Lass uns hineingehen und ihm Guten Tag sagen.« Alf blickte überrascht auf, als Georg und Tim durch die Tür kamen. »Georg, Tim, alter Junge, Guten Tag«, rief er und beugte sich vor, um den kleinen Hund zu streicheln, der an ihm hochsprang. »Was macht ihr zwei denn hier?« »Wir wollten dir hallo sagen«, erklärte Georg, »und haben unten am Hafen auf dich gewartet. 23
Wir haben dich schon ewig lange nicht mehr ge sehen und Tim wollte wieder einmal einen kleinen Leckerbissen von dir.« »Na, dann will ich doch mal nachsehen, ob sich etwas finden lässt«, meinte Alf und griff in seine Hosentasche. Er zog ein ziemlich schmieriges Pfef ferminzbonbon heraus. »Hier, mein Alter, was hältst du davon?« »Wuff«, erwiderte Tim. Blitzschnell verschlang er das Bonbon und wartete hoffnungsvoll auf Nachschub. »Tut mir Leid«, sagte der Junge und grinste be dauernd. »Mehr kann ich dir heute nicht bieten.« Er leerte seine Taschen. Dabei kamen Seilenden, ein Taschenmesser, ein Taschentuch, das nach Fisch roch, und eine Schachtel Streichhölzer zum Vorschein, aber kein Pfefferminzbonbon und auch sonst nichts Essbares mehr! »Wuff«, gab sich Tim geschlagen und legte sich vor Alf auf den Boden. Immerhin, ein Bonbon war besser als keines! Er senkte die Schnauze auf die Vorderpfoten und seufzte tief auf. Georg und Alf waren schon lange befreundet. Er war älter als sie und früh von der Schule abge gangen, um seinem Vater auf dem Boot bei der Arbeit zu helfen. Sie verdienten sich ihren Le bensunterhalt mit dem, was die Fanggründe von Felsenburg hergaben, und wohnten in einem der 24
kleinen weiß gestrichenen Fischerhäuschen am Hafen. Alfs Vater und die übrigen Fischer diskutierten mit lauter Stimme. »Ich wüsste nicht, wie wir das beweisen könn ten«, sagte Alfs Vater gerade und stützte den Kopf in die Hände. »Es sieht ganz so aus, als würde ich die Sally Ann verlieren. Ich habe keine Ahnung, was mein Sohn und ich tun sollen, wenn wir unse ren Lebensunterhalt nicht mehr damit verdienen können! Vielleicht müssen wir in die Stadt ziehen, um Arbeit zu finden.« Georg hatte mitgehört. »Die Sally Ann verlie ren!«, rief sie nun entsetzt. »Was um Himmels wil len meint dein Vater damit, Alf?« Alf verzog betrübt das Gesicht. »Vater hat ei nen Brief vom Fischereiministerium erhalten«, er klärte er. »Was ist ein Fischereiministerium«, fragte Ge org stirnrunzelnd. »Das ist die Regierungsabteilung, die sich um die Fischindustrie kümmert«, antwortete Alf. »In dem Schreiben heißt es, jemand habe ihnen schriftlich mitgeteilt, die Sally Ann gehöre gar nicht meinem Vater.« »Wer hat denn so etwas Dummes geschrie ben?«, fragte Georg empört. »Natürlich gehört ihm die Sally Ann.« 25
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»Sie wollen uns nicht verraten, wer sie ange schrieben hat«, antwortete Alf traurig. »Aber sie glauben, was drin steht, und darum müssen wir das Boot möglicherweise hergeben.« »Aber das ist doch der totale Quatsch«, erregte sich Georg, die immer wütender wurde. »Mein Großvater hat die Sally Ann doch deinem Großva ter geschenkt.« Die Mutter hatte ihr unzählige Mal erzählt, wie Alfs Großvater ihrem Vater, also Georgs Großva ter, das Leben gerettet hatte. Georg hatte diese Geschichte immer unheimlich spannend gefun den und sich gewünscht, sie wäre damals dabei gewesen. »Ich weiß«, meinte ihr Freund bekümmert. »Aber wir haben keinen schriftlichen Beweis da für.« »Meine Mutter kann es bestimmt beweisen!«, beharrte Georg, nun wirklich zornig. Wie konnte jemand einen solchen Brief schreiben und derart schlimme Lügen verbreiten? »Sie kann es dem Ministerium bestätigen.« »Da liegt leider genau das Problem, Meister Ge org«, warf nun Alfs Vater ein, der ihr zugehört hat te. Er wusste, dass sie es nicht mochte, wenn man sie Georgina nannte. Deshalb nannte er sie stets augenzwinkernd Meister Georg. »Wir können schon darauf beharren, dass dein Großvater uns 27
das Boot gegeben hat, aber wir haben keine rechts gültigen Papiere, um es schriftlich zu belegen.« »Du musst wissen, Georg«, erklärte Alf, »von Gesetzes wegen dürfen nur Fischer vor Felsen burg fischen, die ein Boot besitzen. Es sieht des halb so aus, als würden Vater und ich unseren Job verlieren.«
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3 Ein großes Problem
Nachdem die Fischer ihre Zusammenkunft be endet hatten, gingen Georg und Tim mit ihnen zum Hafen zurück. Georg hielt sich neben Alf. Sie machte sich große Sorgen um ihn und seinen Vater. Der Gedanke, dass die beiden ihr Boot verlieren und wegziehen könnten, machte sie ganz traurig. Ohne Alf und sein Vater wäre Fel senburg nicht mehr Felsenburg. Zwar war Tim Georgs allerbester Freund, aber auch Alf zählte zu ihren Freunden und sie würde ihn sehr ver missen. 29
Plötzlich erinnerte sie sich daran, dass jemand nach Alfs Vater gefragt hatte. »Da hat vorhin ein Mann nach Ihnen gefragt«, sagte sie zu dem stämmigen Fischer, nachdem sie ihm nachgerannt war und ihn eingeholt hatte. Alfs Vater zog die Brauen hoch. »Ein Mann? Was wollte er denn?« »Keine Ahnung«, erwiderte Georg. »Aber er sagte, er würde warten, bis Sie wiederkommen.« Alfs Vater lief über die Straße und zu dem Mann hinüber, der tatsächlich immer noch auf ihn wartete. Er saß wie zuvor auf der Hafenmauer und litt in seinem schicken Anzug offenbar ziem lich unter der Hitze und dem strahlenden Sonnen schein. Beim Anblick des auf ihn zueilenden Fi schers stand er auf. Alf, Georg und Tim blieben in einiger Entfer nung stehen und verfolgten ihr Gespräch. Alfs Va ter blickte grimmig. »Ich bin hier, um zu überprüfen, ob Sie den Brief bezüglich des Eigentumsrechts an der Sally Ann erhalten haben«, hörte Georg den Mann sagen. »Bis jetzt haben Sie ihn noch nicht beantwortet.« »Richtig, aber das kann ich ja jetzt tun«, erwi derte Alfs Vater hitzig. »Das Boot gehört mir auf Ehre und Gewissen.« Er sah äußerst aufgebracht aus. »Und das Gegenteil können Sie nicht be weisen.« 30
»Er kommt vom Ministerium«, flüsterte Alf dumpf. »Er sagt Vater, dass er auf sein Boot ver zichten muss.« »Das kann er nicht machen!«, rief Georg und blickte finster. »Ich sage ihm, dass die Sally Ann euch gehört!« Entschlossen und wütend ging sie auf den Fremden zu, Tim hinter ihr her. Wenn seine Besit zerin so ein Gesicht machte, stand sie kurz davor zu explodieren! »Hören Sie, mein Großvater hat die Sally Ann Alfs Großvater geschenkt«, erklärte Georg mit blitzenden Augen. »Sie können ihm das Boot also nicht wegnehmen!« »Tut mir Leid, mein Junge«, sagte der Mann vom Ministerium. »Ohne schriftlichen Nachweis der Eigentumsrechte am Boot wird ihnen die Fi schereilizenz entzogen.« Er wandte sich an Alf und seinen Vater und fügte unerbittlich hinzu: »Sie haben fünf Tage Zeit, diesen schriftlichen Nachweis für ihren Eigentumsanspruch zu finden. Ich wünsche Ihnen allen einen guten Tag!« Mit diesen Worten drehte er sich um und ging über den Strand davon. Alle standen da und sahen ihm wie betäubt nach. Alfs Vater verzog zornig das Gesicht, als die übrigen Fischer am Hafen auftauchten und sich um ihn scharten. Sie hatten den Mann gerade 32
noch weggehen sehen und sprachen nun alle gleichzeitig. Alf schloss sich der Gruppe an. Sie schüttelten alle die Köpfe und diskutierten erregt miteinan der. Es gab keinen Zweifel, die Lage für Alf und seinen armen Vater war sehr ernst. Sie schienen Georgs Anwesenheit völlig ver gessen zu haben. »Komm Tim«, seufzte sie trau rig. Ach, sie wünschte sich von ganzem Herzen, helfen zu können. »Wir gehen wohl besser nach Hause und sehen nach, ob Vaters schlechte Laune verraucht ist und du wieder ins Haus darfst.« »Wuff«, meinte Tim und jagte voraus. Er verstand nicht ganz, was geschehen war, aber er spürte, dass an diesem Tag nicht nur Georgs Vater schlecht gelaunt war! Georg schlenderte nachdenklich den Pfad ent lang, während Tim vergnügt wie immer voraus eilte. Sie war niedergeschlagen und hoffnungs los. Nicht auszudenken, wenn ihr Freund Alf und sein Vater nicht mehr vor Felsenburg fi schen dürften. Und noch schlimmer, wenn sie aus Felsenburg wegziehen müssten. Schon Alfs Großeltern hatten ihr ganzes Leben hier im Ort verbracht. Georg wagte sich gar nicht auszuma len, wie das wäre, von Felsenburg wegziehen zu müssen. Es war doch der schönste Ort auf Er 33
den. Wenn sie ihnen doch nur irgendwie helfen könnte! Georg beschloss, ihre Mutter zu fragen. Sie wusste immer Rat. »Komm Tim, schnell«, rief sie und setzte sich in Trab. »Je schneller wir Mutter davon erzählen können, desto schneller können wir ihnen viel leicht helfen.« Zu Hause fanden sie Johanna, die freundliche Haushaltshilfe, leicht aufgelöst vor. »Wir haben keine Eier mehr«, sagte sie gerade zu Georgs Mutter, als Georg und Tim zur Tür her einstürzten. »Und ich habe Herrn Quentin ein Omelett zum Abendbrot versprochen. Er wird nicht besonders erfreut sein, wenn er sich statt dessen mit etwas anderem begnügen muss.« Quentin war Georgs Vater und wenn man ihm etwas versprach, erwartete er, dass es auch ein gehalten wurde. »Mutter, ich muss mit dir über etwas furchtbar Wichtiges reden«, drängte Georg. »Tut mir Leid, Liebes«, gab die Mutter zur Antwort. Sie wandte sich Georg zu und umarmte sie. »Ich bin eigentlich schon weg. Ich muss den Zug nach London erwischen und wenn ich mich nicht beeile, verpasse ich ihn.« Georgs Mutter wollte für ein paar Tage zu Ge orgs Tante und Onkel fahren. Die beiden wohnten 34
in London und hatten drei Kinder, Georgs zwei Vettern Julius und Richard sowie ihre Kusine An‐ ne. Keines von ihnen war je in Felsenburg gewe sen und Georg kannte sie gar nicht. Ehrlich ge sagt, war sie auch nicht besonders scharf darauf, sie kennen zu lernen. Am wenigsten das Mäd chen. Georg war gern für sich und der Gedanke, dass andere Kinder ins Felsenhaus kommen könn ten, behagte ihr nicht im Geringsten. »Bitte Mutter, es dauert nicht lange, wirklich«, bettelte Georg. Die Mutter warf einen Blick auf die Uhr. »Ich ruf dich heute Abend an, ja?«, versprach sie. »Und dann kannst du mir alles erzählen.« »Und was ist mit den Eiern?«, jammerte Jo hanna. »Tja, das tut mir Leid, Johanna«, erwiderte Ge orgs Mutter, »doch darum kann ich mich nun wirklich nicht kümmern. Aber mein Mann hat das Omelett bis zum Abendbrot vermutlich ohnehin vergessen.« »Ja, das ist allerdings durchaus möglich«, seufz te Johanna. »Ich habe bloß keine Ahnung, was ich ihm sonst vorsetzen soll.« »Sei schön brav, während ich weg bin, Liebes«, sagte Georgs Mutter und umarmte ihre Tochter zum Abschied. »Und gib Acht, dass Tim sich nicht wieder an Vaters Sachen vergreift.« 35
»Ja Mutter«, antwortete Georg und umarmte sie ebenfalls. »Und tu, was Johanna sagt«, fügte die Mutter hinzu. »Sie wird sich um dich kümmern, während ich weg bin.« »Ja, Mutter«, wiederholte Georg und küsste sie auf die Wange. »Viel Vergnügen in London.« Die Mutter nahm den Koffer und ging zur Tür hinaus. »Auf Wiedersehen, Liebes«, rief sie noch einmal. »Bis nächste Woche.« »Mist«, rief Georg, nachdem ihre Mutter ge gangen war. Sie setzte sich an den Küchentisch und stützte das Kinn in die Hände. »Mist, Mist!
