Medien des kollektiven Gedächtnisses
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Media and Cultural Memory/ Medien und kulturelle Erinnerung Edited by / Heraus...
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Medien des kollektiven Gedächtnisses
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Media and Cultural Memory/ Medien und kulturelle Erinnerung Edited by / Herausgegeben von Astrid Erll · Ansgar Nünning
Editorial Board / Wissenschaftlicher Beirat Aleida Assmann · Mieke Bal · Marshall Brown · Vita Fortunati Udo Hebel · Gaby Helms · Claus Leggewie · Gunilla Lindberg-Wada Jürgen Reulecke · Jean Marie Schaeffer · Jürgen Schlaeger Siegfried J. Schmidt · Werner Sollors · Frederic Tygstrup Harald Welzer
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Walter de Gruyter · Berlin · New York
Medien des kollektiven Gedächtnisses Konstruktivität ⫺ Historizität ⫺ Kulturspezifität Herausgegeben von Astrid Erll · Ansgar Nünning unter Mitarbeit von Hanne Birk · Birgit Neumann · Patrick Schmidt
Walter de Gruyter · Berlin · New York
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISSN 1613-8961 ISBN 3-11-018008-1 Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2004 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin
Vorwort und Dank ‚Medien‘ und ‚kollektives Gedächtnis‘ sind heute Kulturthemen ersten Ranges. Sie begegnen uns im Feuilleton, in der politischen Diskussion und nicht zuletzt in zahlreichen kulturwissenschaftlichen Abhandlungen. Häufig wird dabei auch von ‚Medien des kollektiven Gedächtnisses‘ gesprochen. Was aber genau unter diesem Begriff zu verstehen ist, ist eine Frage, die bis heute nicht zufrieden stellend geklärt wurde. In klassischen Theorien zum kollektiven Gedächtnis kommt Medien zwar zentrale Bedeutung zu. Maurice Halbwachs, Aby Warburg, Pierre Nora oder Aleida und Jan Assmann arbeiten allerdings mit recht unterschiedlichen, teils vagen und in einigen Fällen gar nicht explizierten Medienbegriffen. Die Diskrepanz zwischen der Allgegenwart der Medien in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Kollektivgedächtnis einerseits und dem Mangel an klaren Medienbegriffen andererseits ist unübersehbar. Ziel dieses Bandes ist, den bislang nur unspezifisch gebrauchten Begriff des Gedächtnismediums in theoretischer und methodischer Hinsicht deutlicher zu konturieren. Dazu wird an die bestehende Theoriebildung zum kollektiven Gedächtnis angeknüpft; klassische kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorien erfahren aber zugleich eine Erweiterung durch Konzepte der neueren Medientheorien. Medien des kollektiven Gedächtnisses werden also aus einem doppelten – aus gedächtnis- und medientheoretischem – Blickwinkel betrachtet. In mehrfacher Hinsicht eröffnet der Band ein breites Spektrum gedächtnisund medienwissenschaftlicher Perspektiven: Durch die Vielfalt der beteiligten Disziplinen (Anglistik, Germanistik, Geschichtswissenschaft, Medienwissenschaft, Orientalistik, Politikwissenschaft und Psychologie) sind wichtige Erkenntnisinteressen und methodische Zugänge der heutigen interdisziplinär und kulturwissenschaftlich ausgerichteten Gedächtnis- und Medienforschung repräsentiert. Zentrale Ansätze zur Untersuchung von kollektivem Gedächtnis – von Maurice Halbwachs’ cadres sociaux, Aby Warburgs ‚Bildgedächtnis‘ und Pierre Noras lieux de mémoire über die Assmann’sche Theorie des ‚kulturellen Gedächtnisses‘ und Konzepte des Gießener SFB Erinnerungskulturen bis hin zur sozialpsychologischen Gedächtnisforschung – werden auf ihren je spezifischen Beitrag zur Modellierung des Verhältnisses von Medium und Gedächtnis hin befragt und medientheoretisch (neu)perspektiviert. Allen Beiträgen gemeinsam ist dabei die Frage nach Weisen der Konstruktion von Kollektivgedächtnis durch Medien. Um der geschichtlichen und kulturellen Wandelbarkeit – der Historizität und Kulturspezifität – dieser Konstruktionsarbeit Rechnung zu tragen, werden erinnerungshistorische Kontexte vom 17. bis zum 21. Jahrhundert und erinnerungskulturelle
VI Konstellationen in Großbritannien, Frankreich, Kanada, den USA, der Türkei und in Deutschland beleuchtet. *** Dieser Band ist aus der Arbeit in einer Sektion des Gießener Graduiertenzentrums Kulturwissenschaften (GGK) hervorgegangen. Knapp zwei Jahre lang haben dort haben Doktorand(inn)en und Postdoktorand(inn)en (Hanne Birk, Benjamin Burkhardt, Astrid Erll, Birte Förster, Béatrice Hendrich, Elisabeth Lohnert, Birgit Neumann, Kirsten Prinz, Patrick Schmidt, Annegret Stegmann und Angela M. Sumner) einen interdisziplinären und höchst anregenden Dialog über den Gedächtnismedien-Begriff geführt und das diesem Band zugrunde liegende Konzept gemeinsam entworfen. Im Rahmen einer vom GGK großzügig unterstützten Tagung im Mai 2003 konnte die Theorie und Geschichte der ‚Medien des kollektiven Gedächtnisses‘ mit renommierten Fachvertreter(inne)n diskutiert werden. Unser Dank geht insbesondere an das Präsidium der Justus-Liebig-Universität Gießen und an das hessische Ministerium für Wissenschaft und Kunst für die Einrichtung des Graduiertenzentrums. Die Mitarbeiter(innen) des GGK haben die Arbeit an diesem Band in vielfältiger Weise unterstützt und erleichtert. Hanne Birk, Birgit Neumann und Patrick Schmidt sind wir für die Mitarbeit bei der Konzeption des Bandes und beim Redigieren der Beiträge, für ihre konstruktive Kritik sowie für die angenehme Zusammenarbeit zu sehr großem Dank verpflichtet. Anna-Lena Flügel und Johanna Ruhl haben beim Korrekturlesen äußerst wertvolle Hilfe geleistet. Heiko Hartmann vom de Gruyter Verlag schließlich danken wir für die vertrauensvolle und ertragreiche Zusammenarbeit. Medien des kollektiven Gedächtnisses bildet den Auftakt der neuen Reihe Media and Cultural Memory, die sich der Erforschung des Verhältnisses von Medialität und Erinnerungskulturen in seiner ganzen Spannbreite widmet – von den medialen Anteilen der sozial geprägten individuellen Lebenserinnerung und des Generationengedächtnisses über die durch die Medien verschiedener Symbolsysteme erfolgende Konstitution und Tradierung von Erinnerungsorten und kulturellen Gedächtnissen bis hin zu den konstruktiven und kritisch-reflexiven Potentialen traditioneller und so genannter ‚neuer Medien‘ im Kontext ethnischer, religiöser, nationaler und transnationaler Erinnerungskulturen. Die Grundausrichtung der Reihe ist kulturwissenschaftlich; ihr Fokus liegt auf der medialen und erinnerungskulturellen Dimension menschlicher Bedeutungs-Universen. Dabei zeichnet sich die Reihe durch ihre interdisziplinäre und internationale Anlage aus: Ziel ist die Förderung eines Länder und Wissenschaftskulturen überschreitenden Dialogs in Sachen kulturwissenschaftlicher ‚Gedächtnis und Medien‘-Forschung.
Gießen, im März 2004
Astrid Erll & Ansgar Nünning
Inhaltsverzeichnis I. Einleitung ASTRID ERLL: Medium des kollektiven Gedächtnisses – ein (erinnerungs-) kulturwissenschaftlicher Kompaktbegriff ...................................................... 3
II. Gedächtnistheorien/Medientheorien PATRICK SCHMIDT: Zwischen Medien und Topoi: Die Lieux de mémoire und die Medialität des kulturellen Gedächtnisses ...................................................... 25 ALEIDA ASSMANN: Zur Mediengeschichte des kulturellen Gedächtnisses ................................ 45 GERALD ECHTERHOFF: Das Außen des Erinnerns: Medien des Gedächtnisses aus psychologischer Perspektive ........................................................................... 61 JENS RUCHATZ: Fotografische Gedächtnisse. Ein Panorama medienwissenschaftlicher Fragestellungen ............................................................................ 83
III. Geschichtswissenschaftliche und kulturanthropologische Medien- und Gedächtniskonzepte ANNEGRET STEGMANN: Sozialsystemische Institutionalisierung als Verpflichtung: Straßenballaden und Predigten zwischen mündlicher und schriftlicher Erinnerung an Charles I .......................................................... 109 ROLF REICHARDT: Expressivität und Wiederholung: Bildsprachliche Erinnerungsstrategien in der Revolutionsgrafik nach 1789 ........................................... 125 BÉATRICE HENDRICH: „Im Monat Muharrem weint meine Laute!“ – Die alevitische Langhalslaute als Medium der Erinnerung ................................................. 159
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IV. Literaturwissenschaftliche Medien- und Gedächtniskonzepte KIRSTEN PRINZ: „Mochte doch keiner was davon hören“ – Günter Grass’ Im Krebsgang und das Feuilleton im Kontext aktueller Erinnerungsverhandlungen ........................................................................... 179 BIRGIT NEUMANN: Literarische Inszenierungen und Interventionen: Mediale Erinnerungskonkurrenz in Guy Vanderhaeghes The Englishman’s Boy und Michael Ondaatjes Running in the Family ....................................... 195 HANNE BIRK: Kulturspezifische Inszenierungen kollektiver Gedächtnismedien in autochthonen Literaturen Kanadas: Alootook Ipellies Arctic Dreams and Nightmares und Ruby Slipperjacks Weesquachak and the Lost Ones ...... 217
V. Politikwissenschaftliche Medien- und Gedächtniskonzepte BENJAMIN BURKHARDT: Der Trifels und die nationalsozialistische Erinnerungskultur: Architektur als Medium des kollektiven Gedächtnisses ........................... 237 ANGELA M. SUMNER: Kollektives Gedenken individualisiert: Die HypermediaAnwendung The Virtual Wall ........................................................................ 255 ERIK MEYER & CLAUS LEGGEWIE: „Collecting Today for Tomorrow“: Medien des kollektiven Gedächtnisses am Beispiel des ‚Elften September‘ ................................... 277
VI. Auswahlbibliografie Literatur zum Thema ‚Medien – Kultur – kollektives Gedächtnis‘......... 295 Zu den Autorinnen und Autoren ................................................................ 307
I. Einleitung
ASTRID ERLL
Medium des kollektiven Gedächtnisses: Ein (erinnerungs-)kulturwissenschaftlicher Kompaktbegriff 1 I. Die Konstruktivität der Medien bei der kollektiven Gedächtnisbildung Die Forschung zum Bereich ‚kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen‘ kann mittlerweile mit Fug und Recht als einer der bedeutendsten Zweige der Kulturwissenschaften bezeichnet werden. Kaum ein anderes Konzept hat in den letzten Jahrzehnten die inter- und transdisziplinäre Diskussion derart befördert. Kollektives Gedächtnis als ein komplexes Phänomen, das in unterschiedlichen Erinnerungskulturen seine Ausprägungen findet, erlaubt und erfordert historische wie systematische Untersuchungen, lädt Vertreter der Semiotik, der Systemtheorie und des Poststrukturalismus gleichermaßen zur Theoriebildung ein und vermag schließlich den Bogen von den Geistes- über die Sozial- bis hin zu den Naturwissenschaften zu schlagen.2
_____________ 1 Weite Teile des in dieser Einleitung dargestellten Konzeptes sind aus gemeinsamen Diskussionen in der Sektion 1 (‚Kulturelles Gedächtnis und Erinnerungskulturen‘) des Gießener Graduiertenzentrums Kulturwissenschaften (GGK) hervorgegangen. Insofern stellt mein Text also eine Art ‚Ausblickspunkt‘ auf ein Kollektivgedächtnis dar, dessen tatsächliche Vielfalt im Verlauf des Bandes deutlicher hervortreten wird. Außerdem durfte ich unseren Gedächtnismedien-Begriff beim Romanistentag 2003 in Kiel, im Rahmen der von Franziska Sick und Beate Ochsner geleiteten Sektion ‚Medium und Gedächtnis‘ sowie in den AGs ‚Zeit – Medien – Identität‘ und ‚Intermedialität‘ des Gießener Sonderforschungsbereichs Erinnerungskulturen vorstellen. Ich bedanke mich bei allen Beteiligten (und insbesondere bei Kirsten Dickhaut, Susanne Hartwig, Andreas Langenohl und Stephanie Wodianka) für wertvolle Anregungen und konstruktive Kritik. 2 ‚Kollektives Gedächtnis‘ dient in diesem Band als ein Oberbegriff für alle denkbaren Relationen von Gedächtnis einerseits, sozialen und kulturellen Kontexten andererseits. Beobachtbar und kulturwissenschaftlich analysierbar wird Kollektivgedächtnis (mit seinen unterschiedlichen Subsystemen wie kulturelles, kommunikatives und soziales Gedächtnis) erst durch die in konkreten Erinnerungskulturen situierten Gedächtnismedien sowie durch deren soziale Produktion, Tradierung und Aktualisierung (d.h. durch ‚Akte kollektiver Erinnerung‘). Vgl. zu dieser Konzeption Astrid Erll: Gedächtnisromane: Literatur über den Ersten Weltkrieg als Medium englischer und deutscher Erinnerungskulturen in den 1920er Jahren. Trier: WVT 2003. Vgl. ebd. (68-75) auch die Unterscheidung zwischen den Gedächtnis konstruierenden, vermittelnden und perspektivierenden ‚Medien des kollektiven Gedächtnisses‘ einerseits und den erinnerten ‚Gegenständen des kollektiven Gedächtnisses‘ andererseits.
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Astrid Erll
Eine Schlüsselfrage für jedwede in einem kulturwissenschaftlichen Bezugsrahmen operierende Beschäftigung mit Kollektivgedächtnis ist die nach seinen Medien. Die Gedächtnistheorien von Maurice Halbwachs, Aby Warburg, Pierre Nora, Renate Lachmann und nicht zuletzt von Aleida und Jan Assmann basieren auf der Annahme, dass kollektives Gedächtnis ein – wie es die Semiotiker der Moskauer-Tartuer Schule formulieren – „nicht-erblich vermitteltes Gedächtnis eines menschlichen Kollektivs“ ist.3 Die Konstitution und Zirkulation von Wissen und Versionen einer gemeinsamen Vergangenheit in sozialen und kulturellen Kontexten werden erst durch Medien ermöglicht: durch mündliche Sprache, Buch, Fotografie und Internet etwa. Auf kollektiver Ebene ist Gedächtnis stets medial vermittelt bzw. – und das ist eine Leitperspektive dieses Bandes – wird es oftmals überhaupt erst medial konstruiert. Die Praxis kollektiven Erinnerns ist eng verbunden mit kreativen Konstruktionsprozessen. Ausgerichtet ist das Gedächtnis weniger auf die Vergangenheit, als auf gegenwärtige Bedürfnisse, Belange und Herausforderungslagen von sozialen Gruppen oder Gesellschaften. Die hochgradige Selektivität bei der Auswahl der Erinnerungsgegenstände, die Überformung vergangenen Geschehens durch kulturell verfügbare Anordnungsschemata sowie die erstaunliche Wandlungsfähigkeit von Erinnerungsversionen lassen den kollektiven Bezug auf Vergangenheit als eines der zentralen ‚poietischen‘ – d.h. aktiv und kreativ Wirklichkeit erzeugenden – Verfahren der Kultur erscheinen.4 Abbilder eines vergangenen Geschehens bietet das kollektive Gedächtnis daher nicht. Was bleibt aber, wenn kollektive Erinnerungsakte keinen Zugang zu einer ‚objektiv gegebenen‘ Vergangenheit gewähren? Vielleicht die Medien, die uns als einziges materiales Zeichen, als Anhaltspunkt dafür dienen, dass eine vergangene Wirklichkeit existiert hat, und die uns – in zeitlich umgekehrter Richtung: prospektiv – erlauben, unser Wissen auszulagern, räumlich weit entfernten Gruppen und späteren Generationen zugänglich zu machen? Schon ein kurzer Blick auf die neueren Medientheorien zeigt, dass Vorsicht geboten ist bei einer solchen Einschätzung der Rolle von Medien in kollektiven
_____________ 3 Juri Lotman & Boris A. Uspenskij: „Zum semiotischen Mechanismus der Kultur.“ In: Karl Eimermacher (Hrsg.): Semiotica Sovietica. Arbeiten der Moskauer und Tartuer Schule zu sekundären modellbildenden Zeichensystemen. Bd. 2. Aachen: Rader 1986, 853-880, 856. 4 Vgl. zur Konstruktivität und Gegenwartsorientierung des Gedächtnisses bereits Maurice Halbwachs: „[D]ie Erinnerung ist in sehr weitem Maße eine Rekonstruktion der Vergangenheit mit Hilfe von der Gegenwart entliehenen Gegebenheiten und wird im übrigen durch andere, zu früheren Zeiten unternommene Rekonstruktionen vorbereitet.“ (Maurice Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis. Frankfurt a.M.: Fischer 1991 [1950], 55) Stellvertretend für die Untersuchung kreativer, narrativer und konstruktiver Verfahren in der neueren kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung vgl. Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: Beck 1999; Jürgen Straub (Hrsg.): Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998.
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Erinnerungsprozessen. Medien sind keine neutralen Träger von vorgängigen, gedächtnisrelevanten Informationen. Was sie zu enkodieren scheinen – bestehende Wirklichkeits- und Vergangenheitsversionen, Werte und Normen, Identitätskonzepte – konstituieren sie vielmals erst. So gab es etwa für die detailreichen Historien der Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert kein Pendant außerhalb des Mediums Buch. Die elaborierten Nationalgeschichten etwa eines Michelet, Macaulay oder Ranke findet man weder in der mündlichen Überlieferung, noch in Historiengemälden oder Riten. Sie existierten schlichtweg nicht in anderen Medien oder gar in einer (wie auch immer gearteten) außermedialen Realität. Allein das Buch wies das spezifische Leistungsvermögen auf, eine ungeheure Vielzahl von gedächtnisrelevanten Informationen in temporal-kausaler Anordnung zu präsentieren – und damit Nationalgeschichte in dieser detaillierten Form erst zu konstruieren. Die erinnerungskulturell wirk- und bedeutsamen Vergangenheiten sind also (anders als das ungeordnete historische Geschehen5) den Medien nicht äußerlich. Es sind mediale Konstrukte. Deshalb sind sie nicht falsch oder unwirklich; Medialität stellt vielmehr die Bedingung der Möglichkeit des sinnhaften kollektiven Bezugs auf zeitliche Prozesse dar.6 Die Wirklichkeit konstituierende Kraft von Medien wird in der Medienforschung – vielleicht dezidierter als in der (bisweilen noch an einem ars memoriaeModell des Einspeicherns und originalgetreuen Abrufens orientierten) kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung – hervorgehoben. Sybille Krämer hat die kulturelle Bedeutung von Medien mit kaum übertroffener Klarheit auf den Punkt gebracht: Medien übertragen nicht einfach Botschaften, sondern entfalten eine Wirkkraft, welche die Modalitäten unseres Denkens, Wahrnehmens, Erinnerns und Kommunizierens prägt. […] ‚Medialität‘ drückt aus, daß unser Weltverhältnis und damit alle unsere Aktivitäten und Erfahrungen mit welterschließender […] Funktion geprägt sind von den Unterscheidungsmöglichkeiten, die Medien eröffnen, und den Beschränkungen, die sie dabei auferlegen.7
Diese Einsicht in die grundsätzliche mediale Prägung unserer Wirklichkeiten erweist sich auch und vor allem mit Blick auf die in die kollektive Gedächtnisbil-
_____________ 5 Vgl. zu dieser Unterscheidung Karlheinz Stierle: „Geschehen – Geschichte – Text der Geschichte.“ In: Ders.: Text als Handlung. München: Fink 1975, 49-55. 6 Vgl. auch Martin Seel zum Verhältnis von Medialität und Realität: „Aus der internen Verbindung von Medialität und Realität folgt […] nicht, alle Wirklichkeit sei im Grunde eine mediale Konstruktion. Es folgt lediglich, daß es mediale Konstruktionen sind, durch die uns oder überhaupt jemandem so etwas wie Realität gegeben oder zugänglich ist. Realität ist nicht als mediale Konstruktion, sondern allein vermöge medialer Konstruktion gegeben.“ (Martin Seel: „Medien der Realität und Realität der Medien.“ In: Sybille Krämer [Hrsg.]: Medien – Computer – Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, 244-268, 255) 7 Sybille Krämer: „Was haben Medien, der Computer und die Realität miteinander zu tun?“ In: Dies.: Medien – Computer – Realität (Anm. 6), 9-26, 14f.
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dung involvierten Medien als erkenntnisfördernd. Frei nach Krämer ist hinsichtlich der Medien des kollektiven Gedächtnisses von zwei Prämissen auszugehen:8 (1) Medien sind keine neutralen Träger oder Behältnisse von Gedächtniszeichen. An den mediengestützten kollektiven Erinnerungs- und Deutungsakten bewahrt sich stets auch die ‚Spur‘ des Gedächtnismediums. (2) Als ‚Apparate‘ gehen Gedächtnismedien wie Denkmal, Buch, Gemälde und Internet weit über die Aufgabe der Erweiterung des individuellen menschlichen Gedächtnisses durch die Auslagerung von Informationen hinaus: Sie erzeugen Welten des kollektiven Gedächtnisses nach Maßgabe ihres spezifischen gedächtnismedialen Leistungsvermögens – Welten, die eine Erinnerungsgemeinschaft ohne sie nicht kennen würde.
II. Medium und Kollektivgedächtnis: Konzeptionen der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung Was aber ist ein Medium des kollektiven Gedächtnisses? Die Antwort auf diese Frage scheint zunächst einmal intuitiv klar zu sein. Bei genauerer Betrachtung sieht man sich allerdings zunehmend mit Schwierigkeiten konfrontiert. Mediale Phänomene treten auf verschiedenen Ebenen kollektiver Gedächtnisbildung auf. Ihre Erscheinungsformen und Funktionen variieren dabei stark. Und schließlich sind komplexe soziale Prozesse beteiligt an der kulturellen Kodierung eines Mediums als ‚Medium des kollektiven Gedächtnisses‘. Welche Konzepte der Verknüpfung von ‚Medium‘ und ‚Kollektivgedächtnis‘ hat die kulturwissenschaftliche Forschung bislang erarbeitet? Die klassischen Gedächtnistheorien von Maurice Halbwachs, Aby Warburg sowie Aleida und Jan Assmann,9 neuere Beiträge zu einer dezidiert medienorientierten Gedächtnisfor-
_____________ 8 Vgl. Sybille Krämer: „Das Medium als Spur und Apparat.“ In: Dies.: Medien – Computer – Realität (Anm. 6), 73-94. Krämer setzt sich in diesem Aufsatz mit den beiden einflussreichen, wenn auch höchst unterschiedlichen Medienkonzepten von Niklas Luhmann und Marshall McLuhan auseinander und konzipiert das Medium als ‚Spur‘ (in Abgrenzung zur scheinbaren Neutralität des materiellen Zeichenträgers bei Luhmann) und ‚Apparat‘ (in Abgrenzung zum ‚Instrument‘ als bloßer künstlicher Erweiterung des menschlichen Körpers bei McLuhan): „Das Medium verhält sich zur Botschaft, wie die unbeabsichtigte Spur sich zum absichtsvoll gebrauchten Zeichen verhält. […] Die sinnprägende Rolle von Medien muß also nach dem Modell der Spur eines Abwesenden gedacht werden; so rückt in den Blick, warum die Bedeutung von Medien gewöhnlich verborgen bleibt. Das Medium ist nicht einfach die Botschaft; vielmehr bewahrt sich an der Botschaft die Spur des Mediums.“ (Ebd., 81) „[D]ie Technik als Apparat […] bringt künstliche Welten hervor, sie eröffnet Erfahrungen und ermöglicht Verfahren, die es ohne Apparaturen nicht etwa abgeschwächt, sondern überhaupt nicht gibt. Nicht Leistungssteigerung, sondern Welterzeugung ist der produktive Sinn von Medientechnologien.“ (Ebd., 85) 9 Zu Gedächtnismedien in Pierre Noras Lieux de mémoire vgl. den Beitrag von Patrick Schmidt in diesem Band.
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schung sowie Erkenntnisse der Sozialpsychologie sollen im Folgenden auf mögliche Impulse für ein Verständnis des Zusammenhangs von Medialität und Gedächtnis auf kollektiver Ebene hin befragt werden. In seinen Pionierstudien zum kollektiven Gedächtnis rückt der Soziologe Maurice Halbwachs die ‚cadres sociaux de la mémoire‘ (soziale Rahmen des Erinnerns) in den Mittelpunkt. Die in der heutigen Gedächtnisforschung so einflussreichen Hauptwerke zum kollektiven Gedächtnis – Les cadres sociaux de la mémoire und La mémoire collective10 – gehen der genuin soziologischen Frage nach der Rolle von Gruppen in Prozessen des kollektiv geprägten Erinnerns nach. Daher scheint die Halbwachs’sche Theorie zunächst keinen geeigneten Anknüpfungspunkt für eine medientheoretisch informierte Gedächtnisforschung darzustellen. Halbwachs’ weithin bekanntes Beispiel eines ‚Spaziergangs durch London‘ zeigt allerdings sehr deutlich, welche Rolle Medien bei der sozialen Gedächtnisbildung spielen:11 Durch Stadtpläne, Gemälde und Romane ist der Reisende mit sozialen Gruppen und deren ‚Denk- und Erfahrungsströmungen‘ verbunden. Weitere Medien, wie Fotos und Zeitschriften, finden bei Halbwachs Erwähnung, weil sie als ‚Spuren‘ dienen können, die dabei helfen, an längst vergessene Gemeinschaften und damit auch an verblassende Kollektivgedächtnisse wieder Anschluss zu finden.12 Cadres sociaux (in übertragenen Sinne: gruppenspezifische Denkschemata) werden über solche – vielleicht als ‚cadres mediaux‘ zu bezeichnende – gedächtnismedial funktionalisierte materiale Objektivationen und Überreste der Vergangenheit oft erst erreichbar. In der Topographie légendaire treten materiale Phänomene – Architektur, Pilgerwege, Gräber etc. – dann auch in den Vordergrund der Betrachtung.13 Im Zentrum von Aby Warburgs Beschäftigung mit einem sozialen Gedächtnis stehen Werke der bildenden Kunst. Fresko, Ölgemälde‚ Kupferstich, Münze,
_____________ 10 Maurice Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985 [1925]; Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis (Anm. 4). 11 Vgl. Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis (Anm. 4), 2f. Für einen hervorragenden Überblick über Halbwachs’ Theorie und die Konsequenzen für eine kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung anhand eben dieses Beispiels vgl. Gerald Echterhoff & Martin Saar: „Einleitung: Das Paradigma des kollektiven Gedächtnisses. Maurice Halbwachs und die Folgen.“ In: Diess. (Hrsg.): Kontexte und Kulturen des Erinnerns: Maurice Halbwachs und das Paradigma des kollektiven Gedächtnisses. Konstanz: UVK 2002, 13-35. 12 Zur ‚Literatur als Spur‘ in Halbwachs’ Gedächtnistheorie vgl. Astrid Erll: „‚Mit Dickens spazieren gehen.‘ Kollektives Gedächtnis und Fiktion.“ In: Echterhoff & Saar: Kontexte und Kulturen (Anm. 11), 253-265. Zum Medium als ‚Externalisierung‘ und ‚Spur‘ vgl. den Beitrag von Jens Ruchatz in diesem Band. 13 Maurice Halbwachs: Stätten der Verkündigung im Heiligen Land. Eine Studie zum kollektiven Gedächtnis. Konstanz: UVK 2003 [1941]. Vgl. zur Architektur als Medium des kollektiven Gedächtnisses auch den Beitrag von Benjamin Burkhardt in diesem Band.
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Foto oder Briefmarke erscheinen bei Warburg als Speichermedien,14 in denen sich die ‚mnemische Energie‘ der so genannten ‚Pathosformeln‘ über Jahrhunderte hinweg bewahrt, um sich dem Betrachter einer späteren Epoche blitzhaft wieder zu entladen. Warburgs Mnemosyne-Projekt15 beruht damit auf einer recht unkonventionellen Vorstellung von Speichermedien, zu deren Funktion es gehört, der Gedächtnisgemeinschaft intensive Emotionen aufsteigen zu lassen, anstatt ihr jederzeit abrufbare Informationen zu vermitteln.16 Bereits in den klassischen Studien von Maurice Halbwachs und Aby Warburg geht es also – wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise – um den Zusammenhang von Medialität und Kollektivgedächtnis. Und schon dort werden Grundprobleme der Beschäftigung mit Medien aus der Perspektive der Gedächtnisforschung deutlich. Bei Halbwachs übernehmen auch und vor allem die (im wörtlichen Sinne verstandenen) cadres sociaux gedächtnismediale Funktionen: Der Großvater ist eine Instanz, die Wissen über die Vergangenheit vermittelt; der Anblick des Freundes lässt Erinnerungen an gemeinsam Erlebtes aufkommen. Auch bei Warburg geraten weniger die materiellen Speichermedien (Leinwand, Ölfarbe, Kupfer) als ‚Medien des kollektiven Gedächtnisses‘ in den Blick. Es sind vielmehr die sich in ihnen manifestierenden symbolischen Ausdrucksformen (die ‚Pathosformeln‘), die zwischen Gestern und Heute vermitteln, Erinnerung evozieren und die für Gedächtnismedien typischen welterschließenden Funktionen erfüllen können. Anders als die kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, in der der Begriff des Gedächtnismediums insgesamt recht unscharf geblieben ist, basiert Aleida und Jan Assmanns Theorie des kulturellen Gedächtnisses ganz maßgeblich auf medientheoretischen Annahmen. Sicherlich haben sie das bislang ausgereifteste und differenzierteste Gedächtnismedienkonzept vorgelegt. Aber bezeichnenderweise erfüllt der Medienbegriff gerade in den Assmann’schen Schriften sehr viele verschiedene Funktionen auf ebenso unterschiedlichen Ebenen: So fragen Aleida und Jan Assmann erstens nach dem spezifischen Leistungsvermögen von Kommunikationsinstrumenten wie Mündlichkeit und Schriftlichkeit als Medien der Tradierung von kulturellem Gedächtnis.17 Sie unterscheiden zweitens zwischen ‚Medien des kommunikativen und des
_____________ 14 Zum ‚Speichermedium‘ vgl. Stefan Rieger: „Speichermedium.“ In: Nicolas Pethes & Jens Ruchatz (Hrsg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon. Reinbek: Rowohlt 2001, 550-553. 15 Vgl. Aby Warburg: Der Bilderatlas Mnemosyne. Hrsg. v. Martin Warnke. Berlin: Akademie Verlag 2000 [1924-29]. 16 Zu den ‚epistemischen Katachresen‘ in Warburgs Beschäftigung mit Gedächtnismedien vgl. Stefan Rieger: „Richard Semon und/oder Aby Warburg: Mneme und/oder Mnemosyne.“ In: Aleida Assmann et al. (Hrsg.): Medien des Gedächtnisses (= Sonderheft der DVjS). Stuttgart/Weimar: Metzler 1998, 245-263. 17 Vgl. insbes. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: Beck 1992.
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kulturellen Gedächtnisses‘ sowie zwischen ‚Medien des Funktionsgedächtnisses und des Speichergedächtnisses‘ – und meinen dann häufig ‚Mediengattungen‘, wie die mündliche Erzählung einer Lebensgeschichte, die Predigt oder die wissenschaftliche Historiografie.18 Drittens erfüllen auch einzelne materiale Objektivationen (wie die Bibel oder Homers Epen) mediale Funktionen im Rahmen des kulturellen Gedächtnisses,19 und viertens werden schließlich eher formal-ästhetische Phänomene wie Metaphern als Medien bezeichnet.20 Eine – in Methoden und Erkenntnisinteressen recht heterogene – medienorientierte Gedächtnisforschung hat sich seit Ende der 1990er Jahre herausgebildet. Manfred Weinberg und Manfred Windisch wiesen bereits 1998 auf das Desiderat einer „mediengeschichtliche[n] Neuorientierung des Gedächtnisbegriffs“ hin, „die nicht bei den metaphorischen Umschreibungen des Erinnerns stehenbleibt, sondern weitergehend nach der dem Erinnern je eigenen Medialität, seiner Gebundenheit an jeweilige Gedächtnismedien fragt“.21 Kritisiert, modifiziert und weiterentwickelt wurde die kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung zudem von Wissenschaftlerinnen, die an der Schnittstelle von Medienwissenschaft und Gedächtnisforschung arbeiten: Vittoria Borsò verweist auf die „konstitutionelle Medialität des Gedächtnisses“ und begreift Gedächtnismedien als Ausdrucksformen von ‚Alterität‘; Elena Esposito schreibt Gedächtnisgeschichte systemtheoretisch als Geschichte wechselnder Kommunikationstechnologien.22
_____________ 18 Vgl. zu diesen verschiedenen Ebenen beispielhaft die Tabellen in Aleida & Jan Assmann: „Das Gestern im Heute. Medien und soziales Gedächtnis.“ In: Klaus Merten et al. (Hrsg.): Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft. Opladen: Westdeutscher Verlag 1994, 114-140. Zum Begriff der Mediengattung vgl. Siegfried J. Schmidt: „Skizze einer konstruktivistischen Mediengattungstheorie.“ In: SPIEL 6,2 (1987), 163-206. 19 Vgl. z.B. Aleida Assmann: „Was sind kulturelle Texte?“ In: Andreas Poltermann (Hrsg.): Literaturkanon – Medienereignis – kultureller Text: Formen interkultureller Kommunikation und Übersetzung. Berlin: Erich Schmidt 1995, 232-244. 20 Vgl. A. Assmann: Erinnerungsräume (Anm. 4). Im zweiten, mit „Medien“ überschriebenen Teil der Monografie finden sich die Kapitel „Metaphorik“, „Schrift“, „Bild“, „Körper“ und „Orte“. 21 Manfred Weinberg & Martin Windisch: „Einleitung.“ In: A. Assmann et al.: Medien des Gedächtnisses (Anm. 16), 1-11, 5. Vgl. aber Douwe Draaisma, der zeigt dass die Beschäftigung mit dem bis heute unbeobachtbaren Gedächtnis notwendigerweise immer der Metaphern bedarf. Seit der Antike dient die jeweils vorherrschende Medientechnologie der Bildung von Gedächtnismetaphern (von der Schrift über den Fonograf und die Fotografie bis hin zu Computer und Hologramm). Medien erhalten in dieser Perspektive eine ganz neue gedächtnisrelevante Funktion: Sie dienen nicht der Gedächtnisbildung, sondern sind Vehikel der Gedächtnisreflexion. (Douwe Draaisma: Die Metaphernmaschine. Eine Geschichte des Gedächtnisses. Darmstadt: Primus 1999) 22 Vittoria Borsò: „Gedächtnis und Medialität: Die Herausforderung der Alterität. Eine medienphilosophische und medienhistorische Perspektivierung des Gedächtnis-Begriffs.“ In: Vittoria Borsò et al. (Hrsg.): Medialität und Gedächtnis: Interdisziplinäre Beiträge zur kulturellen Verarbeitung europäischer Krisen. Stuttgart/Weimar: Metzler 2001, 23-54, 25 und 50; Elena Esposito: Soziales Vergessen. Formen und Medien des Gedächtnisses der Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002.
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Wie weit das Spektrum möglicher Nahtstellen zwischen Medium und Gedächtnis reicht, ist vor allem durch neuere sozialpsychologische Studien in den Blick geraten. Denn nicht allein das in der Assmann’schen Theorie fokussierte klassische ‚Speichermedium‘ (das die Kommunikation über Jahrtausende hinweg sichert und in das ‚kulturelle Texte‘ bewusst enkodiert werden, um entweder im kulturellen Funktionsgedächtnis durch regelmäßige Aktualisierung angeeignet oder aber im Speichergedächtnis bzw. Archiv abgelagert zu werden) ist ein Gedächtnismedium.23 Harald Welzer hat auf die Rolle von Medien in verschiedenen anderen Systemen des kollektiven Gedächtnisses verwiesen: So dienen etwa Familienfotos und alte Zeitschriften als Anlässe zum Gespräch über gelebte Geschichte und spielen damit eine Rolle bei der kollektiven Bildung von Vergangenheit en passant – d.h. im Rahmen des ‚sozialen Gedächtnisses‘.24 Welzer hat außerdem gezeigt, dass Massenmedien wie Kinofilme als Vorlagen für individuelle Lebensgeschichten dienen können, also auch auf das kollektiv geprägte autobiografische Erinnern Einfluss nehmen.25 Die heute noch viel zu selten untersuchten Medien des alltagsweltlichen kommunikativen Gedächtnisses – neben mündlicher Rede auch Talkshows, Zeitungsberichte, Kinofilme oder Chatrooms im Internet – wären schließlich wohl eher als Übertragungs-, denn als Speichermedien zu konzipieren, denn sie ermöglichen sozialen Erfahrungsaustausch und kollektive Gedächtnisbildung dominant über räumliche Grenzen (und nicht in erster Linie über zeitliche) hinweg.26 Aus diesem kurzen Überblick über die – allzu häufig implizit bleibenden – Medienkonzepte der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung können mehrere zentrale Aspekte des Verhältnisses von Medium und Kollektivgedächtnis abgeleitet werden: Erstens ist Medialität in Prozessen kollektiver Gedächtnisbildung in vielen Fällen weitab von technischen (Massen-)Medien und kommunikationswissenschaftlichen Sender-Kanal-Empfänger Modellierungen auszumachen: Auch ästhetische Formen, Objekte, natürliche Gegebenheiten (Steine, Flüsse,
_____________ 23 Zum Konzept des kulturellen Textes vgl. Jan Assmann: „Kulturelle Texte im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit.“ In: Ders.: Religion und kulturelles Gedächtnis. Zehn Studien. München: Beck 2000, 124-147. 24 Vgl. Harald Welzer (Hrsg.): Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung. Hamburg: Hamburger Edition 2001; sowie Angela Keppler: „Soziale Formen individuellen Erinnerns. Die kommunikative Tradierung von (Familen-)Geschichte.“ In: Ebd., 137-159. 25 Harald Welzer: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München: Beck 2002. Vgl. zu den Schnittstellen zwischen Medien, individuellem und kollektivem Gedächtnis auch den Beitrag von Gerald Echterhoff in diesem Band. Zur Individualisierung des Totengedenkens im Internet vgl. den Beitrag von Angela M. Sumner in diesem Band. 26 Vgl. zur Unterscheidung zwischen zeitorientierten und raumorientierten Kommunikationsmedien Harold A. Innis: The Bias of Communication. Toronto: University of Toronto Press 1951. Zur Rolle von Massenmedien bei der transnationalen Erinnerung an den ‚Elften September‘ vgl. den Beitrag von Erik Meyer und Claus Leggewie in diesem Band.
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Berge) und soziale Gruppen können gedächtnismediale Funktionen übernehmen.27 Zweitens interagieren die auf verschiedenen Ebenen anzusiedelnden medialen Phänomene bei der kollektiven Gedächtnisbildung auf komplexe Weise: Der Schrift, der Drucktechnik, einem konkreten Roman und seinen literarischen Formen etwa kann nicht nur gleichermaßen eine jeweils spezifische Materialität und Gedächtnis-Medialität zugeschrieben werden; zudem wirken die genannten Komponenten in der Erinnerungskultur wohl erst in ihrem Zusammenspiel. Drittens ist Medialität innerhalb unterschiedlicher Systeme der kollektiven Gedächtnisbildung wirksam: Kulturelles, kommunikatives und soziales Gedächtnis sind nur einige Rahmen des sozialen Bezugs auf Vergangenheit, innerhalb deren Medien konstitutive (und konstruktive) Funktionen erfüllen. Für eine Konzeption des Begriffs ‚Medium des kollektiven Gedächtnisses‘ bedeuten diese Einsichten zweierlei: Zum einen vermögen im engeren Sinne medientheoretische und kommunikationswissenschaftliche Konzepte nur einen Teilbereich des Verhältnisses von Medialität und Kollektivgedächtnis zu beleuchten. Die kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung bedarf offensichtlich eines weiten Medienbegriffs. Um die für die Gedächtnisbildung relevanten Phänomene zu erfassen, sollte sie sich daher eher im Rahmen einer umfassenden „Theorie des Medialen“ bewegen, als sich auf eine bestimmte „Medientheorie“ festzulegen (um eine Unterscheidung von Ludwig Jäger zu benutzen28). Zum anderen muss dieser kulturwissenschaftliche und gedächtnistheoretisch fundierte Medienbegriff viele verschiedene mediale Phänomene erfassen und zugleich sichtbar voneinander differenzieren können. Benötigt wird also ein Begriff, der Literatur und Internet, Ritual und Radio vergleichbar macht, mit dem die verschiedenen Ausdrucksmöglichkeiten und das spezifische Leistungsvermögen der jeweiligen Gedächtnismedien in den Blick kommt; ein Begriff schließlich, mit dem man mediale Phänomene verschiedener historischer Epochen und kultureller Kontexte erfassen kann, der aber zugleich nicht die Unterschiede zwischen diesen Phänomenen nivelliert. Kurz, ein ausdifferenziertes Mehrebenenmodell der ‚Medien des kollektiven Gedächtnisses‘ ist offensichtlich ein zentrales Desiderat der heutigen kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung.
_____________ 27 Vgl. etwa zum Musikinstrument als Körper- und Performanzmedium den Beitrag von Béatrice Hendrich in diesem Band. 28 Ludwig Jäger: „Die Sprachvergessenheit der Medientheorie. Ein Plädoyer für das Medium Sprache.“ In: Werner Kallmeyer (Hrsg.): Sprache und neue Medien. Berlin/New York: de Gruyter 1999, 930, 13.
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III. ‚Medium des kollektiven Gedächtnisses‘: Komponenten eines (erinnerungs-)kulturwissenschaftlichen Kompaktbegriffs Zwischen dem dargelegten Anspruch (bzw. den Desiderata) der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung und der Wirklichkeit bestehender Medientheorien klafft eine Lücke. Der Medienbegriff kann kaum als expliziert bezeichnet werden;29 die Medienwissenschaft konturiert sich als eine äußerst heterogene Forschungslandschaft mit einer Vielzahl oft unvereinbar scheinender Theorien und Methoden.30 Gerade die Beschäftigung mit Gedächtnismedien erfordert einen konzeptuellen Spagat zwischen weit auseinander liegenden Bereichen der Medienforschung: Das Interesse der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung an Medialität basiert zunächst einmal auf einem grundlegenden Verständnis von ‚dem Medium‘ als ‚etwas (hier: das zu Erinnernde) Vermittelndem‘; zugleich drängt sich die Frage nach der erinnerungskulturellen Rolle ‚der Medien‘ als Systeme der gesellschaftlichen (Massen-)Kommunikation auf.31 Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist daher ein Konzept, das zunächst zwar stark auf die Merkmale massenmedialer Kommunikation hin ausgerichtet ist, allerdings bereits deutlich integrative Züge aufweist und das schließlich (gleichsam in einer Umkehrung der üblichen Bewegung medienwissenschaftlicher Abhandlungen) zu einem umfassenderen Konzept des ‚Gedächtnis-Medialen‘ erweitert werden soll. Siegfried J. Schmidt hat in seinem Buch Kalte Faszination „Vorschläge für ein integratives Medienkonzept“ unterbreitet. Im Rahmen seines konstruktivistischen Entwurfs einer Medienkulturwissenschaft spricht Schmidt vom Medium als
_____________ 29 „Der Medienbegriff zeigt sich schon bei oberflächlicher Betrachtung als typischer Grundbegriff im Sinne der Begriffsgeschichte, denn er weist gleich mehrere Merkmale eines zentralen Terminus auf: Eine strittige Extension, unklare Intensionsmerkmale, eine klare evaluative Komponente und eine Bedeutungskonstitution nicht allein aus dem Sprachsystem, sondern auch aus dem diskursiven Sinn.“ (Stefan Hoffmann: Geschichte des Medienbegriffs. Hamburg: Meiner 2002 [= Sonderheft des Archivs für Begriffsgeschichte], 21) Zum Medienbegriff als ‚Pluraletantum‘ vgl. auch Rainer Leschke: Einführung in die Medientheorie. München: Fink 2003, 9-31, 10. 30 Für grundlegende Reflexionen zu Konzepten und Methoden der Medienwissenschaft vgl. die Beiträge in Rainer Bohn et al. (Hrsg.): Ansichten einer künftigen Medienwissenschaft. Berlin: Ed. Sigma Bohn 1988. Für eine überblickshafte Darstellung der maßgeblichen Medientheorien vgl. Daniela Klook & Angela Spahr (Hrsg.): Medientheorien. Eine Einführung. München: Fink 2000 [1986]. Vgl. Knut Hickethier für eine umfassende Einführung in die Medienwissenschaft (Stuttgart: Metzler 2003). 31 Leschke unterscheidet zwischen einem philosophischen Begriffsgebrauch (‚das Medium‘) und einem medienwissenschaftlichen (‚die Medien‘) und konstatiert, es handele sich „schlicht um verschiedene Termini, die bestenfalls wenig miteinander zu tun haben, kaum jedoch zur Konstruktion eines medienwissenschaftlichen Objekts gleichzeitig herangezogen werden können.“ (Leschke: Einführung in die Medientheorie [Anm. 29], 18) Vgl. auch Hickethier: Einführung in die Medienwissenschaft (Anm. 30), 19, zur ‚gegenwärtigen Überdehnung‘ des Medienbegriffs. Im Kontext einer (erinnerungs-)kulturwissenschaftlichen Forschung, die ‚Gedächtnismedien‘ dominant über ihre Funktion definiert und dabei verschiedene Ebenen der Begriffsverwendung unterscheidet, erscheint uns eine gewisse begriffliche Ausdehnung jedoch gerechtfertigt.
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‚Kompaktbegriff‘ und überführt divergierende Medientheorien in ein System mit vier Komponenten: Die Schwierigkeiten der Medienforschung mit dem Medienbegriff rühren daher, daß das Medium sozusagen ein Kompaktbegriff ist, der an fast allen Orten seines Auftretens in alltäglichen wie wissenschaftlichen Diskursen unterschiedlich verwendet und konnotiert wird […] Mein Vorschlag geht dahin, am Kompaktbegriff ‚Medium‘ folgende Aspekte zu unterscheiden, die als konstitutive Komponenten von Medien interpretiert werden können: semiotische Kommunikationsinstrumente, das technischmediale Dispositiv beziehungsweise die jeweilige Medientechnologie, die sozialsystemische Institutionalisierung eines Mediums sowie die jeweiligen Medienangebote.32
Zu den Kommunikationsinstrumenten gehören Schmidt zufolge „alle materialen Gegebenheiten, die semiosefähig sind und zur geregelten, dauerhaften, wiederholbaren und gesellschaftlich relevanten strukturellen Koppelung im Sinne je systemspezifischer Sinnproduktion genutzt werden können“33 – z.B. gesprochene natürliche Sprachen, Schriften, Töne und Bilder. Dem Bereich der Medientechnologien bzw. des technisch-medialen Dispositivs sind „Druck- Film- oder Fernsehtechniken“ zuzuordnen. In den Studien der meisten Medientheoretiker – von Walter Benjamin über Marshall McLuhan, Vilém Flusser und Neil Postman bis hin zu Paul Virilio und Friedrich Kittler – liegt der Fokus des Interesses auf dieser Ebene. Zur sozialsystemischen Komponente gehören die „soziale[n] Institutionen und Organisationen wie Schulen, Verlage oder Fernsehanstalten“, die die „gesellschaftliche Durchsetzung eines Kommunikationsmittels“ sowie den dafür nötigen „Aufbau einer Medientechnologie“ ermöglichen, dabei aber auch „die Lösung ökonomischer, rechtlicher, politischer und sozialer Probleme“ erforderlich machen. Die konkreten Medienangebote, schließlich, erweisen sich in Schmidts integrativer Perspektive als „eindeutig von den drei anderen Komponenten geprägt“. Grundannahme der meisten in diesem Band abgedruckten Beiträge ist, dass ein solches Mehrebenen- oder -komponentenmodell (in der ein oder anderen Form) erst recht für die ‚Medien des kollektiven Gedächtnisses‘ anzusetzen ist. Bei der Untersuchung von Medien aus erinnerungshistorischer Perspektive spielen stets unterschiedliche Faktoren eine Rolle – wie Kommunikationsinstrumente (z.B. Schrift), Medientechnologien (z.B. Druck), sozialsystemische Institutionalisierung (z.B. Kanonisierung) und konkrete Medienangebote (z.B. die Bibel). Erst in dem Zusammenspiel von solchen, auf verschiedenen Ebenen anzusiedelnden medialen und sozialen Phänomenen konstituiert sich ein ‚Medium des kollektiven Gedächtnisses‘. Im Folgenden soll exemplarisch der Versuch unternommen werden, den Begriff ‚Medium des kollektiven Gedächtnisses‘ nicht nur als einen Kompaktbegriff,
_____________ 32 Siegfried J. Schmidt: Kalte Faszination: Medien, Kultur, Wissenschaft in der Mediengesellschaft. Weilerswist: Velbrück 2000, 93f. 33 Vgl. zu den folgenden Zitaten ebd., 94f.
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sondern vielmehr als einen (erinnerungs-)kulturwissenschaftlichen Kompaktbegriff zu konzipieren. Dabei wird eine Anlehnung an Schmidts Konzept ebenso erfolgen wie eine Modifizierung seines Modells für die Belange einer kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung. Welche Faktoren sind also an der Entstehung von Gedächtnismedien beteiligt? Und auf welchen Ebenen sind diese Faktoren anzusiedeln? In einem ersten Schritt sollen Kommunikationsinstrument, Technologie und Objektivation als mögliche materiale Komponenten des Gedächtnismediums bestimmt werden. In einem zweiten Schritt geht es um die Dimension der sozialen Funktionalisierung von ‚Medien‘ (im weitesten Sinne) als Medien des kollektiven Gedächtnisses. III.1 Materiale Dimension: Kommunikationsinstrument, Technologie, Objektivation KOMPONENTE 1: Semiosefähige Kommunikationsinstrumente zur Externalisierung gedächtnisrelevanter Informationen. – Semiosefähige Kommunikationsmittel wie mündliche Sprache, Schrift, Bild oder Ton sind Instrumente, die Externalisierungen – die Voraussetzung zur Bildung von Kollektivgedächtnis – allererst ermöglichen. Die Frage, welche Spezifika und welches gedächtnismediale Leistungsvermögen Zeichenprozesse aufweisen, die auf der Schrift als semiotischem Kommunikationsinstrument beruhen, hat schon Platon im Phaidros gestellt. Die Fundamente der heutigen kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung sind mit Blick auf diese Ebene geschaffen worden. Aus der philologischen Oralitäts-/ Literalitätsdiskussion um Eric A. Havelock und Walter J. Ong ist vielleicht erst die Assmann’sche Theorie des kulturellen Gedächtnisses hervorgegangen.34 KOMPONENTE 2: Medientechnologien zur Verbreitung und Tradierung von Gedächtnisinhalten. – Medientechnologien ermöglichen in räumlicher Hinsicht die Verbreitung und in zeitlicher die Tradierung von Inhalten des kollektiven Gedächtnisses. Kommunikationsinstrumente wie die Schrift erreichen in Stein gemeißelt, gedruckt oder im Internet verschieden große Kreise von Erinnerungsgemeinschaften und erweisen sich als unterschiedlich lang speicherbar. Medientechnologien sind jedoch keine neutralen Behältnisse für gedächtnisrelevante Semiosen. Ihre spezifische Materialität, ihr Leistungsvermögen und ihre Grenzen tragen ihrerseits zur Art der Botschaft bei. Für die Gedächtnisforschung ist mit Blick auf diese
_____________ 34 Z.B. Aleida Assmann et al. (Hrsg.): Schrift und Gedächtnis. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation. München: Fink 1983. Von besonderem Interesse sind dabei Übergangsphänomene wie sie auch die Intermedialitätsforschung untersucht. Vgl. etwa die Beiträge in ebd. sowie Günter Butzer: „Pac-man und seine Freunde. Szenen aus der Geschichte der Grammatophagie.“ In: A. Assmann et al.: Medien des Gedächtnisses (Anm. 16), 228-244; Stephanie Wodianka: „Mythos als ‚défilé d’images‘ – zur (Inter)Medialität mythischer Erinnerung.“ In: Sprache und Literatur 2 (2003), 6983; sowie den Beitrag von Annegret Stegmann in diesem Band.
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zweite Komponente besonders interessant, was es für die kollektive Erinnerungspraxis bedeutet, wenn signifikante Veränderungen in der Medientechnologie stattfinden. Durch eine solche diachrone Betrachtungsweise der technologischen Dimension von Gedächtnismedien zeichnen sich viele Studien Aleida und Jan Assmanns aus.35 Aus systemtheoretischer Perspektive hat Elena Esposito die Frage nach der Bedeutung solcher Technologiewechsel gestellt. Ihre These ist, „daß das Gedächtnis der Gesellschaft von den verfügbaren Kommunikationstechnologien […] der jeweiligen Gesellschaft abhängt: diese beeinflussen dessen Formen, Reichweite und Interpretation.“36 KOMPONENTE 3: Kulturelle Objektivationen als konkrete Gedächtnismedienangebote und ihre formale Gestaltung. – Homers Ilias, Quellen eines Archivs und Fotos in einem Familienalbum sind kulturelle Objektivationen, die zu Medienangeboten des kollektiven Gedächtnisses werden und im Rahmen seiner Subsysteme Wirkung entfalten können. So kann ein bestimmtes Gemälde als Medienangebot des kulturellen Funktionsgedächtnisses der prospektiven Erinnerung dienen, als Bestandteil des Speichergedächtnisses einer Aktualisierung harren, im Rahmen des kommunikativen Gedächtnisses die spezifische Alltagserfahrung einer nahen Vergangenheit vermitteln oder aber als Medienangebot des sozialen Gedächtnisses die Kommunikation zwischen den Generationen anregen. Insbesondere für die kunst- und literaturwissenschaftliche Gedächtnisforschung stellt die Ebene der Medienangebote einen zentralen Untersuchungsgegenstand dar. Es sind dies zugleich die Disziplinen, deren Vertreter(innen) die gedächtnismediale Bedeutung von Formen hervorheben.37 Eine Miteinbeziehung von Gattungen, Metaphorik und narrativen Verfahren erscheint gerade für eine Konzeption von Medien des kollektiven Gedächtnisses als unabdingbar. So gibt es bestimmte Formen, in die Inhalte des kulturellen Gedächtnisses vorzugsweise kodiert werden. Tragödie und Epos weisen diese gedächtnismediale Komponente im westlichen Kulturkreis auf. Im Falle von John Miltons Paradise Lost etwa sind nicht nur die Medienkomponenten ‚Schrift‘ und ‚Buchdruck‘, die Kanonisierungsprozesse in der englischen Gesellschaft und das konkrete Werk die message,
_____________ 35 Vgl. zu den Medien des kulturellen Gedächtnisses um 1800, 1900 und 2000 auch den Beitrag von Aleida Assmann in diesem Band. 36 Esposito: Soziales Vergessen (Anm. 22), 10. 37 So bemerkt z.B. Vittoria Borsò in Anlehnung an die Medium/Form-Unterscheidung Niklas Luhmanns: „Speicherungstechniken sind nicht gedächtnisexterne Hilfsmittel zur Reproduktion eines im Funktionsgedächtnis abgelagerten Vorwissens, sondern das Wissen über die Vergangenheit wird durch das Verhältnis von Medium und Form erst produziert.“ (Borsò: „Gedächtnis und Medialität“ [Anm. 22], 36) Vgl. auch Niklas Luhmann: „Medium und Form.“ In: Ders.: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997 [1995], 165-214.
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sondern auch seine Form, seine epische Struktur.38 Formen sind zwar in der Regel ein transmediales Phänomen,39 dabei jedoch stets an konkrete Medienangebote gebunden; sie können sich immer nur in diesen materialisieren. III.2 Soziale Dimension: Institutionalisierung und Funktionalisierung Aus zwei Gründen erfordert Schmidts Begriff der ‚sozialsystemischen Institutionalisierung‘ aus gedächtnistheoretischer Perspektive ein eigenes Kapitel: Erstens ist mit ihrer Untersuchung ein Übergang von der materialen zur sozialen Dimension der Kultur, und damit zu einer anderen Analyseeinheit, verbunden.40 Zweitens kommt sozialsystemischen Prozessen gerade mit Blick auf die Medien des kollektiven Gedächtnisses besondere Bedeutung zu. Als Analysekategorien für die Untersuchung von Gedächtnismedien sind die drei genannten Komponenten der materialen Dimension des Medienbegriffs (Kommunikationsinstrument, Technologie, Objektivation) zwar von großem Interesse: Aus der Spezifik der Kommunikationsinstrumente und der mit ihrer Hilfe generierten Zeichenprozesse, aus der Materialität der Medientechnologien und aus der konkreten Gestalt des Medienangebots können Rückschlüsse auf mögliche erinnerungskulturelle Wirkungen und Funktionen von Gedächtnismedien gezogen werden. Diese drei Komponenten weisen Funktionspotentiale auf. Der tatsächliche Übergang von einem medialen Phänomen zu einem Gedächtnismedium erfolgt allerdings stets im Rahmen der sozialsystemischen Komponente. Dieser Übergang beruht häufig auf Formen der Institutionalisierung und immer auf der Funktionalisierung eines Mediums als Gedächtnismedium durch soziale Gruppen und Gesellschaften. KOMPONENTE 4: Soziale Institutionalisierung und Funktionalisierung von Medien des kollektiven Gedächtnisses. – Die Sozialdimension des kollektiven Gedächtnisses steht schon seit Maurice Halbwachs im Mittelpunkt der kulturwissenschaftlichen Ge-
_____________ 38 Dass und auf welche Weise gerade ihre Darstellungsformen die Literatur zu einem wichtigen Medium des kollektiven Gedächtnisses machen, zeigt der Beitrag von Kirsten Prinz in diesem Band. 39 ‚Transmedialität‘ im Sinne von Irina Rajewski: „Medienunspezifische Phänomene, die in verschiedensten Medien mit den dem jeweiligen Medium eigenen Mitteln ausgetragen werden können, ohne daß hierbei die Annahme eines kontaktgebenden Ursprungsmediums wichtig oder möglich ist.“ (Irina Rajewski: Intermedialität. Tübingen/Basel: Francke 2002, 13) 40 Vgl. zur Unterscheidung von drei Dimensionen der Kultur Roland Posner: „Kultursemiotik.“ In: Vera Nünning & Ansgar Nünning (Hrsg.): Konzepte der Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen – Ansätze – Perspektiven. Stuttgart: Metzler 2003, 39-72. Die dritte, mentale Dimension der Kultur ist nicht beobachtbar. Ausgehend von der Analyse sozialer und materialer Phänomene im Zusammenhang mit Medien des kollektiven Gedächtnisses können allerdings Rückschlüsse auf mentale Aspekte gezogen werden: auf Medienwirkungen und durch Medien konstruierte Vergangenheitsvorstellungen, auf Mentalitäten und kollektive Identitäten.
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dächtnisforschung. Kollektives Gedächtnis wird in sozialen Kontexten (re-)konstruiert und die soziale Trägerschaft des Gedächtnisses entscheidet dabei – bewusst oder unbewusst – darüber, welcher Medien sie sich bei dieser Konstruktionsarbeit bedient. Ihre stärkste Ausformung findet die sozialsystemische Komponente im Rahmen des kulturellen Gedächtnisses. Gerade die Medien dieses mit hoher Verbindlichkeit ausgestatteten Gedächtnisrahmens bedürfen der Institutionalisierung, um die Überlieferung zu sichern (Kanonisierung, Einrichtung von Archiven, Gestaltung von Lehrplänen usw.). Jan Assmann zufolge ist ‚Organisiertheit‘ – die Institutionalisierung des Gedächtnisses und die Spezialisierung seiner Trägerschaft – daher ein konstitutives Merkmal des kulturellen Gedächtnisses.41 Ob im Rahmen des verbindlichen kulturellen Gedächtnisses oder des en passant konstruierten Familiengedächtnisses, ob beim religiösen, politischen oder alltagsweltlichen Vergangenheitsbezug – von einem Medium des kollektiven Gedächtnisses kann letztlich immer nur bei entsprechender erinnerungskultureller Funktionalisierung die Rede sein. Die jeweiligen Verwendungszusammenhänge tragen nicht nur maßgeblich zur Wirkung von Gedächtnismedien bei, sondern entscheiden bereits über deren Definition: Auch ästhetische Formen und literarische Stoffe, Steine und Flüsse oder Großeltern und Freunde können in der Praxis der Erinnerungskultur durch entsprechende Zuschreibungen zu Medien des kollektiven Gedächtnisses werden. Zwei grundlegende Aspekte einer solchen Funktionalisierung sind zu unterscheiden: a) Produktionsseitige Funktionalisierung: Typisches Beispiel ist der ‚kulturelle Text‘, in den Botschaften an die Nachwelt kodiert werden. Von den ägyptischen Pyramiden über die Nationalgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts bis hin zum Mahnmal für die ermordeten Juden Europas haben wir es mit produzentenseitigen Funktionalisierungen von Medien des kollektiven Gedächtnisses zu tun. Aber auch einzelnen Personen – etwa auf eine gewisse Breitenwirkung setzenden Fotografen, Bildhauern oder Autoren – kann die Funktionsintention ‚Medium des kollektiven Gedächtnisses‘ zugeschrieben werden. b) Rezeptionsseitige Funktionalisierung: Ein Medium des kollektiven Gedächtnisses ist auch das, was von einem Kollektiv als ein solches angesehen und funktionalisiert wird – selbst wenn es nie als Gedächtnismedium intendiert war. Dem im England des 17. Jahrhunderts in Geheimschrift verfassten und angesichts seiner pikanten Details wohl kaum für eine breite Öffentlichkeit gedachten Tagebuch des Samuel Pepys oder den in den Ostalgie-Shows präsentierten Überresten einer vergangenen Epoche wird von sozialen Gemeinschaften nachträglich der Status ‚Medium
_____________ 41 Jan Assmann: „Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität.“ In: Jan Assmann & Tonio Hölscher (Hrsg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, 9-19, 14.
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des kollektiven Gedächtnisses‘ zugesprochen. Gerade im Bereich der rezipientenseitigen Funktionalisierung ist ein weiter Begriff des Gedächtnis-Medialen anzusetzen: Gedächtnismedium ist hier alles, was von einem Kollektiv als Vergangenheit vermittelnd begriffen wird. Die gemeinschaftliche Zuschreibung gedächtnisrelevanter Information macht selbst aus Körpern, Objekten und natürlichen Gegebenheiten Medien des kollektiven Gedächtnisses. Diese rezipientenseitige Funktionalisierung muss nicht intentional erfolgen. Oft wird erst in der Rückschau deutlich, dass bestimmte Medien oder Phänomene in einer Epoche offensichtlich als Medien des kollektiven Gedächtnisses gedient haben. Die Frage allerdings, welche Merkmale des Mediums eine solche Funktionalisierung nahe legen könnten, führt wieder zurück auf die erste, die materiale Ebene von Medien des kollektiven Gedächtnisses, d.h. zur Analyse des Funktionspotentials ihrer spezifischen Materialität.
IV. Die Historizität und Kulturspezifität der Medien des kollektiven Gedächtnisses: Zu Konzeption und Aufbau dieses Bandes Aus dem Konzept des Kompaktbegriffs ‚Medium des kollektiven Gedächtnisses‘ mit seiner materialen und sozialen Dimension sowie seinen vier Komponenten folgt, dass sich ein Gedächtnismedium erst durch das Zusammenspiel von auf verschiedenen Ebenen anzusiedelnden Faktoren konstituiert. Dieses Zusammenspiel findet zudem in spezifischen erinnerungskulturellen Kontexten statt. Es ist damit historisch und kulturell variabel: Gedächtnismedien materialisieren sich stets im Horizont bestehender, kulturspezifischer Konfigurationen von Kollektivgedächtnis.42 Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte, Wissensordnungen und Herausforderungslagen, Erinnerungspraktiken und Erinnerungskonkurrenzen43 prägen die Produktion, Tradierung und Rezeption von Gedächtnismedien. Auch und gerade deshalb ist ‚Medium des kollektiven Gedächtnisses‘ ein (erinnerungs-)kulturwissenschaftlicher Kompaktbegriff. Denn wann immer Medien als Kollektivgedächtnis vermittelnde Phänomene untersucht werden, müssen sie aus einer generalisierenden, a-historischen Betrachtungsweise herausgelöst und in Relation zu ganz bestimmten erinnerungskulturellen Prozessen gesetzt werden.44
_____________ 42 Zur Kulturspezifität von Medien des kollektiven Gedächtnisses vgl. den Beitrag von Hanne Birk in diesem Band. 43 Zu medialen Erinnerungskonkurrenzen vgl. den Beitrag von Birgit Neumann in diesem Band. 44 Vgl. zu einer dezidiert historisch und kulturwissenschaftlich ausgerichteten Medienforschung etwa die Beiträge in Werner Faulstich (Hrsg.): Medien und Kultur: Beiträge zu einem interdisziplinären Symposium der Universität Lüneburg. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1991; Knut Hickethier & Siegfried Zielinski (Hrsg.): Medien/Kultur. Schnittstellen zwischen Medienwissenschaft, Medienpraxis und gesellschaftlicher Kommunikation. Berlin: Wissenschaftsverlag Volker Spiess 1991; Vilém Flusser: Medienkultur. Frankfurt a.M.: Fischer 1997; Manfred Faßler & Wulf R. Halbach (Hrsg.): Geschichte
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Eine solche Historisierung und erinnerungskulturelle Perspektivierung des Verhältnisses von Medium und Kollektivgedächtnis ist ein zentrales Anliegen dieses Bandes. Erst aus ihrer Kontextualisierung ergeben sich – so werden viele Beiträge noch einmal eigens zeigen – die spezifischen Möglichkeiten der Konzeptualisierung von Medien des kollektiven Gedächtnisses. Zusammengefasst: Medien des kollektiven Gedächtnisses konstruieren Wirklichkeits- und Vergangenheitsversionen. An diesen Konstruktionen ist die Materialität des Mediums (Kommunikationsinstrument, Technologie und Objektivation), die Sybille Krämer zufolge als ‚Spur‘ und ‚Apparat‘ die Botschaft mitformt, ebenso beteiligt wie seine sozialsystemische Dimension: Auch die Produzenten und Rezipienten eines Gedächtnismediums leisten aktiv Konstruktionsarbeit – bei der Entscheidung darüber, welchen Phänomenen überhaupt gedächtnismediale Qualitäten zugeschrieben werden sowie bei der Auswahl und Enkodierung und/oder bei der Dekodierung und Deutung des zu Erinnernden. Die drei Untertitel unseres Bandes – Konstruktivität, Historizität und Kulturspezifität – sind damit auf das Engste miteinander verwoben: Medien und ihre Benutzer erzeugen und perspektivieren kollektives Gedächtnis. Aber sie tun dies immer in ganz spezifischen kulturellen und historischen Kontexten. Ob und welche Vergangenheitsversionen, Werte oder Identitätskonzepte durch ein Gedächtnismedium konstruiert werden, hängt auch maßgeblich davon ab, wie es erinnerungskulturell situiert ist. *** Der Aufbau dieses Bandes orientiert sich an den zwei Grundausrichtungen einer (erinnerungs-)kulturwissenschaftlichen Medienforschung: Erstens geht es um ihre wissenschaftsgeschichtliche und theoretisch-systematische Fundierung, zweitens um die kulturgeschichtliche Tiefendimension des Zusammenhangs von Medialität und Kollektivgedächtnis. Leitmotivisch durch die Beiträge ziehen sich dabei die bereits im Untertitel mit den Begriffen ‚Konstruktivität‘, ‚Historizität‘ und, ‚Kulturspezifität‘ aufgeworfenen Fragen nach den Verfahren und Konsequenzen der gedächtnismedialen Welterzeugung, nach deren diachronen Veränderungen und kulturellen Besonderheiten. Ziel des sich unmittelbar anschließenden Teils II (‚Gedächtnistheorie/Medientheorie‘) ist die Initiierung eines engeren Dialogs zwischen kulturwissenschaftlichen Gedächtnis- und Medientheorien, der neue systematische Perspektiven auf das Verhältnis von Medium und Kollektivgedächtnis aufzeigen soll. Dazu werden maßgebliche Zweige der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung medientheoretisch perspektiviert: Patrick Schmidt fragt nach dem Medienbegriff, der Medien. München: Fink 1998; Claus Pias et al. (Hrsg.): Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard. Stuttgart: DVA 1999; Régis Debray: Einführung in die Mediologie. Bern et al. Haupt 2003 [2000]; Frank Hartmann: Mediologie: Ansätze einer Medientheorie der Kulturwissenschaften. Wien: WUV 2003; sowie die Bände der Mediologie-Reihe des Kölner DuMont-Verlags.
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der Pierre Noras Werk Lieux de mémoire zugrunde liegt: Zwar schreibt Nora in seinen theoretischen Abhandlungen Gedächtnisgeschichte als (Massen-)Mediengeschichte; in der Auswahl und Konzeption der einzelnen ‚Gedächtnisorte‘ scheinen medientheoretische Überlegungen jedoch kaum eine Rolle gespielt zu haben. In einer Reihe von Fallstudien zeigt Schmidt die Grauzonen, Übergänge und Verbindungen zwischen Gedächtnisorten als ‚Medien‘ und als ‚Topoi‘ des kulturellen Gedächtnisses auf. Als Vertreterin der Theorie des kulturellen Gedächtnisses wirft Aleida Assmann einen historischen und medientheoretischen Blick auf das Verhältnis von Speichergedächtnis und Funktionsgedächtnis. Anhand von drei synchronen Schnitten (1800, 1900, 2000) zeichnet sie die geschichtlichen Wandlungen dieser Relation nach, die stets eng mit Veränderungen in Medientechnologie und Erinnerungskultur zusammenhängen. Gerald Echterhoff zeigt, welchen Beitrag die psychologische Gedächtnisforschung zu einem besseren Verständnis des Zusammenhangs von Medien, individuellem und kollektivem Gedächtnis leisten kann. Gerade die Unterscheidung zwischen kollektivepisodischem und kollektiv-semantischem Gedächtnis dürfte dabei auch für die geistes- und sozialwissenschaftliche Erinnerungsforschung von großer Bedeutung sein. In umgekehrter Blickrichtung führt Jens Ruchatz, den systematischen Teil abschließend, Fragestellungen, Konzepte und Methoden einer ‚Medienwissenschaft des Gedächtnisses‘ am Beispiel der Fotografie vor. Mit seiner Unterscheidung zwischen ‚Externalisierung‘ und ‚Spur‘ im Horizont von privater und öffentlicher Erinnerung entwirft er ein grundlegendes Denkmodell für den Zusammenhang von Medium und Gedächtnis. Die Einteilung der Kapitel III-V in geschichtswissenschaftliche und kulturanthropologische, literaturwissenschaftliche und politikwissenschaftliche Sektionen trägt einem im Zuge der interdisziplinären Gedächtnisforschung manchmal vernachlässigten Faktum Rechnung: Die wenigsten an der aktuellen Diskussion Beteiligten sind kulturwissenschaftliche Gedächtnis- oder Medienwissenschaftler(innen) im Hauptberuf. Zumeist kommen sie aus geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen, deren Grundannahmen, Erkenntnisinteressen und Methoden ihren Blick auf die Gedächtnismedien maßgeblich mitprägen. Eine umfassende ‚Supertheorie‘ der Medien des kollektiven Gedächtnisses erscheint daher weder praktikabel noch sinnvoll. Stattdessen sollen die disziplinären Besonderheiten bei der Konzeption der Begriffe ‚Medium‘, ‚Gedächtnis‘ und ‚Erinnerung‘ sowie bei ihrer jeweiligen Verknüpfung durch die Anlage des Bandes sichtbar und damit auch dem interdisziplinären Dialog zugänglich gemacht werden. Nicht zuletzt findet in den Sektionen III-V auch eine Verortung von Gedächtnismedien in konkreten erinnerungshistorischen und -kulturellen Kontexten statt. Die Beiträge reichen von der englischen Restauration und der französischen Revolution über die Zeit des Nationalsozialismus bis hin zu deren gegenwärtiger Verarbeitung in Deutschland; und sie spannen den Bogen von der alevitischen Erinnerungskultur über das US-amerikanische Gedenken an den Vietnamkrieg und die Herausforde-
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rungslagen der kanadischen Multi(erinnerungs-)kultur bis hin zu den transnationalen Erinnerungsgemeinschaften, die im Gefolge des ‚Elften Septembers‘ entstanden. In der geschichtswissenschaftlichen und kulturanthropologischen Sektion werden so unterschiedliche Gedächtnismedien wie Balladen und Predigten, politische Grafik und Musikinstrumente im Kontext ihrer spezifischen – historischen, gesellschaftspolitischen, ethnischen und religiösen – Erinnerungskulturen untersucht. Annegret Stegmann verbindet die konstruktivistische Medientheorie Siegfried J. Schmidts mit dem Konzept des kulturellen Gedächtnisses von Aleida und Jan Assmann. Am Beispiel von Straßenballaden und Predigten – ‚Übergangsmedien‘ zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit –, anhand derer im 17. und 18. Jahrhundert in England an König Charles I erinnert wurde, wirft sie neues Licht auf das Verhältnis von Funktions- und Speichergedächtnis. Rolf Reichardt untersucht Ausdrucksformen und Bildfiliationen der politischen Druckgrafik am Beispiel der westeuropäischen Revolutionspublizistik des 18. und 19. Jahrhunderts. Sein Beitrag vermittelt wichtige Einsichten in die bildkünstlerischen Verfahren zur Erzielung von Eindrücklichkeit und in das spezifische Erinnerungspotential von Bildern. Béatrice Hendrich versteht die Langhalslaute ‚Saz‘ – das Schlüsselmedium der ursprünglich in Anatolien beheimateten Glaubensgemeinschaft der Aleviten – als ein Medium der Erinnerung in vielfältiger Hinsicht: Sie ist ein Körpermedium und Performanzmedium, ein Memorialbild und nicht zuletzt ein flexibles Medium der strukturell oralen alevitischen Kultur in der Türkei wie in der Diaspora. Die Beiträge der literaturwissenschaftlichen Sektion verdeutlichen, dass literarische Werke und ihre Darstellungsverfahren machtvolle Medien sowohl der Konstruktion kollektiver Vergangenheiten als auch der Beobachtung und kritischen Reflexion von erinnerungskulturellen Prozessen sind. Kirsten Prinz zeigt am Beispiel der aktuellen Diskussion um die Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg, dass Literatur eine aktive Rolle als Medium der Zirkulation von Vergangenheitsdeutungen spielt. Die vielfältigen Bezüge zwischen Günter Grass’ Novelle Im Krebsgang und ihrer Rezeption im zeitgenössischen Feuilleton belegen, dass literarische Texte in einem Netzwerk von Gedächtnismedienangeboten zu situieren sind und durch die Wahl ihrer Themen und Formen Erinnerungskulturen mitprägen können. Birgit Neumann begreift Erinnerungskonkurrenz als Medienkonkurrenz und fragt nach dem besonderen Leistungsvermögen literarischer Texte als ‚ fiktionale Gedächtnismedien‘ in diesem Prozess. In ihrer Untersuchung zeitgenössischer Romane der kanadischen Multikultur konstituiert sich Literatur als ein Medium, das das Ringen um mediale Sichtbarkeit inszeniert, Funktionsweisen von Gedächtnismedien thematisiert und das nicht zuletzt durch den literarischen Akt des ‚re-membering‘ einer kulturellen Diversifikation entgegenwirken und damit einer gesellschaftlichen Reintegration den Weg ebnen kann. In dem Beitrag von Hanne Birk rückt die kulturelle Variabilität von Gedächtnismedien in
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den Vordergrund: Am Beispiel der autochthonen Literaturen Kanadas (der Ojibway und der Inuit) untersucht sie die kulturspezifische Dimension medialer Vergangenheitskonstruktionen und stellt dabei die Bedeutung von cultural schemas unter Beweis. Die politikwissenschaftlichen Beiträge schärfen schließlich noch einmal den Blick für die Dimension der gesellschaftlichen Funktionalisierung von Gedächtnismedien und bieten in historischer Hinsicht einen Ausblick auf die massenmediale Prägung postmoderner Erinnerungskulturen. Benjamin Burkhardt konzipiert Architektur als Medium des kollektiven Gedächtnisses. Wie stark gerade Denkmäler historisch wandelbaren Funktionalisierungen unterworfen sind, zeigt er am Beispiel der pfälzischen Burg Trifels, die von den Nazis als ‚erinnerungsstrategisches Konstrukt‘ für die eigenen ideologischen Ziele eingesetzt wurde. Angela M. Sumner beschäftigt sich mit einem speziellen Medium der USamerikanischen Erinnerung an den Vietnam-Krieg. Sie zeigt, auf welchen verschiedenen Ebenen virtuelle Denkmäler als Medien begriffen werden können und konzipiert die Hypermedia-Anwendung The Virtual Wall als ein Mediangebot des kollektiven Gedächtnisses, das insbesondere individualisiertes Erinnern ermöglicht. Der Beitrag von Erik Meyer und Claus Leggewie enthält abschließend Überlegungen zu den Besonderheiten von Massenmedien als Medien des kollektiven Gedächtnisses. Meyer und Leggewie verweisen auf die Vielfalt der Medien, die bei der Erinnerung an das transnationale Medienereignis ‚Elfter September‘ eine Rolle spielen und zeigen dabei Übergänge vom individuellen zum kollektiven Gedächtnis auf. Überlegungen zur erinnerungskulturellen Rolle des Internet als globales ‚Multi-Monomedium‘ gewähren schließlich einen Ausblick auf die Entwicklung von Medien des kollektiven Gedächtnisses im Kontext kultureller ‚Glokalisierung‘. Abgerundet wird der Band durch eine Auswahlbibliografie zum Themenkomplex ‚Medien – Kultur – kollektives Gedächtnis‘, die angesichts der zurzeit überbordenden Medien- und Gedächtnisforschung nur höchst selektiv sein kann. Sie soll interessierten Leserinnen und Lesern eine Zusammenschau grundlegender Texte (Standardwerke, Überblicksdarstellungen sowie Abhandlungen mit spezifisch kulturwissenschaftlicher und -historischer Ausrichtung) aus beiden Forschungsfeldern ermöglichen. Diejenigen Studien, in denen ‚Medien‘ und ‚(kollektives) Gedächtnis‘ an zentraler Stelle enggeführt werden – und die damit von grundsätzlicher Relevanz für die Fragestellung dieses Bandes sind –, wurden mit einem Asterisk ausgezeichnet.
II. Gedächtnistheorien/ Medientheorien
PATRICK SCHMIDT
Zwischen Medien und Topoi: Die Lieux de mémoire und die Medialität des kulturellen Gedächtnisses I. Einleitung: Die Erfolgsgeschichte eines wenig stringenten Konzeptes „En fin de parcours, le lecteur étranger perd le fil. Qu’est-ce qui n’est pas lieu de mémoire?“1 Mit dieser Frage resümiert Pim den Boer seine Lektüreerfahrung mit den Lieux de mémoire, Pierre Noras monumentalem Inventar der ‚Gedächtnisorte‘ der französischen Nation. Die Lieux de mémoire sind rasch zu einem Klassiker der Forschungen zum kulturellen Gedächtnis avanciert, Noras Einleitung des Gesamtwerks zu einem kanonischen Text der Gedächtnistheorie. Der Neologismus lieu de mémoire hat Eingang in den Petit Robert gefunden, eines der wichtigsten Wörterbücher der französischen Sprache. Das Konzept der Gedächtnisorte ist für große Publikationen zum kulturellen Gedächtnis in Italien und Deutschland fruchtbar gemacht worden: I luoghi della memoria und Deutsche Erinnerungsorte. Dennoch ist den Boer nicht allein mit seiner Frage, was denn eigentlich ein lieu de mémoire sei – und was nicht. Die Lieux de mémoire sind von vielen Rezensentinnen und Rezensenten aus sehr unterschiedlichen Gründen kritisiert worden. Ihnen wurde vorgeworfen, sie leisteten letztlich einer Renaissance nationaler Mythen Vorschub, ihre Perspektive sei staats- und elitenzentriert und gehe von einer unbewiesenen Singularität der Erinnerungskultur Frankreichs aus, dessen koloniale Vergangenheit ebenso ausgeblendet werde wie die Existenz einer starken muslimischen Minderheit in seiner Bevölkerung.2 Auf einer gedächtnistheoretischen Ebene wird Noras scharfe Di-
_____________ 1 „Am Ende der Lektüre [der Lieux de mémoire] kann der ausländische Leser den roten Faden nicht mehr erkennen und fragt sich, welche Objekte keine Gedächtnisorte darstellen.“ (Übersetzung PS). Pim den Boer: „Lieux de mémoire et l’identité de l’Europe.“ In: Ders. & Willem Frijhoff (Hrsg.): Lieux de mémoire et identités nationales. Amsterdam: Amsterdam UP 1993, 11-29, 17. 2 Vgl. zur Kritik einer auf den Staat und seine Eliten fixierten Perspektive Alain Corbin: „Rezension zu den Lieux de mémoire.“ In: Annales 43,1 (1988), 25-33, 31; Hue Tam Ho Tai: „Remembered Realms. Pierre Nora and French National Memory.“ In: American Historical Review 106,3 (2001), 906-922, 917; Bertrand Taithe: „Monuments aux morts? Reading Nora’s Realms of Memory and Samuel’s Theatres of Memory.“ In: History of the Human Sciences 12,2 (1999), 123-139, 139. Zum
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chotomisierung von Gedächtnis und Geschichte in Anlehnung an Nietzsche und Halbwachs beklagt.3 Ähnliches gilt für die Entgegensetzung von lieux und milieux de mémoire.4 Daneben wird aber auch immer wieder die Unbestimmtheit und mangelnde Kohärenz des Konzeptes der lieux de mémoire kritisiert. Das Problem liegt dabei weniger darin, dass Nora keine Definitionsangebote liefert, sondern resultiert vielmehr daraus, dass es deren zu viele gibt. Es wird verschärft durch den Umstand, dass sich solche Definitionsangebote nicht nur in der Einleitung zu den Lieux de mémoire finden, sondern auch in einer Reihe anderer Texte, in denen Nora sein Konzept erläutert.5 Eine mit den Weihen der Endgültigkeit versehene Definition des Begriffs lieu de mémoire präsentiert Nora in seiner Einleitung zu Realms of Memory, der englischsprachigen – und gegenüber der Originalausgabe gekürzten – Version der Lieux de mémoire: If the expression lieu de mémoire must have an official definition, it should be this: a lieu de mémoire is any significant entity, whether material or nonmaterial in nature, which by dint of human will or the work of time has become a symbolic element of the memorial heritage of any community (in this case, the French community).6
Tony Judt erblickt in dieser Definition ein Zeugnis der Beliebigkeit: „It is hard to think of anything – any word, place, name, event, or idea – that could not qual-
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Vorwurf, Nora gehe von der Singularität der französischen Erinnerungskultur aus: Boer: „Lieux de mémoire“ (Anm. 1), 15; Tony Judt: „A la Recherche du Temps Perdu.“ In: New York Review of Books 45,19 (1998), 51-58, 54; Jacques le Rider: „Anstelle einer Einleitung: Anmerkungen zu Pierre Noras Lieux de mémoire.“ In: Moritz Csáky & Peter Stachel (Hrsg.): Speicher des Gedächtnisses. Bibliotheken, Museen, Archive, Teil 1: Absage an und Wiederherstellung von Vergangenheit, Kompensation von Geschichtsverlust. Wien: Passagen-Verlag 2000, 15-22, 19. Vgl. für die Kritik an Noras Ausblendung von Kolonialismus und Immigration Ho Tai: „Remembered Realms“, 912. Die Beobachtung, dass Nora nationale Mythen dekonstruieren wolle, sie letztlich aber neu belebe, findet sich bei Lucette Valensi: „Histoire nationale, histoire monumentale. Les Lieux de mémoire.“ In: Annales 50,6 (1995), 1271-1277, 1272. Vgl. hierzu Markus Fauser: Einführung in die Kulturwissenschaft. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2003, 135 mit der Annahme, Nora folge hier Nietzsche; ebenso le Rider: „Anstelle einer Einleitung“ (Anm. 2), 16; vgl. dagegen Aleida Assmann: „Im Zwischenraum zwischen Geschichte und Gedächtnis. Bemerkungen zu Pierre Noras Lieux de mémoire.“ In: Etienne François (Hrsg.): Lieux de mémoire, Erinnerungsorte. D’un modèle français à un projet allemand. Berlin: Centre Marc Bloch 1996, 19-27, 22. Assmann hebt hervor, dass Nora durch eine Historisierung des Gedächtnisses „die leidige Polarisation von Gedächtnis und Geschichte“ überwinde, der er teilweise selber noch in Anlehnung an Halbwachs verpflichtet sei. Vgl. Ho Tai: „Remembered Realms“ (Anm. 2), 915, 920. Vgl. vor allem Noras Einleitung zur englischsprachigen Ausgabe: „From Lieux de mémoire to Realms of Memory.“ In: Ders. (Hrsg.): Realms of Memory. Rethinking the French Past. Hg. von Lawrence D. Kritzman. Bd. 1: Conflicts and Divisions. New York: Columbia UP 1997, XV-XXIV; Pierre Nora: „Le modèle des Lieux de mémoire.“ In: Etienne François (Hrsg.): Lieux de mémoire, Erinnerungsorte (Anm. 3), 13-17; Pierre Nora: „La notion de ‚lieu de mémoire‘ est-elle exportable?“ In: den Boer & Frijhoff (Hrsg.): Lieux de mémoire et identités nationales (Anm. 1), 3-10. Nora: „From Lieux to Realms“ (Anm. 5), XVII.
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ify.“7 Zum dritten Band der Realms of Memory bemerkt er, er enthalte „just about everything that one could conceivably associate with France and that was not already included in volumes one and two“.8 Solcher Kritik steht die Beobachtung gegenüber, dass Noras gedächtnistheoretische Konzeption wissenschaftlich anregend gewirkt hat. Das bezeugen nicht nur die bereits erwähnten Forschungs- und Publikationsprojekte zu nationalen Erinnerungskulturen, die sich konzeptionell an Nora orientiert haben. Es zeigt sich auch in der Qualität der Beiträge in den Lieux de mémoire selbst. So nennt Judt, den Noras Konzeption so wenig überzeugt, die Aufsätze der Realms of Memory „small masterpieces, classic contributions to their subject“.9 Der Begriff lieu de mémoire, so vage er manchen Autoren erscheint, hat offensichtlich eine terminologische Lücke gefüllt. Das Ziel dieses Aufsatzes ist es, eine zentrale Ursache für die beobachtete Unschärfe in Noras Begriff und Konzeption aufzuzeigen und zugleich einen Definitionsvorschlag zu entwickeln, der zwar nicht alle lieux de mémoire angemessen beschreibt, aber eine gewisse Systematisierung erlaubt. Dazu wird die zentrale Grundannahme dieses Sammelbandes, die Medialität des kollektiven Gedächtnisses, als Analyseinstrument verwendet. Zunächst soll gezeigt werden, dass Noras Einleitung zu den Lieux de mémoire als eine Geschichte der Medien des kulturellen Gedächtnisses gelesen werden kann, oder präziser: als eine Geschichte des kulturellen Gedächtnisses in Frankreich, in der Medien und Medienwechsel eine zentrale Rolle spielen. In einem zweiten Schritt wird gezeigt werden, dass trotz dieser mediengeschichtlichen Hypothesen die Kategorie ‚Medium‘ in Noras Definitionen der lieux de mémoire keinerlei Rolle spielt. Dabei wird die These vertreten, dass ein Hauptgrund für die mangelnde Stringenz des theoretischen Konzeptes eben darin liegt, dass die lieux de mémoire nicht in ihrer Rolle als und in ihrer Beziehung zu Gedächtnismedien reflektiert werden. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass die Mehrzahl der lieux de mémoire als Medien oder als Topoi des kollektiven Gedächtnisses konzipiert werden kann. In einem dritten Schritt soll an ausgewählten Beispielen untersucht werden, inwieweit in den einzelnen Beiträgen der Lieux de mémoire die Medialität des kulturellen Gedächtnisses reflektiert wird. Es zeigt sich dabei, dass in einigen Aufsätzen die behandelten Gedächtnisorte fast exemplarisch in ihrer Rolle als Gedächtnismedien im Sinne der hier zugrunde gelegten Definition des Kompaktbegriffs ‚Medium‘ untersucht werden, auch wenn der
_____________ 7 Judt: „A la Recherche“ (Anm. 2), 54. 8 Ebd., 53. Die Definitionsangebote Noras finden in den Augen einiger anderer Rezensentinnen und Rezensenten ebenso wenig Gnade. Vgl. etwa Constance Carcenac-Lecomte: „Zur Einführung. Pierre Nora und ein deutsches Pilotprojekt.“ In: Dies. et al. (Hrsg.): Steinbruch Deutsche Erinnerungsorte. Frankfurt a.M. et al.: Lang 2000, 13-25, 22; Taithe: „Monuments aux Morts“ (Anm. 2), 131; le Rider: „Anstelle einer Einleitung“ (Anm. 2), 18. 9 Judt: „A la Recherche“ (Anm. 2), 54.
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Medienbegriff dabei keine Erwähnung findet. In anderen Beiträgen wird die Medialität des kollektiven Gedächtnisses dagegen so wenig reflektiert, dass unklar bleibt, wie die behandelten lieux de mémoire eine Wirksamkeit im öffentlichen Bewusstsein entfalten und über lange Zeiträume hinweg tradiert werden konnten.
II. Noras „Entre mémoire et histoire“ als Mediengeschichte Die Einsicht, dass Noras Einleitung der Lieux de mémoire mediengeschichtliche Überlegungen enthält, ist nicht gänzlich neu. Karlheinz Barck und Lawrence D. Kritzman haben auf diesen Aspekt hingewiesen.10 Sie drängt sich auch förmlich auf, wenn Nora die Gedächtnisgeschichte in Aussagen wie der folgenden resümiert: „Le mouvement qui a commencé avec l’écriture s’achève dans la haute fidélité et dans la bande magnétique.“11 Eine mediengeschichtliche Interpretation stößt allerdings auf zwei Schwierigkeiten: Zum einen sind die entsprechenden Aussagen Noras eher disparat, zum anderen entwickelt er keinen eigenen Medienbegriff. Stattdessen operiert er mit zwei Bedeutungen von ‚Medium‘: einerseits als Speichermedien im Sinne Jan und Aleida Assmanns, andererseits als moderne Massenmedien. Liest man Noras programmatischen Text „Entre mémoire et histoire“ unter dem Blickwinkel der Medialität, werden die Umrisse einer Gedächtnisgeschichte in drei Phasen erkennbar, die jeweils von Medien geprägt werden, welche vor allem als Instrumente externer Speicherung von Gedächtnis in Erscheinung treten.12 Die erste Phase dieser Gedächtnisgeschichte erscheint als eine Art von
_____________ 10 Vgl. Karlheinz Barck: „Passé vécu/Mémoire absente. Gedächtnis und ästhetische Reflexion.“ In: Götz-Lothar Darsow (Hrsg.): Metamorphosen. Gedächtnismedien im Computerzeitalter. Stuttgart-Bad Canstatt: Fromann-Holzboog 2000, 53-68, 59; Lawrence D. Kritzman: „Foreword: In Rememberance of Things French.“ In: Nora (Hrsg.): Realms of Memory (Anm. 5), IX-XIV, XII. 11 „Die Bewegung, die mit der Schrift begonnen hat, vollendet sich im HiFi und im Magnetband.“ Pierre Nora: „Entre mémoire et histoire.“ In: Ders. (Hrsg.): Les lieux de mémoire. Bd.1: La République, Paris: Gallimard 1984, XV-XLII, XXVI. Die Übersetzungen der Zitate aus „Entre mémoire et histoire“ werden hier und im Folgenden von Wolfgang Kaiser übernommen. Er übertrug Pierre Noras einleitenden Essay 1990 ins Deutsche: Pierre Nora: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Berlin: Wagenbach 1990, 18f. 12 In einem späteren Essay, „La nation-mémoire“, der ebenfalls in den Lieux de mémoire erschienen ist, präsentiert Nora ein alternatives Modell der Gedächtnisgeschichte Frankreichs. Hier identifiziert er eine Entwicklung in fünf Stufen, die aufeinander folgten, sich teilweise aber auch überlagerten: eine „mémoire essentiellement royale“ des Mittelalters, eine „mémoire-État“ des Absolutismus und des Ancien Régime, die „mémoire-nation“ der Revolution und des frühen 19. Jahrhunderts, die „mémoire-citoyen“ der Dritten Republik und schließlich die „mémoirepatrimoine“ der Moderne. Dieses Modell scheint mit der hier analysierten dreistufigen Gedächtnisgeschichte kaum vereinbar, abgesehen davon, dass es deutliche Parallelen in Noras Beschreibungen der jeweils jüngsten Entwicklungen gibt. Mediengeschichtliche Fragen spielen in dem Mo-
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paradiesischem Naturzustand des kollektiven Gedächtnisses. Es ist „une mémoire integrée, dictatoriale et inconsciente d’elle-même, organisatrice et toute-puissante, spontanément actualisatrice“,13 die in quasi naturwüchsigen milieux de mémoire zirkuliert wird; in der Familie, der bäuerlichen Gesellschaft, oder auch in den „sociétés dites primitives ou archaïques“.14 Zeitlich lässt sich diese Phase der Gedächtnisgeschichte kaum fixieren; es ist in Noras Perspektive eine kulturelle Entwicklungsstufe, die unterschiedliche Gesellschaften zu unterschiedlichen Zeiten prägt. In jedem Fall ist sie dadurch gekennzeichnet, dass die Tradierung des kollektiven Gedächtnisses nicht oder nur in sehr geringem Maße auf externe Speicher angewiesen ist. Eine Formulierung Noras lässt vermuten, dass in dieser Epoche in erster Linie der Körper als Gedächtnismedium fungiert: „Chaque geste, jusqu’au plus quotidien, serait vécu comme la répétition religieuse de ce qui s’est fait depuis toujours, dans une identification charnelle de l’acte et du sens.“15 In einer anderen Passage beschreibt er Residuen dieses traditionellen Gedächtnisses in der Moderne mit Formulierungen, die ebenfalls den Körper als Gedächtnismedium akzentuieren: „Acceptons-le, mais avec la conscience claire de la différence entre la mémoire vraie, aujourd’hui réfugiée dans le geste et l’habitude, dans les métiers où se transmettent les savoirs du silence, dans les savoirs du corps, les mémoires d’imprégnation et les savoirs réflexes.“16 Diese ursprünglichen Gedächtnisgesellschaften zerfallen, und daraus resultiert eine neue Konfiguration des kollektiven Gedächtnisses. Es kommt zu einer „matérialisation de la mémoire“17; sie ist nun auf Speichermedien angewiesen: C’est d’abord une mémoire, à la différence de l’autre, archivistique. Elle s’appuie toute entière sur le plus précis de la trace, le plus matériel du vestige, le plus concret de l’enregistrement, le plus visible de l’image. Le mouvement qui a commencé avec l’écriture s’achève dans la haute fidélité et la bande magnétique. Moins la mémoire est
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dell von La nation-mémoire eine viel geringere Rolle. Vgl. Pierre Nora: „La nation-mémoire.“ In: Ders. (Hrsg.): Les Lieux de mémoire. Bd. 2,3: La Nation. Paris: Gallimard 1986, 647-658. „[E]inem eingebundenen, gebieterischen und seiner selbst nicht bewussten Gedächtnis, das Ordnung schaffend und allmächtig ist, aus der Tiefe emporholend, einem Gedächtnis ohne Vergangenheit, das dennoch ewig die Überlieferung besorgt“. Nora: Geschichte und Gedächtnis (Anm. 11), 12; Nora: „Entre mémoire et histoire“ (Anm. 11), XVII. Den „sogenannten primitiven oder archaischen Gesellschaften“, Nora: Geschichte und Gedächtnis (Anm. 11), 12; Nora: „Entre mémoire et histoire“ (Anm. 11), XVIII. „Jede Geste bis zur alltäglichsten würde wie die religiöse Wiederholung dessen erlebt, was immer schon getan wurde, in einer körperlichen Identifizierung von Tat und Sinn.“ Nora: Geschichte und Gedächtnis (Anm. 11), 12; Nora: „Entre mémoire et histoire“ (Anm. 11), XIX. „Akzeptieren wir es also, aber im klaren Bewusstsein der Differenz zwischen dem wahren Gedächtnis, das sich heute in Gesten und Gewohnheiten geflüchtet hat, in die Gewerbe, in denen ein stummes Wissen weitergegeben wird, das Wissen um den Körper, die eingeprägten Gedächtnisse und das reflexhafte Wissen“. Nora: Geschichte und Gedächtnis (Anm. 11), 18; Nora: „Entre mémoire et histoire“ (Anm. 11), XXV. Ebd., XXVII.
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vécue de l’intérieur, plus elle a besoin de supports extérieurs et de repères tangibles d’une existence qui ne vit plus qu’à travers eux.18
Sie bleibt aber zugleich eingebettet in neuartige milieux de mémoire im Kontext des Nationalstaates wie etwa Schule und Armee. Darum werden die lieux de mémoire, deren Konstruktion in diese Zeit fällt, noch ‚bewohnt‘ und stiften nationale Identität.19 Dies gelingt auch deshalb, weil in dieser Phase die Geschichtswissenschaft konstruktiv – man könnte auch sagen: affirmativ – an der Herstellung eines grossen Konsenses von Gedächtnis, Geschichte und Nation mitwirkt. Die lieux de mémoire sind das Produkt dieser „synthèse de la IIIe République“.20 Was die zeitliche Einordnung betrifft, macht Nora präzise Angaben anhand von Schlüsselwerken der Historiografie: Den Konsens von Geschichte, Gedächtnis und Nation lässt er mit Augustin Thierrys Lettres sur l’histoire de France 1827 beginnen, sein Ende sieht er durch Charles Seignobos’ Histoire sincère de la nation Française aus dem Jahr 1933 eingeläutet.21 Fast unmöglich erscheint dagegen eine zeitliche Einordnung anhand der widersprüchlichen mediengeschichtlichen Charakteristika. So erkennt die vietnamesisch-amerikanische Historikerin Hue Tam Ho Tai hier mit gutem Grund den Übergang von der Oralität zur Literalität;22 andererseits setzt Nora in dieser Phase auch die Gründung von GedächtnisInstitutionen wie Archiven und Museen an – zwei Prozesse, die nach welthistorischen Maßstäben um Jahrtausende auseinander liegen. Dieser Widerspruch lässt sich wiederum nur unter dem Schlagwort der ‚Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘ verstehen, in dem Sinne, dass in dieser Epoche städtische und akademische Milieus bereits ganz andere Speichermedien und -institutionen nutzen als die im Zerfall begriffenen bäuerlichen milieux de mémoire. Gleichzeitig parallelisiert Nora diesen innerfranzösischen Prozess mit dem Ende der europäischen Kolonialherrschaft und der daraus resultierenden Entstehung neuer Staaten in Afrika und
_____________ 18 „Zunächst ist – im Unterschied zum ersteren – dies ein archivarisches Gedächtnis. Es stützt sich ganz und gar auf die deutlichste Spur, den materiellsten Überrest, das sichtbarste Bild. Die Bewegung, die mit der Schrift begonnen hat, vollendet sich im HiFi und im Magnetband. Je weniger das Gedächtnis von inen her erlebt wird, desto mehr bedarf es äußerer Stützen und greifbarer Anhaltspunkte einer Existenz, die nur dank dieser noch lebt.“ Nora: Geschichte und Gedächtnis (Anm. 11), 19; Nora: „Entre mémoire et histoire“ (Anm. 11), XXVI. 19 ‚Bewohnt‘ ist ein Adjektiv, dass Noras Sprachgebrauch nahe kommt. Er spricht von dem Gedächtnis, dass nicht mehr bewohnt („habiter“) werde. Vgl. ebd., XIX, XXV. 20 Vgl. ebd., XXI. 21 Vgl. ebd., XXIf. 22 Ho Tai: „Remembered Realms“ (Anm. 2), 906-922, 915. Lawrence Kritzman beschreibt den Übergang ebenfalls als Medienwechsel: „If premodern societies reenact memory through traditions and rituals where present and past exist simultaneously in a kind of atemporal space in which act and meaning coalesce, then the historical world of the present is one that represents historical consciousness as disembodied memories.“ Kritzman: „Foreword“ (Anm. 10), XII.
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Asien.23 Ho Tai merkt mit Recht an, dass Nora damit auch ein pauschalisierendes Urteil über die zivilisatorische Entwicklung außereuropäischer Gesellschaften fällt: According to him, lieux de mémoire come into being, when milieux de mémoire disappear. Such a distinction comes close to paralleling the distinction between orality and literacy. Historians of non-Western societies may well take exception to his assertion, that ‚among the new nations, independence has swept into history societies only recently roused from their ethnological slumbers by the rape of colonization‘. It echoes the discredited notion that only the West has history, while others have culture, with the West providing appropriate subjects of historical inquiry, while the changeless cultures of the rest can be studied through the lens of Lévi-Straussian structuralism.24
Nach 1930 beginnt die dritte Phase von Noras Gedächtnisgeschichte, in deren Darstellung die kulturpessimistischen Untertöne nicht mehr zu überhören sind. Gegner des ‚richtigen‘ Gedächtnisses, man darf es mit Nora so normativ formulieren,25 sind zunächst einmal mehrere Modernisierungsphänomene: Dekolonialisierung, Demokratisierung, „Vermassung“,26 Individualisierung, und eben auch Medialisierung, „médiatisation“.27 In ihrem Sog verlieren auch die milieux de mémoire des Nationalstaates jegliche Verbindlichkeit, und mit ihnen werden die lieux de mémoire von ‚bewohnten‘ Orten zu Relikten. Im Besonderen bedrohen zwei Phänomene der Erinnerungskultur das ‚richtige‘ Gedächtnis. Das eine ist die kritische Geschichtswissenschaft, die identitätsfundierende Mythen dekonstruiert. Sie ist der eigentliche Adressat der Entgegensetzung von Geschichte und Gedächtnis bei Nora.28 Das zweite Gedächtnisphänomen ist die Proliferation externer Speichermedien und -institutionen, die das ‚richtige‘ Gedächtnis verdrängen: Ce que nous appelons mémoire est, en fait, la constitution gigantesque et vertiginieuse du stock matériel de ce dont il est impossible de nous souvenir, répertoire insondable de ce que nous pourrions avoir besoin de nous rappeler. La ‚mémoire de papier‘ dont
_____________ 23 Nora: Zwischen Geschichte und Gedächtnis (Anm. 11), 11. 24 Ho Tai: „Remembered Realms“ (Anm. 2), 917. Vgl. für die von ihr zitierte Formulierung Noras: Ders.: Geschichte und Gedächtnis (Anm. 11), 11. Vgl. dagegen Peter Carrier: „The distinction between unnatural and spontaneous or natural memory does not correspond to the difference between literate and non-literate ‚oral‘ societies, between Western societies and some African communities, for example, or between offical and clandestine factions of the French and German resistance during the Second World War, which avoided or destroyed written evidence.“ Peter Carrier: „Places, Politics and the Archiving of Memory.“ In: Susannah Radstone (Hrsg.): Memory and Methodology. Oxford/New York 2000: Berg, 37-57, 53. 25 Nora verwendet zweimal den Ausdruck „mémoire vraie“, vgl. Nora: „Entre mémoire et histoire“ (Anm. 11), XIX, XXV. 26 Nora: Geschichte und Gedächtnis (Anm. 11), 11. 27 Nora: „Entre mémoire et histoire“ (Anm. 11), XVIII. 28 Diese dekonstruierende Tendenz schreibt Nora insbesondere der französischen Geschichtswissenschaft zu, vgl. ebd., XXI: „Au contraire, en France, l’historiographie est iconoclaste et irrévérencieuse.“
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parlait Leibniz est devenue une institution autonome de musées, bibliothèques, dépôts, centres de documentation, banques de données. 29
In dieser Formulierung Noras begegnet der älteste Topos der Medienkritik, die von Platon formulierte These, die Nutzung von Speichermedien schwäche das Erinnerungsvermögen.30 Sehr nahe kommt er in diesem Punkt aber auch der Entgegensetzung von Speicher- und Funktionsgedächtnis bei Jan und Aleida Assmann, bei denen diese beiden Gedächtnisformationen zwar als „dialektisch aufeinander bezogen“ charakterisiert werden, die ihnen aber sehr unterschiedliche und teilweise konträre Formen und Funktionen zuschreiben.31 Mitschuldig am Zustand des kollektiven Gedächtnisses in der Gegenwart, dem er nahezu pathologische Züge zuschreibt,32 sind aber für Nora auch die Massenmedien: In der Fülle des Berichteten geht die Fähigkeit verloren, das Erinnerungswürdige auszuwählen, weil „jedes Geschehen Weltgeschehen und Medienereignis“ wird, wie Wolfgang Kaiser in sehr freier Übersetzung des französischen Begriffs „médiatisation“ formuliert.33 An die Stelle der ‚richtigen‘ Erinnerung trete „la pellicule éphémerè de l’actualité“.34 Nora charakterisiert das Gedächtnis der Gegenwart als „mémoire intensément rétinienne et puissamment télévisuelle“35 und erkennt auch in neueren Strömungen der Geschichtswissenschaft, der ‚Rückkehr zur Erzählung‘ und der Oral History, den Einfluss der Massenmedien:
_____________ 29 „Was wir Gedächtnis nennen, ist in Wirklichkeit eine gigantische, schwindelerregende Konstitution des materiellen Grundstocks von allem, woran wir uns unmöglich erinnern können, ein unergründliches Repertorium dessen, woran wir uns vielleicht einmal erinnern müßten. Das ‚papierne Gedächtnis‘, von dem Leibniz gesprochen hat, ist eine autonome Institution aus Museen, Bibliotheken, Depots, Dokumentationszentren, Datenbanken geworden.“ Nora, Geschichte und Gedächtnis (Anm. 11), 19; Nora: „Entre mémoire et histoire“ (Anm. 11), XXVI. 30 Vgl. Platon: Phaidros. In: Ders.: Werke. Hg. von Ernst Heitsch & Carl Werner Müller. Bd. 3,4. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1993, 63; Helmut Schanze: „Integrierte Mediengeschichte.“ In: Ders. (Hrsg.): Handbuch der Mediengeschichte. Stuttgart: Kröner 2001, 208-280, 209. 31 „Das kulturelle Gedächtnis verliert unter den Bedingungen externer Speicherungstechniken seine Konturen. Für diese grundsätzlich unbegrenzbare, ständig sich vermehrende, amorphe Masse von Daten, Informationen, Erinnerungen gibt es kein Subjekt mehr, dem sie sich noch zuordnen ließe. Allenfalls könnte man noch von einem gänzlich abstrakten Welt- und Menschheitsgedächtnis sprechen.“ Aleida Assmann & Jan Assmann: „Das Gestern im Heute. Medien und soziales Gedächtnis.“ In: Klaus Merten et al. (Hrsg.): Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft. Opladen: Westdeutscher Verlag 1994, 114-140, 123. 32 Diese resultieren für ihn aus der Individualisierung des Gedächtnisses, die den Einzelnen unter einen Gedächtniszwang setze, der ihn überfordere, aber auch aus „la superstition et le respect de la trace“, einer abergläubischen Verehrung der Spur, in der das Heilige erblickt werde, obgleich sie in Wahrheit dessen Negation sei. Vgl. Nora: „Entre mémoire et histoire“ (Anm. 11), XXVII. 33 Nora: Geschichte und Gedächtnis (Anm. 11), 11. 34 „den dünnen, äußerlichen Film der Aktualität“, ebd., 12. Nora: „Entre mémoire et histoire“, XVIII. 35 „ein netzhautintensives, stark fernsehartiges Gedächtnis“, Nora: Geschichte und Gedächtnis, 24. Nora: „Entre mémoire et histoire“, XXII.
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Comment ne pas faire le lien, par exemple, entre le fameux ‚retour du récit‘ qu’on a pu remarquer dans les plus récentes manières d’écrire l’histoire et la toute puissance de l’image et du cinéma dans la culture contemporaine? Récit en vérité tout différent du récit traditionnel, avec son enfermement sur lui-même et son découpage syncopé. Comment ne pas relier le scrupuleux respect du document d’archive – mettre la pièce elle-même sous les yeux – , la singulière montée de l’oralité – citer les acteurs, faire entendre leur voix – à l’authenticité du direct à laquelle nous avons par ailleurs été accoutumés?36
Mit der Entstehung von lieux de mémoire, so könnte man Nora interpretieren, ist das kollektive Gedächtnis in das Medienzeitalter eingetreten, um in der Gegenwart gänzlich von Medien beherrscht, aber auch beschädigt zu werden.
III. Das Konzept der lieux de mémoire und der Medienbegriff Wie gezeigt wurde, weckt Noras Gedächtnisgeschichte die Erwartung, dass die Kategorie ‚Medium‘ auch in der Definition des Konzeptes der lieux de mémoire eine Rolle spielt. Nicht nur gibt es offensichtlich eine Koinzidenz zwischen der Schaffung von Gedächtnisorten und der Auslagerung des Gedächtnisses in Speichermedien, die Formel „Es gibt lieux de mémoire, weil es keine milieux de mémoire mehr gibt“,37 legt es sogar nahe, zwischen beiden Vorgängen eine Kausalbeziehung zu sehen: Gedächtnisorte werden geschaffen, weil Gedächtnis nicht mehr ‚einfach‘, durch Erzählung und Ritual, in Gedächtnisgemeinschaften zirkuliert werden kann: „Les lieux de mémoire naissent et vivent du sentiment qu’il n y a pas de mémoire spontanée, qu’il faut créer des archives, qu’il faut maintenir des anniversaires, organiser des célébrations, prononcer des éloges funèbres, notarier des actes parce que ces opérations ne sont pas naturelles.“38 Der Gedanke, dass sich die lieux de mémoire als Gedächtnismedien charakterisieren lassen, wurde bereits von zwei Autorinnen und Autoren artikuliert. Lutz
_____________ 36 „Wie sollte man nicht die Verbindung ziehen zwischen jener berühmten ‚Rückkehr zur Erzählung‘, die man in der neuesten Weise der Historiographie bemerken mochte, und der Allmacht von Bild und Film in der heutigen Kultur? In Wahrheit ist doch dieses Erzählen völlig verschieden von der traditionellen Erzählung mit ihrer abgeschlossenen Selbstbeschränkung und ihren Synkopenschnitten. Wie sollte man nicht den feierlichen Respekt vor dem Archivdokument, des mit den eigenen Augen Gesehenen, und den einzigartigen Aufstieg der Oralität, des mit den eigenen Ohren Gehörten, mit der Livesendung in Beziehung bringen, an die wir uns ansonsten gewöhnt haben?“ Nora: Geschichte und Gedächtnis (Anm. 11), 24; Nora: „Entre mémoire et histoire“ (Anm. 11), XXXIIf. 37 Nora: Geschichte und Gedächtnis (Anm. 11), 11. 38 „Die Gedächtnisorte entspringen und leben aus dem Gefühl, daß es kein spontanes Gedächtnis gibt, daß man Archive schaffen, an den Jahrestagen festhalten, Feiern organisieren, Nachrufe halten, Verträge beim Notar beglaubigen lassen muß, weil diese Operationen keine natürlichen sind.“ Ebd., 17; Nora: „Entre mémoire et histoire“ (Anm. 11), XXIV.
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Niethammer versteht die lieux de mémoire als „Erinnerungssymbole, -räume und -medien“,39 und Aleida Assmann beschreibt sie mit zwei Begriffen, die im Folgenden übernommen werden sollen: ‚Topoi‘ und ‚Erinnerungsmedien‘.40 Es soll dabei aber davon ausgegangen werden, dass zwischen beiden Kategorien zu differenzieren ist, ohne sie einander völlig entgegenzusetzen. In Noras zahlreichen Definitionsangeboten spielt die Kategorie ‚Medium‘ dagegen keine Rolle. Warum aber meidet Nora in seinen Überlegungen, was lieux de mémoire sind, den Medienbegriff, den seine Gedächtnisgeschichte nahe legt und der eine ganze Reihe der behandelten lieux de mémoire zutreffend beschreibt? Zunächst wäre hier der Frage nachzugehen, ob die französische Sprache eine entsprechende Verwendung des Medienbegriffs gestattet. Sie liegt nahe, weil auffällt, dass Nora in seiner Einleitung weder für Speichermedien noch für Massenmedien die Ausdrücke „le médium“ oder „les média“ verwendet. Ohne eine abschließende Antwort zu geben, scheint es zumindest zweifelhaft, ob es im Französischen Begriffe gibt, die den deutschen Ausdrücken ‚Erinnerungsmedium‘ oder ‚Gedächtnismedium‘ äquivalent sind. Andererseits ließen sich mit dem Wort le médium durchaus auch solche Phänomene beschreiben, die wir als ‚Gedächtnismedien‘ bezeichnen.41 Notwendig ist es sicherlich zu beachten, in welcher Forschungstradition Nora steht. In gedächtnistheoretischer Hinsicht haben ihn die Arbeiten von Maurice Halbwachs stark beeinflusst. Halbwachs aber hat in seinen Forschungen zum kollektiven Gedächtnis den Medien wenig Beachtung geschenkt.42 Zudem stand Nora mit den Lieux de mémoire am Anfang der bis heute anhaltenden Konjunktur von Forschungen zum kulturellen Gedächtnis, in deren weiteren Verlauf die Rolle von Gedächtnismedien erst später verstärkt thematisiert wurde. Andererseits ist Nora sich, wie oben gezeigt wurde, durchaus bewusst, dass es einen Zusammenhang zwischen Medien und kollektivem Gedächtnis gibt. Entscheidend ist wohl, dass dieser Zusammenhang für ihn vorwiegend ein negativer ist, weil Medien
_____________ 39 Lutz Niethammer: Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur. Reinbek: Rowohlt 2000, 364. 40 Vgl. Assmann: „Im Zwischenraum zwischen Geschichte und Gedächtnis“ (Anm. 3), 23. Den Begriff des Topos benutzt auch Klaus Große Kracht: „Gedächtnis und Geschichte: Maurice Halbwachs und Pierre Nora.“ In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 47,1 (1996), 21-31; ebenso le Rider: „Anstelle einer Einleitung“ (Anm. 2), 15. 41 Vgl. dazu den Eintrag „médium“ in: Centre National de la Recherche Scientifique, Institut National de Langue Française, Nancy (Hrsg.): Trésor de la Langue Française. Dictionnaire de la langue du XIXe et du XXe siècle (1789-1960). Bd. 11. Paris: Gallimard 1985, 578f. 42 Vgl. Gerald Echterhoff & Martin Saar: „Einleitung: Das Paradigma des kollektiven Gedächtnisses. Maurice Halbwachs und die Folgen.“ In: Diess. (Hrsg.): Kontexte und Kulturen des Erinnerns. Maurice Halbwachs und das Paradigma des kollektiven Gedächtnisses. Konstanz: UVK-Verlags-Gesellschaft 2002, 13-35, 22. Halbwachs habe als Faktor der Tradierung des kollektiven Gedächtnisses die „unbemerkte Wirkung des Sozialen“ angenommen.
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dominant als Speicher- oder Massenmedien in den Blick kommen. Eine Anwendung des Medienbegriffs auf die lieux de mémoire erschiene ihm daher wohl als simplifizierend, und als Vorgehensweise, die sie ihrer entscheidenden Charakteristika entkleiden würde: ihrer symbolischen Aura und der Tatsache, dass sie zumindest zeitweise einen Platz im lebendigen Gedächtnis der französischen Nation hatten, dass sie konstitutive Bestandteile des Funktionsgedächtnisses waren. Medien, gleichgültig ob als Speicher- oder Massenmedien, liegen für ihn außerhalb des Funktionsgedächtnisses: Beide repräsentieren nur die unselige Neigung moderner Gesellschaften, jedes Geschehen zu archivieren, ob erinnerungswürdig oder nicht. Zudem definiert Nora die Gedächtnisorte primär nach ihrem Status als Übergangsphänomene in der von ihm skizzierten Gedächtnisgeschichte: Entscheidend ist ihm nicht ihre Materialität43 oder die Tatsache, dass mit ihnen und durch sie Erinnerung tradiert und aktualisiert wird – sie also als Gedächtnismedien fungieren, sondern der oft poetisch beschriebene Zwischenzustand: zwischen Gedächtnis und Geschichte, zwischen lebendigem Angedenken und blossem Relikt, zwischen Vergessen und Aktualisierung.44 Für die Bestimmung eines Gegenstandes als lieu de mémoire ist daher nicht entscheidend, welche Funktion ihm in dem Prozess zukommt, in dem kollektives Gedächtnis konstruiert, tradiert und aktualisiert wird. Darin liegt aber, so soll hier behauptet werden, ein Hauptgrund für die verwirrende Vieldeutigkeit des Konzeptes der lieux de mémoire: Nora subsumiert sowohl die Topoi und Mythen des kollektiven Gedächtnisses in Frankreich als auch die Medien, durch die sie konstruiert und tradiert werden, unterschiedslos unter dem Begriff der lieux de mémoire. In Noras Grundkategorie werden Faktoren, die bei der Konstituierung des kulturellen Gedächtnisses auf sehr unterschiedlichen Ebenen zu verorten sind, gleichsam amalgamiert. Nicht alle lieux de mémoire lassen sich als Gedächtnismedien charakterisieren, ebenso wenig lassen sich alle übrigen Gedächtnisorte als Topoi beschreiben. Institutionen etwa, Landschaften, Grenzen und soziale Gruppen entziehen sich wohl beiden Kategorien. Auch sind die Kategorien ‚Medium‘ und ‚Topos‘ nicht einfach dichotomisch zu denken: sie schließen sich nicht wechselseitig kategorisch aus. Ohne Zweifel haben einige lieux de mémoire in dieser Hinsicht einen Doppelcharakter. Der Aufsatz über den Gedächtnisort „Kathedrale“ etwa zeigt dies eindrucksvoll. Die Kathedrale ist im kollektiven Gedächtnis Frankreichs ein
_____________ 43 Materialität ist eine von drei Dimensionen – neben Funktionalität und Symbolizität, die Nora jedem Gedächtnisort zuschreibt. Er legt dabei allerdings ein eigenwilliges und weites Verständnis von Materialität zugrunde, etwa dann, wenn er sie auch bei einer Gedenkminute oder bei der Generation als gegeben ansieht. Als notwendige Voraussetzung für die Einordnung eines Objekts als lieu de mémoire kann Materialität somit nicht gesehen werden. Vgl. Nora: „Entre mémoire et histoire“ (Anm. 11), XXXIVf. 44 Vgl. Noras Bemerkungen zum Gedächtnisort „Revolutionskalender“. Ebd., XXXVI.
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Topos. Sie steht für die privilegierte Beziehung des Landes zur Kirche ebenso wie für eine singuläre Blüte der Baukunst. Sie ist zugleich ein Medium des Gedächtnisses, ein Bauwerk, in dem der Eingeweihte wie in einem Buch lesen kann.45 Der Aufsatz von André Vauchez thematisiert beide Aspekte.46 Trotz solcher Doppelungen erscheint es fruchtbar, die Gedächtnisorte auf einer Skala zwischen den Polen ‚Medium‘ und ‚Topos‘ zu verorten. In vielen Fällen würde dies ihre Funktion erhellen: Kriegerdenkmäler wirken im kollektiven Gedächtnis primär als Gedächtnismedien, ebenso das Kinderbuch Le Tour de la France par deux Enfants oder das Pariser Panthéon. Jeanne d’Arc ist dagegen in erster Linie ein Topos, dessen fortdauernde Wirksamkeit ohne Gedächtnismedien nicht zu erklären ist. Weil im Begriff der lieux de mémoire beides zusammenfällt, läuft er Gefahr, zu einer bloßen catch-all-phrase zu werden. Wenn in die Kategorie ‚Gedächtnisort‘ alles gehört, was in irgendeiner Weise für das kollektive Gedächtnis relevant ist, muss sich der Erkenntnisgewinn in Grenzen halten, der aus ihrer Verwendung zu ziehen ist. Die Indifferenz Noras gegenüber dem Unterschied zwischen Medien des Gedächtnisses auf der einen und Institutionen, topografischen Orten und Topoi auf der anderen Seite zeigt sich besonders darin, dass dieser Unterschied auch in der filigranen Gliederung der Lieux de mémoire kaum eine Rolle spielt. Gedächtnisorte, die primär als Gedächtnismedien zu konzipieren sind, finden sich in ganz verschiedenen Abteilungen des monumentalen Werkes, der Aufsatz über die Histoire de la langue française von Ferdinand Brunot beispielsweise in der Abteilung „Modèles“ neben Beiträgen über den Königshof, die freien Berufe und das Unternehmen. Die Kritik, die Jan-Holger Kirsch an der Gliederung der Deutschen Erinnerungsorte geübt hat, ließe sich ohne weiteres auf die Lieux de mémoire übertragen: „Eine typologische Gliederung des unscharfen Terminus ‚Erinnerungsorte‘ wäre eventuell überzeugender gewesen. Ein Bauwerk wie das Brandenburger Tor, eine historische Person wie Bismarck, ein Rechtsinstitut wie das Bürgerliche Gesetzbuch und ein verbaler Topos wie ‚Kinder-Küche-Kirche‘ entfalten ihre Erinnerungswirkung ja auf recht unterschiedlichen Wegen.“47 Wenn die Lektüre der Lieux de mémoire dennoch auch für diejenigen Leser gewinnbringend ist, die sich mit der Medialität des kollektiven Gedächtnisses beschäftigen, so liegt das nicht zuletzt daran, dass die Autorinnen und Autoren einzelner Beiträge in dieser Hinsicht ein größeres Problembewusstsein zeigen als ihr Herausgeber.
_____________ 45 Vgl. zur Architektur als Medium des kollektiven Gedächtnisses auch den Beitrag von Benjamin Burkhardt in diesem Band. 46 Vgl. André Vauchez: „La cathédrale.“ In: Nora (Hrsg.): Lieux de mémoire. Bd. 3,2: Les France. Paris: Gallimard 1992, 90-127. 47 Jan-Holger Kirsch: „Review of Etienne François and Hagen Schulze (Hrsg.): Deutsche Erinnerungsorte II“, H-Soz-u-Kult, H-Net Reviews, January 2002. URL: http://www.h-net.org/reviews/ showrev. cgi?path=248521018630382 (Stand 1.2.2004).
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IV. Fallstudien: Gedächtnisorte als Gedächtnismedien Tatsächlich können die Lieux de mémoire eine ganze Reihe von Einsichten über Gedächtnismedien und ihre Funktionsweise vermitteln, oder, in der Terminologie des vorliegenden Bandes, über die Rolle von Kommunikationsinstrumenten, Medientechnologien, sozialsystemischer Institutionalisierung, Medienangeboten und deren Ausdrucksformen. Das liegt zunächst daran, dass sich die Lieux de mémoire als Inventar von Gedächtnismedien nutzen lassen; es fehlt hier wahrscheinlich kaum ein Objekt, das in Frankreich jemals diese Funktion erfüllt hat. Das Spektrum reicht von der schönen Literatur und Geschichtsschreibung über Bauwerke, Schulbücher und Gedenkfeiern bis hin zu weniger nahe liegenden Medien wie Medaillen, Kränzen an der mur des fedérés, geografischen oder gar statistischen Werken. Dieser reiche Fundus lässt sich oftmals aber nur mit einiger Mühe erschliessen. Denn wie Nora haben viele der beteiligten Autorinnen und Autoren kein originäres Interesse an den Medien des kulturellen Gedächtnisses und scheinen teilweise auch nicht zu gewärtigen, dass sie in ihren Aufsätzen solche untersuchen. So beschäftigt sich François Caron in seinem Aufsatz über „L’entreprise“, das Unternehmen, en passant mit Arbeiter- und Unternehmermemoiren, Werbeplakaten und Fotografien, mit Industriemuseen und mit Festschriften zu Firmenjubiläen. Bei ihnen allen würde es sich anbieten, sie in ihrer Funktion als Gedächtnismedien zu analysieren, doch Caron geht einen anderen Weg. Sein eigentliches Interesse gilt den Fragen, wie die Historiografie Unternehmensgeschichte konzeptualisiert und vor allem, wie sie den Aufstieg und Niedergang von Unternehmen erklärt.48 Ähnliches lässt sich an dem Aufsatz von Philippe Contamine über die Devise „Mourir pour la patrie“ zeigen. Er untersucht darin die Geschichte dieses Topos’ von der Antike bis zum Ersten Weltkrieg. Dementsprechend bezieht er sich auf eine lange Reihe unterschiedlicher Medien, ausgehend von philosophischen Schriften von Augustinus und Thomas von Aquin über Memorialmessen des Mittelalters bis hin zu Dramen, Predigten und Medaillen des Barock, Enzyklopädieartikeln der Aufklärung und Briefen von Kriegsteilnehmern des 1. Weltkrieges. Was es aber bedeutet, wenn eine Devise in so unterschiedlichen Medien tradiert und aktualisiert wird, reflektiert Contamine nicht.49 In der Perspektive des vorliegenden Bandes drängt sich diese Frage nach der medienspezifischen Erinnerung indes geradezu auf: Kann es bedeutungslos sein, dass der Topos im einen Fall in einer umfangreichen Predigt ausgebreitet, im anderen Fall aber auf den wenigen Quadratzentimetern einer Medaille kompri-
_____________ 48 Vgl. François Caron: „L’entreprise.“ In: Nora (Hrsg.): Lieux de mémoire. Bd. 3,2: Les France (Anm. 46), 323-375. 49 Vgl. Philippe Contamine: „Mourir pour la patrie.“ In: Nora (Hrsg.): Lieux de mémoire. Bd. 2,3: La Nation (Anm. 12), 11-43.
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miert dargestellt wird, wobei dann zur Schrift das Bild hinzutritt?50 Viele der Aufsätze lassen solche Fragen unbeantwortet, andere eröffnen weiterführende und innovative Perspektiven für die Erforschung von Gedächtnismedien. Es ist nicht überraschend, dass dies besonders bei solchen lieux de mémoire der Fall ist, die als Gedächtnismedien aufgefasst werden können. Die Aufsätze zu solchen Objekten erweisen sich teilweise als exemplarische Studien über Gedächtnismedien, in denen die Wirkungsweise einzelner oder mehrerer Aspekte des Kompaktbegriffs ‚Gedächtnismedium‘ schlaglichtartig erhellt wird. So zeigt Antoine Prost in seinem Aufsatz über die „Monuments aux morts“, wie kleinste Veränderungen im Bildprogramm und der Austausch einzelner Worte in den Inschriften die Botschaft eines Mahnmals vollkommen verändern können, vom Patriotismus zur Subversion, von der ergebenen Hinnahme des Krieges zur pazifistischen Anklage. Er zeigt zugleich, dass das Gedächtnismedium Kriegerdenkmal nicht zu verstehen ist ohne die anderen Gedächtnismedien, mit denen es vernetzt ist: die Rituale der Veteranen und die Reden, die an Gedenktagen vor dem Denkmal gehalten werden.51 Diese Plurimedialität des kulturellen Gedächtnisses analysieren auch JeanMarie Goulemot und Éric Walter in ihrem Aufsatz über die einhundertsten Todestage von Voltaire und Jean-Jacques Rousseau. Ihre ebenso identitätsstiftende wie polarisierende Wirkung entfalten diese Gedenktage im Jahr 1878 erst durch das Zusammenspiel mehrerer Medien: Neueditionen der Werke Voltaires und Rousseaus, bei denen je nach ideologischem Standpunkt selektiert wird, Fluten von Artikeln in den Tages- und Wochenzeitungen, Festzüge und Reden.52 Jacques und Mona Ozouf untersuchen mit „Le tour de la France par deux enfants“ ein sehr kulturspezifisches Gedächtnismedium,53 das für Generationen von Franzosen das Idealbild einer ländlichen France profonde geprägt hat: Ein Roman, der zugleich Kinder- und Schulbuch ist, und dessen Lektüre im Unterricht für alle Schulen des Landes verpflichtend ist; die Geschichte zweier Kinder aus dem von den Deutschen besetzten Lothringen, die Frankreich auf der Route der traditionellen Gesellenwanderung zu Fuß erkunden.54 Ebenso exemplarisch als Analysen von Gedächtnismedien sind die Aufsätze von Mona Ozouf über das Pariser
_____________ 50 Zu Predigten als Medien des kollektiven Gedächtnisses vgl. den Beitrag von Annegret Stegmann in diesem Band. 51 Vgl. Antoine Prost: „Les monuments aux morts. Culte républicain? Culte civique? Culte patriotique?“ In: Nora: Lieux de mémoire. Bd.1: La République (Anm. 11), 195-225. 52 Jean-Marie Goulemot & Éric Walter: „Les centenaires des Voltaire et de Rousseau.“ In: Nora (Hrsg.): Lieux de mémoire. Bd. 1: La République (Anm. 11), 381-420. 53 Zur Kulturspezifik von Gedächtnismedien vgl. auch den Beitrag von Hanne Birk in diesem Band. 54 Jacques Ozouf & Mona Ozouf: „Le Tour de la France par deux enfants.“ In: Nora (Hrsg.): Lieux de mémoire. Bd. 1: La République (Anm. 11), 291-321.
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Panthéon55 und von Jean-Yves Guiomar über „Le Barzaz Breiz“. Der Beitrag von Guiomar zeigt, welchen Anteil ein Medium an einer ‚invention of tradition‘ (Eric Hobsbawm) haben kann. Bei dem „Barzaz Breiz“ handelt es sich um eine Sammlung von bretonischen Volksliedern aus dem frühen 19. Jahrhundert; der Herausgeber Théodore Hersart de la Villemarqué schrieb ihnen einen keltischen Ursprung zu und datierte ihre Entstehung auf die ersten nachchristlichen Jahrhunderte. So wurde nicht nur eine keltische Identität der Bretagne konstruiert, sondern es sollte auch bewiesen werden, dass die französische Literatur ebenso auf keltischen wie auf mediterranen Einflüssen beruhte. Guiomars Aufsatz ist zugleich ein Lehrstück über das problematische Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit: Er zeichnet nach, wie de la Villemarqué die Liedtexte bei den Bauern in der Umgebung seines Elternhauses sammelte, sie dann teilweise umschrieb, um ihre Wirkung zu steigern, um schließlich jahrelang nach Manuskripten zu suchen, die das ehrwürdige Alter der Lieder nachweisen sollten.56 Würde man alle Beiträge der Lieux de mémoire daraufhin untersuchen, inwieweit in ihnen das Phänomen der Medialität des kollektiven Gedächtnisses reflektiert wird, könnte man die Autorinnen und Autoren der 130 Aufsätze in einer Skala abgestufter Sensibilität verorten. Ihr eines Extrem würden die oben vorgestellten Beiträge bilden, in denen Gedächtnisorte als Gedächtnismedien verstanden und analysiert werden. An ihr anderes Ende müsste man jene Aufsätze stellen, die den Eindruck vermitteln, Topoi oder Traditionen könnten ohne Medien konstruiert, tradiert und aktualisiert werden. Ein Beispiel bietet die Studie Lucien Karpiks über „La profession libérale“. Es geht darin um die Tradition der freien Berufe in Frankreich, analysiert am Beispiel der Rechtsanwälte. Deren Selbstverständnis und Außenwirkung, so möchte Karpik zeigen, sei seit dem 17. Jahrhundert von der Norm des „désintéressement“ geprägt worden: Anwälte sollten keine eigenen wirtschaftlichen Interessen verfolgen, nicht von den wirtschaftlichen Transaktionen ihrer Mandanten profitieren und ausstehende Honorare nicht eintreiben. Wie diese Norm in den Reihen der Anwälte tradiert wurde, ist durchaus nachvollziehbar, welches Bild des Anwaltsstandes in der französischen Ge-
_____________ 55 Mona Ozouf: „Le Panthéon. L’École normale des morts.“ In: Nora (Hrsg.): Lieux de mémoire. Bd. 1: La République (Anm. 11), 139-166. Ozouf zeigt prägnant, wie unter den Bedingungen einer neuen sozialsystemischen Institutionalisierung – die revolutionäre Republik, nicht mehr die Kirche, bestimmt über die Nutzung des Bauwerkes – die architektonische Formensprache verändert wird, um das Gebäude zum Gedächtnismedium zuzurüsten. Der Aufsatz thematisiert nicht nur die offensichtlichen Eingriffe bei Bildprogramm und Inschriften, sondern auch subtilere Veränderungen. So wurden einzelne Fenster zugemauert, um die Statuen der ‚grands hommes‘ buchstäblich in das richtige, ewige Gültigkeit suggerierende, Licht zu setzen. 56 Jean-Yves Guiomar: „Le Barzaz Breiz de Théodore Hersart de La Villemarqué.“ In: Nora (Hrsg.): Lieux de mémoire. Bd. 3,2: Les France (Anm. 46), 527-565.
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sellschaft daraus resultierte, wird dagegen kaum herausgearbeitet, weil Karpik nicht nach den Gedächtnismedien fragt, die ein solches Bild prägen könnten.57 Einen ähnlich medienindifferenten Eindruck hinterlassen auch andere Aufsätze über die „modèles“, nach denen sich die französische Gesellschaft in den Augen Noras und seiner Autoren und Autorinnen immer aufs neue formt, und über die „divisions politiques“, die zentralen ideologischen Konfliktlinien der französischen Politik seit der Revolution. Das gilt beispielsweise für den Aufsatz von Marcel Gauchet über „La droite et la gauche“, der zeigt, wie aus der eher zufällig zustande gekommenen Sitzordnung der politischen Gruppierungen in der Nationalversammlung während der Französischen Revolution eine Grundkategorie des politischen Denkens bis in die Gegenwart werden konnte. Gauchet rekonstruiert sorgfältig den Diskurs der politischen Eliten, seine Argumentationsweisen und Umdeutungen der Begriffe. Er erklärt jedoch nicht, wie ‚rechts‘ und ‚links‘ als Schlagworte ihre enorme Breitenwirkung erreichen konnten, denn er schweigt über die Medien, durch die sie popularisiert wurden, obgleich sich hier sicherlich ein breites Untersuchungsfeld geboten hätte.58 Dies entspricht einer allgemeinen Tendenz der Lieux de mémoire: Viele Aufsätze vermitteln den Eindruck, dass sie von den Erinnerungskulturen der Eliten, der politischen, administrativen, vor allem aber intellektuellen Führungsschichten handeln. Oftmals stellen sie in erster Linie Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte dar. Das ist an sich nicht illegitim, wird aber zuwenig reflektiert; Gedächtnisorte, die wahrscheinlich nur für Historiker relevant sind, stehen unvermittelt neben den populärsten Symbolen und Topoi des kulturellen Gedächtnisses: die Annales und Jeanne d’Arc, „Arcisse de Caumont et les sociétés savantes“ und Sacré Cœur. Es erscheint plausibel, darin ein Ergebnis der fehlenden Auseinandersetzung mit den Medien des kulturellen Gedächtnisses zu sehen: Hätten die Autorinnen und Autoren systematisch untersucht, durch welche Medien die behandelten Topoi und Symbole konstruiert und tradiert wurden, hätten sie unweigerlich die völlig unterschiedlichen Rezeptionsbedingungen und Rezipientenkreise thematisieren müssen. Doch dies geschieht nur selten; in vielen Fällen werden Gedächtnismedien nur zitiert, aber nicht analysiert. Diese Tendenz spiegelt sich auch im Umgang mit den Abbildungen wider. Abgesehen davon, dass die Beiträge sehr unterschiedlich reich bebildert sind, fällt auf, dass die Abbildungen meist nicht in den Gang der Untersuchung eingebunden werden. Sie dienen zur Illustration, werden aber nicht analysiert und sind oft mit allzu knappen Bildlegenden versehen.59 Das ist bedauerlich, weil viele der Illustrationen als Gedächtnismedien ebenso erklä-
_____________ 57 Lucien Karpik: „La profession libérale. Un cas, le barreau.“ In: Nora (Hrsg.): Lieux de mémoire. Bd. 3,2: Les France (Anm. 46), 286-321. 58 Marcel Gauchet: „La droite et la gauche.“ In: Nora (Hrsg.): Lieux de mémoire. Bd. 3,1: Les France. Paris: Gallimard 1992, 395-467. 59 Diese Kritik äußert auch schon Taithe: „Reading Nora’s Realms“ (Anm. 2), 132.
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rungsbedürftig wie interessant sind: allegorische Stiche, Historiengemälde, Karikaturen, Plakate. Sie als Untersuchungsgegenstände zu thematisieren, könnte oft mehr zum Verständnis der Mechanismen des kulturellen Gedächtnisses beitragen, als es die minutiöse Rekonstruktion innerwissenschaftlicher Diskurse im Spiegel historischer Abhandlungen zu leisten vermag. Im Blick auf die Aufsätze der Lieux de mémoire sei abschließend noch auf ein Phänomen hingewiesen, das ebenfalls mit der Problematik der Gedächtnismedien verbunden ist: In einer Reihe von Aufsätzen wird auf andere lieux de mémoire verwiesen, und oft lassen sich diese Verweise so interpretieren, dass Topoi mit Medien in Beziehung gesetzt werden. Als gutes Beispiel erscheint der Aufsatz über „Catholiques et laïcs“, einen der epochalen Konflikte innerhalb der französischen Gesellschaft, die als identitätsprägende Phänomene behandelt werden.60 Der Autor, Claude Langlois, verweist auf fünf andere Gedächtnisorte, darunter drei bereits erwähnte, die 100-Jahr-Feiern für Voltaire und Rousseau, das Kinderbuch Le Tour de la France par deux enfants und das Panthéon. In diesen Verweisstrukturen scheint sich das Bewusstsein zu manifestieren, dass sich ein Topos, in diesem Fall eine ideologische Konfliktlinie, nicht von selbst über Generationen hinweg fortpflanzt, sondern dass er in verschiedenen Medien tradiert und immer wieder aktualisiert werden muss. Insgesamt, das sollten diese Beispiele zeigen, haben die Autorinnen und Autoren der Lieux de mémoire die Medialität des kulturellen Gedächtnisses in ihren Beiträgen in sehr unterschiedlichem Maße und in sehr unterschiedlicher Weise reflektiert. Alle diese Vorgehensweisen sind offensichtlich kompatibel mit der theoretischen Konzeption Noras. Insofern spiegeln auch die 130 Beiträge die Offenheit und Vieldeutigkeit der Kategorie lieu de mémoire.
V. Schluss „Was ist ein lieu de mémoire?“ und: „Warum erscheint diese theoretische Kategorie einigen Autorinnen und Autoren als vage und beliebig?“ So lauteten die Fragen, mit denen dieser Beitrag eingeleitet wurde. Antworten sollten dadurch gefunden werden, dass die Kategorie lieu de mémoire mit dem Leitbegriff des vorliegenden Bandes, ‚Gedächtnismedium‘, konfrontiert wurde. Dabei wurde deutlich, dass Nora seine Untersuchungsgegenstände nicht als Medien des kulturellen Gedächtnisses auffasst, und das nicht allein deswegen, weil der Begriff Mitte der 1980er Jahre die Gedächtnisdiskussion noch nicht in dem Maße beherrschte, wie das heute der Fall ist. Es konnte ebenfalls gezeigt werden, dass in der Tat nicht alle lieux de mémoire Gedächtnismedien sind, dass die Begriffe nicht gleichgesetzt wer-
_____________ 60 Claude Langlois: „Catholiques et laïcs.“ In: Nora (Hrsg.): Lieux de mémoire. Bd. 3,1: Les France (Anm. 58), 140-183.
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den können. Die lieux de mémoire einmal aus medientheoretischer Perspektive zu betrachten erschien dennoch als viel versprechend, weil mediengeschichtliche Überlegungen in Noras Konzeption von Gedächtnisgeschichte immerhin eine erhebliche Rolle spielen, und weil eine Reihe von lieux de mémoire dominant als Medien zu konzipieren sind. In einer differenzierenden Perspektive könnte man auf die Frage „Was ist ein lieu de mémoire?“ eine fast unbegrenzte Zahl von Begriffen nennen, die allesamt zumindest einzelne Gedächtnisorte zutreffend beschreiben würden: Symbole, Mythen, Erinnerungsfiguren, Monumente, Gedächtnislandschaften, „narrative Abbreviaturen“61, „instrumental vehicles for collective memories underpinning social cohesion“,62 „symbolic archives“,63 „constellations of meanings“,64 „Kristallisationskerne des französischen kollektiven Gedächtnisses“,65 „des champs à l’interieur desquels a pu germer et s’inscrire la mémoire nationale“,66 „des symboles, des emblèmes, des rituels d’une nation“.67 Hier wurde nun die Vielfalt der in den Lieux de mémoire behandelten Gegenstände bewusst reduktionistisch auf zwei Begriffe gebracht: Topoi und Medien des kulturellen Gedächtnisses. Auf diese Weise wird ein zentrales Problem in der Konzeption der lieux de mémoire erkennbar: Es liegt darin, dass Nora weder in seinen Definitionen noch in der Gliederung des monumentalen Werkes unterscheidet zwischen dem, was erinnert wird, und dem, womit und wodurch erinnert wird; die Kategorie lieux de mémoire umfasst das eine wie das andere. In der begrifflichen Offenheit liegt vielleicht das Erfolgsgeheimnis der Lieux de mémoire: Sie hat es wahrscheinlich erst ermöglicht, so viele Historikerinnen und Historiker unterschiedlicher Provenienz für das Projekt zu gewinnen, sie hat es ermöglicht, ein Panorama des kulturellen Gedächtnisses in Frankreich zu schaffen, das auch seine innere Pluralität offenbart, sie hat das Konzept zum Exportschlager werden lassen. Wenn es aber darum gehen soll, die Mechanismen der Konstruktion, Tradierung und Aktualisierung von kulturellem Gedächtnis zu analysieren, erweist sich die fehlende Differenzierung zwischen Topoi und Medien und generell die relative Indifferenz gegenüber der Rolle der Medialität in diesem Prozess als Nachteil.
_____________ 61 Klaus Große-Kracht wendet diesen von Jörn Rüsen geprägten Begriff auf die lieux de mémoire an, vgl. Große-Kracht: „Gedächtnis und Geschichte“ (Anm. 40), 28. 62 Peter Carrier: „Places, Politics and the Archiving of Contemporary memory.“ In: Susannah Radstone (Hrsg.): Memory and Methodology. Oxford: Berg 2000, 37-57, 40. 63 Ebd., 47. 64 Nancy Wood: „Memory’s remains. Les Lieux de mémoire.“ In: Memory and History 6,1 (1994), 123149, 132. 65 Etienne François & Hagen Schultze: „Einleitung.“ In: Diess. (Hrsg.): Deutsche Erinnerungsorte. Bd. 1. München: Beck 2001, 9-24, 16. 66 „Felder, in denen die nationale Erinnerung keimen und sich einschreiben konnte,“ (Übersetzung PS). Corbin: „Rezension Lieux de mémoire“ (Anm. 2), 126. 67 Valensi: „Histoire nationale“ (Anm. 2), 1276.
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Aus ihr lassen sich mehrere Schwächen des monumentalen Werkes erklären: Weil oftmals nicht nach den Medien gefragt wird, die Topoi tradieren, aktualisieren und popularisieren, wird in vielen Beiträgen nicht reflektiert, dass die behandelten Gedächtnisorte nur für kleine politische oder intellektuelle Eliten relevant waren oder sind. Oder, wie Alain Corbin geschrieben hat: „On souhaiterait cependant que fussent plus largement étudiés les mécanismes d’appropriation, de réinteprétation, de circulation sociale des éléments d’une mémoire nationale, en dehors des cercles ici privilégiés.“68 Aus dem gleichen Grund scheinen Nora und seine Autorinnen und Autoren nicht zu differenzieren zwischen Topoi, die heute noch prägend sind und solchen, die außerhalb der Geschichtswissenschaft längst dem Vergessen anheim gefallen sind. Der Zwischenzustand zwischen Geschichte und Gedächtnis, zwischen Vergessen und lebendigem Angedenken, soll für alle lieux de mémoire kennzeichnend sein; tatsächlich trifft diese Beschreibung aber wohl auf Jeanne d’Arc und Ferdinand Buisson in sehr unterschiedlichem Maße zu. Dass die Rolle von Medien in der Konstitution des kulturellen Gedächtnisses zu wenig thematisiert wird, mag schließlich auch ein Grund dafür sein, dass in einigen Aufsätzen letztlich konventionelle Historiografie (wie z.B. Institutionengeschichte, Wissenschaftsgeschichte oder Biografik) betrieben wird, entgegen dem Credo Noras, im Zeichen der lieux de mémoire ein neues Paradigma der Erforschung von Nationalgeschichte zu schaffen.69
_____________ 68 „Es wäre dennoch wünschenswert gewesen, die Mechanismen der Aneignung, der Reinterpretation und der gesellschaftlichen Zirkulation der Bestandteile eines nationalen Gedächtnisses auch außerhalb derjenigen sozialen Gruppen eingehender zu untersuchen, die hier bevorzugt thematisiert wurden.“ (Übersetzung PS). Corbin: „Rezension Lieux de mémoire“ (Anm. 2), 131. 69 Vgl. Pierre Nora: „Comment écrire l’histoire de France?“ In: Ders. (Hrsg.): Lieux de mémoire. Bd. 3,1: Les France (Anm. 58), 9-32, vor allem 15. Vgl. zum Vorwurf, ein Teil der Aufsätze stelle nur konventionelle Geschichtsschreibung dar und entspreche nicht Noras Konzeption, Judt: „A la Recherche du Temps Perdu“ (Anm. 2), 56; Ho Tai: „Remembered Realms“ (Anm. 2), 917.
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Zur Mediengeschichte des kulturellen Gedächtnisses I. Annäherungen an den Begriff ‚Kulturelles Gedächtnis‘ Der Begriff ‚kulturelles Gedächtnis‘ ist inzwischen nicht nur eingebürgert, er ist bereits auch schon wieder abgegriffen, denn er gehört zu jenen Worten, von denen man „alles verlangt und alles erhält, was man nur will“.1 Das heißt: Er hat seine ‚Fragwürdigkeit‘ verloren und eben diese soll ihm mit dem folgenden Beitrag zurückerstattet werden. Mit Fragwürdigkeit meine ich hier eine Begriffsarbeit, die auf Konturierung, Trennschärfe und methodisches Potential ausgerichtet ist. Erste Annäherung. – Ich beginne mit der Beobachtung, dass es diesen Begriff nicht nur im deutschsprachigen Bereich gibt. In französischen und angloamerikanischen Diskursen hat er sich in den letzten zehn Jahren ebenfalls durchgesetzt, und zwar in ziemlich unabhängigen Entwicklungen und auch mit deutlich unterschiedenen Akzenten. Es gibt, wie ein Rundblick über die internationale Forschung schnell erweist, keinen einheitlichen kulturellen Gedächtnisdiskurs; Fragestellungen und Zugangsweisen unterscheiden sich in den verschiedenen Ländern. Der französische Gedächtnisdiskurs zum Beispiel, wie er von Pierre Nora im Anschluss an Maurice Halbwachs entwickelt worden ist, ist von der Gedächtniskrise der Moderne angestoßen: Sein Hintergrund ist die Wandlungsbeschleunigung der sozialen und technischen Lebenswelt, die zu einer Erosion von Traditionen geführt hat. 2 Unter diesen Voraussetzungen wurde in Frankreich neu über die Bedeutung eines kulturellen Gedächtnisses als Grundlage nationaler Identität nachgedacht und die Frage nach den Möglichkeiten seiner Bewahrung oder Rekonstruktion gestellt. Demgegenüber hat sich der anglo-amerikanische Gedächtnisdiskurs nicht von der Mitte, sondern von den Rändern der Gesellschaft her entwickelt. Hier kam der gesellschaftliche Anstoß von verdrängten, unabgegoltenen, traumatischen Geschichtserfahrungen. Das Paradigma einer solch negativen Geschichtserinnerung ist der Holocaust, in dessen Folge auch
_____________ 1 So äußerte sich einst Roland Barthes über den Begriff ‚Strukturalismus‘, in: „Die strukturalistische Tätigkeit.“ In: Kursbuch 5 (Mai 1966), 190. 2 Vgl. zu Noras ‚Erinnerungsorten‘ den Aufsatz von Patrick Schmidt in diesem Band.
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andere kollektive Leidensgeschichten auf soziale Anerkennung drängen wie die ausgebeuteter Sklaven, verdrängter Ureinwohner verschiedener Kontinente, sowie von Menschen, die durch Kolonisierung physisch unterdrückt und kulturell enteignet wurden. Der Gedächtnisdiskurs, wie er von Jan Assmann und mir entwickelt worden ist, übersteigt die Traumata der aktuellen Gegenwart und die Krise der Moderne und stellt in einer wesentlich längeren historischen Perspektive die Grundfrage nach der Gedächtnisförmigkeit von Kultur überhaupt und untersucht die Medien und Strategien, die das kulturelle Gedächtnis in der Geschichte verändert haben. Zweite Annäherung. – Wie kann man einen Begriff definieren, dessen Komponenten so umfassend sind wie die Worte ‚Kultur‘ und ‚Gedächtnis‘? Dazu ist zu sagen, dass die beiden Worte, die in diesem Begriff zusammenkommen, sich gegenseitig bestimmen und begrenzen. Einerseits bezieht sich der Begriff ‚kulturelles Gedächtnis‘ auf seinen Sonderfall von Gedächtnis (etwas neben dem neurologischen oder individuell psychologischen Gedächtnis), und andererseits bezieht er sich auf einen bestimmten Aspekt von Kultur. Der letzte Teil dieses Satzes erfordert eine Erläuterung. Auf welchen Aspekt der Kultur wird hier Bezug genommen, und von welchen anderen Aspekten unterscheidet er sich? Es gibt viele Dimensionen von Kultur, in denen das Gedächtnis eine nur untergeordnete Rolle spielt. Da ist zum Beispiel die Dimension der Kultur als Lebenswelt und Lebensstil, in der unsere täglichen Bedürfnisse strukturiert und beantwortet werden. Hier geht es um Unterhalt und Unterhaltung im weitesten Sinne, was alle Formen der Daseinsvorsorge einschließlich der Medienangebote umfasst. In der westlichen Welt wird dieser Sektor weitgehend durch Angebot und Nachfrage des Marktes reguliert. Da ist ferner die Dimension, in der Kultur als politische und soziale Organisationsform von Menschenmassen erscheint, samt ihren politischen und rechtlichen Institutionen, einschließlich Verwaltung und Bürokratie. Eine weitere Dimension bezieht sich auf Wissenschaft und Technik, hier geht es im Wesentlichen um die Entwicklung von Wissen und mögliche Formen ihrer Anwendung. Erst in der vierten und letzten Dimension, in der Religion, Geschichte und die Künste unterzubringen sind, kann sinnvoll von ‚Kultur als Gedächtnis‘ die Rede sein. Das soll nicht heißen, dass die Funktion Gedächtnis aus den anderen Dimensionen ausgeschlossen ist; sie ist jeweils vorhanden als eine stützende Funktion, aber nicht als eine Hauptabsicht. Zum Beispiel setzen die Moden der Konsumkultur ein gewisses Maß an Gedächtnis voraus, ebenso natürlich die Strukturen von Herrschaft und Verwaltung, die ihre eigenen Archive fordern, sowie die Wissenschaft, deren Fortschritt nicht zuletzt von immer größeren und effektiveren Informationsspeichern abhängt. Die These ist jedoch, dass Gedächtnis in der vierten Dimension von Kultur, um die es uns allein geht, keine nur stützende, sondern eine strukturierende Funktion hat; was in den anderen Bereichen im Hintergrund verbleibt, rückt hier in den Vordergrund und wird zu einer eigenen Aufgabe. Allein in diesem Bereich nimmt Kultur die Form des Gedächt-
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nisses an. Es geht dabei um Texte, Handlungen, Artefakte aus zum Teil sehr viel früheren Epochen, die entweder über wandelnde historische Kontexte hinaus in Geltung verbleiben oder aber über ihre Geltungsfrist hinaus für eine unbestimmte Zukunft aufbewahrt werden. In dieser Dimension der Kultur wachsen Individuen über ihre eigene Zeit hinaus, indem sie auf frühere Botschaften, Artefakte und Praktiken zurückgreifen. Indem sie wiederholen, nachahmen, abschreiben, rezitieren, lesen, interpretieren, kommunizieren, diskutieren und würdigen, was in früheren Zeiten praktiziert und niedergelegt worden ist, transzendieren Menschen ihren eigenen Zeithorizont und gliedern sich in einen sehr viel größeren Kommunikationsrahmen ein. Die Wiederaufnahme früherer kultureller Impulse ist allerdings nur möglich, wenn überhaupt etwas überliefert, aufgeschrieben oder bildlich festgehalten worden ist, das zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal zur Anschauung und Würdigung kommen kann. Das kulturelle Gedächtnis schafft die materiellen und institutionellen Grundlagen dafür, dass Menschen sich überhaupt auf eine sehr viel frühere Zeit beziehen können und auch selbst erwarten dürfen, zu einer späteren Nachwelt noch sprechen zu können. So wie das Internet den Rahmen für Kommunikation über räumliche Abstände geschaffen hat, schafft das kulturelle Gedächtnis den Rahmen für Kommunikation über zeitliche Abstände hinweg. Damit schafft es zugleich die Voraussetzungen für überlebenszeitliche Kommunikation, was bedeutet, dass wir nie ausschließlich Zeitgenossen unserer eigenen Epoche sind, sondern auch das Erfahrungskapital früherer Zeiten nutzen und das Wissen und Können früherer Menschheitsstufen kritisch reflektieren können. In dieser Dimension von Kultur wird durch das Zusammenspiel von Zurücklegen und Zurückgreifen die Grenze zwischen Gegenwart und Vergangenheit systematisch offen gehalten. Auf dieser Basis entsteht die Voraussetzung für überlebenszeitliche Kommunikation und mit ihr die Möglichkeit für eine kontinuierliche Selbst- und Fremdbegegnungen von Menschen im geschichtlichen Wandel der Zeit. Dritte Annäherung. – Warum sprechen wir überhaupt von ‚kulturellem Gedächtnis‘ und belassen es nicht bei den eingeführten Begriffen wie ‚Tradition‘, ‚Überlieferung‘ oder ‚kulturelles Erbe‘ (engl. ‚legacy‘ und ‚heritage‘, frz. ‚patrimoine‘)? Während Begriffe wie Tradition, Überlieferung oder Erbe eindimensional sind, ist der Begriff des Gedächtnisses mehrdimensional und dynamisch; er bezieht sich nicht nur auf einen Vorgang, einen Bestand oder einen Wert, sondern immer auch auf sein Gegenteil. Denn Gedächtnis umfasst immer schon beides: Erinnern und Vergessen. Zwischen beiden gibt es obendrein viele Grautöne und permanente Verschiebungen, die in den eindimensionalen Begriffen nicht annähernd erfasst werden können. Um diese Dynamik besser beschreiben zu können, habe ich vorgeschlagen, den Pol des Erinnerns noch einmal in zwei verschiedene Modi aufzugliedern, die ich als ‚Funktionsgedächtnis‘ und ‚Speichergedächtnis‘ voneinander unterscheide. Die Unterscheidung zwischen Speicher- und Funktionsgedächtnis bildet die komplementäre Struktur von Gedächt-
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nis ab, in dem Erinnern und Vergessen nahe beieinander liegen.3 Denn vieles, was wir vergessen haben, ist nicht für immer verloren, sondern uns nur zeitweise unzugänglich. Was im persönlichen Gedächtnis auf den unsortierten Grund des Vergessenen4 zurückgesunken ist, kann unter bestimmten Umständen noch einmal an die Oberfläche steigen, wie die tief vergessene Empfindung, die Prousts Madeleine plötzlich wieder freisetzt. Was wir Vergessen nennen, ist in der Regel ein latentes Gedächtnis, zu dem wir das Kennwort verloren haben; wenn es zufällig getroffen wird, kehrt völlig unerwartet ein Stück sinnlich gelebter Vergangenheit zurück. Was Prousts ‚mémoire involontaire‘ für das Individuum ist, so dürfen wir vielleicht folgern, ist das Archiv für das kulturelle Gedächtnis: Fundus und Hintergrund für latente Erinnerungen, die ihre Stunde hinter sich oder noch vor sich haben. Wohlgemerkt: Wir bedienen uns hier eines strukturellen Vergleichs und keiner animistischen Metapher. Die Kultur selbst ‚erinnert‘ natürlich gar nichts, noch ist sie in der Lage zu ‚vergessen‘. Dem unbewussten Gedächtnis bei Proust entsprechen im Raum der Kultur die materiellen Rückstände früherer Epochen, die nicht mehr gebraucht und integriert, wohl aber noch vorhanden sind. Denn was von einer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt ausgeblendet, abgewiesen, ausgemustert oder verworfen ist, muss noch nicht gänzlich verloren/vergessen sein: Es kann in materiellen Spuren gesammelt, aufbewahrt und einer späteren Epoche zugeführt werden, in der es neu gedeutet wird. Allgemeiner gesprochen umfasst der Modus des Speichergedächtnisses das schiere Aufheben, Konservieren, Ordnen und Katalogisieren; der Modus des Funktionsgedächtnisses demgegenüber die Tätigkeiten der Auswahl, Vermittlung, Animation und Aneignung durch individuelle Gedächtnisse. Während die im Speichergedächtnis aufgehobenen Überreste fremd und unverständlich geworden sind, sind die im Funktionsgedächtnis aufgehobenen Artefakte gegen einen solchen Prozess des Vergessens und Fremdwerdens eigens geschützt. Das liegt daran, dass sie durch Verfahren der Auswahl und Wertzuschreibung (wir nennen diesen Vorgang ‚Kanonisierung‘) hindurchgegangen sind, was ihnen einen Platz im aktiven und nicht nur passiven kulturellen Gedächtnis einer Gesellschaft sichert. Sie bleiben trotz historischen Wandels und beschleunigter Innovation auf den Lehrplänen der Schulen, auf den Spielplänen der Theater, in den Sälen der Museen, den Aufführungen der Konzerthallen und den Programmen der Verlage. In anderen Worten: Was im Funktionsgedächtnis einer Gesellschaft gespeichert wird, hat Anspruch auf immer neue Aufführungen, Ausstellungen, Lektüren, Deutungen, Auseinandersetzungen. Solche beständige Pflege und Auseinandersetzung führt dazu, dass bestimmte kulturelle Artefakte
_____________ 3 Vgl. zu den Begriffen ‚Speicher- und Funktionsgedächtnis‘ auch den Beitrag von Annegret Stegmann in diesem Band. 4 Friedrich Georg Jünger spricht in seinem Buch Gedächtnis und Erinnerung (Frankfurt a.M.: Klostermann 1957) von „Verwahrensvergessen“.
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nicht gänzlich verstummen und fremd werden, sondern über Generationen hinweg immer neu aufgenommen und angeeignet werden. Institutionen des kulturellen Speichergedächtnisses sind Archive, Bibliotheken und die Magazine von Museen, Institutionen des kulturellen Funktionsgedächtnisses sind Erziehungs- und Bildungsorte wie Familie und Schule, aber auch Theater, Konzertsaal und die Ausstellungsräume von Museen, sowie Denkmäler und Jahrestage. Nach diesen begrifflichen Vorklärungen sollen konkrete Erscheinungsformen des kulturellen Gedächtnisses in seinem historischen Wandel zur Sprache kommen. Zu diesem Zweck werde ich drei historische Schnitte machen und über das kulturelle Gedächtnis um 1800, um 1900 und um 2000 sprechen.
II. Das kulturelle Gedächtnis um 1800 – Historismus und Medienbewusstsein In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sind Fragen des kulturellen Gedächtnisses zum ersten Mal im großen Umfang zum Gegenstand wissenschaftlicher Reflexion geworden. Dabei standen vor allem zwei Themen im Vordergrund: die Frage der neuen Medien und die Erfahrung historischen Wandels. Zunächst zu den Medien. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert wurde die Differenz zwischen schriftlosen und schriftverwendenden Kulturen zu einem Thema, das Dichter, Historiker und Philosophen gleichermaßen faszinierte. Der Hintergrund dieses neuen Interesses an der Medialität des kulturellen Gedächtnisses war das eigene Leiden an Symptomen einer hoch entwickelten Druckkultur, die man als immer uniformer und vermittelter empfand. Im Zeichen dieser SchriftKrise begann man, sich für das utopische Gegenbild einer mündlich verfassten Kultur zu interessieren. Je rapider die Bestände in den Bibliotheken anwuchsen und die Akademien und Universitäten neues Wissen produzierten, desto deutlicher prägte sich das Ideal einer lebendigen Gedächtniskultur aus. Philosophen wie Vico, Herder und Mendelssohn verabscheuten die ‚Buchstabenmenschen‘ (die sie natürlich selber waren) und träumten sich zurück von den Akademien in den großen Wald der Vorzeit. Sie suchten dabei nach Bildern und Mythen, die unter Worten und Texten begraben lagen. Einer von ihnen war der englische Privatgelehrte Robert Wood, der 1750 in die Ägäis aufbrach, um das Originalgenie Homer vor einer philologischen Forschung zu retten, die ihn unter Kommentaren und Anmerkungen begrub. Wood, der einen Ausweg aus dem „Labyrinth der Gelehrsamkeit“5 suchte, konnte sich Homer nur als einen Analphabeten
_____________ 5 Robert Wood: An Essay on the Original Genius of Homer (1769 und 1775). Wiederabdruck in Anglistica & Americana 174. Hildesheim/New York: Olms 1975, 11: „Without entering into that labyrinth of learning, with which the critics on both sides have so much embarrassed this passage, that it is hard to say, whether Homer has suffered most by his ignorant enemies, or his officious friendes“.
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vorstellen, der sein Wissen nicht aus Büchern bezog, sondern allein dem großen Proto-Buch der Natur verpflichtet war.6 Für Wood war selbstverständlich, dass die Epen Homers mündlich tradiert wurden.7 Er, der unter der Zunahme externer Gedächtnisspeicher litt – seine eigene Zeit beschrieb er als „Zeitalter der Lexika und anderer mnemotechnischer Hilfsmittel“ („this age of Dictionaries, and other technical aids to memory“)8 – entwarf die utopische Gegenvision einer mündlichen Kultur, in der sich Wissen und Gedächtnis noch im Gleichgewicht befanden – „a time, when all man could know, was all he could remember“9 –, weil die Grenzen des Wissens durch die Grenzen des menschlichen Gedächtnisses definiert waren. Speicher- und Funktionsgedächtnis sind hier noch nicht auseinander getreten; ein solches Gedächtnis enthält nichts Überflüssiges oder Unverständliches: „[I]n a rude and unlettered state of society the memory is loaded with nothing that is either useless or unintelligible“.10 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts liegen auch die Wurzeln des modernen historischen Bewusstseins, das die westliche Gedächtniskultur entscheidend geprägt hat. Dieses historische Bewusstsein hat zu einem Auseinanderbrechen von Gegenwart und Vergangenheit geführt. Das Schlüsselereignis in dieser Hinsicht war die Französische Revolution. An dieser Epochenschwelle hat der Historiker Ernst Schulin den engen Zusammenhang von einerseits Absage an und andererseits Wiederherstellung von Vergangenheit herausgearbeitet. Traditionskritik und Traditionsbruch, so hat er gezeigt, sind die Voraussetzung von historischer Rekonstruktion und Traditionspflege.11 Der gewaltige und gewaltsame Fortschritt der Französischen Revolution vollzog sich als radikaler Bruch mit der Vergangenheit, was dazu führte, dass Archive verbrannt, Klöster abgerissen, Grabanlagen zerstört und öffentliche Monumente vom Sockel gestürzt wurden. In wenigen Tagen wurde das Werk von Jahrhunderten vernichtet. Doch diese Kulturrevolution war nicht rein destruktiv und ikonoklastisch, denn während Gebäude in Trümmer gingen und Statuen zerbrachen, machte man sich auch schon wieder an die Sammlung, Inventarisierung und Konservierung des Zerstörten. Man kann hier geradezu von einer Geburt des Geschichtsbewusstseins aus dem Geist der Zerstörung sprechen. Neugegründete Archive nahmen Quellensammlungen auf und die Museen präsentierten jene Bestände, die soeben aus
_____________ 6 Vgl.: „It is not from books, but from the face of the countries which Homer describes, that I can hope to do him justice.“ (Ebd., xiv) 7 Vgl.: „The works of Homer, the oldest known production of Greece, were not preserved in writing, but were sung and retained by memory.“ (Ebd., 253) 8 Ebd., 260. 9 Ebd. 10 Ebd. 11 Ernst Schulin: „Absage an und Wiederherstellung von Vergangenheit.“ In: Moritz Csáky & Peter Stachel (Hrsg.): Speicher des Gedächtnisses – Bibliotheken, Museen, Archive. Teil 1. Wien: Passagen 2000, 23-39.
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dem Verkehr gezogen worden waren. Die Wiederaufstellung einer Statue Franz I. rechtfertigte Alexander Lenoir mit den Worten: „Ich vergesse seine Sitten mit seiner Asche. Es geht mir allein um die Förderung der Künste und der Bildung.“12 Dieser enge Zusammenhang von Zerstörung und Bewahrung trifft den Kern des Historismus, der ein neues Interesse an der Vergangenheit um ihrer selbst willen freisetzt. Was aus dem Leben verbannt und der Tradition geraubt wird, geht der Kultur nicht verloren, sondern erhält Asyl im Archiv, in der Bibliothek, im Museum. Die Geburt der Vergangenheit aus dem Geiste der Zerstörung – eine ähnliche Entwicklung lässt sich auch schon in früheren Epochen ausmachen. Als Heinrich VIII. zum Beispiel im Zuge der Säkularisierung die englischen Klöster enteignete, plünderte und zerstörte, schickte er zuvor einen Antiquar herum, der die kostbaren Buchbestände sichten und katalogisieren sollte. Der Antiquar ist eine Figur der Renaissance, der sich zum Anwalt und Konservator einer von der Gegenwart abgetrennten Vergangenheit macht. Die radikale politische Umwertung kultureller Werte, die die Säkularisierung durch Heinrich VIII. oder die Französischen Revolution kennzeichnete, führte nicht nur zu einer Zerstörung von Kulturgut, sondern auch zu dessen Sicherung und Aufbewahrung. Was seine unmittelbare Geltung und Bedeutung für die Gesellschaft verloren hatte, erhielt ein neues Interesse für Kunst und Wissenschaft. Für den engen Zusammenhang von Zerstörung und Bewahrung möchte ich noch ein anderes Beispiel aus der Mitte des 19. Jahrhunderts anführen. In einer Erzählung des amerikanischen Autors Nathaniel Hawthorne mit dem Titel Main Street rekonstruiert der Erzähler die unterschiedlichen Besiedlungsphasen einer kleinen Stadt, die der gegenwärtigen Hauptstraße vorangingen. Der zurückblickende Erzähler stellt sich einen Indianerhäuptling vor, der als erster an diesem Ort residierte, und weiter stellt er sich vor, dass dieser Indianerhäuptling die schamanistische Gabe hat, in die Zukunft zu sehen. Was mag sich dieser gedacht haben, fragt sich der Erzähler, als er in seiner Zukunftsvision das spätere an der Hauptstraße zu errichtende Museum wahrnahm, „wo, unter zahllosen Kuriositäten aus Erde und Meer, einige indianische Pfeilspitzen ausgestellt sein werden als Erinnerungsstücke an eine verschwundene Rasse“? („where, among countless curiosities of earth and sea, a few Indian arrow-heads shall be treasured up as memorials of a vanished race!“13). Eine Geschichte, die irreversibel abgeschlossen ist wie die Ausrottung der Indianer und ihrer Kultur, wird im historischen Museum aufbewahrt und ausgestellt als Erinnerung an das Vernichtete und Verlorene, aber nicht gänzlich Vergessene. Es beherbergt Relikte aus einer Vergangenheit, die gänzlich von der Gegenwart abgelöst sind.
_____________ 12 Ebd., 26. 13 Nathaniel Hawthorne: „Main Street.“ In: Centenary Edition of the Works. Bd. XI. Columbus: Olvier 1974, 51.
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Die Säkularisierung Heinrichs des VIII., die Französische Revolution und die Ausrottung der amerikanischen Ureinwohner sind besonders dramatische Beispiele für einen gewaltsamen Werte- und Kulturwandel. Auf weniger spektakuläre Weise sind im 19. Jahrhundert aufgrund des technischen und sozialen Wandels viele Elemente des kulturellen Lebens erodiert oder abgeschafft worden. Was zu Ende gebracht und unbrauchbar geworden war, wurde jedoch nicht einfach vergessen, sondern auf eine neue Weise erinnert. Auf diese Weise entstand ein historisches Bewusstsein vom Vergangensein der Vergangenheit. Offensichtlich ist der Strom der Überlieferung nicht völlig lenkbar; er hat seine Windungen und Nebenflüsse, die ihm zuweilen Überraschendes zuführen. Neben dem Funktionsgedächtnis gab es auch schon in früheren Kulturstufen Ansätze eines Speichergedächtnisses, das Texte und Artefakte sammelte und einschloss, die nicht zum Kernbestand der identitätsstiftenden Überlieferung gehörten. Ein besonderes Speichergedächtnis ist die Bibliothek von Alexandria gewesen, in der die hellenistischen Herrscher das Wissen der Welt gesammelt haben; ein Speichergedächtnis waren zum Teil auch die Klosterbibliotheken irischer Mönche, die heidnische griechische und römische Manuskripte gerettet und aufbewahrt haben, und ein Speichergedächtnis ist nicht zuletzt der Wüstensand oder die Erde, die materielle Überreste konserviert und, oft durch Zufälle, einer viel späteren Epoche wieder ausgeliefert hat. Entscheidend ist jedoch, dass erst der Historismus dem Speichergedächtnis zu gesellschaftlichen Institutionen wie Museen, Akademien und Universitäten verholfen hat. In dieser erst zweihundertjährigen Geschichte des historischen Bewusstseins für zeitlichen Abstand und binnenkulturelle Differenzen liegen auch die Wurzeln unserer Geisteswissenschaften; ihre gesellschaftliche Lizenz besteht darin, sich um Dinge zu kümmern, die nach den Kriterien der jeweiligen Gegenwart weder nützlich oder unmittelbar relevant sind. Das heißt keineswegs, dass sie bedeutungslos sind, doch muss die Bedeutung, die potentiell in ihnen steckt, erst einmal historisch rekonstruiert oder ihnen deutend zugeschrieben werden. Die Archive sind ebenso Voraussetzung und materielle Grundlage historischer Forschung wie die Sammlungen, Akademien und Bibliotheken. Diese Institutionen sind der Pflege des ‚historischen‘ Wissens einer Gesellschaft gewidmet. Während das ‚aktuelle‘ Wissen einerseits in der lebensweltlichen Alltagskommunikation und andererseits in naturwissenschaftlicher Forschung und Technik zirkuliert, tragen sie Sorge dafür, dass Zeugnisse und Artefakte, die für die Gesellschaft ihre aktuelle Bedeutung verloren oder noch nicht wieder gewonnen haben, nicht nur geschützt und aufgehoben, sondern darüber hinaus konserviert, katalogisiert, aufbereitet, gedeutet und wieder zugänglich gemacht werden. Ästhetisierung und Historisierung sind zwei neue Wahrnehmungsformen, die Ende des 18. Jahrhunderts zu einem Strukturwandel des kulturellen Gedächtnisses geführt haben.
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III. Kulturelles Gedächtnis um 1900 – Historismuskritik und Bildungsoffensive Hundert Jahre später hat sich Friedrich Nietzsche, als klassischer Philologe selbst Geisteswissenschaftler, zum Phänomen des Historismus geäußert und ein weniger positives Bild von ihm gezeichnet. Er bediente sich dabei der Begriffe Leben und Historie, die ich hier mit Funktionsgedächtnis und Speichergedächtnis gleichsetzen möchte.14 Nietzsche sah in der Etablierung der Institutionen des Speichergedächtnisses eine schwere Bedrohung des kulturellen Funktionsgedächtnisses. Grundiert wurde seine Krisenrhetorik durch eine zugleich pessimistische und agitatorische Katastrophen-Metaphorik; Nietzsche sprach von einem Dammbruch des Wissens, von einem Ansteigen der Flut, und von einem Überspülen aller lebensnotwendigen Orientierungsmarken. Das historische Wissen, so stellte er alarmiert fest, „strömt aus unversieglichen Quellen immer von neuem hinzu und hinein, das Fremde und Zusammenhanglose drängt sich, das Gedächtnis öffnet alle seine Tore.“ (Hervorhebung AA) Das bedeutet, immer noch Originalton Nietzsche: „alle Grenzpfähle sind umgerissen und alles, was einmal war, stürzt auf den Menschen zu.“15 (Hervorhebung AA) Ein Gedächtnis, das alle seine Tore öffnet, kann schwerlich noch als ein Gedächtnis angesprochen werden. Das jedenfalls war Nietzsches Standpunkt. Deshalb fragt er, was denn aus den Türwächtern des Gedächtnisses geworden ist, die ehemals dafür sorgten, dass das Relevante vom Irrelevanten und das Lebenswichtige vom Beliebigen getrennt wurden. Ohne ein Konzept von Identität und Standpunkt in der Geschichte (Nietzsche benutzte statt des Wortes ‚Identität‘ Begriffe wie ‚Charakter‘ und ‚Horizontbildung‘), kann es nach Nietzsche kein Gedächtnis geben. Das Phänomen des Gedächtnisses wird von ihm deshalb von der Notwendigkeit des Ausschließens, des Vergessens, kurz: von den Pförtnern her konzipiert. Ein Gedächtnis, das alle seine Tore öffnet, ist vielleicht Speicher, aber kein Gedächtnis mehr. Nietzsches Gegenvision zu diesem Katastrophenszenario war der gebildete Mensch, der sich nicht vom angespeicherten Wissen erdrücken lässt, sondern sein Wissen selbst zu begrenzen und in den Dienst des Lebens zu stellen vermag. Die Fähigkeit, die Wissensflut für sich selbst eindämmen und einen lebensdienlichen Wissenshorizont aufbauen zu können, hielt Nietzsche für die wichtigste Errungenschaft der Bildung, die er als eine individuelle Aufgabe konzipierte. Tatsächlich waren im 19. Jahrhundert nicht nur die historischen Wissenschaften freigesetzt, sondern, worüber Nietzsche in seiner Schrift kein Wort verliert, auch die festen Konturen eines kollektiven nationalen Gedächtnisrahmens eingezogen
_____________ 14 Friedrich Nietzsche: „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben.“ Unzeitgemäße Betrachtungen. In: Werke in drei Bänden, Bd. 1. Hrsg. v. Karl Schlechta. München: Hanser 1962, 209-285. 15 Ebd., 231.
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worden. Die Entgrenzung des Wissens wurde mit einer ‚Bildungsoffensive‘ beantwortet.16 Ältere kulturelle Institutionen wie der Kanon der Klassiker, das pädagogische Museum und das Denkmal wurden im 19. Jahrhundert neu besetzt als Medien eines nunmehr nationalen Gedächtnisses, das der Fülle des abstrakten, unübersehbaren und relevanzlosen Wissens ein anschauliches und persönlich anzueignendes Identitätswissen entgegensetzen sollte. In dem Maße, in dem das Speichergedächtnis anwuchs, entstanden also auch gesellschaftliche Institutionen eines kulturellen Funktionsgedächtnisses. Aus der Perspektive einer Modernisierungstheorie erscheinen diese als ‚Kompensationen auf Traditionsverlust‘.17 Das schränkt ihre Bedeutung jedoch in unzulässiger Weise ein und macht sie zu einem reinen Epiphänomen. Ich möchte hier statt von ‚Kompensation‘ lieber von ‚Ko-evolution‘ sprechen. Im 19. Jahrhundert entstand eine Spannung, ja eine Kern-Spaltung im kulturellen Gedächtnis, die für eine säkularisierte Gesellschaft typisch ist. Als Produkt dieser Spaltung traten Kunst und Geschichte in doppelter Gestalt auf: als wissenschaftliche Disziplin einerseits und als Gegenstand von Identitätsbildung und Orientierung andererseits. Kunst wurde einerseits verwissenschaftlicht in neuen Disziplinen wie Literatur- und Kunstwissenschaft, und sie wurde gleichzeitig ‚sakralisiert‘ in der Kanonisierung von Bildungsklassikern, die seit 1867, dem so genannten Klassikerjahr, in verschiedenen Verlagen Konjunktur hatten. Entsprechendes gilt aber auch für die Geschichte: Sie wurde verwissenschaftlicht und gleichzeitig ‚sakralisiert‘ in nationalen historischen Mythen, Museen, Jahrestagen und Denkmälern.18 Im 19. Jahrhundert prägt sich die Spaltung von Speicher- und Funktionsgedächtnis mit besonderer Deutlichkeit aus: Während das Speichergedächtnis der historischen Wissenschaften die ungeheuer anwachsenden Wissensmengen geduldig in sich aufnahm, war das nationale Funktionsgedächtnis damit beschäftigt, aus dieser indifferenten Masse eine Auswahl zu treffen, die für lebendige Gedächtnisse Relevanz hatte, erinnerbar war, ein Identitätsangebot machte und Orientierungsfunktion besaß.
_____________ 16 Nietzsches Unterscheidung zwischen wahrer und falscher Bildung und seine Kritik an Institutionen des Funktionsgedächtnisses ist bereits ein Thema seiner ersten ‚Unzeitgemäßen Betrachtung‘ (Anm.14). 17 Diese Position ist insbesondere von der Joachim Ritter-Schule (Hermann Lübbe, Odo Marquard) vertreten worden. 18 Zu dieser Dialektik habe ich mich ausführlicher geäußert in: Arbeit am nationalen Gedächtnis. Eine kurze Geschichte der deutschen Bildungsidee. Frankfurt a.M.: Campus 1993.
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IV. Das kulturelle Gedächtnis um 2000 – Digitalisierung und Materialität Nietzsche hatte die Flut des historischen Wissens als katastrophischen Dammbruch beschrieben; im Internet-Zeitalter dagegen haben die Wassermetaphern einen positiven Klang angenommen; man navigiert beherzt auf hoher See oder surft genussvoll in seichteren Küstengewässern.19 Nietzsche schrieb noch in den Kategorien des Druckzeitalters; mit der neuen technischen Entwicklung der Digitalschrift haben sich diese Begriffe und Vorstellungen inzwischen grundlegend verändert. Die Speicherkapazität der Kultur ist auf der Basis der elektronischen Schrift noch einmal dramatisch ausgedehnt worden. Das Neue an dieser elementar technischen Schrift gegenüber der abstrakten, aber noch sinnlich wahrnehmbaren Alphabetschrift ist, dass sie nicht nur Sprache, sondern auf immer weniger Speicherplatz auch Bilder und Töne zu schreiben vermag. Drei Veränderungen des Speichergedächtnisses, die diese Schrift mit ihrer dazugehörigen Hard- und Software hervorgebracht hat, sollen hier kurz skizziert werden. 1. Die Übertragung von materiellen auf elektronische Datenträger. Stromstöße und Schaltkreise sind von einer anderen Materialität als Pergament, Papier, Silbersalze, Zelluloid und Magnetbänder. Mit der ‚Entmaterialisierung‘ von festen zu flüssigen Datenträgern sind Konsequenzen für das Speichergedächtnis des digitalen Zeitalters verbunden. Informationen, die gelöscht sind, vergehen, ohne Spuren zu hinterlassen. Rückstände fallen keine mehr an, und deshalb können auch keine Schichten mehr durch Ablagerungen entstehen. Die üblichen Speichermetaphern, die sich auf paradigmatische Orte und Depots bezogen wie Magazin, Dachkammer oder Kiste, greifen nicht mehr für die Digitalspeicher. Damit verlieren auch Begriffe wie Zwischenspeicher, Latenz, und vor allem Palimpsest ihre Bedeutung als Beschreibungskategorien für das kulturelle Gedächtnis. Das Internet ist ein riesiger Datenpool ohne Langzeitspeicher. Das Memorieren ist nicht seine Sache. Deshalb liegen seine eigenen Anfänge bereits im Dunkeln. Wer gar in hundert Jahren ein Internetmuseum ausstatten möchte, wird auf Schwierigkeiten stoßen, da seine frühen Stufen nirgendwo archiviert sind. 2. Erweiterung der Speicherkapazität bei drastischer Reduktion der Langzeitstabilität. Jedes Material hat je nach seiner Beschaffenheit andere Verfallsdaten; Stein überdauert Papyrus, weshalb in Ägypten die an die Nachwelt gerichteten Botschaften in Stein gemeißelt und die ephemeren Texte mit der Binse auf Papyrus geschrieben wurden. Ein benediktinischer Schreiber des 15. Jahrhunderts warnte bereits vor dem Gedächtnisverfall des Buchzeitalters. Dabei spielte er die zweitausend Jahre lange Haltbarkeit des Pergaments gegen die nur 200 Jahre des bedruckten
_____________ 19 Vgl. zum Internet als Medium des kollektiven Gedächtnisses die Aufsätze von Angela M. Sumner sowie von Erik Meyer & Claus Leggewie in diesem Band.
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Papiers aus; vom säurehaltigen Holzschliffpapier, aus dem seit Mitte des 19. Jahrhunderts 80 % der Bücher hergestellt wurden, ahnte er noch nichts, von unseren Disketten ganz zu schweigen. Diese mögen zwar, wenn es hoch kommt, zwanzig Jahre halten, was aber angesichts der immer schnelleren Überholung der gesamten technischen Apparatur kaum noch von Bedeutung ist – nach zwanzig Jahren wird man keine Maschinen mehr besitzen, die die alten Datenträger noch lesen können. In der Geschichte der Informationsspeicherung steht die Bequemlichkeit der Aufzeichnung und Kapazitätssteigerung in einem inversen Verhältnis zur Stabilität der Datenträger. 3. Schnelle Zirkulation und erweiterter Zugriff. Neben der Erweiterung der Speicherkapazität steht die Beschleunigung der Übertragungszeit in Nano-Sekunden im Mittelpunkt der neuen Informationstechnologie. An die Stelle des Wartens, Suchens, Nachforschens, Vermutens, Nachdenkens tritt der Wunsch nach blitzschnellem und gezieltem Zugriff auf Information. Die Sehnsucht des Informationszeitalters richtet sich auf unbeschränkten Zugang und direkten Zugriff auf Daten. Die Beschleunigung des Datenflusses schließt immer schnellere Verfallszeiten nicht nur der Datenträger, sondern auch der Information mit ein. Allem für längere Zeit Gespeicherten und nicht Revidierten wohnt der Makel des Veralteten inne. Die angemessene Metapher für das Internet ist deshalb nicht die Bibliothek oder das Archiv, sondern die Börse mit ihren Stimmungsschwankungen und ihrem rapiden Aktualitätsverfall. Mit der elektronischen Verflüssigung von Materialität und der Beschleunigung des Informationsstroms ist das Internet zu einem globalen Forum von Kommunikation und Datenaustausch angewachsen, das (auf der Voraussetzung eines bestimmten technischen Niveaus) höchst ökonomisch und unaufwendig jede mit jedem vernetzen kann. Die Einführung der Druckerpresse hat zu einer enormen Ausweitung von Kommunikation durch Steigerung der Zahl der Leser geführt; ihnen stand dabei eine sehr viel geringere Zahl von Autoren gegenüber. Im Internet, in dem die Zahl nicht nur der Empfänger, sondern auch der Sender sprunghaft angewachsen ist, gestaltet sich die Kommunikationssituation sehr viel symmetrischer als in der Druckkultur. Das massenhafte Verschicken von Botschaften bedarf keiner ‚Autorisierung‘; es ist an keine besonderen Qualifikationen und Rechte mehr gebunden. So eindrucksvoll Kommunikation durch das Internet ausgedehnt und beschleunigt worden ist, so wenig zuverlässig und beständig ist es in seiner Gesamtstruktur. Im Grunde ist das Internet ein Speichergedächtnis ohne Speicher. Als ein virtuelles Gefüge ist es zeitlos; wenn man es auf Zeit beziehen möchte, dann muss man sagen, dass es ganz auf die Gegenwart eingestellt ist; es legt zurück und hält vor, was hier und jetzt tatsächlich gebraucht und aktualisiert wird. Seine Zeitstruktur ist aufgelöst in unendlich viele zeitlose Momente; es ist die Zeit des Klicks, der eine virtuelle Information punktuell aktualisiert. Da alle hineinstellen können, was sie wollen, ist es zwangsläufig amorph und entzieht sich klaren Konturen und einem erkennbarem Profil. Damit spiegelt es die Ver-
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fasstheit einer Gesellschaft, die der Aufgabe immer weniger gewachsen ist, ein für sie relevantes Wissen allgemeinverbindlich zu definieren. Die Kategorien ‚Funktion‘ und ‚Speicher‘ fallen in sich zusammen. Lässt der weltweite Präsentismus des Internets die Vorstellung von Kultur als Gedächtnis womöglich als obsolet erscheinen? Meine These ist, dass die neuen digitalen Medien die Vorstellung von Kultur als Gedächtnis keineswegs obsolet gemacht, sondern umgekehrt erst wirklich hervor getrieben haben. Flimmernder Bildschirm und digitaler Zahlenkode haben ein neues Gefühl für die Materialität der Datenträger, die elektronische Flüchtigkeit hat ein neues Gefühl für ihre Langzeitstabilität, und die Beschleunigung des Informationsflusses hat ein neues Gefühl für die Beständigkeit von Nachrichten erzeugt. Unter diesen Bedingungen kommt den Institutionen des Speichergedächtnisses – den Museen, Archiven und Bibliotheken – eine ganz neue Bedeutung zu. Das Internet umfasst alles, was sich in Information transformieren lässt; dazu gehören Bilder, Texte und Töne – und darüber hinaus: nichts. Es enthält nichts, das sich dieser Transformation versagt: Das sind die Objekte selbst mit ihrer widerständig sperrigen Materialität. Die Objekte – eine Pergamenthandschrift, eine Vase, eine Bronzestatue, ein Kleidungsstück, eine Akte – besitzen jedoch eine irreduzible Materialität, die ein unablöslicher Teil ihrer Identität ist. Die Möglichkeit, Materialität von Objekten abzulösen und sie auf Information zu reduzieren, hat bereits mit der Alphabetschrift begonnen und ist mit der Digitalschrift unendlich gesteigert worden. Diese Virtuosität der Abstraktion hat den weltweit intermedialen Datenaustausch in Gang gesetzt; sie hat uns aber auch die Augen geöffnet für die Eigenschaften, die in der abstrahierten Materialität enthalten sind. Eine solche Eigenschaft ist ihre Echtheit und Authentizität. Handgreifliche sinnliche Objekte bürgen für die Realität einer anderen Zeit und eines anderen Raums, in der Menschen mit ihnen hantierten. Roland Barthes hat sie einmal ironisch „unseren säkularen Reliquien-Schrein“ genannt. Diese Reliquien haben „alle Spuren einer geheiligten Bedeutung abgestreift, außer der einen, dass sie unablösbar sind von etwas, das einst existiert hat und nicht mehr existiert, und sich nun als ein gegenwärtiges Zeichen einer toten Sache darstellt. Darum ist die Profanierung dieser Reliquien gleichbedeutend mit der Zerstörung von Realität.“20 Und wir können hinzufügen: auch gleichbedeutend mit der Zerstörung von historischem Gedächtnis. Dafür möchte ich noch ein letztes Beispiel anführen, das ich bei dem Ethnologen Claude Lévi-Strauss gefunden habe. In einem Kapitel seines Buches über das ‚Wilde Denken‘ widmet er sich den so genannten Tschuringa, das sind länglich ovale Gegenstände aus Holz oder Stein, in die sym-
_____________ 20 Roland Barthes: „Historical Discourse.“ In: Michael Lane (Hrsg.): Structuralism, A Reader. London: Jonathan Cape 1970, 154-155.
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bolische Zeichen eingraviert sind. Jeder Tschuringa verkörpert einen Ahnen und wird dem, der diesen Ahnen wieder verkörpert, zugeteilt. Sie werden stapelweise in Verstecken aufbewahrt und regelmäßig hervorgeholt, um bestimmte Rituale mit ihnen zu verrichten. Lévi-Strauss vergleicht nun diese mythische Praxis der Zentralaustralier mit unseren „alten Urkunden, die wir in Truhen vergraben oder den Geheimfächern der Notare anvertrauen und von Zeit zu Zeit mit der Behutsamkeit, die man heiligen Dingen schuldig ist, besichtigen.“21 Seine Urkunden können hier allgemeiner für historische Objekte stehen. Da die Bedeutung dieser Gegenstände nicht in ihrem Informationswert aufgeht, fragt auch er nach ihrer auratischen Materialität. „Warum liegt uns so viel an unseren Urkunden“, deren Informationsgehalt vielfach in anderer Form festgehalten ist? Sind sie nicht auch nur Papier? Warum empfinden wir es als unwiederbringlichen Verlust, wenn eine Katastrophe sie vernichtet? Lévi-Strauss bringt den sakralen Charakter bestimmter kultureller Artefakte mit dem zusammen, was er ihre „diachronische Bedeutungsfunktion“ nennt. So wie die Tschuringa „greifbare Zeugnisse einer mythischen Periode“ sind, sind die Urkunden greifbare Zeugnisse einer historischen Periode; in beiden Fällen wird eine entschwundene Vergangenheit durch die physische Präsenz dieser Objekte bestätigt. „So wäre auch unsere Vergangenheit, wenn wir unsere Urkunden verlören, zwar nicht aus der Welt, sie wäre aber dessen beraubt, was man ihren diachronischen Lebenssaft zu nennen versucht ist.“22 Hier schließt Lévi-Strauss die interessante Einsicht an, dass Diachronie stets dazu tendiert, sich in Synchronie aufzulösen, und dass es der Widerstände und Hemmungen bedarf, um diese Entwicklung aufzuhalten. Das Aufgehen von Diachronie in Synchronie entspricht durchaus den Prämissen der aktuellen Hirnforschung, von der wir lernen, dass das menschliche Gedächtnis ständig Vergangenheit in Gegenwart transformiert. Diese Tendenz gilt allerdings nur für das synchronisierende Funktionsgedächtnis und nicht für das Speichergedächtnis, das die prägnante physische Existenz und Alterität von Geschichte verbürgt und damit ein Hort von ‚diachronischem Lebenssaft‘ ist. Wir leben heute nicht mehr nur im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks, das die Aura des Originals in Frage stellt, sondern auch im Zeitalter der universalen Informatisierbarkeit aller Daten, das Körperlichkeit und Materialität in Frage stellt. Was uns zu entschwinden droht, ist alles, was nicht in den ebenso rasanten wie homogenen Datenstrom eingespeist werden kann. Mit der Materialität von Artefakten verschwindet aber weit mehr als nur eine geheimnisvolle Aura; mit ihr verschwinden Realität, Geschichte und Gedächtnis. Das Speichergedächtnis ist im Jahre 2000 nicht mehr, was es für Nietzsche vor etwas mehr als hundert Jah-
_____________ 21 Claude Lévi-Strauss: Das wilde Denken. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, 275. 22 Ebd., 279.
Zur Mediengeschichte des kulturellen Gedächtnisses
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ren war: Bedrohung und Widersacher des Gedächtnisses; heute ist es umgekehrt Bürge und Voraussetzung des Gedächtnisses.
V. Schluss Ich möchte meine Überlegungen zur Funktionsweise des kulturellen Gedächtnisses abschließend in vier Thesen zusammenfassen. 1. Der Begriff ‚kulturelles Gedächtnis‘ ersetzt nicht einfach ältere Begriffe wie ‚Tradition‘ oder ‚Überlieferung‘, sondern verweist auf ein dynamisches und labiles Verhältnis zwischen dem, was gänzlich vergessen, verdrängt, abgestoßen wird, dem, was gespeichert und aufbewahrt wird, und dem, was aktuell von vielen als Teil ihrer kulturellen Identität erinnert wird. 2. Das kulturelle Gedächtnis ist keine universale Größe, sondern etwas, das jeweils abhängig ist von den jeweiligen Medien, die in einer Gesellschaft zur Anwendung kommen. Es verändert seine Struktur tief greifend mit dem Medienwandel von Oralität zu Schriftlichkeit, von Schriftlichkeit zu Druck, von Druck zu Fotografie, von Fotografie zu neuen auditiven und visuellen Medien und ihrer Digitalisierung. 3. Das kulturelle Gedächtnis ist nicht nur medienabhängig, es verändert sich auch in der Geschichte. Der Anstoß für eine Aufgliederung in Speicher- und Funktionsgedächtnis war bereits mit dem Übergang von mündlicher zu schriftlicher Kultur gegeben, sie ist aber erst im 19. Jahrhundert institutionell befestigt worden. Das sich im Speichergedächtnis kumulierende Wissen ist zunächst perspektivenlos und unbewertet. Bedeutung, Ordnung und Zusammenhang gewinnt es erst durch wissenschaftliche Deutung, Rekonstruktion, Animation. Im Funktionsgedächtnis stehen umgekehrt Werte wie Verbindlichkeit, Identitätsbildung und Orientierungskraft im Mittelpunkt. Hier geht es um Vermittlung und Aneignung von identitätsrelevantem Wissen. Die Ausweitungen und Entgrenzungen des Speichergedächtnisses und die Engführungen des Funktionsgedächtnisses sind dialektisch aufeinander bezogen. Seither gibt es in westlichen Gesellschaften zwei unterschiedliche Formen des Vergangenheitsbezugs: Im Funktionsgedächtnis wird sie präsent und lebendig erhalten, im Speichergedächtnis kann man sich von ihr distanzieren und ihrer Alterität innewerden. 4. Die Spaltung zwischen Funktions- und Speichergedächtnis schließt Überlappungen und Wechselwirkungen zwischen beiden Seiten keineswegs aus. Im Gegenteil: Für den Wandel und die Erneuerung des kulturellen Gedächtnisses ist es sogar entscheidend, dass die Grenze zwischen Funktions- und Speichergedächtnis nicht hermetisch ist, sondern in beiden Richtungen überschritten werden kann. Aus dem vom Willen und Bewusstsein ausgeleuchteten Funktionsgedächtnis fallen beständig Elemente ins Archiv zurück, die an Interesse verlieren; aus dem
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Speichergedächtnis können neue Entdeckungen ins Funktionsgedächtnis heraufgeholt werden. Die komplexe und flexible Struktur des kulturellen Gedächtnisses beruht nicht zuletzt auf diesem Spannungsverhältnis von Funktions- und Speichergedächtnis, d. h. von Erinnertem und Vergessenem, Eigenem und Fremdem, Synchronem und Diachronem, Bewusstem und Unbewusstem, Manifestem und Latentem.