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Wenn Mutter Alf nicht helfen kann, dann weiß ich endgültig nicht mehr weiter.« »Wovon um alles in der Welt redest du, Ge org?«, fragte Johanna und setzte sich neben sie. »Was ist mit Alf?« Schnell erklärte Georg, worum es ging. »Um Gottes willen!«, rief Johanna am Ende er schrocken. »Was sollen sie bloß tun?« »Ich habe keine Ahnung«, seufzte Georg. »Es nützt nichts, wenn du dir den Kopf darüber zerbrichst«, tröstete Johanna. »Es wird sich be stimmt früher oder später eine Lösung finden. Sei nicht so traurig, geh und spiel doch was.« »Wir haben keine Lust zum Spielen«, sagte Ge org dumpf. »Habe ich Recht, Tim?« »Wuff«, erwiderte Tim, legte sich hin und plat zierte seinen Kopf auf Georgs Fuß. Plötzlich strahlte Johanna über das ganze Ge sicht. Sie hatte eine Idee. »Wenn du nichts Bestimm tes vorhast, dann habe ich eine Aufgabe für dich.« »Was für eine Aufgabe?«, fragte Georg lustlos. Johanna verstand unter Aufgabe manchmal so öde Dinge wie etwa das Zimmer aufzuräumen, was Georg hasste. »Du könntest zum Felsenhof spazieren und mir ein paar frische Eier für das Omelett besorgen«, schlug Johanna vor. »Das wäre schon mal eine Lö sung für mein Problem.« 37
»Das ist eine gute Idee«, sagte Georg und ihre Miene hellte sich etwas auf. »Ich hatte Tim sowie so versprochen, einmal mit ihm dorthin zu gehen. Hast du gehört Tim? Wir gehen zum Felsenhof!« Beim Wort Felsenhof spitzte Tim die Ohren. Seine Besitzerin hatte es schon oft erwähnt. Hieß das, dass er den Hof endlich zu sehen bekam? »Wir könnten unterwegs einen Picknickhalt einlegen«, setzte Georg noch hinzu. »Ich kenne viele wunderschöne Plätzchen. Das würde uns echt gut tun. Was meinst du, Tim?« »Wuff«, antwortete Tim und sprang an ihr hoch. Picknicken war ebenfalls eine seiner Lieb lingsbeschäftigungen. Und so stellte Johanna für Georg und ihren kleinen Hund etwas Proviant zusammen, damit sie auf dem Weg zum Felsenhof einen Picknick halt einlegen konnten. Für Georg gab es Schin kenbrote, rote Tomaten, knackigen Stangenselle rie, einen Apfel und ein großes Stück Früchteku chen und zum Herunterspülen eine Flasche haus gemachte Ingwerlimonade. Für Tim packte Georg einige seiner Spezialkekse ein, an denen er immer so schön lange herumkauen konnte. Seine Nase begann zu zucken, als er witter te, wie sie in den Proviantbeutel wanderten. »Komm, wir legen den Beutel in den Korb«, schlug Johanna vor und holte einen rechteckigen 38
Weidenkorb aus dem Schrank. »Darin kannst du auf dem Rückweg die Eier transportieren. So sind sie etwas geschützt.« »Komm Tim, guter Hund«, rief Georg aufge regt, nachdem alles im Korb verstaut war. »Jetzt lernst du endlich den Felsenhof kennen.«
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4 Lammfromm
Sie wanderten den Pfad entlang und bogen in die steinige Landstraße ein, die zwischen den Feldern hindurchführte. Es war wunderbar, im warmen Sonnenschein dahinzuspazieren. Georg schwang den Korb fröhlich hin und her. »Ich komme mir vor wie Rotkäppchen«, rief sie Tim zu, der voraustrabte. Er war auf der Jagd nach neuen, aufregenden Gerüchen und seine Na se fuhr wie ein kleiner Staubsauger über den Bo 40
den. Einmal witterte er eine Maus, die über die Straße in ein Gebüsch getrippelt war. Dann roch es nach Wurm und Tim grub die Nase ins Gras in der Hoffnung, ihn noch zu finden. Er begann mit seinen scharfen Krallen ein Loch zu buddeln und die trockene Erde flog in alle Windrichtungen. »Ach lass das, Tim!«, rief Georg. »Es ist viel zu schön heute, um rumzubuddeln!« Tim fand es zwar zum Buddeln nie zu schön, aber er rannte trotzdem zu seiner Besitzerin. Er verlor sie nicht gern aus den Augen, es sei denn, er stieß auf ein wirklich außerordentlich interes santes Forschungsobjekt. Der kleine Hund trabte wieder voraus und be obachtete, wie die wilden Kaninchen mit ihren weißen Schwanzquasten in alle Richtungen da vonhoppelten. Er hätte ihnen zu gern nachgesetzt, aber er wusste, dass er das nicht durfte. Schon nach kurzer Zeit begann Georgs Magen zu knurren. »Picknickzeit, Tim«, rief sie und kletterte über einen Zauntritt in ein Feld neben der Landstraße. »Ich bin am Verhungern!« Tim folgte ihr, indem er sich neben dem Zaun tritt unter dem Zaun hindurchzwängte. »Das ist ein gutes Plätzchen, um Rast zu ma chen«, meinte Georg. Sie drückte ein kleines Stück im hohen, warmen Gras flach und setzte sich. 41
»Schau, von hier aus kannst du direkt aufs Meer sehen.« »Wuff«, antwortete der kleine Hund und setzte sich mit heraushängender Zunge neben sie. Dann hörte er auf zu hecheln und leckte Georg die Hand. Mit dem wunderbaren Ausblick auf das glit zernde Meer in der Ferne machten sich Georg und Tim über ihr Picknick her. Johanna hatte ein rot‐weiß kariertes Tuch mit in den Korb gelegt. Georg breitete es neben sich aus und legte den Apfel, die Schinkenbrote, den Selle rie, die Tomaten und Tims Vorrat an Spezialkek sen darauf. »Aber doch nicht alle auf einmal!«, wies sie ih ren kleinen Freund sanft zurecht, als er all seine Kekse auf einen Haps zu verschlingen versuchte. »Wenn du dich benimmst, bekommst du etwas von meinen Schinkenbroten ab.« »Wuff, malm«, meinte Tim dazu. Bald hatte Georg ihre Leckerbissen verputzt. Nur das Gehäuse des Apfels blieb übrig. Sie lehn te sich im Gras zurück und strich sich über den vollen Bauch. »Das war köstlich, nicht wahr, Tim?« »Wuff«, stimmte er ihr von ganzem Herzen zu. Ein Picknick von Johanna war immer köstlich. Rundum summten die Bienen im Gras und in der 42
lauen Sommerluft zwitscherten die Lerchen. Tim stieß einen zufriedenen Seufzer aus. Er war wirk lich der glücklichste Hund auf der ganzen Welt. »Los, weiter geht’s, Tim«, sagte Georg, die sich schließlich aufrappelte und den leeren Korb nahm. »Lass uns jetzt zum Felsenhof gehen. Ich bin sicher, dass du die Tiere dort alle ebenso magst wie Herrn und Frau Sanders auch. Sie sind sehr freundlich.« »Wuff«, stimmte Tim ihr wie immer zu. Sie kehrten auf die Landstraße zurück und be gannen den Hügel hochzusteigen. »Dort ist der Felsenhof!«, rief Georg und zeigte auf ein weißes Bauernhaus, das sich stolz und be häbig auf halber Höhe erhob. Sie begann zu lau fen. »Komm Tim, beeil dich! Lass uns sehen, ob Herr und Frau Sanders zu Hause sind!« Oben angekommen, blieb Georg zögernd vor dem großen Holztor stehen, das den Innenhof ab schloss. Die Sanders hatten zwei schottische Schä ferhunde, die möglicherweise keinen anderen Hund auf ihrem Gebiet duldeten. Doch weder Ben noch Rob waren zu sehen und so öffnete Georg das Tor und ging weiter. »Oh, guten Tag, Meister Georg!«, tönte es er staunt, aber sehr freundlich vom Milchschuppen her. Eine lebhafte Frau im geblümten Sommer kleid und in schwarzen Gummistiefeln kam her 43
aus. In jeder Hand trug sie einen Eimer. »Wie schön, dass du uns wieder einmal besuchen kommst! Wir haben dich ja ewig lange nicht mehr gesehen.« »Guten Tag Frau Sanders«, strahlte Georg. Sie fand es wunderbar, wenn die Leute sie Meister Georg nannten. »Ich komme ein paar Eier holen und um Ihnen meinen neuen Hund zu zeigen.« »Das ist aber schön«, freute sich Frau Sanders. »Ich war mir allerdings nicht sicher, ob Ihre Hunde etwas dagegen haben, wenn er auf den Hof kommt«, setzte Georg noch hinzu. »Ach, mach dir um die keine Sorgen«, antwor
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tete die Bäuerin. »Die sind mit meinem Mann draußen auf dem Hügel und sehen nach den Scha fen. Aber sie freuen sich sicher, den kleinen Kerl kennen zu lernen.« Sie bückte sich und tätschelte Tim freundlich. »Ich habe ihn gefunden«, erklärte Georg, wäh rend sie mit Frau Sanders in die große Küche ging. »Gefunden? Da hast du aber Glück gehabt!«, rief Frau Sanders aus, die geschäftig herumhan tierte. »Was möchtest du denn an diesem schönen Sommertag am liebsten trinken? Holunder‐ oder Ingwerlimonade? Übrigens habe ich gerade Kekse gebacken, die musst du unbedingt versuchen.« »Huch«, lachte Georg. »Wir haben soeben ein Riesenpicknick verputzt. Aber für einen Ihrer köst lichen Kekse finde ich schon noch irgendwo Platz!« Bald saß Georg vor einem Glas Holunderlimo nade und aß einen Keks. Frisch und warm, wie er aus dem alten Ofen kam, der seine Wärme auch mitten im Sommer in der Küche verströmte, duf tete er verführerisch. »Kann ich Tim noch die Tiere zeigen?«, fragte Georg. »Er hat noch nie eine Kuh gesehen.« »Tu das, Meister Georg«, lachte die Bäuerin. »Ich muss noch die Milcheimer zu Ende putzen und dann fahre ich mit dem Rad zum Markt. Die Eier kannst du selbst suchen. Nimm so viele, wie du willst, und zeig deinem Freund den Hof.« 45
»Danke«, erwiderte Georg und trank ihre Li monade mit großen Schlucken aus. »Komm Tim. Zuerst zeige ich dir die Kühe.« Die schwarz‐weiß gefleckten Kühe standen draußen auf der Weide hinter der langen Scheune. Sie kamen gemächlich angetrottet, als sie Georg und Tim am Zaun entdeckten. Als sie näher kamen, wich Tim sicherheitshal ber ein wenig zurück. Man konnte ja nie wissen, was diesen vierschrötigen Wesen mit ihren großen Hufen und den unruhigen Schwänzen so alles ein fiel. Sie rochen auch seltsam, nach Bauernhof zwar, aber der Geruch war doch neu für ihn. »Ganz ruhig Tim«, lachte Georg. »Die tun dir nichts.« Eine Kuh war ganz nahe an den Zaun herange treten und senkte den Kopf, um den kleinen Hund zu beschnuppern. Ihre großen Nüstern bebten und sie streckte ihre raue Zunge heraus und ver suchte ihn abzulecken. »Siehst du Tim, sie mag dich«, sagte Georg. Tim hatte keine Angst mehr. Er leckte ja die Leute, die er mochte, auch immer ab. »Ihr müsst auch Bill besuchen«, bemerkte Frau Sanders, die hinter ihnen mit dem Fahrrad auf tauchte. Sie hatte ihre Arbeit im Milchschuppen be endet und schickte sich an, auf den Markt zu fah ren. »Er ist im Pferch hinter dem Milchschuppen.« 46
»Bill, wer ist das?«, wollte Georg wissen. »Das musst du selbst herausfinden«, bemerkte Frau Sanders ziemlich geheimnisvoll. Sie schob ihr Fahrrad über den Hof und ihre Gummistiefel quietschten bei jedem Schritt auf dem unebenen Grund. Bill war ein Stier. Ein Riesenbulle. Er schnaubte die drei an, die da auf ihn zukamen. Mit seinem großen schwarzen Kopf und den braunen, von langen Wimpern umrahmten Augen kam er Ge org wunderschön vor. Sie sah, dass ein Ring durch seine Nase lief. »Oh, er ist schön«, rief sie. »Ist er sehr wild?«, wollte sie dann wissen und kletterte auf den Zaun des Pferchs, um ihn am Kopf zu kraulen. »Wild?«, fragte Frau Sanders und lachte laut auf. »Du meine Güte, nein. Er sieht vielleicht mit seinem Nasenring wild aus, aber eigentlich ist er lammfromm.« »Das ist gut«, erwiderte Georg und tätschelte das Tier ein letztes Mal am Hals. »Denn er ist wirklich riesengroß!« Tim hatte sich in die Scheune verdrückt. Er war ziemlich froh, von diesem Riesenvieh wegzu kommen. Auch wenn der Stier, wie Frau Sanders sagte, überhaupt nicht wild war, so war er doch das größte Tier, das Tim in seinem ganzen Leben gesehen hatte. Der kleine Hund hielt es deshalb 47
für klüger, ihm nicht zu nahe zu kommen. Abge sehen davon hatte Tim einen Haufen Strohballen entdeckt und Lust, sich diese genauer anzusehen. Zögernd betrachtete er die scharrenden und Kör ner pickenden Hühner. Dann entschied er, dass es sich nicht lohnte, ihnen nachzujagen. Die seltsa men Vögel hatten sehr kurze Beine und konnten bestimmt nicht besonders schnell rennen. Dann machte die Sache auch keinen Spaß. Tim spitzte die Ohren, als er in den hohen Scheuneneingang trat. Durch den Boden drang ein geheimnisvolles Trippeln und Schnüffeln und er witterte haufenweise interessante Gerüche. O ja, hier war es wirklich höchst interessant!
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5 Wo ist Tim?