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Das Außen des Erinnerns: Was vermittelt individuelles und kollektives Gedächtnis? Auf die Frage nach Medien des Gedächtnisses liefert die psychologische Forschung keine explizite Antwort. So ist zunächst festzustellen, dass die Gedächtnispsychologie dem Begriff des Mediums so gut wie keine Aufmerksamkeit schenkt. Vergeblich sucht man in den Registern des Oxford Handbook of Memory1, des Bandes „Gedächtnis“ der Enzyklopädie der Psychologie2 oder der Überblicksarbeiten von Baddeley, Dörner und van der Meer, Engelkamp und Zimmer, Groeger, Lüer und Lass, Markowitsch, Neisser, Parkin, Schacter oder Squire und Kandel3 nach einem entsprechenden Eintrag.4 Auch eine Durchsicht aktueller Publikationen in relevanten Fachzeitschriften und Beiträge auf einschlägigen
_____________ 1 Endel Tulving & Fergus I. M. Craik (Hrsg.): The Oxford Handbook of Memory. New York: Oxford UP 2000. 2 Dietrich Albert & Kurt-Hermann Stapf (Hrsg.): Gedächtnis. Enzyklopädie der Psychologie. Themenbereich C, Serie II, Bd. 4. Göttingen: Hogrefe 1996. 3 Alan Baddeley: Human Memory. Theory and Practice. Hove, UK: Psychology Press 1997 [1990]; Johannes Engelkamp & Hubert D. Zimmer: The Human Memory. A Multi-Modal Approach. Seattle: Hogrefe & Huber 1994; Dietrich Dörner & Elke van der Meer (Hrsg.): Das Gedächtnis. Probleme, Trends, Perspektiven. Göttingen: Hogrefe 1995; John A. Groeger: Memory and Remembering. Everyday Memory in Context. Harlow, UK: Addison Wesley Longman 1997; Gerd Lüer & Ute Lass (Hrsg.): Erinnern und Behalten. Wege zur Erforschung des menschlichen Gedächtnisses. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1997; Hans-Joachim Markowitsch: Dem Gedächtnis auf der Spur. Vom Erinnern und Vergessen. Darmstadt: Primus 2002; Ulric Neisser (Hrsg.): Memory Observed. Remembering in Natural Contexts. New York: W. H. Freeman 1982; Alan J. Parkin: Erinnern und Vergessen. Wie das Gedächtnis funktioniert – und was man bei Gedächtnisstörungen tun kann. Bern: Hans Huber 2000; Daniel L. Schacter: Wir sind Erinnerung. Gedächtnis und Persönlichkeit. Reinbek: Rowohlt 1999; Larry R. Squire & Eric R. Kandel: Gedächtnis. Die Natur des Erinnerns. Heidelberg: Spektrum 1999. 4 Für eine Ausnahme außerhalb der engeren Fachgrenzen der Psychologie siehe die interdisziplinär vernetzten Einträge zu diversen Medien wie Schrift, Computer oder Fotografie in Nicolas Pethes & Jens Ruchatz (Hrsg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon. Reinbek: Rowohlt 2001.
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Konferenzen zeigt, dass Medien für die zentralen Forschungsfelder oder einflussreichen Theorien offenbar keine eigens definierte Rolle spielen.5 Zwar hat die gedächtnispsychologische Grundlagenforschung keinen eigenständigen Medienbegriff anzubieten; jedoch hat sie auf vielfältige Weise und mit nicht unbeträchtlichem Erfolg kognitive Prozesse und Mechanismen untersucht, durch die Gedächtnisleistungen und Erinnerungen vermittelt werden. Der Versuch, einen genuin gedächtnispsychologischen Medienbegriff bzw. eine intensionale oder extensionale Definition eines Medium des Gedächtnisses zu entwickeln, würde sich auf vergleichsweise unsicherem Terrain bewegen und vermutlich den Rahmen des vorliegenden Kapitels sprengen.6 Die intensive Untersuchung der Prozesse und Operationen des Gedächtnisses in der jüngeren psychologischen Forschung legt vielmehr nahe, die Frage nach den Medien des Gedächtnisses auf eine prozessuale Formel zu bringen, etwa in eine Form, die dem operativen Verb „vermitteln“ den Vorzug vor dem Substantiv „Medium“ gibt: „Was vermittelt Gedächtnis?“ Statt zu fragen, was ein Medium des Gedächtnisses aus psychologischer Perspektive ist, wird also ausgehend von etablierten und in der Forschung vielseitig verwendeten Konzepten skizziert, durch welche Instanzen, Operationen und Mechanismen Gedächtnis- und Erinnerungsleistungen vermittelt werden. Neben die Unterscheidung von Vermittlungsinstanzen treten im vorliegenden Kapitel zwei weitere, fundamentale Unterscheidungen, zum einen zwischen internen und externen Vermittlungsprozessen, zum anderen zwischen verschiedenen Gedächtnissystemen (v.a. episodisch versus semantisch). Ausgehend von der ersten Unterscheidung wird eine Kritik an der einseitigen Fokussierung der
_____________ 5 Zwar hat sich seit einigen Jahren die Medienpsychologie als Subdisziplin, auch mit eigener Vertretung durch eine Fachgruppe in der Deutschen Gesellschaft für Psychologie, etabliert. Medienpsychologie ist jedoch primär an der Beeinflussung des menschlichen Erlebens durch Informationen aus bzw. Interaktionen mit verschiedenen, konventionell definierten Medien (wie Computer, Fernsehen, Presse) interessiert und untersucht Gedächtnis allenfalls als eine neben vielen anderen betroffenen Größen des psychischen Geschehens. Vereinzelt sind dabei Untersuchungen zum Einfluss verschiedener Medien auf Gedächtnisleistungen durchgeführt worden. Beispielsweise wurde verglichen, ob Versuchsteilnehmer/innen dieselben Informationen nach Darbietung in einem Film, von einem Tonband oder in Form eines Textes am besten behalten können (Adrian Furnham, Eddie Proctor & Barrie Gunter: „Memory for Material Presented in the Media. The Superiority of Written Communication.“ In: Psychological Reports 63 (1988), 935-938). Diese Forschungsansätze sind insofern problematisch, als sie unterstellen, dass Informationen bei der Darbietung in verschiedenen medialen Formaten unverändert bleiben, und lassen so die inhaltliche Spezifität bzw. Selektivität von Medien außer Acht (vgl. hierzu auch Roland Posner: „Kultursemiotik.“ In: Ansgar Nünning & Vera Nünning [Hrsg.]: Konzepte der Kulturwissenschaften: Theoretische Grundlagen, Ansätze, Perspektiven. Stuttgart: Metzler 2003, 39-72, 43ff.). 6 Inwiefern Kommunikationsinstrumente (wie Schrift, Bilder oder Töne), Technologien zur Informationsverbreitung oder objektivierte Informationsangebote Gedächtnismedien darstellen, wird an anderer Stelle im vorliegenden Sammelband auf instruktive und differenzierte Weise diskutiert. Vgl. dazu etwa den Beitrag von Aleida Assmann in diesem Band.
Das Außen des Erinnerns
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kognitiven Psychologie auf die Ebene der inneren Speicherung nachgezeichnet. Als Alternative zu den „intern-kognitiven“ Ansätzen schlugen Endel Tulving und Kollegen ein Modell zur Interaktion von Innen und Außen vor, das die zentrale Rolle von externen Hinweisreizen beim Erinnern betont. Diese Modellvorstellung impliziert die Unterscheidung von episodischem Erinnern, dem selbstbezogenen Wiedererleben vergangener Erfahrungskontexte, und semantischem Gedächtnis, dem unpersönlichen Wissen von der Welt. Im Anschluss daran wird erörtert, inwiefern diese beiden Gedächtnissysteme in unterschiedlichem Ausmaß von externen Vermittlungsinstanzen profitieren können. Insofern der Ausgangspunkt des vorliegenden Beitrags psychologische Ansätze sind, die bekanntlich das individuelle Erleben und Verhalten bzw. das psychische System des Menschen erforschen, ist zunächst nicht von kollektivem Gedächtnis die Rede. Erst im letzten Abschnitt des Kapitels wird versuchsweise diese überindividuelle Dimension des Gedächtnisses aus psychologischer Sicht charakterisiert. Es wird schließlich zwischen einem kollektiv-episodischen und einem kollektiv-semantischen Gedächtnis unterschieden – in der Hoffnung, auf Grundlage dieser Unterscheidung auch die externe Vermittlung von Gedächtnisleistungen differenzierter analysieren zu können.
I. Eine zweideutige Leitfrage: Was vermittelt Gedächtnis? Bewusst wurde die Leitfrage „Was vermittelt Gedächtnis?“ so gewählt, dass der ambivalente Kasus des Fragepronomens „Was“ (Nominativ oder Akkusativ) der Uneindeutigkeit des Genitivs im Titel des Tagungsbandes („Medien des Gedächtnisses“) entspricht. Der Ausdruck „Medium des Gedächtnisses“ lässt schließlich offen, ob Gedächtnis vermittelt wird oder selbst vermittelt. Diese doppelte Lesart wirft zwei Fragen auf: Zum einen ist zu untersuchen, zwischen welchen Einheiten Gedächtnis vermittelt; zum anderen ist zu bestimmen, welche Einheiten oder Instanzen das Vermögen bzw. die Leistungen des Gedächtnisses ermöglichen bzw. vermitteln. Die erste Lesart der Leitfrage („Wozwischen vermittelt Gedächtnis?“) berührt die fundamentale Leistung des Gedächtnisses selbst. Diese Leistung in allgemeiner Form zu benennen ist dabei keineswegs trivial, u.a. weil die gedächtnispsychologische Forschung zunehmend die Einheitlichkeit des Gedächtnisses in Frage gestellt und es in eine Vielzahl verschiedener, spezialisierter Gedächtnissysteme und -prozesse aufgelöst hat.7 Diesen und anderen Komplikationen zum
_____________ 7 Vgl. z.B. Baddeley: Human Memory (Anm. 3), 3ff.; John Morton: „Memory.“ In: Samuel Guttenplan (Hrsg.): A Companion to the Philosophy of Mind. Oxford: Blackwell 1993, 433-441; Thomas Städtler: „Gedächtnis.“ In: Ders.: Lexikon der Psychologie. Wörterbuch, Handbuch, Studienbuch. Stuttgart: Kröner 1998, 345-348; Daniel L. Schacter, Anthony D. Wagner & Randy L. Buckner: „Memory Systems
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Trotz besteht durchaus ein Konsens über die Kriterien, aufgrund derer sich das Vorliegen einer Gedächtnisleistung feststellen lässt: Wenn vergangene Ereignisse gegenwärtiges Verhalten oder Erleben eines Individuums systematisch beeinflussen, muss ein Gedächtnis vorliegen, das zwischen beidem vermittelt.8 Aus Sicht einer humanwissenschaftlichen Disziplin wie der Psychologie ist darauf hinzuweisen, dass der Gradmesser für Gedächtnisleistungen stets die Beeinflussung aktueller psychischer Prozesse bzw. gegenwärtigen Verhaltens von Personen durch vergangene Ereignisse ist. Externe Faktoren oder „Medien“ (wie Denkmäler, literarische Texte, Bilder, Fotografien oder auch Gedenkfeiern, Architektur und Fernsehsendungen) können daher niemals selbst Gedächtnisleistungen vollziehen.9 Wenn vergangene Ereignisse nur Wirkungen auf unbelebte Materie, also rein physikalische Folgen haben, dann würden wir kaum – höchstens in einem metaphorischen Sinn – von Gedächtnisprozessen sprechen. So machen wir für die Wirkung eines Impulses auf einen festen Gegenstand (z.B. die Bewegung eines Balls als Folge eines Fußtritts) nicht ein „Gedächtnis“ des Gegenstands verantwortlich. Ebenso wenig erscheint es demzufolge angemessen, einer Landschaft, die durch den Ausbruch eines Vulkans verändert wurde, eine Erinnerung an das verändernde Ereignis, also die Eruption, zuzusprechen. Ereignisse wie der Tritt gegen einen Ball oder ein Vulkanausbruch werden zum Geof 1999.“ In: Tulving & Craik (Hrsg.): Oxford Handbook (Anm. 1), 627-643; Harald Welzer & Hans J. Markowitsch: „Umrisse einer interdisziplinären Gedächtnisforschung.“ In: Psychologische Rundschau 52 (2001), 205-214. Die Gegenposition eines einheitlichen Gedächtnisses (unitary memory) wird jedoch weiterhin vertreten, vgl. stellvertretend Jonathan K. Foster & Marko Jelicic (Hrsg.): Memory: Structure, Function, or Process? Oxford: Oxford UP 1999. 8 Im vorliegenden Zusammenhang ist bewusst von vergangenen „Ereignissen“ anstatt von „Erfahrungen“ die Rede, um auch Phänomene des kollektiven Gedächtnisses erfassen zu können. Denn für das kollektive Gedächtnis kann nicht vorausgesetzt werden, dass die gegenwärtigen Folgen des Vergangenen immer auf den unmittelbaren, eigenen Erfahrungen einer Person (oder Gruppe) beruhen. Würde sich Gedächtnis ausschließlich auf vergangene Erfahrungen der betroffenen Personen selbst beziehen, so könnten viele Fälle des kollektiven oder gesellschaftlichen Bezugs zur Vergangenheit, beispielsweise das Vergegenwärtigen von nicht selbst erlebten historischen Ereignissen wie Kriegen oder Staatsgründungen, nicht zum Bereich des Gedächtnisses gezählt werden. Von Gedächtnis zu sprechen soll also auch dann möglich sein, wenn die auf vergangene Ereignisse rekurrierende Person an diesen nicht selbst beteiligt war. 9 Zu Menschen als Vollzugsinstanzen von Gedächtnis vgl. auch den Kommentar Wolfgang Schönpflugs zu Aleida Assmanns kürzlich publizierter integrativen Systematik der Gedächtnisforschung (Aleida Assmann: „Vier Formen des Gedächtnisses.“ In: Erwägen, Wissen, Ethik [EWE] 13 [2002], 183-190): „Mein Mißtrauen richtet sich gegen die Tendenz, Medien, Artefakte, Relikte losgelöst von Akteuren und Prozessen des Erinnerns als Gedächtnisse zu definieren. Ich bestehe darauf: Es bedarf der Akteure des Erinnerns, die sich dieser Mittel bedienen. [...] Ohne Repräsentation und Kontrolle finden Archive, Relikte und andere externe Informationen im Prozeß des Erinnerns keine Beachtung. Sie bleiben Bibliotheken ungelesener Bücher, Datenfriedhöfe, verstaubter Fundus.“ (Wolfgang Schönpflug: „Grammatik des Erinnerns.“ In: Erwägen, Wissen, Ethik [EWE] 13 [2002], 222-225.)
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genstand eines Gedächtnisses nur dann, wenn das Erleben oder Handeln von Menschen durch deren Auftreten verändert wird. In der zweiten Lesart der Ausgangsfrage „Was vermittelt Gedächtnis?“ stellt Gedächtnis nicht mehr das Subjekt, sondern das Objekt der Vermittlungsprozesse dar („Wodurch wird es vermittelt?“). Im Anschluss an die einschlägige Theoriebildung der kognitiven Psychologie können hierunter diejenigen Instanzen verstanden werden, die für die gegenwärtige Verfügbarkeit von Informationen zu vergangenen Ereignissen verantwortlich sind und somit Gedächtnisleistungen ermöglichen: (1) Enkodierung, (2) Speicherung und (3) Abruf.10 Die Enkodierung meint die Aufzeichnung eines Ereignisses in der Form eines Codes bzw. als Information.11 Enkodierung führt in einem abstrakten Sinn zur Markierung einer Differenz, die durch das Eintreten eines Ereignisses erzeugt wird.12 Enkodierung kann auf intern-psychischer Ebene vollzogen werden, indem ein Ereignis bzw. ein Gegenstand wahrgenommen, also durch sensorische Register aufgenommen und in Strukturen der internen Informationsverarbeitung überführt wird. Ebenso können Ereignisse auch außerhalb von Personen eine Differenz markieren, indem sie eine materielle bzw. physische Wirkung auf Gegenstände haben, deren Resultat Menschen als informationshaltig und bedeutsam auffassen. So stellt z.B. die Aufzeichnung eines Ereignisses in schriftlicher oder bildlicher Form eine Weise der externen Enkodierung dar. Die Speicherung ermöglicht das Fortbestehen der enkodierten Information, der markierten Differenz in der Zeit. Auf interner Ebene leisten dies beispielsweise kognitive oder neuronale Repräsentationssysteme, auf externer Ebene dienen hierzu materielle Speicherstrukturen wie z.B. Schrifttafeln, Zeichnungen, Archive, Computer, Gebäude etc. Beim Abruf schließlich kommt es zur Aktualisierung der enkodierten und gespeicherten Informationen, also zur Wirkung der Differenz, die durch ein vergangenes Ereignis erzeugt worden war. Zu unterscheiden vom Abruf selbst sind die Anlässe bzw. Auslöser für den Abruf. Prinzipiell kann jedes Objekt, jeder Reiz in der Umwelt bzw. jeder interne kognitive Prozess Anlass für den Abruf von gespeicherten Informationen sein – vorausgesetzt, es besteht ein Bezug zur Phase der Enkodierung, in der ein ursprüngliches Ereignis stattgefunden hat. So kann die Werbung eines Reisebüros Erinnerungen an einen vergan-
_____________ 10 Vgl. zur etablierten Sicht der Instanzen bzw. Stufen von Gedächtnisleistungen stellvertretend Robert G. Crowder: Principles of Learning and Memory. Hillsdale, NJ: Erlbaum 1976; Rolf Ulrich, Kurt-Hermann Stapf & Markus Giray: „Faktoren und Prozesse des Einprägens und Erinnerns.“ In: Albert & Stapf: Gedächtnis (Anm. 2), 95-179. 11 Vgl. auch Gerald Echterhoff: „Encodierung, Decodierung.“ In: Pethes & Ruchatz (Hrsg.): Gedächtnis und Erinnerung (Anm. 4), 140-141. 12 Diese Differenz kann sowohl in semiotischer Hinsicht, im Hinblick auf ihren Zeichencharakter oder Informationsgehalt, als auch in materiell-pragmatischer Hinsicht, also im Hinblick auf physikalisch-physische Aspekte der Speicherung, beschrieben werden; vgl. Stefan Rieger: „Speichermedien.“ In: Pethes & Ruchatz (Hrsg.): Gedächtnis und Erinnerung (Anm. 4), 550-553.
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genen Urlaub wachrufen oder die vom Versuchsleiter vorgelegte Frage, ob ein Wort in einer vorher dargebotenen Lernliste vorkam, die Erinnerung an das vorherige Lesen des Wortes auslösen. Ebenso werden Anlässe zum Abruf von Informationen auch innerhalb des psychischen Systems erzeugt. Diese interne Generierung von Abrufhinweisen wird uns bewusst, wenn wir mithilfe bestimmter Strategien versuchen, uns an eine zunächst nicht abrufbare Information zu erinnern (z.B. an den Ort, an dem man einen Schlüssel abgelegt hat, oder an ein wenig geläufiges Fremdwort). Gedächtnis als (syntaktisches) Subjekt der Leitfrage „Was vermittelt Gedächtnis?“ vermittelt somit zwischen vergangenen Ereignissen und aktuellem Verhalten und/oder Erleben von Personen. Gedächtnis als (syntaktisches) Objekt der Leitfrage wird durch die drei sequenziell aufeinander folgenden Instanzen (Stufen, Prozesse) der Enkodierung, Speicherung und des Abrufs vermittelt. Enkodierung, Speicherung und Abrufanlässe können sowohl der internen Ebene der individuellen, psychischen Informationsverarbeitung als auch der externen Ebene der (physischen, sozialen, kulturellen) Umwelt eines kognitiven Systems zugeordnet werden, während die letztendliche Aktualisierung von Gedächtnisleistungen in der Gegenwart (Abruf) stets durch menschliche Akteure und deren Informationsverarbeitung realisiert wird. Inwiefern die Gedächtnispsychologie externe Faktoren von Gedächtnisleistungen, sozusagen das Außen des Erinnerns, berücksichtigt, soll im folgenden Abschnitt exemplarisch skizziert werden.
II. Das Außen des Erinnerns: Externe Bedingungen des individuellen Gedächtnisses Die psychologische Gedächtnisforschung bemühte sich seit Beginn der so genannten kognitiven Wende in den 1950er Jahren zunehmend um eine Erhellung der vom Behaviorismus ignorierten Black Box, also der internen Verarbeitungsstrukturen und -prozesse. Die konsequente Orientierung am verheißungsvollen neuen Paradigma mag ein Grund dafür sein, weshalb die Gedächtnispsychologie, die die behavioristische Lernpsychologie Schritt für Schritt ablöste, lange Zeit externe Faktoren und Erinnerungsanlässe weitgehend unberücksichtigt ließ. Zu Beginn der 1970er Jahre wurde diese konzeptuelle Schieflage vermehrt kritisiert und eine stärkere Beachtung äußerer, also außerhalb des kognitiven Verarbeitungssystems vorliegender Bedingungen von Gedächtnisprozessen gefordert. Interne Speicherung sei eben nur die halbe Wahrheit, so die seinerzeit vorgebrachte These. In diesem Sinne betonten die Arbeiten des Gedächtnispsychologen Endel Tulving die zentrale Rolle von externen Bedingungen und Abrufhinweisen (so genannten Cues). Das von Tulving und Thomson erstmals dargestellte
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Konzept der Enkodierspezifität besagt etwa, dass die Möglichkeit des Erinnerns von der Übereinstimmung zwischen Enkodier- und Abrufkontext abhängt.13 Demzufolge kann sich eine Person eher dann an Erfahrungen erinnern, wenn sie sich wieder in ähnlichen Umgebungen oder Umwelten befindet.14 In weiteren Arbeiten argumentierte Tulving, dass Merkmale des Cues (also etwa die Formulierung einer Gedächtnisabfrage) direkten Einfluss darauf nehmen, wie und in welcher Form wir Erinnerungen an eine vergangene Erfahrungsepisode erleben.15 Die Erinnerung an eine Urlaubsreise vom vergangenen Jahr hängt beispielsweise von dem jeweils aktuellen Abrufanlass ab: Ob der Auslöser das Werbeplakat eines Reiseveranstalters oder die Frage eines Freundes nach den Erfahrungen mit einem fremden Kulturkreis ist, prägt durchgreifend die spezifischen Inhalte (z.B. ein Abendessen, der Besuch von Bauwerken, eine erfolgreiche Zimmersuche), die Detailgenauigkeit oder die affektiv-emotionale Färbung der Erinnerung. Die bewusste Erinnerung resultiert demnach aus der Interaktion von intern gespeicherter Information (auch Engramm genannt) und den auslösenden äußeren Bedingungen. Diesen konstruktiv-synergischen Verschmelzungsprozess zwischen Innen und Außen bezeichnete Tulving im Rückgriff auf eine bis dato wenig beachtete Schrift des deutschen Anatomen und Zoologen Richard Semon als Ekphorie.16 Ein Cue zeigt also nicht einfach an, auf welchen Bereich des internen Speichers zugegriffen werden soll, sondern wird selbst integraler Bestandteil der Erinnerung. Als empirischen Beleg für die Interaktion von intern gespeicherten Erfahrungsspuren und äußeren Abrufbedingungen führte Tulving Untersuchungen von Elizabeth Loftus und Mitarbeitern zu Falscherinnerungen an.17 In einer Studie sollten sich Versuchsteilnehmer/innen an einen vorher dargebotenen Film erinnern, der einen Verkehrsunfall zeigte. Als Abruffrage wurde eine der beiden fol-
_____________ 13 Endel Tulving & Donald M. Thomson: „Retrieval Processes in Recognition Memory. Effects of Associative Context.” In: Journal of Experimental Psychology 87 (1971), 116-124; Endel Tulving & Donald M. Thomson: „Encoding Specificity and Retrieval Processes in Episodic Memory.“ In: Psychological Review 80 (1973), 352-373. 14 Enkodierspezifität wurde auch in Untersuchungen zum kontextabhängigen Lernen belegt. In einer viel zitierten Untersuchung sollten sich Taucher an Land und unter Wasser Wörter einprägen. Der Abruf der Wörter war um 40% verbessert, wenn Enkodier- und Abrufumgebung übereinstimmten; Duncan R. Godden & Alan Baddeley: „Context-dependent Memory in Two Natural Environments: On Land and Underwater.“ In: British Journal of Psychology 66 (1975), 325-331. 15 Aus der Vielzahl der Arbeiten seien hier genannt: Endel Tulving: „Ecphoric Processes in Recall and Recognition“. In: John Brown (Hrsg.): Recall and Recognition. London: Wiley 1976; Endel Tulving: Elements of Episodic Memory. Oxford: Oxford UP 1983; Endel Tulving: „Précis of Elements of Episodic Memory. “ In: Behavioral and Brain Sciences 7 (1984), 223-238. 16 Richard Semon: Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens. Leipzig: Engelmann 1904. 17 Zum Überblick s. beispielsweise Elizabeth F. Loftus: „The Malleability of Human Memory.“ In: American Scientist 67 (1979), 312-320.
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genden Formulierungen verwendet: (a) „Mit welcher Geschwindigkeit rasten die beiden Autos ineinander?“ oder (b) „Mit welcher Geschwindigkeit trafen die beiden Autos aufeinander?“ Bei Darbietung der ersten Frage schätzten die Versuchsteilnehmer/innen die Geschwindigkeit der beteiligten Fahrzeuge als höher ein und erinnerten viel häufiger, dass Glassplitter auf der Straße gelegen hatten. Die im Engramm enkodierten Informationen konnten sich in beiden Bedingungen nicht unterscheiden, doch die Erinnerungen an den Unfallhergang wichen systematisch voneinander ab. Tulving interpretierte diesen Befund als Beleg für die These, dass das bewusste Erinnerungserlebnis von den Merkmalen des externen Abrufhinweises abhängt (hier von dem Verb in der Abfrage, das jeweils eine unterschiedliche Aufprallwucht suggeriert). Das Ekphorie-Konzept ist bemerkenswerter, als es vielleicht auf den ersten Blick, gerade von außerhalb der Psychologie, erscheinen mag. Denn es widerspricht der Vorstellung, dass es eine Eins-zu-Eins-Beziehung zwischen einer irgendwo intern eingespeicherten Information und der bewussten Erfahrung einer Erinnerung gibt, die aus der Aktivierung dieser Information entsteht. Erinnerung ist demnach nicht einfach nur ein aktiviertes Engramm, wie es auch das folgende Zitat von Daniel Schacter, ein enger Weggefährte Tulvings, anschaulich zum Ausdruck bringt: „Wenn wir uns erinnern, vervollständigen wir ein [von Außen vorgegebenes, G.E.] Muster mit der besten Entsprechung, die im Gedächtnis vorrätig ist. Aber wir richten keinen Scheinwerfer auf ein eingespeichertes Bild.“18 Wie auch die seit den 1980er Jahren vorgelegten Gedächtnismodelle des Konnektionismus postulieren, stellt eine Erinnerung ein emergentes Muster dar, das aus der Interaktion von äußerem Abrufhinweis und internen Erfahrungsspuren entsteht.19 Ein weiterer Kollege von Tulving, Michael Watkins, trieb die Bemühungen um die Externalisierung der Gedächtnispsychologie noch einen Schritt weiter und bezeichnete in einem streitbaren Essay im American Psychologist die gedächtnispsychologische Erforschung der internen Informationsverarbeitung als wissenschaftliche Sackgasse.20 Die Auffassung, nach der Gedächtnisleistungen durch intern gespeicherte Engramme vermittelt seien, titulierte er dort als „mediationism“ – eine Doktrin, nach der Gedächtnis im Wesentlichen durch prinzipiell nicht nachweisbare interne Faktoren vermittelt sei. Statt an der Gedächtnisspur als zentralem Konstrukt festzuhalten, sei es nach Watkins erfolgversprechender, das Forschungsinteresse auf die Kontextbedingungen und Abrufhinweise als Medien des
_____________ 18 Schacter: Wir sind Erinnerung (Anm. 3), 121. 19 Zu konnektionistischen Modellen zu kognitiver Repräsentation und Gedächtnis vgl. etwa David E. Rumelhart & James L. McClelland: Parallel Distributed Processing: Explorations in the Microstructure of Cognition. Vol. 1. Cambridge, MA: MIT Press 1986. 20 Michael J. Watkins: „Mediationism and the Obfuscation of Memory. “ In: American Psychologist 45 (1990), 328-335.
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Gedächtnisses zu richten. Entsprechend dieser Forderung setzte Watkins dem Begriff des internen Engramms das Konzept des cuegram entgegen, mit dem er die extern vorliegende Abrufkonstellation bezeichnete.21 Ebenso wie Tulvings Ekphorie-Konzept hatten jedoch auch Watkins Vorschläge einen vergleichsweise geringen Einfluss auf die gedächtnispsychologische Forschungspraxis.22 Die Forderung nach einer stärkeren Berücksichtigung der äußeren Bedingungen menschlicher Kognition wurde erst in der Folgezeit vermehrt und in verschiedenen Forschungsfeldern laut23, auch in der Gedächtnispsychologie.24 Während also die frühen Ideen zum Außen des Erinnerns ein eher schwaches Echo in der Forschungswelt hervorriefen, war eine konzeptuelle Differenzierung, die mit Tulvings Ekphorie-Ansatz eng verbunden ist, in der psychologischen Gedächtnisforschung außerordentlich wirkungsvoll: die Unterscheidung von episodischem Gedächtnis und semantischem Gedächtnis. Denn die von
_____________ 21 Michael J. Watkins: „Engrams as Cuegrams and Forgetting as Cue Overload. A Cueing Approach to the Structure of Memory. “ In: C. Richard Puff (Hrsg.): Memory Organization and Structure. New York: Academic Press 1979, 347-372. Schon Maurice Halbwachs, der bekanntlich eine der frühesten Theorien zu den kollektiven und sozialen Dimensionen des Gedächtnisses formuliert hat, bestritt die Innerlichkeit der Erinnerungsprozesse und betonte die Unerlässlichkeit äußerer Faktoren des Abrufs: „Es gibt da nichts zu suchen, wo sie [die Erinnerungen, G.E.] sind, wo sie aufbewahrt werden, in meinem Kopf oder in irgendeinem Winkel meines Geistes, zu dem ich allein Zugang hätte; sie werden mir ja von außen ins Gedächtnis gerufen [...].“ (Maurice Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1985.) 22 Vereinzelt wird in jüngster Zeit Watkins’ Konzept des cuegram bzw. seine Erklärung von Abrufausfällen (Vergessen) durch cue overload wieder berücksichtigt, vgl. etwa Michelle M. Arnold & Stephen D. Lindsay: „Remembering Remembering.“ In: Journal of Experimental Psychology: Learning, Memory, and Cognition 28 (2002), 521-529; Hartmut Blank: „The Role of Horizontal Categorization in Retroactive and Proactive Interference. “ In: Experimental Psychology 49 (2002), 196-207. 23 Vgl. etwa Edwin Hutchins: Cognition in the Wild. Cambridge, MA: MIT Press 1994; Gavriel Salomon (Hrsg.): Distributed Cognitions. Psychological and Educational Considerations. Cambridge, UK: Cambridge UP 1993; oder für den Bereich des (mikro-)sozialen Kontexts John M. Levine, Lauren B. Resnick & E. Tory Higgins: „Social foundations of cognition.“ In: Annual Review of Psychology 44 (1993), 585-612; Lauren B. Resnick, John M. Levine & Stephanie D. Teasley: Perspectives on Socially Shared Cognition. Washington, DC: American Psychological Association 1991; Leigh Thompson & Gary L. Fine: „Socially Shared Cognition, Affect, and Behavior: A Review and Integration. “ In: Personality and Social Psychology Review 3 (1999), 278-302. 24 Für einen Überblick vgl. Carl F. Graumann: „Zur Ökologie des Gedächtnisses.“ In: Lüer & Lass: Erinnern und Behalten (Anm. 3), 269-286. Inwiefern Befunde der experimentellen Gedächtnispsychologie von Bedingungen der Kommunikationssituation (qua Konversationsregeln und -pragmatik) abhängen, zeigen Gerald Echterhoff & William Hirst: „Remembering in a Social Context. A Conversational View of the Study of Memory.“ In: Gerald Echterhoff & Martin Saar (Hrsg.): Kontexte und Kulturen des Erinnerns. Maurice Halbwachs und das Paradigma des kollektiven Gedächtnisses. Konstanz: UVK 2002, 75-101. Über Ansätze, die den Einflüssen des sozialen Kontexts auf Gedächtnisprozesse nachgehen, informiert zusammenfassend etwa Mary Susan Weldon: „Remembering as a Social Process.“ In: Douglas L. Medin (Hrsg.): The Psychology of Learning and Motivation. Advances in Research and Theory. Vol. 40. San Diego, CA: Academic Press 2001, 67-120.
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Tulving beschriebenen ekphorischen Prozesse zeichnen sich offenbar dadurch aus, dass sie von einem subjektiven Gefühl der Erinnerung an eine vergangene Erfahrungsepisode, von einem Wiedererleben des Enkodierungskontexts begleitet sind – Merkmale, die auf andere Gedächtnisprozesse wie z.B. den Abruf von Faktenwissen nicht zutreffen. Die daraus resultierende Vorstellung von verschiedenen Gedächtnissystemen ist im vorliegenden Zusammenhang von Bedeutung, da sich aus ihr auch eine Differenzierung der externen Faktoren von Gedächtnisleistungen und der kollektiven Dimensionen des Gedächtnisses ableiten lässt.
III. Die Bedeutung externer Vermittlung: Unterschiede zwischen episodischem und semantischem Gedächtnis Die äußeren Bedingungen bzw. Vermittlungsgrößen von Gedächtnisleistungen wurden im vorherigen Abschnitt – ausgehend von Tulvings Ekphorie-Konzept – v.a. als externe Abrufhinweise und Erinnerungsanlässe dargestellt. Dabei ging es um die Aktualisierung und das Wiedererleben eigener vergangener Erfahrungen. Die im ersten Abschnitt vorgestellte Definition von Gedächtnis sieht natürlich einen viel weiter gefassten Phänomenbereich vor und impliziert keinesfalls, Gedächtnisleistungen gingen stets damit einher, dass wir einen vergangenen Enkodierungskontext wachrufen oder wiedererleben. Um die Bedeutung externer Medien für Gedächtnisleistungen für andere als episodische Formen des Gedächtnisses charakterisieren und damit differenzieren zu können, wird nun eine auf Tulving zurückgehende Unterscheidung von zwei Gedächtnissystemen aufgegriffen.25
_____________ 25 Neben Tulvings Hauptwerk (Elements of Episodic Memory, vgl. Anm. 15) können folgende weitere Arbeiten einem Überblick dienen: Endel Tulving: „Memory and Consciousness.“ In: Canadian Psychology 26 (1985), 1-12; Endel Tulving: „Episodic vs. Semantic Memory. “ In: Robert A. Wilson & Frank C. Keil (Hrsg.): The MIT Encyclopaedia of the Cognitive Sciences. Cambridge, MA: MIT Press 1999, 278-280; Endel Tulving: „Episodic Memory: From Mind to Brain.“ In: Annual Review of Psychology 53 (2002), 1-25. Die Unterscheidbarkeit verschiedener Gedächtnissysteme wurde und wird kontrovers diskutiert (vgl. Anm. 7). Immerhin besteht weitestgehend Einigkeit darüber, dass nicht das phänomenale Erleben, sondern die Dissoziierbarkeit von Gedächtnisleistungen das zentrale Unterscheidungskriterium darstellt. Dissoziierbar sind zwei Gedächtnisleistungen dann, wenn die eine durch bestimmte Einwirkungen oder Bedingungen verändert wird, die andere jedoch nicht. Ein berühmtes neuropsychologisches Beispiel ist der Fall des Patienten K. C., der im Alter von 30 Jahren als Folge eines schweren Motorradunfalls Gehirnverletzungen erlitt; vgl. z.B. Tulving: „From Mind to Brain“, 12ff. Nach dem Unfall war zwar das episodische Gedächtnis von K. C. stark gestört, sein semantisches Gedächtnis blieb jedoch weitgehend intakt. Z.B. weiß er genauso viel wie Mitmenschen über Mathematik, Geschichte oder Geografie, kann sich aber nicht an zentrale Ereignisse wie einen Armbruch, die Nachricht vom Tod seines Bruders oder eine großräumige Evakuierung seiner Wohngegend nach einem Chemieunfall erinnern. Er kann Schach spielen, erinnert aber nicht, dass er selbst jemals gespielt hat.
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Prozesse der Ekphorie fallen nach Tulving in den Bereich des episodischen Gedächtnisses, das die Erinnerung an Erfahrungen eines vorherigen Selbst, ein Wiedererleben vergangener eigener Erlebnisse ermöglicht (to remember, se souvenir). Das episodische Gedächtnis leistet im Unterschied zu anderen Gedächtnissystemen einen Zugriff auf ein früheres Selbst im Kontext der ursprünglichen Enkodierung, es ruft die Umstände der vergangenen Erfahrungsepisode wach und beinhaltet eine mentale Zeitreise des Selbst, „mental travel through subjective time“26. So können wir in der Regel lebhaft eigene Handlungen aus den vergangenen Stunden des Wachbewusstseins, zumindest prägnante Momente aus dieser Zeitspanne, in ihrem raumzeitlichen Kontext aufrufen und aus der Perspektive des früheren Ich wiedererleben. Der Prüfstein episodischer Erinnerungen ist nach Tulving das individuelle Erleben; ohne den phänomenalen Eindruck, dass wir auf die Erfahrungen eines früheren Selbst zurückgreifen, d.h. ohne autonoetisches Bewusstsein, bleiben abgerufene Informationen unpersönlich und leisten keinen bewussten Vergangenheitsbezug. Sie gehören dann anderen Gedächtnissystemen (z.B. dem prozeduralen oder semantischen Gedächtnis) an, die es uns – ganz ohne mentale Zeitreise – gestatten, in der Gegenwart zu handeln und mit Objekten und Ereignissen zu rechnen, die nicht der gegenwärtigen Wahrnehmung zugänglich sind. Das semantische Gedächtnis stellt Wissen über Fakten und Sachverhalte bereit (to know, savoir). Der Abruf semantischer Gedächtnisbestände ist nicht durch ein Wiedererleben vergangener Begebenheiten gekennzeichnet, sondern durch den subjektiven Eindruck, dass die abgerufenen Inhalte gültig sind, dass man sie kennt und mit ihnen vertraut ist. Der Prüfstein für semantisches Gedächtnis ist die Gültigkeit oder Validität der abgerufenen Informationen im Hinblick auf Zustände oder Gegebenheiten in der Welt.27 Zum semantischen Gedächtnis gehört beispielsweise unser Wissen darüber, in welchem Zustand sich Wasser unter dem Gefrierpunkt befindet, dass Diebstahl ein Verbrechen darstellt, was Stalagmiten von Stalagtiten unterscheidet oder wann Charles de Gaulle Staatspräsident war. Für diese Gedächtnisbestände sind spezifische Erwerbskontexte irrelevant, ja in der Regel für die betreffende Person nicht mehr rekonstruierbar. Aus welchen spezifischen Quellen oder raumzeitlichen Enkodierungssituationen wir das Wissen über de Gaulles Präsidentschaft oder den Dreißigjährigen Krieg haben, ist uns in den seltensten Fällen verfügbar und in der Regel nebensächlich. Im Vordergrund stehen im Sinne der gedächtnispsychologischen Begriffsbildung hier eigentlich nicht Erinnerungen, sondern Wissensbestände, die durch Gedächtnisleistungen verfügbar gemacht werden.
_____________ 26 Tulving: „Episodic vs. Semantic Memory” (Anm. 25), 278. 27 Zu den verschiedenen Kriterien der Veridikalität episodischer und semantischer Inhalte vgl. Tulving: Elements of Episodic Memory (Anm. 15), 35ff.
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Semantische Gedächtnisbestände entstehen entweder als wiederholte und über verschiedene Erfahrungskontexte generalisierte Erfahrungen (z.B. Wissen über bestimmte natürliche Gesetzmäßigkeiten wie die Bewegung eines angestoßenen Objekts oder die Flugfähigkeit von Tieren mit Flügeln) oder durch Informationsvermittlung im soziokulturellen Kontext (z.B. Wissen über nicht selbst erfahrbare Sachverhalte wie historische Ereignisse oder über Abstrakta wie Normen und Moral).28 Die erste Art semantischer Gedächtnisbestände ist also stärker auf das Individuum, die zweite Art stärker auf soziale, kulturelle und institutionelle Vermittlung bezogen, wie sie beispielsweise in Erziehung und Schule erfolgt.29 Es sei angemerkt, dass diese Unterscheidung natürlich eine idealisierte Dichotomisierung darstellt und beide Arten des Erwerbs von semantischen Gedächtnisbeständen aus empirischer Sicht vermutlich in Mischverhältnissen auftreten oder in Interaktion stehen. Auch sei darauf hingewiesen, dass semantische und episodische Gedächtnisleistungen keineswegs völlig unabhängig voneinander sind, sondern ebenfalls auf vielfältige Weise miteinander interagieren. Vollständige Dissoziationen zwischen beiden Gedächtnissystemen – wie etwa im Fall des Patienten K.C. (vgl. Fußnote 25) – sind offenbar äußerst selten oder müssen mithilfe spezifischer experimenteller Methoden zu Forschungszwecken erzeugt werden. Auf der einen Seite kann der Abruf semantischer Gedächtnisbestände durchaus durch selbstbezogene, also episodische Erinnerungen begleitet und erleichtert werden. Noch bedeutsamer ist auf der anderen Seite sicherlich der Anteil semantischer Gedächtnisleistungen am episodischen Gedächtnis: Ohne das Verstehen und die Interpretation von Abrufhinweisen sind viele episodische Erinnerungen gar nicht realisierbar.30 Überhaupt müssen wir oft unser Faktenwissen, etwa in der Form von Schemata oder Skripts,31 heranziehen, um vergangene persönliche Erlebnisse rekonstruieren zu können. Auf Grundlage der Unterscheidung zwischen episodischem und semantischem Gedächtnis lässt sich nun die Bedeutung externer Vermittlungsgrößen von
_____________ 28 Ein ganzer Zweig der kognitiven Psychologie ist der Erforschung dieser Prozesse, also des Erwerbs von semantischen Wissensbeständen gewidmet; vgl. etwa Heinz Mandl & Hans Spada (Hrsg.): Wissenspsychologie. München: Psychologie Verlags Union 1988; Kurt Reusser: „Denkstrukturen und Wissenserwerb in der Ontogenese.“ In: Friedhart Klix & Hans Spada (Hrsg.): Wissen. Enzyklopädie der Psychologie. Themenbereich C, Serie II, Bd. 6. Göttingen: Hogrefe 1998. 29 Zu diesen verschiedenen Weisen des Wissenserwerbs vgl. Friedhart Klix & Hans Spada: „Einführung.“ In: Diess.: Wissen (Anm. 28), 71-14. 30 So ordnet auch Tulving im Zusammenhang mit seinem Ekphorie-Konzept Cues bisweilen dem Bereich semantischer Informationen zu; vgl. Tulving: „Memory and Consciousness“ (Anm. 25), 7ff. 31 Vgl. etwa Frederic C. Bartlett: Remembering. A Study in Experimental and Social Psychology. Cambridge: Cambridge UP 1932; Roger C. Schank & Robert P. Abelson: Scripts, Plans, Goals, and Understanding. Hillsdale, NJ: Erlbaum 1977.
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Gedächtnisleistungen differenzieren. So spielen bei der Vermittlung von semantischen Gedächtnisleistungen externe Weisen der Enkodierung und Speicherung eine vergleichsweise wichtigere Rolle als beim episodischen Erinnern. Dies gilt in erster Linie für sozial und kulturell vermittelte Bestände des semantischen Gedächtnisses, die ein Individuum nicht aufgrund eigener Wahrnehmung oder Erfahrungen mit der Welt erwirbt und die ohne externe Enkodierung (Aufzeichnung) oder Speicherung nicht verfügbar wären. So besäßen wir heutzutage kein Wissen über weit zurückliegende historische Ereignisse, wären die entsprechenden Informationen oder Berichte nicht extern aufgezeichnet und gespeichert worden, beispielsweise durch schriftliche Augenzeugenschilderungen, Tagebücher oder andere, Historikern/innen wohl vertraute Quellen. Die meisten der prototypischen oder einschlägigen Medien (z.B. Schrift, Fotografie, Archive oder auch Massenmedien) tragen zu dieser Art der Vermittlung des semantischen Gedächtnisses bei, ermöglichen sie doch zuallererst die Enkodierung und Speicherung von Zeichen vergangener Ereignisse. Die Bedeutung externer Vermittlungsgrößen des Gedächtnisses stellt sich also je nach Gedächtnissystem unterschiedlich dar: Das semantische Gedächtnis kann im Unterschied zum episodischen Gedächtnis in einem vergleichsweise großen Ausmaß von externer Enkodierung und Speicherung profitieren. Gewiss kann auch episodisches Erinnern durch externe Aufzeichnungen wie etwa eigene Tagebuchnotizen ermöglicht werden; doch diese fungieren im Sinne des Ekphorie-Konzepts eher als Abrufhinweise denn als Speicherinstanzen. Zwar kann es unter bestimmten Bedingungen auch zu Verwechslungen von selbst erlebten Erfahrungen und Informationen aus völlig anderen Quellen kommen,32 beispielsweise zu episodischen Erinnerungen an Ereignisse, die bloß von anderen Personen oder in den Medien berichtet wurden.33 Gleichwohl stellen solche Quellenfehlattributionen eher die Ausnahme als die Regel beim Erinnern dar, da wir offenbar durchaus die Fähigkeit zur adäquaten Quellenidentifikation besitzen und nicht einem unentwirrbaren Durcheinander von Informationen aus verschiedensten Quellen ausgeliefert sind.34 Die Integration bzw. der Import von extern
_____________ 32 Vgl. Untersuchungen zur fehlerhaften Quellenattribution von Gedächtnisbeständen und Repräsentationen, wie sie etwa Marcia Johnson und Kolleginnen im Zusammenhang mit dem mittlerweile populären Source Monitoring-Konzept berichten; Marcia K. Johnson, Shahin Hashtroudi & D. Stephen Lindsay: „Source Monitoring.“ In: Psychological Bulletin 114 (1993), 3-28. 33 Vgl. u.a. Michelle L. Meade & Henry L. Roediger: „Explorations in the Social Contagion of Memory.“ In: Memory & Cognition 30 (2002), 995-1009; Harald Welzer, Sabine Moller & Karoline Tschuggnall: „Opa war kein Nazi“. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt a. M.: Fischer 2002; Harald Welzer: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München: Beck 2002, 177ff. 34 Zu unseren Möglichkeiten der korrekten Quellenattribution vgl. Karen J. Mitchell & Marcia K. Johnson: „Source Monitoring. Attributing Mental Experiences.“ In: Tulving & Craik: Oxford Handbook (Anm. 1), 179-195, 180.
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aufgezeichneten bzw. extern gespeicherten Informationen in das persönliche episodische Erinnern ist offenbar prinzipiell möglich, jedoch weder Voraussetzung für die Aktualisierung der episodischen Erinnerung schlechthin noch der Normalfall des episodischen Erinnerns. Die Verfügbarkeit semantischer Gedächtnisbestände – v.a. von institutionell oder kulturell basiertem Wissen – hängt hingegen in vielen Fällen konstitutiv von der vorangegangenen externen Aufzeichnung und Speicherung ab. Individuen könnten semantisches Gedächtnis in weiten Bereichen erst gar nicht erwerben, wenn die entsprechenden Informationen nicht durch externe Enkodierung und Speicherung, beispielsweise durch Bücher, Fotos, Archive oder Museen, verfügbar wären. Somit ist die Bedeutung verschiedener externer Vermittlungsebenen (Enkodierung, Speicherung, Abrufanlässe) zwischen dem episodischen und semantischen Gedächtnissystem ungleich, sozusagen asymmetrisch verteilt: Externe Aufzeichnung und Speicherung stellt für viele Bereiche des semantischen Gedächtnisses eine notwendige Bedingung dar, nicht jedoch für episodische Erinnerungsvollzüge.
IV. Die kollektive Dimension von episodischem und semantischem Gedächtnis Der vorliegende Sammelband ist mit zwei komplexen und schwierig fassbaren Aspekten von Gedächtnis befasst: den Medien des kollektiven Gedächtnisses. Die beiden Schlüsselbegriffe „Medien“ und „kollektiv“ eint, dass sie in einem alltäglichen Sprachgebrauch zwar eine hohe Einprägsamkeit haben, aber einer exakten Explikation und Analyse nicht leicht zugänglich sind. Die bisherigen Ausführungen dienten primär der Annäherung an den ersten Aspekt, indem untersucht wurde, durch welche (v.a. externen) Faktoren und Instanzen Gedächtnis vermittelt wird. Dabei stand zunächst der Bereich des individuellen Erinnerns und Gedächtnisses im Vordergrund. Inwiefern lassen sich nun aus den bisherigen Überlegungen auch Implikationen für die Betrachtung überindividueller, kollektiver Gedächtnis- und Erinnerungsprozesse herleiten? Da in der Forschung verschiedene Vorschläge zur Definition des Kollektiven am kollektiven Gedächtnis kursieren und keine konsensuelle Begriffsbildung zu verzeichnen ist,35 möchte ich zunächst von einer vergleichsweise einfachen Be-
_____________ 35 Zur Problematik der Definition einer kollektiven Dimension von Gedächtnis vgl. Jeffrey K. Olick: „Collective Memory. The Two Cultures.“ In: Sociological Theory 17 (1999), 333-348; Dirk Reinhardt: „‚Kollektive Erinnerung‘ und ‚kollektive Identität‘. Zur Frage der Übertragbarkeit individualpsychologischer Begriffe auf gesellschaftliche Phänomene.“ In: Clemens Wischermann (Hrsg.): Die Legitimität der Erinnerung und die Geschichtswissenschaft. Studien zur Geschichte des Alltags. Stuttgart: Franz Steiner Verlag 1996, 87-99.
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griffsbestimmung ausgehen und diese erst im Verlauf der Argumentation kritisch hinterfragen und ergänzen: Im Sinne von William Hirst und David Manier, die kürzlich eine beachtenswerte Taxonomie verschiedener Arten des kollektiven Gedächtnisses aus psychologischer Perspektive vorgelegt haben,36 ist Gedächtnis dann kollektiv, wenn es von mindestens zwei Personen geteilt wird. Schon im Fall zweier beteiligter Personen ist Gedächtnis demnach überindividuell und daher kollektiv. Im Zusammenhang mit der Charakterisierung von kollektivem Gedächtnis haben Gedächtnispsychologen jüngst die Berücksichtigung der episodisch/semantisch-Unterscheidung gefordert. Ohne diese beiden unterschiedlichen Arten von Gedächtnisleistungen auseinander zu halten, mangele es der interdisziplinären Gedächtnisdebatte an Differenzierungsvermögen.37 Die folgenden Überlegungen sollen in knapper Form ausloten, zu welchen Ergebnissen und Einsichten eine Einlösung dieser Forderung gelangen kann. IV.1 Kollektiv-episodisches Gedächtnis Erweitert man das Konzept des episodischen Gedächtnisses auf eine kollektive Dimension, so müssen die wesentlichen Merkmale dieses Gedächtnissystems auf eine Mehrzahl von Personen bezogen werden. Kollektiv-episodisches Gedächtnis liegt im Anschluss an die bisherigen Überlegungen dann vor, wenn mindestens zwei Personen sich bewusst an eine gemeinsame vergangene Erfahrung und deren raumzeitlichen Kontext aus der Erlebensperspektive erinnern. Kollektivepisodisches Erinnern bezieht sich also auf eine Erfahrungsepisode, die alle Beteiligten gemeinsam erlebt haben und die sie gemeinsam abrufen. Damit ist die Größe und der Charakter des betreffenden Kollektivs begrenzt: Die Mitglieder einer ganzen Kultur, Nation oder auch Organisation werden nur selten dieselben unmittelbar wahrgenommenen Erlebnisse und Ausgangserfahrungen teilen und später gemeinsam wieder erleben. Das prototypische soziale Gebilde, das kollektiv-episodische Erinnerungen ermöglicht, ist somit die Gruppe, d.h. eine Mehrzahl von Personen, die direkt miteinander interagieren, unterschiedliche Rollen einnehmen und durch bestimmte Faktoren (wie Normen oder Wir-Gefühl) zusammengehalten werden.38 Zu kollektiv-episodischem Gedächtnis zählen somit ge-
_____________ 36 William Hirst & David Manier: „The Diverse Forms of Collective Memory.“ In: Echterhoff & Saar: Kontexte und Kulturen des Erinnerns (Anm. 24), 37-58. 37 Vgl. Edgar Erdfelder: „Auf dem Wege zu einer interdisziplinär verwendbaren Systematik des Gedächtnisses?“ In: Erwägen, Wissen, Ethik (EWE) 13 (2002), 197-200; Hirst & Manier: „The Diverse Forms of Collective Memory“ (Anm. 36), 41ff.; Harald Welzer: „Weiße Flecken und Grenzkonflikte – die Kartierung des Gedächtnisses.“ In: Erwägen, Wissen, Ethik (EWE) 13 (2002), 230231. 38 Vgl. zur Definition einer Gruppe etwa Muzafer Sherif & Carolyn W. Sherif: Social Psychology. New York: Harper & Row 1969.
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teilte Erinnerungen einer Gruppe an ein von allen Mitgliedern geteiltes Erlebnis, beispielsweise die gemeinsame Rekonstruktion einer vergangenen Weihnachtsfeier durch die Familienmitglieder.39 Während beim Prozess des Erinnerns alle Gruppenmitglieder physisch kopräsent sein müssen, ist es durchaus möglich, dass sie das vergangene Ereignis nicht am selben Ort erlebt haben. So kann z.B. auch von kollektiv-episodischen Gedächtnisleistungen gesprochen werden, wenn sich eine Gruppe von Freunden an das im Fernsehen übertragene Endspiel einer Fußballweltmeisterschaft erinnert.40 Seit den 1990er Jahren hat kollektiv-episodisches Gedächtnis auch zunehmend als Gegenstand der empirischen Forschung Beachtung gefunden. Beispielsweise wurde untersucht, inwiefern gemeinsames Erinnern in Gruppensituationen zu einem gesteigerten Abruf von vorher dargebotenen Informationen führt, z.B. indem Mitglieder einander ansonsten nicht vorhandene Abrufhinweise zur Verfügung stellen (cross-cuing). Der wesentliche Befund dieser Forschungsbemühungen besteht darin, dass das gemeinsame Erinnern keineswegs zu einer Verbesserung der Erinnerungsleistung, sondern eher zu einer „kollektiven Hemmung“ (collective inhibition) führt.41 Diese kann dadurch erklärt werden, dass die Abrufstrategien der Gruppenangehörigen miteinander interferieren und dominante Mitglieder die Erinnerungsversuche der übrigen unterbrechen. Da die mentale Organisation und Repräsentation von Informationen sich häufig interindividuell unterscheiden, also idiosynkratisch sind, können nicht alle Gruppenmitglieder gleichermaßen von einer bestimmte Abrufstrategie profitieren. Die Anzahl der kollektiv erinnerten Information kann demnach hinter der Schnittmenge der individuell möglichen Erinnerungen zurückbleiben. Während es in diesen Untersuchungen primär um die Quantität von erinnertem Material ging, haben andere Forschungsansätze eher qualitative Aspekte der Erinnerungsleistung in Gruppen betont. So konnten etwa William Hirst und Mitarbeiter in ihren Studien zum kommunikativen Erinnern in Gruppen zeigen,
_____________ 39 Auch Hirst und Manier bezeichnen in ihrer Taxonomie des kollektiven Gedächtnisses die Gruppe als dasjenige Kollektiv, in dem episodisches Erinnern erfolgt; Hirst & Manier: „The Diverse Forms of Collective Memory“ (Anm. 36), 41f. 40 Die Kollektivierung episodischen Erinnerns kann eine Reihe spezifischer Leistungen erfüllen, z.B. auf kognitiver Ebene die Distribution von zu erinnernden Informationen, interaktive Abrufhilfe oder die Vergewisserung einer Sichtweise auf die Vergangenheit durch gegenseitige Bestätigung bzw. auf sozialer Ebene die Etablierung und Sicherung von Gruppenkohärenz oder die Entstehung und Festigung von Rollen. 41 Vgl. Mary S. Weldon & Krystal D. Bellinger: „Collective Memory. Collaborative and Individual Processes in Remembering.“ In: Journal of Experimental Psychology: Learning, Memory, and Cognition 23 (1997), 1160-1175; Peter R. Meudell, Graham J. Hitch & Petty Kirby: „Are Two Heads Better than One? Experimental Investigations of the Social Facilitation of Memory.“ In: Applied Cognitive Psychology 6 (1992), 525-543; Peter R. Meudell, Graham J. Hitch & M. M. Boyle: „Collaboration in Recall. Do Pairs of People Cross-cue Each Other to Produce New Memories?“ In: The Quarterly Journal of Experimental Psychology 48A (1995), 141-152.
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dass Gedächtnisaufgaben gemäß der Rollenstruktur der Gruppe auf die Mitglieder verteilt werden. Offenbar prägt der kollektive Erinnerungsprozess, also das Gruppengespräch über das vergangene Erlebnis, auch die individuellen Erinnerungen der Gruppenmitglieder nach der gemeinsamen Rekonstruktion. Wenn ein dominanter Erzähler (narrator) beteiligt ist, wird dessen Vergangenheitsversion zu großen Teilen in die individuellen episodischen Erinnerungen übernommen. Dominiert kein zentraler Erzähler das Gruppenerinnern, dann beinhalten die späteren individuellen Erinnerungen im Wesentlichen die Schnittmenge derjenigen Erinnerungen, die schon vorher auf individueller Ebene bestanden und im Gespräch wechselseitig bestätigt werden konnten.42 Diese Ausführungen machen auch deutlich, welche spezifischen Medien des kollektiv-episodischen Gedächtnisses denkbar sind bzw. durch welche Faktoren kollektiv-episodische Gedächtnisleistungen vermittelt werden. Im Sinne des Ekphorie-Konzepts beim individuellen episodischen Gedächtnis sind hier die Abrufhinweise zu nennen, die die Aktualisierung und das bewusste Wiedererleben einer vergangenen Erfahrungsepisode ermöglichen. Beim kollektiv-episodischen Erinnern spielen Abrufhinweise von anderen Gruppenmitgliedern eine besondere Rolle. Obwohl auch beim Gruppenerinnern sicherlich Cues aller Art wirksam werden können, sind die resultierenden Erinnerungen doch v.a. durch die „kollektiven“ Cues geprägt, allein schon, weil sie besonders zahlreich sind und ihnen besondere Aufmerksamkeit zukommt. Diese spezifisch kollektiven Abrufhinweise ergeben sich aus der physischen Präsenz sowie aus den (verbal und nonverbal vollzogenen) Erinnerungsversuchen und -beiträgen der Gruppenmitglieder. Auch wenn das cross-cuing offenbar nicht zu einer quantitativen Steigerung der Gedächtnisleistung führt, so zeigen die Befunde von Hirst und Kollegen/innen doch, dass die Inhalte bzw. die Qualität der Erinnerungen tiefgreifend durch Kommunikationsbeiträge (die nichts anderes sind als kollektiv wirksame Cues) geprägt sein können – gerade wenn ein Gruppenmitglied die Rolle des Erzählers übernimmt. IV.2 Kollektiv-semantisches Gedächtnis Bei der obigen Darstellung des individuellen semantischen Gedächtnisses wurden Wissensbestände, die Individuen vorrangig durch eigene Erfahrungen mit der Welt erwerben, von soziokommunikativ vermitteltem Wissen unterschieden. Die letztere Art von Wissensbeständen ist somit auf externe, gesellschaftlich und kulturell organisierte Enkodierung und Speicherung von Informationen angewie-
_____________ 42 Vgl. William Hirst et al.: „The Social Construction of the Remembered Self: Family Recounting.“ In: Joan G. Snodgrass & Robert L. Thompson (Hrsg.): The Self Across Psychology: Self-recognition, Selfawareness, and the Self Concept. New York: New York Academy of Sciences 1997, 163-188; Alexandru Cuc et al.: „On the Formation of Collective Memories: Conversational Remembering Within Families.“ New School University: Unveröffentlichtes Manuskript 2003.
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sen. Zudem beruht die subjektiv empfundene Gültigkeit des Wissens u.a. auf sozialer Bestätigung sowie der Glaubwürdigkeit der entsprechenden Informationsquellen – seien es einzelne Personen, Gruppen oder Institutionen. Denn den Charakter der Gültigkeit oder Richtigkeit erhalten diese vermittelten semantischen Wissensbestände durch soziale Übereinkunft bzw. aufgrund der Vermittlung durch zuverlässige oder glaubwürdige soziale Quellen. Viele Tatsachen, gerade solcher abstrakter und allgemeiner Natur, treten nicht einfach als Tatsachen in die Welt, sondern werden aufgrund einer Reihe sozialer Konstruktionsund Validierungsvorgänge erst zu solchen. Akzeptierte Fakten, objektive Tatbestände oder allgemein geteilte Auffassungen sind demzufolge tiefgreifend in sozialem Konsens, wie auch immer dieser produziert oder inszeniert sei, verankert.43 An der Bildung bzw. Aufrechterhaltung dieser semantischen Gedächtnisbestände sind somit stets andere Personen, stets soziale Akteure beteiligt.44 Viele Wissensbestände werden in dem Maße als gültig angesehen, in dem sie von anderen Menschen geteilt werden. Beispielsweise ist die überwältigende Mehrheit der Menschen der Auffassung, dass die Erde um die Sonne kreist (ohne dass ihnen Beweise aus der eigenen Anschauung oder Erfahrung vorlägen); und hinreichend viele Menschen teilen das Wissen, dass es die „Frankfurter Rundschau“ nicht an jedem Kiosk gibt. Da mehr als eine Person über die betreffenden Gedächtnisinhalte verfügt, wäre ausgehend von Hirst und Maniers Minimaldefinition hier von kollektivem Gedächtnis zu sprechen. Berücksichtigt man jedoch weitere vorliegende Ansätze zu einer Konzeptualisierung des kollektiven Gedächtnisses in den Kultur- und Sozialwissenschaften, so gewinnt man den Eindruck, dass nicht alles semantische Wissen zum kollektiven Gedächtnis einer Gruppe, Kultur oder Nation gezählt werden kann. Der Übergang von der individuellen zur kollektiven Ebene erfordert, nicht nur auf Einsichten der psychologischen Gedächtnisforschung, etwa zur zentralen Stellung unbewusster, impliziter oder prozeduraler
_____________ 43 Die soziale Bildung und Bestätigung von Wissen hat seit den Anfängen der Sozialwissenschaften und Sozialpsychologie große Beachtung gefunden, vgl. etwa Solomon E. Asch: Social Psychology. Engelwood Cliffs, NJ: Prentice Hall 1952; Daniel Bar-Tal: Shared Beliefs in a Society: Social Psychological Analysis. Thousand Oaks, CA: Sage 2000; Peter L. Berger & Thomas Luckmann: The Social Construction of Reality. Garden City, NY: Double Day 1966; Charles H. Cooley: Human Nature and the Social Order. New York: Schocken Books 1902; Leon Festinger: „A Theory of Social Comparison Processes.“ In: Human Relations, 7 (1954), 117-140; Curtis D. Hardin & E. Tory Higgins: „Shared Reality: How Social Verification Makes the Subjective Objective.“ In: Richard M. Sorrentino & E. Tory Higgins (Hrsg.): Handbook of Motivation and Cognition, Vol. 3. The Interpersonal Context. New York: Guilford Press. 1996, 28-84; Muzafer Sherif: The Psychology of Social Norms. New York: Harper & Brothers 1936. 44 Auf den besonderen Charakter des semantischen Gedächtnisses als „Nahtstelle zwischen individuellem und kollektivem Gedächtnis“ hat kürzlich auch Edgar Erdfelder, ein Vertreter der experimentellen Gedächtnispsychologie, aufmerksam gemacht; vgl. Erdfelder: „Systematik des Gedächtnisses“ (Anm. 37), 199.
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Gedächtnisprozesse, zu beharren, sondern auch die Grundannahmen kultur- und sozialwissenschaftlicher Ansätze einzubeziehen. Damit Wissen nicht bloß geteilt oder verbreitet, sondern auch als kollektiv gelten kann, müssen aus dieser Perspektive noch zwei weitere Qualitäten hinzukommen, die es von der bloßen Kenntnis beliebiger Fakten unterscheiden: zum einen der explizite Bezug auf vergangene (historische) Ereignisse, zum anderen die Valenz bzw. Relevanz dieser Inhalte im Hinblick auf gegenwärtiges Handeln. Die Berücksichtigung dieser beiden Qualitäten ist als eine Voraussetzung für eine integrative und anschlussfähige Begriffsbildung zu verstehen. Im Folgenden werden beide Aspekte kurz erläutert. Erstens basieren viele Begriffsbildungen zu Gedächtnis im gesellschaftlichen oder sozialen Kontext auf der Annahme, dass es einen expliziten, also bewusst repräsentierten Bezug auf Vergangenes herstellt. Demnach sind kollektivsemantische Gedächtnisbestände nicht auf Wissen schlechthin, sondern auf Wissen über vergangene Ereignisse und Begebenheiten zu beziehen.45 Insofern Wissen von Welt, Natur und Kultur, wie gesagt, zu großen Teilen auf interpersoneller Validierung bzw. gesellschaftlichem Konsens beruht, ist es zwar tiefgreifend kollektiv; jedoch weist es in den meisten Fällen keinen ausdrücklichen Vergangenheitsbezug auf. Was ist nun das Vergangene, auf das sich Kollektive explizit beziehen, ohne dass sich die Mitglieder – wie bei kollektiv-episodischen Gedächtnisprozessen – in einer Gruppensituation an geteilte, persönlich erlebte Ereignisse erinnern? Übereinstimmend mit Hirst und Maniers Taxonomie ist davon auszugehen, dass es sich hierbei um das Wissen von historischen Ereignissen und Fakten handelt.46 Zum kollektiv-semantischen Gedächtnis kann demzufolge zwar das Wissen um die Präsidentschaft von Charles de Gaulle gehören, nicht jedoch das Wissen über die Definition einer Primzahl oder von Stalagmiten und Stalagtiten. Somit befindet sich kollektiv-semantisches Gedächtnis in direkter Nachbarschaft zu Repräsentationsformen wie Geschichtswissen oder bewusstsein.47
_____________ 45 Vgl. hierzu auch Aleida Assmann: „Vier Formen des Gedächtnisses – eine Replik.“ In: Erwägen, Wissen, Ethik (EWE) 13 (2002), 231-238, hier 234. Wissen schlechthin kann ihrer Ansicht nach nicht zum kollektiven Gedächtnis gezählt werden. Der Begriff des kollektiven Gedächtnisses soll demzufolge nicht so weit ausgedehnt werden, dass auch Formationen und Ordnungen des Wissens, wie sie u.a. die Sozial- und Kulturwissenschaften seit geraumer Zeit erforschen, darunter fallen. 46 Hirst & Manier: „The Diverse Forms of Collective Memory“ (Anm. 36), 43. 47 Zum Begriff und zur Erforschung des Geschichtsbewusstseins vgl. stellvertretend Bodo von Borries et al. (Hrsg.): Geschichtsbewußtsein empirisch. Pfaffenweiler: Centaurus 1991. Zur Begriffsbildung und zu psychologischen Aspekten von Geschichtsbewusstsein vgl. Jürgen Straub: „Geschichten erzählen, Geschichten bilden. Grundzüge einer narrativen Psychologie historischer Sinnbildung.“ In: Ders. (Hrsg.): Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1998, 81-169, 95ff.
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Zweitens sollten semantische Gedächtnisbestände erst dann als kollektiv gelten, wenn eine Gemeinschaft ihnen aktuelle Relevanz und eine Funktion für gegenwärtiges Handeln zuspricht. So hat etwa Aleida Assmann darauf hingewiesen, dass kollektives Gedächtnis die Mitglieder von Institutionen, Organisationen oder Nationen auf bestimmte Perspektiven auf die Vergangenheit und ein damit verbundenes Selbstbild einschwören soll, somit Identität stiftet und der Selbstvergewisserung eines Kollektivs dient.48 Kollektiv-semantisches Gedächtnis ist demnach nicht bloß historisches Faktenwissen, nicht bloß Wissen über beliebige geschichtliche Begebenheiten, nicht die Art von Wissen, die Kandidaten/innen in der Quizsendung „Wer wird Millionär?“ zum Erfolg verhelfen kann. Vielmehr bezieht es sich auf vergangene Ereignisse, die die Mitglieder eines Kollektivs (immer noch) affizieren und im Hinblick auf ihr aktuelles Handeln relevant sind. Kollektiv-semantische Gedächtnisbestände sind in dieser Hinsicht nicht wertfrei, sondern haben eine bestimmte Valenz, sie sind mit evaluativen Attributen versehen. Beispielsweise ergeben sich aus der kollektiven Erinnerung an den Holocaust oder an Willy Brandts außenpolitische Aktivitäten aktuelle gesellschaftliche Wertvorstellungen und Richtlinien für kollektiv geschätztes Handeln. Kollektivsemantisches Gedächtnis fungiert sozusagen als der Rahmen des Selbstbilds einer Gemeinschaft und appelliert an deren Verantwortungsbewusstsein im Hinblick auf gegenwärtige Handlungen.49 Die ab- und aufgerufenen Ereignisse aus der Vergangenheit sind alles andere als neutrale historische Daten, sie sind aktuell orientierungsbildend, nützlich und damit auch wertvoll. Ausgehend von dieser Kennzeichnung ist nun zu überlegen, auf welche spezifischen Faktoren der externen Vermittlung kollektiv-semantisches Gedächtnis angewiesen ist. Im Unterschied zum kollektiv-episodischen Gedächtnis, das auf den unmittelbaren, persönlich erworbenen Erfahrungen von Gruppenangehörigen beruht, ist kollektiv-semantisches Gedächtnis extern semiotisch fixiert, etwa durch Symbole, Texte, Bilder, Orte oder Monumente.50 Damit enkodierte Informationen zu vergangenen Ereignissen kollektiv wirksam werden können, müssen
_____________ 48 Aleida Assmann: „Vier Formen des Gedächtnisses“ (Anm. 9). 49 Diese Charakterisierung entspricht in Hirst und Maniers Taxonomie dem „gelebten“ semantischen Kollektivgedächtnis (lived semantic memory), das die Autoren vom „distanzierten“ semantischen Kollektivgedächtnis unterscheiden (distant semantic memory). Ersteres umfasst das geteilte Wissen von solchen historischen Ereignissen und Vorfällen, die für die erinnernden Personen persönliche Relevanz besitzen und ein Gefühl der Verantwortung evozieren. Zu dieser Art des kollektivsemantischen Gedächtnisses gehört für US-Amerikaner aus der Generation der Autoren beispielsweise die Erinnerung an den Vietnam-Krieg. Ein Beispiel für distanziertes semantisches Kollektivgedächtnis ist das historische Wissen zum Hundertjährigen Krieg, das keine besondere persönliche Bedeutung aufweist und kaum noch ethische oder politische Implikationen für gegenwärtiges Handeln hat; vgl. Hirst & Manier: „The Diverse Forms of Collective Memory“ (Anm. 36), 43ff. 50 Vgl. Aleida Assmann: „Vier Formen des Gedächtnisses“ (Anm. 9), 186.
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sie den Angehörigen einer Gemeinschaft oder Gesellschaft zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten überhaupt verfügbar sein. Um diese Verfügbarkeit zu gewährleisten, ist eine materielle und/oder technische Speicherung sowie eine Verbreitung, beispielsweise durch Erziehungsinstitutionen oder Massenmedien, erforderlich. Zudem müssen die Rezipienten die entsprechenden Informationen nicht nur oberflächlich aufnehmen, sondern tief enkodieren und vielfältig an bestehendes Wissen anknüpfen,51 um ihnen eine Bedeutung zu verleihen und sie bei verschiedenen Anlässen abrufen zu können. Eine tiefe kognitive Elaboration ist eine Voraussetzung für eine häufige, wiederholte Aktualisierung der entsprechenden Gedächtnisbestände, die wiederum die Verbreitung und Festigung des kollektiven Wissens unterstützt. Auf externer, also etwa gesellschaftlicher Seite muss dafür gesorgt werden, dass Abruf- bzw. Erinnerungsanlässe auch vielfältig und häufig präsent sind, beispielsweise in der Form von Denkmälern, Gedenkfeiern oder auch öffentlichen Erinnerungsdebatten. Damit historisch-semantische Gedächtnisinhalte auch die oben genannten Qualitäten der Relevanz und Orientierungsbildung behalten oder gewinnen, sollten diese externen Vermittlungsweisen auch die affektiv-evaluative Dimension der vergangenen Ereignisse und ihren Bezug zu aktuellem gesellschaftlichen Handeln betonen. Womöglich erhält historisch-semantisches Gedächtnis u.a. dann diese affektivevaluative Relevanz, wenn Personen die Umstände des Wissenserwerbs in ihr episodisches Gedächtnis integrieren; infolgedessen könnte der Wissenserwerb mit dem für episodische Erinnerungen typischen Selbstbezug wieder erlebt werden, der wiederum auf die vermittelten Inhalte ausstrahlen könnte.
V. Schluss und Ausblick Aus dem skizzierten Zugang zu kollektivem Gedächtnis und seiner (externen) Vermittlung ergeben sich Implikationen und Desiderate für die weitere Forschung. So sollte sich die Gedächtnispsychologie sozial- und kulturwissenschaftlichen Einsichten öffnen, um den Übergang von individuellen Gedächtnisprozessen in die vielschichtige Praxis der Erinnerung in heutigen Gesellschaften berücksichtigen zu können und nicht bei formalistischen Detailanalysen oft hypothetischer Mikroprozesse der Informationsverarbeitung zu verharren. Umgekehrt könnten auch kulturwissenschaftliche Ansätze zum kollektiven Gedächtnis von einer Berücksichtigung gedächtnispsychologischer Konzepte profitieren. Einige Streitpunkte und Fragen in den aktuellen Debatten in den Kulturwissenschaften ließen sich zumindest differenzieren und bestenfalls ausräumen, wenn die hier
_____________ 51 Vgl. zur Elaborationstiefe Fergus I. M. Craik & Robert S. Lockhart: „Levels of Processing. A Framework for Memory Research.“ In: Journal of Verbal Learning and Verbal Behavior 11 (1972), 671684.
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dargestellte Unterscheidung verschiedener Gedächtnissysteme Beachtung fände. So ist etwa davon auszugehen, dass sowohl das kulturelle Gedächtnis, wie es Jan Assmann auf so eindrucksvolle Weise dargestellt hat,52 als auch das Speicher- und Funktionsgedächtnis im Sinne Aleida Assmanns53 semantische Gedächtnisbestände beherbergen.54 Wie im vorliegenden Text dargestellt, ergeben sich für die Vermittlung (Enkodierung, Speicherung, Aktualisierung) dieser Art von Gedächtnisbeständen ganz andere Anforderungen als für kollektiv-episodische Inhalte. Während episodische Erinnerungen schon durch die Beteiligung einer Gruppe kollektiviert werden, erscheint der Übergang vom semantischen zum kollektivsemantischen Gedächtnis wesentlich voraussetzungsreicher zu sein: Die hier vorgestellten Überlegungen haben gezeigt, dass die Kollektivierung zunächst bloß semantischer Gedächtnisbestände vermutlich an eine Reihe kognitiver, technischer, sozialer und gesellschaftlicher Bedingungen geknüpft ist, die wiederum auf komplexe Weise untereinander in Beziehung stehen. Diese Bedingungen weiter zu erhellen ist ein Ziel, zu dessen Realisierung eine interdisziplinäre Integration psychologischer und kulturwissenschaftlicher Ansätze hoffentlich einiges beitragen kann.
_____________ 52 Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: Beck 1997 [1992]. 53 Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: Beck 1999; Aleida Assmann: „Vier Formen des Gedächtnisses“ (Anm. 9). 54 Die These, dass sich diese kulturwissenschaftlichen Konzepte im Wesentlichen dem semantischen Gedächtnis widmen, vertritt auch Gerd Lüer: „Wenn Gedächtnishorizonte Kreise ziehen: Wer oder was hat alles ein Gedächtnis?“ In: Erwägen, Wissen, Ethik (EWE) 13 (2002), 216-218.
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Fotografische Gedächtnisse. Ein Panorama medienwissenschaftlicher Fragestellungen I. Wozu eine Medienwissenschaft des Gedächtnisses? Wenn ich mit der Frage einsteige, wozu Medienwissenschaft überhaupt erforderlich sei, so ist dies keineswegs nur kalkulierte Provokation, sondern durchaus ernst gemeint. Denn man wird wohl zugestehen müssen, dass sich Medienwissenschaft kaum auf einen exklusiven Gegenstand oder zumindest eine ureigene Methode stützen kann.1 Beschäftigt man sich etwa mit den Konsequenzen des Buchdrucks für die Literatur, dann bewegt man sich zugleich auf dem Gebiet der Literaturwissenschaft – das trifft nicht zuletzt auf die Medientheorie des Literaturwissenschaftlers Marshall McLuhan zu, dessen Thesen sich nicht von ungefähr auf literarische Quellen stützen.2 Auch die Operation, die vermutlich den Kern medienwissenschaftlicher Arbeit ausmacht, nämlich der Medienvergleich, ist längst vielerorts gang und gäbe. Man kann konstatieren, dass der Unterschied, den ein jeweiliges Medium macht, sich nur im diachronen oder synchronen Vergleich ergibt.3 Immer schon, wenn neue Optionen das etablierte Gefüge der Medien in Unordnung brachten, wurde das neue Medium über Bezugnahme auf vergleichbare Medien zugleich identifiziert und in das System integriert. Das betrifft paradigmatisch schon den von Platon angestellten Vergleich von Oralität
_____________ 1 Man könnte hier auch das von Joseph Vogl und Lorenz Engell vorgeschlagene erste medientheoretische „Axiom“ zur Begründung heranziehen, „daß es keine Medien gibt, keine Medien jedenfalls in einem substanziellen und historisch stabilen Sinn“ (dies.: „Vorwort.“ In: Claus Pias et al. [Hrsg.]: Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard. Stuttgart: DVA 1999, 10). Es ließe sich daraus folgern, dass es ohne Gegenstand Medien auch keine Medienwissenschaft geben könne – oder aber, dass deren vordringlichste Aufgabe sei, ihren Gegenstand zunächst selbst zu konstruieren und sodann die Tragfähigkeit und Produktivität des Konstrukts zu belegen. 2 So wird etwa Shakespeares Werk als Kompendium für medienwissenschaftliche Studien empfohlen; vgl. Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle. Understanding Media. Dresden/Basel: Verlag der Kunst 1994, 24-26. 3 Vgl. Jürgen Fohrmann: „Der Unterschied der Medien.“ In: Transkriptionen 1, März 2003, 2-7.
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und Literalität,4 aber gleichermaßen die hier als Referenzmedium in den Mittelpunkt gestellte Fotografie, die zu älteren visuellen Medien in Kontrast tritt. In diesem Zusammenhang ziehe ich nicht in Zweifel, dass es Sinn macht, ‚Medien‘ im Vergleich zu untersuchen, sondern vielmehr dass dieser Sachverhalt schon per se ein eigenes Fach oder gar eine eigene Disziplin erforderte oder begründete. Es steht also zu prüfen, welche spezifische Leistung eine Medienwissenschaft erbringen kann, was sie beispielsweise zur Frage nach den Medien des kollektiven Gedächtnisses beizusteuern vermag: Meines Erachtens kann es nur darum gehen, jene Kompetenz einzubringen, die aus der Spezialisierung auf eine bestimmte Art von Fragestellung erwächst. Als Medienwissenschaftler operiert man eben nicht nur manchmal, sondern konstitutiv im Modus des Medienvergleichs und kann dabei auch ausdifferenzierteste Vergleichoptionen erproben, die – sagen wir einmal –Techniken des Wahrnehmens, Speicherns und Übertragens voneinander abheben. Im Unterschied etwa zur Literaturwissenschaft betreibt eine in diesem Sinn verstandene Medienwissenschaft nie einzelmedienimmanente Analyse, sondern kontrastiert stets Formen, Praktiken und Effekte in Abhängigkeit von dem, was jeweils als Medien zugrunde gelegt wird.5 Sie definiert sich demnach auch nicht – was lange als bequemer Ausweg erschien – durch die Zuständigkeit für diejenigen Bereiche der Kulturproduktion, die nicht bereits von anderen Fächern abgedeckt werden, namentlich Film und Fernsehen, sondern beobachtet, wie diese Medien im Zusammenhang zu anderen stehen. Medialität ist das, was sich als gemeinsame komparative Plattform zwischen Medien ergibt. In genau diesem Sinn kann es nur einen differenztheoretischen, einen offenen Medienbegriff geben, der nicht einen fest umrissenen Kanon von Medien kennt, sondern einrechnet, dass das, was als die Medien angesprochen wird, auf dem Weg des Vergleichs überhaupt erst erzeugt wird.6 Kultur ist der Bereich, den die Medienforschung aus guten Gründen bisher als ihr Kerninteresse betrachtet hat.7 Wenn Kultur stets eine Kultur der Unter-
_____________ 4 Vgl. Irmela Schneider: „Zur Konstruktion von Mediendiskursen. Platons Schriftkritik als Paradigma.“ In: Angela Krewani (Hrsg.): Artefakte/Artefiktionen. Transformationsprozesse zeitgenössischer Literaturen, Medien, Künste, Architekturen. Heidelberg: Winter 2000, 25–38. 5 Etwas spezifizieren lässt sich die Art des Vergleichs dadurch, dass dabei von dem Medium als „loser Kopplung“ von Elementen ausgegangen wird, in das sich – selektiv und durch das verfügbare Elementrepertoire restringiert – Formen als strikt gekoppelte Elemente einprägen. Wahrnehmbar wäre dabei nur die jeweils aktualisierte enge Kopplung der Form, das Medium hingegen nur indirekt – etwa auf dem Weg des Vergleichs – zu erschließen. Zu dieser Medium/FormUnterscheidung vgl. Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, 190-202. 6 Vgl. ausführlicher Jens Ruchatz: „Konkurrenzen – Vergleiche. Die diskursive Etablierung des Felds der Medien.“ In: Irmela Schneider & Peter Spangenberg (Hrsg.): Medienkultur der 50er Jahre (= Diskursgeschichte der Medien nach 1945. 1). Opladen: Westdeutscher Verlag 2002, 137-153. 7 Zur Konvergenz von Medien- und Kulturwissenschaft vgl. Hartmut Böhme, Peter Matussek & Lothar Müller: Orientierung Kulturwissenschaft. Was sie kann, was sie will. Reinbek: Rowohlt 2000, 179-
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schiede ist, nach Dirk Baeckers Konzeption also dort entsteht, wo bestimmte kollektive Praktiken und Formen durch Vergleich mit andersartigen als kontingent gesetzt werden,8 dann hätte sich die anvisierte Medienwissenschaft damit zu beschäftigen, welche dieser Varianzen auf den Gebrauch unterschiedlicher Medien zurückzurechnen sind. Dabei ist zunächst einmal egal, ob man diese Konsequenzen dem intentionalen Zugriff auf medial eröffnete Möglichkeiten oder der determinierenden Kraft einer als zweite Natur auftretenden Technik zuschreibt.9 Das von mir angekündigte „Panorama medienwissenschaftlicher Fragestellungen“ wird sich folglich auf dem Terrain einer vergleichenden Kulturwissenschaft bewegen und dabei transdisziplinär verfügbares Wissen organisieren, das sich produktiv machen lässt, um am Exempel der Fotografie ein mögliches Verhältnis von Medien und Gedächtnis auszumalen. Für diesen Überblick wird es also darum gehen, verschiedenste Texte als medienwissenschaftliche Beiträge zu lesen, die sich mit der medialen Verfasstheit – kollektiver wie individueller – Gedächtnisse beschäftigen. Einen unhintergehbaren Nexus von Medien und kollektiven Gedächtnissen hat Aleida Assmann beobachtet, wenn sie in Anschluss an Pierre Nora feststellt, „daß weder Kollektivseele noch objektiver Geist hinter dem Gedächtnis der Gruppe steckt, sondern die Gesellschaft mit ihren Zeichen und Symbolen. Über die gemeinsamen Symbole hat der einzelne teil an einem gemeinsamen Gedächtnis und einer gemeinsamen Identität.“10 Lokalisiert man kollektive Gedächtnisse in Zeichen, dann kommen unweigerlich Medien ins Spiel, erfordert jedes aktualisierte Zeichen doch ein Medium, auf dessen Basis es sich als Form überhaupt erst konstituieren kann. In kleinen, homogenen Gruppen, die einen Erfahrungshorizont teilen, der nicht ständig untereinander kommunikativ abgeglichen werden muss, mag Mediengebrauch zur Sicherung der kollektiven Identität auf wenige Anlässe beschränkt bleiben. Große Kollektive, die nicht mehr unmittelbar interagieren können, müssen hingegen verstärkt medialen Aufwand betreiben, um sich eine gemeinsame Vergangenheit zu verschaffen, auf deren Fundament die gegenwärtige Identität der Gruppe sich begründen lässt. Berücksichtigt man darüber hinaus die „konstitutionelle Medialität“ auch indivi202; Siegfried J. Schmidt: Kalte Faszination. Medien, Kultur, Wissenschaft in der Mediengesellschaft. Weilerswist: Velbrück 2000. 8 Vgl. hierzu Dirk Baecker: Wozu Kultur? Berlin: Kadmos 2001 [2000]. Die radikal differenztheoretische Konzeption von Medien lässt sich mit der analogen Konzeption von Kultur engführen. 9 Auch wenn man Medien als wesentliches Fundament von Kultur ansieht, wäre es meiner Ansicht nach falsch, Medien selbst außerhalb der Kultur zu stellen, unterliegen sie doch selbst in Genese wie Implementierung und Ausformung kulturellen Faktoren. Technik mag im einzelnen wie insgesamt als System nicht vollständig kulturell verfügbar sein – sie zeitigt unkalkulierbare Folgen, kulturelle Ansprüche reiben sich an ihrer Materialität – und doch ist sie nicht Gegenspieler, sondern Mitspieler der Kultur. 10 Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: Beck 1999, 132.
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dueller Gedächtnisse, wie Vittoria Borsò unlängst angemahnt hat,11 dann sind wir endgültig bei der universalen Aussage angelangt, dass Gedächtnis immer etwas mit Medien zu tun hat, wie auch Kultur immer etwas mit Medien zu tun hat – und letztendlich nicht viel schlauer als zuvor, wenn wir uns nicht an die Erforschung konkreter Fälle begeben. Ich möchte gleichwohl zunächst auf der allgemeinen Ebene verbleiben, dabei aber einen anderen Weg einschlagen und von den Medien statt von der individuellen wie kulturellen Erfordernis der Identitätssicherung ausgehen.
II. Externalisierung Grundsätzlich scheint es zwei unterschiedliche Modelle zu geben, Medien auf Gedächtnis zu beziehen: Externalisierung und Spur. Externalisierung ist die traditionelle und gewissermaßen wörtliche Konzeption von Medien als Gedächtnis. Ein Medium wird dabei selbst als Gedächtnis oder zumindest als Träger von Gedächtnisinhalten angesehen. Diese Annäherung äußert sich sinnfällig in der ‚Wanderung‘ von Metaphern, in der sich Medien und das so genannte natürliche Gedächtnis wechselseitig erhellen. Beziehen wir uns auf das Beispiel der Fotografie, so ist hier an vorderster Stelle die berühmte Formulierung des Bostoner Arztes und Schriftstellers Oliver Wendell Holmes anzuführen, der 1859 formuliert, bei der Fotografie handele es sich um einen Spiegel mit Gedächtnis, einen „mirror with a memory“.12 Noch konkreter zur Analogie des menschlichen und des fotografischen Vermögens bekennt sich Sigmund Freud in Das Unbehagen in der Kultur: Der Mensch habe mit der „photographischen Kamera [...] ein Instrument geschaffen, das die flüchtigen Seheindrücke festhält,“ wie mit dem Fonografen einen Apparat, der Analoges für das Akustische leiste, und somit „im Grunde Materialisationen des ihm gegebenen Vermögens der Erinnerung, seines Gedächtnisses“ konstruiert.13 Im selben Maße wie die Fotografie als gedächtnisförmiges Bildmedium konzipiert worden ist, hat man das menschliche Gedächtnis durch die Linse der Fotografie betrachtet. „Nach 1839“, dem Jahr der Publikation des fotografischen
_____________ 11 Vgl. Vittoria Borsò: „Gedächtnis und Medialität. Die Herausforderung an die Alterität. Eine medienphilosophische und medienhistorische Perspektivierung des Gedächtnis-Begriffs.“ In: Dies. et al. (Hrsg.): Medialität und Gedächtnis. Interdisziplinäre Beiträge zur kulturellen Verarbeitung europäischer Krisen. Stuttgart: Metzler 2001, 23-53, 25. 12 Oliver Wendell Holmes: „The Stereoscope and the Stereograph.“ [1859] In: Beaumont Newhall (Hrsg.): Photography. Essays & Images. London 1980, 53-62, 54. Die Rede vom Spiegel ist hier nicht nur eine Metapher für exakte ‚Repräsentation‘, sondern bezieht sich auf die reflektierende metallische Oberfläche der Daguerreotypien. 13 Sigmund Freud: „Das Unbehagen in der Kultur.“ [1930] In: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. von Anna Freud. Bd. 14. London/Frankfurt a.M.: Imago/Fischer 1948, 419-506, 449-451.
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Verfahrens, so analysiert Douwe Draaisma in seiner Ideengeschichte der Gedächtnisforschung, „wurde das menschliche Gedächtnis eine lichtempfindliche Platte, präpariert für die Aufnahme, Fixierung und Reproduktion visueller Erfahrung.“14 Nicht weniger aufschlussreich ist die populäre Floskel vom „fotografischen Gedächtnis“, das alles – selbst unbedeutende Details – verlässlich aufzubewahren vermag. Die Psychologie folgt dieser metaphorischen Rede nur ungern, sondern spricht dort, wo sie sich mit dem ominösen Phänomen beschäftigt, dass Wahrnehmungseindrücke beim erinnernden Abruf wieder als Wahrnehmungseindrücke erlebt werden, lieber von eidetischen Bildern.15 Zugleich hat die experimentelle Psychologie aber die Fotografie – wie die anderen Speichermedien auch – zu einem Kontrollorgan gemacht, vor dessen materieller Stabilität sich das menschliche Erinnerungsvermögen nicht nur überhaupt erst erweisen kann, sondern in einem gewissen Sinn auch beweisen muss.16 Parallel zum Argument, dass sich Medien und ‚natürliches‘ Gedächtnis gegenseitig Modell stehen, lässt sich das Konzept der Externalisierung – in funktionalistischer Hinsicht – auch kultur- und menschheitsgeschichtlich untermauern. Eine entsprechende These knüpft sich bereits an den Umbruch von Mündlichkeit zur Schriftlichkeit, seit dem Wissen, das bislang neuronal gebunden für den Wiedergebrauch bereitgehalten werden musste, nun materiell gespeichert diachron wie synchron kursieren kann. Die Folgen sind vielfach diskutiert worden. Für den französischen Anthropologen André Leroi-Gourhan, beispielsweise, ist die technische „Exteriorisierung“ des Wissens die Grundlage für die kulturelle Evolution des Menschen schlechthin: Kenntnisse werden akkumulierbar und so erst im Vergleich verschiedener Perspektiven kritisierbar.17 Aus kulturhistorischer Warte wird mit der Verfügbarkeit externer Speicher die Ausdifferenzierung eines ‚Funktionsgedächtnisses‘ angesetzt, dass sich per Selektion aus einem weitaus größeren
_____________ 14 Douwe Draaisma: Die Metaphernmaschine. Eine Geschichte des Gedächtnisses. Darmstadt: Primus 1999, 124. 15 Vgl. Norma E. Cutts & Nicholas Moseley: „Notes on Photographic Memory.“ In: The Journal of Psychology 71,1 (1969), 3-15, 5: „The general conclusion of the present writers is that there is no such thing as photographic memory in the literal sense of taking a snapshot of a page and filing it in the mind like a photographic print which can be examined at will“; Eric Schwitzgebel: „How Well Do We Know our Own Conscious Experience? The Case of Visual Imagery.“ In: Journal of Consciousness Studies 9 (2002), Nr. 5/6, 35-53, 44: „[…] eidetic imagery, sometimes popularly (but in the view of many theoreticians inaccurately) referred to as ‚photographic memory‘“ . 16 Zu einer psychologischen Perspektive auf Medien des kollektiven Gedächtnisses vgl. den Beitrag von Gerald Echterhoff in diesem Band. 17 Vgl. André Leroi-Gourhan: Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980, 273-295 u. 321-332. Implizit werden orale, tendenziell speicherfreie Gesellschaften damit als defizitär beschrieben; vgl. hier Erhard Schüttpelz: „Das ungeschriebene Gesetz der mündlichen Gesellschaft. Eine Variante der Schrift vor der Schrift.“ In: Claudia Liebrand & Irmela Schneider (Hrsg.): Medien in Medien (= Mediologie. 6). Köln: DuMont 2002, S. 138-153.
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Möglichkeitsraum des ‚Speichergedächtnisses‘ speisen kann.18 Die Geschichte medialer Gedächtnisse ist in diesem Sinn die Geschichte des externalisierten Wissens. Fotografien, die ferne Welten oder vergangene Ereignisse und Lebenswelten zeigen, scheinen sich in dieses Szenario genauso einzufügen wie Knipseraufnahmen, die zur Erinnerung an Urlaubsreisen aufgenommen werden. Sie erleichtern die Akkumulation und Zirkulation von Wissen. Es gibt allerdings ein gewisses Widerstreben, die analogen Aufzeichnungsmedien Fotografie, Fonografie und Film in die Geschichte der Gedächtnismedien einzugliedern: in den einschlägigen Darstellungen folgt auf die Epoche der Buchkultur üblicherweise unmittelbar das Zeitalter der elektronischen Gedächtnisse.19 Das derart implizierte Unbehagen scheint daraus zu resultieren, dass die analogen Medien nicht ohne weiteres als Externalisierung von Gedächtnisbeständen angesprochen werden können. Gedanken, die schriftlich oder in Druckform strukturiert und verbreitet werden – seien es Einkaufszettel, Vorlesungsskripte, Memoiren oder Gedichtbände –, lassen sich ohne viel Mühe als gedächtnisförmig auffassen. Wie aber verhält sich die Sachlage bei den analogtechnischen Medien, die physikalische Reize aufzeichnen, ohne dass menschliche Subjektivität interveniert? Will man dabei im Bild der Externalisierung bleiben, so wäre hier nicht nur das Behalten, sondern auch das Wahrnehmen externalisiert. Siegfried Kracauer hat diesen Unterschied zwischen dem fotografischen und dem menschlichen Gedächtnis wie folgt beschrieben: „Die Photographie erfaßt das Gegebene als ein räumliches oder zeitliches Kontinuum, die Gedächtnisbilder wahren es, insofern es etwas meint.“20 Die Fotografie unterscheidet sich vom menschlichen Gedächtnis also nicht allein darin, dass sie – wie das Speichermedium Schrift vor ihr – das einmal Eingespeicherte unveränderlich bewahrt, sondern mehr noch darin, dass sie den Menschen schon bei der Einspeicherung – bei der Selektion des Erinnernswerten – zu umgehen scheint. Zu Recht wird immer wieder daran erinnert, dass Motiv, Augenblick und Bildausschnitt, Belichtungsdauer und Blendenöffnung, Objektiv und Filmmaterial von der Person gewählt werden, die den Apparat bedient. Es bleibt dennoch dabei, dass das Bild selbst nicht vom Fotografen erzeugt wird, sondern von der chemischen Schicht und der Konstellation der auf sie treffenden Lichtstrahlen. In Kooperation mit der Fotochemie wird das Bild gewissermaßen von dem abgebildeten Ereignis erzeugt, so wie ein Fuß im ‚Medium‘ Sand einen Abdruck hinter-
_____________ 18 Vgl. Aleida Assmann & Jan Assmann: „Das Gestern im Heute. Medien und soziales Gedächtnis.“ In: Klaus Merten et al. (Hrsg.): Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft. Opladen: Westdeutscher Verlag 1994, 114-140, 121-127. 19 Vgl. kritisch hierzu Hartmut Winkler: Medien – Speicher – Gedächtnis [1994]. www.unipaderborn.de/~winkler/gedacht.html (Stand: 28.10.2003). 20 Siegfried Kracauer: „Die Photographie.“ In: Ders.: Das Ornament der Masse. Essays. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977 [1963], 21-39, 25.
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lässt. Das Bestreben insbesondere der Kunstfotografen geht dahin, so vertraut mit diesen Prozessen zu werden, dass sie das komplette Bildergebnis bereits vor dem Motiv ‚prä-visualisieren‘ können.21 Weil aber die Bildgenese selbst ohne menschlichen Zugriff abläuft, bleiben zumindest zwei Dinge, die kein Fotograf vollständig meistern, unter Kontrolle bringen kann: das ist zum einen die Fülle der Details, die sich ins Bild einschreiben, einfach weil sie da sind, ob sie der Fotograf beachtet oder nicht, zum anderen die Zeitspanne der Belichtung, die erst nach der Entscheidung abzudrücken einsetzt, so dass man nie mit letzter Gewissheit kalkulieren kann, was sich während der Öffnung des Verschlusses im Bildfeld wirklich zuträgt. In diesen Unkalkulierbarkeiten und Zufälligkeiten, die jeder Erwartungssicherheit entgegenlaufen, offenbart sich deutlich ein Unterschied zwischen manuell-kognitiver und analog-registrierender ‚Einspeicherung‘.
III. Spur Für den spezifischen Vergangenheitsbezug analogtechnischer Bilder, der diese dauerhaft an die singuläre Situation ihrer Entstehung rückbindet, scheint mir als zweiter Typ medialen Gedächtnisbezugs das Konzept der ‚Spur‘ angemessen. Das Medium ist dabei – anders als im Fall der Externalisierung – keineswegs selbst Spur, sondern nur eine technisierte und standardisierte Möglichkeit, dauerhafte Spuren zu erzeugen. Das spezifische Verhältnis der Spur zur Vergangenheit besteht darin, dass sie nicht als Repräsentation, sondern als Resultat vergangenen Geschehens angesehen wird. Sie zeigt insofern genau jenes singuläre, punktuelle Ereignis an, das sie hervorgebracht hat. Weil Spuren im Gang der Ereignisse grosso modo unintendiert hervorgebracht werden, gelten sie als unvermittelte und damit besonders authentische Zeugnisse des Vergangenen. Doch jede Spur ist schon, sobald sie identifiziert und gedeutet wird, aus der Sphäre des Authentisch-Ursprünglichen in die Kultur zurückgekehrt. Mag dasjenige, was man als Spur ansieht, selbst direktes Ergebnis vergangenen Geschehens sein, so mobilisiert die ‚Lesbarmachung‘ von Spuren der Vergangenheit ein Höchstmaß gegenwärtigen Wissens. Im Gegensatz zu konventionellen Zeichen, die in einem bestimmten erwartbaren Rahmen auftauchen, muss eine Spur zunächst einmal überhaupt als ‚Bedeutungsträger‘ identifiziert und von einer Umgebung abgehoben werden, die nicht als Spur gelten soll. Grundsätzlich ist eine solche Unterscheidung nur möglich, wenn ein bestimmtes Erkenntnisinteresse als Leitlinie verfügbar ist, denn was als Spur, was als Hintergrund fungiert, ist relativ. Spuren sind also weit davon entfernt, unschuldige
_____________ 21 Zur Idee der ‚Prä-Visualisierung‘ vgl. Jens Ruchatz: „Die Chemie der Kontingenz. Zufall in der Fotografie.“ In: Natalie Binczek & Peter Zimmermann (Hrsg.): Eigentlich könnte alles auch anders sein. Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König 1998, 199-223, 221.
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Überbleibsel der Vergangenheit zu sein, sondern werden – im Sinne einer konstitutiven Nachträglichkeit – aus den Interessen und mit den Verfahren der jeweils interpretierenden Gegenwart erst erzeugt. Spuren, das ist der zweite Einwand gegen die Authentizitätsemphase, werden zwar nicht durch einen Code erzeugt, sie müssen aber erst durch einen Code oder funktional äquivalentes Wissen lesbar gemacht werden. Richtiggehende Lektürecodes sind von spezialisierten Spurenlesern nur in Ausnahmefällen erstellt worden. So erlernen Jäger beispielsweise, aus Trittspuren routinemäßig die Art und typischen Eigenschaften eines Tieres zu erkennen. Diese Kodifizierung des Wissens ist jedoch nur möglich, weil dabei von der absoluten Einzigartigkeit des gefolgerten Ereignisses abgesehen wird. Auch Spurenlesen im strengen Sinn, d.h. die Rekonstruktion des einmaligen und spezifischen Geschehens, das die jeweilige Spur hervorgebracht hat, kommt nie darum herum, die Singularität des Ereignisses zu normalisieren, ist man für die Deutung doch stets auf verallgemeinertes Wissen angewiesen, das sich auf den spezifischen Fall anwenden lässt. Fotografische Spuren nehmen hier in gewissem Sinne eine Sonderstellung ein, denn ihr Spezifikum kann darin gesehen werden, dass sie – in Peirce’scher Terminologie gefasst – nicht allein ein vergangenes Ereignis indexikalisch anzeigen, sondern dieses zugleich ikonisch abbilden.22 Genau genommen geht eine Fotografie auf zwei gekoppelte, aber nicht aufeinander abbildbare Ereignisse zurück: einerseits das Auslösen, das sich nur vermittelt in das Bild einschreibt, andererseits das Geschehen vor dem Objektiv, das als zweiter ‚Ursprung‘ auf dem Bild fixiert wird.23 Genau dies formuliert Roland Barthes mit seiner berühmten Feststellung, der Wesenskern, das noema, einer Fotografie bestehe in dem Bewusstsein, „cela a été là“ – oder „[e]s ist so gewesen“, wie es in der deutschen Übersetzung heißt.24 Doch auch, wenn die Fotografie den Informationsgehalt der Spur ikonisch anreichert, bleibt die ‚Lesbarkeit‘ allzu oft blockiert, denn das auf dem Bild Sichtbare ist in aller Regel nur aufwändig zu rekonstruieren. Damit gilt auch hier: Das absolut Konkrete, das der Spur eigentlich anhaftet, wird im Prozess der Deutung unausweichlich relativiert – es sei denn, der Spurenleser war selbst Zeuge des Geschehens und gebraucht die fotografische Spur lediglich als Anlass zur Erinnerung. Auch wenn der Authentizitätsanspruch von Spuren kulturell zu relativieren ist, bleiben sie unter dem Gesichtspunkt der Zeitlichkeit doch eine beunruhigen-
_____________ 22 Zur Anwendung der Peirce’schen Zeichentypologie auf die Fotografie vgl. Philippe Dubois: Der fotografische Akt. Versuch über ein theoretisches Dispositiv. Amsterdam/Dresden: Verlag der Kunst 1998, 27-57. 23 Genau genommen verweist der fotografische Abzug natürlich noch auf ein drittes Ereignis: die Herstellung des Abzugs, die im Prinzip das Fotografieren noch einmal unter anderen Parametern wiederholt. 24 Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985, 126.
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de Erscheinung. In diesem Sinn hat Barthes die Fotografie als „anthropologische Revolution“ charakterisiert, „da das Bewußtsein, das sie impliziert, ohnegleichen ist. Die Fotografie bewirkt nicht mehr ein Bewußtsein des Daseins der Sache (das jede Kopie hervorrufen könnte), sondern ein Bewußtsein des Dagewesenseins.“ Die Botschaft der Fotografie liefere somit eine irreale, „eine unlogische Verquickung zwischen dem Hier und dem Früher“.25 Die Spur verklammert Abwesendes und Anwesendes, insofern die Anwesenheit des fotografischen Bildes – selbst bei der Sofortbildkamera – die Abwesenheit des Abgebildeten impliziert: Was man auf einer Fotografie sieht, ist immer schon vergangen. Durch die ikonische Vergegenwärtigung des Abwesenden wird der Widerspruch von gewusster Vergangenheit und wahrgenommener Gegenwart, die der Spur an sich eignet, noch einmal auf die Spitze getrieben. Es ist diese mediuminhärente Verknüpfung von Vergangenem mit der Gegenwart, die die Fotografie im Sinne der Spur als Gedächtnismedium beschreibbar macht. Über das ‚surplus‘ der ikonischen Repräsentation vergegenwärtigt die Fotografie ein Ereignis in einem Bild, das indexikalisch in der Vergangenheit geerdet ist. Weil dies freilich ausdrücklich unter Umgehung von Subjektivität abläuft und sich somit vom menschlichen Erinnerungsvermögen abhebt, ist die Frage gestattet, inwiefern hier noch von Gedächtnis gesprochen werden kann. Angefangen mit Platons Schriftkritik ist diese Diskrepanz mehr oder minder gegen alle Speichermedien, denen Gedächtnisfunktionen verliehen wurden, eingewandt worden. Die Leistung von Gedächtnismedien kann aber nur darin bestehen, irgendetwas anders als der Mensch zu machen – und sei es nur eine größere Menge Informationen zuverlässiger abzulegen und bereitzuhalten. Allerdings kann Fotografie nicht nur als Spur, sondern auch als Externalisierung gedächtnisartig funktionieren. Im Gegensatz zum Gros der Spuren, die unintendiert als Nebenprodukt von Ereignissen abfallen, werden Fotografien nämlich in der Regel absichtsvoll erzeugt und dabei so konzipiert, dass sie einem imaginierten Erinnerungsbild zumindest nahe kommen. Ist die Spur eher materieller Aufhänger und Anlass von Erinnerung, nämlich der Rekonstruktion der Ursprungssituation, so akzentuiert das Konzept der Externalisierung tendenziell eine bereits angeeignete, subjektivierte Erinnerung. Die analogen Aufzeichnungsmedien – allen voran die Fotografie – führen folglich das Moment der Spur ein, ohne den traditionellen Modus der Externalisierung aufzukündigen. Meiner Ansicht nach spannt sich das Feld medialer Gedächtnisse überhaupt zwischen den beiden Polen Externalisierung und Spur auf. Dabei wäre zu überlegen, ob das Moment der Spur – wenn auch nur als Ziel – nicht bereits älteren Medien innewohnt. Darüber hinaus ist jede medial aktuali-
_____________ 25 Roland Barthes: „Die Rhetorik des Bildes.“ In: Ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, 28-46, 39.
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sierte Form – jeder Text, jedes Foto, jeder Film – Spur zumindest in selbstreferentieller Hinsicht: jedes konkrete mediale Kommunikationsereignis trägt an sich die Merkmale eines bestimmten Zeitpunkts der Medien- und Kulturgeschichte.26 So steht auch für die Zukunft zu vermuten, dass die Digitalisierung, die als Ende der analogtechnischen Aufzeichnung und damit auch deren Gedächtnischarakters verhandelt wird, das Moment der Spur nicht völlig zum Verschwinden bringen wird. Ein digitales Bild, so die technizistische Argumentation, sei nicht mehr in der Lage, die Referenz auf ein spezifisches fotografiertes Ursprungsereignis zu garantieren, denn, was zwar noch wie eine Fotografie aussehe, könne vom Computer einfach aus verschiedensten Daten errechnet worden sein.27 Dieses Argument verwechselt allerdings die technischen Bedingungen der Bildgenese mit den sozialen Praktiken des Mediengebrauchs. Zum einen ist die ‚Authentizität‘ der Fotografie als unmanipulierbare Spur der Vergangenheit überschätzt und insbesondere vor der Folie der digitalen Fotografie massiv übertrieben worden; zum anderen bringt die simple Einführung digitaler Fotografie nicht von selbst bereits den konstatierten Vertrauensverlust in das fotografische Bild hervor.28 Fotografien wurden von jeher montiert, retuschiert oder koloriert, und eine digitale Aufnahme wird nicht per se als manipuliert angesehen, nur weil sie leichter zu manipulieren ist. Zu rechnen wäre am ehesten noch mit einer Umgewichtung der fotografischen Gedächtniskonzeption von der Spur hin zur Externalisierung. Eine solche Transformation ist heute jedoch kaum großflächig vollzogen. Im Folgenden möchte ich zeigen, wie Fotografie als Gedächtnismedium zwischen Externalisierung und Spur changiert, je nach der Ausrichtung der Kontexte, in die sie eingelagert wird. Dabei werde ich die Funktion der Fotografie zunächst im Rahmen öffentlicher Archive und Gedächtnisse, anschließend im Rahmen privater Erinnerungstätigkeit darlegen.
_____________ 26 Dies hat Hartmut Winkler sehr schön am Beispiel der Sprache dargestellt: jeder einzelne Sprechakt trägt an sich die Spuren des Systems Sprache und wirkt umgekehrt selbst als unscheinbarer Akt wieder zurück auf das Gesamtsystem: Jeder flüchtige Sprechakt wird von der Sprachstruktur aufbewahrt; vgl. Hartmut Winkler: Docuverse. Zur Medientheorie der Computer. München: Boer 1997, etwa 148 u. 164-172; Sybille Krämer: „Das Medium als Spur und als Apparat.“ In: Dies. (Hrsg.): Medien – Computer – Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, 7394. 27 Solch ein Bild, so Martin Lister, „may be based on knowledge of, but not caused by, the action of light reflected by a particular object. But what it does refer to is other photographs“. (Ders.: „Photography in the age of electronic imaging.“ In: Liz Wells [Hrsg.]: Photography. A Critical Introduction. London/New York: Routledge 1997, 249-291, 260) 28 Vgl. hierzu ausführlicher Jay David Bolter & Richard Grusin: Remediation. Understanding New Media. Cambridge, Mass./London: MIT Press 1999, 105-112; Jens Ruchatz: „Realismus als dauerhaftes Problem der Fotografie. Zuschreibung versus Technikontologie.“ In: Christian Filk et al. (Hrsg.): Die dunkle Seite der Medien. Ängste, Faszinationen, Unfälle. Frankfurt a.M. et al.: Lang 2001, 180-193.
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IV. Öffentliche Gedächtnisse Schon früh in der Geschichte des Mediums erhofft man sich von der Fotografie die Bereicherung der kulturellen Archive. Als der Physiker Dominique François Arago 1839 die Leistungen des neuen Abbildungsverfahrens vor der französischen Deputiertenkammer preist, um für den staatlichen Ankauf des Patents zu werben, weist er unter anderem darauf hin, wie nützlich die Fotografie für Napoleons ‚archäologischen‘ Ägyptenfeldzug gewesen wäre: [J]edem wird die Idee einleuchten, daß die Kenntnis des fotografischen Verfahrens im Jahre 1798 uns eine große Zahl der geheimnisvollen Tafeln überliefert hätte, welche die Habgier der Araber oder der Vandalismus gewisser Reisender für immer der gelehrten Welt entzogen haben.29
Hätte man die Fotografie gehabt, so das Argument, dann hätte man mit wenig Aufwand ein komplettes Inventar aller ägyptischen Hieroglyphen anlegen können, und zwar „wirkliche Hieroglyphen“ statt der „fiktiven und konventionellen Zeichen“, die Napoleons Zeichner für die Description de l’Égypte geliefert hatten. Noch bevor das Medium in die Praxis einzieht, werden hier die beiden entscheidenden Eigenschaften benannt, die Fotografie bis in die Gegenwart zu einem bevorzugten Archivmedium gemacht haben: einfache Handhabung, Schnelligkeit und Preisgünstigkeit einerseits, technisch verbürgte Genauigkeit andererseits. Bemerkenswerter scheint allerdings, dass die Fotografie quasi als Äquivalent der Realität akzeptiert wird, das den Verlust der Originale mühelos verschmerzen lässt. Die Bewahrung der Materie ist nicht mehr zwingend erforderlich, wenn die sichtbare Form gespeichert wird. Diese Feier der ikonischen Spur als perfekte Simulation hat zwanzig Jahre später der bereits genannte Holmes auf die Spitze getrieben: Die Form ist in Zukunft von der Materie getrennt. In der Tat ist die Materie in sichtbaren Gegenständen nicht mehr von großem Nutzen, ausgenommen sie dient als Vorlage, nach der die Form gebildet wird. Man gebe uns ein paar Negative eines sehenswerten Gegenstandes, aus verschiedenen Perspektiven aufgenommen – mehr brauchen wir nicht. Man reiße dann das Objekt ab oder zünde es an, wenn man will.30
_____________ 29 Dominique François Arago: „Bericht über den Daguerreotyp.“ [1839] In: Wolfgang Kemp (Hrsg.): Theorie der Fotografie I. 1839-1912. München: Schirmer/Mosel 1980, 51-55, 51. 30 Oliver Wendell Holmes: „Das Stereoskop und der Stereograph.“ [1859] In: Wolfgang Kemp (Hrsg.): Theorie der Fotografie I. 1839-1912. München: Schirmer/Mosel 1980, 114-119 [= auszugsweise deutsche Übersetzung von Holmes: „The Stereoscope“ (Anm. 12)]. Es sei ergänzt, dass Holmes seine radikale Utopie auf die stereoskopische Fotografie bezieht, die über die zweidimensionale Information hinaus noch die Illusion des Raums gibt. Bekannt ist freilich auch die umgekehrte Strategie, auf Basis von Fotografien dreidimensionale Wirklichkeit zu rekonstruieren. Ohne eine lückenlose fotografische Dokumentation wäre es beispielsweise nicht möglich gewesen, das St. Petersburger Bernsteinzimmer zu rekonstruieren.
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Ein Gedächtnis, das materielle Form angenommen hat, dominiert demnach die Materialität der Dinge. Es ist erstaunlich, wie nah an diesem Verfahren in einigen Bereichen praktisch gearbeitet worden ist. Die französische Commission des monuments historiques gibt 1851 die so genannte mission héliographique in Auftrag, um in ganz Frankreich im Verfall befindliche oder zu restaurierende Baudenkmäler zu dokumentieren;31 Charles Marville fotografiert ab 1858 auf eigene Initiative die alten Pariser Stadtviertel, bevor sie dem Modernisierungsfuror von Charles Haussmann zum Opfer fallen; in den kolonialisierten Territorien sammeln die europäischen Ethnologen neben Artefakten und Beschreibungen auch zahlreiche Fotografien, um durch die Modernisierung bedrohte Kulturen noch einmal in ihrer Ursprünglichkeit festzuhalten. Die Fotografen arbeiten als Archivare für die Archäologen und Historiker von morgen. Angesichts einer reichhaltigen Produktion fotografischer ‚Quellen‘, von denen einige gezielt für die Historiker der Nachwelt, die meisten aber für die Zeitgenossen angefertigt wurden, stellt sich die Frage, welche Aussagekraft ihnen in Bezug auf die Vergangenheit zugebilligt wird. Produktiv ist hier vor allem die bis heute gängige Sortierung der Quellen in Tradition und Überrest, die von Johann Gustav Droysen begründet, in der heute geläufigen Form aber am wesentlichsten durch Ernst Bernheims einflussreiches Lehrbuch der historischen Methode geprägt worden ist: „[A]lles, was unmittelbar von den Begebenheiten übriggeblieben und vorhanden ist,“ heißt es da, „nennen wir Überreste; alles, was mittelbar von den Begebenheiten überliefert ist, hindurchgegangen und wiedergegeben durch menschliche Auffassung, nennen wir Tradition.“32 Die Überreste unterteilt Bernheim noch einmal in Überreste im engeren Sinne, faktische Überbleibsel der historischen Ereignisse, sowie Denkmäler oder Monumente (z.B. juristische Urkunden), die Informationen für zeitgenössische Nutzer aufbewahren, aber nicht an die Nachwelt gerichtet sind. Überreste sind als Quellen zu bevorzugen, insofern sie „unzweifelhafte Zeugnisse der Thatsachen an sich darstellen.“ Für die „Thatsächlichkeit eines Ereignisses“ gebe es „keine festere Gewähr [...], als wenn die Berichte darüber mit den untrüglichen Spuren des Ereignisses selbst in Einklang stehen.“33 Garantieren Überreste die Tatsächlichkeit, so erfordert ihre Interpretation ihrerseits Wissen, das nur aus Traditionsquellen bezogen werden kann.34 Es dürfte sich mittlerweile zwischen den Zeilen angedeutet haben, warum diese quellenkritische Unterscheidung hier interessiert: Gerade weil sie analog zur
_____________ 31 Vgl. Anne de Mondenard: „La Mission héliographique: mythe et histoire.“ In: Études photographiques 2 (1997), 60-81. 32 Ernst Bernheim: Lehrbuch der Historischen Methode und der Geschichtsphilosophie. 3. Aufl. Leipzig: Duncker & Humblot 1903, 230. 33 Ebd., 490 u. 492. Die Fotografie erwähnt Bernheim in seinem ganzen Handbuch interessanterweise nur, wo es um die verlässliche Dokumentation von Quelleneditionen geht. 34 Vgl. ebd., 561f.
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Differenz von Externalisierung und Spur gebaut ist, scheint sie mir Aufschluss zu bieten, woher die immer wieder beklagten Probleme mit der Fotografie als historischer Quelle herrühren. Die Fotografie macht offenkundig Schwierigkeiten, weil sie weder auf der einen noch auf der anderen Seite eindeutig zu verorten ist. Zugestanden, Bernheim weist mehrfach darauf hin, dass ein und dieselbe Quelle in verschiedenen Zusammenhängen einmal als Tradition, das andere Mal als Überrest fungieren kann. Eine Fotografie kann jedoch für ein und dieselbe Fragestellung zugleich Überrest im engeren Sinn, Denkmal und Tradition sein: Fotografien sind intentional hergestellte Spuren eines Ereignisses und stehen daher auf der Kippe zwischen objektiver und subjektiver Verweisung.35 Doch wie nachvollziehbar ist der subjektive Einschlag überhaupt, wenn – wie im Falle der inkriminierten ‚Wehrmachtsausstellung‘ – ‚Täterfotos‘ zu ‚Opferfotos‘ werden können, Erinnerungsbilder an Landsertage sich in der rückblickenden Betrachtung so mühelos in einen erschütternden Beleg für soldatische Brutalität und Kriegsverbrechen verwandeln, anders gesagt: wenn die individuelle Perspektive scheinbar widerstandslos durch eine kollektive überschrieben wird?36 Wie kommt es andererseits, dass sich der fotografischen Interpretation des abgebildeten Ereignisses zum Trotz nicht geradewegs erschließt, was überhaupt passiert ist, wer was wann getan hat?37 Die Genese einer Spur zu rekonstruieren bleibt einem also auch bei der Fotografie nicht erspart – und zwar in Hinsicht auf das Abgebildete wie den Abbildenden. Erst mit der Einlagerung der Fotografie in einen erläuternden Kontext kann bedeutsam werden, was auf einer gegebenen Fotografie zu sehen ist. Dass das Thema der Fotografie als Quelle neuerdings vermehrt auf die Tagesordnung geraten ist, hängt vor allem mit der umstrittenen Ausstellung Vernichtungskrieg – Verbrechen der Wehrmacht (1995ff.) zusammen. Zweifellos wurde hier berechtigte Kritik an einem relativ sorglosen, in jedem Fall methodisch unzureichenden Umgang mit fotografischen Quellen geübt: einige der Fotografien zeigten nachweislich Verbrechen, die nicht von der Wehrmacht selbst verübt worden
_____________ 35 Cornelia Brink: Ikonen der Vernichtung. Öffentlicher Gebrauch von Fotografien aus nationalsozialistischen Konzentrationslagern nach 1945. Berlin: Akademie Verlag 1998, 10, stellt diesen „Doppelcharakter der Fotografie“ beispielsweise an den Anfang ihrer Untersuchung zum Gebrauch historischer Fotografien: „Sie gelten als Abdruck der ‚Wirklichkeit‘ und als deren Interpretation.“ 36 Vgl. Michael Sauer: „Fotografie als historische Quelle.“ In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 53 (2002), 570-593, 588-590; Brink: Ikonen (Anm. 35), 148-151; Detlef Hoffmann: „Private Fotos als Geschichtsquelle.“ In: Fotogeschichte 2,6 (1982), 49-58. 37 Was die Interpretation erschwert ist nicht nur der Status als Spur, sondern auch der fotografische Zeitschnitt, der die Platzierung einer Szene in einem Handlungsablauf nicht einzuschätzen erlaubt. Als realienkundliche Quelle (wie bestimmte Dinge zu einem bestimmten Zeitpunkt ausgesehen haben) ist sie dagegen weitaus bequemer zu benutzen denn als ereignisgeschichtliche. Vgl. hierzu Sauer: „Fotografie“ (Anm. 36), 572-575; Jens Jäger: Photographie: Bilder der Neuzeit. Einführung in die historische Bildforschung (= Historische Einführungen. 7). Tübingen: edition diskord 2000, 72-75.
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waren, einige Orte waren falsch zugeschrieben usw.38 Eine einwandfreie Beschriftung der Bilder erscheint umso notwendiger, als man davon ausgehen kann, dass Fotografien – als Spuren und Überreste – dazu tendieren, das ihnen Zugeschriebene zu authentifizieren.39 Die Vehemenz der Kritik hängt aber kaum damit zusammen, dass hier ein ansonsten vollkommen unüblicher Umgang mit den Quellen vorgenommen worden wäre, sondern vielmehr damit, dass nicht primär auf eine nach allen Seiten hin abgesicherte wissenschaftliche Geschichtsschreibung, sondern auf Einwirkung in das nationale Gedächtnis abgezielt wurde. Als zentrales Mittel, um diesen Schritt zu vollziehen, diente die Fotografie, die als technischer ‚Augenzeuge‘ Täter, Opfer und die Brutalität der Verbrechen anschaulich machte. In der Rezeption der Ausstellung wird immer wieder auf die besondere emotionale Beteiligung der Besucher hingewiesen, die auf den massiven Einsatz von fotografischen Bildern zurückgeführt wird.40 Vor diesem Hintergrund wird dann oft nicht mehr die im Einzelfall irreführende Beschriftung, sondern der Eigenwert der Bilder an sich moniert. So vermerkt der Historiker Michael Sauer deutlich missbilligend: „Die Ausstellungsmacher haben Fotografien nicht wirklich als Quellen, sondern – durch ihre massenhafte Verwendung und durch spezielle Arrangements – als Mittel zur Erzeugung von Betroffenheit und zur emotionalen Überwältigung eingesetzt.“41 Es ist demnach schlechterdings illegitim, – mit „allzu einfachen und volkspädagogischen Intentionen“ – ein Publikum durch die anschauliche Vorführung von Gräueltaten zu einer emotionalen Reaktion auf das gesehene Geschehen herauszufordern. Lediglich als historische Quelle, beschnitten um möglichen suggestiven Eigenwert und eingerückt in einen verbal geregelten Kontext, scheinen Fotografien zur Geschichtsdarstellung legitim. Damit wird zum einen die überkommene mediale Hierarchie weiter getragen, die Bilder nur
_____________ 38 Vgl. exemplarisch den Diskussionsbeitrag Krisztián Ungváry: „Echte Bilder – problematische Aussagen. Eine quantitative und qualitative Analyse des Bildmaterials der Ausstellung ‚Vernichtungskrieg – Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944‘.“ In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 50 (1999), 584-595. Einen differenzierten Überblick zur Debatte bietet Miriam Y. Arani: „Und an den Fotos entzündete sich die Kritik. Die ‚Wehrmachtausstellung‘, deren Kritiker und die Neukonzeption. Ein Beitrag aus fotohistorisch-quellenkritischer Sicht.“ In: Fotogeschichte 22 (2002), Heft 85/86, S. 97-124. 39 Der klassische Text für dieses Argument ist Roland Barthes: „Die Fotografie als Botschaft.“ In: Ders.: Sinn (Anm. 25), 11-27, 21-24. Vgl. des weiteren Helmut Lethen: „Versionen des Authentischen. Sechs Gemeinplätze.“ In: Hartmut Böhme & Klaus Scherpe (Hrsg.): Literatur- und Kulturwissenschaften. Positionen, Theorien, Modelle. Reinbek: Rowohlt 1996, 205-231. 40 Vgl. z.B. Petra Bopp: „Wo sind die Augenzeugen, wo ihre Fotos?“ In: Hamburger Institut für Sozialforschung (Hrsg.): Eine Ausstellung und ihre Folgen. Zur Rezeption der Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“. Hamburg: Hamburger Edition 1999, 198-230, 198207. 41 Sauer: „Fotografie“ (Anm. 36), 579. Kritisch zu dieser Art von Kritik Arani: „Und an den Fotos“ (Anm. 38), 99f.
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als sprachlich gebändigte Illustrationen akzeptiert, zum anderen die von Pierre Nora beklagte Kluft zwischen der wissenschaftlichen Historiografie und sozial belebten ‚Gedächtnisorten‘42 erneut zementiert. Es ist wohl kein Zufall, dass die quellenkritisch optimierte Neufassung der ‚Wehrmachtausstellung‘ sich wieder auf das sichere Terrain einer schriftzentrierten Pädagogik zurückgezogen hat.43 Gleichwohl lässt sich beobachten, dass im 20. Jahrhundert die kollektiven Vorstellungen von der Vergangenheit zunehmend durch visuelle Medien mitformiert werden. Als ikonische Spur – visuell suggestiv wie technisch verifiziert – taugt die Fotografie besonders dazu, affektiv aufladbares Geschehen eindrücklich zu machen. Für die ältere Vergangenheit, die bereits in den Geschichtsbüchern Einzug gehalten hat, regulieren noch die Fachhistoriker den Bilderkanon, der sich als kollektives Bildgedächtnis ausprägen soll. Die Schule ist vermutlich die wichtigste Institution, um nicht nur das national verbindliche Geschichtswissen, sondern auch die zugehörigen Bilder im Gedächtnis von Individuen zu implementieren.44 Neben dem von den Geschichtsbüchern repräsentierten kulturellen Gedächtnis, gibt es aber eine dezentrale Kollektivierung von fotografischen Geschichtsbildern, die sich aus der massenmedialen Zirkulation heraus als besonders einprägsam erweisen und so quasi unter der Hand zu kollektiven Wissensbeständen werden. Gerade die Vorstellungen über zeitgeschichtliche Ereignisse werden vielfach von Bildern geprägt, die nicht systematisch als Dokument für die Archivierung produziert wurden, sondern als aktuelle, zeitnahe Reportagefotografie zur massenhaften Verbreitung durch Presse und Fernsehen. Auch wenn Barthes ‚Schockphotos‘ als größtenteils wirkungslos einstuft, scheinen besonders viele Bilder dieser Gattung – etwa Kriegsbilder aus Vietnam – haften geblieben zu sein, ohne dass dafür deren Urheber, Ort, Zeit und dargestellte Personen exakt bekannt sein müssten.45
_____________ 42 Vgl. Pierre Nora: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Frankfurt a.M. 1998 [Berlin 1990]; sowie den Beitrag von Patrick Schmidt in diesem Band. 43 Es ist ermutigend, dass auch dieser defensive Umgang mit Bildern nicht uneingeschränkten Beifall fand; vgl. Klaus Hesse: „‚Verbrechen der Wehrmacht – Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941-1944‘. Anmerkungen zur Neufassung der ‚Wehrmachtsausstellung.‘ In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 53 (2002), 594-611, bes. 600-602. 44 Zu Fotos in Geschichtsbüchern für die Schule vgl. Jürgen Hannig: „Bilder, die Geschichte machen. Anmerkungen zum Umgang mit ‚Dokumentarfotos‘ in Geschichtslehrbüchern.“ In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 40 (1989), 10-32. Eine radikaleres Verfahren zur Regulierung des kulturellen Bildgedächtnisses kann man auch in der stalinistischen Praxis sehen, in Ungnade gefallene Protagonisten der Revolution per Retusche aus historischen Aufnahmen zu entfernen, vgl. Alain Jaubert: Fotos, die lügen. Politik mit gefälschten Bildern. Frankfurt a.M.: Athenäum 1989. 45 Zu denken ist hier beispielsweise an Robert Capas Tod eines spanischen Legalisten (1936), das – versehen mit der typographischen Anklage „Why?“ – in den 1970er und 1980er Jahren Jugendzimmer zierte. Als Anhänger der „Botschaft ohne Code“ kann Roland Barthes an dieser Art von Fotografie keinen Gefallen finden, für die der Fotograf „das Grauenvolle, das er uns darbietet, fast immer überkonstruiert und durch Kontraste oder Annäherungen die intentionale Sprache des Schreckens
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Es bliebe freilich zu untersuchen, wie hier die Verzweigung in Speicher- und Funktionsgedächtnis geregelt wird, wie es also dazu kommt, dass einige wenige unter der Unmenge verfügbarer Reportagebilder ausgesondert, immer wieder abgedruckt und damit möglicherweise im Bildgedächtnis von Gesellschaften46 etabliert werden. Wenn man solche fotografischen ‚Ikonen‘ befragt, wird man es wohl nicht mit dem Ikonischen und Indexikalischen der Fotografie schlechthin bewenden lassen können, sondern zentral der in diese Bildordnung eingeschriebenen symbolischen Dimension Rechnung tragen müssen, die Kultur und technisches Bild verknüpft.47 Cornelia Brink hat anhand von Aufnahmen aus den Konzentrationslagern aufgezeigt, wie im Rahmen der Umerziehung der Deutschen ‚Ikonen‘ gezielt lanciert wurden, die im Rahmen verschiedener Ausstellungen und Buchpublikationen ihren Erziehungsauftrag erfüllen sollten.48 Mit dem Begriff der fotografischen Ikone verbinden sich neben einem „hohen Bekanntheitsgrad eine besondere emotionale Wirkung auf den Betrachter, die einige Autoren wiederum in ihrer vermeintlichen Authentizität und/oder Symbolisierungskraft erkennen.“49 Solche Bilder können zu zentralen Angelpunkten kollektiver Erinnerung werden.
V. Private Erinnerung Der Hang des Mediums Fotografie, zur Bildung – historischer – Archive zu reizen, sticht wohl noch deutlicher im Bereich der privaten Fotografie hervor. Das meint selbstverständlich nicht die halböffentliche Praxis der Fotoamateure, die nach tendenziell ‚zeitlosen‘ Kunstwerken strebt. Im quantitativ überschaubaren Bereich des Knipsens geht es hingegen vermutlich um nichts anderes, als die eigene Existenz zu beobachten und zu historisieren: „Im Grunde“, schreibt der Volkskundler Konrad Köstlin, „sind wir zu Historikern unserer selbst geworden.
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dem Faktum hinzufügt.“ Weil dieses Pathos unsere Einschätzung vorweg nehme, tauge sie lediglich „zum Skandal des Grauens, nicht zum Grauen selbst.“ Roland Barthes: Mythen des Alltags. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1964, 55-58. Zum kollektiven Bildgedächtnis vgl. den Beitrag von Rolf Reichardt in diesem Band. Vgl. Dubois: Der fotografische Akt (Anm. 22), 45 u. 50f. So stellt Brink: Ikonen (Anm. 35), 10, die Ausgangsfrage: „Welche gesellschaftlichen Kontexte waren notwendig, um aus der fotografischen Repräsentation der Konzentrationslager Dauerspuren entstehen zu lassen?“ Eine ähnliche Frage hinsichtlich der Herausbildung ‚medialer Gedächtnisse‘ verfolgte jüngst Habbo Knoch: Die Tat als Bild. Fotografien des Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur. Hamburg: Hamburger Edition 2001. Als amüsantes Komplement dazu erzählt Barry Levinsons Film Wag the Dog (1997) davon, wie man aus ergreifenden Bildern einen fiktiven Krieg produzieren kann. Die kollektiv anschlussfähige Symbolik ist hier das dramatische Einzelschicksal eines jungen Mädchens. Ebd., 233.
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Wir selbst produzieren die Quellen zur Geschichte unseres Lebens.“50 In einer Popularisierung der Praxis des Tagebuchführens werden so auch die privaten, zukunftsoffenen ‚Archive‘ systematisch mit Fotografien gefüllt – mit ‚Denkmälern‘ in Bernheims Sinn, denn die in den Fotoalben versammelten Privataufnahmen adressieren die Lebenden, den Fotografen selbst, und dürften nur selten gezielt an die Nachwelt adressiert sein. Ob der Adressat dieser Selbstdarstellung vor allem der Knipser selber ist oder eher die Familie wird verschieden nuanciert. In seiner bekannten Untersuchung über Fotografie als „illegitime Kunst“ hat Pierre Bourdieu die Familie als Fokus der fotografischen Aktivität von Privatleuten identifiziert. Die Fotografie bezeuge bildlich die Integration der Gruppe, um ihrerseits weitere Integration zu erzeugen. Diese gruppenbezogene Funktion äußere sich deutlich darin, dass die Kamera vorwiegend zu Familienfesten, Freundestreffen oder im Urlaub herausgeholt werde.51 Das Fotoalbum, in dem sich selbst geknipste und von Fachfotografen angefertigte Bilder mischen, stabilisiert demzufolge das kollektive Gedächtnis der Familie. Der Fotohistoriker Timm Starl vertritt dagegen die Position, dass das private Foto primär die Sache des Knipsers selbst sei. Schlagend ist natürlich das Argument, dass auch Personen ohne engere familiäre Bindung private Fotoalben führen. Darüber hinaus erweist eine statistische Auszählung von in einigen Amateuralben versammelten Motiven keine eindeutige Betonung der familiären Ereignisse.52 Für Starl fungieren die Aufnahmen der Knipser als radikal subjektive Erinnerungsmarken, die sich nicht einmal für die nächsten Verwandten vollständig erschließen, denn entscheidend ist nicht, wie die Bilder etwas zeigen, ja nicht einmal, was im einzelnen auf ihnen zu erkennen sein mag, sondern allein an welche Gegebenheiten sie erinnern. [...] Selbstverständlich können andere – Familienmitglieder, Freunde, Bekannte – Aufnahmen ansehen und Alben durchblättern, und auch in ihnen werden Erinnerungen wach, erwachsen aus Bildern Geschichten. Doch diese bleiben anekdotisch und verbinden sich nicht zu einem lebensgeschichtli-
_____________ 50 Konrad Köstlin: „Photographierte Erinnerung? Bemerkungen zur Erinnerung im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit.“ In: Ursula Brunold-Bigler & Hermann Bausinger (Hrsg.): Hören, Sagen, Lesen, Lernen. Bausteine zu einer Geschichte der kommunikativen Kultur. Festschrift für Rudolf Schenda zum 65. Geburtstag. Bern et al.: Peter Lang 1995, 395-410, 399. 51 Vgl. Pierre Bourdieu et al.: Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie. Frankfurt a.M.: Europäische Verlagsanstalt 1981, 31. 52 Timm Starl: Knipser. Die Bildgeschichte der privaten Fotografie in Deutschland und Österreich. Berlin: Koehler & Amelang 1995, 142-147. Der Unwillen Starls, Reisebilder, sofern sie keine Personen enthalten, als Familienbilder anzuerkennen, scheint mir indes zweifelhaft: Auch wenn die Familie nicht im Bild ist, knüpfen sich an das gemeinsam Gesehene kollektive Erinnerungen. Dies gilt für die Betrachtung der Urlaubsbilder im Album wie den gemeinsam verbrachten Diaabend.
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chen Zusammenhang. Der Knipser dagegen betrachtet die eigene Konstruktion, die einzig enthält, was er als konstitutiv für seine Existenz erachtet.53
Die logische Folgerung aus dieser These, die sich bei der Betrachtung privater Fotos schnell bestätigen wird, ist dann, dass diese Bilder für den uneingeweihten Betrachter kaum etwas ergeben. Das Eigentliche ist auf ihnen nicht zu sehen.54 Zwar werden die Bilder zum Zwecke der Erinnerung angefertigt, sie sind aber noch nicht komplette Erinnerung, müssen es auch gar nicht sein, weil sie vom intendierten Betrachter, selbst wenn sie technisch nicht gelungen sein sollten, ohne weiteres kontextuell ergänzt werden können.55 Als Bilder eines Augenblicks, einer gewesenen Situation, sind sie Anker für an ihnen ansetzende Erinnerungsprozesse. Die Funktion des Bildes als Spur steht im Vordergrund, wenngleich eine gelungene Externalisierung – das gut getroffene Bild – zweifellos bevorzugt wird. Demnach setzt die Erinnerung das Foto voraus, dominiert es aber letztlich. „Der Wert des Photos“, erkennt schon der Katalog zur ersten deutschen Ausstellung privater Erinnerungsbilder, „ist allein abhängig von der Intensität der Erinnerung.“56 Als vom erinnernden Mediennutzer entworfenes Gesamtkonzept scheint der Kosmos des Fotoalbums mit seiner Auswahl von Bildern, ihrer chronologischen Ordnung und ihrer Beschriftung wieder näher am Pol der Externalisierung – zumal sich für den Urheber des Albums vermutlich seine individuelle Fassung der Lebensgeschichte zunehmend auf die von ihm geschaffene mediale Veräußerlichung ausrichtet oder darin zumindest stabilisiert. Auch wenn Knipserfotografien sich nur ihrem Erzeuger voll erschließen, dem Uneingeweihten ihre eigentliche Bedeutung verbergen, so sind den privaten Bilderwelten doch decodierbare kollektive Ordnungen eingezeichnet. Erhellend scheint mir in dieser Hinsicht die von der Medienwissenschaftlerin Patricia Holland eingeführte Unterscheidung von ‚Nutzern‘ (user) und ‚Interpreten‘ (reader)
_____________ 53 Ebd., 23. 54 Zu welchen Verwicklungen es führen kann, wenn ein Fremder sich die Identität einer Familie anhand von deren Fotografien anzueignen glaubt, demonstriert Mark Romaneks Film One Hour Photo (2002). 55 Die kulturkritische Ausspielung des mechanischen Bildes gegen die echte, lebendige Erinnerung übersieht, dass das Knipserbild gar nicht beansprucht, die komplette Signifikanz des Ereignisses sichtbar in sich zu tragen; vgl. hierzu auch die Überlegungen von Catherine Keenan: „On the Relationship between Personal Photographs and Individual Memory.“ In: History of Photography 22 (1998), 60-64. 56 Heinrich Riebesehl: Photographierte Erinnerung. Ausstellungskatalog Kunstverein Hannover 1975, 21. Beschrieben wird aber auch das umgekehrte Phänomen – die Auslöschung der authentischen Erinnerung durch das technische Bild. So schreibt Barthes: Die helle Kammer (Anm. 24), 102, die Fotografie werde „sehr schnell Gegen-Erinnerung. Einmal sprachen Freunde über Kindheitserinnerungen [...]; ich aber hatte gerade meine alten Photos angesehen und besaß keine mehr.“
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privater Fotografien.57 Während Nutzer die ikonischen, vor allem aber die indexikalischen Verweisungen des fotografischen Bildes mobilisieren, um ihre individuellen Erinnerungen abzurufen, interessiert sich der wissenschaftliche Interpret vor allem für die symbolische Ebene, also die in die Bilder eingeschriebenen kulturellen Codes. Es wäre zwar sträflich, von den oftmals stereotypen Posen und Anlässen der Knipserbilder 1:1 auf eine analoge Stereotypie des damit Erinnerten zu schließen; dennoch deuten die im kollektiven Querschnitt auffindbaren Gemeinsamkeiten geradezu idealtypisch auf die kollektive Durchformung der individuellen Gedächtnisse. Obwohl bar von ästhetischen Normierungen wird eine extreme Ähnlichkeit der Knipserbilder untereinander festgestellt.58 Das betrifft beispielsweise bestimmte stereotype Posen, die auf Bildern zur Selbstdarstellung eingenommen werden – wobei dies kaum als ureigene Entwicklung der eher zwanglosen Knipserfotografie zu werten ist, sondern als Erbe der auf Repräsentativität setzenden Atelierfotografie, die denjenigen, die sich keinen eigenen Apparat leisten können, bis ins 20. Jahrhundert zur Verfügung steht.59 Mehr noch gilt dies aber für die Auswahl der Anlässe, die fotografisch dokumentiert werden. Die Parallelität betrifft nicht allein zeitgeschichtliche Erfahrungen, die sich – wie beispielsweise die Weltkriege – erwartungsgemäß in allen Alben einer Generation wieder finden, sondern grundsätzlich die Wertigkeit der Lebensbereiche und -stationen, die bildlich dokumentiert werden. Nur bei kleinen Kindern ist mehr oder weniger das ‚ganze‘ Leben – vom Essen bis zum Stuhlgang, vom Urlaub über den Alltag bis hin zum Schlafen – fotografiewürdig.60 Mit dem Eintritt in das Schulalter werden jedoch fast nur noch herausgehobene Ereignisse, Feiern, Urlaub, vor allem aber die großen rites de passage dokumentiert: Erster Schultag, Abschlussfeier, Hochzeit, Kindertaufen, Begräbnisse. Eine solche Kanonisierung von fotografiewürdigen Ereignissen gilt nicht nur für Europa, sondern ist – freilich mit partiell anderen Stationen – ebenso in Afrika anzutreffen61 und vermutlich auch anderswo. Bei diesen Passageriten, im besonderen bei
_____________ 57 Patricia Holland: „,Sweet is it to scan …‘ Personal photographs and popular photography.“ In: Liz Wells (Hrsg.): Photography. A critical introduction. London/New York: Routledge 1997, 104-150, 107. 58 Vgl. Starl: Knipser (Anm. 52), 23f.: „Was die Gestaltung der Aufnahmen angeht, verfolgt der Knipser ein einfaches Konzept. Person, Sache, Ereignis sollen möglichst im Mittelpunkt der Aufnahme stehen, doch ist dies nicht Bedingung. [...] Deshalb ähneln sich die Aufnahmen von Knipsern – auch jene von professionellen Fotografen und Fotokünstlern, wenn sie privat fotografieren und es ihnen lediglich ums Erinnern geht.“ 59 Riebesehl: Photographierte Erinnerung (Anm. 56), 23-32, belegt anschaulich die verblüffende Stabilität bestimmter Posen über Jahrzehnte hinweg. Vgl. in dieser Hinsicht auch Helmut Höges Zusammenstellung „Frauen am Geländer“. In: Neue Gesellschaft für Bildende Kunst (Hrsg.): Dia/Slide/ Transparency. Materialien zur Projektionskunst. Berlin: NGBK 2000, 19-29. 60 Vgl. Köstlin: „Photographierte Erinnerung?“ (Anm. 50), 405. 61 Vgl. Tobias Wendl: „‚God never sleep.‘ Fotografie, Tod und Erinnerung.“ In: ders./Heike Behrend (Hrsg.): Snap me one! Studiofotografen in Afrika. München et al.: Prestel 1998, 42-50.
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Hochzeiten, ist das Fotografiert-Werden heute ein integraler Bestandteil des Ablaufs selbst, ohne den die Feier nicht komplett ist. Die Fotografie spiegelt also nicht nur die Bedeutung des Ereignisses, sondern erzeugt sie mit, in dem sie die Erinnerungswürdigkeit des Geschehens signalisiert.62 In der Aktualität des Geschehens wird schon die künftige Erinnerung mitbedacht. Mit diesem Memorialauftrag versehen sind die Hochzeitsbilder geradezu eine idealtypische ‚Traditions‘Quelle, andererseits bleiben sie doch wieder als Spur auf die Anreicherung mit Bedeutung angewiesen. Selbst die von professionellen Fotografen angefertigten Erinnerungsbilder, die ebenso haltbar wie die Ehe sein sollen, können vielleicht einen Teil der Inszenierung einfangen, aber weder die Liebe des Brautpaars noch die gelungene Feier in angemessener Form wiedergeben. Für die Gäste des Festes, unter denen diese Bilder später verteilt werden, sind sie vermutlich eher als Komponente des Ereignisses bedeutsam, sodass sich Sinnfülle wiederum erst in der ergänzenden Rezeption einstellt. Darüber hinaus – und hier scheint eine ganz andere Lesart bedient zu werden – dienen die Hochzeitsporträts auch als Repräsentation nach außen, die im Wohnzimmer präsentiert und an entferntere Verwandte versandt werden.63 Parallel zur visuellen Chronik der eigenen Existenz im Knipseralbum existiert im privaten Bereich eine ältere, da vor die Knipserfotografie zurückreichende Memorialfunktion von Fotografie. So heißt es in einem amerikanischen Fotohandbuch von 1863: In the order of nature, families are dispersed, by death or other causes; friends are severed; and the ‚old familiar faces‘ are no longer seen in our daily haunts. By heliography, our loved ones, dead or distant, our friends and acquaintances, however far removed, are retained within daily and hourly vision. To what extent domestic and social affections and sentiments are conserved and perpetuated by these ‚shadows‘ of the loved and valued originals, every one may judge.64
Als ultimatives Erinnerungsbild in diesem Sinn spielt das Porträt auf dem Totenbett – die letzte Möglichkeit, das Antlitz der geliebten Person sicherzustellen – bis ins 20. Jahrhundert hinein eine wichtige Rolle.65 Fotografien fungieren in diesem
_____________ 62 Vgl. Köstlin: „Photographierte Erinnerung?“ (Anm. 50), 403: „Es ist bereits die Situation, die durch die Photographie als anders, als besonders definiert wird. [...] Sie macht die Situationen zu besonderen Anlässen.“ 63 Zum Hochzeitsbild vgl. Bertrand Mary: La photo sur la cheminée. Naissance d’un culte moderne. Paris: Éditions Métailié 1993, 143-153; Bourdieu: Eine illegitime Kunst (Anm. 51), 31-34. 64 Marcus Aurelius Root: „The Camera and the Pencil (1863).“ In: Vicki Goldberg (Hrsg.): Photography in Print. Writings from 1816 to the Present. Albuquerque: University of New Mexico Press, 148151, 148: In dieser Funktion greift die Fotografie die Tradition der Porträtminiatur auf, demokratisiert sie aber: „The cheapness of these pictures brings them within reach, substantially, of all.“ Vgl. auch Mary: La photo (Anm. 63), 141. 65 Vgl. Jay Ruby: Secure the Shadow. Death and Photography in America. Cambridge, Mass./London: MIT Press 1995; Mary: La photo (Anm. 63), 153-167. Hiermit wird die im 19. Jahrhundert aufgekomme-
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Kontext als Ersatz für das „vermißte Zusammenleben“66, wie es Heinrich Riebesehl schön formuliert hat. In dieser zweiten Funktion zeigt sich besonders, in welchem Umfang die Memorialfunktion einer Fotografie durch den Rahmen ihrer Verwendung bestimmt wird. Eine Fotografie wird, so meine These, nicht als Gedächtnis geboren, sondern erst bei der Betrachtung als Spur des Vergangenen gedeutet. Erinnerung ist dann gewissermaßen die Kontextualisierung, die eine Fotografie auf ihren Zeitindex hin betrachtet. Das Porträt des geliebten Menschen, das man auf den Kaminsims stellt oder im Geldbeutel bei sich trägt, verweist zwar auf etwas Abwesendes (denn nur in Ausnahmefällen wird man es gemeinsam mit der abgebildeten Person betrachten), aber dieses Abwesende wird gerade nicht primär als Vergangenes angesehen – die Betrachtung geht bei dieser Sorte von Erinnerungsbild gerade darüber weg, dass das Bild einen bestimmten Moment der Vergangenheit darstellt, sondern begreift es als gegenwärtig möglich. Bei eigens für diesen Zweck vorgesehenen Fotografien wird schon bei der Aufnahme darauf Acht gegeben, das ‚zeitarme‘ Ideal und nicht das Ereignishafte, den radikal temporalisierten Augenblick hervorzuheben.67 Kurz: Es geht hier lediglich darum, eine räumliche, nicht eine zeitliche Distanz zu überwinden – es sei denn die Spanne bis zum nächsten Zusammentreffen. Die zeitliche Dimension kann freilich beim selben Bild schon bald wieder ins Spiel kommen, wenn dasselbe Bild nun an verblasste Jugend oder eine vergangene Liebe erinnert. Auch wenn jede Fotografie auf einen bestimmten Augenblick des Ursprungs rückführbar ist, so bleibt ihre Betrachtung doch relativ unabhängig davon. Erst wenn eine Differenz zur eigenen Gegenwart beobachtet, stilistisch im Foto angezeigt oder kontextuell – sei es im Album oder durch Beschriftung – markiert wird, gerät der Zeitindex zur leitenden Komponente der Nutzung.
VI. Gedächtnismedien Was ein Medium zum Gedächtnismedium macht, lässt sich also keineswegs aus einer Deutung der ihm zugrunde liegenden Materialität erschließen. Fotografien sind weder Spuren noch Externalisierungen in einem starken Sinn; sie werden als solche genutzt oder eben nicht. Spur und Externalisierung sind demnach Modi, Fotografien – oder andere mediale Formen – als eine bestimmte Art des Verweisens zu betrachten. Zwar kann man für jedes bezeichnete Medium bevorzugte ne Tradition der Totenmaske popularisiert; vgl. Bernhard Kathan: „Totenmaske und Fotografie. Zur Verhäuslichung des Todes.“ In: Fotogeschichte 20,78 (2000), 15-26. 66 Riebesehl: Photographierte Erinnerung (Anm. 56), 24. Mary: La photo (Anm. 63), 168, spricht nicht weniger pointiert von einer „gestion des absences“. 67 Zur in dieser Hinsicht fundamentalen Zeitlogik von Pose und Momentaufnahme vgl. Thierry de Duve: „Pose et instantané, ou le paradoxe photographique.“ [1974] In: Ders.: Essais datés. I. 19741986. Paris: Éditions de la Différence 1987, 13-52.
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Jens Ruchatz
Typen des Verweisens annehmen, die in der Regel zur Anwendung kommen, aber dennoch nie letztgültig festgelegt sind, so wie die Historiker ein und dieselbe Quelle wahlweise als Tradition oder als Überrest deuten können: Eine autobiografische Schrift kann auch als Spur des Unbewussten der Zeit oder des Verfassers aufgefasst werden so wie ein Foto umgekehrt als gelungene Externalisierung eines inneren Bildes oder einer vergangenen Wahrnehmung. In diesem Sinn ist Gedächtnishaftigkeit, etwa die Aufbewahrung von zeitlich indizierten Daten, an sich nur eine Funktion, die einem Medium neben anderen zugesprochen werden kann. So unterliegt auch die Einbindung medialer Texte und Formen in kollektive oder individuelle Gedächtnisse der Pragmatik. Wenn man an der Halbwachs’schen Denkfigur festhalten will, kann man durchaus behaupten, dass private Fotoarchive durch und durch von kollektiven Organisationsprinzipien strukturiert sind. Am sinnfälligsten zeigt sich diese Durchdringung vielleicht in der Art, in der bürgerliche Fotoalben in den 1860er und 1870er Jahren geführt wurden. In ihrer jeweils besonderen Mischung aus Bildern der Familie und des Freundeskreises einerseits, einer jeweils individuellen Auswahl von gekauften Porträts prominenter Zeitgenossen andererseits konnte sich jeder hinreichend Wohlhabende auf eigene Art an das kollektive Bildarchiv anschließen.68 Zweifellos hängt das, was als kollektives Gedächtnis postuliert wird, aber auch davon ab, was sich bei einer zunehmenden Zirkulation von potentiell Erinnerungswürdigem überhaupt noch in die individuellen Gedächtnisse einzuprägen vermag. Diese Selektion läuft natürlich nicht idiosynkratisch ab, sondern stets in Bezug auf die durch die individuellen Bewusstseinsgeschichten vorgegebenen Raster – und damit auch wieder in Bezug auf kollektive Vorgaben. Was man mit der Medialität der Fotografie und der nachfolgenden Bildmedien aber zweifelsfrei verbinden wird, ist eine zunehmende visuelle Komplementierung und Korrektur der sprach- und schriftgebundenen Erinnerungskultur. Bildliche Darstellungen, die bewusst historisches Geschehen dokumentieren oder sich auch nur so auf ihre Gegenwart so beziehen, dass sie rückblickend als visuelle Dokumente für die Kultur und Lebensweise ihrer Entstehungszeit betrachtet werden, gibt es natürlich schon lange, aber nie zuvor in solch einer für jeden zugänglichen Fülle. Sowohl auf die eigene als auch auf kollektive Vergangenheit kann man sich nicht mehr nur als sprachlich enkodierte, sondern auch als visuell aufgezeichnete beziehen. Die Debatte um die ‚Wehrmachtausstellung‘ kann vor diesem Hintergrund auch als Rückzugsgefecht gegen eine solche mediale Umstel-
_____________ 68 Vgl. z.B. Matthias Bickenbach: „Das Dispositiv des Fotoalbums: Mutation kultureller Erinnerung. Nadar und das Pantheon.“ In: Jürgen Fohrmann et al. (Hrsg.): Medien der Präsenz: Museum, Bildung und Wissenschaft im 19. Jahrhundert (= Mediologie. 3). Köln 2001, 87-128, besonders 103 u. 115.
Fotografische Gedächtnisse
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lung der kollektiven Erinnerung betrachtet werden.69 So darf man gespannt sein, wie unsere so stark visuell aufgezeichnete Gegenwart künftig erinnert werden wird und ob die Generationen, die in eine so stark bildgeprägte Kultur hineingewachsen sind, künftig auch retrospektiv mehr Geschichtsbilder entwerfen werden.
_____________ 69 Wie erfolgreich Bildmedien Vorstellungen über die Vergangenheit instituieren, kann man beispielsweise darin sehen, dass es schon eine eigene Authentizität entwickelt, die entlegenere Vergangenheit schwarz-weiß darzustellen – und damit nur ein eigentliches technische Handicap als historische Wahrnehmungsweise aufzuladen.
III. Geschichtswissenschaftliche und kulturanthropologische Medien- und Gedächtniskonzepte
ANNEGRET STEGMANN
Sozialsystemische Institutionalisierung als Verpflichtung: Straßenballaden und Predigten zwischen mündlicher und schriftlicher Erinnerung an Charles I I. Einleitung „Exit Tyrannus, Regum ultimus.“ So stand es auf einem Schild am Royal Exchange, mit dem man 1649 die bisher dort platzierte Statue des Königs ersetzte.1 Doch so leicht wie seine Statue war die Erinnerung an den kurz zuvor hingerichteten König nicht zu entfernen.2 Zu den maßgeblichen, weil gesellschaftlich ‚dominanten‘ Medien der Konstruktion nicht nur royalistischer Erinnerung an Charles I gehörten zunächst politische Straßenballaden und Predigten. Wenn hier beide als Medien der Erinnerung3 bezeichnet werden, so werden sie zunächst als Systeme verstanden, die insgesamt an der Konstruktion von Wirklichkeitsmodellen4 teilhaben und damit auch an der Konstruktion des kollektiven Gedächtnisses. Auf die Begrifflichkeit Siegfried J. Schmidts zurückgreifend, ist das Medienangebot des konkreten Balladen- oder Predigttextes schon durch die Kommunikationsinstrumente, wie das sprachliche Zeichensystem, beeinflusst.5 Besonders geformt wird das Medienangebot aber
_____________ 1 Vgl. David Underdown: Royalist Conspiracy in England 1649-1660. New Haven: Yale UP, 1960, 17. 2 Dies betont auch die Ballade „Bright Soule, Instruct Poore Mortalls how to Mourne (O.J)“: „[T]hy Name is thy best Epitaph/ To carue thy statue were amiss,/ thy BooKe thy best Colossus is“. In: John P. Cutts (Hrsg.): Seventeenth Century Songs and Lyrics. Collected and Edited From the Original Music Manuscripts. Columbia/Missouri: University of Missouri Press 1959, 42. 3 Im Unterschied zum Bandtitel wird hier bewusst nicht von ‚Medien des Gedächtnisses‘ gesprochen, da der Fokus des Beitrags weniger auf der kollektiven Ebene des „Gedächtnis[ses] als virtuelle[r] Fähigkeit und organische[m] Substrat“ liegt, als auf den medialen Bedingungen der Erinnerung als aktuellem „Vorgang des Einprägens und Rückrufens spezifischer Inhalte“. (Aleida Assmann: „Zur Metaphorik der Erinnerung“. In: Dies. & Dietrich Harth [Hrsg.]: Mnemosyne. Formen und Funktionen kultureller Erinnerung. Frankfurt a.M.: Fischer 1991, 13-35, 14) 4 „Wenn der Wirklichkeitsbegriff nicht mehr [...] ontologisch definiert werden kann, dann pluralisieren sich automatisch die Wirklichkeitsmodelle“. (Siegfried J. Schmidt: „Die Wirklichkeit des Beobachters“. In: Klaus Merten et al. [Hrsg.]: Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft. Opladen: Westdeutscher Verlag 1994, 3-19, 18) 5 Dieses kann im Rahmen des cognitive sharing zur „gesellschaftlich relevanten strukturellen Koppelung von Systemen im Sinne je systemspezifischer Sinnproduktion genutzt werden“. (Siegfried J.
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durch mediale Dispositive,6 welche vor allem Ästhetik und Rezeption stark bedingt und in diesem Fall besonders durch die mündliche Sprechsituation geprägt ist.7 Nach Ong verhindert diese eine ‚kontext-freie‘ Sprache und schafft eine Situation, in der das Gesagte befragt oder angefochten werden kann, weil es sich nicht von dem erinnernden Subjekt unabhängig gemacht hat.8 Den gesellschaftlich bedingten Kommunikationsrahmen bildet, nach Schmidt, die sozialsystemische Institutionalisierung.9 Für die Konstruktion von Wirklichkeitsmodellen ist sie wesentlich, weil sie Erwartungshorizonte und Möglichkeiten der Funktionalisierung der (Gedächtnis-)Medien bedingt. Die sozialsystemische Institutionalisierung konkretisiert sich im Fall der Predigten darin, dass sie anlässlich des Jahrestages der Exekution, am 30. Januar, im Rahmen der Anglika-
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Schmidt: Kalte Faszination. Medien, Kultur, Wissenschaft in der Mediengesellschaft. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2000, 94. Vgl. ebd., 3-7) Vgl. Schmidt: Kalte Faszination (Anm. 5), 94, ders.: Kognitive Autonomie und soziale Orientierung. Konstruktivistische Bemerkungen zum Zusammenhang von Kognition, Kommunikation, Medien und Kultur. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, 84. Obwohl sich der Dispositivbegriff originär auf technische Massenmedien bezieht, soll er hier, in Ermangelung einer Alternative, die dem komplexen Begriff entspricht, verwendet sein. Durch Schmidts Hinzuziehung der Dispositive bleibt sein Konzept anschlussfähig an medienwissenschaftliche Erkenntnisse und Differenzierungen zu medialer Vermittlung: Damit ist berücksichtigt, dass technische A Priori ebenso auf Formen der Medienangebote zurückwirken wie Wahrnehmung durch Momente der Anordnung des Medienangebots und seiner Rezipienten bedingt ist. Als eine Schwäche des Konzeptes von Schmidt bezüglich seiner Nutzbarkeit für die Theorie des kulturellen Gedächtnisses mag die Vernachlässigung der Momente der Speicherung gelten. Diese wären aber in Aspekten des Medienangebots und seiner sozialsystemischen Institutionalisierung aufzuspüren. Zur schaustellerischen Kommunikationssituation der Straßenballaden vgl. v.a. Natascha Würzbach: „Die Englische Straßenballade. Eine schaustellerische Literaturform im Umfeld volkstümlicher Kultur.“ In: Walter Müller-Seidel (Hrsg.): Balladenforschung. Königstein, Ts: Verlagsgruppe Athenäum 1980, 134-153; Natascha Würzbach: Anfänge und gattungstypische Ausformung der englischen Straßenballade 1550-1650. Schaustellerische Literatur, Frühform eines journalistischen Mediums, populäre Erbauung, Belehrung und Unterhaltung. München: Fink 1981; und Barbara Mrytz: Das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in Textkonstitution und Tradierung der Balladen des Child-Korpus (= Europäische Hochschulschriften. 14, Angelsächsische Sprache und Literatur. 243). Frankfurt a.M. et al.: Peter Lang 1991, 132-139. Genau genommen handelt es sich um eine plurimediale Inszenierung, bzw. um mit Schmidts Medienbegriff kongruent zu bleiben, um eine Gleichzeitigkeit verschiedener Kommunikationsinstrumente. Ong benutzt nur den Begriff ‚Autor‘ und setzt ihn damit mit dem erinnernden Subjekt gleich. Ferner trennt er menschliche Kommunikation vom Medienbegriff, weil sich der Sender in direkter Kommunikation zugleich in der Position des Empfängers befinde. Vgl. Walter J. Ong: „Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes.“ In: Claus Pias et al. (Hrsg.): Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1999 [1982], 95-104, 95, 101-103; Aleida Assmann & Jan Assmann: „Das Gestern im Heute. Medien und soziales Gedächtnis.“ In: Klaus Merten et al. (Hrsg.): Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft. Opladen: Westdeutscher Verlag 1994, 114-140, 133. Vgl. Schmidt: Kalte Faszination (Anm. 5), 43, 95, 105-107. Die Teilhabe der Medien an Wirklichkeitskonstrukten wird durch den Blick auf empirische kognitive Systeme einleuchtend.
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nischen Kirche entstehen. Bei Straßenballaden handelt es sich um ein Beziehungsgefüge, das vergleichsweise weniger institutionalisiert ist. Dennoch ist auch hier das Mediensystem so in Alltag, Kultur und Gesellschaft integriert, dass soziale und kommunikative Praktiken in Bezug darauf entwickelt worden sind.10 Aufgrund dieser Kommunikationssituation ist es allerdings nicht unproblematisch, Straßenballaden und Predigten als Medien des kulturellen Gedächtnisses im Sinne von Assmann und Assmann zu fassen. Die von ihnen genannten Bedingungen der normativen und formativen Wirkung von kulturellen Texten11 werden zwar auch durch diese Medien sichergestellt; die Unterscheidung in Funktions- und Speichergedächtnis wenden Aleida und Jan Assmann streng genommen jedoch nur auf die schriftliche Überlieferung an, da bei mündlicher Überlieferung Funktions- und Speichergedächtnis zusammenfielen.12 Erst die durch die Schrift ermöglichte Auslagerung und Speicherung gestatte die beliebige Wiederaufnahme, und erst dadurch verlagere sich das in oralen Kulturen gegebene Speicherproblem zu einem Verstehensproblem. Damit einher gehe die nur schriftlich gegebene Möglichkeit zur Variation: Der Hauptunterschied zwischen schriftlicher und mündlicher Überlieferung liegt darin, daß mündliche Überlieferung auf Wiederholung basiert, d.h. Variation ausgeschlossen wird [...]. [Mündlich überlieferte Texte] halten sich nur dann im kulturellen Gedächtnis, wenn sie weitgehend Bekanntes zur Sprache bringen. Der Wechsel zwischen Abwesenheit und Anwesenheit, Alltag und Fest, tiefenstruktureller Speicherung und oberflächenkonkreter Aufführung ist vollkommen ausreichend, um die wahr-
_____________ 10 Vgl. Friedrich Krotz: Die Mediatisierung kommunikativen Handelns. Der Wandel von Alltag und sozialen Beziehungen, Kultur und Gesellschaft durch die Medien. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2001; Schmidt: Kalte Faszination (Anm. 5), 116. 11 D.h. die poetische Form, die (rituelle) Inszenierung und kollektive Partizipation. Kulturelle Texte werden hier in einer sehr weiten Deutung Assmann und Assmanns als Sprechakte im Kontext zerdehnter Situationen verstanden, „die aufgrund entsprechender Institutionen die Zwischenspeicherung und Wiederaufnahme immer derselben Mitteilungen ermöglicht.“ Die Schriftform ist nicht entscheidend. (Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: Beck 1999 [1992], 22.) J. Assmann erklärt den kulturellen Text als „Summe seiner Varianten, er ist im Fluß.“ (Ders.: Religion und kulturelles Gedächtnis. Zehn Studien. München: Beck 2000, 132); vgl. ebd.: 54, 124-128; sowie ders.: Das kulturelle Gedächtnis (Anm. 11), 56. 12 Vgl. Assmann & Assmann: „Das Gestern“ (Anm. 8), 121-127, 131; J. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis (Anm. 11), 48-56, 130ff. Assmann und Assmann nennen als wesentlichsten Unterschied zwischen mündlicher und schriftlicher Überlieferung die Institutionalisierung der Wiederaufnahme der Mitteilung im Rahmen einer ‚zerdehnten Situation‘ im Sinne Ehlichs. Vgl. Konrad Ehlich: „Text und sprachliches Handeln. Die Entstehung von Texten aus dem Bedürfnis nach Überlieferung.“ In: Aleida Assmann et al. (Hrsg.): Schrift und Gedächtnis (Archäologie der literarischen Kommunikation. 1). München: Fink 1993 [1983], 24-43; J. Assmann: Religion (Anm. 11), 126. Vgl. hierzu den Beitrag von Aleida Assmann in diesem Band.
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nehmungspsychologische und gehirnphysiologische Angewiesenheit auf Abwechslung zu erfüllen.13
In dieser Dichotomie zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, der bei einem integrativen Medienverständnis eine entsprechende Dichotomie der Kultur folgt,14 wird der Fokus auf ungleiche Speicherkapazitäten sowie unterschiedliche (mnemotechnische) Strategien und Anforderungen an Zuhörer bzw. Leser gelegt. Im Folgenden soll die Zweckmäßigkeit dieser Dichotomie an einem konkreten Beispiel hinterfragt werden. In diesem Zusammenhang wird der Nutzen einer medialen Grenzziehung zwischen Funktion und Speicher kritisch beleuchtet. Es wird gezeigt, dass mnemotechnische Strategien nicht nur durch die Materialität des Medienangebotes geprägt werden, wie es Assmann und Assmann nahe legen, sondern auch durch die sozialsystemische Institutionalisierung. Dazu wird die Anwendbarkeit der einzelnen Prämissen der Dichotomie auf Straßenballaden und Predigten des 17. und 18. Jahrhunderts überprüft. Zunächst wird dargelegt, inwiefern eine Zuordnung der betrachteten Medien zu mündlichen oder schriftlichen Medien erschwert wird. Auch die Frage, inwiefern sie inhaltlich und funktional weniger durch ihre (mündliche oder schriftliche) Speicherform als durch sozialsystemische Bedingungen beeinflusst werden, wird beleuchtet. Abschließend wird darauf eingegangen, inwiefern Variation auch bei den untersuchten Medien festzustellen ist und inwieweit auch diese sozialsystemisch bedingt ist.
II. Straßenballaden und Predigten zwischen Oralität und Schriftlichkeit Während die Sprechsituation Predigten und Balladen recht eindeutig als mündliche Medien ausweist, macht die historische Form der Produktion und Rezeption ihre klare Zuordnung unmöglich. Predigten wurden i.d.R. zunächst schriftlich verfasst, bevor sie gehalten wurden. Dem Vortrag folgte häufig die Lektüre von
_____________ 13 J. Assmann: Religion (Anm. 11), 139. Vgl. Assmann & Assmann: „Das Gestern “ (Anm. 8), 130133. 14 Diese Dichotomie steht v.a. in der Tradition Ongs und Goodys, wobei Ong genauer zwischen literacy und (primary) orality unterscheidet. Vgl. Jack Goody: Literacy in Traditional Societies. Cambridge: Cambridge UP 1968; Walter J. Ong: Orality and Literacy. The Technologizing of the Word. London/New York: Routledge 1982; ders.: „Oralität“ (Anm. 8), 100. Freilich haben Assmann und Assmann schon früher auf Überschreitungen und Übergangsformen hingewiesen. Vgl. Aleida Assmann et al. (Hrsg.): Schrift und Gedächtnis (Anm. 12). Darin z.B. Aleida Assmann: „Schriftliche Folklore. Zur Entstehung und Funktion eines Überlieferungstyps.“ In: Ebd., 175-193; HansGeorg Gadamer: „Unterwegs zur Schrift?“ In: Ebd., 10-19.
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Mitschriften oder gedruckten Kopien.15 Beide waren zwar der verbreiteten Piraterie ausgesetzt, aber – zumindest für namhafte Prediger – auch eine lukrative Einnahmequelle. Diese Verbindung zur Schriftkultur wurde im 18. Jahrhundert noch enger, als sich viele Kleriker, wie Samuel Butler, auch in der weltlichen Literatur betätigten.16 Straßenballaden wurden parallel zur Entstehung, schon vor der Einführung des Drucks, auf broadsides schriftlich fixiert. Bei broadsides handelt es sich um Einblattdrucke minderer Qualität, die einzeln verkauft oder an Tavernentüren o.ä. angebracht wurden. Diese Drucke wurden schon im 16. Jahrhundert in so genannten garlands herausgegeben,17 so dass sie sogar zu den Mitbegründern der ‚Gutenberggalaxis‘ zu zählen sind. Auch die früher der Schriftkultur zugesprochene Exklusivität, respektive die Trennung in literale Hoch- und orale Niedrigkultur, ist bezüglich der Balladen nur bedingt festzustellen.18 Aufgrund ihres niedrigen Preises sind die Einblattdrucke zwar der Populärliteratur zuzuordnen,19 die Grenzen zwischen Hoch- und Niedrigliteratur waren jedoch z.T. verwischt. Kolloquialismen z.B. fanden sich im Interregnum zunehmend auch in politischen Briefen, während umgekehrt die so genannte Populärliteratur zunehmend auf klassische Texte verwies.20 Ferner sind die im 17. Jahrhundert des Lesens und Schreibens mächtigen Personen gewiss als soziale Elite zu bezeichnen, der ein privilegierter Zugang zum kulturellen Text und eine besondere Rolle in seiner Verbreitung zukam.21 So
_____________ 15 William F. Mitchell: English Pulpit Oratory From Andrewes to Tillotson. New York: Russell and Russell 1962 [1932], 14-16. 16 In dieser Zeit wird die Predigt außerdem wie nie vorher oder danach den Regeln des literary criticism unterworfen. Vgl. James Downey: The Eighteenth-Century Pulpit. A Study of the Sermons of Butler, Berkeley, Secker, Sterne, Whitefield and Wesley. Oxford: Clarendon Press 1969, 3-9, 20-21. 17 Viele der Autoren von Liedern und Reimen waren des Lesens und Schreibens nicht mächtig, bemühten sich aber dennoch darum, dass ihre Kompositionen niedergeschrieben wurden, um die Zirkulation zu erweitern und die Wirkung zu verstärken. Vgl. Leslie Shepard: The Broadside Ballad. A Study in Origins and Meaning. London: Herbert Jenkins 1962, 23-27, 267f.; Adam Fox: „Ballads, Libels and Popular Ridicule in Jacobean England.“ In: Past and Present 145 (1994), 57-61. 18 Vgl. Adam Fox: Oral and Literate Culture in England 1500-1700. Oxford: Oxford UP 2000, 227. Fox schreibt der Zeit 1500-1700 insgesamt „a sense of learned fiction feeding into popular lore“ zu. Vgl. schon früher David Cressy: Literacy and the Social Order. Reading and Writing in Tudor and Stuart England. Cambridge: Cambridge UP 1980, 14. 19 Vgl. Flemming G. Andersen: „From Tradition to Print. Ballads or Broadsides.“ In: Ders. et al. (Hrsg.): The Ballad as Narrative. Studies in the Ballad Traditions of England, Scotland, Germany and Denmark. Odense: Odense UP 1982, 9-58, 42; James A. Sharpe: Early Modern England. A Social History 1550-1760. London et al.: Arnold 1997 [1987], 283f. 20 Vgl. Peter W. Thomas: „The Impact on Literature.“ In: John Morrill (Hrsg.): The Impact of the English Civil War. London: Collins & Brown 1991, 123-142, 135f. 21 Trotz der enormen Verbreitung der Lesefähigkeit konnten zur Jahrhundertmitte nur ca. 30 Prozent der Männer und 10 Prozent der Frauen lesen und schreiben. Freilich gab es geografische und
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wurden analphabetischen Gruppen Texte z.B. in Tavernen vorgelesen.22 Das stille und private Lesen war im 17. Jahrhundert jedoch insgesamt noch nicht voll entwickelt, so dass das Leiselesen neben Laut- oder Vorlesen stand.23 In diesem Fall war die schaustellerische Sprechsituation im Balladentext zwar berücksichtigt,24 der Text aber wurde nur gelesen bzw. von einem nichtspezialisierten Sprecher vorgelesen. In dessen Ermessen lag es, sich beim Vorlesen vom Text zu distanzieren und ihn als fremden erkennbar zu machen oder die Rolle des schaustellerischen Sprechers auszufüllen.25
III. Der Einfluss sozialsystemischer Institutionalisierung auf die intertextuelle (Re-) Konstruktion von Erinnerung und auf funktionale Grenzüberschreitungen zwischen Gedächtnismedien Abgesehen von der durch Produktions- und Rezeptionsbedingungen gegebenen Schwierigkeit, Balladen und Predigten eindeutig als schriftliche oder mündliche Medien der Erinnerung zu identifizieren, scheinen ihre spezifischen Verfahren bei der Konstruktion von Erinnerung sowie ihre Funktionen für das kulturelle Gedächtnis nicht nur durch die Speicherform, sondern auch durch die jeweilige sozialsystemische Institutionalisierung bestimmt. (1) Die (Re-)Konstruktion von Erinnerung verläuft, v.a. in den Straßenballaden, intertextuell. Insofern wird eine Abgrenzung von Oralität und Literalität schon durch das inhaltliche Verhältnis zu anderen Medien erschwert. Massivste Verweise sind auf Eikon Basilike festzustellen, eine mit Gebeten versetzte Schrift von 1649, für deren Autor Zeitgenossen den König selbst hielten.26 Sowohl Balladen als auch Predigten greifen beispielsweise immer wieder auf den Topos zurück, Charles tausche im Zuge seiner Hinrichtung die korrumpierbare weltliche Krone
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soziale Unterschiede: so war der Analphabetismus in London geringer, und Frauen waren generell benachteiligt, da man ihre Ausbildung, wie die von Männern aus den unteren Schichten, als widernatürlich und überflüssig betrachtete. Vgl. Richard Cust: „News and Politics in Early SeventeenthCentury England.“ In: Past and Present 112 (1986), 60-90, 62-64; Margaret Spufford: „First Steps in Literacy. The Reading and Writing Experiences of the Humblest Seventeenth-Century Autobiographers.“ In: Social History 4 (1979), 407-435; Sharpe: Early Modern England (Anm. 19), 254-272. Vgl. Richard Cust: „News and Politics“ (Anm. 21), 65f.; Cressy: Literacy (Anm. 18), 13-18, 42f. Vgl. Mrytz: Das Verhältnis (Anm. 7), 64f. Würzbach: Anfänge (Anm. 7), 53-155. Vgl. Mrytz: Das Verhältnis (Anm. 7), 65. Vgl. Philip A. Knachel (Hrsg.): Eikon Basilike. The Portraiture of His Sacred Majesty in His Solitudes and Sufferings (= The Folger Shakespeare Library). Ithaca et al.: Cornell UP 1966 [1649]; Francis F. Madan: A New Bibliography of the Eikon Basilike. Oxford: Oxford UP for Oxford Bibliographical Society 1950, 138-140.
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durch die „incorruptible crown“ des Märtyrers aus.27 Dies war ursprünglich auf einen Ausspruch des Königs auf dem Schafott zurückzuführen, aber durch das Frontispiz von Eikon Basilike populär geworden, auf dem Charles die goldene Krone der Welt verächtlich zurückweist, um die Krone des Märtyrers anzunehmen und die Krone des Ruhmes zu erwarten.28 Indem Balladen und Predigten diesen Topos aufgreifen, trägt die mündliche Kultur stark zur Perpetuierung der schriftlichen bei. Das Programm einer zugleich mündlich und schriftlich vermittelten Kultur findet insgesamt ihren Niederschlag auch in der Erinnerung an Charles. Hier greift man gleichermaßen kreativ auf mündlich und schriftlich verfasste oder rituell verankerte Erinnerung und Tradition zurück. Beispielsweise kommentieren Balladen häufig Ankündigungen der Almanache oder religiöse Diskussionen.29 In der populären Form der Litanei verweisen sie auch strukturell auf rituelle Erinnerung. „Te rogamus audi nos“ oder „Libera nos, domine“ sind hier typische Refrains.30 Die untersuchten Predigten anlässlich des dies natalis sind zwar weniger interdiskursiv, greifen aber gleichwohl auf Inhalte zurück, die in religiösen Schriften oder innerhalb des kommunikativen Gedächtnisses transportiert werden. Robert South beispielsweise verweist auf eine die Herrschaft Elizabeths I verdammende Schrift von John Foxe, um die Herrschaft Cromwells im Commonwealth als Usurpation zu stigmatisieren: [T]hey founded the first Trumpet of Rebellion, and like true Saints, had the Grace to persevere in what they first began: courting and recognizing an Usurper [...] left a lasting Scandal upon the Protestant Religion. (Hervorhebung AS)31
_____________ 27 Vgl. John Downe: The Martyrdome of King Charles, Or His Conformity with Christ in His Sufferings. In a Sermon on I. Cor. 2.8 Preached at Bredagh, before His Majestie of Greate Britaine, and the Princess of Orange. June 3/13 1649. Hague: Printed by Samuel Broun 1649, 17; Anonym: „AN ELEGIE On the Best of Men, The Meekest of Martyrs, CHARLES the First, & c.“ In: Henry Brome & Henry Mars (Hrsg.): Rump or an Exact Collection of the Choycest Poems and Songs Relating to the Late Times. By the Most Eminent Wits, from Anno 1639, to Anno 1661. 2 Bde. London: Printed for H. Brome and H. Harsh 1662, 283: „So that his Tomb is now his Throne become,/ T’invest him with the Crown of Martyrdome.“ 28 Vgl. Knachel: Eikon (Anm. 26), 177, 179. 29 Die Ballade „Bright Soule, Instruct Poore Mortalls how to Mourne“ verweist gar gleichzeitig auf mehrere Medien: „To carue thy statue were amiss,/ thy BooKe thy best Colossus is/ T’inclose thy Reliquies were vneuen.“ In: Cutts: Seventeenth Century (Anm. 2), 42. (Hervorhebungen AS) 30 Z.B. The Old Protestant’s Litany: „That thou wilt be pleased to grant our requests,/ And quite destroy all the vipers’ nests [...],/ Te rogamus audi nos.“ Thomas Wright (Hrsg.): Political Ballads Published in England During the Commonwealth. London: Percey Society 1841, 138. Vgl. Anonymous: „The New Litany.“ In: Ebd., 137f. 31 Robert South: A Sermon Preach’d before King Charles II, on the Fast (appointed Jan. 30) for the Execrable Murder of His Royal Father. London: Printed for Elizabeth Sawbridge [1705?], 27. Vgl. ebd. 25: „We hear of Plots, Combinations, Parties joyning and agreeing; and let us not so much trust in their Opposition among themselves“.
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Die (Re-)Konstruktion von Erinnerung in Straßenballaden und Predigten zeigt, dass mündliche und schriftliche Erzähltraditionen nicht als separate Phänomene auftreten, sondern in einem wechselseitigen Beziehungszusammenhang stehen, auf den auch Braudnich verwiesen hat. Anhand der Flugblattforschung hat er gezeigt, dass nicht nur innerhalb der mündlichen Überlieferung bestimmte Erzählthemen über längere Zeiträume tradiert werden können, sondern dass auch die historischen Printund Bildmedien durch die Bevorzugung eines begrenzten Vorrats an Themen an der Entstehung einer Medienkultur mitgewirkt haben, die zugleich schriftliche und mündliche Kultur gewesen ist, weil sie besonders von den Wechselwirkungen zwischen diesen beiden Sphären lebte.32
Im Fall der Erinnerung an Charles ist zwar nicht auszumachen, ob die mündliche Vortragsweise oder die schriftliche Verbreitung stärker zur Etablierung einer Erzähltradition beigetragen hat; festzustellen ist aber, dass auch Balladen und Predigten am – sonst in dieser Form nur schriftlichen Medien zugesprochenen – Prozess des Erinnerns, Rekonstruierens, Variierens und Vergessens beteiligt sind! (2) Hinsichtlich der sozialsystemischen Institutionalisierung scheint im untersuchten Fall auch die von Assmann und Assmann für Medien der Erinnerung vorgeschlagene Unterscheidung in Medien „ersten und zweiten Grades“ nicht zu greifen. Es ist kaum zu entscheiden, ob Balladen und Predigten überwiegend an der Kodifikation und Speicherung von Erinnerung beteiligt waren oder zusätzlich einen „sozial bestimmten und praktizierten Erinnerungswert“ aufwiesen, also überwiegend an der Aktivierung der gespeicherten Daten beteiligt waren.33 Vielmehr lässt sich feststellen, dass beide Medien im Rahmen des kollektiven Gedächtnisses zumindest teilweise die gleichen Funktionen wie schriftliche Texte übernehmen.34 Eine Zuordnung scheint v.a. hinsichtlich der untersuchten Predigten problematisch. Denn sie weisen sich zwar durch ihre rituelle Einbindung als ‚Medien zweiten Grades‘ aus, sind aber in Bezug auf die kreative (Re-)Konstruktion der Erinnerung an Charles eindeutig an der Speicherung beteiligt. Die Kodifikation beispielsweise erfolgt in der Regel durch Anbindung ausgewählter Mo-
_____________ 32 Rolf W. Braudnich: „Medien als Stifter oraler Kommunikation.“ In: Werner Faulstich (Hrsg.): Medien und Kultur. Beiträge zu einem interdisziplinären Symposium der Universität Lüneburg (= Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik. Beiheft 16). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1991, 16-29, 17. Vgl. Fox: Oral and Literate (Anm. 18), 50; David Cressy: „The Environment for Literacy.“ In: Daniel P. Resnick (Hrsg.): Literacy in Historical Perspective. Washington D.C.: Library of Congress 1983, 23-42, 33. 33 Vgl. Assmann & Assmann: „Das Gestern“ (Anm. 8), 121. 34 Vgl. Ansgar Nünning & Susanne Spekat: „Der König als christlicher Märtyrer. Charles I im (Zerr-) Spiegel englischer Straßenballaden der Revolutionszeit.“ In: Uwe Baumann (Hrsg.): Basileus und Tyrann. Herrscherbilder und Bilder von Herrschaft in der Englischen Renaissance (= Düsseldorfer Beiträge aus Anglistik und Amerikanistik. 8). Frankfurt a.M. et al.: Peter Lang 1999, 211-234.
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mente der Passionsgeschichte Christi an die Geschichte Charles’ I. Umgekehrt sind auch Predigten an der Aktualisierung des ‚bewohnten Gedächtnisses‘ (A. Assmann) beteiligt, wenn sie beispielsweise nach 1679 die Erinnerung an Charles instrumentalisieren, um Fragen der Thronfolge und des Gesellschaftsvertrages zu popularisieren: [S]ome pretending to Wit and Policy [...] have declared [...] that ‚The King is King by Law, that Government is not Jure Divino‘ [...] beware of those deceitful workers, who, like Rats that gnaw in the dark, do privily go about to undermine government, by such poisenous Doctrines as these, that Kings may be deposed [...] shall the Bloud of Charles the first be forgotten thus? However it was spilt upon the Earth, yet the cry of it is gone up to Heaven [...] and if we repent not of it seriously and heartily, it is to befeared that God will enter into Judgment further with us yet.35
IV. Sozialsystemisch bedingte Möglichkeiten und Grenzen der Variation Unabhängig von der den mündlichen Vortrag begleitenden schriftlichen Fixierung ist v.a. die Prämisse, erst die Schrift verlagere das Speicherproblem zu einem Verstehensproblem und Variation sei nur schriftlich gegeben, hinsichtlich der untersuchten Medien problematisch. Möglichkeiten und Grenzen der Variation scheinen nicht nur durch die Speicherform, sondern besonders durch die sozialsystemische Institutionalisierung bedingt.36 (1) Natascha Würzbach u.a. haben bereits ausführlich dargelegt, inwiefern Balladen durch Mnemotechniken wie Wortarmut bzw. Redundanz, partizipatorische Strukturen, implizites Sprechen und deutliche Sprecher-Hörer-Signale der mündlichen Sprechsituation gerecht zu werden versuchen.37 Entsprechende Strategien
_____________ 35 Edward Pelling: A Sermon Preached on the Thirtieth of January, 1678/9, Being the Anniversary of the Martyrdome of K. Ch. The First of Blessed Memory, and Published at the Request of Some Friends. London: Printed for Jonathan Edwin 1679, 5-23. 36 A. Assmann hat entsprechend auf Variationsmöglichkeiten von schriftlicher Folklore verwiesen. Vgl. A. Assmann: „Schriftliche Folklore“ (Anm. 14), 179f. 37 Vgl. Würzbach: Anfänge (Anm. 7), 73-163, 350-357; Wulf Oesterreicher: „Types of Orality in Text.“ In: Egbert J. Bakker & Ahivia Kahane (Hrsg.): Written Voices, Spoken Signs. Tradition, Performance and the Epic Text. Cambridge, MA/London: Harvard UP 1997, 190-214, 194; Peter Koch & Wulf Oesterreicher: „Sprache der Nähe, Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte.“ In: Romanistisches Jahrbuch 36 (1985), 1543; Aleida Assmann & Jan Assmann: „Schrift und Gedächtnis.“ In: Dies. et al. (Hrsg.): Schrift und Gedächtnis (Anm. 12), 265-284, 269f. Sie weisen darauf hin, dass orale und literale Verfahren in schriftlichen wie mündlichen Medien auftreten können. Vgl. ebd., 273f.
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einer „Sprache der Nähe“ weisen Predigten ebenfalls auf.38 Grad und Ausgestaltung solcher Strategien differieren jedoch stark und scheinen v.a. durch sozialsystemische Zusammenhänge bedingt.39 Da man sich durchaus bewusst war, dass eine gelesene Predigt nicht so auf die Gemeinde wirken konnte wie eine frei gepredigte – so konnte der Lesende nicht in der gleichen Weise auf die Zuhörer reagieren –, war es unter James I beispielsweise nur wenigen Predigern gestattet, eigene Predigten zu verfassen; die meisten mussten ihre aus den homilies vorlesen.40 Auch der strukturelle Aufbau einer selbst verfassten Predigt folgte konventionalisierten Regeln des emplotment eines christlichen Sachverhalts und seiner rhetorischen Darlegung.41 Neben dem aus dem Mittelalter stammenden und bis 1547 vorherrschenden elaborierten Aufbau42 behaupteten sich zum Zeitpunkt der Hinrichtung Charles’ I freiere Ausgestaltungen, die je nach Konfession variierten. Die Predigten anlässlich des 30. Januars entsprachen bezüglich des Aufbaus sowie der Form der Bibelexegese allerdings überwiegend der alten Form. Die forderte entweder die thematische Abhandlung eines beliebigen Themas nach Prämissen der Vernunft oder die Erklärung oder Anwendung einer Bibelpassage.43 So bildete entweder die Erinnerung an Charles den Ausgangspunkt und Rahmen der Predigt oder es wurde zunächst eine prägnante und als Axiom der Predigt fungierende Bibelstelle wiedergegeben und danach auf die Geschichte Charles’ I angewendet: And he sayth unto the Jews, Behold your King. But they cryed out. Away with him, away with him, crucifie him. Pilate sayth unto them, Shall I crucifie your King? The chiefe Priestes answered, We have no King but Caesar [...] And there are [...] second
_____________ 38 Typisch ist z.B. „Hee is the Lord by the Right of redemption for hee who redeemeth a captive becomes his Lord, and Christ, when whee were captives, hath redeemed us.“ Downe: The Martyrdome (Anm. 27), 6. 39 Umso dringlicher scheint eine Unterscheidung in Medienangebot und Dispositiv, wie sie Schmidt vornimmt. Analog unterscheidet Egbert J. Bakker: „How Oral is Oral Composition?“ In: Anne E. Mackay (Hrsg.): Signs of Orality. The Oral Tradition and its Influence in the Greek and Roman World (= Mnemosyne: Supplementum. 188). Leiden et al.: Brill 1998, 29-47, 30-33 das Medium des Diskurses bzw. der aktuellen Performanz vom Objekt des Textes, das in Komposition und Transkription im Extremfall mündliches oder schriftliches Register nutzt bzw. vom Mündlichen ins Schriftliche oder umgekehrt transferieren kann. 40 Vgl. James’ Version der homilies und seine Instructions Regarding Preaching (1622). Vgl. Bryan Crockett: The Play of Paradox. Stage and Sermon in Renaissance England. Philadelphia: University of Philadelphia Press 1995, 15-17. 41 Traditionell verstand man Predigten als „sacred oration, governed by the rules and embellished by the ornaments of rhetoric“. (John W. Blench: Preaching in England in the late Fifteenth and Sixteenth Centuries. Oxford: Blackwell 1964, 71) 42 Nach klassischer Regel bestand die Predigt aus ‚Exordium‘, ‚Narratio‘, ‚Divisio‘, ‚Confirmatio‘, ‚Confutatio‘ und schließlich ‚Conclusio‘. Vgl. Blench: Preaching (Anm. 41), 71-72. 43 Vgl ebd., 71f.
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Priestes [...] even they of the Assemblie and Sanhedrin it selfe, who, as silent & uninterested as they seem’d when that trytourous charge was brought into the Court, have [...] made the pulpits ring [...] to give notice to the world [...] We will not have Charles for our King.44
Die Parallelität zwischen der biblischen Geschichte und dem Schicksal des Königs – und damit die Kontinuität der biblischen Geschichte – konnte beispielsweise durch Wiederholung der biblischen Metaphern oder analoges emplotment hervorgehoben werden.45 Während diese Stilmittel vom Zuhörer ununterbrochene Aufmerksamkeit oder die Fähigkeit der schnellen Orientierung im Bibeltext verlangten, kam eine weitere Form dem zerstreuten oder in der Bibel weniger firmen Zuhörer entgegen. Bischof Downe beispielsweise verweist 1649 auf Analogien zwischen der biblischen Geschichte zu der Geschichte des Königs immer wieder direkt,46 während Thomas Long 1686 Charles und Moses nicht nur vergleicht, sondern Ereignisse und Bilder immer wieder vermischt. But that which causeth me to mention this, was that Cure which Moses wrought upon Miriam, who was troubled with a kind of Kings Evil, being smitten with a Leprosie somewhat like it, for her murmuring against Moses; but was cured by his Prayer, Numb. 12. 13. Moses cryed to the Lord, saying, Heal her now, O God, I beseech thee. And when the rude Souldiers that guarded his Majesty denied a poor afflicted woman that was very importunate to have access to him, deriding her as a superstitious woman; the Royal Martyr observing and pitying her condition, told her, Though he could not touch her, he would pray to God to heal her: and she went to her home, and was healed.47
Auch die Positionierung der Predigt zwischen delectare und movere und die Wahl zwischen metaphorischer, elaborierter oder sachlicher Sprache48 folgte
_____________ 44 Richard Watson: Regicidium Judaicum: A Discourse, about the Jewes Crucifying Christ, their King. With an Appendix, or Supplement, upon the Late Murder of Our Blessed Soveraigne Charles the First, Delivered in a Sermon at the Hague before His Majestie of Great Britain &c. his Royal Sister, Her Highness, the Princess of Orange. Hague: Printed by Samuel Broun 1649, 1-23. 45 Der Analogieschluss ist hier insgesamt wichtigstes Moment der Argumentation. Hutton vermischt in seiner Predigt 1686 die biblische Geschichte mit der jüngsten Vergangenheit, indem er entweder explizit auf Parallelen hinweist oder indem er einzelne Worte, die im Zusammenhang mit der Revolution gängig waren, verwendet, um die biblische Geschichte zu erzählen, oder umgekehrt. Vgl. Charles Hutton: The Rebels’ Text Opened, and their Solemn Appeal Answered. Being a Sermon Preach’d at the Parish Church of Up-Lime, on the Thanksgiving-Day for our Wonderful Deliverance from the Late Horrid Rebellion. Being Sunday, July 26 1685. London: Printed for Walter Kettilby 1686. 46 Vgl. Downe: The Martyrdome (Anm. 27), 15. 47 Thomas Long: MOSES and the Royal Martyr (King Charles the First) Parallel’d. In a Sermon Preached the 30th of January, 1683/84 in the Cathedral-Church of St. Peters, Exon. London: Printed by J.C. and F. Collins 1684, 14-15. 48 Im Gegensatz zu der katholischen (alle Sinne ansprechenden und die Allegorie bevorzugenden) Form werden nach der Theorie von Whitaker & Perkins in der reformierten Predigt Allegorien und Tropen möglichst auf ihren wörtlichen Sinn reduziert, kryptische Stellen werden in eine ‚Spra-
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konfessioneller Gruppenzugehörigkeit, aber auch kulturhistorisch bestehenden Strömungen.49 So fand nicht nur der schon im Interregnum beginnende Aufschwung der Satire seinen Niederschlag auch in Balladen und Predigten,50 sondern auch die Faszination für die performative Präsentation des Paradoxen, für die Möglichkeit, Lösungen durchzuspielen.51 Abgesehen von differierenden Mnemotechniken ist festzustellen, dass beide betrachteten Medien je nach sozialsystemischem Bedingungszusammenhang unterschiedliche Möglichkeiten der Variation bereithalten. Voraussetzung und Begrenzungsrahmen der Variation ist das Verstehen der message. Dies wird schon durch die Einhaltung von Gattungskonventionen erleichtert, welche als „kognitive Schemata“ fungieren. Sie bauen Erwartungshaltungen hinsichtlich des Umgangs auf, koppeln „kognitive, affektive und assoziative Faktoren von Bewußtseinstätigkeit“ und reduzieren dabei Komplexität.52 Daneben wird Variation durch die zentrale Rolle des Erzählens für die Elaboration von Erinnerungen ermöglicht. Um intersubjektive Validierung zu erreichen, muss sich der Erzähler bzw. Prediger auf soziokulturell geteilte Makrostrukturen stützen, auch typische Szenen und Handlungsstränge fungieren hier als variabel einsetzbare Zeichen.53 Damit sind aber Kontroversen über Details mög-
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che des statement‘ überführt, die Argumentation folgt dem wörtlichen Sinn. Vgl. Blench: Preaching (Anm. 41), 57-60, 87-113. Entsprechend orientieren sich Predigten im 18. Jh. zunehmend an Prämissen der Vernunft und den Konventionen der ‚polite society‘. Sogar das Thema Hölle gerät dadurch in den Hintergrund. Vgl. Bernd Lenz: „Preachers and Preaching. Emotionalism in Eighteenth-Century Homiletics and Homilies.“ In: Elmar Lehmann & Bernd Lenz (Hrsg.): Telling Stories. Studies in Honour of Ulrich Broich on the Occasion of his 60th Birthday. Amsterdam: Philadelphia 1992, 109-125. Vgl. Thomas: „The Impact“ (Anm. 20), 134f. Einen Höhepunkt der satirischen Einbettung der Erinnerung an Charles bildet aber Swifts Predigt im 18. Jh. Vgl. James J. Stathis: „Diminution in the Pulpit: Swift’s Sermon Upon the Martyrdom of King Charles I.“ In: Tennessee Studies in Literature 12 (1967), 51-55. In Balladen der Zeit ist die Tendenz zur satirischen Darstellung z.B. in der schon genannten Form der Litanei vorzufinden sowie in der Form der ‚satire-in-reverse‘, die nur scheinbar die Position des Gegners einnimmt. Vgl. z.B. die Ballade „A Turn-Coat of the Times. Who Doth by Experience Profess and Protest that of all Professions, a Turn-Coat’s the Best.“ In: Walter W. Wilkins (Hrsg.): Political Ballads of the Seventeenth and Eighteenth Centuries Annotated. Bd. 1. London: Longman, Green and Roberts 1860, 167-171. Vgl. Martin Butler: Theatre and Crisis 1632-1642. Cambridge: Cambridge UP 1984, 91; Crockett: The Play (Anm. 40), 6-8, 28, 32. Schmidt: Kognitive Autonomie (Anm. 6), 168-173. Vgl. auch ebd., 172: „Wendet man das SchemaKonzept [Piagets] auf den Umgang mit Medienangeboten an, so kann man zunächst davon ausgehen, daß jeder Aktant im Verlaufe seiner Mediensozialisation lernt, wie man mit Medienangeboten umgeht [...]. Das heißt, Aktanten erwerben die kognitive Fähigkeit, Medienangebote unter bestimmte Klassen zu ordnen, die mit anderen Klassen ein strukturiertes Feld bilden. Sie bauen Erwartungen auf mit solchen Klassen, hinsichtlich der lebenspraktischen Relevanz sowie der emotionalen Besetzung dieses Umgehens. Kurzum: Aktanten erwerben [...] Medien-Schemata.“ „[Sêmata] become keys that unlock traditional realities, automatically alluding to complex ideas [...] by citation of the agreed-upon code.“ (John M. Foley: „What’s in a Sign?“ In: Anne E. Mackay
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lich.54 Bischof Downe beispielsweise setzt 1649 Charles’ Weg zum Schafott mit dem Christi gleich und bemerkt: When our Saviour was at Jerusalem, the Pharisees stird up the people to stone him [...]. So when the King was at Westminster, tumults were raised, stones and blasphemies cast out against him.55
Die Tatsache, dass Zeitzeugen nur berichteten, Charles sei beschimpft, und nicht, er sei mit Steinen beworfen worden, ist ebenso sekundär wie die, dass dies nach dem Urteilsspruch und nicht auf dem Weg zur Hinrichtung geschah. Wesentlich ist, dass die Hinrichtung in den Kontext der eindeutig konnotierten Hinrichtung Christi gestellt und der Zuhörer zur Komplettierung des Erzählten motiviert wird.56 Möglichkeiten zur Variation sind, was die Ballade betrifft, darüber hinaus strukturell schon angelegt. Das von Milman Parry im Rahmen der „oral poetry“ entwickelte Konzept ist zwar kritisiert worden, aber in modifizierter Form in die „formulaic theory“ eingegangen.57 Demzufolge besitzt die Ballade formelhafte Merkmale, die nicht nur der Mnemotechnik dienen, sondern auch supra-narrative Funktionen haben, weil sie „overtones“ liefern58 und damit Variation unterstützen.