Während Tim die Scheune auskundschaftete, ver abschiedete sich Georg von Frau Sanders und schickte sich an, die Eier für Johanna einzusam meln. Sie ging ins Haus zurück, holte den Korb und hängte ihn sich über den Arm. »Ich suche jetzt die Eier zusammen, Tim«, rief sie laut, damit der kleine Hund wusste, was sie tat. Er musste etwas sehr Interessantes entdeckt haben, dass er so lange verschwunden blieb. 50
Schon nach kurzer Zeit lagen ein dutzend schöne braune Eier im Korb. Einige waren erst ge rade gelegt worden und noch ganz warm. »Hier sind noch welche«, sagte Georg zu sich, als sie unter die Hecke spähte und ein Gelege mit drei noch warmen Eiern entdeckte. Im Nistkasten des Hühnerhauses fand sie weitere und ein paar sogar unter dem Traktor, wo ein Huhn sich ein Nest eingerichtet hatte. Das macht Frau Sanders bestimmt Spaß, jeden Abend die Eier einzusammeln, dachte Georg, während sie ihre Schätze vorsichtig in den Korb legte. Als sie genug beisammen hatte, stellte sie den Korb ab und machte sich auf die Suche nach Tim. Tim vergnügte sich inzwischen von Herzen. Er hatte herausgefunden, dass das Trippeln und Schnüffeln von Ratten stammte, und war dabei, sie aufzustöbern. Der kleine Hund jagte die Strohballen rauf und runter. Er zwängte die Nase zwischen die Ballen und versuchte sich wild strampelnd dazwischen zudrängen, um die flinken grauen Tiere zu erwi schen. Immer wieder rannte er im Kreis herum und die Spreu stob wie Schneeflocken durch den Raum. Er fand das Ganze unerhört aufregend. Und dann saß mit einem Mal die bestimmt größte Ratte der Welt vor ihm. Sie betrachtete ihn 51
von einem Strohballen aus aufmerksam mit ihren glänzenden dunklen Augen und bebenden Schnauzhaaren. Plötzlich fiepte sie, schoss blitz schnell an der Wand entlang davon und ver schwand schließlich in einem Loch in der hinters ten Scheunenecke. Tim setzte ihr nach. Oh, seine Besitzerin würde unglaublich stolz auf ihn sein, wenn er ihr dieses Riesentier vor die Füße legte. Schlitternd kam der kleine Hund neben dem Loch zum Stehen. In diesem Augenblick hörte er zu seinem Entsetzen etwas krachen und knacken. Dann spürte er, wie die fauligen Bretter unter sei
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nen Pfoten nachgaben. Er stieß einen ängstlichen Japser aus und dann fiel er auch schon mit Krach und Getöse in den dunklen, tiefen Keller hinunter. Ein paar Sekunden lang lag Tim wie betäubt da. Dann stand er auf, schüttelte sich und sah sich um. Die Ratte war im Halbdunkel verschwunden. Ein kurzes Winseln entfuhr ihm. Es war ziemlich unheimlich hier unten. Hoffentlich würde ihn Ge org bald finden! Kurz darauf hörte er Georg nach ihm rufen. »Tim! Tim! Wo bist du? Ich habe die Eier bei sammen und wir sollten allmählich nach Hause gehen«, rief sie vom Scheunentor her. Wo steckte der ungezogene kleine Hund bloß? Er musste wirklich etwas unglaublich Tolles entdeckt haben, dass er so lange fortblieb! Kaum hatte sie das gedacht, vernahm Georg ein gedämpftes Winseln vom anderen Ende der Scheune her. »Tim!«, rief sie streng und ging in die Richtung, aus der die Laute drangen. »Komm sofort her!« Nach einigem Suchen kam Georg zu dem Loch im Scheunenboden und blickte hindurch. »O Tim!«, rief sie entsetzt, als ihr klar wurde, dass er hinuntergefallen war. »Ist alles in Ordnung? Ach du mein armer Liebling!« »Wuff«, antwortete Tim reichlich verdattert von unten. Er versuchte hochzuspringen und landete 53
dabei jedes Mal wieder unsanft auf dem staubigen Boden. »Bleib ganz ruhig, Tim, ich hole dich da raus«, rief ihm Georg zu. Sie sah sich nach einer Mög lichkeit um, in den Keller zu gelangen. »Es muss doch irgendwo eine Tür geben.« Es dauerte nicht lange und sie hatte einen Zu gang entdeckt. Unweit der Stelle, an der Tim durch den Boden gebrochen war, befand sich eine Falltür. Georg ging behutsam über den morschen Boden hinüber und versuchte, sie zu öffnen. Die Tür klemmte. Georg zog ihr Taschenmesser aus der Hose und klappte es auf. Sie steckte die Klinge zwischen Tür und Rahmen, doch die Klinge war zu dünn und drohte abzubrechen. »Es hilft alles nichts, Tim«, keuchte sie. »Ich muss mich in Herrn Sanders Werkstatt nach etwas umsehen, mit dem ich die Tür aufstemmen kann.« Sie verließ die Scheune und rannte in die Werk statt hinüber. Schon bald hatte sie gefunden, was sie brauchte! Ein großes Brecheisen. Sie schleppte es in die Scheune und es gelang ihr, die Falltür so weit aufzustemmen, dass sie einen Eimer, der in der Nähe stand, zwischen Tür und Rahmen klemmen konnte. Die Öffnung war gerade so breit, dass sie sich hindurchzwängen und in den Keller springen konnte. 54
»Da bin ich, Tim«, keuchte sie, als sie landete. »Ich habe dir ja gesagt, dass ich dich hier raushole.« Es war dunkel in dem Keller. Einzig zwischen den einzelnen Brettern der Holzdecke drang et was Licht hindurch. Georg konnte Apfelkisten aus Holz, ein paar alte Metalltruhen und Koffer er kennen, ein verbeultes Fahrrad und einige alte Farbeimer. Daneben gab es auch stapelweise alte Zeitungen. Die Luft war trocken und es roch nach jahrhundertealtem Staub. Nur ihren kleinen Hund, den konnte Georg nicht sehen. Er war verschwunden. Dann hörte sie ihn vom anderen Kellerende her bellen. Tim hatte weitere Rattenfährten aufge spürt. »Wuff, wuff«, rief er, als wollte er sagen: »Ich bin hier.« »Ach Tim!«, rief Georg und schlängelte sich zwischen all dem alten Kram hindurch. Tim kau erte am Boden und schnüffelte an einem großen Riss im trockenen Erdboden herum. »Also ehrlich, Tim«, sagte Georg und umarmte ihn. »Du hast mich ganz schön an der Nase herum geführt. Ich habe mich schon gefragt, wo du geblieben bist!« Tim leckte ihr die Nase ab und stieß einen lus tigen kleinen Kläffer aus. Dann rollte er sich auf den Rücken, damit sie ihn am Bauch kraulen 55
konnte, und sah sie dabei fröhlich an. Es tat ihm Leid, dass er sie erschreckt hatte, aber wenn ein Hund eine Ratte entdeckt, muss er sie einfach ja gen – auch wenn er dabei durch den Boden bricht! »Das ist ein sehr interessanter Ort«, sagte Georg nach einer Weile und sah sich neugierig um. Sie musste niesen. »Huch, Tim, der ganze Staub steigt mir in die Nase. Sieh dir nur all den Kram an. Das Zeug muss Jahrzehnte alt sein.« »Wuff«, stimmte Tim ihr zu. Er erhob sich und schnüffelte neugierig an einer alten Truhe. »Was da wohl drin ist?«, fragte Georg. Sie war ausgesprochen wissbegierig und steckte ihre Nase fast in alles, was ihr unter die Augen kam. Sie schob die Riegel zurück und klappte den Deckel hoch. Die rostigen Scharniere seufzten und quietschten. »Alte Dokumente und so, Tim«, rief sie, wäh rend sie etwas in der Truhe herumwühlte. »Wem die wohl gehören?« Tim steckte seine Nase hinein und schnupperte. Es roch weder nach Mäusen noch nach Ratten. Georg zog einen alten, vergilbten Briefum schlag heraus. Die Anschrift war sehr verblasst und im Düstern unleserlich. Immerhin konnte Georg erkennen, dass auf dem Umschlag eine sehr alte Briefmarke prangte. »Ich frage mich, ob Frau Sanders etwas dage 56
gen hätte, wenn ich den Brief nach Hause nehme und Vater zeige«, sinnierte Georg. Sie hob den Umschlag hoch, damit etwas Licht darauf fiel und sie ihn genauer betrachten konnte. »Für alte Briefmarken interessiert er sich sehr.« Tim japste nur kurz, als er daran schnüffelte. Er fand Briefmarken total uninteressant und das Pa pier roch modrig und abstoßend. Dieser Geruch war bei weitem nicht so spannend wie der von Ratten. Er trottete davon. Neugierig und geräuschvoll wie immer setzte er seine Erkundungen schnup pernd, schnüffelnd und scharrend fort. Georg steckte den Umschlag in die Hosenta sche. »Sie hat ganz bestimmt nichts dagegen«, sag te sie sich. »Wahrscheinlich weiß sie nicht einmal etwas von dem ganzen alten Kram hier. So wie es aussieht, ist seit Jahren niemand mehr hier unten gewesen.« Sie ging zur Falltür zurück. »Komm Tim«, rief sie und schob eine Holzkiste darunter, um Tim beim Hochkommen zu helfen. Tim kam angetrabt und sprang auf die Kiste. Es gelang Georg, ihn so weit in die Höhe zu stem men, dass er hinauskraxeln konnte. »Du wärst ein toller Zirkushund«, kicherte sie, als Tims Hinter läufe und der Schwanz durch das Loch ver schwanden. 57
Doch kaum war der kleine Hund oben, stieß er scheppernd den Eimer um. Die Falltür ächzte kurz und knallte zu. Fast hätte sie ihm den Schwanz eingeklemmt. Erschreckt japsend sprang Tim ein Stück weit weg. »Tim!«, schrie Georg, als die Tür über ihrem Kopf zuknallte. »Wie hast du das bloß wieder ge schafft?« Sie stand auf der Kiste, die Hände in die Hüften gestützt, und starrte nach oben. »Wie soll ich denn nun hier rauskommen?« »Wuff«, tönte es besorgt von oben. Der Gedan ke, dass Georg dort unten im Keller festsaß, be hagte Tim ganz und gar nicht. Georg drückte mit der Schulter entschlossen gegen die Tür. Sie war ein sehr starkes Mädchen – aber die Tür tat keinen Wank. Sie klemmte wie der, wie schon zuvor. »Wuff«, bellte Tim und scharrte und kratzte wie wild an der Falltür herum. Dann setzte er sich hin und winselte mit schräg gelegtem Kopf reumütig. Er wusste nicht genau, wie das hatte passieren können. Er wollte den Eimer doch nicht umstoßen. Der hatte einfach genau vor seiner Nase gestanden, als er aus dem Loch kra xelte. »Tim«, keuchte Georg von unten. »Ich krieg die Falltür nicht auf. Was sollen wir bloß tun?« Frau Sanders war auf dem Markt und ihr Mann 59
mit den Hunden oben auf dem Hügel. Es gab also keine Menschenseele weit und breit, die sie rufen hörte, keine einzige.
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6 Rettung naht
Georg saß im Schneidersitz auf dem Boden und zerbrach sich den Kopf darüber, was sie tun konn te. Über ihr versuchte Tim noch immer, die Falltür zu öffnen. Er scharrte und scharrte, aber nichts regte sich. »Das bringt nichts«, rief Georg von unten. »Du scharrst dir bloß die Pfoten wund. Lass es besser bleiben.« Aber Tim war kein Hund, der einfach aufgab. Er war genauso stur wie seine Besitzerin, wenn es darum ging, ein Problem zu lösen. Also setzte er 61
sich einen Moment hin und dachte nach. Es musste etwas geben, das er tun konnte. Unter ihm hatte sich Georg inzwischen auf die Kiste gesetzt und die Knie zum Kinn hochgezo gen. Es war furchtbar finster da unten und sie vernahm unzählige, seltsam scharrende Geräu sche. Der Gedanke, in einem Rattenkeller festzu sitzen, behagte ihr nicht gerade. Sie stand auf und begann sich umzusehen, in der Hoffnung irgend‐ wo auf eine zweite Falltür zu stoßen. Der Keller erstreckte sich über die ganze Länge der Scheune. Doch einen zweiten Ausgang konnte Georg nirgends entdecken. Sie suchte und suchte und stieß dabei gegen alte Kisten und Maschinen teile, bis sich ihre Beine anfühlten wie mit blauen Flecken übersät. Sie war fest entschlossen, nicht aufzugeben, doch als sie schließlich zu der Stelle zurückkehrte, über der Tim auf sie wartete, war sie ganz schön wütend und vor Ungeduld außer sich. »Es hilft alles nichts«, rief sie Tim durch die Bo denbretter zu. »Wir müssen wohl oder übel war ten, bis Herr oder Frau Sanders zurückkehren.« Sie ließ sich mit einem tiefen Seufzer wieder auf die Kiste fallen. Es sah ganz so aus, als müsste ihr Vater doch auf sein Omelett verzichten! Tim hatte das Scharren aufgegeben und lag auf der Falltür, die Nase auf den Vorderpfoten. Von 62
Zeit zu Zeit winselte er traurig. Durch den Spalt zwischen zwei Bodenbrettern konnte er seine Be sitzerin gerade noch schwach erkennen. Sie sah sehr genervt aus! Es kam Georg und Tim sehr lange vor, bis die beiden großen schwarz‐weißen Hofhunde endlich am Scheunentor auftauchten und auf Tim zurann ten. Sie bellten ihn an und beschnupperten ihn eif rig. Dabei wedelten sie so heftig mit ihren langen, zottigen Schwänzen, dass diese nur noch ver schwommen zu erkennen waren. »Ben, Rob!«, dröhnte eine strenge Stimme. Dann erschien auch schon ein alter Mann mit vie len Falten im Gesicht und grauen Haaren, die un
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ter einer flachen Mütze hervorlugten. Weshalb veranstalteten die Hunde wohl ein derartiges Spektakel? Herr Sanders – denn er war es –, staun te nicht schlecht, als er den kleinen braunen Hund entdeckte, der sich schwanzwedelnd mit seinen beiden Hofhunden anfreundete. »Wen haben wir denn da?«, fragte er verblüfft. »Wo kommst du kleiner Kerl denn her?« »Wuff«, antwortete Tim und ließ seine neuen Freunde stehen. Er trabte zur Falltür zurück und versuchte erneut, sie zu öffnen. Wenn er laut ge nug bellte und an dieser Stelle scharrte, würde dieser Mensch bestimmt merken, dass Georg da unten festsaß. »Was hast du denn gefunden, mein Kleiner?«, fragte Herr Sanders. »Eine Ratte oder eine Maus? Wir haben von beiden mehr als genug, das kann ich dir sagen. Frag Ben und Rob.« »Wuff, wuff«, bellte Tim und rannte aufgeregt hin und her. Er hatte keine Zeit, sich mit seinen neuen Freunden über Ratten und Mäuse zu un terhalten. Zuerst musste Georg befreit werden. Im Keller unten hatte Georg Herrn Sanders schwere Schritte auf dem Holzboden gehört. Sie atmete erleichtert auf. Der Bauer bekam diese dumme Falltür bestimmt auf. »Herr Sanders«, rief sie laut. »Ich sitze hier un ten fest. Können Sie mich bitte herausholen?« 64
Der Bauer runzelte die Stirn und blickte sich um. Die Stimme klang wie die von Meister Georg. Woher kam sie bloß? »Wuff«, half ihm Tim, der auf der Falltür stand. »Wuff, wuff!« »Hier unten«, schrie Georg. »Ich sitze fest.« »Na, so etwas«, sagte Herr Sanders. Sanft schob er Tim zur Seite und versuchte, die Falltür zu öff nen. »Es ist Meister Georg. Ich dachte, es klingt nach dir, aber ich konnte es fast nicht glauben. Was machst du denn da unten, junge Dame?« »Die Falltür ist zugeknallt«, rief Georg und schmollte. Sie hasste es, als junge Dame bezeich net zu werden, und in staubigen alten Kellern festzusitzen, machte auch keinen Spaß. Herr Sanders versuchte, die Tür hochzuziehen, aber sie bewegte sich nicht. »Ich hole nur eben ein Stemmeisen aus meiner Werkstatt«, rief er. »Ich bin gleich zurück.« »Es liegt schon eins da«, rief Georg. »Ich habe es benutzt, um die Tür aufzustemmen und Tim zu retten, nachdem er durch den Boden gebrochen war. Deshalb bin ich ja überhaupt hier unten.« Es dauerte nicht lange, bis Herr Sanders das Brecheisen gefunden und die Tür geöffnet hatte. Er machte sie diesmal ganz auf und sie donnerte beim Umlegen mit lautem Knall zu Boden. Georg sprang auf die Kiste und zog sich hoch. 65
»Danke, Herr Sanders! Ein Glück, dass Sie gekom men sind, das kann ich Ihnen sagen!«, sagte sie er leichtert und versuchte den Staub und die Spinn weben von ihrer kurzen Hose zu entfernen. »Bin ich froh, aus diesem Spinnenkeller herauszukommen.« »Dann gehört der kleine Hund also dir?«, fragte der alte Mann und grinste breit. Er wusste, dass Georg gerne herumtobte, aber so staubig und schmutzig hatte er sie doch noch nie gesehen. »Ja«, antwortete Georg und strahlte vor Stolz, als Tim vor lauter Wiedersehensfreude wie ein Jo‐ Jo wieder und wieder an ihr hochsprang. »Ein schlauer kleiner Kerl«, sagte Herr Sanders bewundernd. »Er hat mir gezeigt, wo du bist,« »Er ist der klügste Hund auf der ganzen Welt«, antwortete Georg und knuddelte Tim. »Nicht wahr, Tim?« »Wurf«, stimmte dieser fröhlich zu. Und da seine Besitzerin nun in Sicherheit war, rannte er los, um nach den beiden Gefährten draußen im Hof zu sehen. Und als die drei Hunde anfingen, miteinander zu balgen, stoben die Hühner ga ckernd in alle Richtungen davon. »Jetzt muss ich aber gehen, Herr Sanders«, meinte Georg. »Ich bin eigentlich hergekommen, weil wir ein paar Eier brauchen, und dann wollte ich Tim auch einmal all eure Tiere zeigen. Aber in zwischen wartet Johanna sicher schon auf mich.« 66
»Dann darfst du sie nicht länger warten las sen«, lächelte Herr Sanders. »Aber komm, wann immer du möchtest. Wir freuen uns.« »Vielen Dank, Herr Sanders«, sagte Georg. Sie nahm den Korb mit den Eiern und rief nach Tim. »Und nochmals vielen Dank, dass Sie mich geret tet haben. Komm Tim. Wenn wir uns beeilen, sind wir doch noch rechtzeitig zum Abendbrot zu Hause.« In der ganzen Aufregung hatte sie den Um schlag, der in ihrer Hosentasche steckte, völlig vergessen. Georg und Tim hüpften über den Hof und die Landstraße hinab, dem Felsenhaus entgegen. Die beiden Hofhunde standen am Tor und blickten ihnen nach. Tim wandte sich um und bellte laut, als wollte er sich von ihnen verabschieden. »Das war vielleicht ein Abenteuer, Tim?«, lach te Georg auf dem Heimweg. Sie hatte schon wie der vergessen, wie dunkel und unheimlich es im Spinnenkeller gewesen war. »Wuff«, stimmte Tim ihr zu und lief voraus. Er hatte viele Tiere kennen gelernt, zwei neue Freun de gefunden, beinahe eine Ratte gefangen und mitgeholfen, seine Besitzerin zu retten. Es war ein sehr aufregender Tag gewesen!