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[Hrsg.]: Signs of Orality. The Oral Tradition and its Influence in the Greek and Roman World [= Mnemosyne: Supplementum. 188]. Leiden et al.: Brill 1998, 1-27, 7); vgl. ders.: Immanent Art. From Structure to Meaning in Traditional Oral Epic. Bloomington: Indiana UP 1991, 18-28. Vgl. Siegfried J. Schmidt: „Gedächtnis – Erzählen – Identität.“ In: Aleida Assmann & Dietrich Harth (Hrsg.): Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung. Frankfurt a.M.: Fischer 1991, 378-397, 388-390. Das kognitive System bewahrt auch bei langer und intensiver Sozialisation eine optionale Autonomie, die z.B. dadurch entsteht, dass Individuen als Rollenträger in funktional differenzierten Gesellschaften in mehreren Sozialsystemen operieren. Vgl. ebd., 390f. Inwiefern diese Autonomie schon in den einzelnen Texten berücksichtigt wird, d.h. inwiefern diese die Möglichkeit zum Gegenlesen schon bereitstellen, bedarf einer genaueren Untersuchung, die im Rahmen dieses Aufsatzes nicht geleistet werden kann. Downe: The Martyrdome (Anm. 27), 15. Zur Elaboration von Erinnerungen durch Strategien wie Komplettierung und Kontextualisierung vgl. Schmidt: „Gedächtnis“ (Anm. 54), 385. Für einen Überblick vgl. John M. Foley: Oral-Formulaic Theory and Research: An Introduction and Annotated Bibliography. New York: Garland Publishing 1992 [1985]. Vgl. Flemming G. Andersen: „Technique, Text, and Context. Formulaic Narrative Mode and the Question of Genre.“ In: Joseph Harris (Hrsg.): The Ballad and Oral Literature (= Harvard English Studies. 17). London: Harvard UP 1991, 18-39, 24f. Ebd., 21: „[O]ne of their functions is to underline the dramatic unfolding of the ballad narrative. More specifically, formulas participate in all the repetition patterns [...] of traditional balladry.“ Mrytz: Das Verhältnis (Anm. 7), 58 stellt – wenn auch in Bezug auf die Volksballade – fest, sie sei v.a. aufgrund ihres „paradigmatischen Verfahrens der Formelhaftigkeit durch spezifische intertextuelle Bezüge gekennzeichnet [...]. Die metasemantischen Bedeutungsanteile einer Formel verfestigen sich erst durch ihr Erscheinen in (ähnlichen Kontexten) von mehreren Varianten.“
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Mit „overtones“ sind Phrasen oder Verse gemeint, die Kernaussagen wiederholt aufgreifen und die als Einheiten variierbar sind, also mit anderen Worten ausgedrückt werden können, solange die Gesamtaussage erhalten bleibt.59 Damit ist es dem Balladensänger nicht nur möglich, den Text an seinen individuellen Stil anzupassen. Vielmehr kann die Ballade auch an einen sich verändernden Erfahrungshorizont angeglichen werden. Tatsächlich ist festzustellen, dass der Umgang mit Balladen kreativ verläuft. Besonders populäre Melodien und Texte werden weiter geschrieben, so dass auf eine z.B. kurz nach der Hinrichtung entstandene Version häufig ganz verschiedene Varianten folgen.60 Das markanteste Beispiel bildet die im Interregnum entstandenen Ballade „When the King enjoys his own again“, die über Jahrzehnte unzählig variiert wurde, so in „When the King comes home in peace again“ oder „The King enjoys his own again“.61 Dabei wird häufig nicht nur die Melodie übernommen, welche die Gesamtaussage assoziativ erweitert, auch Teile der einzelnen Verse werden aufgegriffen. So stellt der Refrain „Then low, boys, down go we“ in Ned Wards Ballade „The Desponding Whig“ (1709) eine Umkehrung des Refrains „Hey, then, up go we“ der gleichnamigen Ballade von 1648 dar.62 (2) Eine Oralität und Literalität gegenüberstellende Perspektive, welche eine Trennung in Funktions- und Speichergedächtnis nur der Literalität zuspricht, scheint schließlich auch nur eingeschränkt sinnvoll, wenn die Möglichkeit der Auslagerung an sich noch keinen Garant für das Überleben des Gespeicherten darstellt. Assmann und Assmann haben darauf hingewiesen, dass die Speicherung des kulturellen Textes nur die Vorbedingung der Wiederaufnahme ist, für welche Kommunikation wesentlich sei.63 Insofern hat die Kultursemiotik zu Recht die Betrachtung der Medien als Speicher zugunsten der Betonung der konstruktiven Wahrnehmungs- und Lernprozesse der Erinnerung vernachlässigt.64 Wenn man mit Habermas davon ausgeht, dass sich Begriffe und Konzepte verändern, wenn
_____________ 59 Vgl. Andersen: „Technique“ (Anm. 58), 22-24. 60 Vgl. ebd., 23-32. Vgl. A. Assmanns Konzept der „Folklorisierung“, das „auf die Bedürfnisse eines spezifischen Publikums oder Mediums zugeschnitten[e]“ Variationen beschreibt. A. Assmann: „Schriftliche Folklore“ (Anm. 15), 186. 61 Vgl. Charles Mackay (Hrsg.): The Cavalier Songs and Ballads of England From 1642 to 1684. London: Griffin, Bohn and Co 1863, 1, 4, 247. 62 Ebd., 32. 63 Vgl. J. Assmann: Religion (Anm. 11), 128; Assmann & Assmann: „Schrift und Gedächtnis“ (Anm. 37), 277f. 64 Vgl. Schmidt: „Gedächtnis“ (Anm. 54), 378-380; Juri Lotman & Boris A. Uspenskij: „Zum semiotischen Mechanismus der Kultur“. In: Karl Eimermacher (Hrsg.): Semiotica Sovietica. Arbeiten der Moskauer und Tartuer Schule zu sekundären modellbildenden Zeichensystemen. Bd. 2 (= Aachener Studien zur Semiotik und Kommunikationsforschung). Aachen: Rader 1986, 853-880.
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sie Erfahrungen nicht mehr angemessen zusammenfassen,65 und Erinnerung umgekehrt als „Aktivierung einer dauerhaft gebahnten Struktur in komplexen kognitiven Zusammenhängen“66 versteht, ist es immer erst die kulturhistorisch bedingte Lesbarkeit des Vermittelten, welche die Aktualisierung des bewohnten Gedächtnisses ermöglicht.67 Nimmt man beispielsweise eine schriftlich überlieferte politische Straßenballade, wird schnell deutlich, dass dem heutigen Leser das Verständnis v.a. durch die – freilich durch die ursprüngliche Kommunikationssituation bedingte – Indirektheit des Bezugs auf zeitgenössische Erscheinungen erschwert wird.68 Insofern wird in Schriftkulturen zwar nicht vergessen, was nicht gebraucht wird, aber ebenso wenig wird gelesen, was nicht verstanden wird.69
V. Fazit Überprüft man die Prämissen der ubiquitären Dichotomie zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, wird deutlich, dass inhaltliche, formale oder funktionale Unterschiede zwischen Gedächtnismedien weniger durch Speicherformen als durch sozialsystemische Bedingungen beeinflusst werden. Insofern kann auch eine Theoriebildung zum kollektiven Gedächtnis Medienangebote nicht nach ihrer Materialität oder Speicherform klassifizieren. Besonders der die Bildung eines kol-
_____________ 65 Eine Zusammenfassung bietet Sven Strasen: „Habermas, Jürgen“. In: Ansgar Nünning (Hrsg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Stuttgart/Weimar: Metzler 2001 [1998], 235f. 66 Schmidt: „Gedächtnis“ (Anm. 54), 381. Vgl. ebd., 381-384. Schmidt bemerkt: „Kognition und Kommunikation [bestätigten die Kultur], in deren Rahmen sie sich allererst entfalten.“ Ders: „Die Wirklichkeit“ (Anm. 4), 13. 67 Hier verkompliziert sich die Sachlage weiter, da diese erlernten Schemata in oralen und Schriftkulturen unterschiedlich sein sollen. Vgl. Ong: Orality (Anm. 14) und William F. Brewer: „The Story Schema. Universal and Culture-Specific Properties.“ In: David R. Olson et al. (Hrsg.): Literacy, Language, and Learning. The Nature and Consequence of Reading and Writing. Cambridge: Cambridge UP 1985, 167-194. 68 Ohne andere Texte, welche die Dekodierung ermöglichen, wäre es z.B. schwierig herauszufinden, dass mit der in der Ballade Hugh Peters Last Will and Testament: or, the Haltering of the Divell genannten Figur Noll Oliver Cromwell gemeint ist. Vgl. Wright: Political Ballads (Anm. 30), 242-248. 69 Entsprechend bemerkt Schmidt: „Die Wirklichkeit“ (Anm. 4), 16: „Medienangebote lassen sich aus vielen Gründen nicht als Abbilder der Wirklichkeit bestimmen, sondern als Angebote an kognitive und kommunikative Systeme [...]. Werden diese Angebote nicht genutzt, ‚transportieren‘ Medienangebote gar nichts.“ Oder wie Vittoria Borsò bemerkt: „[S]ozialen Sinn stiftende kulturelle Funktionsgedächtnisse [brauchen] nicht nur Speichermedien, sondern Formen, die die Aufbewahrungs- und Sinnstiftungsfunktionen erfüllen. Im Zusammenspiel mit diesen Formen werden die Medien zu symbolischen Konstruktionsmaschinen.“ (Vittoria Borsò: „Gedächtnis und Medialität. Die Herausforderung der Alterität. Eine medienphilosophische und medienhistorische Perspektivierung des Gedächtnis-Begriffs.“ In: Dies. et al. [Hrsg.]: Medialität und Gedächtnis. Interdisziplinäre Beiträge zur kulturellen Verarbeitung europäischer Krisen. Stuttgart/Weimar: Metzler 2001, 23-53, 38)
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lektiven Gedächtnisses erst ermöglichende „Vorgang des Einprägens und Rückrufens spezifischer Inhalte“70 kann nur zufrieden stellend erklärt werden, wenn er in Bezug auf alle Bedingungen der Wirklichkeitskonstruktion analysiert wird. Unter der Berücksichtigung dieser Bedingungen wird deutlich, dass eine Dichotomie zwischen mündlichen und schriftlichen Gedächtnismedien nicht aufrecht zu erhalten ist und gegebenenfalls durch den Blick auf zugleich mündlich und schriftlich perpetuierte Erzähltraditionen ersetzt werden muss.
_____________ 70 Aleida Assmann: „Zur Metaphorik der Erinnerung“ (Anm. 3), 14.
ROLF REICHARDT
Expressivität und Wiederholung Bildsprachliche Erinnerungsstrategien in der Revolutionsgrafik nach 1789 I. Einleitung Anfang Februar 2003 ging eine kurze, aber bemerkenswerte Meldung durch die Tageszeitungen: Als der amerikanische Außenminister Colin Powell und der Chef der UNWaffeninspekteure Hans Blix vergangene Woche vor der internationalen Presse in New York ihre Positionen zu einem möglichen Krieg gegen den Irak erläuterten, sollte die Weltöffentlichkeit eines nicht sehen: Pablo Picassos Guernica, das in Form einer Tapisserie, die Nelson A. Rockefeller 1985 den Vereinten Nationen geschenkt hat, im Vorraum zum Sitzungssaal des Sicherheitsrats hängt. Picassos aufwühlendes Memento, das bekannteste Anti-Kriegs-Bild des zwanzigsten Jahrhunderts, war von einem blauen Vorhang mit UN-Logos verhüllt worden. Es sei, so ein Diplomat, kein ‚angemessener Hintergrund‘, wenn Powell oder der Botschafter der Vereinten Nationen, John Negroponte, über Krieg redeten und dabei von schreienden Frauen, Kindern und Tieren umgeben seien, die das durch Bombardements verursachte Leid zeigten. Ein Sprecher der Vereinten Nationen bekräftigte, der Vorhang sei ‚ein angemessener Hintergrund für die Kameras‘.71
Dieser symbolische Akt sagt einiges über die anhaltende Macht von Bildern. Was die zitierten Politiker mit so viel Aufwand zu verdrängen suchten, war das suggestive, unkontrollierbare Potential einer kollektiven visualisierten Erinnerung. Nicht nur, dass sie offenbar jeden Vergleich der aktuellen militärischen Irak-Planungen der USA mit der Bombardierung und Zerstörung der baskischen Kleinstadt Guernica im spanischen Bürgerkrieg durch die deutsche Luftwaffe am 26. April 1937, an die Picassos Kunstwerk gemahnt, unterbinden wollten. Vielleicht noch mehr fürchteten sie den emotionalen Appell-Charakter eines Bildes, das über seinen Anlass hinaus Allgemeingültigkeit beansprucht und im kulturellen Gedächtnis international einzigartig präsent ist (Abb. 1).
_____________ 71 Mit „tw“ gezeichnete Meldung: „Opfer unerwünscht. Picassos Guernica in der UN verhüllt.“ In: F.A.Z. 34 (10.2.2003), 31.
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Rolf Reichardt
Von der republikanischen Regierung Spaniens in Auftrag gegeben, in einem für Picasso ungewöhnlich langen und überlegten Schaffensprozess ausgearbeitet72 und auf der Pariser Weltausstellung 1937 im spanischen Pavillon ausgestellt, erregte das überdimensionale Gemälde von 3,50 x 7,80 Meter mit seiner äußerst expressiven, kreatürlichen und anspielungsreichen Bildsprache sogleich größtes Aufsehen. Bereits während der Weltausstellung wurde es – auf Karten reproduziert – in alle Welt verschickt.73 Seither wird das Bild als Ganzes oder in Teilen immer wieder für öffentliche politische Bekundungen und Demonstrationen in Anspruch genommen und reaktualisiert: Etwa 1966 in New York gegen den Vietnamkrieg (Abb. 2),74 1969 in Valencia gegen das Franco-Regime, 1977 in Guernica selbst, als dort zum 40. Jahrestag jenes Bombardements eine Kopie in Originalgröße eingeweiht wurde, sowie 1978 wiederum in New York, als spanische Studenten das vom Museum of Modern Art erworbene Original symbolisch in Besitz nahmen.75 Und als das Gemälde dann zu Picassos hundertstem Geburtstag im Oktober 1981 nach Madrid in den Prado heimkehrte, erregte es die politischen Leidenschaften noch immer so stark, dass man es durch einen Kasten aus Panzerglas vor Attacken des Publikums schützen musste.76 Mehr noch: Gleichzeitig mit der eingangs erwähnten Pressekonferenz kam das ganz in Schwarz, Weiß und Grau gehaltene Bild Picassos als bunte Replik auf den amerikanischen Markt (Abb. 3): In Form von Liliputversionen einer maßstabsgerechten Kopie, die Sophie Matisse koloriert hatte und in der Galerie Francis M. Naumann in Manhattan ausstellte.77 Über seine politische Bedeutung hinaus zeichnet sich hier eine Popularisierung, eine inflationäre Omnipräsenz von Picassos Guernica in den Bild- und Printmedien ab, die seit längerem konstatiert wird:
_____________ 72 Aus der Fülle der Literatur seien hier stellvertretend nur einige Untersuchungen genannt: Rudolf Arnheim: Picasso’s Guernica: The Genesis of a Painting. Berkeley/Los Angeles: University of California Press 1962; Alice Doumanian Tankard: Picasso’s ‚Guernica‘ after Ruben’s ,Horrors of War‘: A Comparative Study in Three Parts – Iconographic and Compositional, Stylistic, and Psychoanalytic. Philadelphia et al.: Art Alliance Press 1984; Jean-Louis Ferrier: De Picasso à Guernica. Généalogie d’un tableau. Paris: Denoël 1985; Herschel B. Chipp: Picasso’s Guernica. History, Transformations, Meanings. Berkeley: University of California 1988, 70-135. 73 Annemarie Zeiller: Guernica und das Publikum. Picassos Bild im Widerstreit der Meinungen. Berlin: Reimer 1996, 14. 74 Anonymes Poster, abgebildet bei Chipp: Picasso’s Guernica (Anm. 2), 193; siehe auch ein Poster Jan van Rays von 1968 dokumentiert bei Raimund Rütten (Hrsg.): Die Karikatur zwischen Republik und Zensur. Bildsatire in Frankreich 1830 bis 1880. Marburg: Jonas-Verlag 1991, 143. 75 Chipp: Picassos Guernica (Anm. 2), nacheinander 171, 179 und 175. 76 Ebd., 180-91; Zeiller: Guernica und das Publikum (Anm. 3), 32 und 257. 77 Werner Spies: „Was für ein bunter Krieg! Der Familienclan schlägt zurück: Die Urenkelin von Henri Matisse macht sich mit heftigen Farben an Pablo Picassos Guernica zu schaffen.“ In: F.A.Z. 57 (8.3.2003), 31.
Bildsprachliche Erinnerungsstrategien
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Also, it is an over-exposed image. It is the modern Mona Lisa, and is used in the grossest ways, as an illustration for generalizations about the history and culture in books of all kinds. A photograph in The New York Times Magazine a couple of years ago showed a print of it, cut in half and pasted to the doors of a kitchen cabinet.78
Wie irritierend diese Banalisierung aus künstlerischer Sicht auch erscheinen mag – in soziokultureller Perspektive erweist gerade sie die Verankerung von Guernica im allgemeinen gesellschaftlichen Bildgedächtnis. Der ungewöhnlich prominente und gut dokumentierte Fall Guernica verdeutlicht m.E. einen unwillkürlichen bildsprachlichen Prozess, ein dreifaches diskursives Verfahren, das die spezifische Eindrücklichkeit von Bildern erklären hilft und für die historischpolitische Bilderinnerung79 typisch ist. Thesenartig formuliert: 1.
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3.
Schon als solche, noch mehr aber durch ihre ausdrucksstarke Zeichensprache prägen zeitgenössische vervielfältigte und öffentlich zirkulierende Bilder symbolische Ereignisse und Grundvorstellungen dem kollektiven Gedächtnis besonders nachhaltig ein. Je origineller und prägnanter solche Bilderfindungen sind, desto größer sind ihr Appell-Charakter und ihr topisches Potential. Dieses Bildgedächtnis wird in der Folgezeit immer wieder bestätigend oder modifizierend aufgerufen, um ähnliche Situationen und Vorstellungen wie die ursprünglich visualierten zu beschreiben, zu kommentieren oder zu konterkarieren. Mit den Filiationsketten wiederholter Bildzitate entfalten sich mittel- und langfristig visuelle Erinnerungsprozesse und -diskurse, die außer ihrer gesellschaftlichen Funktion zugleich einen ästhetischen Reiz ausüben. Denn die Wechselspiele auch der ‚plakativen‘ Bilder sind oft raffinierter, als es den Anschein hat; sie beschränken sich nicht auf den Bereich der Gebrauchskunst, sondern beziehen auch Werke der Hochkunst mit ein.
Dass diese erinnerungswirksamen Verfahren eindrücklicher Verbildlichung und vielfältiger Wiederholung kein neues Phänomen darstellen, sondern vielmehr seit den Bilderkämpfen der Reformation immer wieder zu beobachten sind, soll an Beispielen aus der westeuropäischen Revolutionspublizistik80 gezeigt werden. Dabei gehe ich idealtypisch nach unterschiedlichen Bildsorten vor, ohne hier freilich alle wichtigen Spielformen berücksichtigen zu können: Das gilt insbesondere für die andernorts besprochenen Embleme sowie politisch-sozialen Typen
_____________ 78 Joseph Mashek: „Guernica as Art History.“ In: Artnews 66 (Dez. 1967), 33; zit. n. Zeiller: Guernica und das Publikum (Anm. 3), 15, Anm. 23. 79 Hier und im Folgenden meint der Begriff ‚Bildgedächtnis‘ hauptsächlich die Speicherfunktion von Bildern, während ‚Bilderinnerung‘ mehr die Prozesshaftigkeit der visuellen Memoria bezeichnet. 80 Der folgende Versuch ist erwachsen aus dem Teilprojekt „Revolutionserinnerung in der europäischen Bildpublizistik (1789-1889)“, das der Verfasser im Rahmen des SFBs Erinnerungskulturen an der Justus-Liebig-Universität Gießen bearbeitet. Er dankt Wolfgang Cilleßen für anregende Kritik.
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und Heldengestalten.81 Der folgende Versuch steht unter den Leitfragen: Mit welchen bildkünstlerischen Mitteln wird Eindrücklichkeit erzielt, und wie entfaltet sich das Erinnerungspotential dieser Bildprägungen?
II. Ereignisbild: szenische Verdichtung und Symbolisierung Als der Berliner Verleger Heinrich Christian Voß dem aufklärerischen Schriftsteller Georg Forster im Herbst 1790 vorschlug, einen historischen Kalender des laufenden Jahres zu verfassen, aktivierte er schlagartig das Ereignis- und vielleicht noch mehr das Bildgedächtnis des Zeichners und Kunstbetrachters Forster. Dieser konzipierte sogleich zwölf illustrierte Essays unter dem Arbeitstitel Erinnerungen aus dem Jahr 1790 in historischen Gemälden und Bildnißen – und überlegte, wie trotz des kleinen Kalenderformats eindrückliche Ereignisbilder möglich seien: Wie sollte man z.B. das Volksfest in Paris vom 14. Juli auf dem Marsfelde schildern? 400 000 Menschen kann man nicht in ein Kalenderkupfer bringen ohne etwas höchst uninteressantes zu machen. [...] Allenfalls wäre auch der Zeitpunkt vor dem Fest zu nutzen, wo gepuzte Herren und Damen arbeiten, um den Plaz zu ebnen, Schiebkarren führen und sie mit Erde welche sie abstechen beladen pp. Da könnte man Figuren im Vordergrunde und das Gewimmel in der Ferne zeigen.82
Forster wählte dieses Beispiel nicht zufällig; denn im Juli 1790 war er teilnehmender Beobachter83 der Arbeiten auf dem Marsfeld gewesen, und die dortige patriotische Eintracht und Tatkraft der Pariser und Pariserinnen hatten ihn so tief beeindruckt, dass er aus diesem Erlebnis die zentrale Juli-Szene seines Kalenders entwickelte.84 Das dazu von keinem Geringeren als Daniel Chodowiecki gelieferte Monatskupfer (Abb. 4) entsprach zwar nicht ganz Forsters mehr an William
_____________ 81 Beispiele in zwei anderen Beiträgen des Verfassers: „Macht ein solches Bild nicht einen unauslöschlichen Eindruck? Bildpublizistische Reduktion und Übertreibung im politischen Erinnerungsdiskurs um 1800.“ In: Günter Oesterle (Hrsg.): Erinnerungskulturen interdisziplinär. Kulturhistorische Problemfelder und Perspektiven. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003 (im Druck); ders.: „Bildpublizistische Verarbeitung von Revolutionsniederlagen in Frankreich (1793-1871): Zwischen Satire und Heroisierung.“ In: Horst Carl et al. (Hrsg.): Kriegsniederlagen: Erfahrung – Erinnerung. Tagungsakten des SFB 437 Kriegserfahrung und des SFB 434 Erinnerungskulturen (Tübingen 4.-5. April 2003). (im Druck) 82 Brief Forsters an Christian Friedrich Voß vom 25.1.1791. In: Georg Forster: Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe. Hrsg. v. der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin (fortan zit. als AA), hier AA 17: Briefe 1792 bis 1794 und Nachträge. Bearb. v. Klaus-Georg Popp. Berlin: Akademie-Verlag 1989, 235; ähnlich an Voß am 14.3.1791, ebd., 249. 83 Mit seinem Reisebegleiter Alexander von Humbold hatte er selbst ein paar Schubkarren Sand geschoben. 84 Näheres bei Rolf Reichardt: „Die visualisierte Revolution. Die Geburt des Revolutionärs Georg Forster aus der politischen Bildlichkeit.“ In: Georg-Forster-Studien 5 (2000), 163-227.
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Hogarth orientierten Vorstellungen,85 versinnbildlichte aber gleichwohl exemplarisch die Versöhnung des Adligen mit dem Invaliden, des Fischweibs mit dem Mönch, ja die symbolische Beteiligung selbst des Königs und gewinnt durch den zugehörigen Kalendertext zusätzliche Aussagekraft: Ich sah die Zurüstungen zu diesem Feste, das beispiellos in den Jahrbüchern der Menschheit bleibt. Das größte Amphitheater in der Welt [...] ward in wenigen Tagen durch die Allmacht des Volkswillens erschaffen. Mit Trommeln und Kriegsmusik, die Schaufeln auf der Schulter, zogen die begeisterten Schaaren Arm in Arm unter Freiheitsgesängen zu ihrem Tagewerk, und später als die Sonne verließen sie das Feld. Alte und Junge, Männer und Weiber, Herzoge und Tagelöhner, Generalpächter und Schuhputzer, Bischöfe und Schauspieler, Hofdamen und Poissarden, Betschwestern und Venuspriesterinnen, Schornsteinfeger und Stutzer, Invaliden und Schulknaben, Mönche und Gelehrte, Bauern aus den umliegenden Dörfern, Künstler und Handwerker unter ihren Fahnen kamen Arm in Arm in buntscheckigem Zuge, und griffen rüstig und muthig zur Arbeit. [Es] erschien auch Ludwig der Sechzehnte, ohne Leibwache, ohne Gefolge, allein in der Mitte von zweihunderttausend Menschen, seinen Mitbürgern, nicht mehr seinen Unterthanen. Er nahm die Schaufel, und füllte einen Schiebkarren mit Erde, unter lautem Jauchzen und Beifallklatschen der Menge.86
Der so kommentierte Ereignisstich, der instinktsicher einen der glücklichsten Momente in der französischen Revolutionserinnerung visualisiert und ein schlichteres Vorbild aus Camille Desmoulins’ Zeitung Révolutions de France et de Brabant (Abb. 5) verdichtet, erscheint für unsere Problematik exemplarisch: nicht so sehr aufgrund seiner Ausdruckskraft – darin wurde er etwa durch die pathetischen Abschiedsszenen Ludwigs XVI. von seiner Familie, die auf ein Gemälde von Charles Bénazech zurückgingen,87 weit übertroffen, sondern vielmehr deswegen, weil er belegt, wie bewusst Ereignisdarstellungen auch im Bereich der historischpolitischen Gebrauchsgrafik schon Ende des 18. Jahrhunderts mit szenischer Verdichtung und symbolischer Verallgemeinerung arbeiteten, um Eindrücklichkeit zu erzielen. Hier bereits gibt sich das Verfahren der „narrativen Allegorie“88
_____________ 85 An Voß schrieb er am 9. Juni 1792: „Die [Zeichnung] mit der Schiebkarre, wo ein Abbé und ein Weib sich küßen, ist eine wahre Carricatur, und nicht einmal, was ich bestellt hatte, denn ich wollte den Augenblick, wo König und Königin sich auf dem Champ de Fédération umarmen!“ (Forster: Briefe [Anm. 12], 130). Doch abmildernd schrieb er demselben am 3.7.1792: „Ich hoffe doch, daß wir im Publikum mit den Kupfern nicht übel fahren; die Süjets sind nicht übel gewählt“. (Ebd., 140) 86 Georg Forster: Erinnerungen aus dem Jahr 1790 (Berlin 1793), in: AA 8: Kleine Schriften zu Philosophie und Zeitgeschichte. Bearb. v. Siegfried Scheibe. Berlin: Akademie-Verlag 1991 [1974], 286f. 87 Vgl. Reichardt: „Macht ein solches Bild nicht einen unauslöschlichen Eindruck?“ (Anm. 11). 88 Felix Thürlemann: „Die narrative Allegorie in der Neuzeit. Über Ursprung und Ende einer textgenerierten Bildgattung.“ In: Heinz J. Drügh & Maria Moog-Grünewald (Hrsg.): Behext von Bildern? Ursachen, Funktionen und Perspektiven der textuellen Faszination durch Bilder. Heidelberg: Winter 2001, 21-36.
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zu erkennen, das verborgen und weitaus expressiver in Picassos Guernica seine letzte Steigerung erreichen sollte.
III. Einprägsamer Bildwitz durch Verwendung populärer Motive Ein zweites, breitenwirksameres Verfahren eindrücklicher Publikumsansprache bestand darin, an das traditionelle kollektive Bildgedächtnis anzuknüpfen und allgemein bekannte religiöse und populäre Motive politisch umzumünzen.89 Erreichen neue Aussagen doch mehr soziale Akzeptanz, wenn sie in vertraute Formen gekleidet sind. So nutzte im Sommer 1789 ein anonymes Pariser Bildflugblatt das alltägliche Straßengewerbe des Puppenspielers, um den Machtwechsel nach dem Bastillesturm spöttisch zu inszenieren (Abb. 6). Es argumentiert mit dem Gegensatz von Groß und Klein, als wolle es die Thesen von Sieyès’ Schrift Qu’est-ce qu’est le tiers état? illustrieren, dass der Dritte Stand im Ancien Régime politisch „nichts“ sei, aufgrund seiner sozio-ökonomischen Bedeutung aber „alles“ werden müsse. Durch die löwenmäßige Kraft des Volkes zu ihrer wahren Größe angewachsen und in den Farben der Revolution gekleidet, lässt die Gestalt des Dritten Standes die zu Puppen geschrumpften Figuren des Klerus und des Adels nach der Melodie ihres Dudelsacks tanzen, während die Arbeiter des Bauunternehmers Palloy dabei sind, die Bastille, das verhasste Wahrzeichen des Ancien Régime, zu schleifen. Aus der imaginierten ‚verkehrten Welt‘ der Volkskultur ist politische Wirklichkeit geworden. Das so geschaffene Motiv des politischen Puppenspiels war derart sinnfällig, dass es in das Arsenal der Karikaturisten einging und von der französischen Bildpublizistik des 19. Jahrhunderts immer wieder aktiviert wurde: so zu Beginn der Restauration,90 noch mehr aber seit der Julirevolution.91 Hatten die Stecher zunächst den Versuch von Charles X, Arbeiter und Soldaten gegeneinander auszuspielen, als hinterhältigen Puppenspielertrick entlarvt (Abb. 7), so konnten sie, nachdem die Aufständischen das Palais Bourbon am 29. Juli 1830 eingenommen hatten, die Rollen – wie 1789 – umkehren (Abb. 8). Nun ist es das siegreiche Volk der ‚trois glorieuses‘ – Soldat mit Kokarde und ‚bras nu‘ zugleich –, das die ganze dekadente Sippschaft der Restauration im Rhythmus seiner Trommel zur Fahne der wiedererkämpften Freiheit tanzen lässt: voran den Minister Peyronnet,
_____________ 89 Beispiele bei Rolf Reichardt: „The Heroic Deeds of the New Hercules: The Politicization of Popular Prints in the French Revolution.“ In: Ian Germani (Hrsg.): Symbols, Myths and Images of the French Revolution. Essays in Honour of James A. Leith. Regina: Canadian Plains Research Center 1998, 17-46. 90 Siehe etwa die anonyme kolorierte Radierung Les Marionnettes du Jour vom Juni 1815 (BnF, Est., Coll. Histoire de France, M 108262). 91 Vgl. zum literarischen Hintergrund den Roman von Georges Touchard-Lafosse: Les Marionnettes politiques. 4 Bde. Paris: Renduel 1829.
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gefolgt von Militärs, Kardinal de Latil, dem als Jesuit verkleideten Charles X., bewaffnet mit einem antiaufklärerischen Löschhütchen (éteignoir), ferner der Herzogin von Angoulême mit gezücktem Degen, dem Herzog von Bordeaux, der Mademoiselle d'Artois und ihren Kindern. „Dansés, sautez mannequins dorés“, höhnt der revolutionäre Puppenspieler, „Grandes marionnettes, chacun son tour“. Das satirische Bild-Journal La Caricature applizierte die gleiche Szene dann im Oktober 1833 warnend auf Louis-Philippe und andere gekrönte Häupter (Abb. 9). Diese haben ihre überholten Herrschaftsinsignien abgelegt und hüpfen in lächerlichen Posen wie dressierte Hündchen zur Pfeife und zur Trommel des Blusenmanns, den die Reste einer Barrikade und das an sie gelehnte Gewehr als revolutionären Straßenkämpfer ausweisen. Einer der Pflastersteine trägt die Aufschrift „Ici repose le dernier des forts détachés“ und spielt damit an auf das nun fallen gelassene Regierungsprojekt, Paris und seine unruhigen Vorstädte mit einem Ring bastilleartiger Festungen zu umzingeln. Im zugehörigen Kommentar des Journals bringt ein fiktiver Betrachter seine Genugtuung über die spielerische Umkehr der politischen Größenverhältnisse zum Ausdruck: Quelles sont les petites marionnettes que met en mouvement le prolétaire? Il m’est impossible de distinguer leurs traits microscopiques. Toutefois, je crois que ce sont des monarques. Raison de plus pour que je ne les reconnaisse point: car je n’ai pas la vue assez bonne pour voir si petit.92
Als der hier nur imaginierte Machtwechsel mit der Februarrevolution tatsächlich eintrat, wurde er von der Bildpublizistik erneut mit dem Puppenspiel-Motiv gefeiert. Noch im Herbst 1849 inszenierte ein Werbeplakat für den sozialistischen Almanach Astrologique (Abb. 10) den wieder ausgebrochenen Kampf zwischen Königtum und Republik als Puppentanz, zu dem diesmal Vater Chronos mit einer Drehleier aufspielt. Der Puppenspieler ist hier nicht länger Teil der politischen Auseinandersetzung, sondern eine übergeordnete Gestalt. Einerseits in seinem Harlekinkostüm eine schalkhafte Jahrmarktsfigur vorstellend, hat er andererseits als Allegorie, die auf der Eisenbahn, dem neuen Symbol des Fortschritts, in die Zukunft fährt, eine sehr ernsthafte Bedeutung: Er verleiht dem erhofften Sieg der Republik die Aura geschichtlicher Notwendigkeit.
IV. Allegorie und Gegen-Allegorie Die auf einen Kern wesentlicher Merkmale reduzierte politische Allegorie besaß schon als solche bildsprachliche Prägnanz; auch deswegen, weil sie spätestens seit Cesare Ripa durch illustrierte Emblembücher, Münzen und Medaillen, Skulpturen
_____________ 92 La Caricature N° 152 (3.10.1833), 1211 zu Taf. 318.
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und Nachstiche von Gemälden weithin bekannt und erkennbar war. Für die Bildermacher der Französischen Revolution war es daher vorgegeben, wie sie beispielsweise die République darzustellen hatten (Abb. 11): als hoheitsvolle Göttin mit dem Senkblei, begleitet von den Komplementärallegorien der Freiheit und der Gleichheit. Neben dieser Anverwandlung der Bildtradition gab die Revolutionsgrafik auch neue Impulse, einmal, indem sie die Republik in der Kollektivgestalt der ‚Marianne‘ verkörperte und diese zur ‚Powerfrau‘ aus dem einfachen Volk demokratisierte. Auf einer Kreidelithografie Daumiers vom Februar 1848 (Abb. 12) okkupiert diese den Thron Louis-Philippes, erinnert an ihre früheren Auftritte von 1793 und 1830 und ruft den um sie versammelten aufständischen Arbeitern und Nationalgardisten triumphierend zu: „C’est toujours avec un nouveaux plaisir mes chers camarades, que je vous vois réunis autour de moi.“ Dieses Gegenbild war so einprägsam, dass die Anti-Republikaner es 1880 wörtlich zitierten und in ein Plakat einfügten (Abb. 14), um die Erklärung des Vierzehnten Juli zum Nationalfeiertag öffentlich zu bekämpfen. Die Bildunterschrift unterstreicht noch einmal, was für den Betrachter eigentlich offensichtlich ist: La torche d’une main, le poignard de l’autre, la tête couronnée de serpents, vêtue d’une robe illustrée de têtes de morts, la République marche entre l’incendie et la guillotine, foulant aux pieds la Croix et l’Évangile, la tiare et la couronne royale.
Doch das Schreckbild der ‚roten Republik‘ war der liberalen und konservativen Publizistik auch in Variationen geläufig; 1871 verschmolz es mit dem der Commune, und zwar nicht nur in Frankreich,93 sondern etwa auch in der Darmstädter Plakat-Zeitung Zündnadeln (Abb. 15). Hier tritt die ‚rote Republik‘ zur Verteidigung von Paris gegen Bismarck und die Preußen an, ausstaffiert mit einer großsprecherischen Jakobinermütze und lächerlich gerüstet mit Spielzeugsoldaten in ihren Taschen und Kleiderfalten.
V. Karikatur und physiognomische Verzerrung Das einprägsame bildkünstlerische Doppelverfahren von Reduktion auf das Charakteristische und dessen Verstärkung durch Übertreibung – und eben dies meint caricature im Hogarth’schen Sinne – wird besonders deutlich bei Portrait-Karikaturen sowohl eines politisch-sozialen Typus wie des ‚Aristokraten‘94 als auch einzel-
_____________ 93 Vgl. Rolf Reichardt: „‚Les Formes acerbes.‘ Zum Bilderkampf um republikanische Gewalt in Frankreich (1793-1872).“ In: Frank Becker et al. (Hrsg.): Politische Gewalt in der Moderne. Festschrift für Hans-Ulrich Thamer. Münster: Aschendorff 2003, 23-36; siehe auch die anonyme kolorierte Lithographie La Commune von 1871 (Heidelberg, Universitätsbibliothek, Sammlung Trübner 14, Bd. VII 126). 94 Reichardt: „Macht ein solches Bild nicht einen unauslöschlichen Eindruck?“ (Anm. 11).
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ner ‚prominenter‘ Zeitgenossen. Eine wirkungsvolle Spielform solcher Karikaturen verband seit dem späten 18. Jahrhundert den klassischen ArcimboldoEffekt95 mit der Lavater’schen Physiognomie-Mode96 und der heimlichen Beliebtheit ‚Phallischer Porträts‘97. Das Verfahren bestand darin, gleichsam das Sinnen und Trachten des Porträtierten zu verkörperlichen, zu vergegenständlichen und seine Gesichtszüge ganz aus diesen Elementen aufzubauen. Angewandt auf den ‚aristokratischen‘ Intimfeind der revolutionären Karikaturisten, den erzkonservativen, romtreuen Abbé Jean Maury, ergab dies 1791 einen Kopf voll erotischer Fantasien, zusammengesetzt nur aus nackten Leibern und Geschlechtsteilen (Abb. 16). Politische Brisanz ohne pornografischen Akzent gewann das Verfahren drei Jahre später, als der Stecher Nicolet die Figur des Sansculotten aus gegenrevolutionärer Sicht porträtierte (Abb. 17): Stellvertretend für die umstrittenen kleinbürgerlichen Aktivisten der radikalen Revolution wird der Sansculotte physiognomisch zum Kindermörder und durch seine Kleidung zum orientalischen Despoten abgestempelt. Nach der Völkerschlacht von Leipzig, richteten sich dann solche Leichenkopf-Blätter in entwickelter Form gegen Napoleon I. Im Dezember 1813 brachten die Berliner Stecher und Verleger Moritz und Wilhelm Henschel eine aufsehenerregende98 Radierung heraus (Abb. 18) und lieferten auf einem Beiblatt mit der Überschrift „Wahre Abbildung des Eroberers“ die Entschlüsselung gleich mit: Der Hut ist Preußens Adler, welcher mit seinen Krallen den Großen gepackt hat und ihn nicht mehr losläßt. – Das Gesicht bilden einige Leichen von denen Hunderttausenden, welche seine Ruhmsucht opferte. – Der Kragen ist der große Blutstrom, welcher für seinen Ehrgeiz so lange fließen mußte. – Der Rock ist ein Stück der Landcharte des aufgelößten Rheinbundes. An allen darauf zu lesenden Orten verlohr er Schlachten. Das rothe Bändchen bedürfte des erklärenden Ortes wohl nicht mehr. – Der große Ehrenlegionsorden ist ein Spinnengewebe, dessen Fäden über den ganzen Rheinbund ausgespannt waren; allein in der Epaulette ist die mächtige Gotteshand ausgestreckt,
_____________ 95 Feliciano Benvenuto: L’effet Archimboldo: Les transformations du visage au 16e et au 20e siècle. Paris: Ed. Le Chemin Vert 1987. 96 Ellis Shookman (Hrsg): The Faces of Physiognomy: Interdisciplinary approaches to Johann Caspar Lavater. Columbia, SC: Camden House 1993; Gerda Mraz &Uwe Schoegl (Hrsg.): Das Kunstkabinett von Johann Caspar Lavater. Wien et al.: Böhlau 1999; Carsten Jöhnk: Die Bedeutung der Physiognomik für die englische Karikatur um 1800. 2 Bde. Göttingen: Cuvillier 1998. 97 Einschlägige französische Karikaturen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts galten u.a. Voltaire, dem Comte d’Artois, J.-J. Rousseau, dem Comte Mirabeau und der Comtesse Lamothe, vgl. Eduard Fuchs: Geschichte der erotischen Kunst. Erweiterung und Neubearbeitung des Werkes „Das erotische Element in der Karikatur“ mit Einschluss der ernsten Kunst. München: Langen 1908, 244, 252-53, 318, 32425 und 362. Für diese Hinweise danke ich Marcel Baumgartner. 98 Die Berlinischen Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen vom 9. Dez. 1813 veröffentlichten dazu eine ungewöhnliche „Kunst-Anzeige“.
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welche das Gewebe zerreißt, womit Deutschland umgarnt war und die Kreuzspinne vernichtet, die da ihren Sitz hatte, wo ein Herz seyn sollte!
Dass dieser ‚Steckbrief‘ Napoleons Gesichtszüge nicht verzerrt, sondern nach einem bekannten Brustbild Gottfried Arnold Lehmanns von 1806 getreu wiedergibt99, bedeutet keine Milderung, sondern im Gegenteil eine Verschärfung der bildlichen Argumentation; denn wenn nach Lavater der Charakter einer Person sich in ihrer normalen Physiognomie zeigt, dann erweist sich Napoleons Gesichtsprofil gerade deshalb als so teuflisch, weil die Opfer seiner Kriege sich exakt in ihm abzeichnen. Napoleons Leichenkopf war eine deutsche Neuprägung und traf die Zeitstimmung der Freiheitskriege so genau, dass sie in Deutschland in mehr als zwanzig Varianten und Nachstichen kursierte100 und darüber hinaus europaweit kopiert wurde101. Eine englische Radierung gab an: „Copied from the Original Berlin Print; of which there was sold in that Capital, 20,000 Copies in One Week.“102 Bei solchem Erfolg verwundert es nicht, dass die Bildkritik am Zweiten Kaiserreich die alten Karikaturen aufgriff und gegen Napoleon III. kehrte, nicht ohne einige Elemente satirischen Humors hinzuzufügen. Neben Opfern von Napoleons Politik wie Kardinal Antonelli sind auch lebende Zeitgenossen seiner Physiognomie eingeschrieben. Eine der zahlreichen103 französischen Versionen (Abb. 19) wird wiederum von einer gedruckten Texterklärung begleitet, welche –- den Kaiser bei seinem Verbrechernamen nennend –- die visualisierten Crimes et Folies de Badinguet aufzählt: Les cheveux sont formés par l’aigle impérial ; le coup du 2 décembre 1851 et la capitulation de Sédan (fin digne du commencement) sont imprimés au front comme taches ainsi que les chiffres plébiscitaires ; le tas du front est formé de sacs d’écus représentant la liste civile ; le sourcil est formé du chapeau du cardinal Antonelli dont la
_____________ 99 Siehe Sabine Scheffler & Ernst Scheffler: So zerstieben getraeumte Weltreiche. Napoleon I. in der deutschen Karikatur. Stuttgart: Hatje 1995, 18, Abb. 8. 100 Im Einzelnen dokumentiert ebd., 108-111, 257-263 und 416-19. 101 Alexander Meyrick Broadley: Napoleon in Caricature 1795-1821. 2 Bde. London/New York: John Lane 1911 (hier Bd. II, 107, 242-255), beschreibt Blätter aus Russland, Schweden, England, Holland, Frankreich, Portugal, Spanien und Italien. 102 Dritte Auflage der Karikatur: Memoirs of Buonaparte. London: G. Smeeton, 1814; beschrieben von Mary Dorothy George: Catalogue of political and personal Satires preserved in the Department of Prints and Drawings in the British Museum. Vol. IX. London 1949, Nr. 12204A. 103 Portrait autobiographique de S.M. Invasion III, anonymes Pariser Blatt der Lithographieanstalt Bouvetier, Herbst 1870 (Paris, BnF, Dépt. Estampes, Coll. Smith Lesouef, boîte petit folio, N° 8130); Napoléon III, kolorierte Lithographie von A. Belloguet, Paris, Sept. 1870, N° 1 der Serie PiloriPhrénologie (Heidelberg, Universitätsbibliothek, Slg. Trübner 14, Bd. III, Blatt 167); Schandbild Napoleons III. von Adolphe Thiers gehalten, anonyme französische Lithographie vom Herbst 1870, N° 23 einer titellosen belgischen Serie (ebd. Bd. VII, Bl. 123); Louis Napoléon Bonaparte, anonyme französische Lithographie in Form einer Medaille, 1870/71, dokumentiert bei Rütten: Die Karikatur zwischen Republik und Zensur (Anm. 4), 402.
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bouche ouverte forme l’œil ; le Pape, se tenant au cou du cardinal, forme, avec son derrière, le nez de S.M. Les moustaches sont faites avec une pièce de canon, et la frisure est imitée par une pointe de baïonnette, représentant sa puissance militaire; on remarque que le Pape, qui ne se maintient que par cette puissance, est assis dessus. Au-dessus des cheveux, dans le gros de la figure, on voit les différents genres de libertés qui dorment ; une lui ferme l’oreille de son bras recourbé ; au dessus le Mexique, représenté par un soldat mexicain, rit de la France, également représentée par un soldat français qui, accroupi, forme le menton de Badinguet; sa barbiche est faite par l’aigle d’Autriche à deux têtes qui pend en signe de trophée comme souvenir de la campagne d’Italie. Le cou, pour terminer le buste, est formé par une imitation des montagnes du Mexique, de Cayenne et de Lambessa ; la tête d’Orsini, qui pend en signe de grand cordon, termine la légende. Le buste représente également un soulier dont la tête d’Orsini est le nœud.
VI. Adaptionen eines auratischen Kunstwerks Zu dem kollektiven Bildreservoir, aus dem die politische Druckgrafik immer wieder schöpfte, gehörten nicht nur volkstümliche Motive und physiognomische Prägungen, sondern auch berühmte Werke der ‚Hochkunst‘: von der LaokoonSkulptur über Leonardos Abendmahl bis hin zu Davids Schwur der Horatier. Solche ‚prominenten‘ Wiederverwendungen verdeutlichen die generelle Doppelfunktion der beobachteten Bildzitate, ein bereits vorliegendes markantes und allgemein bekanntes Modell zu nutzen, zugleich aber mit dessen Wiedererkennung einen zusätzlichen Bildwitz zu bewirken. Für Kenner und geübte Betrachter jedenfalls ergaben sich aus dem Zusammenhang von Vorbild und Nachbild stimulierende Vergleichs- und Kontrasteffekte: Ob nun äußere Ähnlichkeiten überraschend innere Zusammenhänge suggerierten, Änderungen geschichtliche Wandlungen visualisierten oder Verkehrungen unvereinbare Gegensätze sichtbar machten. An einem Gemälde des Schweizers und Wahl-Londoners Johann Heinrich Füssli lässt sich das exemplarisch verfolgen. Im Jahr 1781 stellte die Royal Academy ein neues Ölbild mit dem Titel Die Nachtmahr aus, das sogleich großes Aufsehen erregte (Abb. 20). Vor dunklem Hintergrund zeigt es eine junge Frau in einem körperbetonten weißen Kleid, verführerisch auf einer Art Diwan hingestreckt – aber so, dass ihr linker Arm und ihr Kopf wie leblos herabhängen. Denn sie wird gelähmt von einem Angsttraum, in dem zwei unheimliche Fantasiefiguren sie bedrohen: ganz unmittelbar ein auf ihrer Magengrube hockender grimmiger Kobold und seitlich hinter ihm, den Kopf durch die Bettvorhänge streckend, ein Geisterpferd, die so genannte Nachtmahr. Die Faszinationskraft des Bildes, in dem Füssli verschlüsselt seine
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unerfüllte Leidenschaft zu Anna Landolt verarbeitete,104 beruht nicht auf einer klaren Aussage, sondern auf den dumpfen Spannungen zwischen den beteiligten Figuren, auf einer unheimlichen Rätselhaftigkeit, die im Kontrast von Licht und Finsternis, Schönheit und Hässlichkeit gleichzeitig Liebe und Vergewaltigung, Schlaf und Tod, Spuk und Höllengefahr suggeriert. Durch Reproduktionsstiche verbreitet (Abb. 21), war diese Bilderfindung fortan im kollektiven Funktionsgedächtnis so präsent, dass sie bis ins späte 19. Jahrhundert europaweit über fünfzig Weiterverwendungen hervorrief,105 die meisten in der politischen Druckgrafik. So parodierte der englische Karikaturist Thomas Rowlandson das Kunstwerk von Füssli 1784 sehr direkt, um die Angst von Charles Fox vor einer Wahlniederlage satirisch in Szene zu setzen (Abb. 22). Die plumpe Nacktheit des Oppositionspolitikers kontrastiert höchst wirkungsvoll mit der erotischen Eleganz der jungen Frau. Kreativer und ernsthafter verfuhr der zum nouveau régime bekehrte ehemalige Hofmaler Piat-Joseph Sauvage, indem er Füsslis Vorbild 1792 in eine erfolgreiche Revolutionsallegorie transformierte. Zunächst von Jacques-Louis Copia106 und dann von Benoît-Louis Provost radiert (Abb. 23), wurde sie 1793 beide Male von dem Pariser Bildermacher Sébastien Desmarest publiziert und anschließend noch mehrfach von anderer Seite kopiert,107 einmal vergrößert als eine Art Schmuckplakat.108 Das Bild argumentiert prägnant und anspielungsreich: Bedroht von einem über ihr schwebenden ‚egalitären‘ Senkblei und einer Freiheitsmütze, windet sich die Gestalt der Aristokratie auf ihrem Lager und rauft sich angstvoll die Haare. Ihr Alptraum hat einen realen Hintergrund, wie die um ihr Bett am Boden verstreuten Insignien von Königtum, Adel und höherer Geistlichkeit anzeigen; denn mit der Beseitigung des ‚ancien régime‘ sind sie nutzloser Plunder geworden. Zwei Jahre später visualisierte eine Night Mare des Londoner Verlegers Fores (Abb. 24) die Revolutions- und Steuerfurcht der Engländer. Auf dem Spottblatt hat der englische Premier William Pitt mit seinem Schwellkopf, seinen hervor-
_____________ 104 Auf die Rückseite derselben Leinwand malte er ein stehendes, etwas distanzierteres Gegenbild der Geliebten. Vgl. dazu u.a. Horst W. Janson: „Fuseli’s Nightmare.“ In: Arts and Sciences 2 (1963), 2328; und Werner Hofmann: Das entzweite Jahrhundert: Kunst zwischen 1750 und 1830. München: Beck 1995, 184-187. 105 Nicolas Powell: Fuseli. The Nightmare. London: Allen Lane & Penguin Press 1973 (mit einer fehlerhaften Liste der Parodien); Marcia Allentuck: „Further Reflections on Henry Fuseli’s Nightmare by Way of a New Inventory of Influence and Caricature.“ In: Humanities Association Review 27 (1976), 459-465; David H. Weinglass: Prints and Engraved Illustrations by and after Henry Fuseli. A Catalogue Raisonné. Aldershot : Scolar Press 1994, 55-73; Pascal Dupuy: „Interprétations d’un cauchemar: The Nightmare de Füssli.“ In: Ridiculosa 3 (1996), 111-128. 106 Le Cauchemar de l’Aristocratie. Punktiermanier in Farbe. Paris: Desmarest 1793 (Paris, BnF, Estampes, Coll. Hennin, n° 12479); eine titelgleiche andere Version, ebd. n° 12481. 107 Le Cauchemar de l’Aristocratie, Aquatinta von Villeneuve, ebd. n° 12480. 108 Le Cauchemar de l’Aristocratie, Radierung in Farbe, Laigle (Dept. Orne), Freres Malitourne, um 1793 (Paris, BnF, Coll. De Vinck, n° 3620).
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quellenden Augäpfeln und seinem überspitzten Profil eine ähnlich gespenstige Gestalt angenommen wie Füsslis Kobold. Vorsichtig hält er einen überteuerten Brotlaib vor den aufgerissenen Mund des träumenden John Bull, während der wehende Schal mit der Aufschrift „Taxes“ seine Absicht verrät, die Angst vor einer französischen Invasion zu Steuererhöhungen zu nutzen. Die zum Fenster hereinglotzende blutrünstige Jakobinerfratze, die eine erfindungsreiche Adaption von Füsslis Geisterpferd darstellt, soll offenbar ‚beweisen‘, dass sonst „War and Famine for ever“ drohen, wie der nebenstehende Wandspruch beteuert. Auch Napoleon blieben die Alptraum-Karikaturen nicht erspart (Abb. 25). Kurz nach der Völkerschlacht imaginierte eine Radierung des Londoner Verlegers Rudolph Ackermann – eines ehemaligen Leipzigers – , wie der besiegte Feldherr im kaiserlichen Prunkbett krampfhaft um Atem ringt, weil ein dicker Niederländer mit konischem Hut und Kokarde auf ihm sitzt, seinen Hals in typisch holländischer Manier in die Beinzange nimmt, dem Kaiser eine Wolke Pfeifenrauch ins Gesicht bläst und ihm dabei den Refrain eines zeitgenössischen Freiheitsliedes zuruft: „Hoch Oranien“109. Damit zahlt er dem Eroberer heim, was er selber unter dessen Herrschaft hatte erdulden müssen: „Erwiderung der brüderlichen Umarmung durch die holländische Umklammerung“, kommentiert die Legende. Selbst die Bettpfosten haben eine bedrohliche Form angenommen; in sehr freier Abwandlung von Füsslis Nachtmahr stellen sie revolutionäre Symbole der wehrhaften Freiheit dar, die sich nun gegen ihren Nutznießer kehren. In der Tat spielt das Blatt konkret darauf an, dass sich die Niederlande im Herbst 1813 erfolgreich gegen die napoleonische Besatzung erhoben und den Sohn ihres letzten Statthalters aus dem Exil zurückriefen. Kaum hatte dies Spott- und Wunschbild sich erfüllt, da verursachte die Restauration neue Alpträume, etwa bei französischen Publizisten und Pamphletschreibern (Abb. 26). Der Aufruf Ludwigs XVIII., die alten innenpolitischen Gegensätze zu begraben, weckt ihre Angst vor einem Bündnis der Liberalen mit den royalistischen Ultras zur Unterdrückung der freien Meinungsäußerung: ein imaginäres Damoklesschwert, dessen Fall die königliche Machtvollkommenheit allerdings nicht auslöste. Die Revolutionen von 1830 und 1848/49 gaben Anlass zu weiteren Adaptionen. Schon auf den 8. Februar 1848 datierte der Zeichner Hermann Dyck seinen Holzschnitt Beginnendes Erwachen (Abb. 27), der im Märzheft der Münchener Fliegenden Blätter veröffentlicht wurde. In Ketten auf einem Bärenfell liegend – halb Hermann der Cherusker, halb Deutscher Michel im Gewand aus den Wappen der deutschen Einzelstaaten – verkörpert ein schlummernder Hüne die deutsche Nation. Inspiriert von gelehrten Büchern unter seinem Haupt und ermutigt von
_____________ 109 Holland’s free! – shout Orange Boven, 1813 (Rotterdam, Historisch Museum, Sammlung Atlas van Stolk, n° 6209).
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den Versprechungen einer „Königlichen Proclamation“, träumt Hermann-Michel soeben von seinem Schwert und einem frei gewählten „Deutschen Parlament“, als seine Vision jäh unterbrochen wird vom Pesthauch eines fledermausartigen Teufels auf seiner Brust und vom erschreckten Gekreische eines flüchtenden alten Weibes, das den Deutschen Bund und die reaktionäre Politik seit den Karlsbader Beschlüssen verkörpert. Es fehlt nicht mehr viel, dass der deutsche Hüne – wie einst der französische tiers état110 – vollends erwacht, seine Ketten sprengt und sich zu voller Größe erhebt, um seine Vision zu verwirklichen. Drückt das Alptraum-Motiv hier kurz vor der Februarrevolution eine deutsche nationale Hoffnung aus, so nimmt es im Frühsommer 1849 in einem französischen Blatt von Patrioty (Abb. 28) wieder seine düstere Grundstimmung an. Im Namen der auf einer Gleichheitswaage schwebenden gemäßigten ‚Republik von 1848‘ und ihrer Devise „Einheit, Kraft, Gerechtigkeit“ besteigt General Cavaignac die schlafende ‚rote Republik‘ von 1793, die ein schartiges Messer als Mörderin ausweist. Die überdimensionierte phallusartige Keule in der Hand des brutalen Liquidierers der Pariser Juni-Aufstände assoziiert die Vorstellungen von Totschlag und Vergewaltigung. Und im dunklen Hintergrund könnten die Theoretiker der sozialen Republik um Proudhon, Blanqui und Pierre Leroux mit ihren Fackeln und Kapuzenmänteln ebenso gut eine Verschwörung wie ein Totengeleit vorbereiten.111 Patrioty hat mit diesem Bild den Staatsstreich Louis-Napoléons gleichsam vorausgeahnt, dessen innenpolitische Folgen in Frankreich wiederum eine deutsche Karikatur als ‚Alptraum‘112 darstellte. Zu Beginn des deutsch-französischen Krieges von 1870 schließlich imaginierte der Lithograf Paul Klenck einen Alptraum mit gleichsam vertauschten Rollen (Abb. 29). Nun ist es der Herrscher – hier König Wilhelm mit preußischer Pickelhaube –, der erschreckt aus dem Schlaf auffährt, weil ihm träumt, die République würde sich in Preußen etablieren und die Insignien des Königtums zu Boden werfen. Bismarck zu Hilfe rufend, sucht er die ‚coquine‘ zu verscheuchen. Doch dieser Alptraum war der Wunschtraum eines sozialistischen Karikaturisten.
_____________ 110 Vgl. die berühmte kolorierte Radierung Réveil du tiers État (1789), dokumentiert u.a. bei Antoine de Baecque: La Caricature révolutionnaire. Paris: Presses du CNRS 1988, 71-75. 111 Siehe auch die Deutung der Darstellung bei Rütten: Die Karikatur zwischen Republik und Zensur (Anm. 4), 228-230. 112 Vgl. die mit „WS“ signierte Federlithographie: Der Alp, welcher seit kurzem auf dem sonst so leichtblütigen Pariser Volke liegt. In: Kladderadatsch 11,9 (21.2.1858), 36.
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VII. Die Revolutionsgrafik als Experimentierfeld der Bilderinnerung Die exemplarisch vorgestellten Ausdrucksformen und Bildfiliationen der politischen Grafik geben zum einen Aufschluss über die mittel- und langfristige Entwicklung einer transnationalen visuellen Erinnerungskultur im Zeichen der Französischen Revolution. Zum anderen lassen sich aus unseren Beobachtungen einige medien- und erinnerungstheoretischen Thesen ableiten. Sucht man „die immanente Gedächtniskraft von Bildern“113, die seit dem altrömischen Werk Ad Herennium immer wieder selbstverständlich vorausgesetzt wird, etwas genauer zu erklären, ist zunächst mehr als bisher zu bedenken, dass Bilder schon allein aufgrund ihrer spezifischen Zeitstruktur potentiell besondere Eindrücklichkeit besitzen. Anders als Texte, Reden oder Lieder, die jeweils in einem bestimmten Zeitverlauf rezipiert werden, sind sie für den oder die Betrachter stets als Ganze unmittelbar präsent, wenn auch das Auge durch ihre Details wandert. Diese „Simultaneität der Präsentation“114 kennzeichnet sie als Medien des Augenblicks im doppelten Wortsinn. Das gilt letztlich auch für solche Bilder, die wie Chodowieckis Kalender-Kupfer (Abb. 4) oder die ‚napoleonischen‘ Leichenköpfe (Abb. 18 und 19) mit mehr oder weniger ausführlichen Textkommentaren publiziert wurden; denn beim Lesen oder Vorlesen des Begleittextes, der die Einzelheiten nacheinander erläutert, steht jeweils das zugehörige Bild den Rezipienten dauernd ganz vor Augen. Die besondere Sinnfälligkeit des Mediums Bild wird nun in der auf Breitenwirkung und kollektive Meinungsbildung angelegten Revolutionsgrafik noch zusätzlich gesteigert, und zwar auf doppelte Weise: Zum ersten durch besondere Expressivität unter Einsatz der beobachteten bildkünstlerischen Verfahren der Reduktion und Typisierung, der Allegorisierung und Symbolisierung sowie der satirischen Übertreibung. Sie alle sind darauf angelegt, das Gedächtnis und die Affekte der Rezipienten verstärkt anzusprechen, indem sie unter anderem Ereignisse komprimiert darstellen, abstrakte Begriffe zu personifizierten Sinnbildern veranschaulichen und verdichten, vieldiskutierte ‚Objekte‘ durch frappierende, lächerliche oder erschreckende Darstellung ausdeuten.
_____________ 113 Aleida Assmann: „Das Bildgedächtnis der Kunst – seine Medien und Institutionen.“ In: Hans Dieter Hubert et al. (Hrsg.): Bild – Medien – Wissen: Visuelle Kompetenz im Medienzeitalter. München: kopaed 2002, 209-222, hier 211. 114 Dieser von Hans Jonas für den Seh-Akt geprägte Begriff ist auf das Bild übertragbar. Vgl. Hans Jonas: „Der Adel des Sehens.“ In: Ralf Konersmann (Hrsg.): Kritik des Sehens. Leipzig: Reclam 1997, 247-71. Siehe auch Jürgen Fohrmann et al. (Hrsg.): Medien der Präsenz: Museum. Bildung und Wissenschaft im 19. Jahrhundert. Köln: DuMont 2001.
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Bereits Goethe – selber ein großer Liebhaber und Sammler druckgrafischer Historien-, Landschafts- und Genrebilder aus Frankreich115 – hat diese neue Ausdruckskraft der politischen Druckgrafik und ihr Erinnerungspotential mit Befremden wahrgenommen und seine Irritation in einem literarischen „Streit für und gegen Karikatur“ verarbeitet. Darin lässt er eine Karikaturen-Gegnerin auftreten, welche die neue Mode von Zerrbildern à la Gillray beklagt, zugleich aber widerwillig den „unauslöschlichen Eindruck“ vermerkt, den sie selbst bei ihr hinterlassen: „Ich mag es machen wie ich will, so muß ich mir den großen Pitt als einen stumpfnäsigen Besenstiel, und den in so manchem Betracht schätzenswerten Fox als ein vollgesacktes Schwein denken.“116 In der Tat bildete die niedere Kunstgattung der Karikatur um 1800 ein wichtiges Experimentierfeld, auf dem die Regeln des klassischen Schönheitsideals nur eingeschränkt galten, so dass sich hier eine neue, expressivere und einprägsamere Bildsprache früher und freier entwickeln konnte als etwa in der Historienmalerei117. Was Goethe intuitiv wahrgenommen hat, wird von der Kognitionspsychologie bestätigt und begründet. Danach waren die beobachteten Verfahren der bildlichen Ausdruckssteigerung deshalb so einprägsam, weil sie genau der Doppeltendenz entsprachen, die in jedem „Gedächtnisprozeß“ wirkt: zum einen der „Tendenz zur einfachsten Struktur“, zum anderen der für die Karikatur typischen Tendenz, „charakteristische Eigenschaften zu bewahren und zu verschärfen“.118 Zum zweiten steigerte die Revolutionsgrafik die genuine Erinnerungskraft der Bilder durch das Verfahren der Wiederholung. Gemeint ist hier nicht die ‚externe‘ Bilderinnnerung durch Ekphrasis und Musealisierung, auf deren Bedeu-
_____________ 115 Gerhard Femmel: Goethes Grafiksammlung: Die Franzosen. Leipzig: VEB E.A. Seemann 1980. 116 Siehe Goethes Gesprächsnovelle Die guten Weiber [1800]. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. von Ernst Beutler. 18 Bde. Zürich 1950-1979, hier Bd. IX, 403-430, bes. 406 und 408f. – Mehr dazu bei Reichardt: „Macht ein solches Bild nicht einen unauslöschlichen Eindruck?“ (Anm. 11). 117 Bernadette Collenberg-Plotnikov: Klassizismus und Karikatur. Eine Konstellation der Kunst am Beginn der Moderne. Berlin: Gebr. Mann 1998. 118 Rudolf Arnheim: Anschauliches Denken. Zur Einheit von Bild und Begriff. Köln: DuMont 2001 [1972], 85. Nach Arnheim (ebd. 58) sind auf Abstraktion dringende Verzerrungen ein Grundelement der bildlichen Erinnerung und der „Intelligenz des Sehens“ überhaupt; er schreibt, „daß die projektiven Verzerrungen die Entdeckung der Grundformen, auf die sie zurückführbar sind, nicht nur zulassen, sondern aktiv verlangen. Die Projektion bewirkt [...] dynamische Verzerrung, und diese wird als spannungsgeladen gesehen“. Ähnlich nimmt die aktuelle Kognitionsforschung als Voraussetzung des visuellen Erkennens ein „Verzeichnis von charakteristischen Merkmalen“ an, das im „semantischen Gedächtnis“ des Individuums angelegt wird, unter wechselnden Bedingungen stabil bleibt und das Weltwissen für die jeweilige Lebenszeit bereithält; vgl. Georg Goldenberg: Neuropsychologie. Grundlagen, Klinik, Rehabilitation. München: Urban & Fischer 2002 [1997], 155f.; sowie Heinrich H. Bülthoff & Alexa I. Ruppertsberg: „Funktionelle Prinzipien der Objekt- und Gesichtserkennung.“ In: Hans-Otto Karnath & Peter Thier (Hrsg.): Neuropsychologie. Berlin: Springer 2003, 95-105. Die beiden letzten Angaben verdanke ich Caecilie Weissert.
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tung Aleida Assmann hingewiesen hat;119 auch nicht so sehr die alte, im 18. Jahrhundert zunehmende Praxis, hochgeschätzte Kunstwerke für Liebhaber grafisch zu reproduzieren120. Gemeint ist vielmehr das anspielungsreiche Zitieren und Modifizieren besonders eindrücklicher Vor-Bilder innerhalb der Druckgrafik selbst. Ob letztere nun eine symbolträchtige Figur populärer Bilderbögen wie den Puppenspieler übernimmt und politisiert, ob sie ein Kunstwerk wie Füsslis Nachtmahr in sehr vielfältiger Weise adaptiert oder ob sie eine politische ‚Ikone‘ wie Picassos Guernica wörtlich zitiert – in jedem Fall entwickeln und etablieren sich im Verlauf solcher Bildfiliationen visuelle Typen und Schemata121 mit Wiedererkennungs- und Erinnerungseffekt. Diese Wiederholungen sind beides zugleich: Mittel zur Verstärkung des Erinnerungsdiskurses und Zeugnisse seiner Wirkungskraft. Wenn nun kulturelle Erinnerung nach Jan Assmann wesentlich aus Folgen „wiederaufgenommener Mitteilungen“ in räumlich und zeitlich „zerdehnten Situationen“ besteht122, dann verdeutlichen die oben vorgeführten Bildfiliationen diesen Prozess besonders unmittelbar und prägnant. Sie arbeiteten einer modernen Bildkunst vor, welche die Rangunterschiede zwischen Original, Kopie und ‚Plagiat‘ relativiert123 und der „Wiederholung als Erinnerungskategorie“124 eine wichtige Rolle zuerkennt. Schon aufgrund ihres Präsenz-Charakters, noch mehr aber, wenn diese ihre genuine Eindrücklichkeit durch besonders expressive Darstellungsformen und durch raffinierte Wiederholungen zusätzlich verstärkt wird, besitzen Bilder – zumal solche der politischen Druckgrafik – somit ein besonders großes, medienspezifisches Erinnerungspotential mit sozialer Reichweite. Sie sind keine neutralen Orte zur Ablage von Erinnerungen, keine bloßen Gedächtnisspeicher, sondern ‚imagines agentes‘ im vollen Wortsinn: d.h. integrale Bestandteile und Faktoren langfristiger, interkultureller Erinnerungsdiskurse und -prozesse, die sie inhaltlich prägen und emotionalisieren durch die Visualisierung von Nationalstolz und Angst, von Freude und Spott, Begeisterung und Hass.
_____________ 119 A. Assmann: „Das Bildgedächtnis der Kunst“ (Anm. 43), 211-217. 120 Erst neuerdings beginnt die Erinnerungsfunktion der Reproduktionsgrafik die verdiente Beachtung zu finden. Vgl. etwa den Katalogband von Corinna Höper: Raffael und die Folgen. Das Kunstwerk in Zeitalter seiner graphischen Reproduzierbarkeit. Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 2001; sowie Norberto Gramaccini & Hans Jakob Meier: Die Kunst der Interpretation. Französische Reproduktionsgraphik 1648-1792. München: Dt. Kunstverlag 2003, bes. 11-15 zur „Kunst der Wiederholung“. 121 Vgl. den sehr bedenkenswerten Vorschlag, „medienübergreifend [...] den Mechanismus der Schemabildung in den Mittelpunkt“ der Erinnerungsforschung zu stellen. Hartmut Winkler: „Das Unbewusste der Kultur?“ In: Erwägen Wissen Ethik 13 (2002), 270-271. 122 Jan Assmann: „Das kulturelle Gedächtnis.“ In: Erwägen Wissen Ethik 13 (2002), 239-248, 241f. 123 Wolfgang Ernst: „(In)Differenz. Zur Ekstase der Originalität im Zeitalter der Fotokopie.“ In: Hans Ulrich Gumbrecht & K. Ludwig Peifer (Hrsg.): Materialität der Kommunikation. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, 498-518. 124 Vgl. das so überschriebene Kapitel bei Cordula Meier: Kunst und Gedächtnis. Zugänge zur aktuellen Kunstrezeption im Licht digitaler Speicher. München: Fink 2002, 183-201.
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Abb. 1: Pablo Picasso: Guernica, Paris 1937. Öl auf Leinwand, 351x782 cm (Madrid, Museo del Prado).
Abb. 2: Vietnam als neues Guernica. Anonymes Poster, New York 1969 (Abb. nach Herschel B. Chipp, Picasso’s Guernica: History, Transformations, Meaings. Berkeley/LosAngeles/London 1988, S. 193).
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Abb. 3: Sophie Matisse nach Pablo Picasso: Guernica. New York 2003. Öl auf Leinwand, 351 x 782 cm (Abb. nach F.A.Z. Nr. 57 vom 8. März 2003, 31).
Abb. 4: Johann Samuel Ringk nach Daniel Chodowiecki: Französischer Enthusiasmus auf dem Mars- oder Föderations-Felde, Berlin 1792, 11,5 x 6,6 cm, 7. Monatskupfer. In: Georg Forster, Erinnerungen aus dem Jahr 1790: in historischen Gemälden und Bildnissen von D. Chodowiecki, D. Berger, Cl. Kohl, J. F. Bolt und J. S. Rinck. Berlin: Voss 1793.
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Abb. 5: Der König hackend auf dem Marsfeld. Anonyme Radierung, Paris 1790, 12,5 x 8,5 cm. In: Révolutions de France et de Brabant, no 36 vom 2. August 1790.
Abb. 6: Bastille, lebe wohl. Anonyme kolorierte Radierung, Paris 1789, 17,3 x 25,5 cm (Paris, BnF, Dépt. des Estampes, Coll. De Vinck, no 1671)
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Abb. 7: Lemière: Gebt den Armen Saures. Kreidelithographie, Paris 1830 (Paris, BnF, Dépt. des Estampes, Coll. Histoire de France, Cliché no 110955).
Abb. 8: Villain nach H. Gerard Fontallard: Tanzt und spingt, ihr Goldpüppchen! Lithographie, Paris 1830, 12,6 x 18,6 cm (Paris, Bnf, Dépt. des Estampes, Coll. De Vinck. no 11526).
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Abb. 9: Auguste Bouquet: Die europäischen Monarchen tanzen zur Pfeife des Blusenmanns. Kolorierte Kreidelithographie ohne Titel, Paris: Aubert 1833, 18,6 x 26 cm. In: La Caricature, no 152 vom 3. Oktober 1833, Planche 318.
Abb. 10: Chronos lässt Freiheit und Königtum durcheinanderpurzeln. Anonyme Kreidelithographie, koloriert, Paris: Thierry frerès, 1849, 30,5 x 40 cm, Werbeplakat für den Almanach astrologique pour l’année 1850 (Bonn, Archiv der Sozialen Demokratie, ohne Inv.-Nr.).
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Abb. 11: Die Republik. Anonyme Radierung, koloriert, Paris: Paul-André Basset, um 1793, 75 x 52,5 cm (Paris, BnF, Dépt. des Estampes, Coll. De Vinck, no 6076).
Abb. 12: Honoré Daumier: Die Französische Republik. Kreidelithographie, Paris: Aubert 1848, 23 x 30 cm. In: Le Charivari, a. 17, no 60 vom 29. Februar 1848.
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Abb. 13: Die Republik. Anonyme Radierung, Paris 1796, 8,8 x 5,5 cm, Frontispiz zu: Almamach des gens de bien pour lanneée 1797. Paris: Chez tous les Marchands des nouveautés [1796].
Abb. 14: Die Republik nach einem Stich in der Nationalbibliothek. Anonyme Federlithographie mit Letterndruck, Paris: Jules Le Clère, 1880 (Grenoble, Archives départementales de 1’Isere, 54 M 3).
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Abb. 15: Müller: Die Pariser Kommune als republikanisches Flintenweib. Holzstich, Darmstadt 1870, Detail von: Ernste und heitere Bilder aus dem deutschen Nationalkrieg gegen Napoleon III. In: Zündnadeln, no 12, 1870, 60 x 44,6 cm (Hamburg, Museum für Kunst und Gewerbe, Graphische Sammlung, H 3543).
Abb. 16: Der Abbe M [aury]. Anonyme Radierung, Paris 1791, 13,6 x 8 cm, in: Les fouteries chantantes ou Les récréations priapiques des aristocrates en vie. Par la Muse libertine. À Couillardise, ˆ 1791 (Abb. nach Annie Le Brun [Hrsg.]: Petits et grands théatres du Marquis de Sade. Paris: Paris Art Centre 1989, S. 239).
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Abb. 17: Nicolet: Physiognomie eines Sansculotten. Radierung, Paris 1794 (Abb. nach: Kurt Holzapfel [Hrsg.]: Die große Französische Revolution 1789 –1795. Berlin: Dietz 1989, S. 262).
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Abb. 18: Gebrüder Henschel: Triumpf des Jahres 1813. Den Deutschen zum Neuenjahr 1814. Kolorierte Radierung mit Aquatinta, Berlin, Dezember 1814, 12,3 x 10,6 cm (Arenenberg, Napoleon Museum; Abb. nach Hans Peter Maties [Hrsg.]: Napoleon I. im Spiegel der Karikatur. Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung 1998, Nr. 340, S. 545).
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Abb. 19: Verbrechen und Streiche von Badinguet. Anonyme Federlithographie nach Dutasta mit Letterndruck, Brüssel 1870, Zeichnung 32 x 24 cm (Mailand, Raccolta Civica Achille Bertarelli).
Abb. 20: Johann Heinrich Füssli: Die Nachtmahr. Öl auf Leinwand, 1781, 101 x 127 cm (Detroit, Institute of Arts; nach Werner Hofmann: Une époque en ruptura, 1750 –1830. Paris: Gallimard 1995, S. 184).
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Abb. 21: Thomas Burke nach J. H. Füssli: The Night Mare – Die Nachtmahr. Radierung in Punktiermanier und Aquatinta, London 1783, 19,2 x 23,1 cm (London, British Museum, Department of Prints and Drawings, Inv. no 1870-5-14-1610; Abb. nach Hans Joachim Neyer [Hrsg.]: Thomas Rowlandson: Grazie, Galanterie, Groteske – englische Bildsatiren zwischen Rokoko und Romantik, Hannover: Wilhelm-Busch-Museum 2001, S. 154).
Abb. 22: Thomas Rowlandson: Der Alptraum Covent Garden. Punktierte, kolorierte Radierung, London: Humphrey, 20. April 1784, 25,2 x 35 cm (London, British Museum, Department of Prints and Drawings, no 6543; Abb. nach Diana Donald, The Age of Caricature: Satirical Prints in the Reign of George III, New Haven/London: Yale UP 1996, S. 71).
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Abb. 23: Benoit-Louis Provost nach Jacques-Louis Copia: Der Alptraum der Aristokratie. ˆ Punktiermanier in Farbe, Paris: Desmarets 1793, 12,3 x 12,5 cm (Hamburg, Kunsthalle, Graphische Sammlung, Inv. 1988/190; Abb. nach Werner Hofmann [Hrsg.]: Europa 1789: Aufklärung – Verklärung – Verfall, Köln 1989: DuMont, Nr. 373, S. 262).
Abb. 24: Die Nachtmahr. Anonyme Radierung, koloriert, London: S.W. Fores, 13. August 1795, 25,4 x 35,7 cm (Hamburg, Museum für Kunst und Gewerbe, Graphische Sammlung, H 710).
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Abb. 25: Thomas Rowlandson: Holländischer Alptraum. Kolorierte Radierung, London: Ackermann, 29. November 1813, 33,5 x 24,7 cm (London, British Museum, Department of Prints and Drawings, no 12105; Abb. nach Hans Peter Mathis [Hrsg.]: Napoleon I. im Spiegel der Karikatur. Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung 1998, Nr. 58, S. 255).
Abb. 26: Alptraum eines Pamphletisten. Anonyme Lithographie, koloriert, Paris 1815, Abdruck 19,2 x 26,1 cm (Privatbesitz).
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Abb. 27: Hermann Dyck: Beginnendes Erwachen. Holzstich, München 1848, 44 x 28 cm. In: Fliegende Blätter, Bd. VI, no 136, 1848
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Abb. 28: Patrioty: Der Alptraum der roten Mutter. Kolorierte Kreidelithographie, Paris 1849, Zeichnung 26,4 x 22,6 cm, No 3 der Serie Allégorie (Privatbesitz).
Abb. 29: Paul Klenck: Ein schlechter Traum des Väterchens Wilhelm. Kolorierte Federlithographie, Paris 1870, 26,5 x 33,5 cm (Heidelberg, Universitätsbibliothek, Sammlung Trübner 14, Bd no 188).
BÉATRICE HENDRICH
„Im Monat Muharrem weint meine Laute!“ Die alevitische Langhalslaute als Medium der Erinnerung Ich spiele auf der Laute Erinnerung. Sie ist ein geringfügiges Instrument mit nur immer einem und demselben Klang. [...] Es gibt einen Knaben, der darauf zu spielen weiß; und ich, der ich Zeit habe, auf der Lauer zu liegen, ich horche ihm zu.125
1. Einleitung Die Langhalslaute „saz“ ist das wichtigste Gedächtnismedium der ursprünglich in Anatolien beheimateten Glaubensgemeinschaft der Aleviten. Es ist die Funktion, die sie zum alevitischen Gedächtnismedium macht, und diese speist sich aus den verschiedenen medialen und memorialen Qualitäten des Instruments. Als Körpermedium und Performanzmedium unterstützt sie das kulturelle Gedächtnis der Aleviten und damit deren kulturelles und kollektives Selbstverständnis. Als Memorialbild hoher kultureller Spezifität gewährleistet sie das in der Geschichte begründete Bedürfnis nach Geheimhaltung; als Medium einer strukturell oralen Kultur ist sie flexibel genug, um auch unter veränderten Medien- und Kommunikationsverhältnissen ihre Funktion ausüben zu können. *** Nach Siegfried J. Schmidt bedingen sich Kultur und Gesellschaft gegenseitig, aber kulturelle Manifestationen „sind [...] nur dann gesellschaftlich relevant, wenn sie in der Kommunikation eine Rolle spielen, d.h. wenn sie (zumindest partielle) Öffentlichkeiten erreichen und sich dort für eine signifikante Dauer etablieren können“126. Um die Kommunikation initiieren und aufrechterhalten zu können, bedarf es der ‚Medienangebote‘. Darunter versteht Schmidt „alle mit Hilfe kon-
_____________ 125 Robert Walser: Komödien, Geschichten und der Spaziergang (= Dichtung in Prosa. 5). Genf: Verlag Helmut Kossodo 1961, 122-123. 126 Siegfried J. Schmidt: „Medien, Kultur: Medienkultur.“ In: Werner Faulstich (Hrsg.): Medien und Kultur. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1991, 30-49, 40.
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ventionalisierter Materialien (Kommunikationsmittel) produzierten Kommunikationsanlässe.“127 Die Existenz eines Mediums/mehrerer Medien ist damit elementare Voraussetzung für die Existenz einer Gesellschaft und Kultur. Die Glaubensgemeinschaft der Aleviten verfügt über eine mündliche Kultur, die sich bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein auch nicht in Bildern oder Ikonen manifestierte. Die mündliche Tradierung der Lehre wurde lediglich durch den ritualisierten Gebrauch eines Instruments, Gesang und Tanz unterstützt. Der Gebrauch der anatolischen Langhalslaute in diesem Zusammenhang lässt sich über Jahrhunderte zurückverfolgen; in der Gegenwart ist die Laute nicht nur populär, sondern als alevitisches Musikinstrument dominant. Sie dient zugleich als Ikone – einem Gegenstand, der durch die Betrachtung eine Verbindung zu Gott ermöglicht – und Symbol – eine verdichtete Darstellung kulturell ausgehandelter Bedeutung – des alevitischen Selbstverständnisses und der (offensiven) Repräsentation nach außen. Aus dieser Beobachtung heraus entstand die dem Aufsatz zugrunde liegende Annahme, dass die anatolische Langhalslaute aufgrund bestimmter Eigenschaften und Zuschreibungen mehr ist als irgendein (rituelles) Instrument und sie deshalb für die alevitische Gemeinschaft der Gegenwart all die genannten Rollen einnehmen kann. Sie scheint für die alevitische Öffentlichkeit ein Medium, und hier wiederum ein Medium der Erinnerung zu sein. Nach einigen grundlegenden Informationen über die Aleviten und die anatolische Langhalslaute werde ich die verschiedenen Aspekte dieses Mediums der Erinnerung erörtern. I.1 Die Aleviten Die Genese der Glaubensgemeinschaft der Aleviten ist aufs engste mit der Region Anatolien verknüpft: Vor dem Einsetzen der weltweiten Arbeitsmigration lebten Aleviten ausschließlich in Kleinasien sowie in Albanien und Bulgarien. Obwohl oder gerade weil die Aleviten sich selbst (in ihrer überwiegenden Mehrheit) stets als Muslime verstanden, wurden sie durch die osmanische, sunnitische Staatsgewalt immer wieder als Häretiker verfolgt. Auch in Zeiten ohne offene staatliche Verfolgung mussten sie als marginalisierte Gemeinschaft in abgelegenen Bergregionen Anatoliens leben.128 Als formative Periode des Glaubens und der Rituale kann man das 16. Jahrhundert betrachten, das hinsichtlich der osmani-
_____________ 127 Ebd., 41. 128 In den urbanen Zentren und durchaus in gutem Verhältnis zur Regierung existierte der Orden der Bektaûiyye. Dieser wird oft in einem Atemzug mit dem Alevitentum genannt. Die komplexe Beziehung zwischen beiden Gruppen kann an dieser Stelle nicht erläutert werden. Der vorliegende Beitrag beschränkt sich ausdrücklich auf die Abstammungsgemeinschaft der Aleviten und ignoriert die Beitrittsgemeinschaft der Bektaschiten.
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schen Innen- und Außenpolitik durch die (militärische) safavidisch-osmanische Auseinandersetzung bestimmt war. „Proto-alevitische“ Phänomene lassen sich in Anatolien bis ins zwölfte Jahrhundert zurückverfolgen. Die Aleviten selbst sehen ihren Ursprung allerdings in der frühislamischen Auseinandersetzung um die Nachfolge des Propheten Muhammad und der Ermordung des vierten Kalifen Ali ibn Abi Talib (661 n.Chr.), von dessen Namen auch die Bezeichnung „Alevi“ (ali-disch) abgeleitet ist. Die alevitische Lehre wurde im Wesentlichen mündlich durch die männlichen Nachkommen „heiliger Familien“, die ihren Ursprung auf jenen vierten Kalifen zurückführen, überliefert. Heilige Schriften im Sinne kanonisierter Textsammlungen oder bereits als Gegenstand sakralisierter Bücher (wie der Koran, der nur im Zustand der Reinheit berührt werden darf) existieren nicht. Die Rituale ähneln weder den sunnitischen noch den schiitischen; viel eher lassen sie sich aus den Lebensumständen einer marginalisierten Agrargesellschaft ohne formale Bildung herleiten: Im Herbst oder Winter, nach dem Ende der Feldarbeit, wurden Gottesdienste in Form einer Dorfversammlung (cem) im größten Haus des Dorfes abgehalten; sie beinhalteten neben dem Gebet und religiöser sowie sozialer Ermahnung durch den Gemeindeführer (dede) auch religiöse Musik sowie Tanz und schlossen mit einem gemeinsamen Essen. In der heutigen Türkei sind nach inoffiziellen Schätzungen ca. 25 % der Bevölkerung alevitischen Glaubens, außerhalb der Türkei dürfte der Anteil der Aleviten unter den Migranten aus der Türkei aufgrund der regionalen Anwerbeschwerpunkte noch höher sein. Die letzten zwanzig Jahre werden häufig als Zeit des ‚alevitischen revival‘ bezeichnet, da die Aleviten selbst einerseits ihre Religion bzw. Kultur (wieder-) entdeckt hätten und andererseits große strukturelle Umbrüche wie die Selbstorganisation in Verbänden, das going-public eben dieser Verbände sowie die ausführliche Darstellung des neuen (Selbst-)Bewusstseins mittels aller existierenden Massenmedien stattgefunden haben. I.2 Das Instrument Die im Türkischen „saz“ oder „baølama“ genannte Langhalslaute ist das in der Türkei am weitesten verbreitete Musikinstrument; durch die Migration aus der Türkei ist sie geradezu ein ‚global player‘ geworden. Einsatz findet sie insbesondere in der Volksmusik, aber auch in allen anderen Musikrichtungen Anatoliens. Da sie, im Vergleich zu anderen Musikinstrumenten, relativ leicht herzustellen und zu spielen sowie günstig zu erwerben ist, ist sie sowohl in der Diaspora als auch in der Türkei das Instrument der Amateurmusiker. Größe, Besaitung, Stimmung und Spieltechnik dieses Instruments aus der Familie der Tanburen variieren, auch die Frage nach der ‚korrekten‘ Bezeichnung ist nicht abschließend geklärt. In der Gegenwart dominiert ein siebensaitiges (2+2+3) Modell mit 19 Bünden, dessen Saiten über der Mitte der Decke mit einem Plektrum geschlagen werden.
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Abb. 1: Anatolische Langhalslauten im Prozess der Herstellung (Trockenraum).
Für die Aleviten ist die Langhalslaute viel mehr als ein populäres Mittel zur Unterhaltung: Im Gottesdienst besitzt sie einen sakralen Status und eine rituelle Funktion. Sie verkörpert129 in den Augen der Aleviten die zentralen Erinnerungsfiguren130 des eigenen Ursprungs, sie vermittelt zwischen dem Musiker, den Gläubigen und Gott und sie bewahrt und tradiert die Lehre. Durch die Zuschreibung dieser für den Erhalt der Gemeinschaft wesentlichen Funktionen kann das Instrument selbst bzw. dessen Abbild die Gemeinschaft der Aleviten symbolisch nach außen vertreten.
2. Die Saz als Medium der Erinnerung Dieser Aufsatz operiert mit zwei Behauptungen – für manche: zwei Zumutungen – und versucht darüber hinaus, diese beiden durch die Anwendung auf eine obskure religiöse Minderheit zu stützen. Die erste Behauptung ist: Ein Musikinstrument kann ein Medium sein. Die zweite: Es gibt Medien des Gedächtnisses
_____________ 129 Ob das Instrument die Erinnerungsfiguren tatsächlich verkörpert oder nur repräsentiert – im Sinne des Hostienstreits zwischen den christlichen Konfessionen – wird sich, da das Alevitentum weder über Dogma noch über Kanon verfügt, nicht abschließend klären lassen. 130 Zum Begriff der Erinnerungsfigur vgl. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: C.H. Beck 1997 [1992], 37 ff.
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und Medien der Erinnerung. Der Anwendungsfall ist: die Saz der Aleviten als Erinnerungsmedium derselben zu betrachten. Die Aspekte ‚Medium‘ und ‚Gedächtnis/Erinnerung‘ werden – nach einer kurzen Überlegung zum Thema ‚noch ein Medium?‘ – im Folgenden stets gemeinsam betrachtet werden. Dieses Vorgehen rechtfertigt sich durch die Spezifität der alevitischen Saz. Sie ist kein Medium per se, das beliebig Inhalte transportieren oder vermitteln kann; erst ihre Funktion im Rahmen der Konstruktion des alevitischen Gedächtnisses und der Erinnerung macht sie zu einem solchen. II.1 Ein Musikinstrument als Medium? Ein Musikinstrument als Medium zu betrachten, erscheint auf den ersten Blick wie ein weiterer Versuch, alle Umstände und Gegenstände unserer Umwelt zum Medium zu deklarieren. Doch im Gegensatz zu solchen Megatheorien der Welterklärung wird hier der Einzelfall betrachtet, seine Kulturspezifität, ohne anthropologische Konstanten zu vernachlässigen, denn nicht das Geld oder das Buch an sich, auch nicht das Musikinstrument als solches stehen hier zur Debatte. Dieses Vorgehen rechtfertigt sich durch den kulturwissenschaftlichen Blickwinkel: Kulturwissenschaft erforscht die von Menschen hervorgebrachten, sozialen wie technischen Einrichtungen, die zwischen Menschen gebildeten Handlungs- und Konfliktformen sowie deren Werte- und Normenhorizonte, insbesondere insoweit diese zu ihrer Konstitution, Tradierung und Entwicklung besonderer Ebenen der symbolischen und medialen Vermittlung bedürfen.131
Von diesem Blickwinkel aus bedarf es stets des historischen und sozialen Kontextes, um aus einer materiellen oder immateriellen Gegebenheit ein Medium zu machen. Dieser Kontext kann durchaus, und wird in der Regel, sowohl durch den Produzenten oder Rezipienten eines Medienangebots, die sich beide innerhalb dieses Kontexts befinden, als auch durch die außen stehende Betrachterin/Forscherin unterschiedlich gelesen. Die kulturwissenschaftliche Perspektive erlaubt es des Weiteren, eine Gegebenheit, die im wissenschaftlichen Diskurs bisher nicht zum Medium deklariert worden war, als ein solches wahrzunehmen, vorausgesetzt, seine Leistungsfähigkeit entspricht den Anforderungen, die man an Medien in bestimmten kulturellen Zusammenhängen stellt. In diesem Sinne möchte ich Faulstichs Mediendefinition hier als Arbeitsdefinition einführen, obwohl er selbst in seinen Schriften kein Musikinstrument ausdrücklich als Medium bezeichnet:
_____________ 131 Hartmut Böhme: „Kulturwissenschaft.“ In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 2. Berlin/New York: de Gruyter 2000, 356-359, 356. Hervorhebung BH.
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Medien werden im folgenden verstanden als komplexe institutionalisierte Systeme um organisierte Kommunikationskanäle von spezifischem Leistungsvermögen. Es geht dabei primär um zentrale oder dominante Vermittlungsmechanismen kultureller und sozialer Interaktionsprozesse.132
Zusätzlich zu dem bisher Gesagten existieren auch Gründe, den Blick über das einzelne, spezielle Musikinstrument hinaus auf das Musikinstrument an sich zu richten. Zwar verhindert die Kontextabhängigkeit, ausnahmslos alle Instrumente als Medien zu betrachten, aber den meisten unter ihnen eignen doch wesentliche mediale Eigenschaften: „Der Aspekt der Mitte, also des durch Medien geschaffenen spezifischen Milieus“133 ist eine wesentliche Funktion von Musikinstrumenten in sozialen Situationen. Das rituell eingesetzte Instrument taugt zur Hervorbringung künstlicher Welten und besonderer Erfahrungen, zur „Welterzeugung“134, und diese Fähigkeit ist es, die nach Sybille Krämer aus einem Werkzeug einen Apparat, mithin ein Medium macht. Schließlich ist das Musikinstrument bereits in prähistorischen Kulturen als Medium der Kommunikation zwischen den Menschen und dem Metaphysischen (welcher Art auch immer) nachgewiesen.135 II.2 Die Saz als Körpermedium Die anatolische Langhalslaute weist verschiedene Körper-Eigenschaften auf, sie vereint verschiedene Typen von Körper-Medien. Die Erweiterung des Körpers und des Gedächtnisses: Die frühesten (uns bekannten) Musikinstrumente waren Rhythmusinstrumente, die, in der Regel paarweise am Körper getragen, die Bewegungen des Körpers betonten. Eine Weiterentwicklung der Technik stellten solche Rhythmusinstrumente dar, die gehalten und bewegt (geschüttelt) werden mussten und somit die Körperbewegungen nicht mehr mit vollzogen, sondern ergänzten. Hier kann man von einer Verlängerung des Körpers sprechen.136 Doch egal, welches Stadium die technische Weiterentwicklung der Instrumente erreichte, stets blieb und bleibt die
_____________ 132 Werner Faulstich: Das Medium als Kult: von den Anfängen bis zur Spätantike (8. Jahrhundert) (= Die Geschichte der Medien. 1). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1997, 10. 133 Stefan Hoffmann: Geschichte des Medienbegriffs (= Sonderheft Archiv für Begriffsgeschichte). Hamburg: Meiner 2002, 149. 134 Sybille Krämer (Hrsg.): Medien – Computer – Realität: Wirklichkeitsvorstellungen und neue Medien. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1998, 85. 135 Vgl. u.a. Georg Klein: „Musik und Religion. Überlegungen zu Kult und Melancholie in der menschlichen Zivilisation.“ In: Magazin für Theologie und Ästhetik 10. www.theomag.de/10/gk.1.htm (Stand 18.09.02), Abs. 6. 136 Lucie Rault: Vom Klang der Welt. Vom Echo der Vorfahren zu den Musikinstrumenten der Neuzeit. München: Frederking und Thaler 2000, 71.
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körperliche Nähe zwischen Instrument und Musiker gewahrt und das Instrument als Erweiterung des menschlichen Körpers wahrnehmbar: „Dass ein Instrument beim Spiel dem Körper des Musikers nah sein muss, ist offensichtlich. Stellt es nicht so etwas wie eine Ausdehnung seiner Person dar, ein weiteres Organ, die Transformation eines Körperteils?“137 Umgekehrt repräsentieren Musikinstrumente den menschlichen Körper. Das gilt nicht nur für Saiteninstrumente, die über einen ausgeprägten „instrumentalen Anthropomorphismus“138 verfügen und auch in der darstellenden Kunst besonders oft mit dem menschlichen Körper zu einem Motiv verknüpft werden, sondern für die meisten Instrumente. Dieser Anthropomorphismus spiegelt sich – als anthropologische Konstante – in der Bezeichnung einzelner Bestandteile von Instrumenten als ‚Hals‘, ‚Kopf‘ usw. wider. Mit der Ausreifung der im Kult gebrauchten Musikinstrumente verringert sich gleichzeitig die Bedeutung des Körper-Mediums ‚Mensch‘ und verlagert sich auf das doppelte Körper-Medium ‚Mensch-Instrument‘ (vgl. Schamane und Trommel). Das Instrument, der abstrahierte Körper, kann schließlich eine größere Bedeutung als der Musiker erlangen, der es nur noch bedient. Dieser Vorgang hängt nicht nur mit der zunehmenden Abstrahierung und Sublimierung des Kultes und seiner Symbolik zusammen, sondern hat auch einen ganz praktischen Aspekt: Das Mensch-Medium kann fortgehen, erkranken, sterben, das Instrument (dasselbe oder ein gleiches) bleibt der Gemeinschaft erhalten. Dieser Wandel der Bedeutung verschiedener Medienarten lässt sich durchaus mit dem von Wenzel beschriebenen ‚Interferenzmodell‘ im Medienwandel vergleichen: Das Körpergedächtnis der oralen (und visuellen) Gesellschaft findet seinen Niederschlag auch im neuartigen Medium ‚Buch‘: Die Schrift erscheint als mediale Erweiterung und Fortsetzung von personellen Möglichkeiten, als Garant einer Aura, die das Körperschema des Menschen bewahrt. Diese Bindung an das Körperschema hat sich in den toten Metaphern des Buchwesens bis heute erhalten. Ein Buch ist ein Korpus mit Kopfzeile und Fußnoten, das uns den breiten oder schmalen Rücken zukehrt [...].139
Die Bedeutung des Körper-Mediums gerade für orale Gemeinschaften beschreibt Wenzel folgendermaßen: Die „Techniken der körperlichen Mitteilung“ könne man als „Speicher- und Nachrichtentechniken, die Informationen über und durch die Körper fließen lassen“, durch die ein für „orale Gemeinschaften
_____________ 137 Ebd., 83. 138 Ebd. Zur Symbolik der Saiteninstrumente in der christlichen Theologie vgl. Helmut Giesel: Studien zur Symbolik der Musikinstrumente im Schrifttum der alten und mittelalterliche Kirche. Regensburg: Gustav Bosse Verlag 1978, 123-159. 139 Horst Wenzel: „Ohren und Augen – Schrift und Bild. Zur medialen Transformation körperlicher Wahrnehmung im Mittelalter.“ In: Manfred Faßler & Wulf Halbach (Hrsg.): Geschichte der Medien. München: Fink 1998, 109-140, 112.
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konstitutiv[es]“ „Körpergedächtnis“ zustande kommt, betrachten.140 Ein KörperMedium zum Mittelpunkt einer Gemeinschaft, oder wenigstens zum Schlüsselsymbol der kulturellen Identität, zu machen, bietet sich – nicht nur in oralen Gesellschaften – aus mehreren Gründen an: Gemeinschaften bilden keinen Körper, aber jede Gemeinschaft [...] versucht, sich durch die Analogie zum individuellen Körper oder Organismus den Anschein eines lebendigen und geschlossenen Leibes zu geben. Durch Riten und Uniformen, Tätowierungen [...] inszenieren sie sich als ebenso unteilbar wie ein menschlicher Körper, der auf das Zusammenspiel und die Koordination der einzelnen Glieder angewiesen ist.141
Diesen Körper kann das Instrument, das sowohl über anthropomorphe Züge verfügt als auch über eine Stimme, repräsentieren. In einem weiteren Schritt kann dann das Körperschema des Instrumentes semantisch aufgeladen werden, indem man den Körpergliedern Erinnerungsfunktionen zuschreibt, so dass also einzelne Glieder für einzelne Erinnerungsmotive oder -figuren stehen, und das Gesamte wie eine „narrative Abbreviatur“142 die kulturelle Meistererzählung des Kollektivs verkörpert. Diese Funktion ist zu unterscheiden von der Funktion des Musikinstrumentes als mnemotechnischem Hilfsmittel in der nicht schriftlich fixierten Musik, das dem Vortragenden das Wiederauffinden und Neugestalten der (hier kulturell/rituell relevanten) Musik (und des dazugehörigen Textes) erlaubt. Hier erweitert das Medium das sozial bedingte Gedächtnis des Individuums. Kulturspezifische Inhalte des Körpermediums Saz: Das Saiteninstrument in all seinen Varianten ist wesentlicher Bestandteil der Musikgeschichte der Alten Welt.143 Ebenso weist die Musiktheorie des Orients und des Okzidents gemeinsame Wurzeln auf – von Babylon über die griechische Harmonielehre bis zur Ausarbeitung durch die mittelalterlichen Philosophen. So ist es nicht verwunderlich, dass der metaphorische Gebrauch eines Saiteninstruments in Text und Bild sowie dessen Deutung als lebendiger Organismus hier wie dort verbreitet sind. Im Arabischen bezeichnete man so die Decke der Laute als
_____________ 140 Horst Wenzel: „Vom Anfang und vom Ende der Gutenberg-Galaxis. Historische Medienumbrüche im Für und Wider der Diskussion.“ In: Lutz Musner & Gotthart Wunberg (Hrsg.): Kulturwissenschaften. Forschung, Praxis, Positionen. Wien: WUV 2002, 339-356, 345. 141 Christina von Braun: „Der Kollektivkörper und seine Säfte.“ online verfügbar über www.culture. hu-berlin.de/evb/texte_frame.html (Stand 13.05.03), Abs. 1. 142 Vgl. Jörn Rüsen: Historische Orientierung. Über die Arbeit des Geschichtsbewusstseins, sich in der Zeit zurechtzufinden. Köln: Böhlau 1994, 11. 143 Die von Hammerstein angestrebte Trennung von orientalischer und okzidentaler Musikgeschichte ist weder sinnvoll noch richtig (vgl. Reinhold Hammerstein: Von gerissenen Saiten und singenden Zikaden. Studien zur Emblematik der Musik. Tübingen/Basel: Francke 1994, 14 u.ö.).
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„Bauch“ (batn) oder „Brust“ (sadr) sowie den Sattel als „Nase“ (anf ).144 Die anatolische Langhalslaute besteht aus den „Ohren“ (kulak, auch burgu, für Wirbel), einem „Arm“ (kol, auch sap, für Hals), einem „Rumpf“ (gövde, auch çanak, für Korpus), und einer „Brust“ (göøüs, auch kapak, für Decke). In der Literatur des Orients, sowohl in der mystischen als auch in der unterhaltenden, treten immer wieder Musikinstrumente, auch hier insbesondere Saiteninstrumente, als Akteure auf, oder bilden, geradezu wortwörtlich, die Rahmenhandlung. Der Wettbewerb zwischen den Saiteninstrumenten ist ein Beispiel aus der tschagataischen Poesie des 15. Jahrhunderts.145 Der iranische Dichter Scheich Sa’di (gest. 1292) hat ebenso ein (verschollenes) „Harfenpoem“ („Çengname“) verfasst wie der türkische Autor Ahmed-i Da’i (gest. nach 1421). Im Çengname geht es um die Suche des Menschen nach seinem Lebensziel und nach der göttlichen Ewigkeit, deren Bestandteil er einstmals gewesen war, doch von der er durch seine menschlichen Verfehlungen getrennt worden ist.146 Die vier Hauptbestandteile der Harfe verkörpern die vier Komponenten des menschlichen Daseins: Körper (Holz), Aussehen (Gazellen-Leder), Sprache (Seiden-Saiten) sowie Denken und Wille (Rosshaar-Saiten). Jedes Material beklagt in einem eigenen Kapitel die Trennung von seinem Ursprung. Verschiedene Komponenten dieses Poems haben sich bis heute in den Texten der alevitischen Sazspieler erhalten: Das Erzählsubjekt ‚Musikinstrument‘ weint und klagt über die Trennung vom (mystischen) Geliebten (ma’schuk) oder vom Ursprung; als Gegenmetaphern zu ‚Träne‘ und ‚Meer‘ finden ‚Wüste‘ und ‚Feuer‘ Verwendung. Textbeispiel 1: Meine Tränen [die der Harfe] machen die Wüsten zu Meer / Mein Feuer das Meer zur Wüste. Yaûum sahraları derya kılupdur / Odum deryaları sahra kılupdur. (873) Wer seine Heimat verlässt / Kann die Erinnerung nicht von der Zunge verbannen. Wir vergießen blutige Tränen / Wir schlagen die Köpfe auf den Stein, auf den Kopf Steine. Kiûi kim ayrılur kendü ilinden / Gidermez zikirini dayim dilinden. ùnilerüz dökerüz kanlu yaûlar / Ururuz taûa baûlar baûa taûlar. (1329-1330)147
_____________ 144 Eckhard Neubauer: „Der Bau der Laute und ihre Besaitung nach arabischen, persischen und türkischen Quellen des 9. bis 15. Jahrhunderts.“ In: Zeitschrift für Geschichte der arabisch-islamischen Wissenschaften 8 (1993), 279-378, 282. 145 S. Janos Eckmann: „A Contest in Verse between Stringed Instruments from the Chagatay Literature of the 15th Century.“ In: Denis Sinor (Hrsg.): Aspects of Altaic Civilization. Bloomington: Indiana University 1963, 119-122. 146 Gönül A. Tekin: Çengname. Ahmed-I Da’i. Critical Edition and Textual Analysis (= Sources of Oriental Languages and Literatures. 16). Harvard: Harvard UP 1992, 98. 147 Aus Ahmed-i Da’i: Çengname, Zitat nach Tekin, Çengname (Anm. 22).
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Textbeispiel 2: Im [Monat] Muharrem weint meine Laute: / Ich habe klagend klingende Saiten. Es ist eine Sehnsucht, die mich verbrennt / Es sind Tränen, die aus meinen Augen rinnen. In Kerbela sind meine nach Blut riechenden / heißsandigen Wüsten. Ich konnte nicht zu diesem Freund gehen / nicht sein Grab in Anbetung umschreiten. Muharrem’de aølar sazım / Dertli öten tellerim var. Bir hasrettir beni yakan / Yaûtır gözlerimden akan. Kerbela’da kana kokan / Kızgın kumlu çöllerim var. Ben o dosta gidemedim / Kabrini tavaf edemedim.148
Das zweite Textbeispiel, der alevitische Text, leitet hin zu einem neuen Punkt der Überlegung: Alevitischen Narrative benennen konkrete Situationen und Personen, während andere Texte sich auf die Bedingungen der menschlichen Existenz im Allgemeinen beschränken oder mystische, aber ebenfalls (im Rahmen der Sufik) zeit- und ortsunabhängige Aussagen zum Inhalt zu haben. In einfachen Worten und kurzen Strophen gibt der Text eine der Meistererzählungen des Alevitentums wieder: den Mord an Imam Hüseyin und seinem Gefolge. Im Monat Muharrem des Jahres 61 nach der Hidschra, d.h. im Oktober 680 n. Chr., begegneten sich die Anhänger des Prophetenenkels Hüseyn und die ihres erbitterten Gegners Mu’awiya in der irakischen Wüste bei Kerbela. Bereits vor der eigentlich Schlacht verloren die meisten Anhänger Hüseyns ihr Leben aufgrund des Wassermangels. Da Hüseyn (und sein in der Regel im selben Atemzug genannter Bruder Hasan) nicht nur Prophetenenkel, sondern auch Söhne des vierten Kalifen Ali ibn Abi Talib waren, der wiederum als ‚Begründer‘ des Alevitentums betrachtet wird, schließt die Erzählung die wesentlichen Erinnerungsfiguren ein: den Propheten Muhammad, den Kalifen und Imam Ali, Hasan und Hüseyn sowie die Schlacht bei Kerbela. Aus diesem Ereignis lässt sich die konstitutive Bedeutung von Leiden und Verfolgung für die soziale und kulturelle Identität der Aleviten ableiten. Aber nicht nur alevitische Liedtexte verweisen auf die Erinnerungsfunktion der Laute, sondern der Instrumentenkörper selbst lässt sich, für den ‚Wissenden‘, wie eine materielle Objektivation der religiösen Herkunft und Lehre lesen.149 Der Korpus symbolisiert Ali oder das Geheime Wissen, der Hals das mythische Schwert Alis ‚Zülfikar‘ oder, aufgrund seiner formalen Ähnlichkeit zum arabi-
_____________ 148 Text anonym (Derviû Kemal?), vorgetragen im 20. Jahrhundert durch Feyzullah Çınar. 149 Die folgenden Angaben beruhen auf Stanley Sadie (Hrsg.): The New Grove Dictionary of Musical Instruments. Bd. 1. London: Grove 1980. Ad. voc. baølama, 97; Ayten Kaplan: „Tahtacılarda Etnomüzikolojik bir ùnceleme.“ In: Ismail Engin & Erhard Franz (Hrsg.): Aleviler/Alewiten. Bd. 2: Glauben und Traditionen. Hamburg: Deutsches Orient-Institut 2001, 221-233, 220.
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schen Buchstaben Alif, ‚Allah‘ sowie ‚Ali‘150. Der Steg erinnert an die Türschwelle („eûik“), die in weiten Teilen der zentralasiatisch und/oder durch Türkmenen beeinflussten Kulturen tabu ist. Wenn das Griffbrett zwölf Bünde aufweist oder das Instrument mit zwölf Saiten bespannt ist (wie die große „çöøür“ genannte Laute Ostanatoliens), dann verweist diese Zwölfheit auf die Reihe der zwölf, den Aleviten und Schiiten heiligen Imame. Eine Saz, die nicht gespielt wird, wird entweder, während einer Zeremonie, vom Spieler gehalten, oder aber gut sichtbar an einem erhöhten Platz im Raum aufgehängt, niemals jedoch auf den Boden gelegt. Dieses Verhalten ist aber nicht nur Ausdruck der Ehrerbietung gegenüber einem rituellen Instrument oder seiner Tabuisierung, sondern betont auch den visuellen Charakter der Botschaft und macht die Saz zu einem Memorialbild. Die an der Wand hängende Laute ist für den, der den Schlüssel besitzt, ein Gedächtnisbild im Sinne Sigrid Weigels151 und ein Anlass „für subjektgebundene semantische Operationen, für Nachdenken und Erinnern“.152 Die Saz der Aleviten, die sich äußerlich durch kein Dekor und keine Abweichung vom Instrument eines anderen Volksliedsängers unterscheidet, eignet sich als Körpergedächtnis für diese Gemeinschaft, da das Instrument mit seinen anthropomorphen Eigenschaften die Zuschreibung spezifischer Erinnerungsmotive zulässt (wobei diese Motive rituell reproduziert werden), und andererseits das Lesen des Bildes den Besitz des kulturspezifischen Schlüssels erforderlich macht. Die Geheimhaltung der kulturellen Identität wurde durch dieses Medium nicht gefährdet. In ihren Ausführungen über mittelalterliche illuminierte Texte sprechen Monika Elsner et al. über die „Verkörperung von Sinn“ durch die Illumination der mündlich vorzutragenden Schriften.153 Diese Notwendigkeit, Sinn zu verkörpern, gilt umso mehr für Gesellschaften wie die der Aleviten, die aus sozioökonomischen und politischen Gründen auf die orale Vermittlung ihrer Kom-
_____________ 150 Dieser in einer Feldforschung durch Ayten Kaplan erhobene Befund ist besonders interessant, da er auf einem ‚Orthografiefehler‘ beruht: Der arabische Name ‚Ali‘ wird nicht mit dem semitischen Anlautträger Alef/Alif geschrieben, sondern mit dem im Türkischen und den indoeuropäischen Sprachen unbekannten Konsonanten ‚cAin‘, der in der türkischen Aussprache nicht mehr vorhanden ist. 151 „Die Kehrseite der Merkfunktion dieser Gedächtnisbilder ist aber, sofern sie aufgezeichnet sind, ihre Unentzifferbarkeit für diejenigen, die den Schlüssel nicht kennen. Auch die Schrift der ars memoria bzw. die überlieferten Graphiken von Gedächtnisbildern bleiben damit – ebenso wie die Rede – an ihren Autor gebunden.“ (Sigrid Weigel: Bilder des kulturellen Gedächtnisses. Beiträge zur Gegenwartsliteratur. Dülmen-Hiddingsel: tende 1994, 42) 152 Siegfried J. Schmidt: „Gedächtnis, Erzählen, Identität.“ In: Aleida Assmann (Hrsg.): Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung. Frankfurt a.M.: Fischer 1993, 378-397, 388. 153 Monika Elsner et al.: „Zur Kulturgeschichte der Medien.“ In: Klaus Merten et al. (Hrsg.): Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft. Opladen: Westdeutscher Verlag 1994, 163-187, 170.
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munikation angewiesen sind bzw. waren.154 Die Erinnerung ist jedoch sowohl im Textbeispiel 2 als auch hinsichtlich des Memorialbildes ‚Laute‘ nicht narrativ, sondern „deiktisch“155 organisiert; es wird auf das verwiesen, was den Gläubigen in extenso ohnehin bekannt sein sollte. Die konkrete Ausprägung der zu Beginn angesprochenen Verlagerung der medialen Funktion vom Mensch-Medium auf das Medium Musikinstrument soll im Folgenden im Zusammenhang mit der alevitischen Laute als Performanzmedium dargestellt werden. II.3 Die Saz als Performanzmedium Als rituelles Instrument kommt die Saz im gemeinschaftlichen Gottesdienst der Aleviten, dem ‚ayni cem‘, zum Einsatz. Dieser mehrstündige, die Dorfgemeinschaft (neu) integrierende Gottesdienst, ist u.a. durch die Sakralisierung alltäglicher Gegenstände und alltäglicher Tätigkeiten gekennzeichnet: Unter den zwölf rituellen Diensten (oniki hizmet ), die durch zwölf Personen aus der Gemeinde verrichtet werden müssen, finden sich das Amt des „Bodenbereiters“ (ferraû), der mit seinem Besen den Ritualraum säubert, oder des „Mundschenks“ (sakka, ibriktar ), der Becher und Kanne bereit hält, aus denen dem Gemeindeführer zu trinken angeboten wird. Ebenso wie Besen, Becher und Kanne dient auch die Laute außerhalb des Rituals profanen Zwecken. Es ist der Kontext, der die Geräte sakralisiert, aber gleichzeitig ist die Laute selbst ein wesentliches Instrument, diesen Kontext herzustellen. Performanz soll hier in Anlehnung an Sybille Krämer und das Programm des SFB 447 Kulturen des Performativen als die konkrete Ausführung, der Vollzug einer Kultur konstituierenden Handlung156 verstanden werden. Eine Eigenschaft eines Mediums ist es, ein spezifisches Milieu zu schaffen,157 das die Performanz ermöglicht. Dies tut die Laute durch ihre optische und akustische Präsenz im ayni cem. Ein Musikinstrument als Medium einer (mehr oder weniger) islamischen Performanz – das ist keineswegs so erstaunlich, wie es im ersten Augenblick scheinen möchte. Die Verwendung der Saz als Performanzmedium hat sich aus wenigstens
_____________ 154 Die alevitische Lehre verbietet nicht Schriftlichkeit an sich. Der Zwang zur Geheimhaltung ergab sich aus der religiös-politischen Verfolgung, die geringe Alphabetisierung aus dem Ausschluss aus den osmanischen-sunnitischen Lehrinstitutionen. 155 In Anlehnung an Alois Hahn: „Inszenierung der Erinnerung.“ In: Paragrana 9,2 (2000), 21-42, 24. 156 Die im Zusammenhang mit Performanz/Performativität diskutierten Fragen nach Macht und hegemonialen Strukturen in Performativa wäre in Bezug auf die alevitische Kultur insofern von besonderem Interesse, da diese bis vor 20 Jahren im Begriff schien, völlig auszusterben, und nun die Machtverhältnisse neu definiert werden müssen. Im vorliegenden Zusammenhang blende ich diesen Aspekt aus. 157 Hoffmann: Geschichte des Medienbegriffs (Anm. 9), 149.
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drei, sich gelegentlich berührenden, kulturellen Strängen heraus entwickelt: aus dem schamanistischen Ritual (mit Trommel), aus der Tradition der (göttlich/geistlich inspirierten) Wanderbarden (mit Saiteninstrument) – beides besonders aus Sibirien und Zentralasien bekannt – und aus der Tradition der mystischen Meditation mittels Musik und Bewegung im Islam (unter Zuhilfenahme verschiedener Instrumente). Schamanen besitzen die Fähigkeit, zwischen der Welt der Lebenden und der Welt der Toten zu reisen. Damit einher geht ihre Verpflichtung, Seelen zu hüten und zu heilen. Die Trommel des Schamanen ist ihr „Alter Ego“158, die sie auf der Reise unterstützt, u.a. durch die Bemalung der Trommel mit einer „kosmischen Kartographie“.159 Schamane wird man durch Abstammung oder spontane Berufung; die Berufung findet in der Regel durch einen Traum statt. Nach dem ersten, dem Berufungstraum, in dem der neue Schamane oder die neue Schamanin aufgefordert wird, sein Amt anzunehmen, und in seine Aufgaben eingewiesen wird, kann ein weiterer Traum erfolgen, der dem Schamanen zeigt, wo und wie er seine Trommel herstellen soll.160 Wird diese spezielle Trommel später beschädigt oder gar zerstört, ist damit zu rechnen, dass der Schamane ebenfalls erkranken oder sterben wird.161 In vielen Punkten der Rolle des Schamanen sehr ähnlich, doch nicht mit ihm in eins zu setzen, ist die des Wanderbarden, in der Türkei aûık („Liebender“) genannt. Es ist wahrscheinlich, dass Rolle und Habitus des aûık sich aus schamanistischen Vorgaben entwickelt haben. Auch hier finden sich der Berufungstraum und die übernatürliche Inspiration. Wie der Wechsel des Instruments – von der Trommel zum Saiteninstrument – mit dieser engen Verwandtschaft beider Rollen in Einklang zu bringen sei, ist allerdings bisher noch nicht dargelegt worden. Im Berufungstraum kommunizieren die künftigen Barden mit islamischen Heiligen, von denen sie Rat und Unterstützung, Essen und Trinken erhalten. Möglicherweise ist diese Berufung auf islamische Heilige der Versuch der Rechtfertigung gegenüber den Theologen, die das Musizieren verdammten.162 Die türkische Bezeichnung aûık, Liebender, für den Wanderbarden, deutet auf dessen Verbindung zum Sufismus hin: Der islamische Mystiker, der Sufi, ist der Liebende, der nach dem Geliebten bzw. der unio mystica mit diesem sucht. So besteht auch das
_____________ 158 Klaus E. Müller: Schamanismus. Heiler, Geister, Rituale. München: Beck 1997, 78. 159 Georg Klein: „Musik und Religion. Überlegungen zu Kult und Melancholie in der menschlichen Zivilisation.“ In: Ta katoptrizomena [Elektronische Ressource]. Magazin für Theologie und Ästhetik 10. Abs. 65. 160 Müller: Schamanismus (Anm. 34), 77. 161 Eine größere Auswahl von Abbildungen von männlichen und weiblichen Schamanen mit Trommel sowie tanzenden Derwischen und Sufis findet sich bei Metin And: Oyun ve Bügü. Türk Kültüründe Oyun Kavramı. Istanbul: Yapı Kredi Yayınları 2002, 476ff. 162 Yıldıray Erdener: The Song contest of Turkish Minstrels. Improvised Poetry Sung to Traditional Music. New York/London: Garland 1995, 52.
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Repertoire des aûık aus einem mehr oder weniger großen Anteil religiös inspirierter, volksmystischer Texte. Mit der ‚Türkisierung‘ Anatoliens ab dem elften Jahrhundert gelangten auch Bestandteile des Schamanismus und des inspirierten Bardentums dorthin. Ein größerer Teil der aûık heute ist alevitischer Herkunft oder alevitisch inspiriert.163 Der ‚Instrumententraum‘ scheint, wenigstens in neuerer Zeit, vom Musiker selbst auf den Instrumentenbauer übergegangen zu sein. Nach Aussagen eines Interviewpartners, einem Lautenbauer in Istanbul, hatte drei Generationen zuvor ein Verwandter im Traum erlernt, eine Saz zu bauen. Seitdem vererbt sich der Beruf in seiner Familie.164 Ab dem zwölften Jahrhundert lebten in Kleinasien (und anderen Regionen der islamischen Welt) ‚deviant dervishes‘, d.h. Gottessucher, die einzeln oder in Gruppen umherzogen, die jeden materiellen Besitz und jede gesellschaftliche Regel ablehnten. Zu ihren wenigen Habseligkeiten gehörten Instrumente wie Schellentamburin, Flöte oder einfache Lauten. Auf diesen machten sie (spirituelle) Musik, wann und wo immer ihnen der Sinn danach stand.165 Der Einsatz von Musik im Islam war und ist jedoch nicht auf volksreligiöse Schichten beschränkt: Die mystischen Übungen der (schriftgelehrten) Orden, das Gottesgedenken (zikr) sowie das „Hören“ (sama’ ), können schweigend, unter Einsatz der Stimme und des Körpers oder auch durch Musikinstrumente unterstützt erfolgen.166 In allen Fällen bereitet das Musikinstrument das Milieu, in dem die Performanz stattfinden kann, an der es selbst wieder Teil hat. Ein Ziel dieser Performanz ist es, mittels des Musikinstruments die Kommunikation zwischen einem Wesen, das außerhalb des menschlichen Kommunikationsbereichs lebt, und dem Spieler bzw. der Gemeinde herzustellen. Aus all diesen Quellen speist sich der Einsatz von Musik und Bewegung im alevitischen Gottesdienst, wobei die Frage, wie und warum genau die Saz zum maßgeblichen Instrument des alevitischen Rituals wurde, und nicht etwa die Rohrflöte wie bei den ‚Tanzenden Derwischen‘ in Konya, noch offen ist.167 Der Lautenspieler des alevitischen Gottesdienstes wird zakir, Erinnerer oder Rezitator, genannt. In manchen Regionen Anatoliens sind es bestimmte Familien, die dieses Amt weiter vererben, so wie das des Gemeindeführers, oder aber der Ge-
_____________ 163 Siehe Ursula Reinhard: „Konstanz und Wandel im Baølama-Spiel.“ In: Studia instrumentorum musicae popularis 8 (1985), 86-93. 164 Interview durchgeführt durch die Autorin im Sommer 2003. 165 Ahmet T. Karamustafa: God’s Unruly Friends. Dervish Groups in the Islamic Later Middle Period. Salt Lake City: University of Utah Press 1994, 20. 166 Zur Musik der Orden im Osmanischen Reich siehe Walter Feldmann: „Musical Genres and Zikir of the Sunni Tarikats of Istanbul.“ In: Raymond Lifchez (Hrsg.): The Dervish Lodge. Architecture, Art, and Sufism in Ottoman Turkey. Berkeley: University of California Press 1992, 187-202. 167 Auch in der Gegenwart sind an einigen wenigen Orten Anatoliens noch andere Instrumente in Gebrauch. Der Trend zur Einheitlichkeit im ‚neuen‘ Alevitentum fördert allerdings die Akzeptanz der Saz als dem einzigen Instrument und dem stärksten alevitischen Symbol.
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meindeführer selbst beherrscht das Spiel und den Vortrag. Zu Beginn des Rituals stellt der zakir sich mit seinem Instrument, das er mit dem rechten Oberarm an den Körper presst, in demütigem Gestus vor dem Gemeindeführer auf, der das Instrument durch ein Gebet segnet.168 Der Gottesdienst, der mehrere Stunden dauert, beinhaltet neben der Belehrung und Ermahnung der Gemeinde die Aussöhnung von zerstrittenen Parteien (der Dorfgemeinschaft), die Vergegenwärtigung der religiösen Abstammung, den mystischen Tanz, dessen Bewegungen sowohl auf heilige Tiere wie auf den Kosmos verweisen, und ein abschließendes gemeinsames Essen. Während aller Stationen des Rituals sorgt der zakir durch seinen Vortrag für die entsprechende emotionale Situation (mood congruency)169, er gestaltet durch Rhythmik und Melodie Zeit und Raum, er erneuert das kollektive Gedächtnis durch die Verbalisierung der Erinnerungsmotive. Aber um all das tun zu können, ist er seinerseits angewiesen auf die Existenz seines Instruments und auf die aktiv teilnehmende Gemeinde, denn für den Lautenspieler im religiösen Ritual gilt dasselbe wie für den Barden im musikalischen Wettstreit: In the course of his performance, the bagshy [der Barde] does not simply re-tell the dessan, but he also re-creates it: his art is not only a measure of his talent and commitment, but also mirrors his view of reality and the world of fantasy. Under such circumstances the contact of the singer with his audience is simply indispensable: he relies on listeners who understand and appreciate his art. […] This [die Ausrufe des Publikums] helps the singer to re-create the narrative with a maximum of inspiration and devotion.170
Die Bedeutung von Musik für den „Recall“ mündlicher Texte171 und damit für das Überleben oraler Traditionen insgesamt ist empirisch belegt; Voraussetzung für den musikgestützten Vortrag scheinen jedoch die Performanz-Situation und der Einsatz eines Musikinstrumentes zu sein, ohne dessen Verwendung der Text oft nicht erinnert werden kann.172 Die alevitische Laute als visuelle und klangerzeugende ‚narrative Abreviatur‘ vereint die Gemeinde im wiederholten Ritual, das seinerseits seine „konsensuelle Kraft aus der Wiederholung des Vollzugs“, also aus seinem performativen Aspekt, gewinnt.
_____________ 168 Rıza Zelyut: Öz kaynaklarına göre Alevilik. 6. Aufl. Istanbul: Yön Yayıncılık 1992, 168. 169 „Stimmungskongruenz“ geht im Wesentlichen auf die emotionspsychologischen Forschungen zum Verhältnis von Emotionen und Lernen bzw. Erinnern zurück (vgl. Gordon H. Bower: „Mood and Memory.“ In: American Psychologist 36,2 [1981], 129-148) 170 Dzhamilya Kurbanova: „The Singing Traditions of Turkmen Epic Poetry.“ In: Karl Reichl (Hrsg.): The Oral Epic: Performance and Music (= Intercultural Music Studies. 12). Berlin: Verlag für Wissenschaft und Bildung 2000, 115-128, 121. 171 David C. Rubin: Memory in Oral Traditions. The Cognitive Psychology of Epic Ballads, and Counting-Out Rhymes. New York/Oxford: Oxford UP 1995, 289. 172 Hiromi Lorraine Sakata: „The Musical Curtain. Music as a Structural Marker in Epic Performance.“ In: Reichl: Oral Epic (Anm. 46), 159-169, 159.
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III. Laute, Medium, Gedächtnis? Nach dieser Darstellung soll nun noch einmal Faulstichs Mediendefinition in Erinnerung gerufen werden: Medien werden im folgenden verstanden als komplexe institutionalisierte Systeme um organisierte Kommunikationskanäle von spezifischem Leistungsvermögen. Es geht dabei primär um zentrale oder dominante Vermittlungsmechanismen kultureller und sozialer Interaktionsprozesse.173
Die einzelnen Elemente der Definition lassen sich in diesem Kontext wie folgt konkretisieren: Der kulturelle und soziale Interaktionsprozess ist der alevitische Gottesdienst, die Performanz, in deren Verlauf sowohl über soziale Devianz geurteilt und die Gemeinschaft erneuert wird als auch der religiöse Ursprungsmythos und die kulturelle Identität visuell (Laute, gegebenenfalls Heiligenbilder), akustisch (Musik und Text) und performativ (sakralisierte Handlungen) in Erinnerung gebracht werden. Die beim abschließenden Essen gemeinsam hergestellten und verspeisten Teigbällchen (lokma) versinnbildlichen nicht nur das Ende des Rituals, sondern auch die Unaufhörlichkeit der Gemeinschaft, der intraalevitischen Solidarität. Die Anwesenheit des Gemeindeführers (dede), der in der Regel für mehrere, oft weit auseinander liegende Dörfer zuständig ist, und deshalb oft auf Reisen sein muss, unterscheidet den ayni cem ebenfalls von anderen Dorfversammlungen. Das ‚spezifische Leistungsvermögen‘ des Instrumentes beruht auf seinen verschiedenen bereits aufgezählten visuellen und akustischen, deiktischen Aspekten Das ‚komplexe, institutionalisierte System‘ ist in diesem Fall das System der heiligen Familien (ocak), das sich mittels der kulturellen Zuschreibungen in der Saz als Medium verdichtet: Der Gemeindeführer entstammt einer der heiligen Familien, die ihrerseits in einem vorgegebenen Verhältnis zu bestimmten Großfamilien stehen, für deren religiöses und soziales Heil sie nicht nur zuständig, sondern auch verantwortlich sind.174 Da die heiligen Familien ihre Abstammung auf die Familie des Propheten Muhammad zurückführen, oder wenigstens auf die Nachfahren des heiligen (halblegendären) Hacı Bektaû Veli (13. Jahrhundert), steht die Anwesenheit des dede in der Versammlung für die Kontinuität der alevitischen Geschichte und für den Fortbestand der alevitischen Gemeinschaft. Wenn der dede das Dorf wieder verlassen hat, dann bleibt doch die Laute – die, auf der er gespielt hat oder die eines anderen – zurück, die den selben Ursprungsmythos visualisiert und für alle, die im Gottesdienst anwesend waren, die Lehre und die Ermahnungen, aber auch die Emotionen des Rituals ‚speichert‘.
_____________ 173 Faulstich: Das Medium als Kult (Anm. 8), 10. 174 S. Martin Sökefeld: „Alevi Dedes in the German Diaspora. The Transformation of a Religious Institution.“ In: Zeitschrift für Ethnologie 127 (2002), 163-186; Ali Yaman: Alevilikte Dedeler Ocaklar. Istanbul: Ufuk Matbaacılık 1998.
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Der Aspekt der ‚Speicherung‘ führt zu der Ausgangsfrage nach der alevitischen Laute als ‚Gedächtnismedium‘. Gedächtnis ist hier nicht zu verstehen als etwas unverrückbar Existierendes, als ein ausdefiniertes Potential, das bei Aktivierung eine erwartbare Gestalt annehmen wird, sondern als Strukturen – kognitive beim Individuum, kulturelle beim Kollektiv – , die durch einen Erinnerungsanlass teilweise aktiviert werden können, oder auch nachträglich erfunden bzw. ‚gefälscht‘ werden. Erinnern ist dann „aktuelle Sinnproduktion im Zusammenhang jetzt wahrgenommener oder empfundener Handlungsnotwendigkeiten“175. Die alevitische Langhalslaute ist ein Gedächtnismedium in dem Sinne, dass sie bestimmte Strukturen anbietet, mittels derer Erinnerung konstruiert werden kann: Der Anthropomorphismus erleichtert die Anknüpfung der alevitischen Meistererzählungen an das Instrument, die Erzeugung von Emotion und Milieu die Erinnerung. Als ein Instrument, das über mehrere tiefgehende kulturelle Wurzeln verfügt, ist es geeignet, als Teil des kulturellen Gedächtnisses und Teil der eigenen kulturellen Identität akzeptiert zu werden. Medium der Erinnerung ist die Laute, wenn sie im beschriebenen institutionalisierten Rahmen durch den Erinnerer, den zakir, mit Erinnerungsabsicht, als Verweis auf die Kontinuität der alevitischen Geschichte und Lehre eingesetzt wird. Sie funktioniert immer dann als Medium der Erinnerung, wenn auf individueller Ebene die Rezipienten bereit sind, die Erinnerungsangebote aufzugreifen, und auf kollektiver Ebene die Divergenz der individuellen Aktualisierung176 die Leistungsfähigkeit des dazugehörigen vollzogenen Rituals, die Gemeinschaft (wieder) zu einen, nicht überfordert. Die Leistungsfähigkeit als Gedächtnismedium wird nicht dadurch eingeschränkt, dass das Instrument weder mit gegenständlichen Abbildungen noch mit Schrift verziert ist. Da die Entschlüsselung der Bedeutung stets kulturell erlernt werden muss und gleichzeitig eine individuelle Rezeption darstellt – und das gilt sowohl für die Rezeption eines archaischen Gedenksteines als auch für die eines schriftlichen Textes – sagt dieser ‚Mangel‘ nichts über die Leistungsfähigkeit aus. Wesentlicher ist die Frage nach der Fähigkeit, gerade in einer oralen Gesellschaft Wiederholung und Aufführung von Gedächtnisinhalten gewährleisten zu können.177 Das Funktionieren der Saz als Gedächtnismedium wird unterstützt durch die oben erwähnte, eher deiktische Form des Erinnerns sowohl in den alevitischen
_____________ 175 Siegfried J. Schmidt: „Gedächtnisforschungen: Positionen, Probleme, Perspektiven.“ In: Ders. (Hrsg.): Gedächtnis. Probleme und Perspektiven der interdisziplinären Gedächtnisforschung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, 9-55, 37. 176 „In the last analysis, whatever the understanding of the participants in a seance, interpretation of the meaning of symbols is ultimately an individual matter.“ (Michael Underdown: „Symbolism in Tungus Shamanisms. “ In: Klaus Sagaster & Helmut Eimer [Hrsg.]: Religious and Lay Symbolism in the Altaic World and Other Papers. Proceedings of the 27th Meeting of the Permanent International Altaistic Conference, Walberberg, June 12th to 17th, 1984. Wiesbaden: Otto Harrassowitz 1989, 421-427, 427) 177 Hartmut Winkler: Medien, Speicher, Gedächtnis. http://www.uni-paderborn.de/~winkler/ gedacht.html (Stand 27.10.03), Abs. 5ff.
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Texten als auch im Memorialbild: Es wird angenommen, dass der Rezipient über das erinnerungskulturell relevante Wissen verfügt und nur noch darauf hingewiesen werden muss. „In Wirklichkeit mögen dann in seinem Bewusstsein Erinnerungen aufsteigen, die sich himmelweit von denen unterscheiden, auf die wir verweisen wollten.“178 Das heißt, deiktisches Erinnern funktioniert durch die ihm innewohnende „Fiktion der interindividuellen Gemeinsamkeit von Erinnerung“179. Diese „lebenslange Konsensfiktion“180 muss aber nicht nur, wie Hahn es beschreibt, negative Auswirkungen haben. Die Akzeptanz dieser Fiktion der kollektiven Erinnerung ist durchaus notwendig, um eine Gemeinschaft davor zu bewahren, sich durch lebenslange ‚Wahrheitsdiskussionen‘ selbst aufzureiben. *** Für die Religionsgemeinschaft der Aleviten stellt die Langhalslaute ein Gedächtnismedium und ein Erinnerungsmedium dar, weil sie nach ihrer Auffassung die alevitische Geschichte verkörpert und die Kommunikation zwischen Gott und den einzelnen Gemeindemitgliedern ermöglicht. Durch die materielle Anwesenheit des Lautenkörpers und durch die Musik, die eine personalisiert gedachte Laute selbst erzeugt, wird die Performanz ayni cem ermöglicht, die für das Fortbestehen der Gemeinde konstitutiv ist. Durch die Herleitbarkeit aus bestimmten kulturellen Strängen ist die Saz als Gedächtnismedium für die alevitische Gemeinschaft akzeptabel, durch die nachdrückliche Verwendung des Instrumentes seitens der Gemeindeführer wird diese Akzeptanz verstärkt und perpetuiert. Die Kulturspezifität des Mediums Saz ist besonders ausgeprägt, doch dies führt weder zum ausschließlichen Gebrauch in hermetischen Räumen noch zur Erstarrung von Handlung und Text. Als Gedächtnismedium, das als Verkörperung der Identität und Konstitutiv der Aufführungspraxis einer strukturell oralen Kultur funktioniert, weist die Saz eine Flexibilität der Ausdrucksform auf, die dazu führt, dass sie auch bei großer Medienkonkurrenz das alevitische Schlüsselmedium bleiben kann.
_____________ 178 Hahn, „Inszenierung der Erinnerung“ (Anm. 31), ebd. 179 Ebd. 180 Ebd.
IV. Literaturwissenschaftliche Medien- und Gedächtniskonzepte
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„Mochte doch keiner was davon hören“ Günter Grass’ Im Krebsgang und das Feuilleton im Kontext aktueller Erinnerungsverhandlungen I. Literarische und journalistische Texte als ‚Medien des Gedächtnisses‘ – einige Anmerkungen Der Zugang zur nationalsozialistischen Vergangenheit ist umstritten. Kontrovers wurde schon immer um Deutungsvarianten bzw. Deutungshoheiten gekämpft. Das zeigten spätestens bundesrepublikanische Debatten der 1980er Jahre, wie der Historikerstreit und die dort aufgeworfene Frage nach der Vergleichbarkeit nationalsozialistischer Vernichtungspolitik. Diese Auseinandersetzung vollzog sich noch unter den Bedingungen einer Fachdiskussion unter Historikern, war jedoch ohne ihren Austragungsort in den Massenmedien nicht zu denken. Seitdem ist die Frage nach der Vergleichbarkeit des Holocaust und die Relativierung historischer Schuld in den Erinnerungsdiskurs eingeführt. Die Deutungsstrategien haben sich allerdings gewandelt. War in der ‚alten‘ Bundesrepublik noch die intensive Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der Frage nach historischer Schuld zentral, so ist die ‚Schuldfrage‘ seit den 1990er Jahren in das Selbstverständnis der ‚Berliner Republik‘ integriert: Aus den Erfahrungen nationalsozialistischer Vernichtungspolitik wird eine politische Verantwortung für außenpolitische Interventionen, beispielsweise im Kosovo-Konflikt, hergeleitet. Der Holocaust wird somit zu einem identitätsbildenden Narrativ1 für ein nationales Selbstverständnis. Diese integrierende Deutungsstrategie, die den Holocaust nicht länger als „Gegenereignis in der Geschichte“2 versteht, resultiert unter anderem aus einer
_____________ 1 Gemeint ist hiermit, dass der Holocaust selbst narrativ tradiert wird, zugleich aber auch eine Vorlage ist, die Erzählungen hervorbringt. Zur Bedeutung der Narration für die Bildung und Tradierung von Erinnerungen vgl. einführend Jürgen Straub & Wolfgang Ernst: „Narration.“ In: Nicolas Pethes & Jens Ruchatz (Hrsg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon. Reinbek: Rowohlt 2001, 399-405. Zur narrativen Tradierung der NS-Zeit vgl. Harald Welzer: Opa war kein Nazi: Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt a.M: Fischer 2002. 2 Jörn Rüsen: „Holocaust, Erinnerung, Identität. Drei Formen generationeller Praktiken des Erinnerns.“ In: Harald Welzer (Hrsg.): Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung. Hamburg: Hamburger Edition 2001, 243-259, 251. Rüsen beschreibt in seinem Aufsatz unter anderem den
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zunehmenden zeitlichen Distanz. Sie scheint jedoch nicht allein eine identitätsstärkende Lesart zu ermöglichen, sondern bewirkt auch eine bislang nicht gekannte Betonung der Nähe zu den damaligen TäterInnen und MitläuferInnen.3 Diese Hervorhebung setzt bezeichnenderweise zu einem Zeitpunkt ein, da viele derjenigen, die den Nationalsozialismus unterstützten, sterben beziehungsweise gestorben sind. Es ist daher zu vermuten, dass gerade ihr Tod eine Grenzziehung bildet, die die derzeit betonte Zugehörigkeit erst ermöglicht. Der Holocaust als ein Narrativ zur Stärkung kollektiver wie nationaler Identität, der Wandel von einer Abgrenzung gegenüber den am Nationalsozialismus Beteiligten zu einem „wir“ (das den Beobachter mit einschließt), verbunden mit einer Universalisierung der Schuldfrage – dies scheinen meines Erachtens drei wesentliche Aspekte zu sein, im Hinblick auf die Veränderung gesellschaftlicher Erinnerungsmodi seit Ende der 1980er Jahre. *** Bei der Generierung kollektiver Vergangenheitsdeutungen und Gedenkpraktiken sind Medien maßgeblich beteiligt. Sybille Krämer hat darauf verwiesen, dass Weltwahrnehmung immer nur unter Rückgriff auf Medien möglich sei. Dabei dienten diese nicht allein der Übermittlung von Botschaften, vielmehr seien sie am Gehalt der Botschaften selbst beteiligt.4 Inhalte sind demnach immer medienspezifisch geprägt. Im Bezug auf Gedächtnismedien bedeutet dies, dass der Zugang zur Vergangenheit immer medial vermittelt und gleichzeitig medial geprägt ist. Medien erschöpfen sich nie in ihrer Speicher- oder Mittlerfunktion, auch wenn zunächst mit dieser Absicht auf sie Bezug genommen wird. So fangen zwar dokumentarische Filme und Fotografien ein bestimmtes Ereignis ein, doch kann die Darstellungsweise bereits von vorgängigen Repräsentationsweisen geprägt sein, so dass zum Beispiel der Fotografie einerseits die Vorstellung einer ‚authentischen‘ Ab-
Wandel der Deutungsstrategien: von einer „moralisch-distanzierenden Vergegenwärtigung“ der zweiten Generation zum „genealogischen Zusammenhang mit den Tätern“ der dritten Generation. 3 Symptomatisch für diese entdeckte Nähe ist die enorme gesellschaftliche Breitenwirkung, die von Bernhard Schlinks Roman Der Vorleser (1995) ausgeht. Der Roman wurde schnell zur Schulbuchlektüre. Nicht die monströse Darstellung einer KZ-Aufseherin, sondern die Nähe zur Täterin steht hier im Mittelpunkt, was als ein grundsätzliches Dilemma der zweiten Generation rezipiert wurde. 4 Vgl. Sybille Krämer: „Das Medium als Spur und als Apparat.“ In: Dies. (Hrsg.): Medien – Computer – Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, 73-94, 73. Krämer erläutert diese mediale Prägung anhand des Verhältnisses von Medium und Stimme, wobei sie letztere als Medium definiert. Die Stimme mache Aussagen, aber sie kommentiere auch das Gesagte. Entsprechend folgert sie in Anlehnung an McLuhan: „Das Medium ist nicht einfach nur die Botschaft, vielmehr bewahrt sich an der Botschaft die Spur des Mediums.“ Ebd., 81.
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bildung, anderseits der (unbewusst) gelenkte Blick inhärent ist.5 Zudem strukturieren die einzelnen Medien Weltwahrnehmung – die Fotografie vermittelt beispielweise nur optische Repräsentationen, während akustische ignoriert werden.6 Auf diese Filtereigenschaft von Medien hat Seel hingewiesen: „Medien stellen eine offene Reihe von Unterschieden oder Abstufungen einer bestimmten Art bereit […], innerhalb derer etwas als etwas Bestimmtes aufgefaßt werden kann“.7 Diese Filtrierung bedeutet jedoch nicht nur Beschränkung, sie ist zugleich die einzige Möglichkeit, dem intentionalen Bewusstsein Wirklichkeit zu erschließen.8 Dabei bedeute die Zugänglichkeit von Realität zweierlei: Sie könne eine Zugänglichkeit von Umständen bedeuten, die durch die Formen eines Mediums allererst hervorgebracht würden, oder aber eine Aufdeckung von Umständen, die auch unabhängig von ihrer Zugänglichkeit bestünden.9 Wichtig für das hier zu behandelnde Verhältnis von Gedächtnismedium und Vergangenheitsdarstellung ist meines Erachtens, dass zwischen medial produzierten Vergangenheitsentwürfen und Vergangenheit als Gegebenem, über mediale Filterprozesse Zugänglichem, unterschieden werden sollte und auch unterschieden werden kann.10 Vergangenheit ist demnach nicht nur ein Produkt präsentischer Erinnerungskonstruktionen, da sich historische Geschehnisse zunächst unabhängig von gegenwärtigen Standpunkten ereignen. Umgekehrt ist jedoch eine Verarbeitung und Kommunikation über gegenwärtige wie vergangene Ereignisse nur medial erfahrbar. Gedächtnismedien sind demnach unserer Wahrnehmung der Vergangenheit vorgelagert; dabei können verschiedene Äußerungsformen und Techniken diese mediale Funktion übernehmen, so z. B. Romane, Bauten, Denkmäler und Zeitzeugenberichte. Es kommt nicht darauf an ‚tatsächlich‘ Geschehenes zu vermitteln, sondern mit Bezugnahme auf ein Vergangenes
_____________ 5 So können Fluchtdarstellungen bereits auf ikonographische Darstellungen, beispielsweise Mariendarstellungen zurückgreifen. Vgl. Kirsten Prinz: „‚Von Erinnerung beklebt‘. Fluchtdarstellung und Mythos am Beispiel journalistischer Texte und Günter Grass’ Im Krebsgang.“ In: Annette Simonis & Linda Simonis (Hrsg.): Mythen in Kunst und Literatur. Tradition und kulturelle Repräsentation. Köln et al.: Böhlau (im Druck). Zur genderspezifischen Dimension von Repräsentationen vgl. Insa Eschebach et al. (Hrsg.).: Gedächtnis und Geschlecht. Deutungsmuster in Darstellungen des nationalsozialistischen Genozids. Frankfurt a.M./New York: Campus 2002. 6 Dieses mag selbstverständlich klingen, hat aber sehr weitreichende Konsequenzen für die mediale Repräsentation von Vergangenheit. Dieses zeigt beispielsweise Marcel Beyers Roman Flughunde (1995), der den Nationalsozialismus in seiner akustischen Dimension darstellt und damit etablierte Darstellungsverfahren unterwandert. 7 Martin Seel: „Medien der Realität und Realität der Medien.“ In: Krämer: Medien – Computer – Realität (Anm.4), 244-268, 244. 8 Vgl. ebd., 250. 9 Vgl. ebd., 253. 10 Hier unterscheide ich mich in Nuancen von Siegfried J. Schmidts Medienkonzept, der den medialen Konstruktcharakter von Wirklichkeit stärker betont. Vgl. hierzu ders.: Kalte Faszination. Medien, Kultur, Wissenschaft in der Mediengesellschaft. Göttingen: Velbrück Wissenschaft 2000, 80-85.
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über medienspezifische Deutungsvorgaben Narrationen zu generieren oder für bereits vorhandene Narrationen anschlussfähig zu sein. Im Folgenden werde ich exemplarisch auf die im Februar 2002 erschienene Novelle Im Krebsgang von Günter Grass und deren Rezeption in Zeitungen und Zeitschriften eingehen. Es wird zu untersuchen sein, inwiefern sich literarische und journalistische Texte als Gedächtnismedien aufeinander beziehen und so an der Generierung kollektiver Erinnerungen in Bezug auf den Nationalsozialismus und das Thema ‚Flucht der Deutschen‘ beteiligt sind. Literarische und journalistische Texte werden mit Bezugnahme auf Siegfried J. Schmidts „integrative[s] Medienkonzept“ als „Medienangebote“ aufgefasst, deren „Produktion, Distribution, Rezeption und Verarbeitung“11 unter anderem durch spezifische Kommunikationsmittel (z.B. Sprache), Medientechnologien und soziale Institutionen geprägt ist. Exemplarisch untersucht wird also das Verhältnis von literarischer Fiktion und non-fiktionalen journalistischen Texten, die sich als unterschiedliche Medienangebote aufeinander beziehen und somit zur Konstituierung des gegenwärtigen Erinnerungsdiskurses beitragen. Bevor dieses Wechselverhältnis genauer untersucht wird, werde ich zunächst auf die Grass-Novelle eingehen. Dieser Schritt verfolgt das Ziel, die bereits im Textmodell angelegten Reflexionen über das Verhältnis von Erinnerung und Medialität herauszukristallisieren, um auf diese Weise Aufschluss über die Anlage der Novelle Im Krebsgang als ein ‚Medium des Gedächtnisses‘ zu erlangen.
II. Medialität und Erinnerung in Günter Grass’ Im Krebsgang Bezeichnend für die derzeit erscheinende Literatur, die den Nationalsozialismus thematisiert, ist eine Auseinandersetzung mit bisherigen Erinnerungsstrategien.12 Die im Februar 2002 erschienene Novelle Im Krebsgang von Günter Grass und deren Aufnahme durch die Medien ist ein markantes Beispiel für die aktuelle literarische Vergangenheitsverarbeitung. Der Text thematisiert die Flucht der deutschen Bevölkerung aus Ostpreußen. Im Zentrum der Ereignisse steht der Untergang des ehemaligen „Kraft durch Freude“-Dampfers „Wilhelm Gustloff“, der nun Flüchtlinge und Soldaten transportiert, und am 30 Januar 1945, getroffen von einem sowjetischen U-Boot, mit mehr als 9000 Menschen an Bord untergeht. Im Hinblick auf die Erzähltechnik gliedert sich der Text in drei Ebenen. Die erste Ebene behandelt die historischen Ereignisse. Hier wird Wilhelm Gustloffs Parteikarriere in der NSDAP bis zu seiner Ermordung durch den jüdischen Attentäter David Frankfurter geschildert. Gustloff wird zum ‚Blutzeugen‘ stilisiert, ihm zu
_____________ 11 Ebd., 95. Zum integrativen Medienkonzept Schmidts vgl. die Einführung in diesem Band. 12 So ist beispielsweise Bernhard Schlinks Roman Der Vorleser auch eine Kritik an Abgrenzungsmechanismen der 68er-Generation gegenüber der eigenen deutschen Vergangenheit inhärent.
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Ehren eine Gedenkstätte in seiner Geburtsstadt Schwerin errichtet. Außerdem wird ein „Kraft durch Freude“-Dampfer nach ihm benannt, der später sowohl als Kriegs- als auch als Flüchtlingsschiff eingesetzt wird. Diese Ereignisse werden mittels der Trias Wilhelm Gustloff, David Frankfurter und Alexander Marinesko, Kapitän des sowjetischen U-Boots, in Szene gesetzt.13 Auf der zweiten Ebene rückt die Erinnerung an den Untergang der Gustloff ins Blickfeld. Hier ist es die Figurentrias Tulla Pokriefke, Konrad Pokriefke und David/Wolfgang Stremplin, deren Erinnerungsstrategie auf einem bestimmten Medienverständnis basiert. Eine zentrale Figur der Novelle ist Tulla Pokriefke. In ihrem baltischen Dialekt appelliert Tulla an ihren Sohn Paul Pokriefke, doch endlich ihre Erlebnisse vom Untergang der Gustloff niederzuschreiben: Wie aisig die See jewesen is und wie de Kinderchen alle koppunter. Das mußte aufschraiben. Biste ons schuldig als glickich Ieberlebender. Wird ech dir aines Tages erzählen, klitzklain, ond denn schreibste auf…14
Tullas Wunsch drückt die in einer langen Tradition stehende Vorstellung einer Speicherung und Abrufbarkeit von Vergangenem mittels Text aus. Zudem impliziert das Verlangen nach einer Verschriftlichung auch das nach einer Leserschaft. Doch der Journalist Paul Pokriefke, der in der Nacht des Untergangs geboren wurde, weigert sich geflissentlich, über dieses unmittelbar mit seiner Biografie verbundene Ereignis zu berichten: „Mochte doch keiner was davon hören, hier im Westen nicht und im Osten schon gar nicht.“15 Stattdessen wird Paul Pokriefkes Sohn Konrad zu Tullas Verbündetem im Kampf um die Etablierung von Vergangenheitsdeutungen. Dieser verbreitet auf seiner Website „www.blutzeuge.de“ seine rechtsradikale Version über Wilhelm Gustloff und dem nach ihm benannten Schiff. Dieses Bündnis zwischen Tulla und ihrem Enkel Conny verweist jedoch nicht nur auf die generationenübergreifende Weitergabe des „Gustloff“-Untergangs, sondern auch auf einen grundlegenden medialen Wandel bei der Darstellung des Vergangenen. Während Tulla den traditionellen Wunsch nach einer Bewahrung der Erinnerung im Medium der Schrift ausdrückt, nutzt Conny die spezifischen Darstellungsmöglichkeiten des Internet. So berichtet Paul Pokriefke nach seinem Besuch einer Gustloff-Website der „Kameradschaft Schwerin“, hinter der sich niemand anderes als sein Sohn Konrad verbirgt:
_____________ 13 Aleida Assmann bemerkt, dass bereits diese Ebene „im Stil eines historischen Kolportage-Romans gehalten“ ist. Aleida Assmann: „Persönliche Erinnerung und kollektives Gedächtnis in Deutschland nach 1945.“ In: Hans Erler (Hrsg.): Erinnern und Verstehen. Der Völkermord an den Juden im politischen Gedächtnis der Deutschen. Frankfurt a.M./New York: Campus 2003, 126-138, 132. Damit werden bereits auf dieser Ereignisebene medienspezifische Darstellungsweisen erkennbar. 14 Günter Grass: Im Krebsgang. Eine Novelle. Göttingen: Steidl 2002, 31. 15 Ebd., 31.
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Machte erste Notizen. Staunte. War verblüfft. Wollte wissen, wieso diese Provinzgröße […] imstande war, neuerdings Surfer anzulocken. Dabei geschickt aufgemacht die Homepage. Montierte Fotos Schweriner Lokalitäten. Dazwischen nette Fragesätze: „Wollt Ihr mehr über unseren Blutzeugen wissen? Sollen wir Euch seine Story Stück für Stück liefern?“16
Durch das Internet, unter dessen medialen Bedingungen eine gleichzeitige Bezugnahme auf fotografische Abbildungen, bewegte Bildsequenzen und Texte erfolgt, werden ehemals medial vorgegebene Grenzen der Darstellungsmöglichkeiten überwunden. Auf diese Weise können früher separierte Repräsentationsweisen parallelisiert und synthetisiert werden. Die hierdurch erzeugte Suggestionskraft nivelliert die Kluft zwischen Gegenwärtigem und Geschehenem. Diese inszenierte Durchbrechung von Zeit und Raum erfährt Paul Pokriefke, als er unter „www.blutzeuge.de“ bei den Trauerfeierlichkeiten für die Gustloff quasi zugegen sein kann: Auf der Website wurde im Wortlaut der eingespeisten Berichte nicht einfach nur auf die damals herkömmliche und den italienischen Faschisten abgeguckte Weise mit erhobener rechter Hand gegrüßt, vielmehr fand man sich auf Bahnsteigen und bei allen Trauerkundgebungen zum ‚Entbieten‘ des letzten Grußes ein; deshalb wurde […] ihm auch aus der neuesten, Cyberspace genannten Dimension der deutsche Gruß „entboten“.17
Die Beschreibung des Trauerzuges zeigt, dass es sich hier gerade nicht um ein traditionelles Lektüreverfahren handelt, das auf der Trennung von ‚Text‘ und ‚Rezipienten‘ beruht. Vielmehr verweisen die Verben „einfinden“, „entbieten“, „grüßen“ auf eine Zeit- und Raummanipulation, die den ‚Hitlergruß‘ der „Kameradschaft Schwerin“ auf eine Zeitachse mit dem Trauerzug für Gustloff setzt und diesen nicht als medial konstruiertes Ereignis, sondern als eine aktive Handlung und als jederzeit abrufbares Geschehen inszeniert. Damit problematisiert die Novelle eine Erinnerungsstrategie, die durch die Aufhebung raum-zeitlicher Distanz sowie die Synthetisierung von vormals getrennten medialen Wahrnehmungsebenen eine Authentizität der dargestellten Ereignisse suggeriert und den Nutzer ‚live‘ zum historischen Geschehen schaltet. Im Text hat diese Authentisierungsstrategie Auswirkungen auf die Nutzer, denn hier provoziert das Internet die Annahme einer Identität, mittels derer Szenarien durchgespielt werden. Neben der „Gustloff“-Website sind es die Chats, die den Nutzer in das Geschehen einbinden. Hier entwickelt sich „ein streitbares Rollenspiel“18 zwischen Konrad Pokriefke, der als ‚Wilhelm‘ die Position Gustloffs einnimmt‚ und ‚David‘, der sich als David Frankfurter, dem Mörder
_____________ 16 Ebd., 32. 17 Ebd., 35. 18 Ebd., 47.
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Gustloffs, „in Szene setzt“19 Während zunächst noch einmal Hintergründe zum Attentat selbst mit verteilten Rollen ausgetauscht werden, folgen Unterhaltungen über Tischtennis, bei denen beide beteuern für „Fairplay“20 zu sein. Dieses „Fairplay“ schließt auch eine Wiederholung des Mordes mit umgekehrtem Ausgang ein: Wilhelms im Chatroom gestellte Frage „Würdest Du, wenn mich der Führer ins Leben zurückriefe, abermals auf mich schießen?“, beantwortete David umgehend: „Nein, nächstes Mal darfst du mich abknallen.“21
Dabei erfolgt dieser Schlagabtausch nach den medienspezifischen Vorgaben des Internet. Sybille Krämer hat darauf hingewiesen, dass die Kommunikation im Internet sowohl von der Situation des Gesprächs als auch von der Situation der Lektüre zu unterscheiden ist. Während das Gespräch die leibliche Präsenz der miteinander Redenden voraussetze, vollziehe sich Lektüre unter den Bedingungen von Abwesenheit.22 Doch während in unser Kultur nach wie vor Text und Autor miteinander verbunden seien, löse sich dieser Zusammenhang im Internet auf: „Strenggenommen gehen wir im computerisierten Netz nur noch mit Ideen und nicht mehr mit Personen um.“23 Die Kommunikation im Internet vollzieht sich zudem unter den Bedingungen der Anonymität: „Nicht Personen, sondern mit selbstgeschaffenen Namen gekennzeichnete ‚künstliche Identitäten‘ verkehren miteinander: Chiffrenexistenzen.“24 Die Außerkraftsetzung von Personalität und Autorschaft verändert die Kommunikationsbedingungen grundsätzlich und gibt ihnen den Charakter von Spielregeln, deren Nichteinhaltung symbolisch geahndet werden könnte.25 Der weitere Verlauf der Novelle geht jedoch über diese symbolische Handlungsebene des Spiels hinaus, indem die fingierten Rollen an die Leiblichkeit der Figuren rückgekoppelt werden. Denn die „im Grunde fiktive Freundfeindschaft“26 fordert ein Treffen zwischen dem ‚virtuellen David‘ und Konrad alias ‚Wilhelm‘ heraus, das in der Nähe des ehemaligen Geburtshauses von Gustloff in Schwerin stattfindet. Nach gemeinsamem Eisdielenbesuch und Stadtbummel kommt es bei der Gedenkstätte für Wilhelm Gustloff zur Ermordung ‚Davids‘, die stark ritualisierte Züge trägt. Nachdem ‚David‘ dreimal auf das verwitterte Fundament gespuckt hat, auf dem einstmals ein Gedenkstein für Gustloff stand, tötet ihn Konrad mit vier Schüssen. Erst in der nachfolgenden Gerichtsverhand-
_____________ 19 20 21 22 23 24 25 26
Ebd. Ebd., 49. Ebd. Vgl. Krämer: „Das Medium als Spur und Apparat“ (Anm. 4), 86f. Ebd., 87. Ebd., 88. Ebd. Grass: Im Krebsgang (Anm. 14), 172.
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lung stellt sich heraus, dass ‚David‘ keineswegs jüdischer Herkunft ist und mit gebürtigem Namen Wolfgang Stremplin heißt. Hier zeigt sich noch einmal die Wirkungsmächtigkeit des Internet.27 Dieses tritt als eine zusätzliche Dimension in Erscheinung, in der historische Deutung und politische Agitation mit vernichtender Konsequenz entfaltet werden können. Im Bezug auf Wirklichkeit ist das Internet ambivalent konzipiert: Zunächst eröffnet es einen Raum, in dem sich die medienspezifische Darstellung historischer Ereignisse wie performative Handlungen entfalten können. Indem diese Handlungen jedoch zur ‚realen‘ Auslöschung der Nutzer führen, wirken sie auf die (im Medium des Textes fingierte) Wirklichkeit zurück. Das Internet, so ließe sich aus dem Schreibverfahren der Novelle folgern, changiert damit zwischen Realität und medial kreierter Wirklichkeit. Anhand des Internet wurde beispielhaft vorgeführt, dass die Reflexion über das Verhältnis von Medium und Erinnerung in Im Krebsgang einen zentralen Stellenwert einnimmt. Dabei ist das Internet ein Medium unter vielen, die im Text vorkommen (z. B. Gedenkstätten, Gedenkveranstaltungen, Filme, schriftlichen Aufzeichnungen usw.). Die Figurentrias Tulla - Konrad – David/Wolfgang, so ließe sich demnach sagen, bewegt sich in einem Netz von Gedächtnismedien. Dabei problematisiert der Text auf der Figurenebene eine Erinnerungsstrategie, die den produktiven Anteil von Medien an der Darstellung von Ereignissen verschleiert und stattdessen eine Authentizität suggeriert, die auf die Figuren zurückschlägt. Erinnerung wird so zur Performanz, wobei Gedächtnismedien die Handlungsrahmen und Handlungsmuster vorgeben. Ein Gegengewicht zu diesem zerstörerischen Erinnerungspotential stellt die dritte Ebene dar, nämlich die des Ich-Erzählers und seines Auftraggebers, in der Novelle „der Alte“ genannt. Kennzeichen von Pauls Gegen-Strategie ist der ‚Krebsgang‘. Dieser verleiht der Novelle nicht nur ihren Titel, sondern beschreibt zugleich das ihr zugrunde liegende Erzählprinzip. Die Erzähltechnik des Krebsgangs nimmt von Linearität und Hierarchisierung Abstand und muss „der Zeit eher schrägläufig in die Quere kommen […], etwa nach Art der Krebse, die den Rückwärtsgang seitlich ausscherend vortäuschen, doch ziemlich schnell vorankommen.“28 Demnach ist mit dem Moment der Querläufigkeit auch das der Täuschung, der List verbunden. Die vermeintlichen Evidenzen historischer Dar-
_____________ 27 Unter der Wirkungsmächtigkeit des Internet wird hier nicht eine per se vorhandene Wirkung, sondern der destruktive Gebrauch von Seiten der Nutzer verstanden. Zur spezifischen Bedeutung des Internet als ein Medium des Gedächtnisses vgl. den Aufsatz von Angela M. Sumner in diesem Band. 28 Ebd., 8f.
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stellung werden durch ein Neuarrangement der Handlungsstränge und Zeitebenen unterhöhlt.29 Dieses Neuarrangement erstreckt sich darüber hinaus auch auf die zur Darstellung gebrachten medialen Ebenen, indem im Text Übergänge und Überschneidungen angelegt sind. So schwankt die Schilderung des „von Bildern belebte[n]“30 Trauerzuges für Gustloff zwischen einer Beschreibung der Website und einem Erzählerbericht, um schließlich in den Kommentar zu münden: „Ach wäre er [ Gustloff, KP] doch vor Verdun dabeigewesen und rechtzeitig in einem Granattrichter krepiert!“31 Die somit ausgelöste Irritation weist über den Text hinaus, in dem qua Schreibverfahren eine Lektüre eingefordert wird, die ein Bewusstsein für die medialen Ebenen der dargestellten Handlung entwickelt. Die listige Durchkreuzung etablierter Erzählmuster, die Durchbrechung von Zeitebenen und eindeutigen medialen Zuschreibungen kennzeichnen den ‚Krebsgang‘. Demnach wird die Einführung diverser Gedächtnismedien auf der bereits behandelten zweiten Erzählebene mit der von der dritten Ebene ausgehenden Erzählstrategie konfrontiert. Auf diese Weise werden im Medium des Textes die medialen Bedingungen von Vergangenheitsdarstellungen sowie daraus ableitbare Erinnerungsstrategien reflektiert, aber auch Gegenstrategien entworfen. Im Krebsgang selbst wird somit zu einem Gedächtnismedium, das auf seine eigene mediale Bedingtheit im Schreibverfahren Bezug nimmt. Die Novelle geht zudem über dieses selbstreflexive Moment hinaus, indem sie sich selbst in den aktuellen erinnerungspolitischen Debatten verortet. Dies gelingt ihr unter anderem über die Figur des ‚Alten‘, die zahlreiche außertextuelle Bezüge aufweist. So gibt Paul Pokriefke nach einem Arbeitstreffen die Äußerung des Alten wieder: Eigentlich müsse jeder Handlungsstrang, der mit der Stadt Danzig und deren Umgebung verknüpft oder locker verbunden sei, seine Sache sein. […] Gleich nach Erscheinen des Wälzers „Hundejahre“ sei ihm diese Stoffmasse auferlegt worden. Er – wer sonst? – hätte sie abtragen müssen, Schicht für Schicht.32
Damit assoziiert der Text den Alten mit dem Autor Günter Grass. Erzählstrategisch ergibt sich somit eine gleitende Skala zwischen literarischem Text und gesellschaftlichem Kontext: Steht Paul Pokriefke als Sohn Tullas und (möglicherweise) Harry Liebenaus noch in einer festen Traditionslinie des Figureninventars
_____________ 29 Die „Einteilung der Zeit in Gestern – Heute – Morgen zu durchbrechen, die sich in Grass’ bekannter Formel ‚Vergegenkunft‘ bündelt“, ist ein Charakteristikum von Grass’ Gesamtwerk. Sabine Moser: „Dieses Volk, unter dem es zu leiden galt.“ Die deutsche Frage bei Günter Grass (= Kölner Studien zur Literaturwissenschaft. 13). Frankfurt a.M. et al. 2002, 26. Der ‚Krebsgang‘ ist so gesehen eine Fortschreibung dieses Konzeptes. 30 Grass: Im Krebsgang (Anm. 14), 36 31 Ebd., 37. 32 Ebd., 77.
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von Hundejahre, so ist er zugleich Erzählinstanz und Sprachrohr des Alten. Damit wird jedoch auch die Grenze zwischen Fiktionalität und Non-Fiktionalität fließend. Die Novelle Im Krebsgang ist folglich unter mehreren Gesichtpunkten ein Medium des Gedächtnisses. Zunächst nimmt im Text selbst das Verhältnis zwischen Medium und Erinnerung einen zentralen Stellenwert ein. Über das Schreibverfahren wird zudem eine alternative Erinnerungsstrategie konzipiert, der die Reflexion über die eigene Medialität eingeschrieben ist. Auf diese Weise wird eine Erinnerungsstrategie, die auf einer authentischen Darstellung der Vergangenheit zur Stützung der eigenen Identität beruht, in ihrem zerstörerischen Potential enttarnt. Indem der Text sich zudem selbst, zum Beispiel über die Fluchtthematik und die Figur des Alten, in die aktuellen gesellschaftlichen und politischen Debatten um Erinnerungsinhalte und die Formen adäquaten Gedenkens einschleust, entfaltet er im gesellschaftspolitischen Kontext seine Wirkung als Medium des Gedächtnisses. Im Folgenden wird es um diese Wirkung gehen. Ich werde zunächst einige Merkmale des gegenwärtigen Erinnerungsdiskurses benennen, um dann anhand von Im Krebsgang den Austausch33 zwischen den Medienangeboten ‚literarischer Text‘ und ‚journalistischer Text‘ in das Zentrum meiner Ausführungen zu stellen.
III. Im Krebsgang und das Feuilleton als Medien des Gedächtnisses Wohl kaum ein anderer Autor verkörpert derzeit so sehr den Typus des kritischen Intellektuellen wie Günter Grass. Der Erfolg der Blechtrommel, das politische Engagement für Willy Brandt in den 1960er-Jahren, die literarische Verarbeitung umweltpolitischer Themen und der Ausbeutung der so genannten 3. Welt-Länder in den 1980er-Jahren sowie sein Engagement in Fragen der Deutschen Einheit sind die Eckdaten, die Grass zu einer prägenden Größe der zentralen bundesrepublikanischen Debatten werden ließen. In den Medien wurde ihm der Titel eines „Praeceptor Germaniae“ verliehen. Der Autor Grass selbst fungiert hier als ein Gedächtnismedium, das die gesellschaftspolitischen Entwicklungen der ‚alten‘ und ‚neuen‘ Bundesrepublik verkörpert. Dieses macht ihn zu einer Autorität, zu einem ‚Gewissen‘ des derzeitigen Erinnerungsdiskurses. Offizielle, auf der gesellschaftspolitischen Ebene vollzogene Vergangenheitsdeutungen und Erinnerungsstrategien sind immer schon Ergebnisse von Durch-
_____________ 33 Mit dem Begriff des ‚Austauschs‘ orientiere ich mich an Stephen Greenblatts Auffassung einer ‚Zirkulation‘ von Elementen zwischen fiktivem Text und gesellschaftlichem Kontext. Vgl. hierzu u.a. Stephen Greenblatt: „Die Zirkulation sozialer Energie.“ In: Ders.: Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance (amerik.: The Circulation of Social Energy in Renaissance England [1988]). Berlin: Wagenbach 1990, 7-24.
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setzungsprozessen.34 Bei der Formierung und Produktion dessen, was und wie erinnert werden soll, sind diverse Medienangebote, aber auch intellektuelle Autoritäten sowie Institutionen maßgeblich beteiligt. Sie sind zentrale Knotenpunkte in einem Erinnerungsdiskurs, insbesondere dann, wenn dieser sich in einem fundamentalen Umbau befindet. Welches sind die Charakteristika dieses neuen Erinnerungsdiskurses? Wie bereits eingangs geschildert, besteht die wohl grundlegendste Veränderung derzeit darin, dass der Holocaust in ein identitätsstiftendes Narrativ der neuen Bundesrepublik, aber auch Europas überführt wird. Aleida Assmann hat zudem drei Aspekte des Wandels herauskristallisiert.35 Auf nationaler Ebene markiert die Einführung des 27. Januar als Gedenktag für die Verfolgten des Nationalsozialismus, aber auch der Bau des Holocaust-Denkmals an zentralem Ort in Berlin die „Nationalisierung des Gedächtnisses“36. In außenpolitischer Hinsicht war es gerade die Erfahrung des Nationalsozialismus, die eine Intervention von Bundeswehrsoldaten im Verbund mit der Nato legitimierte. Neu ist auch, dass die deutsche Erinnerungspolitik in die Formierung einer europäischen Identität eingebunden ist. An der Stockholmer Holocaust-Konferenz am 27. Januar 2000 nahmen 22 Regierungschefs, zahlreiche politische Vertreter und Fachleute teil, um einen europäischen Verständigungsprozess über die Frage zukünftigen Gedenkens zu initiieren.37 Verbunden mit dieser Nationalisierung (und auch Europäisierung) ist die „Universalisierung bzw. Globalisierung der Erinnerung“.38 Aleida Assmann hat in diesem Zusammenhang darauf verwiesen, dass bei einer Universalisierung des Holocaust die Gefahr bestehe, eine allgemeinverbindliche, ent-kontextualisierte Fassung der Geschichte zu etablieren, die die historisch spezifischen Perspektiven und Erfahrungen ausblende.39
_____________ 34 Meine Ausführungen sind auf der Ebene dessen angesiedelt, was Aleida Assmann in neueren Publikationen als ‚kollektives Gedächtnis‘ bezeichnet hat. Im Unterschied zu einer früheren Begriffsbestimmung, die die soziale Bedingtheit kommunikativer und kultureller Erinnerungsleistungen betont, umfasst das ‚kollektive Gedächtnis‘ nun offizielle Erinnerungen, die der Stützung „eines politischen Kollektivs, einer Solidargemeinschaft“ dienen. Als solches ist das ‚kollektive Gedächtnis‘ immer ein „politisch instrumentalisiertes Gedächtnis“. Aleida Assmann & Ute Frevert: Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945. Stuttgart: DVA 1999, 41f. 35 Vgl. Assmann: „Persönliche Erinnerung“ (Anm. 13), 135f. 36 Ebd., 136. 37 Mit dieser Formierung europäischer Identität setzt sich Michael Jeismann in seinem eher feuilletonistisch gehaltenen Buch Auf Wiedersehen Gestern. Die deutsche Vergangenheit und die Politik von morgen. Stuttgart/München: DVA 2001 auseinander. 38 Assmann: „Persönliche Erinnerung“ (Anm. 13), 135f. Vgl. zur Globalisierung von Erinnerung auch den Beitrag von Erik Meyer und Claus Leggewie in diesem Band sowie Daniel Levy & Natan Sznaider: Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001. 39 Vgl. Assmann: „Persönliche Erinnerung“ (Anm. 13), 136. Zu dieser Universalisierung und Mythisierung vgl. Jeismann: Auf Wiedersehen Gestern (Anm. 35), 191-198. Jeismann beschreibt die Phäno-
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Der dritte Aspekt besteht nach Aleida Assmann in einer „Mediatisierung des Gedächtnisses.“40 Mit dem Aussterben der Zeitzeugen gehe eine intensive Anstrengung der Sicherung persönlicher Erinnerung einher. Dabei träten auch Institutionen in den Vordergrund, die sich mit Fragen der Sicherung, Vermittlung, Darstellung und Aktivierung von Erinnerung befassten: Gedenkstätten, Museen, Denkmäler, Schule und Massenmedien. In Anbetracht dieses fundamentalen Wandels in der Deutung nationalsozialistischer Verfolgungs- und Vernichtungspolitik kommt der aktuellen Gegenwartsliteratur eine entscheidende Bedeutung zu. Diese Texte werden nicht als rein fiktive Texte gelesen, vielmehr nehmen literarische Äußerungen auf gesellschaftspolitische Debatten Einfluss und umgekehrt. Die jeweiligen Medienangebote beziehen sich also wechselseitig aufeinander und schreiben die jeweils zu verhandelnden Äußerungen fort. Im Folgenden werde ich daher auf die Dynamik und Funktion dieser Zirkulationsbewegung bei der Konstituierung gesellschaftlicher und politischer Erinnerungsstrategien in Bezug auf den Nationalsozialismus genauer eingehen. Anhand von Im Krebsgang und dessen Rezeption im Feuilleton soll exemplarisch41 skizziert werden, welche Verfahren eine Zirkulation in Gang setzen. Dahinter steht das Ziel, den produktiven Anteil von Medienangeboten bei der Generierung von Erinnerung und Darstellung von Geschehenem herauszustellen – oder anders ausgedrückt: Die wechselseitige Bezogenheit der jeweiligen Medienangebote aufeinander lässt diese zu einem übergreifenden Zusammenhang medial vermittelter Erinnerung werden. Was ist nun im Fall von Im Krebsgang der Zirkulation unterworfen? Zunächst ist es die fiktionale Erzählinstanz, die von journalistischen Texten aufgegriffen und in die dezidierte Meinung des Autors verwandelt wird. So startete Der SPIEGEL im Frühjahr 2002 aus Anlass der Grass-Novelle eine mehrteilige Serie über die Flucht der Deutschen42. Hier nimmt Hans-Joachim Noack, der Verfasser des eröffnenden Artikels mit dem Titel „Die Deutschen als Opfer“, eine Aussage des Alten auf und verwandelt sie in ein Statement von Grass zum Thema Flucht: Und der in Danzig geborene, ehedem eher als Ankläger deutscher Verbrechen geltende „Praeceptor Germaniae“ („Süddeutsche Zeitung“) textet nicht nur, er schlägt auch wirksam die Trommel: Welche Qualen die eigenen Landsleute unter dem von Hitler mene dieser Universalisierung sehr anschaulich, schwankt aber auch zwischen Kritik und Befürwortung, wenn er schreibt: „Das an der Nation entlang gesäulte Gedächtnis […] könnte durch eine andere Form des Gedächtnisses abgelöst werden.“ Jeismann: Auf Wiedersehen Gestern (Anm. 37), 14. 40 Assmann: „Persönliche Erinnerung“ (Anm. 13), 136. 41 Es sei noch einmal darauf verwiesen, dass es sich hierbei um keineswegs systematische Ausführungen, sondern lediglich um Tendenzen handelt, die im Zusammenhang mit Im Krebsgang untersucht werden sollen. 42 Diese Serie ist in einem SPIEGEL special zusammengefasst: Die Flucht der Deutschen. Die SPIEGELSerie über die Vertreibung aus dem Osten. SPIEGEL special 2/2002.
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entfachten Weltenbrand erlitten, sei zu lange in Schweigen gehüllt worden. Er selbst habe sich ein ‚bodenloses Versäumnis‘ anzulasten.43
Interessant ist in diesem Zusammenhang nicht allein die Engführung des Alten mit Grass, sondern auch die Ergänzung „ehedem“. Damit betont diese Textpassage eine Opposition zwischen dem ‚alten‘ Grass, dem Ankläger, hin zum ‚neuen‘ Grass, der mit seiner Novelle ein „bodenloses Versäumnis“ thematisiert. Auf diese Weise wird jedoch Grass’ frühere Haltung kritisch hinterfragt. Bei der Abgrenzung gegenüber der ‚alten‘ Vergangenheitsverarbeitung können journalistische Texte ebenfalls auf literarisch-fiktive Äußerungen zurückgreifen. Die Kritik an der ‚Aufarbeitung‘ der 68er-Bewegung ist ein zweites zirkulierendes Element.44 In Paul Pokriefke wird der Typus eines opportunistischen Erinnerungsstrategen vorgestellt, der zunächst für „Springer“, dann für die „taz“ und später, als ihm „sonstige linke Kopfstände auf die Nerven gingen“,45 freiberuflich arbeitet: All die Jahre lang, in denen ich freiberuflich längere Artikel für Naturzeitschriften, etwa über den biodynamischen Gemüseanbau und Umweltschäden im Wald, auch Bekenntnishaftes zum Thema „Nie wieder Auschwitz“ geliefert habe, gelang es mir, die Umstände meiner Geburt auszusparen […].46
Durch die bloße Aneinanderreihung vormals ‚linker‘ Themen wird ‚Auschwitz‘ zu einem Modeschlagwort wie ‚Waldsterben‘. Damit ist im Text eine Lesart angelegt, die den früheren Erinnerungsdiskurs als ebenso kanonisch-starr wie überholt charakterisiert. Gerade dieser Aspekt wurde in journalistischen Texten aufgegriffen. So schreibt Hans-Joachim Noack in dem bereits zitierten SPIEGEL-Artikel von dem „Ende einer seit der ‚68er‘-Zäsur andauernden Political Correctness“47 und Volker Hage schreibt ebenfalls im SPIEGEL, dass Grass literarisch auf jene Diskussion reagiere, die 1997 mit W.G. Seebald und dem Thema „Luftkrieg und Literatur“ begonnen habe. Die jungen Autoren der Gruppe 47 seien „‚von vielfältigen Tabus umstellt‘, Bombenkrieg und Vertreibung kein Thema gewesen“.48 Das Ende von ‚Political Correctness‘, sowie ein ‚Brechen von Tabus‘ sind die Schlagworte der Debatte, mit der eine Distanzierung zur 68erBewegung und der von ihr initiierten kritischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus vollzogen wird.
_____________ 43 Hans-Joachim Noack: „Die Deutschen als Opfer.“ In: Ebd., 6-9, 7. Hans-Joachim Noack bezieht sich hier auf eine Aussage des Alten, vgl. die entsprechende Passage bei Grass: Im Krebsgang (Anm. 14), 99. 44 Gemeint sind hier beispielsweise Texte von Bernhard Schlink und Peter Schneider. 45 Grass: Im Krebsgang (Anm. 14), 31. 46 Ebd., 32. 47 Noack: „Die Deutschen als Opfer“ (Anm. 43), 9. 48 Volker Hage: „‚Das Tausendmalige Sterben‘.“ In: SPIEGEL special (Anm. 42), 22-28, 23.
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Dieser ‚Tabubruch‘ vollzieht sich in zweierlei Richtungen. Wie die Zitate zeigen, verstehen viele journalistische Texte hierunter die Einführung neuer Themen, wie z. B. Fluchterfahrung und Luftkrieg. Ein Tabubruch zeichnet sich jedoch auch im Bereich literarischer Texte ab, und zwar als erzähltechnisches Verfahren. Dieses stellt das dritte zirkulierende Element dar. Ich bezeichne es als Destruktion etablierter literarischer Repräsentationen im Bezug auf den Nationalsozialismus und Erinnerungen an den Nationalsozialismus. Typisch für diese Erzähltechnik ist die Durchkreuzung und Verbindung vormals nicht koppelbarer Motive und Figurenkonstellationen. So fingiert beispielsweise Bernhard Schlinks Roman Der Vorleser die Liebe und das Begehren zur Täterin – eine früher nicht denkbare Figurenkonstellation. Diese Liebesbeziehung wurde in Zeitungen, aber auch in Schulinterpretationen thematisiert. Hinterfragt wurde die bis dahin etablierte Darstellung der Monstrosität der Täter und Täterinnen, die nun als Abschottungsstrategie der zweiten Generation aufgefasst wurde.49 In Grass’ Novelle wird der Umgang mit der Vergangenheit einem Destruktionsverfahren unterzogen. Hier wird Erinnerung als ein Schulddiskurs fingiert, der gegenläufige Meinungen marginalisiert und somit letztlich rechtsextreme Gewalt und Selbstzerstörung produziert. Konrad geht das dauernde Auschwitzgerede seiner Mutter auf die Nerven 50 und in Umkehrung etablierter Schulpädagogik äußert Paul Pokriefke: „Womöglich hätte Konnys Vortrag mit dem Untertitel ‚Die positiven Aspekte der NS-Gemeinschaft Kraft durch Freude‘ etwas Farbe in das langweilige Unterrichtsfach Sozialkunde gebracht.“51 Darüber hinaus wird die intensive Auseinandersetzung mit deutscher Schuld als Groteske konzipiert, wenn Frau Stremplin berichtet, dass sich Wolfgang mit Vierzehn den Vornamen David „auferlegt“ habe und sich mit den „sattsam bekannten Kriegsverbrechen so identifiziert habe, daß ihm schließlich alles Jüdische irgendwie heilig gewesen sei.“52 Indem der Text jedoch den Typus eines intelligenten Rechtsradikalen entwirft und ihn mit einem selbstnegierenden, sich als Juden imaginierenden Jugendlichen kontrastiert, durchkreuzt der Text etablierte Vorstellungsmuster von negativ konnotiertem Rechtradikalismus und einer positiv besetzten Auseinandersetzung mit dem Judentum. Ob dieses Modell in seiner grotesken Form und Radikalität als plausible Kritik an einem (vermeintlich) etablierten Erinnerungsmuster standhalten kann, ist allerdings fraglich. Dieser Darstellung von Rechtsradikalismus und Philosemitismus wurde im Feuilleton kaum Beachtung geschenkt. Ich habe sie dennoch erwähnt, weil meines Erachtens die Wirkung dieser Durchkreuzung prinzipiell nicht zu unterschät-
_____________ 49 Einen kurzen Überblick der Rezeption von Der Vorleser gibt Juliane Köster: Bernard Schlink, Der Vorleser. Interpretiert von Juliane Köster. München: Oldenbourg 2000, 19-26. 50 Grass: Im Krebsgang (Anm. 14), 195 51 Ebd., 184. 52 Ebd., 185.
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zen ist, denn sie ist ein Beispiel für die Radikalität, mit der etablierte Repräsentationen und Auffassungen in einigen Texten zerstört werden. Meine Vermutung ist, dass gerade eine extreme Destruktion von Repräsentationsmustern und Zuschreibungen im literarischen Bereich Bedingungen schafft, unter denen journalistische Texte eine offensive Kritik an früheren Deutungen und Erinnerungen üben. Literarische Äußerungen werden dann als ‚bereits schon da‘ aufgefasst. Indem sich journalistische Texte auf literarische Äußerungen beziehen, wird unter Bezugnahme auf Literatur letztlich eine Verhandlung des gegenwärtigen Erinnerungsdiskurses vorgenommen. So setzt sich Volker Hage im SPIEGEL mit aktuellen Texten, die den Nationalsozialismus behandeln, auseinander. Unter dem Titel „Unter Generalverdacht“ bezieht er sich „auf eine bizarre Literaturdebatte: Verharmlosen erfolgreiche Bücher wie Günter Grass’ ‚Im Krebsgang‘ oder Bernhard Schlinks ‚Der Vorleser‘ die Schuld der Deutschen an Holocaust und Zweitem Weltkrieg?“53 Mit diesem Artikel reagiert Hage wiederum auf Joachim Güntners Äußerungen in der Neuen Zürcher Zeitung, der der „neuen Unbefangenheit“ in der Literatur skeptisch gegenübersteht und sie als Indiz für die derzeitige Debatte um „Normalisierung“ wertet.54 *** Damit zeichnet sich für unsere Frage nach Medien des Gedächtnisses Folgendes ab: Literarische und journalistische Texte konstituieren sich unter anderem durch ihr wechselseitiges Aufeinander-Bezogensein als Medien des Gedächtnisses. Diese Bezugnahme wurde als Zirkulation gefasst, wobei exemplarisch anhand von Im Krebsgang drei Elemente der Zirkulation herausgearbeitet wurden: erstens die Gleichsetzung von Erzähler und Autor, zweitens die Kritik am Erinnerungsdiskurs der 68er-Bewegung und schließlich die Destruktion etablierter Repräsentationen nationalsozialistischer Vergangenheit und Erinnerungen an den Nationalsozialismus. Indem literarische Äußerungen als vorgängig aufgefasst werden, übernehmen sie gegenüber journalistischen Texten eine entlastende Funktion; denn Zeitschriften und Zeitungen beziehen sich auf die im fiktiven Bereich durchgespielten Vergangenheitsdeutungen und Erinnerungsmodi als auf bereits in der Öffentlichkeit kursierende Auffassungen. Die Grenze zwischen Fiktion und Non-Fiktion erhält somit eine funktionale Bedeutung: Literatur kann unter den Bedingungen einer relativen Unverbindlichkeit und Wirklichkeitsentlastung Vergangenheitsdarstellungen erproben, deren gesellschaftliche und politische Relevanz im journalistischen Bereich benannt wird.
_____________ 53 Volker Hage: „Unter Generalverdacht.“ In: DER SPIEGEL 15 (2002), 178-181, 178. 54 Joachim Güntner: „Opfer und Tabu. Günter Grass und das Denken im Trend.“ In: Neue Zürcher Zeitung 45 (23./24.02.2002), 33.
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Exemplarisch wurde zudem aufgezeigt, dass in Im Krebsgang bereits auf der Ebene der Erzähltechnik eine Reflexion über die Bedingungen von Erinnerung und deren Darstellung angelegt ist. Der ‚Krebsgang‘ steht für eine Erinnerungsauffassung, die sich ihrer eigenen medialen Bedingungen bewusst ist und die gesellschaftlichen Zusammenhänge ihres Zustandekommens hinterfragt. Damit ist die Novelle jedoch in Bezug auf den gegenwärtigen Erinnerungsdiskurs ambivalent situiert. Während auf der Ebene des Schreibverfahrens ein komplexes Erinnerungsmodell entworfen wird, artikuliert sich unter thematischen Gesichtspunkten eine affirmative Haltung gegenüber bestimmten Tendenzen im gegenwärtigen Erinnerungsdiskurs. Bezeichnenderweise wird das Schreibverfahren in den Feuilletons lediglich unter literaturkritischen Gesichtpunkten betrachtet, im Zentrum der Auseinandersetzungen steht jedoch das Thema ‚Flucht und Vertreibung‘. Damit stärkt die Novelle einen aktuellen Erinnerungsdiskurs, in dem „eine deutsche Opfergeschichte zur dominierenden Vergangenheitserzählung werden könnte“.55 Harald Welzer hat darauf verwiesen, dass diese „allmählich Transformation der Täter- in eine Opfergesellschaft“ bereits Mitte der neunziger Jahre begonnen habe. Ein Indiz hierfür sei der von Guido Knopp initiierte „ZDFJahrhundertbus“, der in Analogie zum Archiv der Shoah-Foundation die Leiden und Verluste der ehemaligen Volksgenossinnen und -genossen dokumentieren solle. Unter diesen Bedingungen erfährt auch der Begriff der ‚Traumatisierung‘ eine Ausdehnung. Umschrieb dieser bislang die Leidenserfahrung der Opfer nationalsozialistischer Vernichtungspolitik, so findet er nun auch im Zusammenhang mit Fluchterfahrung und Luftkrieg Verwendung. Die Einebnung der Differenz zwischen Täterin und Opfern ist in einer solchen Narration zumindest potentiell angelegt. In der Tat droht der Holocaust unter den Bedingungen gegenwärtiger kollektiver Vergangenheitsdeutungen eine Leidenserzählung unter anderen zu werden; zumal im Augenblick der Holocaust als historisch wahrgenommen wird, während dem Vertreibungsthema auch im Zuge der EUOsterweiterung Aktualität zugesprochen wird. Damit jedoch ist die Bedeutung von Gedächtnismedien einmal mehr zu unterstreichen, denn in ihrer Produktivität von Erinnerung ist beides angelegt: Medien liefern die Vorraussetzung zur Reflexion über die Bedingungen kollektiven Erinnerns und formen und festigen dieses zugleich.
_____________ 55 Harald Welzer: „Von der Täter- zur Opfergesellschaft: Zum Umbau der deutschen Erinnerungskultur.“ In: Erler: Erinnern und Verstehen (Anm. 13), 100-106, 103.
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Literarische Inszenierungen und Interventionen: Mediale Erinnerungskonkurrenz in Guy Vanderhaeghes The Englishman’s Boy und Michael Ondaatjes Running in the Family I. Einleitung: Erinnerungskulturen und die Bedeutung von Gedächtnismedien Kollektives Erinnern ist an Medien gebunden. Damit kollektiv relevante Wissensbestände über die Zeit hinweg bewahrt und tradiert werden können, müssen sie in externalisierte Repräsentationsformate, wie etwa in Texte, in Bilder, in Bauten oder Denkmäler überführt und so medial stabilisiert werden. Im weitesten Sinne können Medien des Gedächtnisses als Träger von ausgelagerten Gedächtnisinhalten und -formen begriffen werden, die die Voraussetzung für die Zirkulation bestimmter, sozial relevanter Informationen schaffen und so maßgeblich an der Konstruktion von Wirklichkeiten bzw. von Vergangenheiten beteiligt sind.1 In Medien des kollektiven Gedächtnisses materialisieren sich in sinnverdichteter Form einschneidende Aspekte der Kollektivvergangenheit, die künftig erinnert werden sollen. Neben diese intentional-prospektiven Gedächtnismedien treten solche materiellen Objektivationen, die erst im Lichte gegenwärtiger Einsichten und Fragestellung mit kollektiver Bedeutung aufgeladen und somit retrospektiv zu Gedächtnismedien erhoben werden. Als symbolischen Ausdrucksformen kollektiver Sinnstiftung wird Gedächtnismedien eine besondere Fähigkeit zugesprochen, individuelle Erinnerungsleistungen in Gang zu setzen: Im Sinne von so genannten cues2 werden sie zum externen Erinnerungsanlass, der individuelle, personengebundene Prozesse der Vergangenheitsvergegenwärtigung aktiviert. Gedächtnismedien fungieren daher
_____________ 1 Vgl. Stefan Rieger: Die Individualität der Medien. Eine Geschichte der Wissenschaften vom Menschen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, 13; Siegfried J. Schmidt: Kognitive Autonomie und soziale Orientierung. Konstruktivistische Bemerkungen zum Zusammenhang von Kognition, Kommunikation, Medien und Kultur. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994. 2 Vgl. Endel Tulving: Elements of Episodic Memory. Oxford: Oxford UP 1983. Zur Bedeutung von cues vgl. den Beitrag von Gerald Echterhoff in diesem Band.
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als Bindeglied zwischen dem Gedächtnis eines Kollektivs und den personengebundenen Erinnerungsleistungen. Da medial gespeicherte Informationen von ihrem Sender abgetrennt werden können und mithin nicht an dessen Gegenwart gebunden sind, erlauben sie zudem eine Wissenstradierung über die Zeit hinweg.3 Informationen vergehen durch diese Externalisierung nicht mit dem Tod des Wissensträgers und dessen Gedächtnis.4 Kurz: Allererst Medien ermöglichen die Stiftung eines überindividuellen Gedächtnisses und hiermit die kulturelle Kontinuierung und Stabilisierung von erinnerungswürdigem Wissen in der und durch die Zeit. Geht man von der dargelegten Interdependenz von Kollektivgedächtnis und Medien aus, so wird die Frage nach den jeweiligen Besonderheiten von Gedächtnismedien virulent. Offensichtlich sind Gedächtnismedien weder hinsichtlich ihrer Produktion noch hinsichtlich ihrer Rezeption reine Speicher vergangener Realität, die eingespeiste Daten zu einem späteren Zeitpunkt unverändert reproduzieren. Im Sinne des systemischen Kompaktbegriffs von S.J. Schmidt haben Medien keinen abbildenden, sondern einen aktiv gestaltenden, wirklichkeitserzeugenden Charakter, deren zu vermittelnde Information je nach historischer, sozialer und kultureller Kontextualisierung different interpretiert wird. Die mitzuteilenden Informationen verändern sich bereits durch ihre Übersetzung in ein anderes Format, also in ein spezifisches Medium. Dieser Encodierungsprozess im kommunikationstheoretischen Sinne kann als produktiver Akt der Formgebung konzeptualisiert werden, der stets eine eigendynamische Modifikation der Information zur Folge hat: „Das Medium ist nicht einfach die Botschaft; vielmehr bewahrt sich an der Botschaft die Spur des Mediums.“5 Medien sind daher maßgeblich an der Konstitution ihrer Inhalte beteiligt. Angesichts dieser medienspezifischen Produktivität erhalten die materialen Apriori sowie die spezifischen Formen des Gedächtnismediums besonderes Gewicht.6 Aber auch der Prozess der Rezeption bzw. der Decodierung des Inhalts durch eine Zielperson, den Empfänger, stellt einen konstruktiven Prozess der Sinngebung dar. Medien blieben kulturell wirkungslos, würden ihre Deutungsangebote nicht von Individuen sinnstiftend entschlüsselt, d.h. „in ein intern verar-
_____________ 3 Vgl. Jens Ruchatz: „Externalisierung.“ In: Nicolas Pethes & Jens Ruchatz (Hrsg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon. Reinbek: Rowohlt 2001, 160-163, 162. 4 Ebd. 5 Vgl. Sybille Krämer: „Das Medium als Spur und als Apparat.“ In: Dies. (Hrsg.): Medien – Computer – Realität: Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, 75-95, 81. Vgl. zu diesem Aspekt auch Siegfried J. Schmidt: Kalte Faszination. Medien, Kultur, Wissenschaft in der Mediengesellschaft. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2000, 99. 6 Vgl. Elena Esposito: Soziales Vergessen. Form und Medien des Gedächtnisses der Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002.