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7 Der Brief
Johanna war in der Küche und hatte soeben einen Laib Brot aus dem Backrohr geholt, als Tim und Georg hereinkamen. Es duftete köstlich. »Ah, wunderbar! Danke Georg«, sagte sie, als das Mädchen den Korb mit den Eiern auf den Tisch stellte. »Hat’s Spaß gemacht auf dem Hof?« Sie betrachtete Georgs schmutziges T‐Shirt und die fleckige Hose. »Deine Kleider sehen ja etwas mitgenommen aus.« »Ja, aber es war toll«, antwortete Georg und er zählte von ihrem Abenteuer. 69
»Im Keller eingesperrt?«, fragte Johanna nach. »Na, ich weiß nicht, ihr zwei, ob das so toll ist. Du hättest tagelang dort drin festsitzen können, Georg!« »Nein, hätte ich nicht«, widersprach Georg und schüttelte entschieden den Kopf. »Tim hätte allen gleich gesagt, wo ich bin. Stimmt’s Tim?« »Wuff«, kam postwendend die Antwort. »Ihr seid mir ja zwei Lausbuben«, lachte Johan na. »Was fällt euch wohl als Nächstes ein?« »Ein neues Abenteuer, was denn sonst«, kicher te Georg, »oder etwa nicht, Tim?« Tims Antwort klang eindeutig. Er fand Aben teuer toll, vor allem wenn Rattenjagd dazu gehörte. Die Zeit bis zum Abendbrot verbrachten Georg und Tim im Garten. »Komm, wir gehen ins Baumhaus, Tim«, schlug Georg vor. Sie hatte ihr Baumhaus auf einem der alten Apfelbäume fast ganz allein gebaut. Es sah ein bisschen schief und baufällig aus, aber es war sehr stabil. Sie setzte den kleinen Hund in seinen Aufzug, band ihn fest und zog ihn hoch. Dann kletterte sie selbst die Leiter hoch. Während die beiden auf das Meer hinausblick ten, fiel Georg plötzlich der Brief ein und sie zog ihn aus der Hosentasche. »Ich wüsste zu gern, weshalb er nie abgeschickt 70
worden ist«, meinte sie neugierig. »Vielleicht war der Mensch, der ihn geschrieben hat, genauso vergesslich wie Vater.« »Wuff«, blaffte Tim. Er schnupperte am Um schlag und musste prompt niesen, weil der noch immer sehr staubig war. Als Georg den Umschlag umdrehte, bemerkte sie, dass sich die Lasche geöffnet hatte. Sie wusste schon, dass es sich nicht gehört, fremde Briefe zu lesen, aber der hier war so alt, dass es sicher nie manden störte. Sie nahm ihn heraus und faltete ihn auseinan der. Der Brief war tatsächlich uralt und die Schrift kam Georg seltsam und altmodisch vor. Während sie Zeile für Zeile entzifferte, begann ihr Herz immer heftiger zu pochen. Und mit ei nem Mal stieß sie einen Freudenschrei aus. Der Brief stammte von ihrem Großvater, dem der Fel senhof einst gehört hatte. Und er enthielt eine to tal aufregende Nachricht! Eine Nachricht, über die sich ein guter Freund von Georg irre freuen würde! »Tim!«, rief sie mit glänzenden Augen. »Du wirst nie erraten, was in diesem Brief steht.« »Wuff«, wunderte sich Tim und legte den Kopf schief. Er fragte sich echt, worüber sich seine Be sitzerin wohl derart freute. »Warte nur, bis ich ihn Alfs Vater gezeigt ha 71
be!«, sprudelte Georg weiter und vergaß vor lau ter Begeisterung jede Erklärung. »Komm schnell, lass uns Johanna davon erzählen!« Sie steckte den Brief vorsichtig in den Um schlag zurück. Er war plötzlich ungeheur wichtig geworden und sie wusste, dass sie gut auf ihn Acht geben musste. Ihr Herz überschlug sich noch immer vor Auf regung, als sie Tim wieder in seiner Aufzugs schlinge befestigte und ihn dann vorsichtig zu Boden ließ. Sie kletterte die Leiter hinab und dann rannten beide ins Haus. Tim war äußerst verblüfft über Georgs Verhalten. Es musste ein Wunder gesche hen sein. Aber was für eines bloß? »Johanna! Johanna!«, schrie Georg außer sich, als sie in die Küche platzte. »Ich habe einen Brief von meinem Großvater gefunden, in dem steht, dass er die Sally Ann Alfs Großvater über schreibt.« »Erzähl keine Märchen, Schatz«, bemerkte Jo hanna, die dabei war, das Abendbrot zuzuberei ten. »Dein Großvater lebt schon lange nicht mehr. Wie sollte er denn einen solchen Brief schreiben können?« »Es ist ja auch kein neuer Brief. Ich habe einen alten Brief gefunden«, empörte sich Georg. Sie wurde immer wütend, wenn Erwachsene Kinder 73
nicht für voll nahmen, sobald sie etwas echt Span nendes zu berichten hatten. »Einen alten Brief«, fragte Johanna immer noch ungläubig. »Und wo willst du den gefunden ha ben?« »Im Keller vom Felsenhof!«, antwortete Georg und zeigte ihr den Brief schnell. »Du meine Güte«, rief Johanna nun. »Ich habe ganz vergessen, dass dein Großvater dort ja vor vielen Jahren gewohnt hat. Da werden sich Alf und sein Vater aber freuen.« »Ja«, stimmte ihr Georg mit leuchtenden Augen zu. »Ich will ihnen den Brief jetzt gleich bringen!« »Nein, das halte ich nicht für gut«, wandte Jo hanna ein. Sie schüttelte den Kopf und stellte den Brief auf den Kaminsims, wo er sicher war. »Da dein Großvater den Brief geschrieben hat, gehört er jetzt streng genommen deiner Mutter und ich den ke, du solltest zuerst mit ihr darüber sprechen.« »Aber Johanna!«, protestierte Georg. »Alfs Va ter macht sich solche Sorgen. Ich bin sicher, Mut ter würde wollen, dass er so schnell wie möglich davon erfährt.« »Das ist durchaus möglich«, erwiderte Johanna fest. »Trotzdem musst du sie zuerst fragen. Sie ruft ja heute Abend an. Dann kannst du es ihr gleich erzählen.« »Ach Mist, Mist, Mist!« wetterte Georg. Wü 74
tend stampfte sie auf und stürmte davon. Warum waren Erwachsene so unglaublich unvernünftig? Sie stöhnte, als sie in ihr Zimmer hochstieg. Sie hatte ihrer Mutter versprochen, Johanna zu gehor chen. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als auf den Anruf von heute Abend zu warten. Doch dann hatte sie mit einem Mal eine Idee. »Ich weiß, was wir tun«, sagte sie zu Tim und eilte die Treppe wieder hinab. »Ich frage einfach Vater. Es macht bestimmt keinen Unterschied, ob ich es ihm oder Mutter erzähle. Er lässt mich den Brief Alf sicher bringen.« Doch Georgs Vater war wieder einmal mit ei
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nem wichtigen Experiment beschäftigt und wei gerte sich schlicht, an die Tür zu kommen, als Ge org klopfte. »Lass mich in Ruhe«, rief er streng. »Ich habe absolut keine Minute Zeit!« »Aber Vater«, rief Georg durch das Schlüssel loch. »Ich habe etwas sehr Wichtiges gefunden und muss mit dir reden!« »Ich hab gesagt, du sollst Ruhe geben!«, brüllte ihr Vater. »Was immer es ist, es muss warten.« Georg stampfte erneut auf. Weshalb hörte ihr bloß niemand zu? Tim winselte neben ihr und leckte tröstend an ihrem Bein vor seiner Nase. Es gefiel ihm gar nicht, wenn seine Besitzerin so genervt war. Noch immer aufgebracht stapfte Georg in den Garten. Auf dem Gartenweg kickte sie wütend hier und da einen Stein weg. Mit düsterer Miene setzte sie sich schließlich auf die Schaukel. Wenn sie sich vorstellte, wie der arme Alf und sein Vater vor Sorge beinahe umkamen! Sie wollte ihnen so gern helfen und jetzt, wo sie die Möglichkeit dazu hatte, hinderten sie alle daran. So ein Mist! Tim winselte erneut. Er verstand nicht wirklich, was Georg so verärgert hatte. Aber es war soeben ziemlich viel herumgeschrien worden und das mochte er gar nicht. Doch da fiel Georg wieder eine neue Lösung 76
ein. Sie sprang mit strahlenden Augen von der Schaukel. »Ich hab’s, Tim!«, rief sie. »Es ist mir egal, was Vater und Johanna sagen. Wir erzählen Alf und seinem Vater erst mal von dem Brief. Den Brief selbst geben wir ihnen dann morgen, wenn wir mit Mutter gesprochen haben. Sie versteht ganz bestimmt, dass ich es ihnen erzählen musste. Komm Tim!«, fügte sie hinzu und rannte zum Gartentor. »Los, beeil dich!« Tim eilte ihr auf seinen kurzen Beinen so rasch wie möglich nach. Nun verstand er gar nichts mehr. Gerade hatte Georg noch geschmollt und jetzt war sie ganz aufgeregt und rannte ins Dorf, obwohl sie heute schon einmal dort gewesen wa ren. Dabei war bald Essenszeit! Kein Zweifel: Menschen waren äußerst wun derliche Wesen.