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beitbares Repräsentationsformat“7 übersetzt und so als anschlussfähige Information verfügbar gehalten. Da Mitteilungen stets vor dem Hintergrund bereits vorliegender Erfahrungs- und Wissensbestände aktualisiert, dechiffriert und signifiziert werden, muss der Rezeptionsprozess als ein produktiver Assimilationsprozess begriffen werden: Neue Informationen werden so verarbeitet und organisiert, dass sie mit bestehenden, kulturell geprägten und sozial vermittelten, kognitiven Schemata kompatibel bleiben.8 Im Zuge dieses bedeutungsstiftenden Naturalisierungsprozesses9 wird neue Information zwangsläufig kultur- bzw. sozialisationsspezifisch perspektiviert, d.h. Unbekanntes wird an Bekanntes assimiliert und Erwartungswidriges wird nivelliert, konventionalisiert oder einfach ausgespart. Der erinnerungskulturellen ‚Botschaft‘ bzw. dem Sinn von Medien sind somit stets gegenwärtige soziokulturelle Vorannahmen und Kollektivvorstellungen eingeschrieben. Medial perpetuierte und rezipientenseitig aktualisierte Erinnerungen gehen immer über die vermittelte Information selbst hinaus; sie sind nie einfach Merkmal einer Nachricht, die ein Sender einem Empfänger übermittelt. Neben dieser Konstruktivität und Kontextabhängigkeit zeichnen sich Gedächtnismedien – dies implizieren die obigen Ausführungen bereits – schließlich durch ihre Funktionalität aus. Gedächtnismedien sind darauf angelegt, bei ihren RezipientInnen Reminiszenzen an vergangene Erfahrungen zu evozieren. Die Evokation von spezifischen Erinnerungen kann ein breites Spektrum an Funktionen erfüllen: Sie dient der Tradierung von gruppenkonstitutiven Wissensbeständen und trägt so zur Kontinuität zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem bei; sie stiftet Gemeinschaft und Identität; sie bildet die Voraussetzung für die Kreation einer affizierenden Vergangenheit und damit für moralische Verantwortlichkeit;10 sie kann der Legitimation ebenso wie der Delegitimation von bestimmten Erinnerungsgemeinschaften Vorschub leisten. Die auf die Vergangenheit verweisenden Inhalte von Gedächtnismedien müssen folglich in der Gegenwart sinnhaft dechiffrierbar sein, damit sie an aktuelle Verstehens- und Handlungshorizonte anschließbar bleiben bzw. auf diese Einfluss nehmen können. Gedächtnismedien verkörpern Angebote an die Rezipienten, sich auf die Aktualisierung einer bestimmten vergangenen Episode einzulassen. Dort, wo Gedächtnismedien aufgrund soziohistorischer Verwerfungen und Diskontinuitäten ihre funktionale
_____________ 7 Gerald Echterhoff: „Encodierung, Decodierung.“ In: Pethes & Ruchatz (Hrsg.): Gedächtnis und Erinnerung (Anm. 3), 140f., 141. 8 Vgl. F.C. Bartlett: Remembering: A Study in Experimental and Social Psychology. Cambridge: Cambridge UP 1932. 9 Vgl. zum Konzept der rezipientenseitigen Naturalisierung textueller Strukturen und Formate Jonathan Culler: Structuralist Poetics: Structuralism, Linguistics and the Study of Literature. London: Routledge 1975, 138. 10 Vgl. zum konstitutiven Zusammenhang von Erinnerung und ethischer Verpflichtung v.a. Avishai Margalit: Ethik der Erinnerung. Frankfurt a.M.: Fischer 2000.
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Dimension nicht mehr erfüllen, d.h. sie rezipientenseitig keinen Erinnerungsprozess initiieren, verlieren sie ihren konstitutiv gestaltenden Charakter innerhalb einer bestimmten Kultur. Wird ein Gedächtnismedium entsemiotisiert, so bleibt es zwar ein materiales Dispositiv zur Informationsvermittlung, nicht aber ein kommunikativ-soziales Gedächtnismedium.11 In diesem Beitrag soll nun das Hauptaugenmerk auf die Spezifika eines besonderen Gedächtnismediums gelenkt werden, nämlich auf die des Mediums Literatur in seiner Eigenart als Symbol- und Sozialsystem.12 Literarischen Texten, so die These der folgenden Ausführungen, kommt innerhalb der Vielfalt an gesellschaftlich zirkulierenden Gedächtnismedien aus drei eng miteinander verwobenen Gründen eine besondere Rolle zu.13 Wie unter dem Begriff der Intermedialität subsumiert, reagiert Literatur als Symbolsystem auf andere, gesellschaftlich kursierende Mediensysteme; mit diesen Systemen stehen literarische Texte in einem Dialog der wechselseitigen Beeinflussung.14 Daher kann Literatur (als Symbolsystem) erstens auf textinterner Ebene auf verschiedenartige, kulturell verfügbare Gedächtnismedien Bezug nehmen und ihre Funktionsweise, ihr Wirkungs- bzw. Erinnerungspotential narrativ inszenieren. Über die Inszenierung der Spezifika von Gedächtnismedien hinaus kann Literatur diese zweitens auch zum Gegenstand der kritischen Beobachtung machen. Literatur ist nicht nur ein Medium der kulturellen Selbstwahrnehmung, sondern auch und vor allem ein Medium der Reflexion dieser Selbstwahrnehmung.15 So verfügt Literatur über die Möglichkeit, sich von ihren inszenierten Inhalten zu distanzieren und diese entweder implizit, d.h. qua narrativer Darstellungsmittel, oder aber in expliziten Kommentaren zu problematisieren. Durch diese Doppelungsstruktur können die Besonderheiten von Gedächtnismedien, also die medi-
_____________ 11 Natürlich kann das materiale Dispositiv nach Maßgabe veränderter Relevanzstrukturen und Bedeutungsmuster jederzeit resemiotisiert werden und damit wieder als Gedächtnismedium einer bestimmten Kultur und Gruppe Einfluss auf Welt- und Selbstverständnisse nehmen. 12 Vgl. zur Unterscheidung zwischen Literatur als Sozial- und Symbolsystem Schmidt: Kalte Faszination (Anm. 5) . 13 Ein umfassendes Modell von Literatur als Medium entwirft Oliver Jahraus: Literatur als Medium. Sinnkonstitution und Subjekterfahrung zwischen Bewußtsein und Kommunikation. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2003. 14 Vgl. Julika Griem: „Medien und Literatur.“ In: Ansgar Nünning (Hrsg.): Metzler Lexikon Literaturund Kulturtheorie: Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Stuttgart: Metzler 2001 [1998], 410-411; Werner Wolf: „Intermedialität als neues Paradigma der Literaturwissenschaft? Plädoyer für eine literaturzentrierte Erforschung von Grenzüberschreitungen zwischen Wortkunst und anderen Medien am Beispiel von V. Woolfs ‚The String Quartet‘.“ In: Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik 21,1 (1996), 85-116; Irina O. Rajewsky: Intermedialität. Tübingen/Basel: Francke 2002 15 Wilhelm Voßkamp: „Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaften.“ In: Henk de Berg & Matthias Prangel (Hrsg.): Interpretation 2000: Positionen und Kontroversen. Heidelberg: Winter 1999, 183-199.
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alen Bedingungen der Vergangenheitsaneignung einer kritischen Perspektivierung unterzogen werden. Drittens schließlich können literarische Texte selbst zum Gedächtnismedium und hiermit zum Teil der übergreifenden Erinnerungskultur werden: Mit der Darstellung von vergangenen Ereignissen, der Inszenierung und Reflexion der medialen Gedächtnisbildung kreiert Literatur alternative Vergangenheitsversionen, macht die Funktionsweise der materialen Dimension der Kultur beobachtbar und schafft so die Voraussetzung für eine veränderte Wahrnehmung der Modalitäten kollektiver Gedächtniskonstitutionen.16 Mit diesem Punkt ist folglich die Frage nach gesellschaftlichen Funktionspotentialen von Literatur in ihrer Eigenart als Sozialsystem angesprochen, also die Frage nach ihren rezipientenseitigen Deutungsangeboten und sozialsystemischen Institutionalisierungsmöglichkeiten. Angesichts der Interdependenz zwischen medialer Konfiguration und Rezeptionsangeboten ergibt sich der mögliche gesellschaftliche Gebrauchswert des Mediums Literatur im erinnerungskulturellen Kontext aus ihren spezifischen textuellen Formen und narrativen Strukturen.17 Um das besondere Leistungsvermögen literarischer Texte als fiktionale Gedächtnismedien zu erfassen, werden vorab einige – für nachfolgende Erörterungen richtungsweisende – theoretische Überlegungen zum Zusammenhang von Gedächtnis, Kultur und Medien angestellt, die gesellschaftliche Erinnerungskonkurrenzen im Sinne einer Medienkonkurrenz explizieren.
II. Erinnerungskonkurrenz als Medienkonkurrenz Erst die Erinnerung an Vergangenes gewährleistet die Kontinuität von Erfahrung, kulturelle Orientierungsbildung und die Stiftung von Identität. Dies gilt für Individuen ebenso wie für Kulturen. Kulturen und Gesellschaften nehmen auf verschiedene Weise auf Vergangenes Bezug, etwa indem sie in Texten, Gemälden, Denkmälern oder anderen Medien vergangene Erfahrungen aufrufen und mit Bedeutung für ihre jeweilige Gegenwart versehen. Diese kollektive Praxis der Vergangenheitsaktualisierung und -auslegung bildet den Ausgangspunkt für die Entstehung eines überindividuellen Kollektivgedächtnisses, das als Konglomerat identitätsrelevanter Wissensbestände einen geteilten Bedeutungshorizont generiert. Die bewusste Konstruktion einer gemeinsamen Vergangenheit stellt zugleich den Bodensatz sozialer Zusammengehörigkeit dar: Über gemeinsames
_____________ 16 Vgl. zu den Funktionspotentialen auch den Beitrag von Kirsten Prinz in diesem Band. 17 Dies bedeutet freilich nicht, dass sich Funktionspotentiale vollständig aus den literarischen Formen und Strukturen ableiten ließen. Vgl. zu Funktionen von Literatur im Rahmen kollektiver Sinnstiftungen auch Winfried Fluck: Das kulturelle Imaginäre. Eine Funktionsgeschichte des amerikanischen Romans 1790-1900. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997.
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Erinnern entstehen kollektive Identifikationen, die den Einzelnen mit unterschiedlichen Gruppen, Familien oder Kulturen verbinden.18 In heutigen Gesellschaften koexistieren verschiedenartige kulturelle, religiöse und ethnische Gruppen und Orientierungen, so dass (Erinnerungs-)Kulturen als intern heterogen konzipiert werden müssen.19 Jede soziale Gruppe aktualisiert und signifiziert zum Zwecke ihrer Realitätsdeutung und ihrer Identitätskonstitution unterschiedliche Aspekte der Kollektivvergangenheit und schafft nach Maßgabe gruppenspezifischer Relevanzkriterien eigene Strategien bzw. Matrizen des Erinnerns und Nicht-Erinnerns. Innerhalb einer Erinnerungskultur überlagern sich folglich multiple Erinnerungsgemeinschaften mit ihren je distinkten Kollektividentitäten. Kollektive Gedächtnisse und Identitäten müssen jedoch nicht nur geschaffen und gefestigt werden, sondern bedürfen auch der gesellschaftlichen Anerkennung. Jenseits der gruppeninternen Vergangenheitskonstruktion stellt sich somit auch die Frage ihrer Repräsentation und Sichtbarkeit im öffentlichen Erinnerungsraum. Die Vielfalt von Erinnerungskollektiven impliziert zugleich die Existenz von Hierarchisierungen, von Kämpfen um kulturelle Erinnerungshoheit. Unterschiedliche Kollektivgedächtnisse stehen sich nicht harmonisch gegenüber, sondern ‚(ent)stehen im Streit‘.20 Kollektive Erinnerungen sind umkämpft, sie können von kulturellen Gruppen an- und aberkannt werden, sie unterliegen Umdeutungs-, Delegitimations- und Auslöschungsversuchen und müssen ihre Tragfähigkeit immer neu unter Beweis stellen. In pluralistischen Gesellschaften konkurrieren partikulare Gruppengedächtnisse um Erinnerungshoheit, also um das Recht, die Vergangenheit des Gemeinwesens zu definieren. Geht man von einer sozialen Konkurrenz um Erinnerungsvorherrschaft bzw. Deutungshoheit aus, so stellt sich die Frage nach Bedingungen der Durchsetzungs- und Legitimationsfähigkeit der gruppenspezifischen Vergangenheitsauslegung. Offensichtlich ist die Frage nach der gesellschaftlichen (An-)Erkennung der eigenen Gedächtnis- und Identitätskonstruktion eng mit der Frage nach medialer Repräsentation im öffentlichen Raum, mit der Verfügbarkeit von gedächtnisspezifischen Verbreitungsmedien und deren jeweiligem Erinnerungspotential verbunden. Damit gruppenspezifische
_____________ 18 Vgl. zu einem Überblick über bestehende Theorien des kollektiven Gedächtnisses und ihre Implikationen für die kollektive Identitätsbildung Martin Saar: „Wem gehört das kollektive Gedächtnis? Ein sozialphilosophischer Ausblick auf Kultur, Multikulturalismus und Erinnerung.“ In: Gerald Echterhoff & Martin Saar (Hrsg.): Kontexte und Kulturen des Erinnerns. Maurice Halbwachs und das Paradigma des kollektiven Gedächtnisses. Konstanz: UVK 2002, 267-278; Birgit Neumann: „Literatur als Medium (der Inszenierung) kollektiver Erinnerungen und Identitäten.“ In: Astrid Erll et al. (Hrsg.): Literatur, Erinnerung, Identität. Theoriekonzeptionen und Fallstudien. Trier: WVT 2003, 47-77. 19 Vgl. Peter Burke: „Geschichte als soziales Gedächtnis.“ In: Aleida Assmann & Dietrich Harth (Hrsg.): Mnemosyne. Formen und Funktionen kultureller Erinnerung. Frankfurt a.M.: Fischer 1991, 289304; Saar: „Wem gehört das kollektive Gedächtnis?“ (Anm. 18). 20 Vgl. Saar: „Wem gehört das kollektive Gedächtnis?“ (Anm. 18), 275.
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Gedächtnisversionen kulturelle Wirksamkeit entfalten können, müssen sie im öffentlichen Erinnerungsraum medial repräsentiert sein und über konventionalisierte Bezüge des öffentlichen Diskurses gesamtgesellschaftlich aktualisierbar sein. Mediale Repräsentationen sind ein zentrales Mittel, Geschehnisse intersubjektiv nachvollziehbar und damit ‚real‘ zu machen.21 So sind für den Einzelnen – zumindest im kulturellen Fernhorizont einer ‚zerdehnten Situation‘ (Konrad Ehlich) – nur solche Erinnerungen verfügbar bzw. solche Vergangenheiten erinnerbar, für die die Gesellschaft entsprechende äußere Stützen in Form von Gedächtnismedien zur Verfügung stellt. Diese Angewiesenheit wirft zum einen die Frage auf, nach welchen gesellschaftlichen Maßgaben, Selbstbildern und Wertehierarchien bestimmte Erinnerungsperspektiven überhaupt medial gespeichert und repräsentiert werden. Gesellschaften bewahren nicht Beliebiges. Vielmehr ist die mediale Verbreitung bestimmter Vergangenheitsversionen – sei es qua Denkmäler, Geschichts- oder Schulbücher, literarische Texte oder bildende Künste – maßgeblich an institutionelle Bedingungen, an politische Interessen, Wertevorstellungen und Sinnkriterien einer politisch dominanten Gruppe gebunden. Gedächtnismedien sind mithin in gesellschaftliche Machtzusammenhänge22 eingebettet und unterliegen damit verbundenen „Selektionspräferenzen“23. Die Erinnerbarkeit bestimmter Vergangenheitsversionen hängt aber nicht nur von der Frage ab, ob sie archiviert werden, sondern auch wie, also in welcher Form sie gespeichert werden.24 Die gesellschaftliche Wirkfähigkeit von Gedächtnismedien ist somit zum anderen an die „technischen Apriori“25 ihrer Archivierung sowie ihrer Verbreitung gebunden. Zwar sind Gedächtnismedien stets auf eine Gedächtnisoptimierung angelegt, also darauf, der Flüchtigkeit von personengebundenen Erinnerungen durch ihre Externalisierung in materiale Speicher entgegenzuwirken. Allerdings haben Gedächtnismedien je nach ihrer materialen Beschaffenheit ganz unterschiedliche Halbwertszeiten; sie unterliegen natürlichen Zerfallsprozessen ebenso wie bewussten Zerstörungsakten. Angesichts des wirklichkeitskonstituierenden Charakters von Gedächtnismedien steht die (zumindest retrospektiv nachvollziehbare) Realität von Erfahrungsaspekten sowie die damit einhergehende Kontinuität von Gruppen in dem Moment in Frage, in dem sie nicht länger medial verfügbar gehalten werden. Jenseits der Verfügbarkeit und der
_____________ 21 Vgl. Susan Sontag: Das Leiden anderer betrachten. München: Hanser 2003, 14. 22 Vgl. Vittoria Borsò : „Einleitung.“ In: Dies. et al. (Hrsg.): Medialität und Gedächtnis. Interdisziplinäre Beiträge zur kulturellen Verarbeitung europäischer Krisen. Stuttgart/Weimar: Metzler 2001, 9-20, 12. 23 Siegfried J. Schmidt: „Medienkulturwissenschaft.“ In: Ansgar Nünning & Vera Nünning (Hrsg.): Konzepte der Kulturwissenschaften. Stuttgart: Metzler 2002, 351-369, 362. 24 Natürlich ist auch diese Frage an gesellschaftliche Machtzusammenhänge gebunden, „sind doch die Materialitäten der Datenspeicherung selbst Teil einer diskursiven Ordnung und ihrer vielfältigen Regularien“. (Stefan Rieger: „Speichermedien.“ In: Pethes & Ruchatz [Hrsg.]: Gedächtnis und Erinnerung [Anm. 3], 550-553, 550f.). 25 Ebd., 551.
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Materialität von Gedächtnismedien hängt ihr Wirkungspotential schließlich auch von rezipientenbezogenen Faktoren ab, also davon, ob den von ihnen vermittelten Informationen überhaupt Glaubwürdigkeit zugesprochen wird. So müssen etwa die medial generierten Vergangenheitsvorstellungen mit kulturell etablierten Deutungsschemata und Wahrnehmungsmustern kompatibel bleiben. Zudem muss auch die Präsentation der tradierten Information bestimmten konventionalisierten Regeln wie Widerspruchsfreiheit oder logischer Vereinbarkeit folgen. Und schließlich muss auch dem Sender oder Produzent (solange nachvollziehbar) Glaubwürdigkeit zugesprochen werden, d.h. er darf sich nicht etwa durch fragwürdige Wertevorstellungen und Zielsetzungen als unzuverlässig diskreditieren. Zusammengefasst stellen sich mit Blick auf das Wirkungspotential von Gedächtnismedien und der damit verbundenen Durchsetzungsfähigkeit spezifischer Vergangenheitskonstruktionen daher folgende Fragen: Wessen Vergangenheit wird medial festgehalten? In welchen Medien wird diese Gedächtnisversion vermittelt? Welchen Gruppen sind welche Medien zugänglich? Wird die Glaubwürdigkeit der medial vermittelten Informationen anerkannt? Und wie werden gesellschaftliche Hierarchisierungen über sozialsystemische Regularien stabilisiert? Die im öffentlichen Raum durch verschiedene mediale Repräsentationen bereitgestellten Erinnerungsanlässe begünstigen eine gesellschaftliche Visibilisierung und damit auch die politische Legitimation eines spezifischen kollektiven Vergangenheits- und Selbstbildes.26 Umgekehrt bedeutet der nur bedingte Zugriff auf Verbreitungsmedien einen Ausschluss vom öffentlichen Diskurs und eine damit verbundene Nichtberücksichtigung der gruppenspezifischen Vergangenheitsreferenzen. Die Nichtbeachtung oder Tilgung von Erinnerungszeichen lässt bestimmte kulturelle Gruppen zu einer gesellschaftlichen Erinnerungsminderheit werden. An die Stelle der eigenen erinnerungssymbolischen Repräsentation treten in diesem Falle oftmals verzerrte oder verkürzte Fremddarstellungen, die nach Maßgabe kulturell dominanter Wirklichkeitsvorstellungen generiert werden.27 Da die identitätsrelevanten Erfahrungen derartiger Erinnerungsminderheiten in der gesellschaftlich dominanten Vergangenheitsrepräsentation unterrepräsentiert sind, bleiben sie für kulturelle Selbstdeutungen und kollektive Vergangenheitsmodelle weitgehend wirkungslos: Die Bedeutung der gruppenspezifischen Erfahrungen und Geschichten kann in der Öffentlichkeit kaum eingefordert werden. Der gesellschaftliche Kampf um Erinnerungshoheit stellt sich hiermit immer auch als ein Kampf um mediale Repräsentation, um das Vertretensein im gesellschaftli-
_____________ 26 In diesem Zusammenhang betont der Gedächtnissoziologe Jeffrey K. Olick („Collective Memory: The Two Cultures.“ In: Sociological Theory 17,3 [1999], 333-348, 338f.): „[A]ccounts of the collective memory of any group or society are usually accounts of the memories of some subset of the group, particularly of those with access to the means of cultural production or whose questions are more highly valued.“ 27 Vgl. Schmidt: „Medienkulturwissenschaft“ (Anm. 23), 362.
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chen Erinnerungsraum dar. Dass und wie gerade literarische Texte zu einem zentralen Ort werden können, an dem der Streit um (mediale) Erinnerungshoheit inszeniert und das Erinnerungspotential bestimmter Medien reflektiert wird, soll im Folgenden erläutert werden.
III. Literatur als Medium der Inszenierung von medialen Erinnerungskämpfen Welche Rolle spielt das Symbolsystem Literatur innerhalb des gesellschaftlichen Streits um mediale Repräsentation der eigenen, partikularen Vergangenheiten, und welche spezifischen Funktionen kann es im Haushalt der Kultur übernehmen? Sollen gesellschaftliche Funktionspotentiale des Mediums Literatur in den Blick gebracht werden, so gilt es, das Hauptaugenmerk auf seine formalen Besonderheiten und strukturellen Merkmale zu lenken. Erst die Fokussierung der distinktiven Form eines Mediums erlaubt es, Aussagen über seine möglichen gesellschaftlichen Funktionsbestimmungen zu treffen.28 Literarische Texte nehmen auf kulturell verfügbare Gedächtniskonzepte und -diskurse ihrer Entstehungszeit Bezug und inszenieren kulturelle Prozesse der Gedächtnisstiftung sowie mediale Erinnerungskonkurrenzen mit narrativen Darstellungsformen. Als produktive, d.h. fiktionale Weise der Welterzeugung29 bringt Literatur auf textinterner Ebene mit genuin literarischen Gestaltungsmitteln imaginative Vergangenheitsmodelle zur Darstellung, illustriert die Modalitäten kollektiver Sinnstiftung und entwirft bestimmte Vorstellungen von der Funktionsweise bestehender Gedächtnismedien. Bei der Schaffung symbolisch-literarischer Alternativwelten rekurrieren literarische Erzähltexte auf diverse Elemente der vorherrschenden mentalen Wissensordnungen sowie materialen Diskurssysteme und bleiben auf diese Weise an ihren außerliterarischen Entstehungskontext zurückgebunden. Trotz fiktionaler Gestaltungsspielräume ist der literarische Text also stets auch kulturell präfiguriert.30 Angesichts dieses produktiven Spannungsverhältnisses zwischen der kulturellen Präfiguration des literarischen Textes einerseits und seiner poietischen Inszenierung alternativer Welten andererseits vermö-
_____________ 28 Es ist jedoch gerade dieser – vor allem für literaturwissenschaftliche Studien – zentrale Aspekte der Form, (vgl. Fluck: Das kulturelle Imaginäre [Anm. 17], 10) der mit S.J. Schmidts Verständnis von Medien als einem systemischen Kompaktbegriff nicht in den Blick zu bekommen ist. Die Materialität des Mediums bezieht sich bei Schmidt nur auf das verwendete Kommunikationsinstrument wie Sprache oder Bild, nicht aber auf spezifische mediale Formen oder Konfigurationen. 29 Vgl. Nelson Goodman: Weisen der Welterzeugung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984 [1978]. 30 Vgl. Hubert Zapf : Literatur als kulturelle Ökologie. Zur kulturellen Funktion imaginativer Texte an Beispielen des amerikanischen Romans. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 2002, 5. Die kulturelle Präfiguration literarischer Texte expliziert Paul Ricœur mit seinem Begriff der Mimesis I. (Paul Ricœur: Zeit und Erzählung. Bd. 1: Zeit und historische Erzählung. München: Wilhelm Fink Verlag 1988 [1983], 90 ff.)
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gen literarische Werke kreative ‚Antworten‘ auf soziokulturelle Herausforderungslagen und Fragestellungen zu offerieren.31 Wie Literatur auf textinterner Ebene das Ringen um mediale Sichtbarkeit inszeniert, wie sie Funktionsweisen von Gedächtnismedien thematisiert und welche Besonderheiten sich hieraus für das Symbolsystem Literatur als Medium der Inszenierung von Erinnerungskämpfen ableiten lassen, soll im Folgenden exemplarisch anhand zweier zeitgenössischer kanadischer Romane, Guy Vanderhaeghes The Englishman’s Boy (1998 [1997]) sowie Michael Ondaatjes Running in the Family (1983) illustriert werden. Vor allem im Kontext der kanadischen Multikultur, in der eine Vielfalt von Gemeinschaften um Erinnerungshoheit konkurriert, können solche Texte nicht nur wichtige Reflexionsfunktionen übernehmen. Durch den literarischen Akt des ‚re-membering‘ können sie überdies einer kulturellen Diversifikation entgegenwirken und damit einer gesellschaftlichen Reintegration den Weg ebnen.32 III.1 Umkämpfte Erinnerungen in The Englishman’s Boy In dem 1997 publizierten Roman The Englishman’s Boy33 werden die gesellschaftliche Pluralisierung kollektiver Erinnerungen und die hiermit verbundene Konkurrenz um historische Definitionsmacht in zeitgenössischen Kulturen zum zentralen Thema. Der multiperspektivisch erzählte Roman legt die Selektionsmechanismen, die der Konstruktion kollektiver Gedächtnisse zugrunde liegen, offen und führt vor Augen, in welchem Maße Vergangenheitsversionen an gruppenspezifische Sinnbedürfnisse geknüpft sind. Die zentrale Rolle, die Medien für die Stabilisierung von Kollektiverinnerungen zukommt, wird durch ein breites Spektrum an intertextuellen und intermedialen Referenzen in den Blick gebracht. Zahlreiche Verweise auf Literatur, Filme und auf historiografische Texte illustrieren, dass die Gedächtnisbildung von kulturell verfügbaren ‚Stützen‘ abhängig ist. Kollektive Gedächtnisbildung wird in The Englishman’s Boy mithin nicht nur inszeniert, sie wird auch als perspektivisches, medial geprägtes und somit von gesellschaftlichen Machtzusammenhängen abhängiges Konstrukt beobachtbar. Die Pluralisierung der kollektiven Gedächtnisbildung resultiert in Vanderhaeghes Roman aus der Auflösung des Geschehens in drei alternierend erzählte
_____________ 31 Vgl. Wilhelm Voßkamp: „Utopie als Antwort auf Geschichte. Zur Typologie literarischer Utopien in der Neuzeit.“ In: Hartmut Eggert et al. (Hrsg.): Geschichte als Literatur. Formen und Grenzen der Repräsentation von Vergangenheit. Stuttgart: Metzler 1990, 273-283; Ansgar Nünning: Von Historischer Fiktion zu Historiographischer Metafiktion. Theorie, Typologie und Poetik des historischen Romans. Trier: WVT 1995; Astrid Erll: Gedächtnisromane. Literatur über den Ersten Weltkrieg als Medium englischer und deutscher Erinnerungskulturen. Trier: WVT 2003. 32 Vgl. zu den Funktionen, die literarische Texte für Kulturen übernehmen können v.a. Zapf: Literatur als kulturelle Ökologie (Anm. 30). 33 Guy Vanderhaeghe: The Englishman’s Boy. London: Anchor 1998 [1997].
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Handlungsstränge. Zum einen wird das vergangene Geschehen von dem IchErzähler Harry Vincent präsentiert, der sich seiner Erfahrungen im Hollywood der 1920er Jahre erinnert. Zweitens werden jene Ereignisse, die im ausgehenden 19. Jahrhundert in dem Cypress Hills-Massaker kulminieren, von einer heterodiegetischen Erzählinstanz und dem als Reflektorfigur auftretenden ‚Englishman’s Boy‘ vermittelt. Drittens werden die Erlebnisse einer Gruppe von Assiniboine Indians ebenfalls heterodiegetisch durch wechselnde Fokalisierungsinstanzen inszeniert. Nicht nur die multiperspektivische Vermittlung des Geschehens, sondern auch die Darstellung der von den konkurrierenden Vergangenheitsversionen genutzten Medien gewähren einen panoramischen Überblick über die synchrone und diachrone Erinnerungsvielfalt und ihren jeweiligen medialen Repräsentationsmöglichkeiten. Der mittlerweile in seine Heimat Kanada zurückgekehrte Ich-Erzähler Vincent arbeitet in den 1920er Jahren als Drehbuchautor für den amerikanischen Filmproduzenten Damon Chance. In der Absicht, an die originäre Quintessenz der amerikanischen Identität zu erinnern, plant Chance die Produktion eines Filmepos, das die Geschichte der Besiedlung des amerikanisch-kanadischen Westens aufarbeiten soll: „‚I intend to make the American Odyssey. The story of an American Odysseus, a westerer, a sailor of the plains, a man who embodies the raw vitality of America.‘“34 Der gealterte Cowboy Shorty McAdoo soll als Zeitzeuge das ‚authentische‘ Rohmaterial für den Film liefern. Nur widerwillig gibt McAdoo Einblick in die desillusionierende Geschichte seiner Jugend: Es ist die Geschichte des folgenreichen Cypress Hills-Massakers, das sich 1873 in der heutigen Grenzregion zwischen Kanada und den USA zutrug. Im Zentrum des zweiten Handlungsstrangs stehen die heterodiegetisch inszenierten Erfahrungen eines aus England stammenden Jungens in der nordamerikanischen Prärie. Dieser sieht sich nach dem Tod seines Reisebegleiters dazu gezwungen, sich einigen korrumpierten europäischen Wolfsjägern, so genannten ‚wolfers‘ anzuschließen. In der Überzeugung, dass ihre Pferde von natives gestohlen wurden, reiten die Jäger in die nördlichen Prärien, um Rache zu nehmen. In einem brutalen Kampf, der später als das Cypress Hills-Massaker in die Geschichte eingehen wird, töten sie mehr als 30 Assiniboine Indians, verwüsten deren Siedlung und vergewaltigen ein junges Mädchen. Der Verlauf dieser desillusionierenden Erzählung legt sukzessiv offen, dass der in das Massaker involvierte Jugendliche, ‚the Englishman’s Boy‘, identisch ist mit dem alternden Cowboy McAdoo, der Vincent seine Geschichte erzählt. Der Filmproduzent Damon Chance hat wenig übrig für die Enthüllungen des infamen Verhaltens der europäischen Pioniere. Da er den amerikanischen Gründungsmythos kontinuieren und das historisch etablierte Bild des zivilisationsbrin-
_____________ 34 Ebd., 110.
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genden Siedlers stabilisieren möchte, entschließt er sich kurzerhand dazu, McAdoos Erinnerungen gemäß seiner Sinnbedürfnisse und ideologischen Relevanzkriterien umzuschreiben. Gleich einem – wie sein Name impliziert – ‚Dämon historischer Kontingenz‘ spart er jede Referenz auf die Vergewaltigung sowie auf die den Assiniboine zugefügten Brutalitäten aus. Sein filmisches Epos perpetuiert hiermit eine von Schuld bereinigte Vergangenheitsdeutung, die der Konstruktion einer ebenso ethnisch exklusiven wie selbstlegitimierenden amerikanischen Kollektividentität den Weg ebnet. Die Filmversion tritt somit in einen medialen Wettstreit zu der Vergangenheitserzählung McAdoos: Beide streben nach gesellschaftlicher Dominanz und verschlingen sich im Kampf um historische Deutungshoheit. Diese beiden Vergangenheitsversionen werden in Vanderhaeghes Roman von einer dritten umrahmt, den Erfahrungen einer Gruppe von Assiniboine Indians. Ihre Vergangenheitsdeutung, die sie in Narrationen ebenso wie in Zeichnungen festhalten, erinnert u.a. an einen Triumph über einige europäische Pioniere, nämlich an den geglückten Diebstahl einer Pferdeherde. Da diese Natives offensichtlich nicht mit der beim Massaker vollständig ermordeten Gruppe identisch sind, wird die Rache der Händler als völlig willkürlicher Gewaltakt entlarvt. Zugleich deckt diese Gedächtnisversion einen weiteren, bislang ungekannten Aspekt der Ereignisse auf und veranschaulicht so wiederum die Selektivität der beiden zuvor präsentierten Vergangenheitsdeutungen. Durch das Verfahren der Multiperspektivität entsteht ein Geflecht von sich widersprechenden und einander relativierenden Vergangenheitsperspektiven, die um Erinnerungsvorherrschaft konkurrieren. Die inszenierten Kollektivgedächtnisse werden auf diese Weise als zweckgerichtete, auf die Herstellung einer „usable past“35 ausgerichtete Konstrukte ausgewiesen, die nicht nur gemäß gruppenspezifischer Deutungsmuster und Identitätsmodelle geformt werden, sondern diese umgekehrt auch stabilisieren sollen. Verdeutlicht die multiperspektivische Erzählstruktur die Gebundenheiten von Vergangenheitskonstruktionen an individuelle Voraussetzungssysteme, so bringt das Spektrum an inszenierten Gedächtnismedien die mediale Verfasstheit von Vergangenheitsversionen sowie medienspezifische Bedingungen der Erinnerungstradierung zur Darstellung. Die intermedialen Referenzen auf mündliche Erinnerungserzählungen, Filme und Bilder veranschaulichen die Heterogenität der Gedächtnismedien, derer sich Gruppen zur Stabilisierung ihrer Vergangenheiten bedienen und die in einer bestimmten Erinnerungskultur koexistieren. Sichtbar wird so nicht nur die Konstruktivität der Gedächtnismedien und ihr wirklichkeitskonstituierender Charakter, der bestimmte Erfahrungsaspekte allererst
_____________ 35 Vgl. Lois Parkinson Zamora: The Usable Past. The Imagination of History in Recent Fiction of the Americas. Cambridge: Cambridge UP 1997.
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intersubjektiv vermittelbar und damit auch gesellschaftlich wirkfähig macht.36 Deutlich wird darüber hinaus auch, in welchem Maße bereits die Materialität von Gedächtnismedien – gesprochene Sprache, cinematografische und zeichnerische Bildlichkeit – über die Selektion der spezifischen Inhalte bestimmt: Während die Erzählung ebenso wie die darstellenden Zeichnungen an den partikularen Erfahrungshorizont ihrer Gedächtnisträger gebunden bleiben, überschreitet das Medium des Films diese Partikularität und beansprucht im kulturellen Fernhorizont überzeitliche Validität für ein gesamtamerikanisches Erinnerungskollektiv. Dass von der Materialität der Medien schließlich auch das gesellschaftliche Erinnerungspotential, die Nachhaltigkeit und Flüchtigkeit der jeweiligen Gedächtnisversion abhängt, veranschaulichen Harry Vincents Überlegungen. Jahre später reflektiert der von Hollywood enttäuschte Drehbuchautor über seine vergangenen Erfahrungen und wirft die Frage auf, was denn nun von der Geschichte der Besiedlung des Westens übrig geblieben sei. Seine Überlegungen zeigen, dass die durch MacAdoos Erzählung zutage gebrachte, brutale Vorgehensweise der Siedler im Rahmen des Cypress Hills-Massakers keinen Eingang in das gesellschaftlich dominante Kollektivgedächtnis der USA oder Kanadas gefunden hat: Shorty’s story fared no better in the history books I consulted when I got back home to Canada. Searching them, I found a sentence here, a paragraph there. [...] For a brief time the Cypress Hills Massacre had its day in the sun; members of Parliament rose in the House, hotly denouncing the wolfers as American cutthroats, thieves, and renegades. Nobody seemed to mention that among them were Canadian cutthroats, too.37
Offensichtlich erfuhren weder die mündliche Erzählung MacAdoos noch die der autochthonen Bevölkerung eine größere gesellschaftliche Verbreitung. So hatten diese Gedächtnisversionen kaum eine Chance, die hegemoniale Legitimitätserzählung des noblen Siedlers, wie sie auch durch solche patriotischmanipulativen Filmproduktionen erzeugt und aufrechterhalten wird, in Zweifel zu ziehen. Mit der literarischen Darstellung der Pluralität von kollektiven Gedächtnissen illustriert Vanderhaeghes Erinnerungsroman also nicht nur das agonale Moment heutiger Kultur im Streit um Erinnerungen. Vielmehr verdeutlicht er auch, dass die gesellschaftliche Visibilität und Durchsetzungsfähigkeit der gruppenspezifischen Gedächtnisversionen maßgeblich von ihrer jeweiligen Medialität abhängt. Welche allgemeinen Merkmale lassen sich aus diesen Darstellungen für das Symbolsystem Literatur als Medium der Inszenierung von medialen Erinnerungskonflikten ableiten? Texte des Symbolsystems Literatur zeichnen sich typischer-
_____________ 36 Vgl. Vanderhaeghe: The Englishman’s Boy (Anm. 33), 26f. 37 Ebd., 309.
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weise durch ihre Interdiskursivität38, Intertextualität sowie -medialität aus. Ihr spezifisches Leistungsvermögen scheint daher darin zu liegen, dass sie auf die Gesamtheit aller verfügbaren, auch widersprüchlichen Diskurse der extratextuellen Erinnerungskultur zurückgreifen und diese im Medium der Fiktion in einen Dialog treten lassen können. Qua intertextuellen und intermedialen Referenzen können sich literarische Texte zudem verschiedenartige, um Deutungshoheit konkurrierende Gedächtnismedien aneignen und hiermit Besonderheiten der materialen Dimension von Erinnerungskulturen beobachtbar machen. Durch diese bewussten Selektionsentscheidungen treten die jeweiligen textuellen Bezugsfelder exponiert in Erscheinung und werden so in ihrer spezifischen Ausprägung hinterfragbar.39 In diesem Sinne entwirft Vanderhaeghes Roman ein Panorama der Vielfalt an verfügbaren Medien des kollektiven Gedächtnisses: Gedächtnisinhalte, wie sie in Filmen, mündlichen Erzählungen oder Zeichnungen erinnert werden, gelangen zur Darstellung, ihre gesellschaftliche Durchsetzungsfähigkeit im Streit um Erinnerungen wird kritisch reflektiert. Durch Selektionsentscheidungen bringen literarische Texte spezifische Erinnerungen und ihre medialen Vermittlungsformen keineswegs beliebig zur Darstellung. Vielmehr restrukturieren sie kulturelle Erfahrungs- und Wahrnehmungsweisen durch Strategien der textuellen Konfiguration und lenken damit die rezipientenseitige Signifikation und Aneignung des Erzählten in bestimmte Bahnen.40 Der literarische Text lässt unterschiedlichste, medial vermittelte Erinnerungsdiskurse in ein Verhältnis der wechselseitigen Beeinflussung und Perspektivierung treten und erprobt so spielerisch die Tragfähigkeit bestehender ebenso wie neuer Gedächtnismodelle. In The Englishman’s Boy werden durch die Gegenüberstellung von MacAdoos Erinnerungserzählung mit der gesellschaftlich dominanten Gedächtnisversion – wie von Chances Hollywoodproduktion generiert – deren blinde Flecke, Verzerrungen und Ausschlusskriterien offen gelegt. Durch die Kontrastierung der Erzählung – die auch prekäre Vergangenheitsaspekte fokussiert und damit Vollständigkeit reklamiert – mit der beschönigenden Filmversion, die mittels bildlicher Prägekraft auf eine rein zweckgerichtete Vergan-
_____________ 38 Vgl. Jürgen Link: „Literaturanalyse als Diskursanalyse. Am Beispiel des Ursprungs literarischer Symbolik in der Kollektivsymbolik.“ In: Jürgen Fohrmann & Harro Müller (Hrsg.): Diskurstheorien und Literaturwissenschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, 284-307. 39 Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Hermeneutik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993 [1991], 24. 40 Dass die textuelle Konfiguration immer schon eine Interpretation des Erzählten ist, durch die bestimmte Segmente aufgrund ihrer Relationierung zu anderen als sinnhaft verstanden werden, verdeutlicht etwa Donald E. Polkinghorne („Narrative Psychologie und Geschichtsbewußtsein: Beziehungen und Perspektiven.“ In: Jürgen Straub [Hrsg.]: Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein: Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, 12-45) in seinem Ansatz zur narrativen Psychologie.
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genheitsdeutung setzt,41 wird letztere als unzulänglich desavouiert. Der Authentizitäts- und Deutungsanspruch der unterschiedlichen Medien wird durch ihre narrative Konfiguration und diskursive Perspektivierung mithin hierarchisch klassifiziert: So schafft die spezifische Weise der narrativen Zusammenführung der beiden Gedächtnisversionen die Voraussetzung dafür, das Erinnerungspotential der filmischen Vergangenheitsdeutung zu diskreditieren und im Gegenzug dem kulturell Marginalisierten und medial wenig Wirkungsmächtigen Erinnerungsrelevanz zu verleihen. Das Leistungspotential von literarischen Texten beschränkt sich nicht darauf, verschiedenartige Gedächtnismedien und ihre bereits aktualisierten Inhalte einander gegenüberzustellen und in neue Zusammenhänge zu überführen. Literarische Werke können auch solche Gedächtnisinhalte inszenieren, die etwa angesichts medialer Zensuren gesellschaftlich in Vergessenheit geraten sind. Wie dies geschehen kann und welche gedächtnistheoretischen Implikationen sich hieraus für das Medium Literatur ergeben, soll im Folgenden anhand von Michael Ondaatjes autobiografisch inspirierter Familiensaga Running in the Family (1983) beleuchtet werden. III.2 Running in the Family: Literarische Reflexionen der Fragilität von Gedächtnismedien Ebenso wie in The Englishman’s Boy werden auch in Running in the Family die kollektive Gedächtnisbildung und -tradierung nicht nur narrativ inszeniert, sondern auch zum Gegenstand einer kritischen Reflexion. Indem die gesellschaftlichen Medien, die kollektive Gedächtnisse konstituieren, dargestellt werden, treten hier Funktionsweisen und Probleme, die mit der medialen Vermittlung und Stabilisierung von Gedächtnisinhalten verbunden sind, in den Vordergrund. Mit der Akzentuierung der materialen Apriori der Speicherung sowie der Inszenierung von Zerfallsprozessen zieht der Roman übliche Vorstellungen des positiven, stabilitätsgewährenden Leistungsspektrums von Gedächtnismedien in Frage und lenkt das Augenmerk auf ihren ephemeren Charakter. Running in the Family bietet so Anlass, über die Selektivität, Manipulation und politische Funktionalisierung von Gedächtnismedien zu reflektieren und Ausschlusskriterien sowie damit verbundene Vereindeutigungsversuche des gesellschaftlich dominanten Kollektivgedächtnisses zu hinterfragen.
_____________ 41 Vgl. zu dem Erinnerungspotential von Filmen im Vergleich zu Erzählungen folgende metamedialen Reflexionen: „[Images] burn themselves in the mind. Because there’s no arguing with pictures. [...] A book invites argument, invites reconsideration, invites thought. A moving picture is beyond thought. Like feeling, it simply is.“ (Vanderhaeghe: The Englishman’s Boy [Anm. 33], 109)
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Die Einsicht in die Unverfügbarkeit von zentralen Komponenten seiner eigenen Geschichte wird für den mittlerweile in Kanada lebenden Erzähler Michael zum Anlass, in seine Heimat Ceylon (das heutige Sri Lanka) zu reisen, um dort in einen Dialog mit seiner Vergangenheit zu treten.42 In Ceylon beginnt eine fast manische Suche nach Erinnerungsspuren, die ihm nicht nur Facetten seiner eigenen verstrickten Vergangenheit, sondern auch die ebenso komplexe Geschichte seines Heimatlandes nahe bringen. In zahlreichen Gesprächen und vor allem durch das Heranziehen vielfältiger Medien des Gedächtnisses versucht er dem Rätsel seiner Vergangenheit auf den Grund zu gehen und auf der Basis der zutage gebrachten Erinnerungsfragmente seine autobiografische Selbstmodellierung voranzutreiben. Michaels Bezugnahmen auf Gedächtnismedien tragen allerdings weniger zu einer unproblematischen, epistemologische und temporale Differenzen überbrückenden Exploration vergangener Ereigniszusammenhänge bei. Sie bringen ihm vielmehr immer wieder die Grenzen der medialen Vergangenheitsvermittlung zu Bewusstsein. An die Stelle von Kontinuitätsstiftung und Selbstvergewisserung treten so unüberwindbaren Frakturen, Leerstellen und kulturelle Destabilisierungen. Medien des kollektiven Gedächtnisses sind natürlichen Zerfallsprozessen, willentlicher Zerstörung, bewussten Manipulationen ausgesetzt und folglich alles andere als beständige und zuverlässige Speicher vergangener Realität. Es scheint, als führe die Natur gleichsam einen Krieg gegen stabilisierende Erinnerungstechniken: Historische Dokumente und Zeugnisse sind unter den Witterungsverhältnissen Ceylons einem schier unaufhaltsamen Verfall ausgeliefert; Fotos und Kirchenurkunden werden von Silberfischen zersetzt;43 und Zeitungsausschnitte fallen auseinander wie „wet sand“44. Selbst in Stein gemeißelte Inskriptionen bieten keine Möglichkeit, den Zerfallsprozessen und dem unaufhaltsamen Vergessen zu trotzen: So ist eine auf dem Boden der St. Thomas-Kirche eingravierte Inschrift, von der sich Michael Aufschluss über seine familiäre Genealogie erhofft, nahezu bis zur Unlesbarkeit entstellt: „The slab was five feet long, three feet wide, a good portion of it had worn away.“45 Die von den verwitterten Grabsteinen auf Briefumschlägen notierten Namen und Daten seiner Familienge-
_____________ 42 Vgl. Michael Ondaatje: Running in the Family. London: Picador 1983, 22. Die durch den Namen des Erzählers suggerierte Gleichsetzung mit dem realen Autor Michael Ondaatje ist vor dem Hintergrund der für diese fiktionale Autobiografie kennzeichnenden Genreüberschreitungen und einer damit verbundenen, selbstreflexiven Problematisierung der Grenzen zwischen Fakt und Fiktion zu verstehen. Zu einer Problematisierung des Verhältnisses zwischen Autor und Erzähler in dieser Familiensaga vgl. Sonia Snelling: „‚A Human Pyramid‘: An (Un)Balancing Act of Ancestry and History in Joy Kogawa’s Obasan and Michael Ondaatje’s Running in the Family.“ In: The Journal of Commonwealth Literature XXXII,1 (1997), 21-33. 43 Ondaatje: Running in the Family (Anm. 42), 136. 44 Ebd., 69. 45 Ebd., 66.
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schichte transkribiert der Erzähler in sein Notizbuch. Die Vergegenwärtigung des Vergangenen hinterlässt zwar ihre Spuren – und dies nicht nur im autobiografischen Bewusstsein des Erzählers, sondern auch an dessen Händen; allerdings ist diese Stofflichkeit ebenso ephemer und fragil, wie auch die übrige Palette an Gedächtnismedien: „When I finish there will be that eerie moment when I wash my hands and see very clearly the deep grey colour of old paper dust going down the drain.“46 Das Vergangene zerfällt zu Staub und entschwindet endgültig im Ausguss. Mit dem beschleunigten Verfall und dem damit einhergehenden kollektiven Vergessen kündigt sich bereits die Auflösung von Michaels eigenem Gedächtnismedium, seinem autobiografischen Roman an: „In the bathroom, ants had attacked the novel thrown on the floor by the commode. A whole battalion was carrying one page away from its source, carrying the intimate print“.47 Es ist Seite 189, die den Ameisen zum Opfer fällt, und es ist Seite 189 des Romans, auf welcher diese Episode geschildert wird. Michaels Versuch, durch die Niederschrift der individuellen und kollektiven Vergangenheit identitätsstiftende Stabilität und Kontinuität zu gewähren, wird ins Gegenteil gekehrt und so zum Symbol der Fragmentierung und des Vergessens. Alle Versuche, die instabile und changierende Qualität der individuellen Erinnerung durch den Rückgriff auf Gedächtnismedien zu kompensieren, laufen angesichts ihrer mindestens ebenso konstitutiven Flüchtigkeit ins Leere. Gedächtnismedien tragen in diesem Fall nicht zu einer sinn- und identitätsstiftenden Aneignung von vergangener Realität bei, sondern werden im Gegenteil zum Signum von kultureller Diskontinuität und identitärer Destabilisierung. Die kulturelle Weitergabe von Erinnerungen ist jedoch nicht an die Materialität ihrer Speicherung, sondern auch und vor allem an institutionelle Bedingungen, politische Machtzusammenhänge und Funktionalisierungsversuche geknüpft. Running in the Family stellt die fragile und prinzipiell unzuverlässige Natur von Gedächtnismedien schließlich auch durch die Möglichkeit ihrer bewussten Verfälschung sowie ihrer Tilgung aus dem öffentlichen Diskurs heraus. So wird etwa die Wiederwahl Sir John Kotelawalas zum Premierminister Ceylons in den 1930er Jahren durch die Veröffentlichung von kompromittierenden, von der Opposition manipulierten Fotos vereitelt. Dass die Offenlegung der Unzuverlässigkeit dieses Gedächtnismediums unmittelbar vor der direkten Integration eines für Michaels Vergangenheitsexploration zentralen Familienfotos erfolgt, stellt auch dessen Authentizitätsanspruch nachhaltig in Frage. Spuren, die an den ceylonesischen Volksaufstand im Jahre 1971 erinnern, werden von der ceylonesischen Regierung einfach ausgelöscht. Nach der geschei-
_____________ 46 Ebd., 68. 47 Ebd., 189.
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terten Rebellion, bei der vor allem junge Menschen für eine Umverteilung der ländlichen Besitzverhältnisse kämpften, interniert die Regierung unzählige Verdächtige in der Universität von Ceylon. Ihren Ängsten, Hoffnungen und ihrem Protest verleihen die Insurgenten in zahlreichen, auf den Wänden der Universität niedergeschriebenen Gedichten Ausdruck: „When the university opened again the returning students found hundreds of poems written on walls, ceilings, and in hidden corners of the campus.“48 Unmittelbar nach der Wiedereröffnung der Universität werden die auf diese bedenkliche Episode der ceylonesischen Kollektivvergangenheit verweisenden Erinnerungszeichen ausgelöscht und so dem institutionell auferlegten Vergessen anheim gegeben: Die Protestlyrik wird von der ceylonesischen Regierung übermalt, „covered with whitewash and lye“49, quasi ersetzt durch Lüge, „die sich als Homonym in ‚lye‘ verbirgt“50. Zwar gelingt es einigen Studenten die Gedichte zu transkribieren, ihre Veröffentlichung und gesellschaftliche Proliferation wird jedoch durch Zensurmaßnahmen der ceylonesischen Regierung bewusst unterbunden. Auch diese Episoden illustrieren, dass Gedächtnismedien, selbst so scheinbar objektiv-referentielle wie Fotografien, alles andere als zuverlässige Träger vergangener Realität sind: Sie können bewusst verfälscht oder zerstört und damit als wirkungsvolles erinnerungssymbolisches Machtinstrument im gesellschaftlichen Streit um Deutungshoheit funktionalisiert werden. Die Inszenierung und Reflexion der erinnerungspolitischen Strategien veranschaulicht zudem, dass Gesellschaften und Kulturen keineswegs Beliebiges archivieren. Die Frage, was bzw. wessen Erinnerungen festgehalten werden, hängt vielmehr von politischen Interessen, diskursiven Wissensordnungen und kollektiv aspirierten Selbstbildern ab. Durch die Tilgung von öffentlichen Erinnerungsreferenzen können solche Vergangenheitsdeutungen, die nicht im Einklang mit der hegemonialen Legitimitätserzählung stehen, dem angeordneten Vergessen preisgeben werden. Mit der Offenlegung der Modalitäten kollektiver Erinnerungstradierung bzw. der Durchsetzungsfähigkeit bestimmter Vergangenheitsversionen bietet Running in the Family somit Anlass, die mediale Verfasstheit von Kollektivgedächtnissen und damit verbundene Ausschlussmöglichkeiten zu hinterfragen: So sind für den Einzelnen nur solche Erinnerungen an die überindividuelle Vergangenheit möglich, für die die Kultur entsprechende äußere Stützen zur Verfügung stellt: „There is so much to know and we can only guess.“51 Running in the Family reflektiert aber nicht nur die Probleme, die sich aus der Angewiesenheit des Kollektivgedächtnisses auf Medien ergeben; der Roman
_____________ 48 Ebd., 84. 49 Ebd. 50 Wolfgang Werth: Kontingenz und Alterität. Kategorien historischer Erfahrung in der anglo-amerikanischen Literatur und bildenden Kunst (Bruce Chatwin und Michael Ondaatje). Heidelberg: Winter 2003, 158. 51 Ondaatje: Running in the Family (Anm. 42), 200.
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beleuchtet nicht nur blinde Flecke bestehender Gedächtnisversionen. Indem er Reminiszenzen an die vergessenen und verdrängten Geschichten der ceylonesischen Rebellen narrativ evoziert, legt Ondaatjes Roman zugleich den (medialen) Grundstein für deren gesellschaftliche Erinnerbarkeit und Reaktualisierung. Auch diese Inszenierung von kulturell vergessenen oder marginalisierten Erfahrungsaspekten stellt ein wesentliches Leistungspotential des Mediums Literatur dar: Literarische Texte können bei ihrer Gedächtniserzeugung auch auf solche Erinnerungen zurückgreifen, die – wie im Falle von Running in the Family – durch kulturelle Erinnerungs- und Vergessenspolitiken gezielt unterdrückt werden. Durch die Inszenierung der verdrängten Geschichten der ceylonesischen Insurrektion und durch ihre fiktionale Zusammenführung mit kulturell aktualisierten und akzeptierten Erinnerungen – wie der bewegten Kolonialgeschichte Ceylons – stattet Ondaatjes Roman das Vergessene mit kollektiver Erinnerungsrelevanz aus und schafft so die Voraussetzung für die Remodellierung bestehender Gedächtnisversionen.
IV. Literatur als Medium kollektiver Erinnerungen Von der textinternen Inszenierung medialer Erinnerungskonflikte zur gesellschaftlichen Wirksamkeit von Literatur als Medium der Erinnerungskultur, das diesen Streit um Erinnerungen mitgestaltet, ist es nur ein kleiner Schritt. Da literarische Darstellungen erst im Rezeptionsakt zu ihrer vollen Entfaltung kommen, weisen sie letztlich immer schon über eine rein textimmanente Betrachtungsweise hinaus. Literarische Texte können gerade angesichts ihrer formalen Besonderheiten, die sie als eine produktive, poietische Weise der Gedächtniskonstruktion ausweisen, zum Teil der Erinnerungskultur werden und so in den medialen Erinnerungskampf eingreifen: Durch die aufgezeigte Reintegration verschiedener Erinnerungsdiskurse, durch die Reaktualisierung vergessener oder marginalisierter Erfahrungen, durch die kritische Reflexion von Prozessen der Gedächtnisbildung sowie durch die vielfältigen Möglichkeiten der rezipientenseitigen Aneignung erfüllt Literatur zentrale Funktionen innerhalb der Erinnerungskultur. Die Inszenierung alternativer Gedächtnisversionen und die Akzentuierung der Bedeutung von Medien für die Vermittlung von Kollektivvergangenheiten schafft die Voraussetzung für eine rezipientenseitige Neuperspektivierung der außerliterarischen Erinnerungskultur. Durch die Zusammenführung kulturell getrennter Erinnerungsperspektiven, wie sie in verschiedenen Gedächtnismedien memoriert werden, sowie die Darstellung vergessener Aspekte der Kollektivvergangenheit machen literarische Texte vorherrschende Vergangenheitsversionen hinterfragbar und bieten alternative Vorstellungen von der Funktionsweise von Erinnerungskulturen an. In diesem Prozess vergegenwärtigt Literatur nicht nur das Vergessene bzw. medial Unverfügbare, macht es erinnerbar und stattet es so mit subversiver Gegenmacht zu bestehenden Gedächtnisversionen aus. Vielmehr
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verleiht sich der literarische Text in diesem Prozess selbst Deutungsanspruch: Indem er blinde Flecke bestehender Gedächtnisversionen aufzeigt und diese zugleich im Medium der Fiktion inszeniert, behauptet er seinen eigenen Legitimitätsanspruch und reklamiert für sich gesellschaftliche Erinnerungsrelevanz. Zudem kann Literatur sowohl die Prozesse der extraliterarischen als auch der eigenen, innerliterarischen Gedächtnisbildung reflektieren, medienspezifische Besonderheiten extrapolieren und so zu einer kritischen Wahrnehmung ihrer Leistungen beitragen. Literarische Texte sind folglich nicht nur ein bedeutsames Medium der Inszenierung von medialen Erinnerungskonflikten. Sie können auch – durch die Desavouierung bestimmter Gedächtnismedien und die Autorisierung anderer – auf diesen Konflikt zurückwirken und mithin selbst zum bedeutsamen Medium des kollektiven Gedächtnisses werden. Gerade für die kanadische Multikultur, die zwar am Ideal des Mosaiks ausgerichtet ist, aufgrund bestehender Hierarchien jedoch immer häufiger als ‚vertikales Mosaik‘ konzipiert und kritisiert wird, können die besprochenen Werke zentrale Funktionen übernehmen.52 Texte wie Running in the Family können angesichts ihres ausgeprägten Reflexionspotentials rezipientenseitig dazu anregen, die Bedingungen der Durchsetzungsfähigkeit von marginalisierten Vergangenheitsversionen kritisch zu hinterfragen. Zudem können Romane wie The Englishman’s Boy, die das kulturell dominante Kollektivgedächtnis mit marginalisierten Erinnerungsversionen in einen Dialog treten lassen, einen Beitrag dazu leisten, die in Kanada weitgehend tabuisierte Dezimierung der autochthonen Bevölkerung erinnerbar zu machen und hiermit den Anstoß für eine Modifikation des Verhältnisses zwischen Erinnerungsmehrheit und -minderheit bilden. Durch die in The Englishman’s Boy realisierte Zusammenführung von unterschiedlichen Erinnerungsversionen wird herkömmlichen Deutungsschablonen der Westexpansion zudem ein innovatives Interpretationsmodell entgegengestellt. In dem Maße, in dem dieses nicht auf Ausschluss, sondern auf Integration angelegt ist, liefert Vanderhaeghes Roman nicht zuletzt ein Modell für eine pluralistische Erinnerungskultur, die der faktischen Vielfalt an Erinnerungen gerecht wird und somit zu einem gemeinschaftsstiftenden ‚re-membering‘ beitragen kann. Welche konkreten Funktionen fiktionale Texte im Haushalt der Erinnerungskultur übernehmen, lässt sich allerdings nur zum Teil aus ihrer jeweiligen textuellen Konfiguration ableiten. Zwar liefern literarische Texte durch die Gesamtheit ihrer „inneren Gesetze“53 „Anweisungen“54 zu ihrer Dechiffrierung, diese können von RezipientInnen allerdings „schöpferisch“55 ausgeführt werden.
_____________ 52 Vgl. zu diesem Aspekt v.a Smaro Kamboureli: Scandalous Bodies. Diasporic Literature in English Canada. Oxford: Oxford UP 2000. 53 Ricœur: Zeit und Erzählung ( Anm. 30), 88. 54 Ebd. 55 Ebd., 122.
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Literarische Texte zeichnen sich typischerweise durch ihre Vieldeutigkeit aus, so dass im tatsächlichen Rezeptions- bzw. Decodierungsprozess jeweils nur bestimmte Aspekte aktualisiert werden.56 Wie andere erinnerungsrelevante Bezugspunkte können daher auch literarische Texte von verschiedenen Gruppen gemäß spezifischer Deutungsmuster angeeignet werden. Literarische Werke haben hiermit als Medium kollektiver Erinnerung weder überzeitliche noch eine für alle Mitglieder einer Gesellschaft gleichermaßen gültige Relevanz. Vielmehr übernehmen sie für unterschiedliche soziale Gruppen ganz verschiedene Funktionen. Ob ein literarischer Text von einer Gemeinschaft affirmativ, d.h. als Bestätigung ihrer Vergangenheitsauslegung, oder subversiv, also als Inszenierung von Gegenerinnerungen gelesen wird, hängt daher nicht nur von inhaltlich-formalen Aspekten ab, sondern auch von soziokulturellen Kontexten sowie Rezeptionspraxen. Hinzu kommt, dass natürlich auch Literatur in sozialsystemische Zusammenhänge eingebettet ist und ihre Rezeption von gesellschaftlichen Formen der Institutionalisierung wie die Verleihung von Literaturpreisen und anderen Kanonisierungsprozessen gesteuert werden kann.57 Auch die Deutung literarischer Texte und ihre potentielle kulturelle Wirksamkeit unterliegen damit dem gesellschaftlichen Streit um Erinnerungen.
_____________ 56 Vgl. zu dem soziokulturell variabel aktualisierbaren Sinnüberschuss des Mediums Literatur Jahraus: Literatur als Medium (Anm. 13), 92. 57 Zu Recht macht Schmidt („Medienkulturwissenschaft“ [Anm. 23], 355) daher auf die Fragwürdigkeit von textimmanenten Interpretationen aufmerksam, da „Medienangebote weder autonom sind, noch ihre semantische Lesart durch kognitiv autonome Aktanten linear steuern können“.
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Kulturspezifische Inszenierungen kollektiver Gedächtnismedien in autochthonen Literaturen Kanadas: Alootook Ipellies Arctic Dreams and Nightmares und Ruby Slipperjacks Weesquachak and the Lost Ones I. Fragestellung und Zielsetzung Kollektives Gedächtnis und kulturelle Erinnerung1 sind immer in ein kulturspezifisches Bedeutungsgewebe eingebettet. Beide Phänomene sind unmittelbar an Medialität gebunden. Gedächtnis und Erinnerung werden sowohl auf kollektiver Ebene durch Medien konstruiert als auch durch eben diese mediale Formung beobachtbar und intersubjektiv verhandelbar. Als Medium der Externalisierung kollektiv relevanter Gedächtnisinhalte spielt die Literatur in der Kultur eine zentrale Rolle. Sie ist eine materiale Objektivation des kollektiven Gedächtnisses und übernimmt aufgrund ihres spezifischen textuellen Wirkungspotentials vielfältige gesellschaftliche Funktionen.2
_____________ 1 ‚Kollektives Gedächtnis‘ wird im vorliegenden Zusammenhang als ein Oberbegriff für den Gesamtkomplex möglicher Relationen von kollektiven Gedächtnis- und Erinnerungsphänomenen und ihrer sozialen und kulturellen Kontexte verstanden. Vgl. die Begriffsklärungen in der Einleitung dieses Bandes. Der Begriff ‚kulturelle Erinnerung‘ verweist stärker auf den Aktualisierungsprozess kulturell geprägter Inhalte des kollektiven Gedächtnisses im Rahmen des Erinnerns. 2 Zum Verhältnis zwischen literarischen Texten und dem kollektivem Gedächtnis einer Erinnerungskultur vgl.: „Die materiale Dimension des kollektiven Gedächtnisses konstituieren Medien. Wie etwa Aby Warburg sowie Aleida und Jan Assmann im Rahmen recht unterschiedlicher Theorieentwürfe gezeigt haben, können Inhalte des kollektiven Gedächtnisses erst durch Kodierung in kulturellen Objektivationen – Texte, Monumente, Riten, usw. – aus dem Kommunikationszusammenhang begrenzter und vergänglicher sozialer Gruppen gelöst, über raum-zeitliche Grenzen hinweg gespeichert und schließlich wiederaufgenommen werden.“ (Astrid Erll: „Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen.“ In: Ansgar Nünning & Vera Nünning [Hrsg.]: Konzepte der Kulturwissenschaften. Stuttgart: Metzler 2003, 156-186, 177.) Im Rahmen der Kultursemiotik werden Texte zu den Artefakten gerechnet: „Wenn etwas ein Artefakt ist und in einer Kultur nicht nur eine Funktion hat, sondern auch ein Zeichen ist, das eine codierte Botschaft trägt, so wird es in der Kultursemiotik als ‚Text dieser Kultur‘ bezeichnet.“ (Roland Posner: „Kultursemiotik.“ In: Ebd., 39-73, 51) Zur Unterscheidung zwischen den sozialen (Institutionen, Rituale), materialen (Artefak-
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Das Verhältnis zwischen Literatur und deren Erinnerungskultur lässt sich als Interdependenzrelation beschreiben: Einerseits ermöglichen literarische Texte als Manifestationsformen kultureller Erinnerungsprozesse Einblicke in kollektive Sinn- und Realitätskonstruktionen, d.h. in die mentale Dimension des kollektiven Gedächtnisses. Andererseits können literarische Inszenierungen3 kollektives Gedächtnis aktiv mitformen. So verfügen sie beispielsweise über das Funktionspotential, durch ihre Rezeption zur Konstruktion und Stabilisierung, aber auch zur Destruktion von Identitätsentwürfen einer Erinnerungskultur beizutragen: Individuelle wie auch kollektive Identitätskonzeptionen konstituieren sich durch die (Re)konstruktion von (kultureller) Erinnerung.4 Aus dem Spektrum der vielfältigen Interrelationen zwischen einer Kultur und ihren literarischen Texten werden im Hinblick auf Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses im Folgenden zwei Ebenen der medialen Vermitteltheit fokussiert: Erstens können auf innertextueller Ebene kulturspezifische Medien des kollektiven Gedächtnisses mit literarischen Formen inszeniert werden. Die zweite Ebene bildet der literarische Text selbst, der durch seine gesellschaftliche Rezeption zum Medium des kollektiven Gedächtnisses werden kann. In diesem Kontext stehen Fragestellungen nach den jeweiligen – beispielsweise identitätsstabilisierenden – Funktionen von Literatur für Erinnerungskulturen im Vordergrund.
te und deren Gebrauch) und mentalen (Mentefakte und deren Gebrauch) Dimensionen von Kultur vgl. ebd., 48. 3 In Romanen können Erinnerungsinhalte durch Thematisierung explizit zum Ausdruck kommen. Der Begriff der ‚Inszenierung‘ von Erinnerung bezieht sich jedoch auf die implizite strukturelle Vermittlung. Die These von der Semantisierung und Funktionalisierung struktureller Elemente beruht auf der „Einsicht, daß literarische Darstellungsverfahren und Strukturen als eigenständige Bedeutungsträger fungieren und bei der Bedeutungszuschreibung durch den Rezipienten eine zentrale Rolle spielen können.“ (Ansgar Nünning: „Semantisierung literarischer Formen.“ In: Ders. [Hrsg.]: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie: Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Stuttgart: Metzler 2001 [1998], 579f.) 4 Zum Zusammenhang zwischen der narrativen Inszenierung von Erinnerung und deren identitätsstiftenden Funktionen, vgl.: „[D]ie ‚soziale Autobiographie‘ einer Gesellschaft, ihr Geschichtsentwurf, ihre Prozesse der Selbstvergewisserung, kurz: der Aufbau sozialer Identität in der Kultur operiert weitgehend mit gedächtnisbasierten Erzählungen. [...] Erzählen als Grenz(wert)bildung dürfte auch im Wettstreit der Kulturen eine unersetzliche Rolle spielen. Erzählen ermöglicht Kollektiverfahrungen im Sinne übertragbarer Fremderfahrungen.“ (Siegfried J. Schmidt: „Gedächtnis – Erzählen – Identität.“ In: Aleida Assmann & Dietrich Harth [Hrsg.]: Mnemosyne: Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung. Frankfurt a.M.: Fischer 1991, 378-398, 393) Darüber hinaus kann die Rekonstruktion von Erinnerung beispielsweise zur Konstituierung einer ‚usable past‘ (Lois P. Zamora: The Usable Past: The Imagination of History in Recent Fiction of the Americas. Cambridge: Cambridge UP 1998) eingesetzt werden, einer Vergangenheitsversion, die die kulturelle Identität einer sozialen Gruppe stützen kann.
Kulturspezifsche Inszenierungen
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Der vorliegende Beitrag nähert sich beiden Dimensionen aus dem Blickwinkel der Kulturspezifität. Zunächst wird eine Analyse kulturspezifischer Inszenierungen von Medien des kollektiven Gedächtnisses in zwei Gegenwartsromanen aus dem Kulturraum der autochthonen Bevölkerung Kanadas durchgeführt.5 Das theoretische Fundament für diese Untersuchung bildet der Versuch, mit Hilfe der Konzeption der cultural schemas nach Roy D’Andrade die Einflussnahme der jeweiligen Kultur auf Erzählprozesse zu präzisieren: Als Resultat narrativer Tätigkeit verfügt jede Kultur über ihre eigenen narrativen Ressourcen, die kulturspezifisch fiktional umgesetzt bzw. aktualisiert werden können. Als zwei zentrale Elemente dieser narrativen Materialisationen von Kultur werden die Figur des Schamanen und die des Tricksters, aus dem kulturellen Bedeutungsgewebe der kanadischen Inuit bzw. der Ojibway, vorgestellt und als Medien der kulturellen Erinnerung in den beiden Romanen untersucht. Aufbauend auf dieser narratologisch ausgerichteten Analyse der Inszenierung von Medien des kollektiven Gedächtnisses innerhalb der Texte (erste Dimension) kann abschließend das kulturspezifische Funktionspotential der Romane als Medien der kulturellen Erinnerung (zweite Dimension) skizziert werden.
II. Cultural Schemas und Erzählen Aus der Perspektive der Kulturspezifität legte bereits Sir Frederic Bartlett in Remembering (1932) die Grundsteine für die Korrelation von kognitiven Strukturen mit Erzählprozessen.6 Sowohl die Relevanz von Schemata für die Wahrnehmung
_____________ 5 Bei der autochthonen Bevölkerung Kanadas handelt es sich bereits um eine komplexe Vielfalt von Erinnerungskulturen, die aus sprachlich distinkten First Nations-Gesellschaften besteht. Die Aussage, dass die Ojibway und Inuit selbstverständlich eigenständige Kulturen sind, beruht auf folgenden Definitionen: 1.) „Individuen, die bei der Interpretation von Zeichen weitgehend dieselben konventionellen Codes anwenden, betrachten wir als Mitglieder ein und derselben Kultur.“ (Posner: „Kultursemiotik“ [Anm. 2 ], 43.) Und 2.) „Eine KULTUR ALS ZEICHENSYSTEM besteht aus individuellen und kollektiven Zeichenbenutzern, die Texte produzieren und rezipieren, durch die mit Hilfe konventioneller Codes Botschaften mitgeteilt werden, welche den Zeichenbenutzern die Bewältigung ihrer Probleme ermöglichen.“ (Ebd., 54) 6 Frederic Bartlett: Remembering: A Study in Experimental and Social Psychology. Cambridge: UP 1967 [1932]. Bartletts Ergebnisse ermöglichen darüber hinaus einen Anschluss an die Konzeption des kollektiven Gedächtnisses nach Maurice Halbwachs: Die sozialen Bezugsrahmen (cadres sociaux) nach Halbwachs, die durch ihre kollektive Bedingtheit auch kulturell und historisch variabel anzusetzen sind, können mit den Ansätzen der Schematheorie in Bezug gesetzt werden. Sowohl die Wahrnehmung, die Phase der Enkodierung als auch der Rekonstruktionsprozess von Erinnerungsinhalten werden durch kollektive Bezugsrahmen geprägt: „[E]s gibt kein mögliches Gedächtnis außerhalb derjenigen Bezugsrahmen, deren sich die in der Gesellschaft lebenden Menschen bedienen, um ihre Erinnerungen zu fixieren und wiederzufinden.“ (Maurice Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985 [1925], 121)
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und Verarbeitung situativer Kontexte als auch die kulturelle Variabilität der kognitiven Rahmen und ihre Einflussnahme auf narrative Strukturen konnten nachgewiesen werden. Im Rahmen eines Experiments, das auf die individuell neu narrativierte Wiedergabe von Erzählmaterial aus der Erinnerung ausgerichtet war, zeigten die Probanden eine Tendenz zur ‚Rationalisierung‘ bzw. zur Straffung des narrativen Ausgangsmaterials. Diese Prozesse orientierten sich nachweislich an einer kulturell variablen Bemühung um Sinnkonstitution, an einem kulturspezifischen effort after meaning.7 Aufbauend auf diesen ersten Ansatzpunkten zur Relationierung kulturell bedingter kognitiver Rahmen mit den resultierenden kulturell variablen Modellierungen von Erzählungen, kann D’Andrades Konzeption der cultural schemas herangezogen werden, um das kulturspezifische Potential narrativer Prozesse genauer in den Blick zu bekommen.8 Er beschreibt die Funktion von cultural schemas folgendermaßen: Typically such cultural schemas portray simplified worlds, making the appropriateness of the terms that are based on them dependent on the degree to which these schemas fit the actual worlds of the objects being categorized. Such schemas portray not only the world of physical objects and events, but also more abstract worlds of social interaction, discourse, and even word meaning.9
_____________ 7 In seinen Experimenten zum Verhalten von Versuchspersonen bei der Reproduktion einer Geschichte aus dem Kulturkreis der autochthonen Bevölkerung Nordamerikas wurden folgende Grundtendenzen festgestellt: Die narrativen Wiedergaben waren kürzer bzw. stilistisch angepasst und wirkten – aus der Perspektive des kulturellen Hintergrunds der Probanden – kohärenter. Demnach verliehen die Versuchspersonen der Geschichte in der wiedererzählten Version eine Sinnorientierung, die abhängig von ihrer Kultur und ihrer gegenwärtigen Perspektive modelliert wurde. 8 Zur Präzisierung des hier zugrunde gelegten Schemabegriffs vgl. folgende Definitionen: 1. „[S]chemata truly are the building blocks of cognition. They are the fundamental elements upon which all information processing depends. Schemata are employed in the process of interpreting sensory data (both linguistic and nonlinguistic), in retrieving information from memory, in organizing actions, in determining goals and subgoals, in allocating resources, and, generally, in guiding the flow of processing in the system.“ (David. E Rumelhart: „Schemata: The Building Blocks of Cognition.“ In: Rand J. Spiro [Hrsg.]: The Psychology of Reading: Theoretical Issues in Reading Comprehension. Hillsdale, NJ: Lawrence Erlbaum 1980, 33-58, 33f.) 2. „The total set of schemata we have available for interpreting our world in a sense constitutes our private theory of the nature of reality.“ (Ebd., 37) bzw. 3. „Here is the essence of the frame theory: When one encounters a new situation (or makes a substantial change in one’s view of a problem), one selects from memory a structure called a frame. This is a remembered framework to be adapted to fit reality by changing details as necessary.“ (Marvin Minsky: „A Framework for Representing Knowledge.“ In: Dieter Metzing [Hrsg.]: Frame Conceptions and Text Understanding. New York: de Gruyter 1979 [1975], 1-25, 1) 9 Roy D’Andrade: „Some Propositions About the Relationship Between Culture and Human Cognition.“ In: James W. Stigler et al. (Hrsg.): Cultural Psychology: Essays on Comparative Human Development. New York: Cambridge UP 1990, 93. Michael Cole bezeichnet die cultural schemas im Sinne D’Andrades als „patterns of elementary schemas that make up the meaning system characteristic
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Cultural schemas als kulturell bedingte ‚Bausteine der Kognition‘ prägen demnach kognitive Verarbeitungsprozesse auf verschiedensten Abstraktionsebenen und nehmen dadurch Einfluss auf die Gestaltung von Narrativen: In Erzählungen manifestieren sich kulturelle Bedeutungszuschreibungen sowohl auf thematischer Ebene als auch in formaler Hinsicht. So können in die story Elemente aus dem Weltwissen einer Kultur integriert werden,10 während im Hinblick auf die discourseEbene festzustellen ist, dass Erzählstrukturen ebenfalls kulturell geprägt sind. In der kulturellen Praxis fungieren cultural schemas als kognitive Rahmen, die das Verständnis von beispielsweise kausalen Abfolgen oder Zeitkonzeptionen prägen. Im narrativen Text orientieren sich Erzählprozesse an Strukturierungsmodellen, die darauf ausgerichtet sind, eben jene kausalen und temporalen Relationen sinnhaft zu vermitteln. Daher fallen auch die narrativen Grundmuster entsprechend kulturell variabel aus, wobei die zum Einsatz kommenden Erzählschemata den Erzählerwartungen der jeweiligen kulturellen Gemeinschaft entsprechen. Als Ergebnis erscheint die ‚Sinnorientierung‘,11 die Geschichten transportieren, notwendigerweise kulturell modelliert. The self, and narratives about the self, are culturally and discursively ‚situated‘; [...] Simply put, ‚my story‘ can never be wholly mine, alone, because I define and articulate my existence with and among others, through the various narrative models – including literary genres, plot structures, metaphoric themes, and so on – my culture provides.12
Die Prägung von Geschichten durch kulturell variable kognitive Strukturen bildet jedoch nur einen Teil der Gesamtrelation, die zwischen cultural schemas und Narrativen besteht, denn die resultierenden Erzählungen wirken auch auf kognitive Strukturen zurück. Geschichten, die aufgrund kulturell bedingter narrativer Rahmungen konstituiert werden, gehen über Rezeptionsprozesse selbst als Elemente in das kulturelle Bedeutungsgewebe einer sozialen Gruppierung ein und werden so Teil eines ‚verteilten Gedächtnisses‘. Zusammen mit den ihnen of any cultural group.“ (Ders.: Cultural Psychology: A Once and Future Discipline. Cambridge, MA/ London: The Belknap Press of Harvard UP 1996, 126.) 10 Vgl. Donald E. Polkinghornes Bemerkungen über „[k]ulturell verfügbare Plots“: „Bedeutungsstiftende, interpretative Plots werden aus einem Repertoire von Geschichten ausgewählt und angepaßt, das in der Kultur, zu der eine Person gehört, zur Verfügung steht.“ (Ders.: „Narrative Psychologie und Geschichtsbewußtsein: Beziehungen und Perspektiven.“ In: Jürgen Straub [Hrsg.]: Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein: Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, 12-46, 26) 11 Vgl. Donald E. Polkinghorne über „[n]arrative Funktionen“: „Die Hauptfunktion der narrativen Strukturierung besteht darin, Handlungen, Ereignissen und Geschehnissen Bedeutung zu verleihen.“ (Ebd., 31) 12 Marc Freeman: „From Substance to Story: Narrative, Identity, and the Reconstruction of the Self.“ In: Jens Brockmeier & Donal Carbaugh (Hrsg.): Narrative and Identity: Studies in Autobiography, Self and Culture. Amsterdam/Philadelphia: John Benjamins 2001, 283-299, 287.
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zugrunde liegenden narrativen Grundmustern konstituieren sie nach David Lowenthal eine Art ‚textuelles Erbe‘ (‚textual heritage‘)13 und gehören zu den partikularen, historisch variablen14 narrativen Traditionen der jeweiligen Kultur. Dieses ‚narrative Erbe‘ nimmt seinerseits dann wieder Einfluss auf die Beschaffenheit der cultural schemas und kann diese modifizieren.15 Elemente dieses textual heritage können in zweifacher Hinsicht als Medien des kollektiven Gedächtnisses fungieren. Auf textinterner Ebene können beispielsweise – wie in den hier analysierten Romanen – mythische Gestalten, die den narrativen Traditionen oraler Kulturen entstammen, als Medien des kollektiven Gedächtnisses kulturspezifisch inszeniert werden und als solche kulturelle Traditionen repräsentieren bzw. vermitteln. Im Hinblick auf die Romane selbst, die einen Beitrag zum ‚textuellen Erbe‘ der Gegenwart leisten, ist festzustellen, dass diese als Medien des kollektiven Gedächtnisses über ein weitreichendes Wirkungspotential verfügen. Eine exemplarische Auswahl möglicher Funktionen sei hier kurz dargelegt: Literarische Texte, die sich mit kollektiv relevanten Erinnerungsinhalten minoritärer Erinnerungskulturen auseinandersetzen, können als Beitrag zum Prozess des ‚writing back‘ verstanden werden.16 Einerseits können
_____________ 13 David Lowenthal: „Identity, Heritage, and History.“ In: John R. Gillis (Hrsg.): Commemorations: The Politics of National Identity. Princeton: Princeton UP 1994, 41-57. Vgl. auch der Begriff der ‚textual resources‘ von James V. Wertsch (Voices of Collective Remembering. Cambridge: Cambridge UP 2002, 171f.). Wertsch beruft sich auf das Konzept des „stock of stories“ von Alasdair MacIntyre. (Ebd., 56f.) MacIntyre formuliert in Bezug auf die Ubiquität von Erzählungen im menschlichen Bewusstsein: „Hence there is no way to give us an understanding of any society, including our own, except through the stock of stories which constitute its initial dramatic resources.“ (MacIntyre: After Virtue: A Study in Moral Theory. Notre Dame, IN: University of Notre Dame Press 1984, 216) 14 Vgl. „We also see transformations across history in the plot structures of narratives, the kinds of narratives that tend to be told, and the forms of life they display. The idea of history, as we have come to know it – conceptualized in terms of irreversible sequence, linear time, and so on – thus emerges in history and embodies what appears to be an entirely different order of time than has existed in certain other cultures.“ (Freeman: „From Substance to Story“ [Anm. 12], 284) 15 Vgl. „For Bruner, it is narrative, the linking of events over time, that lies at the heart of human thought. The representation of experience in narratives provides a frame [...] which enables humans to interpret their experiences and one another.“ (Cole: Cultural Psychology [Anm. 9], 128) Zur wechselseitigen Beeinflussung von Narrativen und Erfahrungen vgl. auch: „[N]arrative cognition is poetic – i.e., characterized by poiesis, by the creation of meaning – through and through. We might in fact speak of the poetic dimension not only of the narrative construction of identity [...] but of experience itself.“ (Freeman: „From Substance to Story“ [Anm. 12], 297) 16 Zum Begriff des ‚writing back‘ vgl. Bill Ashcroft et al.: The Empire Writes Back. London/New York: Routledge 2002 [1989], 198. Gerade in einem postkolonialen Kontext stellt sich besonders die Frage nach der heterogenen Beschaffenheit der Erinnerungskultur(en) bzw. nach der politischen Dimension des Verhältnisses zwischen dominanter und marginalisierter kultureller Erinnerung. Durch die kulturspezifische Inszenierung kultureller Erinnerung in fiktionalen Texten können Gegengeschichten zur vorherrschenden Kollektiverinnerung konstruiert werden, die Vorstellungen von einer master narrative subversiv unterlaufen: „Das Erinnern wurde zu einer biographie- wie zu einer gesellschaftspolitischen Angelegenheit. Die sich ausdifferenzierenden gesellschaftlichen Teil-
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durch den Rückbezug auf diskriminiertes Kulturwissen Identitätskonzepte und Überlebensentwürfe ethnischer Gruppen präzisiert und konkretisiert werden. Andererseits signalisieren die Texte aber auch eine Durchbrechung der kulturellen Hegemonie der ehemaligen Kolonisatoren, da Autorinnen und Autoren einer ursprünglich oralen Kultur durch die ‚Aneignung‘17 der englischen Sprache und der Medientechnologie ‚Buch‘ eine globale Leserschaft erreichen können. Dadurch stellen die Texte nicht nur einen Beitrag zur Überwindung kolonialer Dominanzverhältnisse dar, sondern auch zum Überleben marginalisierter Kulturen. *** Zwei mythische Gestalten, die als Elemente des textual heritage der jeweiligen Kultur und zugleich als Gedächtnis vermittelnde Medien im literarischen Text inszeniert werden, sollen im Folgenden vorgestellt werden: die Figur des Schamanen (angakoq) im kulturellen Bedeutungsgewebe der Inuit und die des Tricksters im Rahmen der Ojibway-Kultur. Eine erzähltheoretisch ausgerichtete Analyse der kulturspezifischen Inszenierung dieser Figuren in Alootook Ipellies Arctic Dreams and Nightmares (1993)18 und Ruby Slipperjacks Weesquachak and the Lost Ones (2000)19 wird die Verfahren und das Wirkungspotential der narrativen Darstellung von gedächtnismedial funktionalisierten Elementen des textual heritage illustrieren.
III. Der angakoq in Arctic Dreams and Nightmares (1993) als Medium kollektiver Erinnerung Die Gestalt des Schamanen (angakoq) kann als zentrales Element des narrativen Erbes, der oral tradition, der Inuit bezeichnet werden. Traditionell waren die Hauptaufgaben eines Inuit-Schamanen, medizinische Hilfe zu leisten und die Kommunikation mit der Geisterwelt aufzunehmen, um Rat für die Gemeinschaft zu holen oder auch den Wildreichtum und damit den Jagderfolg zu sichern.20
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systeme betrieben zunehmend eine eigenständige Gedächtnispolitik, sie schafften sich zunehmend ihre systemspezifischen Kategorien und Strategien des Erinnerns und Nicht-Erinnerns am Leitfaden systemspezifischer Kompetenzen, Interessen, Werte und Intentionen […]. Die Zeit des Gedächtnisses ist von den Zeiten der Gedächtnisse abgelöst worden; und wir sollten dies als Anlaß zu konstruktiver ‚Kreativität‘ sehen, nicht als Menetekel des Endes der Geschichte. – Die war ohnehin nie mehr als eine Geschichte.“ (Siegfried J. Schmidt: Kalte Faszination: Medien, Kultur, Wissenschaft in der Mediengesellschaft. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2000, 109f.) Zum Begriffspaar der „abrogation and appropriation“ als Schreibstrategien postkolonialer Autorinnen und Autoren vgl. Ashcroft et al.: The Empire Writes Back [Anm. 16], 37f. Alootook Ipellie: Arctic Dreams and Nightmares. Penticton: Theytus Books 1993. Ruby Slipperjack: Weesquachak and the Lost Ones. Penticton: Theytus Books 2000. Im Gegensatz zu anderen autochthonen Gruppen bilden die Inuit eine relativ homogene kulturelle Gemeinschaft, die bis in die Gegenwart als Mehrheit der Bevölkerung in ihren jeweiligen homelands überlebt hat. Über ein riesiges Gebiet hinweg wurde und wird eine gemeinsame Sprache mit nur
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Sowohl Männer als auch Frauen konnten über die notwendige spirit power verfügen und in einem Trancezustand ihren Körper in dieser Welt vorübergehend zurücklassen, um – begleitet von helping spirits – magische Flüge in die spirit world zu unternehmen. Von einer solchen Reise brachte er/sie meist die notwendigen heilenden Kräfte oder auch Rat für die community zurück. Darüber hinaus spielten die angakoqs, als storyteller,21 aufgrund ihrer Sammlung an Liedern und Geschichten, auch eine zentrale Rolle für die Interpretation und Tradierung von Normen und Werten.22 In cultures without writing, the storyteller has a particular important role. [...] [T]he stories represent the cultural memory and imaginative history of the community. They encode the values considered important for survival. [...] [E]very community preserved a collection of stories and songs that were considered its own. The stories fulfilled many purposes – to pass the time, to entertain, to record moments of joy and sorrow, to instruct and to preserve important values.23
In Anlehnung an die spirituelle Reise eines angakoq zwischen den Welten wird in Alootook Ipellies Roman Arctic Dreams and Nightmares (1993) die Schamanengestalt als Medium kollektiver Erinnerung inszeniert. Diese Seelenreise bildet den dialektalen Unterschieden gesprochen, das Inuktitut, dessen Gebrauch entsprechend auf eine gemeinsame Begriffswelt verweist. Vgl. Alan D. McMillan: Native Peoples and Cultures of Canada. Vancouver/Toronto: Douglas & McIntyre 1995, 313. Das Schreibsystem für Inuktitut wurde von Missionaren eingeführt. Die ersten schriftlichen Zeugnisse des Inuktitut stammen aus dem 18. Jahrhundert aus Labrador, in anderen Gebieten teilweise aus dem ersten Viertel des 20. Jahrhunderts. In englischer Sprache Texte zu verfassen, ist somit eine verhältnismäßig neue Entwicklung, der erste Roman auf Englisch von Markoosie, Harpoon of the Hunter, erschien 1970. In den letzten Jahrzehnten hat sich jedoch die englische Literatur der Inuit stark entfaltet und bezeichnenderweise trägt eine der ersten Anthologien den Titel: Paper Stays Put (vgl. Robin Gedalof [Hrsg.]: Paper Stays Put: A Collection of Inuit Writing. Edmonton: Hurtig Publishers 1980) und bezieht sich damit auf folgenden Zusammenhang: „Inuit writers of the 1980s are using new themes and a variety of forms of self-expression, they have not forgotten their ancestral inheritance. They are restoring, reviving, and retelling the old stories and thus keeping alive the knowledge of a past way of life. [...] Thus, in their treatment of both traditional and contemporary subjects, we witness a crossfertilization of the indigenous and the borrowed literary traditions, and a cross-cultural blend of the Inuit and Euro-American. Contemporary writing reflects the influence of a highly developed oral tradition that goes back to myth and song [...].“ (Penny Petrone: Northern Voices: Inuit Writing in English. Toronto: University of Toronto Press 1988, 201f.) 21 Vgl. „[T]he angakoq was traditionally referred to as a storyteller [...]. This is similar to the claim of the angakoqs that in their performances they became the voices of the spirits possessing them. More recently, the term storyteller has become a convenient euphemism for angakoq, useful to those who are reluctant to discuss the old beliefs.“ (Harold Seidelman & James Turner: The Inuit Imagination: Arctic Myth and Sculpture. Vancouver/Toronto: Douglas & McIntyre 1993, 116) 22 Diese autoritative Aufgabe des Schamanen wird schon durch die Bezeichnung ‚angakoq‘ ersichtlich. ‚Angakoq‘ leitet sich ab, von ‚anga‘, das übersetzt werden kann als ‚one who commands respect‘. (Ebd., 48) 23 Ebd., 14.
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Hintergrund für eine ungewöhnliche Erzählperspektive: „This is a story of an Inuk who has been dead for a thousand years and who then recalls the events of his former life through the eyes of his living soul.“24 Die ersten vier Kapitel legen als Rahmen die Erzählsituation insofern fest, als das erzählende Ich, ein Schamane, beschreibt wie es als erlebendes Ich die Seelenwanderung nach dem Tod erfährt – „I was experiencing the act of my spiritual soul leaving my physical body at the moment of death“25 – und kurz darauf erfährt die Leserin/der Leser vom erzählenden Ich – „[i]t was from a certain perspective in the sky that I was able to observe what happened next“26 – die näheren Umstände des Todes. Der Schamane und sein Vater wurden bei der Robbenjagd von einem Eisbären getötet. Das erzählende Ich berichtet demnach als „living soul“ von seinen früheren Erlebnissen: Moments later, I found out I was actually able to travel back hundreds or thousands of years in time. This extraordinary ability was possible since my mind was finally free from its former life-long prison, the brain. It was peculiar being able to revisit all the important events that occurred during my past lives.27
Konsequenterweise ist der gesamte Text vorherrschend aus der IchPerspektive erzählt und grammatikalisch in der Vergangenheitsform verfasst. Die zeitliche Einordnung der einzelnen Geschichten erscheint dabei unmöglich, denn obwohl einzelne Charaktere die Namen realer Personen tragen, wie beispielsweise Shakespeare (8. „The Five Shy Wives of the Shaman“) oder Brigitte Bardot (12. „After Brigitte Bardot“), widerspricht deren faktische Lebenszeit der Angabe des erzählenden Ichs, bereits tausend Jahre tot gewesen zu sein.28 Die Erlebnisse des Schamanen bilden neunzehn in sich geschlossene Einheiten, die durch die Konstante des erzählenden/erlebenden Ichs einen Geschichtenzyklus bilden. Einerseits konstituiert sich die romanhafte Geschichtensamm-
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Ipellie: Arctic (Anm. 18), xix. Ebd., 11. Ebd., 18. Ebd., 21. Die teilweise sarkastisch-kritische Auseinandersetzung des Textes mit den kulturellen Traditionen der Kolonialmacht bzw. mit der britischen Regierung kann nicht in den Beitrag aufgenommen werden. Exemplarisch sei hier nur verwiesen auf: 1. Die Begegnung des Schamanen mit Gott: „Sattaanassee was one of the richest Old Geezers in all of the universe. This was because He took in ten percent of all total donations taken from every single church and institution built in His name on the planet Earth. And it never hurt to own exclusive rights to the biggest-selling book of all time, called THE BIBLE. [...] Sattaanassee’s method of collecting His royalties and donations reminded me of the different ways the Mafia uses to launder their drug money and other illicitlyearned cash through racketeering and gambling. He dealt with everyone under the table so that He didn’t have to pay taxes on any of the money that found its way to the Magical Kingdom.“ (Ebd., 49) und 2. Die Erzählung von den homosexuellen Neigungen des ‚Prince Char‘ im Königreich von ‚Queen Elisapee‘ und ‚Prince Pilipoosee‘ (Ebd., 168).
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lung somit selbst als mediales Resultat der storytelling-Fähigkeiten des Schamanen – auf der discourse-Ebene – und bildet in sich einen Aspekt der Inszenierung spezifischer oraler Traditionen der Inuit. Andererseits werden auf der story-Ebene thematische Elemente der kollektiven Erinnerung durch die Schamanen-Gestalt und seine Seelenreise aufgerufen: Auch innerhalb der einzelnen Geschichten werden nicht nur für das Schamanen-Ich individuell relevante Inhalte erinnert. Vielen der Einzelkapitel ist eine Art einleitender Erzählkommentar des erzählenden Ich vorgeschaltet, welcher der Leserin/dem Leser entweder Aspekte des Schamanenlebens oder kulturelle Hintergrundinformationen vermittelt. Beispielsweise weist Kapitel 10 („The Dogteam Family“)29 einen sehr elaborierten Einleitungsabschnitt auf, in dem Informationen über die Rolle der Huskies und der Hundeschlitten gegeben werden. Es wird u.a. von der Stärke und dem Durchhaltevermögen der Hunde berichtet, davon dass man ihre Rivalitätskämpfe manchmal unterbinden muss, von der Art und Weise der Fütterung, der Geburt eines Wurfs und weitergehend von der immensen Bedeutung der Hunde für das Überleben in der Arktis.30 Auch in den Abschnitten, die dem erlebenden Ich zuzuordnen sind, finden sich in den Geschichten figurale und thematische Bezüge auf Elemente der Inuit-Kultur: Kapitel 6 („Summit With Sedna, the Mother of Sea Beasts“) repräsentiert beispielsweise die Wiedergabe und Adaption der klassischen Reise eines Inuit-Schamanen zu Sedna, der Göttin der Meeresbewohner, um ihr Wohlwollen zu erlangen und den Erfolg der Robbenjagd zu sichern. In den einzelnen Geschichten in Ipellies Text Arctic Dreams and Nightmares (1993) bildet die Figur des Schamanen somit den Nexus für die kulturspezifische Inszenierung kollektiver Erinnerung. Die Figur des angakoq in Arctic Dreams and Nightmares fungiert sowohl auf der discourse- als auch auf der story-Ebene als Medium des kollektiven Gedächtnisses. Im Hinblick auf die erzählerische Vermittlung repräsentiert der gesamte Roman einen Geschichtenzyklus, der unmittelbar an die Ich-Perspektive des storytellers gebunden ist. Dadurch wird Kulturwissen, nämlich die Kenntnis um die Fähigkeiten des Schamanen, durch die Inszenierung seiner Gestalt narrativ vermittelt. Auf inhaltlicher Ebene ist es nicht nur die Schamanenfigur selbst, die als Element der narrativen Tradition durch eine inszenierte Seelenreise aufgerufen und erinnert wird, zusätzlich wird eine Vielfalt an kollektiv relevantem Kulturwissen durch das Medium des Schamanen als Vermittlergestalt aktualisiert.