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8 Eine gute Nachricht
Kurze Zeit später rannten die beiden aufgeregt über den Strand zur Sally Ann. »Wo sind Alf und sein Vater?«, wollte Georg keuchend von einem Fischer wissen. »Sie sind im Café«, antwortete dieser. »Sie über legen sich, was sie tun sollen, falls sie die Sally Ann verlieren.« »Sie werden sie nicht verlieren«, sagte Georg voller Freude. »Ich habe den Beweis dafür gefun den, dass sie wirklich ihnen gehört.« »Das ist aber eine gute Nachricht«, rief der Fi scher. »Am besten erzählst du es ihnen so schnell wie möglich!« 78
Georg rannte mit Tim den Strand hoch und über die Straße zum Café. Außer Alf und seinem Vater sowie einem Mann, der Zeitung las, war es leer. Der Mann blickte hoch und Georg lächelte ihn strahlend an, als sie an ihm vorbeiging. Sie war so glücklich, dass sie für alle ein Lächeln übrig hatte. Der Mann beachtete sie jedoch nicht und wandte sich wieder seiner Zeitung zu. Alf und sein Vater waren erstaunt, Georg zum zweiten Mal an diesem Tag zu sehen, besonders, weil sie auch noch so strahlte. Sie hörten ihr fast andächtig zu, als sie ihnen ihre aufregende Neu igkeit verkündete. »Juhee!«, jubelte Alf und tätschelte Tim so kräf tig, dass der kleine Hund beinahe das Gleichge wicht verlor. »Das ist ja eine wundervolle Nach richt, Georg!« »Zwischen den Papieren deines Großvaters, im Keller vom Felsenhof, sagst du?«, fragte Alfs Vater und seine Augen leuchteten auf. »Das nenne ich Glück! Hast du den Brief dabei?« »Es tut mir Leid«, erwiderte Georg und begann zu erklären: »Johanna meinte, streng genommen gehöre der Brief Mutter und deshalb müsse ich sie erst fragen. Aber auf dem Kaminsims im Felsen haus ist er gut aufgehoben. Sobald ich mit Mutter gesprochen habe, bringe ich ihn euch und dann 79
könnt ihr ihn dem schrecklichen Ministeriums menschen zeigen.« »So schrecklich ist er nun auch wieder nicht«, sagte Alfs Vater. »Er tut ja bloß seine Pflicht.« Die Türklingel klirrte. Der Mann, der zuvor Zeitung gelesen hatte, verließ das Lokal. Georg blickte hoch und sah, wie er Richtung Hafen da voneilte. Sie grinste. Die ganze Aufregung hier hatte ihn wohl ganz schön verwirrt. »Danke Georg«, sagte Alf und klopfte ihr auf den Rücken. »Du bist eine echt gute Freundin.« »Tja, sieht so aus, als wären unsere Sorgen vor bei«, sagte sein Vater und strahlte von einem Ohr zum andern. »Du bist eine wahre Heldin, Georg!« Zur Feier des Tages spendierten Alf und sein 80
Vater Georg und Tim ein Eis. Georg wählte ein Schokoladeneis und Tim bekam eine Eistüte. Er verschlang sie blitzschnell, damit der Inhalt ja nicht wegschmelzen konnte. »Guter alter Tim«, lachte Alf, der gerade noch sah, wie der kleine Hund den Keks zermalmte und sich schließlich mit seiner rosa Zunge die letz ten Eisreste von den Schnauzhaaren leckte. »Wenn er nicht dieser Ratte hinterhergejagt wäre, hättest du den Brief gar nie gefunden.« »Ich weiß«, sagte Georg und umarmte Tim. »Er ist der wahre Held, nicht ich!« Nach dem Abendbrot wartete Georg ungeduldig auf den Anruf ihrer Mutter. Ihr Vater war zu be schäftigt gewesen, um sein Arbeitszimmer für das Omelett zu verlassen, das Johanna ihm verspro chen hatte. Seit dem Frühstück hatte ihn niemand mehr zu Gesicht bekommen. Georg war ganz froh, dass er nicht aufgetaucht war. Wenn er Tim unter dem Tisch gesehen hätte, wäre ihm vielleicht wieder eingefallen, dass er ihm verboten hatte, ins Haus zu kommen. Als das Telefon dann endlich klingelte, beeilte sich Georg den Anruf entgegenzunehmen. Ihre Mutter hörte ihr aufmerksam zu, als sie von ihrem Abenteuer berichtete. »Das sind ja wundervolle Neuigkeiten, Liebes«, 81
rief sie erfreut. »Unglaublich, dass du einen Brief gefunden hast, den mein Vater vor so vielen Jah ren geschrieben hat. Wir müssen die ganzen Sa chen im Keller zurückgelassen haben, als wir ins Felsenhaus umgezogen sind.« »Dann ist es also in Ordnung, wenn ich ihn Alf und seinem Vater gebe?«, fragte Georg besorgt. »Aber natürlich«, antwortete ihre Mutter. »Am besten bringst du ihn gleich morgen früh hin!« »Das tu ich«, antwortete Georg. »Danke Mutter. Ich wusste, dass du einverstanden bist, aber Jo hanna meinte, ich müsse dich erst fragen.« »Das ist auch richtig so«, erwiderte ihre Mutter. »Gefällt es dir in London?«, fragte Georg, der plötzlich einfiel, dass sie sich danach noch gar nicht erkundigt hatte. »Ja, sehr«, antwortete ihre Mutter. »Deine Vet tern und deine Kusine sind verreist. Im Augen blick ist es hier schön ruhig und gemütlich, abge sehen vom Verkehr natürlich.« »Ach ja, wie furchtbar«, meinte Georg und rümpfte die Nase. »Bin ich froh, dass ich zu Hause geblieben bin!« In dieser Nacht konnte Georg vor lauter Aufre gung fast nicht einschlafen. Tim durfte nachts ei gentlich nicht in ihrem Zimmer sein. Doch wie gewöhnlich hatte sie sich nach unten geschlichen 82
und ihn raufgeholt, sobald sie gehört hatte, wie ihr Vater zu Bett gegangen war. Sie ertrug es ein fach nicht, dass der kleine Hund so allein in der großen Küche schlafen sollte. Jeden Morgen, noch bevor ihre Eltern aufwachten, schlich sie dann mit ihm wieder in die Küche hinunter, da mit niemand herausfand, wo er die Nacht ver brachte. Zum Glück fragte nie jemand danach, wo der kleine Hund in Wirklichkeit schlief. Georg log nie und hätte ihren Eltern die Wahrheit gesagt. So blieb ihr das Geständnis erspart. Der Mond schien und Georg saß mit Tim vor Glück immer noch ganz aufgeregt auf dem Bett. Sie sahen zusammen aus dem Fenster. Weit drau ßen konnte man auf dem Meer die blinkenden Lichter der Fischerboote erkennen. »Jetzt brauchen sich Alf und sein Vater keine Sorgen mehr zu machen, stimmt’s Tim?«, flüsterte sie und umarmte den kleinen Hund. »Ich kann es kaum erwarten, ihnen den Brief zu geben.« Tim winselte kurz. Dann drehte er sich ein paar Mal um die eigene Achse und machte sich in Georgs Bett eine Kuhle. Mit einem tiefen Seufzer legte er sich hinein. Es dauerte nicht lange und er war eingeschlafen. Wie immer schlief er nur mit einem Ohr. Das andere lauschte auf mögliche Ge fahren. 83
Schließlich kroch Georg unter die Decke. Sie war ebenfalls müde. Der Tag war so aufregend ge wesen! Nach Mitternacht schreckte Tim plötzlich auf. Er hob den Kopf und spitzte beide Ohren. Von unten waren seltsame Geräusche zu hören: erst ein Scharren und Kratzen und dann ein dumpfer Schlag. Der kleine Hund legte den Kopf schief. Was war das? Es gab doch keine Ratten im Felsenhaus? Neben ihm schlief seine Besitzerin tief und fest. Tim sprang vom Bett und tapste zur Tür, wobei er aufmerksam lauschte. Von unten waren sachte Schritte zu hören. War Georgs Vater aufgestanden, um etwas zu trinken? Tim winselte leise. Er kannte den Schritt des Vaters, der oft mitten in der Nacht aufstand und in sein Arbeitszimmer ging. Das hier war ein völlig anderer Schritt. Das war der ge dämpfte, vorsichtige Schritt eines Eindringlings! Tim begann leise zu bellen und an der Tür zu kratzen. Georg schreckte aus dem Schlaf hoch, setzte sich auf und rieb sich die Augen. Sie warf einen Blick auf die Uhr neben ihrem Bett. Es war ein Uhr morgens! »Pst, Tim, so weckst du Vater und dann weiß er, dass du hier oben bist«, flüsterte sie. 84
Aber Tim kratzte weiterhin wie wild an der Tür. Georg warf die Decke zurück, schwang sich aus dem Bett und ging auf Zehenspitzen zu ihm hin über. »Was ist denn los?«, wisperte sie. »Musst du raus?« Tim winselte und kratzte in einem fort. Er musste sofort nach unten und herausfinden, wo her die seltsamen Geräusche kamen! »Ist ja gut«, flüsterte Georg. »Aber pass auf, dass Vater dich nicht hört!« Sie öffnete die Tür und Tim schoss laut bellend die Treppe hinab. »Mist«, sagte Georg laut zu sich selbst und eilte ihm barfuß hinterher. »Davon ist Vater bestimmt aufgewacht. Jetzt sitzen wir beide ganz schön in der Patsche.« Tim stand bellend und winselnd vor der Küchen tür. Er kratzte wie wild daran und wollte hinein. »Was ist denn los, Tim?«, flüsterte Georg, deren Herz heftig pochte. Dann hörte sie die Geräusche ebenfalls. Ein dumpfer Knall und ein Klirren. In der Küche war jemand. Vielleicht Vater, der sich etwas zu trinken holte? Aber die Türen im oberen Stock waren doch alle zu gewesen. Und die Kü chentür war ebenfalls zu. Wenn Vater sich etwas zu trinken holte, machte er sich sicher nicht die Mühe, alle Türen hinter sich zu schließen. Georg erstarrte und ihr Herz hämmerte nun laut. Im Felsenhaus befand sich ein Einbrecher! 86
9 Gestohlen!
Tim veranstaltete ein solches Spektakel, dass Ge orgs Vater davon aufwachte. Er riss die Schlaf zimmertür auf und stürzte zum Treppenabsatz. »Was soll denn der Krach?«, dröhnte er wütend von oben. Seine dunklen Brauen hatten sich inein ander verkeilt. »Wie soll ich bei diesem Radau schlafen können?« Georg eilte die Treppe hoch. »Vater, es ist je mand in der Küche«, flüsterte sie eindringlich. »Tim hat es gehört!« Sie hatte völlig vergessen, 87
dass der kleine Hund eigentlich in der Küche sein sollte. Zum Glück war ihr Vater viel zu besorgt, als dass es ihm aufgefallen wäre. »In der Küche?«, fragte er hastig. »Was? Ein brecher?« »Ja«, flüsterte das Mädchen und versuchte sich nicht zu sehr zu fürchten. »Es muss so sein. Tim rastet völlig aus.« »Das höre ich«, sagte ihr Vater. Er schob Georg beiseite und stieg die Treppe hinab. »Aus dem Weg, Tim! Da will ich doch mal sehen!«, knurrte er und nahm einen Spazierstock aus dem Schirm ständer in der Diele. »Sei vorsichtig, Vater«, rief Georg, als er die Küchentür aufriss und das Licht anmachte. Tim stürzte wie rasend hinein und stolperte dabei fast über die Füße von Georgs Vater, der auf der Schwelle stand und den Stock schwang. »Wer da?«, schrie Georgs Vater drohend. »Kommen Sie hervor, und zwar sofort!« Doch zu ihrer Verblüffung war die Küche leer. Georg lugte vorsichtig hinter ihrem Vater hervor und sah, dass der Küchenboden mit Rechnungen und Papieren übersät war, die vom Kaminsims gefallen waren. Auch Fotos und Ziergegenstände lagen auf dem Boden. Das Fenster stand weit of fen und auf dem Fensterbrett prangten schmutzi ge Stiefelabdrücke. 88
Jemand hatte hier herumgeschnüffelt und war durchs Fenster entwischt! Tim durchforschte schnüffelnd die Küche. Sein Schwanz ragte wie ein Banner in die Höhe und sein Herz pochte aufgeregt. Er witterte einen un bekannten Geruch, einen starken Salzgeruch. Die ganze Küche war erfüllt davon. Der kleine Hund sprang japsend am Fenster hoch und versuchte hinauszusehen. »Das Fenster ist aufgebrochen«, sagte Georgs Vater und ging hinüber, um sich die Sache näher anzusehen. »Der Schurke ist durchs Fenster ein gedrungen und entwischt.« »Aber warum sollte denn jemand in unsere Kü che einbrechen?«, fragte Georg höchst verwun dert. Es schauderte sie beim Gedanken, dass sich jemand hier unten herumgetrieben hatte, während sie schliefen. »Pfannen und Töpfe stiehlt doch niemand, oder?« »Kaum«, erwiderte ihr Vater, ebenfalls ziemlich ratlos. »Vermutlich wollte er von hier in die ande ren Räume gelangen und Tim hat ihn aufge scheucht. Ich rufe Wachtmeister Mond an und melde ihm, dass ein Einbrecher hier gewesen ist.« Er ging in den Flur, um zu telefonieren. Tim rannte immer noch schnuppernd hin und her. Er ärgerte sich darüber, dass der Einbrecher entwischt war. Zu gern hätte er ihn kräftig gebis 89
sen oder ihm wenigstens ein Stück aus der Hose gerissen. Er stellte sich winselnd vor die Hinter tür, er wollte raus. Bestimmt konnte er den Ge ruch verfolgen und herausfinden, in welche Rich tung der Schurke gelaufen war. Georg öffnete die Tür und der kleine Hunde stürzte davon. Hier draußen war der Salzgeruch noch viel stärker. Tim rannte um den Geräte schuppen herum. Dort roch es ganz besonders in tensiv und die Tür stand halb offen. Tim lugte hinein. Da! Hinter der Schubkarre kauerte eine dunkle, bedrohliche Gestalt. Der Einbrecher war gar nicht über alle Berge. Er versteckte sich im Schuppen! Tim bellte triumphierend und schlüpfte hinein. Im Haus war Georg dabei, alles wieder aufzu heben, was überall verstreut herumlag. Sie fühlte sich ziemlich zittrig und der Schreck, dass ein Fremder im Felsenhaus gewesen war, saß ihr noch in den Gliedern. Ihre Mutter würde entsetzt sein, wenn sie davon erfuhr. Während sie auf einen Stuhl stieg, um die Din ge wieder auf den Kaminsims zurückzustellen, hörte sie, wie ihr Vater in der Diele telefonierte. »Wachtmeister Mond sagt, wir müssen nachse hen, ob etwas fehlt«, meinte er schließlich, als er wieder in die Küche trat. »Er kommt morgen früh vorbei, um unsere Aussagen aufzunehmen.« 90
Georg wollte gerade antworten, als draußen ein lautes Bellen ertönte, gefolgt vom heiseren Schrei eines Mannes. »Tim!«, rief Georg entsetzt, der plötzlich klar wurde, dass der kleine Hund noch immer im Gar ten war. »Es klingt, als habe er jemanden entdeckt.« »Du bleibst hier, Georg. Ich kümmere mich darum«, sagte ihr Vater und eilte hinaus, noch be vor sie ihm widersprechen konnte. Er kam gerade rechtzeitig, um den kräftigen Schatten eines Man nes auszumachen, der mit Tim auf den Fersen durch den Obstgarten jagte. Tim hatte ihn aus dem Schuppen getrieben und nun versuchte er, dem wütenden kleinen Hund zu entwischen, be vor man ihn entdeckte. Georgs Vater hatte den Einbrecher schon bei nahe eingeholt, da sprang er über die Hecke am Gartenende. Mit einem dumpfen Aufschlag fiel er auf der anderen Seite zu Boden. Laut fluchend rappelte er sich hoch und rannte davon. Der Vater eilte zum Gartentor und forderte ihn brüllend auf, sofort stehen zu bleiben, doch der Bösewicht war bereits weggerannt, über den Weg und dann quer feldein über die Heide, bis er nicht mehr zu sehen und zu hören war. Tim hetzte wie wild an der Hecke entlang auf und ab, fand aber keine Stelle, durch die er sich hätte hindurchzwängen können. Wütend bellend 92
stand er vor derPforte. Wäre er doch nur schon ein großer Hund, dann könnte er einfach über die He cke hinwegsetzen und dem schrecklichen Kerl hinterherrennen! Als der kleine Hund einsah, dass der Mann entwischt war, packte er etwas am Boden und rannte zu Georg zurück, die vor der Küchentür wartete. Stolz legte er es ihr vor die Füße. Es war vielleicht nicht ganz so spektakulär wie eine Ratte, aber immerhin. »Was ist das?«, fragte Georg und bückte sich, um das Ding aufzuheben. »Oh, Vater, sieh nur, es ist ein Stück von einer Hose!«
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Inzwischen war ihr Vater, sehr wütend und sehr außer Atem, zum Haus zurückgekehrt. Sie reichte ihm den Fetzen aus dickem, blauem Stoff. »Guter Hund, Tim!«, rief sie dabei und knuddelte ihn dann liebevoll. »Er muss ihn dem Einbrecher aus der Hose gerissen haben. Ist er nicht mutig, Vater?« »Ja, wirklich, sehr mutig«, erwiderte ihr Vater. Er bückte sich sogar und tätschelte Tim. »Aber leider nicht groß genug, um den Bösewicht an der Flucht zu hindern. Ich wünschte, ich wäre bei ihm gewesen, dem Kerl hätte ich es gezeigt!« »Ich auch!«, bekräftigte Georg. »Komm, lass uns hineingehen und nachsehen, ob etwas fehlt«, meinte ihr Vater nun. Er legte den Arm um sie und ging mit ihr ins Haus. Tim folgte ihnen, immer noch wütend, dass ihm der Einbre cher entwischt war. Aber immerhin hatte er dem Kerl ein Stück aus seiner Hose gerissen und das geschah ihm ganz recht! »Also mir fällt nichts ein, das fehlen könnte«, sag te Georgs Vater, nachdem sie sich in der Küche gründlich umgesehen und zu Ende aufgeräumt hatten. »Vielleicht war es ein hungriger Landstreicher, der etwas Essbares suchte«, meinte Georg. »Aber in der Speisekammer fehlt nichts«, erwi 94
derte der Vater. »Das Ganze ist ziemlich rätsel haft.« »Tja, dann …«, setzte Georg an und hielt, von Entsetzen gepackt, plötzlich inne. Soeben war ihr ein schlimmer, beängstigender Gedanke gekom men. Sie kletterte auf den Stuhl und nahm das Bündel Briefe und Papiere wieder vom Kamin sims herunter. Eilig durchsuchte sie es und ihr Herz wurde immer schwerer. »Was um alles in der Welt treibst du da, Ge org?«, wunderte sich ihr Vater. »Die haben wir doch eben erst wieder da hingelegt.« »Ach Vater«, rief Georg und versuchte mit aller Kraft, die Tränen zurückzuhalten, weil sie Weinen kindisch fand. Aber nun konnte sie nicht verhin dern, dass ihr eine Träne über die Wange kullerte. Ihre schlimmste Befürchtung hatte sich bestätigt. »Großvaters Brief! Er ist weg!«
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10 Eine Spur
»Brief?«, rief ihr Vater verwirrt. »Was für ein Brief?« Da er ihr nicht zugehört hatte, als sie ihm von ihrem Fund im Keller des Felsenhofs hatte be richten wollen, wusste er nun überhaupt nicht, wovon sie sprach. Unter Tränen begann Georg zu erklären. »Und du sagst, es lagen haufenweise Papiere in der Truhe?«, wollte ihr Vater wissen, als sie ihm erzählte, was sie gefunden hatte. »Ja«, bestätigte Georg. »Ein ganzes Bündel, aber 96
ich habe bloß diesen einen Umschlag mit nach Hause genommen. Zuerst fiel er mir auf, weil eine ungewöhnliche Marke darauf war, und ich dach te, du würdest sie vielleicht gern sehen.« »Mmh«, brummte ihr Vater und strich sich nachdenklich über das Kinn. »Kann sein, dass die übrigen Papiere auch wichtig waren, Georg.« »Dieser Brief war bestimmt der wichtigste«, be harrte das Mädchen. »Die restlichen Papiere sind mir egal. Ich wollte Alf und seinem Vater helfen, und das kann ich jetzt nicht mehr.« Sie stampfte wütend auf und vergaß dabei ihre Tränen. »Das ist so was von gemein!« »Und dieser Lump hat ihn gestohlen«, bemerk te der Vater immer noch nachdenklich. »Woher wusste er wohl, dass der Brief hier war?« »Ich habe keine Ahnung«, antwortete Georg. Sie zerbrach sich den Kopf darüber, wer von dem Brief hätte wissen können und woher. »Nur Tim und ich, Mutter und Alf – und natürlich sein Vater wussten davon.« »Aber weshalb sollte ihn jemand stehlen?«, wollte ihr Vater wissen. »Was hat das für einen Sinn?« Georg seufzte verzweifelt auf. Ihr Vater war ein brillanter Wissenschaftler, aber manchmal kapier te er nicht einmal die einfachsten Dinge. »Natür lich um zu verhindern, dass Alf und sein Vater 97
beweisen können, dass die Sally Ann ihnen ge hört!«, erklärte sie. »Warum denn sonst?« »Also, ich kann mir nicht vorstellen, dass je mand so etwas tun würde«, erwiderte der Vater kopfschüttelnd und strich sich immer noch ganz erstaunt über das Kinn. »Niemand in Felsenburg würde so etwas Gemeines tun.« Er legte den Arm um Georg und sie verließen zusammen die Küche. »Ich fürchte, wir können nichts tun. Der Brief ist weg, damit hat es sich. Komm Georg, du gehst jetzt besser schlafen. Es ist nicht gut, wenn du so müde aussiehst, wenn Mut ter aus London zurückkehrt.« Georg war so verzweifelt, als sie die Treppe zu
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ihrem Zimmer hochtappte, dass sie nicht einmal daran dachte, Tim in die Küche zu sperren. Zum Glück war auch ihr Vater viel zu bestürzt, um zu merken, dass der kleine Hund ihr nach oben ge folgt und in ihr Zimmer geschlüpft war. »Gute Nacht, Georg«, sagte er liebevoll, bevor er in sein Schlafzimmer ging. Obwohl er sich oft mit seiner temperamentvollen Tochter stritt, liebte er sie von ganzem Herzen und es schmerzte ihn, sie verzweifelt zu sehen. »Gute Nacht, Vater«, antwortete Georg traurig. Mit Entsetzen entdeckte Johanna den kaputten Fensterriegel, als sie am folgenden Tag zur Arbeit kam. »Ein Einbrecher?«, rief sie bestürzt. »Um Gottes willen! Er hätte sich mit wichtigen Unterlagen aus dem Arbeitszimmer deines Vater davonmachen können!« »Nein, hätte er nicht«, widersprach Georg. »Tim hat ihn verjagt.« »Trotzdem, allein schon der Gedanke«, brumm te Johanna zornig. »Wenn der mir zwischen die Finger kommt, dann kann er aber was erleben!« »Tim hat zugepackt«, sagte Georg stolz und zeigte ihr den Stofffetzen, den Tim dem Einbre cher aus der Hose gerissen hatte. »Das sieht mir ganz nach Matrosenhose aus«, 99
bemerkte Johanna und betrachtete den Fetzen nachdenklich. »Aber es gibt keine Matrosen in Fel senburg. Ich frage mich, wer das gewesen sein könnte.« »Ich weiß es nicht«, antwortete Georg und ver zog zornig das Gesicht. »Ich wünschte, ich wüsste es.« Sie ging mit Tim nach draußen. Georg wusste, dass sie Alf und seinem Vater die schlechte Nach richt bald überbringen musste. Es hatte keinen Sinn, die Sache hinauszuzögern. Sie musste es tun. Vor dem Haus fuhr ein Wagen vor und Wachtmeister Mond stieg aus. Er wollte ihre Aus sagen zu Protokoll zu nehmen. »Ich nehme den Stofffetzen als Beweisstück mit«, bemerkte er, nachdem Georg und ihr Vater ihm alles erzählt hatten. »Gut gemacht«, sagte er zu Tim. »Ausgewachsen würdest du sicher einen erst klassigen Polizeihund abgeben.« »Nein, würde er nicht«, widersprach Georg und umarmte Tim. »Er ist mein Hund, für immer und ewig.« Tim wedelte mit dem Schwanz. So gelobt zu werden war sehr angenehm. Vor allem von die sem Mann, der in seiner Uniform mit den glän zenden Knöpfen ziemlich wichtig aussah. »Komm Tim«, seufzte Georg, nachdem Wacht 100
meister Mond wieder weggefahren war. »Wir ge hen jetzt besser zu Alf.« Todunglücklich ging Georg Richtung Garten tor. Ihr stand das Schlimmste bevor, was sie je hat te tun müssen. Tim trabte voraus und wartete vor dem Tor darauf, dass Georg es öffnete. Kaum draußen, hielt er inne und hob witternd den Kopf. Dieser seltsame Salzgeruch von gestern hing immer noch in der Luft. Und plötzlich schoss der kleine Hund, die Nase am Boden, pfeilschnell davon. Der Salzgeruch führte ihn vom Dorf weg in Richtung Strand. Er war fest entschlossen, ihm zu folgen. »He, Tim!«, rief Georg hinter ihm her. »Das ist die falsche Richtung!« Für gewöhnlich gehorchte Tim aufs Wort, doch diesmal würde er nicht umdrehen, egal wie laut Georg ihn rief. Er raste den schmalen Weg zur Bucht hinab. Sein Zottelschwanz ragte wie ein Banner empor. »Schnupper, schnupper«, folgte er wie ein Bluthund der Fährte. »Tim«, schrie Georg und rannte ihm hinterher. »Komm zurück, sofort!« So ging es den ganzen Weg bis zur Bucht. Der kleine Hund rannte, so schnell er konnte, und Ge org keuchte hinter ihm her. Sie war sehr ärgerlich. Das sah ihm gar nicht ähnlich, ihr davonzulaufen. 101
Als Tim das Ufer erreichte, begann er im Kreis zu rennen. Für einen Moment verlor er die Fährte, dann fand er sie wieder und rannte bellend am Strand rauf und runter. »Tim«, schimpfte Georg, als sie ihn endlich ein holte. »Was ist nur in dich gefahren? Was witterst du?« Da sah sie, was es war. Im Sand hatten sich tiefe Furchen von einem Ruderboot eingegraben. Doch das einzige Boot, das je in der Felsenbucht einlief, war Georgs kleines Ruderboot und dieses lag un berührt und sicher an seinem Liegeplatz. Diese tiefen Furchen stammten von einem fremden, schweren Boot. Und dann entdeckte sie noch etwas. Unweit des Wassersaums, in der Nähe der Stelle, an der das Boot gelegen hatte, waren Fußspuren zu sehen. Georg runzelte die Stirn, als sie sich bückte, um sich diese Spuren genauer anzusehen. Tim rannte noch immer aufgeregt schnüffelnd hin und her. Georg sah ihn an, ihre Augen funkelten lebhaft. »Dieses Boot lag so weit an Land, dass es bei Flut hier angelegt haben muss«, rief sie. »Es muss also sehr, sehr früh am Morgen hier gelegen haben.« »Wuff«, bestätigte Tim und setzte sich mit zu friedener Miene und heraushängender Zunge ne ben sie. 102
»Ach Tim«, rief Georg aufgeregt. »Ich möchte wetten, wer immer heute Nacht bei uns eingebro chen ist, ist mit diesem Boot gekommen. Wir ha ben weder ein Auto noch etwas anderes gehört und er ist aus dem Garten und zur Bucht hinabge laufen. Kein Wunder, ist er uns entwischt.«
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11 Zurück zum Felsenhof
»Komm Tim«, rief Georg, nachdem sie die Abdrü cke im Sand studiert hatte. »Wir gehen nach Hau se und erzählen Vater, was wir entdeckt haben.« »Wuff«, stimmte Tim zu und rannte neben ihr her. Der Tag fing ja spannend an! »Vater, Vater!«, schrie Georg beim Hineinren nen und vergaß dabei völlig, wie wütend er wer den konnte, wenn sie ihn störte. »Er ist gerade auf dem Weg ins Dorf, um ein paar wichtige Briefe zur Post zu bringen«, erklärte Johanna, als Georg, gefolgt von Tim, zur Hintertür hereinstürzte. 105
»Dann werden wir ihn sicher treffen, wenn er auf dem Rückweg ist«, meinte Georg, die schlit ternd zum Stillstand kam. »Wir können es ihm dann erzählen. Los, komm Tim, lass uns zu Alf gehen.« Auf halbem Weg durch den Garten, hielt Georg plötzlich inne. Vater bringe wichtige Briefe zur Post, hatte Johanna gesagt. Georg dachte an das Gespräch mit ihrem Vater in der Nacht zuvor. Es war darum gegangen, ob sich in der alten Truhe im Keller möglicherweise noch andere wichtige Briefe befanden. Angenommen, es gab noch einen weiteren, der die Sally Ann betraf? Tim sah zu ihr hoch und fragte sich, weshalb sie plötzlich mitten auf dem Weg stehen blieb. »Tim!«, flüsterte sie aufgeregt. »Mir ist soeben etwas eingefallen. Wir gehen jetzt auf den Felsen hof zurück und durchsuchen die alte Truhe. Viel leicht müssen wir Alf und seinem Vater doch kei ne schlechte Nachricht überbringen!« Sie rannte mit pochendem Herzen zum Tor, Tim hinter ihr her. Er war völlig verwirrt über ihre plötzliche Sinnesänderung. Hatte sie nicht etwas von »Dorf« gesagt? Nun gingen sie statt dorthin zum Felsen hof. Was war da los? Als sie den Garten verließen, nahm seine Nase erneut diesen Salzgeruch wahr. Er schnüffelte um die Hecken herum. Da war er, stärker denn je. 106
»Beeil dich«, rief Georg, die schon weit voraus war. »Wir haben heute etwas sehr Wichtiges zu er ledigen, Tim. Es wird also nicht herumgelungert!« Tim gab das Schnüffeln auf und rannte ihr nach. Er beschloss, der Sache später nachzugehen, sobald sie zurück waren. Es war wieder warm und sonnig, wenn auch ei nige dunkle Wolken über dem Meer hingen und es so aussah, als würde das Wetter später umschla gen. Während sie die Landstraße entlanggingen, sah Georg, wie die Möwen über der Felseninsel kreisten und kleine Wellen sich am Ufer brachen. Doch sie eilte weiter. Sie waren in einer sehr wichtigen Mission unterwegs und hatten keine Zeit, unterwegs stillzustehen. Inzwischen freute sich der kleine Hund darauf, seine neuen Freunde wieder zu sehen. Und sollte er sich gerade besonders mutig fühlen, wer weiß, dann bellte er vielleicht sogar noch den Riesenstier an! Als die beiden auf den Hof zuliefen, sah Georg einen großen, kräftigen Mann in einer dunklen Hose und einem dunkelblauen Pullover vor der Tür des Bauernhauses stehen. Seine laute Stimme gellte über den Hof. Er sprach mit Frau Sanders. Vom alten Herrn Sanders und den beiden Hof hunden war nichts zu sehen. Tim knurrte leise und blieb stehen. Der Anblick des Fremden gefiel ihm gar nicht. Schon aus die 107
ser Entfernung spürte er, dass der Kerl nicht be sonders freundlich war. Er hatte sich drohend vor Frau Sanders aufgebaut und stützte einen Ellbo gen am Türrahmen ab. »Alles in Ordnung, Tim«, flüsterte Georg. »Das ist sicher ein Bekannter von Herrn und Frau San ders.« Doch Tim versteifte sich. Die vier Pfoten wie im Boden verankert, stand er da und starrte den Besucher mit stark gesträubtem Nackenfell an. Er wusste, ob ein Mensch gute oder schlechte Absichten hatte, und der hier hatte eindeutig schlechte. »Tim«, befahl Georg streng. »Komm jetzt, bitte!« Plötzlich stieß Frau Sanders einen leisen Schrei aus und der Mann begann sie richtig anzubrüllen. Die alte Frau legte die Hand auf den Mund und schüttelte den Kopf. »Nein, nein, ich schwöre, ich weiß nichts von einem Brief.« »Du weißt sehr wohl davon, du alte Kuh«, schrie der Mann. »Erzähl keine Lügen!« »Ich lüge nicht«, beharrte Frau Sanders, wenn auch mit etwas zitternder Stimme. »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen. Ich weiß nichts von was für Briefen auch immer.« Nun verstand Georg, weshalb Tim den Hof nicht hatte betreten wollen. Der kleine Hund hatte eine gute Antenne für drohende Gefahr. 108
»Komm, wir verstecken uns hinter der Scheu ne«, wisperte sie ihm zu. »Von dort können wir ihn im Auge behalten.« Sie stahlen sich durch das Tor und schlichen hinter die Scheune. Georg kauerte sich nieder und hielt Tim am Halsband fest. »Mein Mann kann jeden Augenblick zurück kommen«, hörten sie Frau Sanders mutig sagen. »Sie verschwinden also besser.« »Nicht bevor ich diese alte Truhe durchsucht habe«, knurrte der Mann böse. »Also, wo steckt sie?« Er blickte wie suchend umher, sodass Georg sein Gesicht von der Seite sehen konnte. Entsetzt stöhnte sie in ihrem Versteck hinter der Scheune auf, denn sie erkannte den Mann sofort. Er hatte im Café gesessen, als sie Alf und seinem Vater von dem Brief erzählt hatte. Er musste sie belauscht haben. »Tim«, zischte sie. »Ich wette, er hat gestern Nacht bei uns eingebrochen und den Brief gestoh len!« »Wuff«, japste Tim aufgeregt, der witternd und mit hoch erhobenem Schwanz die Nase in die Luft reckte. Er konnte ja den Salzgeruch wieder rie chen. Den gleichen Geruch, den er in der Küche und überall im Garten wahrgenommen hatte. Der kluge kleine Hund wusste bereits, dass das der Mann war, der gestern den Brief gestohlen hatte. 110
Er bebte. Wenn Georg doch nur sein Halsband loslassen würde, dann könnte er hinrennen und den Mann ins Bein beißen. Diesmal würde er sich nicht mit einem Stück Hosenstoff zufrieden geben! »Aber warum bedroht er denn Frau Sanders?«, flüsterte Georg, ziemlich verwirrt. »Er hat den Brief doch schon, warum will er nachsehen, ob es noch weitere gibt?« »Wuff«, bat Tim leise. »Bleib!«, zischte Georg, die spürte, dass Tim bebte. »Es ist sinnlos, einfach zu ihm hinzurennen. Wir müssen uns einen Plan zurechtlegen!« »Grrr«, knurrte Tim. »Wuff, wuff!« Er hatte ja 111
bereits einen Plan. Ihn ins Bein zu beißen war doch bestimmt der beste Plan überhaupt! Schließlich hatte Georg eine tolle Idee. Wenn ihr Plan funktionierte, würden sie den fürchterli chen Kerl ein für alle Mal in die Flucht schlagen! »Komm Tim«, zischte sie und schlich sich da von. »Mir nach!« Tim warf einen letzten Blick auf den Mann. Er schrie Frau Sanders immer noch an. Sie sah inzwi schen zwar ziemlich verschüchtert aus, verwehrte ihm jedoch nach wie vor tapfer den Zutritt zum Haus. Doch der brutale Kerl konnte sich jeden Moment an ihr vorbeidrängen. Sie durften keine Zeit verlieren. Leise und so unauffällig wie möglich schlichen Georg und Tim hinter der Scheune durch auf die andere Hofseite. »Da sind wir«, sagte Georg, als sie vor dem Pferch standen, in dem Bill, der Stier, unterge bracht war. Das Riesentier sah ihnen entgegen und blinzelte mit seinen großen Augen, wie ver wundert darüber, woher das Mädchen und der kleine Hund so plötzlich kamen. Tim sah zu, wie Georg auf die Zaunbalken stieg. Er war ziemlich ratlos. Was hatte seine Be sitzerin denn jetzt vor?
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12 Pech gehabt
»Ich schiebe erst mal den Riegel am Tor zurück«, keuchte Georg, während sie hochkletterte und dann mit aller Kraft den großen Riegel zurückzu schieben versuchte, um Bills Pferch zu öffnen. »Sobald ich es geschafft habe, musst du dich hin ter Bill stellen und ganz wild bellen. Er wird dann geradewegs auf den Hof rennen und den grässli chen Kerl ein für alle Mal vertreiben.« »Wuff«, meinte Tim etwas zurückhaltend. Das war ein ziemlich haarsträubender Plan von Georg. Aber wer weiß, vielleicht funktionierte er ja? Der Stier blickte verdutzt hoch, als es Georg ge 113
lang, den Riegel zurückzuschieben, und das Tor in den schweren Angeln zurückschwang. Das Mäd chen kletterte seitwärts, bis sie hinter Bill war, und verpasste ihm einen kräftigen Klaps. »Los, lauf Bill, lauf!« »Wuff, wuff!« Froh, endlich so richtig schön losbellen zu dürfen, machte Tim so viel Lärm, wie er nur konnte. Er rannte in das Gehege hinein und achtete dabei darauf, Bills großen Hufen auszu weichen. »Wuff, wuff«, bellte er, bis das mächtige Tier sich in Bewegung setzte. Georg hüpfte auf den Boden und ging ihm nach. Sie hob einen Stock auf und gab dem Stier einen sanften Klaps aufs Hinterteil. »Lauf Bill!«, rief sie. »Lauf!« Bill, der Stier, schüttelte den Kopf und trottete gemächlich aus dem Pferch und um eine Ecke herum. Er sah die Bäuerin vor der Haustür stehen. Sie war eine nette Frau und brachte ihm oft kleine Leckerbissen. Konnte ja sein, dass sie jetzt auch einen für ihn hatte. Plötzlich schrie Georg so laut sie nur konnte: »Hilfe! Aus dem Weg! Hilfe! Frau Sanders, Vor sicht, passen Sie auf, der Stier ist los!« »Wuff, wuff«, bellte Tim. Endlich verstand er, was Georg bezweckte. Bill trottete auf den Hof. Er schnaubte laut und warf den Kopf hin und her. Es tat gut, sich die 114
Beine zu vertreten, nachdem er so lange herumge standen war. Er trabte auf das Haus zu. Dabei schlug er kräftig mit dem Schwanz und warf den Kopf hoch, sodass seine mächtigen Hörner in der Sonne blitzten. Voller Entsetzen drehte der Mann sich um, als er das Klappern der Hufe auf dem gepflasterten Hof vernahm. Sein Mund öffnete sich und alle Farbe wich aus seinem Gesicht, als er den Stier di rekt auf sich zurennen sah. Frau Sanders hatte Georgs Schrei gehört und sah, wie sie und Tim sich hinter der Scheune ver steckt hielten und Bill beobachteten. Sie verstand sofort. »Oh Gott!«, schrie sie nun ihrerseits so laut sie nur konnte. »Gehen Sie in Deckung! Dieser Stier ist lebensgefährlich!« Sie hätte sich die Worte sparen können. Der Bö sewicht warf einen verstörten Blick auf das Rie sentier, das da auf ihn zutrottete, und rannte um sein Leben. Er sprintete über den Hof und durch das Tor und hetzte, so rasch ihn seine Beine tru gen, die Straße hinab. In der Zwischenzeit hatte Bill die Richtung ge ändert. Er hatte die Kühe entdeckt, die das Ge schehen über den Zaun hinweg mit großem Inte resse verfolgten. Nun trottete er laut brüllend in ihre Richtung. Es dröhnte so laut, dass der flüch 115
tende Bösewicht es bestimmt hörte und noch mehr Angst bekam. »Ach Meister Georg!«, rief Frau Sanders. »Bin ich froh, dich zu sehen!« »Ist alles in Ordnung?«, fragte Georg besorgt. »Wir haben gehört, wie der grässliche Kerl sie an geschrien hat.« »Ja, es ist alles in Ordnung. Ich habe keine Ah nung, wer er ist, aber ich hatte große Angst. Vie len herzlichen Dank, du bist ein sehr mutiges Mädchen.« »Tim ist auch sehr mutig«, erwiderte Georg. »Und er hat sofort gespürt, dass der Mann Ihnen nicht gut gesinnt war.« »Du guter Hund!«, rief die alte Frau und bückte sich, um Tim zu tätscheln. »So, dann lasst uns mal den alten Bill wieder einfangen.« Georg und Tim halfen Frau Sanders, den Stier zurück in den Pferch zu führen. Folgsam trottete er hinein. Die ganze Aufregung hatte ihn ein we nig ermüdet. Frau Sanders ging auf eine saftige Stelle in der Wiese zu und holte ihm besonders frisches Gras. Zufrieden kaute er darauf herum, während Georg auf die Zaunbalken des Pferchs kletterte und ihm den kräftigen Hals tätschelte. »Gut gemacht, Bill«, lachte sie fröhlich. »War das nicht komisch, wie der Mann voller Angst davon rannte?« 117
»Das kann man wohl sagen«, antwortete Frau Sanders und wischte sich die Lachtränen aus den Augen. »Dabei würde der gute alte Bill nicht einmal ei ner Fliege etwas zu Leide tun.« »Wuff«, unterbrach Tim die beiden und eilte davon, um die Türschwelle nach dem Geruch ab zuschnüffeln, den der Mann hinterlassen hatte. »Wuff, wuff.« Frau Sanders nahm die beiden schließlich mit ins Haus und verwöhnte sie mit Limonade und Keksen. »Ich verstehe noch immer nicht, was er wollte«, meinte sie, während sie in der Küche her umhantierte. »Er faselte etwas von irgendwelchen Briefen oder so.« »Ich weiß, was er damit meinte«, sagte Georg und beeilte sich, Frau Sanders die ganze Geschich te zu erzählen. »Was du nicht sagst«, bemerkte die alte Frau ganz erstaunt. »Ich hatte keine Ahnung, dass sich im Keller alte Dokumente befinden.« »Eins verstehe ich trotzdem nicht«, meinte Ge org nachdenklich. »Weshalb wollte er nach weite ren Briefen suchen, nachdem er den wichtigsten doch schon gestohlen hatte.« »Das kann ich mir auch nicht erklären«, gab Frau Sanders zur Antwort. Sie sah ebenso verwirrt aus wie Georg. 118
»Dürfen wir uns die alte Truhe im Keller noch mals ansehen?«, bat Georg, nachdem sie ihre Li monade ausgetrunken hatte. »Ich muss unbedingt nachsehen, ob es weitere Dokumente gibt, die meinem Freund Alf helfen könnten.« »Von mir aus, geh nur«, meinte Frau Sanders. »Ich hoffe du findest etwas.« Und so stiegen Georg und Tim erneut in den dunkeln, staubigen Keller. Diesmal sorgte Georg jedoch dafür, dass die Falltür sicher nach hinten ge klappt war. Inzwischen hatte Herr Sanders die An geln geölt, sodass sie sich nun mühelos öffnen ließ. Es dauerte nicht lange und Georg hatte die alte 119
Truhe gefunden. Sie holte alles heraus, was nach Briefen aussah, und nahm es mit zur Falltür hin über, wo Licht in den Keller fiel und sie leichter lesen konnte. Dort setzte sie sich im Schneidersitz auf den Boden, und Tim legte sich neben sie. »Es gibt keinen mehr, der die Sally Ann er wähnt«, seufzte sie nach einer Weile. Sie hatte ein Bündel Umschläge auf dem Schoß. »Nichts als alte Rechnungen und so Kram. Es sieht aus, als hätten wir Pech gehabt, Tim.« »Wuff«, meinte Tim leise. Er wusste, dass seine Besitzerin traurig war, und wünschte sich, er könnte etwas dagegen tun. Schließlich stand Georg auf. Sie legte alles in die Truhe zurück und schloss den Deckel. »Komm, Tim. Es scheint, als müssten wir Alf und seinem Vater tatsächlich die schlechte Nachricht überbringen.« Georg verabschiedete sich und machte sich tief traurig auf den Heimweg. Es sah ganz so aus, als sei der Kampf um die Sally Ann auf immer und ewig verloren. Beim Gartentor vor dem Felsenhaus setzte sich Tim plötzlich ab und rannte die Hecke entlang. Ge org war so betrübt, dass sie ihn nicht einmal zu rückrief und einfach die Pforte für ihn offen ließ. Sie wusste, dass Tim nicht lange wegbleiben würde. »Wo warst du denn den ganzen Morgen?«, 120
fragte Johanna, als Georg die Küche betrat. Sie be reitete gerade das Mittagessen für Georg und ih ren Vater zu, und sah ihr an, dass sie sehr un glücklich war. Georg erzählte, wo sie gewesen war. Dann setz te sie sich auf den Küchentisch und schwang wie gewöhnlich die Beine hin und her. »Ich habe kei nen anderen Brief gefunden, aber wir haben den Einbrecher gefunden.« »Was heißt, den Einbrecher gefunden!«, rief Jo hanna. »Sei nicht kindisch, Georg. Wie solltest du wohl den Einbrecher finden!« »Wir haben ihn aber sehr wohl gefunden«, be harrte Georg und erzählte Johanna, was gesche hen war. »Dann sag deinem Vater aber ganz rasch, er soll Wachtmeister Mond anrufen«, meinte die Haus hälterin nun. »Das wird ihn bestimmt sehr interes sieren.« »Vermutlich«, seufzte Georg. »Obwohl, wir wissen gar nicht, wer er ist. Darum sehe ich ei gentlich nicht ein, was es ihm bringen soll.« »Nun, du kannst ihn beschreiben«, bemerkte Johanna. »Von mir aus«, seufzte Georg. »Ist Vater in sei nem Arbeitszimmer!« »Nein.« Johanna schüttelte den Kopf. »Er ist draußen im …« 121
Ein Schrei von draußen unterbrach sie. Es war Georgs Vater und er klang außerordentlich wü tend. »Tim, komm sofort her und zeig mir, was du jetzt wieder erwischt hast!«
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13 Zum Glück gibt es Tim
Georgs Vater hatte unter einem Apfelbaum geses sen und seine Fachzeitschrift gelesen, da sah er plötzlich, wie Tim mit etwas im Maul vorbeilief. Mit zornrotem Gesicht rannte er nun hinter dem kleinen Hund her ins Haus. »Loslassen!«, brüllte er dabei ständig. »Lass das sofort los!« »Schrei doch nicht, Vater«, belehrte ihn Georg und sprang auf den Boden. »Du weißt, dass Tim es hasst, wenn man ihn anschreit. Aus!«, befahl sie nun streng. »Gib aus!« 123
Tim setzte sich und ließ ihr den Gegenstand vor die Füße fallen. »Danke«, sagte Georg. »Guter Hund! Hier, Va ter, du musst es ihm doch nur sagen.« Tim saß da und blickte zu ihr hoch, seine Zun ge hing heraus und seine freundlichen Augen leuchteten. Er wusste, sie würde von seinem Ge schenk begeistert sein. Georgs Vater hörte nicht zu. Er hatte Tims Fund aufgehoben und betrachtete ihn mit sehr verblüffter Miene. Es war ein ziemlich feuchter und schmutziger Briefumschlag. »Ich dachte, es könnte ein Brief sein, den ich vorhin auf dem Weg zum Postamt verloren habe, aber ich habe mich geirrt«, rief er. »Oh!«, schrie Georg, die ihren Augen kaum traute. »Vater! Das ist mein Brief. Der, den ich auf dem Felsenhof gefunden habe.« Sie nahm ihm den Brief aus der Hand und ihre blauen Augen glänz ten vor Freude. »Tim, wo war er?« »Wuff«, antwortete Tim und rannte zwischen ihr und der Hintertür hin und her. Er wollte Ge org zeigen, wo er ihn gefunden hatte. Aber Georg hatte es bereits erraten. »Ich wette, er hat vorhin diesen Brief unter der Hecke gewit tert. Er ist dort ganz aufgeregt hin und her gelau fen!«, rief Georg. »O Tim, du bist der klügste Hund auf der ganzen Welt!« 124
Sie bückte sich und umarmte ihn so fest, dass er kaum noch Luft bekam. Und der kleine Hund wedelte so heftig mit dem Schwanz, dass es aus sah, als würde er gleich abfallen. »Unglaublich«, rief Johanna aus und starrte den Umschlag an. »Was kommt wohl als Nächstes? Komm, du kluger Tim, lass mich nachsehen, ob ich einen Belohnungsknochen für dich finde. Den hast du verdient.« »Wuff«, japste Tim hocherfreut und wuselte hinter ihr in die Speisekammer. Das war die beste Belohnung überhaupt, ein saftiger Knochen. Er
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packte ihn und trug ihn in den Garten, wo er in al ler Ruhe darauf herumkauen konnte. »Das erklärt, weshalb der unheimliche Kerl auf dem Hof war«, sagte Georg zu ihrem Vater. »Er muss den Brief verloren haben, als er über die He cke sprang, und wollte nachsehen, ob es noch wei tere gibt.« »Welcher unheimliche Kerl«, fragte der Vater stirnrunzelnd. »Ehrlich gesagt, Georg, manchmal sprichst du in Rätseln.« Gerade als Georg ihm die Sache erklären woll te, rief Johanna ihnen aus der Küche zu: »Das Es sen ist fertig!« Und so erzählte Georg ihrem Vater ihr Aben teuer bei knackig frischem Salat, hart gekochten Eier, selbst gebackenen ofenfrischen Brötchen und Johannas zuckersüßem Apfelkuchen. Das Ende der Geschichte bekam er allerdings erst zu hören, nachdem sie den köstlichen Kuchen verschlungen hatte. Der Vater lächelte, als sie von Bills Mithilfe er zählte. »Also, ich weiß nicht, wenn du mich fragst«, sagte er und war mächtig stolz auf seine Tochter, »dann bist du ein ausgekochter Lausebengel. Ge radezu unglaublich, was du dir immer aus denkst.« »Oh, vielen Dank, Vater«, rief das Mädchen 126
und grinste über beide Ohren. »Das ist das Tollste, was du je zu mir gesagt hast!« »Was denn?«, ertönte es von der Tür her. Als sie sich umdrehten, sahen sie Georgs Mutter, die von ihrem Besuch in London zurück war. Sie hatte sie so vermisst, dass sie beschlossen hatte, früher zurückzukehren. Und so musste Georg die ganze Geschichte von neuem erzählen. »Die Sache mit dem Einbrecher gefällt mir aber gar nicht«, meinte die Mutter besorgt dazu. »Es ist besser, wir rufen Wachtmeister Mond noch einmal an, Quentin, und erzählen ihm, dass der Kerl auf dem Felsenhof war.« »Du hast Recht«, antwortete ihr Mann und stand auf. »Aber dann muss ich mich wirklich wieder an die Arbeit machen. Ich bin heute stän dig unterbrochen worden!« »Mutter«, sagte Georg hastig und ging vom Tisch. »Tim und ich müssen sofort zum Hafen und Alfs Vater den Brief geben. Er fragt sich sicher schon, wo wir bleiben.« Sie rannte hinaus, wo sie sah, wie Tim gerade ein Loch buddelte, um seinen Knochen zu vergraben. »Tim!«, schimpfte sie und beeilte sich, das Loch wieder aufzufüllen, denn es befand sich mitten in einem Blumenbeet ihrer Mutter. Tim winselte vorwurfsvoll, als sie den ziemlich 127
verschmierten Knochen aufhob und in den Gerä teschuppen brachte. »Du bekommst ihn ja wieder, sobald wir zurück sind«, versprach sie ihm. Auf dem Weg nach Felsenburg steckte Georg den Brief in die Hosentasche. Sie konnte es kaum erwarten, ihn Alf zu geben. Als sie eintrafen, luden Alf und sein Vater so eben den Tagesfang von der Sally Ann ab. Sie wa ren mit der Flut in den Hafen eingelaufen und an der Hafenmauer stapelten sich die Kisten mit dem fangfrischen Fisch. Alf schickte sich gerade an, die letzte Kiste vom Boot zu holen, als Georg und Tim über den Strand auf das Boot zueilten. »Wir haben ihn«, rief das Mädchen. Sie zog den Brief aus der Tasche und schwenkte ihn. »Wir ha ben den Brief!« Alfs Vater hörte sie rufen und kam über den Steg gerannt. »Meister Georg!«, rief er und sein wettergegerbtes Gesicht leuchtete auf. »Wir haben uns schon gefragt, wo du geblieben bist!« »Das ist eine lange Geschichte«, antwortete Ge org und reichte ihm den Brief ihres Großvaters. Dabei hüpfte sie vor Aufregung wie ein Gummi ball auf und ab. »Machen Sie ihn auf, machen Sie ihn auf!« »Tja, mehr brauchen wir nicht«, sagte der Fi scher dankbar, nachdem er den Brief gelesen hat 128
te. »Das bedeutet, dass wir die Sally Ann behalten können.« Er sah Georg an und sie glaubte in sei nen Augen Tränen glitzern zu sehen. »Ich weiß nicht, wie wir dir danken können, Georg.« »Lass mich auch sehen, Vater«, rief Alf, begierig die gute Nachricht mit eigenen Augen zu lesen. Sein Gesicht erhellte sich, als er las, was in dem Brief stand. »Wahnsinn, Georg, danke«, sagte er und lachte über das ganze Gesicht. »Du warst sehr mutig und klug.« »Tim aber auch«, erwiderte Georg. »Er war auch mutig und klug. Ohne ihn wäre der Brief vielleicht für immer verloren gewesen.« »Verloren?«, fragte Alf neugierig, und so muss te sie ihnen schleunigst die ganze Geschichte er zählen. Alfs Vater runzelte die Stirn, als sie den Einbrecher beschrieb. »Er trug eine dunkelblaue Matrosenhose«, sagte sie. »Tim hat ihm einen Fet zen rausgerissen.« »Eine Matrosenhose, sagst du?«, hakte Alfs Va ter nach. »Das klingt nach Fred Humpe, wenn du mich fragst. Der war früher mal bei der Marine.« »Ist das nicht der Typ, der im Nachbardorf wohnt und als Fischer nach Felsenburg ziehen will?«, rief Alf stirnrunzelnd. »Ja, genau«, antwortete sein Vater. »Aber er hat keine Lizenz bekommen. Ach, und er war an dem Tag im Café, an dem uns Georg von dem Brief er 130
zählte. Er hat ein Ruderboot, das er an der Ha fenmauer vertäut.« »Ich wusste, dass es derselbe Mann war!« rief Georg nun aufgeregt. »Ich habe ihn gleich er kannt, als ich ihn sah.« »Ja«, bemerkte der Fischer. »Er ist als Schurke bekannt. Es würde mich nicht wundern, wenn er an das Ministerium geschrieben und Lügen über die Sally Ann verbreitet hätte. Ich weiß gar nicht, weshalb ich nicht früher drauf gekommen bin.« »Aber warum sollte er so etwas Schreckliches tun?«, fragte Georg. »Weil mein Vater ein ausgezeichneter Fischer und er neidisch ist«, erwiderte Alf zornig. »Und weil in der Flotte ein Platz für einen neuen Fi scher frei würde, wenn wir hier nicht mehr fi schen dürften.« »Und Fred hätte der neue sein können«, ergänz te sein Vater. »Weißt du was, Georg, ich glaube, Wachtmeister Mond wäre sehr interessiert, das al les zu erfahren.« »Mein Vater wird ihn anrufen und ihm alles er zählen«, meinte Georg. »Wenn die Polizei Freds Haus durchsucht und die zerrissene Hose findet, genügt das, um seine Schuld zu beweisen«, sagte Alf. »Dann landet er sehr bald vor Gericht und muss für den Einbruch bei euch gerade stehen.« 131
»Ausgezeichnet!« Georg war mit dieser Aus sicht sehr zufrieden. Was auch geschehen würde, sie glaubte nicht, dass Fred Humpe Alf und seinen Vater noch einmal belästigen würde. »Nochmals herzlichen Dank, ihr zwei«, rief Alf und winkte Georg und Tim nach, als die beiden sich auf den Nachhauseweg machten. »Danke, für alles!« Georg winkte zurück. Auf dem Weg ins Fel senhaus kreisten die Möwen über ihr und die weinroten Erikasträucher nickten mit ihren Blü tenköpfen, als sie an ihnen vorbeiging. Tim rannte voraus und setzte einem Kaninchen nach, das hoppelnd im Gebüsch verschwand. »Komm schon, Tim«, rief Georg, als er hinter ihr zurückblieb, weil er vergeblich darauf wartete, dass es sich wieder zeigte. »Wenn du willst, gehen wir heute Nachmittag zur Bucht hinab, jetzt, da unser Abenteuer vorbei und die Sally Ann gerettet ist.« »Wuff«, bellte der kleine Hund, als er sie ein holte. Im Sand zu spielen, gehörte zu den Dingen, die er am liebsten tat. Genau genommen, hatte er nur Lieblingsbeschäftigungen, immer vorausge setzt, Georg war mit von der Partie. Beim Weitergehen steckte Georg die Hände in die Hosentaschen und pfiff fröhlich vor sich hin. »Das war ja mal wieder ein echt spannendes Aben 132
teuer, nicht wahr, Tim?«, sagte sie und gluckste beim Gedanken daran, wie Fred Humpe vor dem guten alten Bill Reißaus genommen hatte. »Wuff«, stimmte Tim ihr zu und sauste wieder voraus. Georg hatte Recht. Es war tatsächlich ein sehr spannendes Abenteuer gewesen!
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