_____________ 29 Ebd., 77-83. 30 Diese Textpassage veranschaulicht, inwiefern die Schamanenfigur bei der Vermittlung von relevantem Kulturwissen als Medium fungiert. Es wird erläutert, dass die Hunde nicht nur der Fortbewegung dienten, sondern in Hungerzeiten auch gegessen wurden; außerdem arbeiteten sie als Jagdhunde, die die Atemlöcher der Robben aufspüren konnten: „Without their reliable noses acting as a detective in the manner of Sherlock Holmes’ magnifier, we would otherwise be looking for such a hole for hours on end.“ (Ebd., 81)
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IV. Der Trickster in Weesquachak and the Lost Ones (2000) als Medium kollektiver Erinnerung Die Tricksterfigur repräsentiert ein wichtiges Element des ‚textual heritage‘ der Ojibway und fungiert in ihrer narrativen Inszenierung im vorliegenden Roman als Medium kultureller Erinnerung. Trotz der Diversität und Komplexität der Erscheinungsformen der Trickstergestalt in den verschiedenen Kulturräumen der Welt wird in diesem Beitrag eine Skizzierung einiger typische Grundzüge der Figur versucht, um vor diesem Hintergrund eine erzähltheoretische Analyse der narrativen Inszenierung der Figur in Ruby Slipperjacks Weesquachak and the Lost Ones (2000) vornehmen zu können. Nach William J. Hynes und William G. Doty (1997)31 ist die Persönlichkeit des Tricksters grundsätzlich ambig und polyvalent; er tritt häufig als storyteller bzw. Betrüger oder auch als gemeiner Schelm auf, der jegliches Wertesystem verletzt. There is no ‚too much‘ for this figure. No order is too rooted, no taboo too sacred, no god too high [...]. What prevails is toppled, what is bottom becomes top, what is outside turns inside, what is inside turns outside, and on and on in an unending concatenation of contingency.32
Ein Trickster benimmt sich demnach meist anti-sozial, versucht bestehende Ordnungen aufzubrechen und verlässt sich dabei auf Betrügereien und gemeine Tricks, um seine Ziele zu erreichen.33 Er ist ein Meister der Metamorphose und kann verschiedene Gestalten annehmen, in Nordamerika tritt er oft als Rabe, Coyote, Fuchs oder Hase auf. [P]lurality, plurivocity, and ambiguity are essential to the trickster Gestalt: this mythological figure encompasses many different social positions, is utilized by different societies to inculcate various types of behaviour, and may have manifold modes of appearance even within one culture.34
Aufgrund seiner mythischen Positionierung zwischen der Welt der Menschen und dem spirituellen Bereich gilt er als der personifizierte Grenzgänger oder gobetween und tritt als Vermittler oder Botschafter mit außerordentlichen kreativen Kräften auf.35 Somit bilden seine Repräsentationen als grenzgängerischer Erneue-
_____________ 31 William J. Hynes & William G. Doty: Mythical Trickster Figures: Contours, Contexts and Criticisms. Tuscaloosa/London: The University of Alabama Press 1993. 32 Hynes: „Mapping the Characteristics of Mythic Tricksters: A Heuristic Guide.“ In: Ebd.: 33-46, 37. 33 Die Handlungen des Tricksters zielen typischerweise darauf ab, zwischengeschlechtliche Beziehungen zu seinen Gunsten zu zerstören oder sich den Besitz anderer anzueignen. 34 Hynes & Doty: „Introducing the Fascinating and Perplexing Trickster Figure.“ In: Ebd.: 1-13, 9. 35 Falls diese Kreativität für Menschen günstig zur Anwendung kommt, geschieht dies eher zufällig, außerdem misslingen dem Trickster häufiger seine Vorhaben. Margaret Atwood formuliert:
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rer und Veränderer von Kultur bzw. als Kulturheld eine weitere Hauptausprägung der Trickstergestalt. In ihrer Manifestation als Grenzgänger kann die Tricksterfigur auch als Vermittlungsinstanz zwischen Kulturen inszeniert werden, denn sie ist dazu fähig (kulturelle) Grenzen zu überschreiten, aber eben gerade durch die Transgression auch auf existierende Grenzlinien hinzuweisen: [B]oundary creation and boundary crossing are related to one another, and the best way to describe trickster is to say simply that the boundary is where he will be found – sometimes drawing the line, sometimes crossing it, sometimes erasing or moving it, but always there, the god of the threshold in all its forms.36
Aufgrund ihrer Vielgesichtigkeit kann die Trickstergestalt somit – besonders in multikulturellen bzw. postkolonialen Kontexten der Gegenwart – in ihren narrativen Umsetzungen als Kulminationspunkt postkolonialer Schreibstrategien, des ‚writing back‘, betrachtet werden: „The significance and function of the trickster cannot be underestimated as a counternarrative strategy of contemporary Native culture.“37 Einerseits lädt gerade der grenzgängerische Aspekt des Tricksters dazu ein, ihn als ein Element der oral tradition in gegenwärtige Bedeutungszusammenhänge zu transferieren und dadurch zum Überleben der marginalisierten kulturellen Identität beizutragen. Entsprechend ist festzustellen, dass in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die Trickstergestalt vermehrt in der Literatur der autochthonen Bevölkerungen aufzufinden ist.38 Andererseits wäre es aber zur kurzsichtig, die Präsenz des Tricksters durch ein reines Übertragungsphänomen marginalisierter ethnischer Traditionselemente zu erklären:
„[Trickster] steals fire and burns his fingers. He lives by his wits, yet he falls into traps.“ (Margaret Atwood: „Masterpiece Theatre.“ [Rez. von Lewis Hyde: Trickster Makes This World: Mischief, Myth and Art und The Gift: Imagination and the Erotic Life of Property] In: Los Angeles Times Book Review, 25. Januar 1998, 7. Zit. n. Jeanne Campbell Reesman: „Introduction.“ In: Dies. [Hrsg.]: Trickster Lives: Culture and Myth in American Fiction. Athens, GA: University of Georgia Press 2001, ix-xxxi, xiv) 36 Lewis Hyde: Trickster Makes This World: Mischief, Myth and Art. New York: Farrar, Straus and Giroux 1997, 7f. 37 David T. Mitchell & Melissa Hearn: „Colonial Savages and Heroic Tricksters: Native Americans in the American Tradition.“ In: Journal of Popular Culture 32,4 (1999), 101-117,114. 38 Infolge der „resurgence of native pride in oral storytelling“ (Penny Petrone: Native Literature in Canada: From the Oral Tradition to the Present. Toronto: Oxford UP 1990, 17) gründete eine Gruppe von Schriftstellerinnen und Schriftstellern, darunter Daniel David Moses und Tomson Highway, das „Committee to Re-establish the Trickster“ in Toronto, dieses gibt eine Literaturzeitschrift mit dem Titel The Magazine to Re-establish the Trickster: New Native Writing heraus. In diesem Zusammenhang bemerkt Highway: „We grew up with myths; they’re the core of our identity as a people. But I’m urban by choice, so I translate that mythology into contemporary terms. The trickster now takes strolls down Yonge Street [eine Hauptgeschäftsstrasse in Toronto, HB] and goes into bars.“ (In: Jon Kaplan: „Translating the Spoken Word to Native Theatre Writing.“ In: Now, 27. November-3. Dezember 1986, 31. Zit. n. Petrone: Native Literature, 174)
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Constructions of culture as processual and negotiated have created institutional space for the voices emerging from ‚border‘ cultures previously ignored. Contemporary literary tricksters can be seen as part of this ‚writing back‘ – not in the sense that these fictions ought to be read as informant ethnography (such readings would be especially ironic at a time when ethnographies are often described as fictions), but in that they assume control over their own representations and question the notion of representation itself.39
Dadurch, dass der Trickster nicht nur ein Element der storytelling tradition darstellt, sondern auch häufig selbst in Gestalt eines storytellers auftritt, kann er in fiktionalen Texten dazu eingesetzt werden, der kulturellen Identität eine eigene Stimme zu verleihen und die koloniale Fremdrepräsentation durch Eigenrepräsentation zu ersetzen, bzw. durch dieses Kommunikationspotential zwischen Kulturräumen zu vermitteln.40 In Ruby Slipperjacks Roman Weesquachak and the Lost Ones (2000) besteht ein wesentliches strukturierendes Moment der Handlung im Spannungsverhältnis zwischen dem Leben der Protagonistin, der 19-jährigen Janine, in einer traditionsbewussten Ojibway community und der modernen kanadischen Stadt Thunder Bay.41 Die Schwierigkeiten in ihrer Beziehung zu Fred, einem Mitglied der commu-
_____________ 39 Bradley John Monsma: „Active Readers, Obverse Tricksters: Trickster Texts and Recreative Reading.“ In: John C. Hawley (Hrsg.): Divine Aporia: Postmodern Conversations About the Other. Lewisburg: Bucknell UP 2000, 153-171, 157. 40 In seiner Ausprägung als storyteller wird der Trickster von Barbara Babcock-Abrahams in Bezug auf Michail M. Bachtin als dialogisches Phänomen bezeichnet, da er im Sinne einer vermittelnden Gestalt, einer „tolerated margin of mess“, in Abhängigkeit von der kontinuierlichen Wahrnehmung von Opposition und Differenz einer Kultur konstruiert wird. (Barbara Babcock-Abrahams: „‚A Tolerated Margin of Mess‘: The Trickster and His Tales Reconsidered.“ In: Andrew Wiget [Hrsg.]: Critical Essays on Native American Literature. Boston: Hall 1985, 153-185) Anne Doueihi geht soweit zu sagen, dass der Trickster – nicht in einem streng narratologischen Sinne – „between discourse and story“ anzusiedeln ist, denn „[t]he features traditionally ascribed to Trickster – contradictoriness, complexity, deceptiveness, trickery – are the features of the language of the story itself.“ (Anne Doueihi: „Trickster: On Inhabiting the Space between Discourse and Story.“ In: Soundings: An Interdisciplinary Journal 67,3 [1984], 283-311, 308) Aufgrund dieser Aspekte werden die Tricksterfiguren der Gegenwart oft in den literaturgeschichtlichen Kontext der Postmoderne gesetzt: „The ironies and humor of the postmodern are heard in tribal narratives; the natural reason of tribal creation has never been without a postmodern turn or counterpoise, a common mode that enlivened the performance and memories of those who heard the best of their own experiences in stories.“ (Gerald Vizenor: „Ruins of Representation: Shadow Survivance and the Literature of Dominance.“ In: American Indian Quarterly 17,1 [1993], 7-30, 8.) 41 Diese Reibungsfläche der Kulturräume wird schon durch die Vielfalt der Vornamen der Protagonistin narrativ vermittelt, ihr Name changiert je nach kultureller Umgebung: „When we were kids, my family just called me ‚Channie‘ but to the others, I was known as ‚Channine‘ because there is no ‚J‘ sound in the Ojibway language for ‚Janine‘. It becomes ‚Ch‘ and it soon became shortened to ‚Channie‘ which sounds exactly the same as the Chanii they use for the name ‚Charlie‘. Chanii is the Ojibway translation of Charlie since there are no ‚r‘ or ‚l‘ sounds in the Ojibway language, they
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nity, werden entsprechend als Spannungen zwischen Kulturräumen inszeniert.42 Aufgrund häufiger Rückverweise auf die natürliche Umgebung und den bush im Norden Ontarios im Wandel der Jahreszeiten kann die erzählte Zeit zwischen ca. September 1972 und Frühjahr 1977 festgemacht werden. Die Erzählung setzt ein, als Janine beschließt ihre community zu verlassen und in Thunder Bay ein neues Leben in Unabhängigkeit anzufangen.43 Bereits in der allerersten Szene begegnet der Trickster als Rabe, der über sie hinweg fliegt, und retrospektiv realisiert der Leser seine Präsenz durch den folgenden Einschub in direkter Rede des Tricksters: „She seems lost. I saw her coming out of the cabin this morning. Good looking girl. Interesting...but I don’t think she likes me. Maybe she doesn’t like ravens. Hmmm, perhaps she likes me better soft and quiet.“44 Kurz darauf erscheint der Trickster erneut, diesmal „soft and quiet“ als „black and white dog“45. Dadurch wird bereits eine grundlegende Erzählstrategie des Romans eingeführt: Die Leserin/der Leser wird gleich zu Beginn auf die Gegenwart und die Aktionen des Tricksters hingewiesen und es ist dieser Informationsvorsprung, im Sinne dramatischer Ironie, der die Missverständnisse der Protagonisten, die nichts ahnend in die Fallen des Tricksters tappen, noch verzweiflungsvoller erscheinen lässt. Die Erzählung wird von drei Stimmen bzw. Erzählsträngen getragen. Der Erzählung Janines, die aus der Ich-Perspektive retrospektiv vermittelt wird, werden sowohl die Ich-Erzählstimme des Tricksters als auch Freds Perspektive auf die Geschehnisse, die in personaler Erzählsituation im Präteritum gefasst sind, gegenübergestellt. Die Stimme Weesquachaks erscheint als im Schriftbild kursiv gesetzter Einschub direkter Rede ohne narrative Einbettung und ist konstant im Präsens gehalten, dadurch gewinnt die Leserin/der Leser den Eindruck einer
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become ‚n‘ sounds in Ojibway. So, I therefore, am Charlie.“ (Slipperjack: Weesquachak [Anm. 19], 24) Die Hauptschauplätze der Handlung erscheinen hinsichtlich ihrer kulturellen Zuordnung semantisiert. Thunder Bay, der modernen kanadischen Stadt westlicher Prägung, steht die community, die durch die Lebensweise der Ojibway bestimmt wird, gegenüber. An der Bahnstrecke nach Thunder Bay befindet sich Sioux Lookout, ein kultureller Zwischenraum, in dem die Beziehung zu Fred ihren Ausgangspunkt nimmt. Die Liebesbeziehung ist auch im weiteren Verlauf durch ihre Positionierung im ‚Dazwischen‘, in der cabin im kanadischen bush gekennzeichnet. Der Trickster bewegt sich frei an all diesen Orten und passt sich wie ein Chamäleon den jeweiligen situationsbedingten kulturellen Gegebenheiten an. Sie fasst ihre Motivationen, ihr Zuhause zu verlassen, folgendermaßen zusammen: „I don’t have a home anymore. I have nowhere to go to, I mean I don’t belong anywhere. I feel like I’m trapped when I am at Mom’s and I need to escape. I am terrified that one day I may never be able to leave there. So, when I come to the city, I feel such a relief that I can disappear and they can’t find me. Because, I like who I am when I am here. I am independent and I want to be on my own.“ (Ebd., 26) Ebd., 7. Ebd.
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zeitlosen Gegenwart des Tricksters.46 Diese Präsenz wird dem Vergessen der Protagonisten gegenübergestellt, insofern diese als ‚Lost Ones‘ eine zu große Distanz zu Elementen ihrer kulturellen Herkunft aufgebaut und dadurch die Orientierung verloren zu haben scheinen. Der Trickster beschließt seine Existenz deutlich zu machen, die Protagonisten dazu zu bringen sich an ihn zu erinnern: They forgot about me. Their children have never even heard of me. The adults don’t remember anymore. The old have no one to listen but I ... I will not be forgotten! I will make them know that I still exist. I will make them get to know me again. I exist. I am here, always have been – right among them.47
Die drei Erzählperspektiven, die zunächst als unvereinbar parallel geführt werden, werden dazu eingesetzt, die Missverständnisse und Schwächen, wie beispielsweise die Unfähigkeit zum Perspektivwechsel, der beiden menschlichen Protagonisten in ihrer Liebesbeziehung, aber auch die entsprechenden zwischenmenschlichen Katastrophen zu inszenieren. Sowohl Fred als auch Janine haben beide Schwierigkeiten sich mitzuteilen, innerhalb der Beziehung lernen sie erst nach und nach ihre Gedanken und Emotionen in Worte zu fassen.48 Während Janine versucht, selbständig ein von der community unabhängiges Leben aufzubauen und sich beispielsweise eine Wohnung und Jobs in Thunder Bay sucht, wird Fred als derjenige beschrieben, der in Traditionen eingebunden daran festhält, dass sie sich bereits als Kinder versprochen wurden, bzw. der über Kulturwissen verfügt und beispielsweise heilige Rituale („praying“49) kennt. Dadurch, dass Freds Sichtweise auf die Geschehnisse jeweils der Erzählung von Janine kontrastiv nachgestellt wird, werden seine Motivationen nachträglich – wenn nicht nachvollziehbar, so zumindest – einsehbar. Der Trickster Weesquachak ist Freds Gegenspieler, denn er versucht Janine für sich zu gewinnen. Dazu verwandelt er sich in verschiedene Tiergestalten, um sie zu beobachten, schlüpft in verschiedene Männergestalten, um ihr zu gefallen, und spielt seine Trickster-Fähigkeiten des storytelling aus. Die Leserin/der Leser wird entweder direkt – durch die Stimme des Tricksters – über seine Pläne aufgeklärt oder schließt durch versteckte Hinweise – wie beispielsweise die Gewitztheit
_____________ 46 Aufgrund seiner ‚Omnipräsenz‘ hat der Trickster auch teilweise Zugang zu den Gedanken anderer und zu sonstigen Informationen, seine Fähigkeiten übersteigen die eines Menschen. Sein entsprechendes Potential, als auktorialer Erzähler eingesetzt zu werden, wird aber nicht genutzt. 47 Ebd. 48 Janines Gedanken über ihre Schwäche werden – im Rahmen eines Gesprächs mit einer Freundin – folgendermaßen wiedergegeben: „I didn’t know how. How could I possibly tell her what I was going through, what I was feeling, what was happening to me? I would sound stupid, ridiculous, selfdefeating, self-pitying, whining, confused and totally dumb! And, who would care anyway?“ (Ebd., 25) 49 Ebd., 84.
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eines Anwärters oder seine Augen,50 die Janine an jemand anderen erinnern – auf die Präsenz des Tricksters.51 Um Janine als seine Frau zu gewinnen, scheut der Trickster vor nichts zurück: Er provoziert lebensgefährliche Unfälle, bringt Janine und Fred dazu zu glauben, dass jeweils der andere Mordanschläge unternimmt, legt falsche Spuren und versucht Fred so in den Wahnsinn der Eifersucht zu treiben. Auf seine Präsenz wird im Text immer wieder erneut durch Spuren hingewiesen: Fremde Haarbüschel werden in den Ästen entdeckt,52 Janine fühlt sich beobachtet und wird mit einem Stein beworfen,53 ein Bär versucht in die cabin einzudringen, Fred entdeckt eine Gestalt hinter dem Holzstapel und findet Stiefelabdrücke.54 Weesquachak geht sogar so weit das Kind von Fred und Janine umzubringen und eine Totgeburt zu verursachen: „I’ve got her now! She’s mine! You see, I took care of Fred. I took that baby, too. I want her all to myself. All to myself. All to myself. All to myself “55 – während Janine die Schuld bei Fred sucht. Die Spannungen in der Beziehung der Protagonisten kulminieren, als Janine und Fred begreifen, dass ein Trickster an dem Geschehen beteiligt ist, dass sie den jeweils anderen zu Unrecht beschuldigt haben, und dass ihr Problem in ihrer Unfähigkeit sich mitzuteilen begründet lag.56 Der Klimax des Romans besteht
_____________ 50 Beispielsweise versteht die Leserin/der Leser, dass Rons (Janines ältester Freund) auffälliges Verhalten kein Zufall ist, und seine Augen die von Nisha (einer weiteren Manifestationsform des Tricksters) sind: „My head came up and his eyes held mine as shock went through me, for I saw no trace of gentle Ron in those deep brown eyes. I was looking into the eyes of... I looked away shaking my head, thinking, this is crazy!“ (Ebd., 179) 51 Schließlich wird sogar der Aspekt des Versagens der Trickstergestalt narrativ umgesetzt, seine Pläne gehen manchmal zu seinen Ungunsten aus: Durch ihren Job lernt Janine Keith kennen. Dieser versucht sie zum gemeinsamen Ausgehen zu bewegen, erzählt ihr Witze am Telefon und bringt sie zum Lachen. Die Leserin/der Leser erfährt von Janine: „I absolutely loved his sparkling bright blue eyes!“ (Ebd., 30) Kurz darauf wird der Verdacht, dass es sich um den Trickster handelt, bestätigt: „Took me awhile to figure out how to do this. To be a different kind of human, I mean. But, here I am. I am simply beautiful! Ha, ha „those lovely blue eyes,“ eh? Silly girl. I will show you how lovely I can be, my little lost one! Ha, ha, ha. I am finding this very weird though, I mean being a white man and all... [...] I also seem to be attracting certain kinds of white women and I’m not quite sure what to do about that either.“ (Ebd., 31f.) Allerdings schlägt das Rendezvous fehl, der Trickster verhält sich nicht an die Situation angepasst, da er sich in einem ihm fremden Kulturraum bewegt und erst lernen muss, die Reaktionen weißer kanadischer Frauen einzuschätzen: „I mean, give me a break! Hey, I screwed up. I’m just not used to dealing with these pale-skinned blue-eyed people, they play by their own kind of rules but I’m learning as fast as I can. Actually, I think I’m getting really good at this! I’ve already learned how to deal with those blond haired women. I just say something like „I’m sorry but I am only interested in having a relationship with my own kind.“ Ha, ha! The first time I said that, the woman’s eyes widened and she walked away without saying a word. Curious reaction.“ (Ebd., 33) 52 Ebd., 89. 53 Ebd., 91. 54 Ebd., 100. 55 Ebd., 120f. 56 Fred beginnt als erster zu begreifen, dass Weesquachak seine Hände im Spiel hat, er thematisiert beispielsweise die „[...] weird attraction he’d been having on wolves, bears, ravens and such.“
Kulturspezifsche Inszenierungen
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also in der Aktualisierung eines Elements der narrativen Traditionen der OjibwayKultur in der Gegenwart der Protagonisten. Als Medium kultureller Erinnerung fungiert der Trickster als vermittelnde Gestalt, die auf ihre Präsenz und das zu ihr gehörige Kulturwissen verweist. Weesquachak selbst thematisiert die Schwierigkeit von Janine, die zwischen Kulturräumen steht, anerkannt zu werden: „Fred is no problem, he’s easy to manipulate, but the girl...can’t reach that girl. She is too far away. Her...her spirit...no, her intuition...no, her knowledge...no, her acknowledgement – is lacking. That’s it! She is too far away from her culture, I can’t reach her!“57 Janines und Freds Vergegenwärtigungsprozess kultureller Traditionen wird durch die narrative Inszenierung weiterer Elemente der Ojibway-Kultur unterstützt: Während sich Janine am Anfang weigert, eine andere Sprache als Englisch zu sprechen,58 unterhalten sie und Fred sich nach Anerkennung der Existenz des Tricksters ausschließlich in Ojibway.59 Darüber hinaus gewinnt Gook, Freds Lieblingstante, immer mehr an Einfluss. Gook kann als Repräsentantin der Ojibway-Kultur gesehen werden, denn ihr Name ist eine Abkürzung für „Gookom“, was „my grandma“60 bedeutet, und sie erscheint so als die weise Vorfahrin, die über traditionelles Wissen verfügt, Legenden kennt, ihren Nachkommen Ojibway beibringt und den Protagonisten mit Rat zur Seite steht.61 Jedoch ist trotz dieser Vergegenwärtigungen, bzw. trotz der Anerkennung seiner Existenz, der Trickster noch nicht an seinem Ziel angelangt, er versucht weiter Janine zu gewinnen, und erst als Janine und Fred gemeinsam eine tragfähige Beziehungsform entwickelt haben, die Elemente beider Kulturen aufweist, muss er in Gestalt von Ron zugeben, dass er verloren hat: „Their eyes bore into each other, then Ron moved. He bowed slightly to Fred, then turned around on his heel and disappeared through the crowd. A raven swooped down over his head, squawking above the crowd. We never saw Ron again.“62 Der Trickster zieht sich zurück, denn die Protagonisten haben einander in einem kulturell verwurzelten Beziehungsentwurf gefunden: „I am anything I want to be. I am he. I am
57 58
59 60 61 62
(Ebd., 131) Aber er zweifelt auch an seiner eigenen geistigen Gesundheit. Zusätzlich bestärkt Old Henry, ein alter Mann der community, Fred in seinem Verdacht: „See that old dog that always hangs around you? That’s him! That’s him, I tell you!“ (Ebd.) Auch Weesquachak bemerkt die Veränderung: „Wait, I feel the sense of someone. Someone knows me. I feel him searching for me. I must see who it is.“ (Ebd., 121) Ebd., 145. Vgl. „Then there was her English. She spoke perfect English; the proper school marm English! He often wondered if he’d ever get used to speaking English all the time! He had tried many times to speak to her in Ojibway only to have her answer in no-accent proper English.“ (Ebd., 73) Ebd., 156. Ebd., 87. Ebd., 96. Ebd., 201.
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she. I am it. I am. I shall rest now. A well-earned rest. Goodbye my lost ones, for you are now found. They should thank me that they have found each other.“63 Durch die Aktualisierung der Trickstergestalt in der erzählten Gegenwart werden in diesem Roman kollektive Gedächtnisinhalte mittels einer zentralen Figur der narrativen Traditionen der Ojibway-Kultur vermittelt. Diese kulturspezifische Inszenierung steht dabei in einem engen Zusammenhang mit der Aushandlung interkultureller Relationen, da sich der Trickster, in seiner Rolle als Medium kultureller Erinnerung, vermittelnd zwischen den Kulturräumen bewegt. Somit wird einerseits in Gestalt des Tricksters ein traditionelles Element der Ojibway-Kultur im Rahmen des ‚writing back‘ dem kolonialen Diskurs entgegengestellt, andererseits wird durch sein Grenzgängertum die Notwendigkeit der Anerkennung beider Kulturen in den Vordergrund gerückt und ein Hinweis auf die Hybridisierungsmöglichkeit kultureller Traditionen gegeben.
V. Schlussbemerkung Im Hinblick auf die analysierten Romane als Medien des kollektiven Gedächtnisses bleibt zu bemerken, dass deren Funktionspotential insbesondere auf der Mehrdimensionalität der inszenierten Erinnerungsmedien beruht: Die kulturspezifische Inszenierung der Figur des Schamanen bzw. des Tricksters in den untersuchten Texten ist auf komplexe Weise mit den narrativen Traditionen der jeweiligen Kultur verknüpft. Dadurch ist ein Funktionspotential in die Texte eingeschrieben, das im Rahmen des postkolonialen ‚writing back‘ zu verstehen ist: Durch die Aktualisierung von diskriminiertem Kulturwissen können nicht nur Identitätsentwürfe oder Überlebensstrategien marginalisierter Gruppen vorgebracht werden. Vielmehr tragen die Texte im Prozess des Ringens um Erinnerungshoheit auch zur Durchbrechung der kulturellen Hegemonie der ehemaligen Kolonisatoren bei. Dabei geht es vor allem darum, der Kolonialmacht das autoritäre Monopol der Repräsentation zu entziehen und eine eigene Stimme zu erlangen bzw. diese zu Gehör zu bringen. Gerade in Hinblick auf das Wirkungspotential sind die beiden Romane also nicht als Einzelfälle zu betrachten, denn die kulturspezifische Inszenierung kultureller Erinnerung repräsentiert ein grundlegendes Anliegen autochthoner Autorinnen und Autoren: „[T]here is a resurgence of interest in the past, the use of native background as material for characters, plot, setting, and the evocation of ancient beliefs and values for inspiration, providing a sense of historical continuity.“64
_____________ 63 Ebd., 202. 64 Penny Petrone (Hrsg.): First People, First Voices. Toronto: University of Toronto Press 1983, 169.
V. Politikwissenschaftliche Medien- und Gedächtniskonzepte
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Der Trifels und die nationalsozialistische Erinnerungskultur: Architektur als Medium des kollektiven Gedächtnisses I. Einleitung: Architektur – Medien – kollektives Gedächtnis und der Trifels Menschliche Gemeinschaften strukturieren ihre Identitäten durch Techniken des Erinnerns.1 Das Spektrum dieser Verfahren ist nahezu unbegrenzt: Offizielle Gedenktage dienen der gemeinschaftlichen Erinnerung ebenso wie private Geburtstagsfeiern oder historische Stadtführungen. Das Reservoir, aus dem die so entstehenden, vielfach differenzierten Erinnerungskulturen sich bedienen, ist das kollektive Gedächtnis. Gleich einer Kuppel überwölbt und verbindet es seine individuellen Träger. Dieses Bild ist bewusst architektonisch angelegt; denn menschliche Gemeinschaften strukturieren ihre Identitäten nicht nur durch die erwähnten Techniken des Erinnerns, sondern auch durch Techniken des Bauens. Die so entstehenden, vielfach differenzierten Bauwerke werden als Architektur bezeichnet. Architektur und kollektives Gedächtnis sind aufs Engste miteinander verwoben. Am Beispiel der historischen Stadtführung etwa ist dieser Konnex leicht ersichtlich: Kollektives Geschichtsbewusstsein ist gebunden an räumliche und architektonische Faktoren. Der vorliegende Aufsatz geht der Frage nach, welches Potential Architektur als ein Medium des kollektiven Gedächtnisses aufweist. Die dabei aufgestellten Thesen werden am Beispiel der nationalsozialistischen Burgenpolitik und insbesondere an Hand der pfälzischen Burg Trifels erläutert. Dieser mittelalterliche Feudalbau wurde im 20. Jahrhundert deutlich umgestaltet. Er steht damit exemplarisch für verschiedene Erinnerungstechniken, die mit dem architektonischen Gedächtnis zusammen hängen. Insbesondere die Konstruktivität architektonischen Erinnerns macht der Trifels geradezu paradigmatisch sichtbar; ganz offen-
_____________ 1 Ich widme diesen Aufsatz Gerhard Schmidt und meiner alten Freundin Luise Schramm – als Erinnerung an unsere gemeinsame Zeit.
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sichtlich wurde er den Bedürfnissen der nationalsozialistischen Erinnerungskultur angepasst, fungiert heute aber trotzdem nicht als genuin politisches Denkmal, sondern eher als eine Stätte touristischer Freizeitvergnügungen. Obwohl die real existierende Trifelsarchitektur weitgehend der Moderne entstammt, wird sie noch immer als mittelalterlich rezipiert.
II. Architektur als Medium des kollektiven Gedächtnisses II.1 Medienbegriff Der Begriff Medium ist in der einschlägigen Forschung heftig umstritten. Die folgenden Ausführungen stützen sich auf die Terminologie, die Siegfried J. Schmidt in seinem Buch Kalte Faszination2 entworfen hat, weil sie diese Heterogenität reflektiert bzw. integriert. Zudem ist sie analytisch operationalisierbar und damit anschlussfähig an eine Forschung zu Medien des kollektiven Gedächtnisses. Schmidt unterscheidet vier Kategorien, durch die Medien jeweils definiert sind:3 – – – –
Semiosefähige Kommunikationsinstrumente (z.B. Sprache, Bilder, etc.) Medientechnologien (z.B. Film- und Fernsehtechnik, etc.) Sozialsystemische Institutionalisierungen (z.B. Fernsehanstalten, Verlage, etc.) Medienangebote (z.B. Buchtext, Hypertext, etc.)
Diese Heuristik hat auf den ersten Blick wenig mit Architektur zu tun. Schmidt hat bei ihrer Konzeption vermutlich eher an moderne Fernsehanstalten und an das Internet als an den Eiffelturm oder an die Kathedrale von Gloucester gedacht. Trotzdem lässt sich im Folgenden zeigen, dass man Architektur mit Hilfe der oben aufgeführten Kategorien als Medium begreifen kann und dass ihre Rolle im Prozess der kollektiven Gedächtnisbildung auf diese Weise sehr viel leichter verständlich wird. Zwar deutet sich die Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit einer solchen Perspektive in der bisherigen Forschung zum Konnex von Architektur und kollektivem Gedächtnis immer wieder an; so beschreibt etwa der Archäologe Wolfram Martini die Baukunst als „Medium von gewollten Aussagen“.4
_____________ 2 Siegfried J. Schmidt: Kalte Faszination. Medien, Kultur, Wissenschaft in der Mediengesellschaft. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2000. 3 Ebd., 94f., 98 (Schaubild 3). 4 Wolfram Martini (Hrsg.): Architektur und Erinnerung (= Formen der Erinnerung. 1). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000, 9. Dieser Sammelband enthält wichtige Grundlagentexte zur Funktionalisierung von Architektur in Erinnerungskulturen. Vgl. dazu beispielsweise auch das Themenheft „Memoria“, Daidalos 58 (Dezember 1995) oder Harald Tausch (Hrsg.): Gehäuse der Mnemosyne: Architektur als Schriftform der Erinnerung (= Formen der Erinnerung. 19). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003.
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Zudem gibt es unterdessen zahlreiche Texte, in denen Bauwerke als Erinnerungs-Orte analysiert und dabei latent als Gedächtnismedien begriffen werden.5 Doch können die spezifisch medialen Eigenschaften von Architektur in Erinnerungsdiskursen noch sehr viel expliziter und stringenter dargelegt werden, als dies bisher geschehen ist. II.2 Architektur als Medium Architektur als Produkt der Baukunst ist konstruiertes Material. Ihre Formen schaffen Körper und Räume. Sie erfüllen spezifische Funktionen und werden mit Bedeutungen aufgeladen. Wann immer architektonisch konstruiertem Material eine Bedeutung zugeschrieben wird, findet ein semiotischer Prozess statt. Dabei wird Architektur zum Kommunikationsinstrument bzw. zum Code. So kann sie als plastische Bildlichkeit oder auch als steinerne Sprache betrachtet werden, die ihre Zeichenhaftigkeit (und damit ihre Bedeutung) durch die Auseinandersetzung mit ikonografischer Tradition gewinnt. Sie kann ihre Botschaft aber auch ganz konventionell mit Hilfe von Schriftsprache verkünden, die ihr eingeformt ist – wie der Reichstag, der nicht nur durch Flaggen und andere visuelle Codes, sondern auch in großen schriftsprachlichen Lettern verkündet, dass er „Dem deutschen Volke“ geweiht ist. Kein noch so „schwache[r] Code“6 ist ausgeschlossen, wenn es um die Bedeutung einer Architektur geht; so teilen sich Fabriken und Krankenhäuser beispielsweise auch durch ihre Gerüche mit. Architektur wird weiterhin durch Menschen mit Hilfe von Technologien erzeugt. Betonmischmaschinen, Kräne und Wasserwaagen gehören derzeit zum selbstverständlichen Inventar der Bauplätze unserer Wohnsiedlungen. Die Palette einfacher und komplexer Technologien ist dabei genauso umfangreich und für jede Erweiterung offen wie das Repertoire der durch sie erzeugten Bauwerke. Zu verschiedenen Zeiten bzw. in verschiedenen Kulturen entsteht die Architektur mit Hilfe verschiedener Instrumentarien und teilweise auch unter Beachtung verschiedener Regeln – beteiligt daran ist die sozialsystemische Institutionalisierung durch Bauämter, Hochschulen, Ingenieursbüros oder auch Steinbruchunternehmen. Kommunikationsinstrumente, Technologien und Sozialsystem sind also beteiligt, wenn ein konkretes architektonisches Medienangebot erstellt wird. Wohnhäuser, Gefängnisse, Schwimmbäder oder auch Burgen können damit medienwissenschaftlich betrachtet und analysiert werden.
_____________ 5 Beispiele dieser Art finden sich beispielsweise in Etienne François & Hagen Schulze (Hrsg.): Deutsche Erinnerungsorte. Bd. 1-3. München: Beck 2001. 6 Umberto Eco: Einführung in die Semiotik. München: Fink 1972, 214. Je stärker ein Code ist, desto eindeutiger ist die Übersetzung der jeweiligen Zeichen geregelt; der Morse-Code ist in diesem Sinne z.B. ein sehr starker Code.
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Das Medium Architektur ist nicht nur durch seinen Gebrauchswert bestimmt. Wie bereits erwähnt, verbindet es Formen mit Funktionen und Bedeutungen. Die baulichen Formen und die Absichten der ArchitektInnen spielen für die spätere Rezeption zwar eine wichtige Rolle. Doch sind architektonische Bedeutungen fundamental von ihrer erinnerungskulturellen Aktualisierung abhängig. Was ein Bau bedeutet, entscheidet sich also auch durch seine Geschichte, durch seine Einbindung in gesellschaftliches Leben. Die Frankfurter Paulskirche war 1847 noch keine Wiege der deutschen Demokratie. Heute wird sie vor allem in dieser Eigenschaft wahrgenommen, obwohl sie im 20. Jahrhundert stark umgestaltet wurde. Immer wieder eroberte diese Kirche ihre Rolle als neuralgischer Punkt in spezifischen Erinnerungsdiskursen – so etwa als Ausgangspunkt der heftig polarisierenden Walser-Bubis-Debatte gegen Ende der 1990er Jahre. Wie auch dieses Beispiel zeigt, ist architektonische Bedeutung immer im Fluss und von vielen Variablen bestimmt. II.3 Architektur und kollektives Gedächtnis Architektur ist eine Verkörperung des Gestern im Heute. Sie authentifiziert die Vergangenheit, indem sie in die Gegenwart bzw. in die Zukunft hinein ragt. Als steinernes Band verbindet sie vergangene, gegenwärtige und künftige Zeiten. Architektur ist dabei zunächst einmal konservativ. Sie stabilisiert den jeweiligen Status quo physisch und sinnlich: Erstens besteht eine Grundfunktion der meisten Bauten im Schutz der Menschen oder derjenigen Objekte, die sie beherbergen. Dies gilt für Kirchen ebenso wie für Bahnhofshallen oder Hotels. Zweitens ordnen Bauwerke die menschliche Lebenswelt, indem sie ihr einen festen Rahmen vorgeben. Mauern und Straßen sind Orientierungshilfen, aber sie geben auch Bewegungsrichtungen vor und weichen nur physischer Gewalt oder der alles vernichtenden Zeit. Drittens macht Architektur sinnlich erfahrbar, wie die Vergangenheit in der Gegenwart aufgeht, dass also das Hier-und-Heute nicht ohne das Hier-und-Gestern auskommt. Architektur kann den solchermaßen dreifach in ihr angelegten Konservatismus aber auch überwinden. Das Gedächtnis, das durch einen Bau verkörpert wird, ist – wie dessen gesamte Bedeutung – variabel. Die erinnerungskulturelle Bedeutung der Architektur hängt von ihrer Rezeption ab, davon, wie Bauten seitens der BetrachterInnen aktualisiert werden. Architektur als Gedächtnisspeicher ist konservativ; architektonische Erinnerung als aktiver Vorgang kann aber progressiv oder gar revolutionär werden. Man denke nur an das Berliner Reichstagsgebäude oder an den Moskauer Kreml, die im Laufe ihrer Geschichte
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jeweils symbolisch für unterschiedlichste politische Systeme gestanden haben bzw. stehen. Architektur ist nicht nur mit gesellschaftlichem Gedächtnis, sondern auch mit kollektivem Vergessen verbunden.7 Bauten können physisch ausgelöscht werden – so manches christliche Gotteshaus ersetzt heute an gleicher Stelle einen heidnischen Tempel. Dem Vergessen wird in solchen Fällen durch Abriss und Neubau Vorschub geleistet. Es gibt aber auch subtilere Formen des architektonischen Gedächtnisverlusts: Viele Bauten werden verwirklicht, später zum Teil abgerissen und dann wieder erneuert. Sie setzen sich palimpsestartig aus neueren und älteren Teilen zusammen. In anderen Fällen werden Baupläne akribisch ausgearbeitet, jedoch nie verwirklicht. Der bereits erwähnte Berliner Reichstag mit seiner markanten Glaskuppel und seiner bewegten Baugeschichte ist ein solches Beispiel einer Architektur, in der Erinnern und Vergessen auch physisch bis zur Ununterscheidbarkeit ineinander verschmelzen. Wo Architektur explizit dem Erinnern dient, spricht man vom Denkmal. Ein Gebäude, das zum Zwecke des Erinnerns errichtet wird, ist ein gewolltes Denkmal; der Berliner Libeskindbau für das Jüdische Museum gehört beispielsweise in diese Kategorie. Ein Gebäude hingegen, das erst im Laufe seiner Geschichte eine Erinnerungsfunktion übernommen hat, ist ein ungewolltes Denkmal; so etwa das Geburtshaus Napoleons im korsischen Ajaccio.8 Dieses Beispiel zeigt, dass ausnahmslos jede Architektur ein Erinnerungspotential hat, über dessen Umsetzung seine Geschichte und die öffentliche Rezeption entscheiden. Der DenkmalBegriff bezeichnet also keinen spezifischen Bautypus, sondern ist eine Funktionsbeschreibung. Kurz gesagt: Denkmäler zeichnen sich nicht dadurch aus, dass sie auf einen Sockel gestellt worden sind, sondern dadurch, dass sie (häufig genug auch ohne Sockel) als Medien der kollektiven Erinnerung fungieren. Bauwerke bieten Schutz. Weil sie aber den Naturgewalten und anderen zerstörerischen Kräften ausgesetzt sind, benötigen sie auch Schutz – Denkmäler bilden hier keine Ausnahme. Mit ihrer Erhaltung oder Rekonstruktion beschäftigt sich deshalb die Denkmalpflege. Allen Vorkehrungen zum Trotz erleiden Denkmäler verschiedene, bisweilen brutale Akte des Vergessens. Wann immer ihre Formen oder ihre Bedeutungs-Inhalte prospektiv (d.h. nicht an Vergangenheit, sondern an Gegenwart und Zukunft orientiert) verändert werden, handelt es sich um
_____________ 7 Thomas Nipperdey: „Nationalidee und Nationaldenkmal in Deutschland im 19. Jahrhundert.“ In: Historische Zeitschrift 206 (1968), 529-585, 531: „Die Opposition baut, solange sie nichts als Opposition ist, keine Denkmäler.“ 8 Die Unterscheidung zwischen gewollten und ungewollten Denkmälern geht zurück auf Alois Riegl: „Der moderne Denkmalkultus, sein Wesen, seine Entstehung (1903).“ In: Ders. : Gesammelte Aufsätze. Augsburg: Filser 1929, 144-193.
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einen Denkmalsturz.9 Am 11. September 2001 zerstörten Terroristen die beiden Türme des World Trade Center in New York (vgl. dazu auch den Aufsatz von Erik Meyer und Claus Leggewie in diesem Band). Dieser Akt war nicht nur ein brutaler Massenmord, sondern auch ein Denkmalsturz. Eine Ikone des globalen Kapitalismus amerikanischer Prägung – in unterschiedlichen Erinnerungskulturen völlig unterschiedlich bewertet, wie der Zerstörungsakt zeigt – wurde vernichtet. Gleichzeitig entstand mit Ground Zero in diesem Inferno ein völlig anderer Erinnerungsort. Neue Bauten werden früher oder später folgen. Am Ground Zero zeigt sich damit exemplarisch, wie Erinnerungsschichten in der gebauten Topografie übereinander gelagert sind, wie architektonische Bedeutungen in Fluss geraten können, und dass dies keine abstrakten, sondern höchst konkrete, folgenreiche Vorgänge sind.
III. Nationalsozialistische Erinnerungskultur und Burg Trifels III.1 Nationalsozialismus und Denkmal Seit jeher sind Denkmalstürze eine typische Folge politischer Machtwechsel. Auch im so genannten Dritten Reich wurde diese Technik des kollektiven Vergessens großflächig betrieben. Berühmte Beispiele dafür sind die Zerstörung des Weimarer Denkmals der Märzgefallenen von Walter Gropius sowie der Pogrom vom 9. November 1938, der nicht nur zahlreiche menschliche Opfer forderte, sondern auch große architektonische Zerstörungen mit sich brachte. Die nationalsozialistischen Herrscher trachteten zwar danach, sich und ihre Ideale dauerhaft in die deutsche Architektur-Landschaft einzuschreiben. Zahllose ältere Denkmäler blieben aber unverändert bzw. kaum verändert bestehen. Die Nationalsozialisten waren insgesamt nicht willens bzw. nicht in der Lage, den deutschen Denkmalsbestand völlig zu revolutionieren. Dies galt auch für ihre Neuschöpfungen: So knüpften sie etwa an monumentalistische Traditionen des späten Wilhelminismus an. Nahezu alle staatlichen Neubauten im so genannten Dritten Reich sind der Klasse der gewollten Denkmäler zuzuordnen. Ihre Formen sollten gebaute Symbole des Nationalsozialismus sein. Der architektonisch höchst ambitionierte Diktator Adolf Hitler sprach diesbezüglich vom „Wort aus Stein“.10 Die aus
_____________ 9 Der Terminus ‚Denkmalsturz‘ bezeichnet laut Winfried Speitkamp keineswegs nur die physische Vernichtung eines Denkmals, sondern zusätzlich auch dessen „Annexion, [...] Umsetzung, Umgestaltung oder Umbenennung“. (Winfried Speitkamp: „Denkmalsturz und Symbolkonflikt in der modernen Geschichte. Eine Einleitung.“ In: Ders. [Hrsg.]: Denkmalsturz. Zur Konfliktgeschichte politischer Symbolik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1997, 5-21, 13) 10 Zit. n. Joseph Wulf (Hrsg.): Die bildenden Künste im Dritten Reich. Eine Dokumentation. Wien: Ullstein 1983, 246.
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diesem Anspruch heraus entstandenen Gebäude waren keineswegs durch einen völlig neuen Stil gekennzeichnet; sie bezogen ihr Pathos und ihre massive Monumentalität vielmehr recht häufig aus klassizistischen Formen. Die konservative Wirkung der Architektur wurde symbolisch auf die Spitze getrieben: Jedes Zeichen der Vergänglichkeit sollte ausgelöscht werden, die nationalsozialistische Ikonografie war für die Ewigkeit gedacht. Damit trat die Ideologie auf dem Felde des Bauens deutlich in Konkurrenz zur Religion – der Nationalsozialismus duldete keine anderen Götter neben oder gar über sich. Politik und Kultus verschmolzen folgerichtig in eins. Die architektonischen Denkmäler des Nationalsozialismus wurden in öffentlichen Ritualen als Kultstätten inszeniert. Häufig genug fungierten sie als Weihestätten oder Wallfahrtsorte. Die damit verbundenen Aufmärsche, Parteitage und andere Rituale dienten gleichsam zur Mobilisierung wie zur Unterwerfung der Massen. Von der ästhetischen Macht dieser politischen Inszenierungen zeugen bis heute die Propagandafilme Leni Riefenstahls. Die heroisierende Erinnerungspraxis rund um die nationalsozialistischen Denkmäler kulminierte in megaloman-utopischen Bauplänen. Das Nürnberger Reichsparteitags-Gelände wurde als paradigmatisches Projekt vorangetrieben – zur Krönung der neu geformten deutschen Städtelandschaft sollte Berlin (alias Germania) werden. Doch blieben all die axial angeordneten, gigantischen Denkmal-Ensembles weitgehend Fantasieprodukte. Als konkrete Medienangebote wurden sie fast nie erfahrbar. III.2 Nationalsozialismus und Burg Der Nationalsozialismus verursachte ein katastrophisches Cluster von Denkmalstürzen in Deutschland und weit darüber hinaus: Im Zweiten Weltkrieg wurde ein gewaltiges architektonisches Erinnerungspotential zerstört bzw. transformiert. Bis heute sind Städte wie Dresden und London durch die Wirkungen der damaligen Bombardements geprägt. Die Auswirkungen der nationalsozialistischen Herrschaft auf die deutsche Burgenlandschaft waren zunächst deutlich abstrakter. Um diese Veränderungen explizieren zu können, muss zunächst der Terminus Burg erläutert werden. Die Historiografie bezeichnet damit traditionell (d.h. spätestens seit dem Wilhelminischen Kaiserreich) einen mittelalterlichen Feudalbau, der sich insbesondere durch das Vorhandensein einer Ringmauer auszeichnet. Idealtypisch treten befestigte Gebäude (Palas, Kemenate, etc.) und mindestens ein Turm (Bergfried) hinzu. Solche Bauformen sind multifunktional determiniert; Burgen dienten im Mittelalter insbesondere der Wohnung, Wehr und Repräsentation
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sowie als Verwaltungszentren.11 Diese Architekturen bzw. ihre Überreste haben auf Grund ihres Erinnerungspotentials auch in der (Post-) Moderne einen hohen politischen Gebrauchswert. Immer wieder versichert sich die Gegenwart ihrer Verbundenheit mit dem Vergangenen, indem sie feudale Mittelalterbauten neu inszeniert. Die Burg, die heute als Hambacher Schloss bekannt ist, diente beispielsweise 1832 der jungen deutschen Demokratiebewegung als Sammlungspunkt – in den 1980ern trafen dort dann der US-amerikanische Präsident Ronald Reagan und der bundesdeutsche Kanzler Helmut Kohl öffentlichkeitswirksam aufeinander. Auch die Nationalsozialisten nutzten Burgen für politische Inszenierungen, so zum Beispiel die berühmte Eisenacher Wartburg.12 Diese Entwicklung war schon deshalb folgerichtig, weil die Despoten ihre Herrschaft als Wiedergeburt der vermeintlichen Großartigkeit des mittelalterlichen Reiches, als so genanntes Drittes Reich feierten. Die Architektur half dabei, diesen Zusammenhang visuell und topografisch zu verdeutlichen. Burgen (und Schlösser) wurden in großer Zahl nationalsozialisiert, d.h. sie wurden umfunktioniert. So diente etwa die westfälische Burg Beverungen als SA-Sportschule und die Wewelsburg im Bürener Land wurde als Reichsführerschule SS genutzt – im Zuge des Wandels der sozialsystemischen Institutionalisierungen auf politischer Ebene änderte auch das durch die Burgen verkörperte Medienangebot seinen Charakter. Hinzu kamen Neubauten, die einschlägige Burgen-Ikonografien in ihren Formenkanon aufnahmen. Beispielsweise wurde das Castel del Monte Friedrichs II. häufig nachgeahmt. Ohnehin waren die Staufer ein Lieblingsobjekt nationalsozialistischer Geschichtsklitterung, wovon auch der Trifels zeugt (siehe unten). Weiterhin wurden Ordens- und Schulungsburgen neu errichtet. Dort sollte die künftige Elite des Nationalsozialismus ausgebildet werden. Die Bauten waren optisch nicht immer ohne weiteres als Burgen zu erkennen, wurden aber doch als solche bezeichnet. Auch die so genannten Totenburgen waren keineswegs mittelalterliche Feudalbauten. Sie wurden vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge
_____________ 11 Joachim Zeune: Burgen. Symbole der Macht. Ein neues Bild der mittelalterlichen Burg. Regensburg: Pustet 1997 [1996], 34-57. Diese Publikation gibt einen hervorragenden Überblick über die Multifunktionalität der Burgen. Die ältere Forschung hat die Wehrfunktion stets überbetont. 12 Etienne François: „Die Wartburg.“ In: Ders. & Hagen Schulze (Hrsg.): Deutsche Erinnerungsorte. Bd. 2. München: Beck 2001, 154-170, 166f. Die folgenden Bemerkungen zur nationalsozialistischen Burgenpolitik habe ich, etwas ausführlicher, bereits in meiner unveröffentlichten Magisterarbeit (2002) gemacht. Die damit seit Jahrzehnten verbundene Forschungslücke wird insbesondere von Frank Pütz geschlossen. Vgl. ders.: „Die Burg im Nationalsozialismus – Burgenrezeption in der deutschen Architektur zwischen 1933 und 1945.“ In: Heiko Laß (Hrsg.): Mythos – Metapher – Motiv. Untersuchungen zum Bild der Burg seit 1500 (= K&K. Studien zur Kunst- und Kulturgeschichte. 2). Alfeld: Coppi 2002, 43-66. Pütz erwähnt in diesem Aufsatz auch den Trifels (ebd., 52f.). Er arbeitet an einer einschlägigen kunstgeschichtlichen Dissertation, welche die bisherigen Erkenntnisse zur nationalsozialistischen Burgenrezeption deutlich vertiefen wird.
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(VDK) errichtet. Wieder fungierten häufig die süditalienischen Burgen Friedrichs II. als Vorbilder. Spätestens seit 1941 wurden die Baupläne in utopische Dimensionen gesteigert: Die Entwürfe des Generalbaurates für die Gestaltung der deutschen Kriegerfriedhöfe, Wilhelm Kreis, wiesen allenfalls noch abstrakte Bezüge zu mittelalterlichen Burgen auf. Im nationalsozialistischen Renaissance-Denken hatte die Vanitas-Symbolik von Ruinen keinen Platz. Vielmehr dominierte im Hinblick auf die Burgen der Wehrgedanke. Wenn etwa Heinz Leitermann die pfälzischen Burgen als „Sinnbilder deutscher Wehrhaftigkeit und als immer von neuem bewunderte Kennzeichen der Schönheit und Größe“13 beschrieb, so war das letztlich die klassische Burgendefinition des Nationalsozialismus, die sowohl bei Umnutzungen als auch bei Neubauten angewendet wurde. Burgen waren damit nicht (wie im geschichtswissenschaftlichen Diskurs) durch ihre Herkunft aus dem feudalen Mittelalter bestimmt und auch nicht durch architektonische Formen-Ensembles wie etwa Ringmauern zu definieren. Zur Burg konnte jede Architektur werden, die ihre Wehrhaftigkeit visuell eindringlich demonstrierte und damit das nationalsozialistische Geschichtsbild stützte.
IV. Der Trifels als Medienangebot an die nationalsozialistische Erinnerungskultur IV.1 Topografische und politikgeschichtliche Verortung des Trifels Der Trifels bekrönt einen Sandsteinfelsen im südpfälzischen Wasgauland unweit des kleinen Städtchens Annweiler. Die bekannteste Episode der Trifelsgeschichte ist bis heute die dortige Inhaftierung Richards I. (Löwenherz) von England. König Richard war 1192 durch Herzog Leopold von Österreich gefangen genommen und auf Burg Dürnstein an der Donau eingekerkert worden, als er sich auf dem Rückweg vom fehl geschlagenen dritten Kreuzzug befand. Kaiser Heinrich VI. handelte dem Österreicher seinen hochkarätigen Gefangenen ab und ließ diesen im Frühjahr 1193 kurzzeitig auf den Trifels bringen. So wurde der erinnerungskulturelle Status der Burg als Hochsicherheitsgefängnis begründet. Auch ihre spätere Funktionalisierung als Symbol für die vermeintliche Schwäche der britischen Monarchie gegenüber dem deutschen Reich (dem wievielten auch immer) liegt hier begründet. Doch geriet der Trifels damit noch nicht aus dem Fokus der wichtigsten politischen Ereignisse jener Zeit: Mit Richards I. Lösegeld
_____________ 13 Heinz Leitermann: „Burgen der Westmark. Deutsches Schicksal.“ In: Die Westmark (Juni 1938), 465-473, 465. Dieses Burgen-Bild hat seine Wurzeln primär im 18. und 19. Jahrhundert, wobei auch frühere Einflüsse eine Rolle spielen. Wichtige Erkenntnisse liefert hier der Sammelband von Heiko Laß: Mythos – Metapher – Motiv (Anm. 12).
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als Sicherheit brach Heinrich VI. 1194 von der pfälzischen Burg aus zum Kampf gegen die süditalienischen Normannen auf. Den Normannenschatz, den er dabei erbeutete, brachte er ebenso auf dem Trifels unter wie die Geiseln aus der Familie des normannischen Grafen Tankred von Lecce. Auch seine Staufernähe prädestinierte den Trifels als späteren nationalsozialistischen Erinnerungsort: 1219 erhielt Annweiler durch König Friedrich II. (ein Jahr später war er schon Kaiser) das Stadtrecht, das in diesem Falle mit einem Memorialprivileg verbunden war.14 Die Stadterhebung und das Memorialprivileg sind Indikatoren für die staufische Herrschaftskonzentration in der Gegend des Trifels, die dazu führte, dass die Adelsfamilie den Ort Annweiler bewusst für ihre erinnerungskulturelle Selbstinszenierung wählte. Die Nähe des Trifels mit seiner Affinität zu den Reichsinsignien wird dabei nicht unwesentlich gewesen sein.15 1244 bis 1273 und 1292 bis 1298 lagerten Reichskrone, Zepter und andere Kostbarkeiten auf dem Trifels.16 War dieser zuvor stets nur ein Aufbewahrungsort unter vielen für diese Kleinodien gewesen, so kam ihm während des Interregnums – also in der Zeit des völligen Niederganges der Staatsgewalt – eine herausragende Stellung als Hort des Reichsschatzes zu.17 Damit hatte er seine eigentliche erinnerungskulturelle Bestimmung gefunden. Nach dem Tod des Königs Adolf von Nassau (1298) waren die Kleinodien faktisch zwar nie mehr auf dem Trifels, mythologisch sind sie dort aber bis heute präsent. Davon zeugen nicht zuletzt die Imitate, die dort mittlerweile ausgestellt werden. Im Zusammenhang mit dem spätmittelalterlichen Bedeutungsverlust von Königtum und Reichsgut verlor der Trifels dann nicht nur seine Funktion als Hort des Reichsschatzes, sondern ebenso dauerhaft seine zentrale Rolle als Kulisse und Gegenstand überregional bedeutender politischer Ereignisse. Seit dem 15. Jahrhundert ranken sich zahlreiche Legenden und Sagen um den Trifels.18 Damit gewann er zwar als Medium der Erinnerungskultur enorme Be-
_____________ 14 Gerold Bönnen: „Die Stadterhebung Annweilers durch König Friedrich II. im Jahre 1219.“ In: Mitteilungen des Historischen Vereins der Pfalz 86 (1988), 35-57, 46f. Das Privileg besagte, dass der Todestag Friedrichs II. in Annweiler jeweils feierlich begangen werden sollte. 15 Bernhard Meyer: Burg Trifels: Die mittelalterliche Baugeschichte (= Pfälzisches Burgenlexikon. Sonderband 1). Kaiserslautern: Institut für pfälzische Geschichte und Volkskunde 2001, 92. 16 Helmut Seebach: Der deutsche Reichsschatz auf Burg Trifels (= Beiträge zur Trifelsgeschichte. 2). Annweiler: Bachstelz 2000, 30. 17 Alexander Thon: „Die Reichskleinodien.“ In: Jürgen Keddigkeit et al. (Hrsg.): Pfälzische Geschichte. Bd. 1. Kaiserslautern: Institut für pfälzische Geschichte und Volkskunde 2001, 220-231, 224. 18 Seebach: Reichsschatz (Anm. 16), 6. Indirekt ist der Trifels auch mit der angelsächsischen RobinHood-Sage verbunden. In diesem Zusammenhang müsste er eigentlich als Zwingburg des Bösen fungieren, doch spielt er in den einschlägigen Narrationen der Postmoderne keine (mir bekannte) Rolle. Löwenherz pflegt nämlich nicht explizit als Gefangener aufzutreten, sondern erst der ExHäftling verhilft den Rebellen um Robin Hood mit einem Kurzauftritt als Deus ex machina zum Happy End im Wald von Sherwood; so etwa im Buch zum einschlägigen Kevin-CostnerBlockbuster (Simon Green: Robin Hood. König der Diebe. München: Goldmann 1991, 315-317) oder
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deutung, als real existierende Architektur verfiel er allerdings mehr und mehr. Dies änderte sich erst wieder in den 1930er Jahren; die Ruine wurde damals ausgebaut und etablierte sich im Laufe des 20. Jahrhunderts zunehmend als touristische Attraktion. Deren auch aktuell herausragende erinnerungskulturelle Bedeutung im Verhältnis zu den Hunderten anderer pfälzischer Burgen wird schlagartig klar, wenn man sich ihre Besucherzahlen vergegenwärtigt. Der Trifels lockte in den 1990er Jahren durchschnittlich deutlich über 100.000 Besucher pro Jahr an.19 Auch an der Schwelle zum 21. Jahrhundert war er die am häufigsten besuchte Burg der Pfalz.20 IV.2 Der Trifelsmythos in der nationalsozialistischen Erinnerungskultur Als erster Protagonist einer politisch maßgeblichen sozialsystemischen Institution seit Jahrhunderten erfasste der bayerische NS-Ministerpräsident Ludwig Siebert, welcher die Burg als einen „der allergrößten Zeugen deutscher Geschichte“21 betrachtete, die semiotisch-kommunikativen Möglichkeiten des Erinnerungsortes Trifels – also sein Authentifizierungspotential bezüglich des nationalsozialistischen Mittelaltermythos. Das geflügelte Wort „Wer den Trifels hat, hat das Reich.“22 ließe sich im Sinne der von Siebert angestoßenen Aktivitäten übersetzen in: Wer die Deutungsmacht über den Trifels hat, hat das Reich. Damit ist insbesondere auch die legitimationsstiftende Wirkung des Trifels angesprochen, die diesem als ehemaligem Hort der mittelalterlichen Reichskleinodien zukam. Diese galten nämlich als materialisierter Inbegriff des Reichsgedankens. Waren die Nationalsozialisten ohnehin auf Ästhetisierung ihrer Herrschaftslegitimation angewiesen, da diese verfassungsrechtlich äußerst fragwürdig blieb, so bot sich der Trifels dafür in besonderer Weise an: Er wurde durch seine Verbindung mit den Kleinodien zum „nationalen Symbol, nicht zwar als Burg, aber als Gefäß der Würde des Reiches.“23 Der bayerische Ministerpräsident Siebert sowie der Burgenforscher
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in der Disney-Version (Walt Disney Productions: Robin Hood. Eine Geschichte mit Bildern aus dem Walt Disney Studio. München: Delphin 1982, 77f. ). Meyer: Baugeschichte (Anm. 15), 11. Bernhard Meyer: Burg Trifels (= Führungshefte der Verwaltung der staatlichen Schlösser Rheinland-Pfalz. 15). Treis-Karden: Landesamt für Denkmalpflege Rheinland-Pfalz 1997, 5. Zit. n. Klaus Backes: „‚Der Führer wünscht eine große Jugendherberge am Trifels.‘ Adolf Hitlers Rolle als Mäzen beim Teil-Aufbau der Reichsburg.“ In: Heimat-Jahrbuch des Landkreises Südliche Weinstraße 22 (2000), 117-121, 118. Es handelt sich hier um ein populäres Zitat, das nach Seebach (Reichsschatz [Anm. 16], 42) dem Volksmund der Neuzeit entstammt und möglicherweise auf einen Brief Urbans IV. zurückgeht. Johannes Postius: „Die Burg als politische Erscheinung.“ In: Die Westmark. Beilage „Völkische Wissenschaft: Reichsfeste Trifels.“ (Juli 1937), 277-279, 279.
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Bodo Ebhardt und andere setzten sich für die kultische Ausgestaltung der Ruine ein, die zu einer nationalen „Weihestätte“24 bzw. zum „Reichsehrenmal“25 werden sollte. Das Medienangebot Trifels sollte also technologisch bearbeitet werden, um den semiotischen Kommunikationswünschen der Machthaber gerecht werden zu können. Insbesondere die Geschichtsschreibung befasste sich intensiv mit der Arbeit am Trifelsmythos. 1937 erschien eine Sonderbeilage der Kulturzeitschrift Die Westmark, welche die Reichsfeste Trifels und deren Wiedergeburt bejubelte.26 Auch arbeitete das Saarpfälzische Institut für Landes- und Volksforschung an einem Werk zum Trifels; im Rahmen dieser Arbeiten gab Georg Biundo 1940 eine Quellensammlung zum Trifels heraus.27 Friedrich Spraters Schrift von 1945 sah den Trifels vor allem als Hort der Reichskleinodien und versuchte ihn als Vorbild der Gralsburg in Wolfram von Eschenbachs Parzival-Epos zu erweisen.28 Bereits 1937 hatte Sprater den Trifels in seinem kurzen Aufsatz in der Westmark-Beilage als ikonografisches Vorbild der Burg Wildenberg stilisiert, die damals noch als Eschenbachs Gralsburg galt.29 Das Logo der nationalsozialistischen Monatsschrift für deutsche Kultur Die Westmark verband den Trifels mit dem antifranzösischen Grenzgau-Mythos und unterstrich durch latente Drohung in Richtung Frankreichs die symbolische Wehrhaftigkeit der Burg.30 Der Trifels verband sich hier also mythomotorisch mit dem Bau des Westwalls. Dieser Gedanke fand Nachahmer. So schrieb Paul Ginthum 1941, wie der Trifels die wichtigste Burg des mittelalterlichen Reiches gewesen sei, so sei „die Burg des Dritten Reiches [...] der Westwall“.31 Doch blieben solch aggressive Elemente des Mythos eher die
_____________ 24 Bodo Ebhardt: Burg Tri1fels. Untersuchungen zur Baugeschichte. Braubach: Burg 1938, 7, 44; analog Rudolf Esterer am 16. Mai 1940 (SchlV M, Akt Trifels, V.029.6.S-Sch). Die Bezeichnung SchlV M, Akt Trifels, V.029.1-8 verweist im Folgenden auf die Akten der Oberleitung für den Ausbau der Burg Trifels in Annweiler/Pfalz (1937-1951); es handelt sich dabei um acht Hefter im Archiv der Bayerischen Verwaltung der staatlichen Schlösser, Gärten und Seen, Schloss Nymphenburg (München). Die Bezeichnung SchlV M, Akt Trifels, V.023.1-3 verweist auf das Esterer-Archiv (18791979), das an gleicher Stelle zu finden ist. 25 Friedrich Sprater: Der Trifels, die deutsche Gralsburg. Speyer: Historisches Museum der Pfalz 1945, 4. Als Reichsehrenmale sollten den Nationalsozialisten beispielsweise auch Wartburg und Marienburg dienen. 26 Vgl. etwa Hermann Schreibmüller: „Der Trifels als Reichsburg.“ In: Die Westmark. Beilage „Völkische Wissenschaft: Reichsfeste Trifels.“ (Juli 1937), 242-270. 27 Georg Biundo: Regesten der Reichsfeste Trifels. Kaiserslautern: Saarpfälzisches Institut für Landes- und Volksforschung 1940. 28 Sprater: Gralsburg (Anm. 25), 36-45. In späteren Auflagen spielt diese These keine Rolle mehr. 29 Vgl. Friedrich Sprater: „Das Ergebnis der Ausgrabungen auf dem Trifels.“ In: Die Westmark. Beilage „Völkische Wissenschaft: Reichsfeste Trifels.“ (Juli 1937), 283-286. 30 Schon der Begriff ‚Westmark‘ ist ein Element des Grenzgau-Mythos. 31 Zit. n. Helmut Seebach: Der Trifels – eine deutsche Burg (= Beiträge zur Trifelsgeschichte. 3). Annweiler: Bachstelz 2001, 43. Paul Ginthum war Schriftsteller.
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Ausnahme. Die „Trifels-Euphorie der 40er und 50er Jahre“32 ließ dann trotz des Übergangs von der Diktatur zum demokratischen Staatswesen nur wenige Brüche erkennen und wirkt bis heute (wenn auch modifiziert) weiter, wie unter anderem der touristische Erfolg des Gebäude-Ensembles belegt. IV.3 Der Trifels als erinnerungsstrategisches Konstrukt des Nationalsozialismus Die jüngere Baugeschichte des Trifels ist eng mit zahlreichen sozialsystemischen Institutionen der pfälzischen bzw. nationalsozialistischen Erinnerungskultur verbunden: 1935 arrangierte der Direktor des Historischen Museums der Pfalz in Speyer, der oben bereits erwähnte Friedrich Sprater, mit Hilfe von Geldern der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft eine Grabungskampagne auf dem Trifels.33 Diese wurde vor Ort von dem Annweiler Pfarrer und (seit 1933) TrifelsvereinVorsitzenden Georg Biundo geleitet. Der Verein debattierte im selben Jahr, 1935, über den Bau einer Höhenstraße und die Errichtung eines Museums auf dem Trifels.34 Die eigentliche Rekonstruktion des Trifels wurde dann 1936 durch den bayerischen Ministerpräsidenten Ludwig Siebert initiiert.35 Bereits 1937 konnte er die Straße eröffnen, die noch heute von Annweiler zum Trifels führt. Im gleichen Jahr fand Sieberts Idee Gefallen in allerhöchsten Kreisen (der Diktator Hitler sowie der Gauleiter Bürckel nahmen sich persönlich der Finanzierung an36); die
_____________ 32 Günter Stein: „Trifels und Hohkönigsburg. Zitate und Gedanken zum Wiederaufbau zweier Burgruinen.“ In: Alfons Schäfer (Hrsg.): Oberrheinische Studien. Bd. 3. Karlsruhe: Arbeitsgemeinschaft für geschichtliche Landeskunde am Oberrhein 1975, 373-404, 396. 33 Sprater: Ausgrabungen (Anm. 29), 283 berichtet von Forschungen seines Museums zum Trifels seit 1933, die aber wegen Geldmangels nicht vorangekommen seien. 34 Willy Achtermann: „125 Jahre Trifelsverein.“ In: Heimatjahrbuch des Landkreises Südliche Weinstraße 14 (1992), 32-36. Die heutige Trifelsstraße bzw. ihre Lage geht auf eine Anregung Biundos zurück (ebd., 36). Seit 1989 steht an der Straße ein Biundo-Denkmal. 35 Meyer: Baugeschichte (Anm. 15), 161 (Fußnote 424, 428) sowie Ebhardt: Untersuchungen (Anm. 24), 7. Die Maßnahmen gehörten zu einem größeren Projekt der Instandsetzung von Pfälzer Burgen, innerhalb dessen der Trifels die Hauptrolle spielte: Von insgesamt 50.000 Reichsmark waren 18.000 ihm zugedacht, wie SchlV M, Akt Trifels, V.029.6.V (Anm. 24) zeigt. Die anderen Burgen wurden lediglich in ihrem Bestand gesichert. Sepp Huf („Rudolf Esterer. Ein bayerischer Meister der Baukunst und Denkmalpflege.“ In: Stimme der Pfalz 8/11-12 [1957], 3-7) verzeichnet in diesem Zusammenhang ebenso wie SchlV M, Akt Trifels, V.029.7b (Anm. 24) 150 bearbeitete Burgruinen. In Bayerische Verwaltung der staatlichen Schlösser, Gärten und Seen (Hrsg.) Professor Rudolf Esterer. Zum Gedächtnis des 100. Geburtstages am 23. November 1979. München: o.V. 1979, 2 ist dagegen nur von 50 Ruinen die Rede. Wahrscheinlich handelt es sich bei letzterer Zahl um einen Flüchtigkeitsfehler. 36 Backes: Führer (Anm. 21), 117-121. Auf Anweisung Hitlers wurden 1937 von der Reichskanzlei vermutlich 300.000 Reichsmark für den Erhalt der pfälzischen Burgen im Allgemeinen und für den Ausbau des Trifels im Besonderen an Siebert überwiesen. Das Esterer-Modell sah der Dikta-
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Vorbereitung des Ausbaus wurde aber in ihren Details lokal voran getrieben: Im April 1937 begann eine zweite, deutlich größer angelegte Grabung auf dem Trifels, die ein Baureferent der Bayerischen Schlösserverwaltung, Rudolf Esterer, leitete.37 Das Landesamt für Denkmalpflege in München übernahm die Gesamtleitung; auch Sprater war wieder in die Arbeiten involviert. Dem renommierten Burgenforscher Ebhardt oblag die baugeschichtliche Untersuchung der Anlage.38 Den Renovierungsvorschlägen Ebhardts (recht nah am damals fassbaren Originalbestand ansetzend39) stellte Esterer ein eigenes Konzept gegenüber. Er hatte sich zu diesem Zeitpunkt bereits durch die Instandsetzung der Nürnberger Kaiserburg und der Würzburger Festung Marienberg einen Namen als Denkmalpfleger gemacht. Im April 1937 wurde Esterer vom bayerischen Ministerpräsidenten Siebert mit der Rekonstruktion des Trifels beauftragt. Ebhardt beließ es gezwungenermaßen bei einer Publikation zur Baugeschichte der Burg.40 Esterers Plan zum Trifelsausbau bezog sich kaum auf die Grabungskampagnen Spraters.41 In einem Brief an Sprater nannte der Architekt seine Ziele explizit: „Ihre Gralsburg-These [...] kommt ja auch meiner Grundauffassung bei der Erneuerung des Trifels sehr entgegen, die den Gedanken eines Nationalheiligtums [...] vor den der Neugestaltung irgendeiner ‚Ritterburg‘ [...] stellt.“42 Das im Folgenden als Esterer-Plan43 bezeichnete Unterfangen konzentrierte sich deshalb insbesondere auf drei neuralgische Punkte, durch die das Medienangebot Trifels neu positioniert werden sollte: Zwei übereinander liegende Weiheräume im Turm (ein „neuer symbolischer Weiheraum, der Raum des dritten Reiches“44 sowie die
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tor allerdings wohl nie. Backes’ Mutmaßungen stützen sich auf Akten der Reichskanzlei – in SchlV M, Akt Trifels, V.029.6.W (Anm. 24) findet sich allerdings ein Esterer-Brief an den Reichsminister Speer, der die Thesen teilweise belegt: „Zur Durchführung dieses nationalen Unternehmens hat auch der Führer größere Zuschüsse gegeben.“ SchlV M, Akt Trifels, ebd., 1.A. Konkret wurde Ebhardt mit mündlicher Beratung der Grabungen, zeichnerischen Aufnahmen der Grabungsfunde und der Erstellung eines Gutachtens beauftragt (ebd., 6.V). Vgl. Ebhardt: Untersuchungen (Anm. 24), 7, 44. Zudem wollte Ebhardt neuere Architekturteile gesondert kennzeichnen. Allerdings hatte er in der Theorie stets näher an den Originalbauten geplant, als er dies in der Praxis dann umsetzte, wie Zeune: Burgen (Anm. 11), 31 zeigt. Dabei handelt es sich um das bereits mehrfach zitierte Werk Ebhardt: Untersuchungen (Anm. 24). Dieses Buch ist deshalb besonders aufschlussreich, weil es zahlreiche Fotografien des Zustandes der Burg vor ihrem nationalsozialistischen Ausbau bereitstellt. Dieser stand dem Aufbau denn auch ablehnend gegenüber, wie Stein: Trifels (Anm. 32), 391f. darlegt. SchlV M, Akt Trifels, V.029.6.S-Sch (Anm. 24). Der Plan ist als handschriftlich korrigierte Fassung einer Gedenkschrift zum Wiederaufbau ebd., 6.W einzusehen. Ebd.
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Kapelle als „Raum des alten Reiches“45) sollten durch einen doppelgeschossigen Palassaal, „als Hauptschauplatz festlich repräsentativer Veranstaltungen“,46 verbunden werden. Geplant war unter anderem auch ein so genanntes „Führerhaus“.47 Insgesamt hätte sich durch den Esterer-Plan eine homogene Anlage ergeben, deren Silhouette sowohl von Süden als auch von Norden kontinuierlich emporgestiegen wäre und im Doppelelement Turm/Palas gegipfelt hätte. Dieses Schema basierte nicht so sehr, wie später bisweilen behauptet wurde, auf italienischen Stauferkastellen, sondern viel eher auf freier Fantasie.48 Mehr als auf den ruinösen Stauferbau bezog sich der Esterer-Plan auf die natürliche Umgebung und auf repräsentative Zwecke.49 Alle Teilelemente des Planes ordneten sich der Umgestaltung des Trifels in einen pseudo-religiösen Wallfahrtsort unter: „Ideologischer Hauptgedanke des Konzeptes war es, durch die Architektur des Neubaus die Verbundenheit des Dritten mit dem Ersten Reich zum Ausdruck zu bringen.“50 Geradezu paradigmatisch zeigt dieses Konzept die Konstruktivität sowie die Ambivalenz zwischen Irrationalität und Zweckrationalität des nationalsozialistischen Geschichtsdenkens. Esterer hätte sein Werk wohl vollendet, doch der Zweite Weltkrieg und das Ende des so genannten Dritten Reiches hinderten ihn daran. 1945 war lediglich der Palas weitgehend fertig gestellt.51 Was aber auch diesem Gebäude fehlte waren vor allem Baudekoration und Einrichtung. Bereits im März 1944 hatte Esterer die Turmerhöhung vornehmen wollen, die „aus landschaftlichen Gründen [...] unaufschiebbar“52 sei. Doch dazu kam es zunächst nicht – 1945 waren nicht einmal zwei der projektierten fünf Bauabschnitte des Trifels-Ausbaus abgearbeitet worden. Wesentliche Elemente des Esterer-Plans wurden in der Bundesrepublik Deutschland noch verwirklicht. Zum Beispiel entstand ab 1954 aus tourismustechnischen Erwägungen heraus das östliche Kastellanshaus dort, wo im Esterer-
_____________ 45 Ebd. Im Jahr 1943 wurde eine Künstlerin mit der Gestaltung von zwei Wandteppichen beauftragt, die diese Bedeutung des Raumes auch für kunsthistorische Laien klar gemacht hätten, indem sie einen nicht näher definierten Stauferkaiser sowie den Zug Heinrichs VI. nach Palermo darstellen sollten (ebd., 4.PQ); die Teppiche wurden allerdings nie aufgehängt, eventuell auch nie gefertigt; in diesem Zusammenhang setzte Esterer sich intensiv zu Gunsten der Not leidenden Künstlerin Paula Preisinger ein. 46 Ebd., 6.W. 47 Ebd. Geplant waren beispielsweise auch Toilettenanlagen oder ein Wohnhaus für den Verwalter. 48 Stein: Trifels (Anm. 32), 399f, 403. Es gibt allerdings einen Bezug zu Castel del Monte, wie etwa der Vergleich zwischen Hans von Malottki: Große Welt des Trifels. Neustadt an der Weinstraße: Pfälzische Verlagsanstalt o.J., 32 (Abbildung) und ebd., 33 (Abbildung) erweist. 49 Meyer: Burg Trifels (Anm. 20), 98. 50 Susanne Fleischner: ‚Schöpferische Denkmalpflege‘: Kulturideologie des Nationalsozialismus und Positionen der Denkmalpflege (= Beiträge zur Denkmalpflege und Bauforschung. 1). Münster: LIT 1999, 66. 51 Ebd., 65f. Laut Seebach (Trifels [Anm. 31], 47) waren bereits 1942 über eine Million Reichsmark in das Trifels-Projekt geflossen. 52 SchlV M, Akt Trifels, V.029.6.S-Sch (Anm. 24).
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Plan das sogenannte Führerhaus hätte stehen sollen.53 Esterer war es gelungen, die ursprünglichen Pläne so abzuändern, dass die Lage des Baus in etwa seinen ursprünglichen Ideen gleich kam.54 Nicht nur Rudolf Esterers Ideen, sondern auch die des 19. Jahrhunderts blieben in der bundesrepublikanischen Baugeschichte des Trifels virulent: Schon 1894 hatte der Trifelsverein Kopien der Reichsinsignien in der Kapelle ausstellen lassen wollen, doch hatte sich die bayerische Regierung diesem Plan verweigert.55 Diese historistische Idee wurde wieder aufgegriffen (sie war allerdings auch von den Nationalsozialisten erwogen worden56); 1956 wurde der Kaiserslauterer Goldschmiedemeister Erwin Huppert mit ihrer Umsetzung beauftragt. Doch auf Grund der Querelen mit dem Landeskonservator Bornheim wurden erst 1973 auf Veranlassung des rheinland-pfälzischen Kultusministeriums Imitate von Kaiserkrone, Zepter und Reichsapfel im Trifels ausgestellt. Bis 1989 folgten noch Nachahmungen von Reichskreuz und -schwert.57 Damit war die (Re-) Konstruktion des Trifels als Hort der Kleinodien vorläufig abgeschlossen. Aus Sicht der rationalen Erinnerungskultur handelt es sich bei den Exponaten zwar um einen „kleinen Bruchteil [der Kleinodien] willkürlicher Auswahl“.58 Auch sind sie entgegen der Versprechungen des Annweiler Büros für Tourismus keine „originalgetreue[n] Nachbildungen“.59 Doch entsprechen sie der tieferen Logik des Ortes, wie er sich heute darstellt: Auf dem Trifels überwiegt der Schein längst das Sein, Konstrukte haben die Wirklichkeit abgelöst, der Mythos beherrscht die Geschichte.
V. Fazit: Der Trifels als architektonisches Medienangebot an das kollektive Gedächtnis Nachdem er zuvor schon physisch weitgehend zerstört worden war, wurde der Trifels im 20. Jahrhundert das Opfer eines subtilen Denkmalsturz-Prozesses. Nahezu idealtypisch zeigen sich an dieser Stelle die Historizität und die Konstruk-
_____________ 53 Jürgen Kaiser: „Fassaden einer Diktatur. Bauwerke und Bauplanungen des Nationalsozialismus in der Pfalz.“ In: Mitteilungen des Historischen Vereins der Pfalz 92 (1994), 363-418, 395. 54 Meyer: Burg Trifels (Anm. 20), 100. 55 Meyer: Baugeschichte (Anm. 15), 129f. Die Pläne zur Wiederherstellung der Kapelle sind noch älter, wie Achtermann: Trifelsverein (Anm. 34), 33 zeigt. 56 Seebach: Trifels (Anm. 31), 79 (Fußnote 68, wird erläutert auf ebd., 96) sowie Fleischner: Denkmalpflege (Anm. 50), 61, 89. Fleischners Rückführung der Idee auf Siebert greift wohl zu kurz. 57 Achtermann: Trifelsverein (Anm. 34), 34f. 58 Thon: Reichskleinodien (Anm. 17), 220. 59 Stadt Annweiler am Trifels (Hrsg.): Annweiler am Trifels. Staatlich anerkannter Luftkurort. Hauenstein: Typosatz ohne Jahr, 7. Zur Widerlegung dieses Mythos siehe Thon: Reichskleinodien (Anm. 17), 222. Die Rekonstruktionen sind an Abbildungen aus dem 18. Jahrhundert orientiert.
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tivität kollektiver Gedächtnismedien, wie sie auch für die Formensprache der Architektur gelten: Der nationalsozialistische Umbau war auf eine symbolische Renaissance des mittelalterlichen Stauferreiches ausgerichtet – er konnte jedoch nicht fertig gestellt werden. Heute dient der Trifels vorwiegend der touristischen Freizeitvergnügung. Auf Grund dieser heterogenen Baugeschichte durchmischen sich in seiner Architektur mehrere Bedeutungsschichten. Der Trifels des 21. Jahrhunderts hat insofern auch als Denkmal die Ungewissheit der Postmoderne erreicht. Sicher ist dabei nur, dass er auch heute als ein erinnerungskulturelles Medium fungiert. Die real existierende Burg bedient sich verschiedener semiosefähiger Kommunikationsinstrumente. In ihren Buntsandstein-Konstruktionen mischen sich mittelalterliche und moderne Ikonografien, deren aktuelle Bedeutungen eng mit dem historischen Bewusstsein ihrer Schöpfer und RezipientInnen verwoben sind. So kann der doppelgeschossige Palassaal mit seiner Freitreppe und der darin eingelassenen Rednerkanzel durchaus als versteinertes Geschichtsbild des Nationalsozialismus gelesen werden. Daneben sind aber beispielsweise auch die plastischen Kopien der Reichsinsignien semiotisiert. Sie sollen die mittelalterliche Herrlichkeit auf dem Trifels repräsentieren und authentifizieren – viel eher repräsentieren sie aber das Geschichtsbild bzw. eine Erinnerungskultur ihrer Entstehungszeit. Hinweise semiotischer Natur liefern auf dem Trifels schließlich auch kleine Täfelchen mit schriftsprachlichen Texten und einige architektonische Modelle, welche auf die Geschichte der Gebäude eingehen. Es gibt auf dem Gelände zudem einen Automaten, der bei entsprechender Bezahlung die Geschichte der Burg verbal darlegt. So schwankt das Zeichen-Ensemble namens Trifels heftig zwischen seinen Eigenschaften als erwünschtes Nationalheiligtum und faktischer Ort touristischer Freizeitvergnügungen. Auch die beim Trifels-Umbau verwendeten Technologien sind bedeutsam. Weil Esterer der industriefeindlichen Ideologie der Heimatschutzbewegung anhing, vertraute er die Arbeit vorwiegend lokalen Handwerkern an und ließ dazu Materialien aus der näheren Umgebung verwenden. Beispielsweise wurde im August 1941 der Dachdecker Peter Möhlig aus Landau angefordert; die Nägel für die Dachlattung sollten handgeschmiedet sein.60 Insgesamt wurde gerade im Hinblick auf die zu erwartende Rezeption des Trifels ein gewaltiger technologischer Aufwand betrieben. So sind die kilometerlange Panoramastraße und die 1968 in Zusammenarbeit der Stadt mit dem Trifelsverein installierte Beleuchtungsanlage jeweils deutlich auf mediale Show-Wirkung hin gedacht.61 Das Netz der sozialsystemischen Institutionalisierungen, die für den Trifels und seine Geschichte von Bedeu-
_____________ 60 SchlV M, Akt Trifels, V.029.6.V (Anm. 24). 61 Achtermann: Trifelsverein (Anm. 34), 34 zeigt, dass auch die Illuminations-Idee auf den Nationalsozialismus zurückgeht. Am 1. Mai 1936 wurde der Trifels erstmals – zu Ehren Adolf Hitlers – angeleuchtet, wie Seebach: Trifels (Anm. 31), 79 (Fußnote 69, wird ebd., 96 erläutert) zu entnehmen ist.
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tung waren bzw. sind, ist kaum überschaubar. Politiker bzw. Staatsverbrecher hohen und höchsten Ranges waren beim nationalsozialistischen Umbau involviert; die prominentesten unter ihnen waren wohl der Diktator Adolf Hitler und der bayerische Ministerpräsident Ludwig Siebert. Hinzu kamen und kommen aber auch der Trifelsverein, die Bayerische Schlösserverwaltung (auf Schloss Nymphenburg liegen heute die einschlägigen Akten), das Landesamt für Denkmalpflege Rheinland-Pfalz, touristische Interessengruppen und viele andere – beispielsweise auch Generationen von Burgenforschern. Insofern gehört der vorliegende Aufsatz zu den zahlreichen Medienangeboten, mit denen der Trifels innerhalb unseres komplexen gesellschaftlichen Mediensystems intertextuell verbunden ist. Exemplarisch genannt seien hier so unterschiedliche Objekte wie Wolfram von Eschenbachs berühmter Parzival, in dessen Gralsburg Friedrich Sprater den Trifels wieder erkannt haben wollte, oder das eher popkulturell definierte Internet-Angebot unter www.trifelsland.de. Es gibt unterdessen sogar ein Kartenspiel mit Abbildungen deutscher Burgen, bei dem der Trifels mit der Herz Sieben verschmolzen ist.62 Als As taugt er im 21. Jahrhundert längst nicht mehr; die Wartburg hingegen gilt weiterhin als Joker. Und auch Bodo Ebhardt wird hier ein später, popkultureller Triumph zuteil: Seine Braubacher Marksburg hat es zwar auch nur bis zur Herz Neun geschafft, aber dafür ziert sie die Verpackung des Spiels...
_____________ 62 Dass neben der Deutschen Burgenvereinigung u.a. auch die Bayerische Schlösserverwaltung bei der Gestaltung der Karten (hrsg. 2000 von der Heritage Playing Card Company unter dem Titel The Famous – Deutsche Burgen – Spielkarten) mitgewirkt hat, erklärt vielleicht die relativ große Zahl abgebildeter Esterer-Bauten.
ANGELA M. SUMNER
Kollektives Gedenken individualisiert: Die Hypermedia-Anwendung The Virtual Wall Wie genau, mögen sich die Leser/-innen an dieser Stelle bereits fragen, kann eine Hypermedia-Anwendung Antworten liefern auf die Frage nach der Konstruktivität, der Historizität und der Kulturspezifität von Medien des kollektiven Gedächtnisses1? Wie ist es möglich, kollektives Gedenken zu individualisieren? Und welche Rolle spielt die konstruktive, historische und kulturelle Dimension bei der Konstitution des individualisierten kollektiven Gedenkens im Rahmen der Virtual Wall? Die Konstruktivität eines solchen internet-basierten Mediums darzulegen, wird keine allzu große Herausforderung darstellen, deutet doch bereits der Begriff ‚Hypermedia‘2 auf ein Konstrukt hin. Dies ist jedoch nur ein Teilaspekt medialer Konstruktivität. Im Fokus des Interesses liegt erstens der Kompaktbegriff ‚Medium‘, der umfassendere Antworten auf die Frage nach der Konstruktivität eines Mediums des kollektiven Gedächtnisses ermöglicht. Zweitens soll erörtert werden, wie die erinnerungskulturelle Funktion eines Gedächtnismediums konstruiert wird. Schwieriger scheint auf den ersten Blick, die Historizität und Kulturspezifität von über das World Wide Web vermittelten Erinnerungsmedien darzulegen. Im Internet erhalten Kategorien wie ‚Zeit‘ und ‚Raum‘ neue Bedeutungsdimensionen: Zeit wird nicht länger als ein Abfolge von Zeitintervallen wahrgenommen, sondern scheint sich in Augenblicklichkeit aufzulösen. Wie kann sich also ein internet-vermitteltes Gedächtnismedium historisch wandeln? Raum wird entmaterialisiert und virtuell, weshalb ‚Raum-Grenzen‘ im World Wide Web neu definiert
_____________ 1 Die in diesem Aufsatz verwandten Begriffe ‚Gedächtnis‘ und ‚Erinnerung‘ sind in Anlehnung an das englische Wort ‚memory‘ als Synonyme zu verstehen und umfassen beide sowohl den Prozess der (Re-)Konstruktion von Erinnerungen als auch den Speicherort von Erinnerungen. 2 „Hypermedia [...] : (EDV) Multimedia unter dem Gesichtspunkt der durch Hyperlinks hergestellten netzartigen Verknüpfung von Text-, Bild-, Ton-, Grafik- u. Videoelementen“ (Der Duden in zwölf Bänden. Hrsg. von der Dudenredaktion. Bd 5. Fremdwörterbuch. Mannheim: Dudenverlag 2001.)
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werden müssen. Wenn kulturelle Räume im Internet entgrenzt sind, wie kann eine solche Hypermedia-Anwendung kulturspezifisch sein? Der vorliegende Artikel hat sich die Beantwortung der oben aufgeworfenen Fragen am Beispiel der Hypermedia-Anwendung The Virtual Wall3 zur Aufgabe gemacht. Nach einer Vorstellung des Untersuchungsgegenstandes im ersten Teil soll die konstruktive Dimension dieses Mediums der Erinnerung dargelegt werden. Hierzu wird das integrative Medienkonzept von Siegfried J. Schmidt unter Zuhilfenahme der Thesen von Maurice Halbwachs zum kollektiven Gedächtnis im zweiten Teil diskutiert und auf die Virtual Wall angewandt. Im dritten Teil wird anschließend erörtert, wie deren Funktion als Medium des kollektiven Gedächtnisses konstruiert wird. Um die historische Dimension der Virtual Wall erläutern zu können, wird im vierten Teil deren Rolle in der amerikanischen Erinnerungslandschaft zum Vietnamkrieg dargelegt. Abschließend soll im fünften Teil gezeigt werden, wie die Kulturspezifität dieses kollektiven Gedächtnismediums in den eigenen Rezeptionsbedingungen begründet liegt. Bei der Erörterung der konstruktiven, historischen und kulturspezifischen Dimension wird zudem mit berücksichtigt, wie sich individualisierte Erinnerung im Rahmen eines Mediums des kollektiven Gedächtnisses manifestieren kann.
I. The Virtual Wall Am 10. November 1998 wurde die Virtual Wall im Rahmen einer feierlichen Zeremonie durch den damaligen U.S. Vize-Präsidenten Al Gore offiziell ins World Wide Web gestellt. Initiator dieses ‚virtuellen‘ Denkmals ist der Vietnam Veterans Memorial Fund (VVMF)4, der sich ebenso für die Errichtung und Pflege des ‚realen‘ Denkmals, dem Vietnam Veterans Memorial in Washington, D.C., verantwortlich zeichnet. Der Name Virtual Wall wurde in Anlehnung an die umgangssprachliche Bezeichnung des Vietnam Veterans Memorial als The Wall gewählt. Seit dem Start der Virtual Wall im Jahre 1998 wurde die Website bereits zweimal grundlegend verändert. Am 29. Mai 2000 erhielt sie neben einer eigenständigen Internetadresse5 und einem neuen Erscheinungsbild auch weitere Funktionen, wie etwa eine Gastkolumne, eine Rubrik von ‚Jahrestagen‘6 und die Möglichkeit,
_____________ 3 VVMF: The Virtual Wall. 2003. URL: http://www.vvmf.org/index.cfm?SectionID=2 (Stand 26.01.2004). 4 Für weitere Informationen zum VVMF siehe VVMF: Home. 2003. URL: http://www.vvmf.org (Stand 26.01.2004), insbesondere VVMF: The Memorial Fund. 2003. URL: http://www.vvmf.org/ index.cfm?SectionID=10 (Stand 26.01.2004). 5 VVMF: The Virtual Wall. 2000. URL: http://www.thevirtualwall.org (Stand 09.09.2003). 6 In dieser zweiten Version wurden in einer Spalte am rechten Rand die Namen all derer aufgelistet, die an diesem Datum gefallen sind oder seitdem als vermisst gelten. Die Jahrestage wurden in der neuesten Version optimiert übernommen: Anstelle einer langen Liste aller Namen, werden diese
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die Startseite als My Virtual Wall zu personalisieren. Informationen zum Vietnam Veterans Memorial in Washington, D.C., sowie zur Travelling Wall7 wurden von der Virtual Wall getrennt und im damals noch separaten Online-Informationsangebot des VVMF untergebracht.8 Am 13. September 2003 wurde schließlich die aktuelle und derzeit gültige Version der Virtual Wall der Netzöffentlichkeit zugänglich gemacht. Zeitgleich wurden die drei Websites des VVMF in einer einzigen zusammengeführt.9 Durch diese Zusammenlegung der Angebote des VVMF wird – auf den ersten Blick – die Eigenständigkeit der Virtual Wall, die zuvor vor allem aufgrund der individuellen Präsentation im Rahmen einer eigenen Website gegeben war, geschwächt.10 Gleichzeitig scheint die deutliche Einbindung in die übrigen Informationsangebote und Programme des VVMF zum Vietnamkonflikt die Virtual Wall auf einer anderen Ebene zu stärken, was originär in der tragenden Rolle des VVMF für die amerikanische Erinnerung an das nationale Trauma Vietnam begründet liegt.
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numerisch sowie nach Jahreszahlen geordnet gebündelt („On this day in 1965, 2 service members made the ultimate sacrifice“). Durch Anklicken des entsprechenden Links gelangt der Besucher zur dahinter verborgenen Liste mit Namen, die wiederum mit den spezifischen Profilen verlinkt sind. The Travelling Wall, auch The Wall That Heals genannt, ist ein Replikat des Vietnam Veterans Memorial im Größenverhältnis 1:2, bestehend aus beschichtetem Aluminium und gestützt durch einen Aluminiumrahmen. Hinzu kommt ein Travelling Museum und ein Information Center mit Hintergrundinformationen zum Vietnamkonflikt und zur Abfrage von Daten zu auf der Travelling Wall verzeichneten Personen. Unter VVMF: 2004 Tour Schedule. 2003. URL: http://www.vvmf.org/index.cfm? SectionID=301 (Stand 26.01.2004) kann man einen aktuellen ‚Tour‘-Plan der Travelling Wall einsehen. Die Adresse VVMF: Past Sites. 2003. URL: http://www.vvmf.org/index.cfm?SectionID=25 (Stand 26.01.2004) enthält die bereits bereisten Orte in den Vereinigten Staaten sowie in Irland. Einen Überblick über die Veränderungen von der ersten hin zur zweiten Version der Virtual Wall erhält man über die FAQ zum Thema „Old Site/New Site“ unter VVMF: Support. 2003. URL: http://www.vvmf.org/index.cfm?SectionID=151 (Stand 26.01.2004). Informationen zum Vietnam Veterans Memorial sind einzusehen unter VVMF: The Memorial. 2003. URL: http://www.vvmf.org/ index.cfm?SectionID=4 (Stand 26.01.2004) sowie auf den Seiten des National Park Service: Beckwith, Sarah et al.: Vietnam Veterans Memorial Home Page. 2002. URL: http://www.nps.gov/vive/ home.htm (Stand 26.01.2004) und National Park Service. Vietnam Veterans Memorial (National Park Service). Ohne Datum. URL: http://www.nps.gov/vive/index.htm (Stand 26.01.2004). The Vietnam Veterans Memorial Fund (VVMF: The Vietnam Veterans Memorial Fund. 2000. URL: http://www.vvmf.org [Stand 09.09.2003]), das edukative Programm Teach Vietnam (VVMF. Teach Vietnam. Ohne Datum. URL: http://www.teachvietnam.org [Stand 09.09.2003]) sowie die Virtual Wall (VVMF. The Virtual Wall. 2000 [Anm. 5]). Die drei bisherigen Internetadressen werden automatisch auf die Adresse VVMF: Home. 2003 (Anm. 4) weitergeleitet. Während die Virtual Wall in ihrer zweiten Version als eigenständiges ‚Produkt‘ wahrgenommen wurde, ist sie in ihrer dritten Version nur noch ‚Teil eines Ganzen‘. Nicht nur die systematische Eingliederung in das Layout der VVMF-Website evoziert dies, sondern vor allem die Nichthervorhebung der Virtual Wall innerhalb der Navigationsleiste, wie auch die sichtbare Internetadresse ohne Referenz auf die Virtual Wall (VVMF. The Virtual Wall. 2003 [Anm. 3]), bestärken diesen Effekt.
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II. Elemente eines kollektiven Gedächtnismediums Die Virtual Wall ist nicht einfach nur ein Medium des kollektiven Gedächtnisses. Vielmehr muss geklärt werden, auf welchen Ebenen dieses virtuelle Denkmal als Medium begriffen werden kann. Daran schließt sich die Frage nach ihrer erinnerungskulturellen Funktionalität an. Diese Gesichtspunkte sind nicht mit Begriffen zu erläutern, die Medien als bloße Verbreitungs- oder Kommunikationsinstanzen verstehen. Siegfried J. Schmidt begreift Medien als das Zusammenwirken zahlreicher Aspekte, mit deren Hilfe die unterschiedlichen Teilaspekte eines Mediums betrachtet werden können, ohne dabei das Medium als ein Gesamtkonstrukt aus dem Blick zu verlieren. Diese Konzeption ermöglicht nicht nur die Offenlegung verschiedener Ebenen der Konstruiertheit der Virtual Wall als Medium, sondern erlaubt zudem näher zu beleuchten, worin sich ihre Funktion als Gedächtnismedium begründet. Innerhalb des Schmidt’schen Kompaktbegriffs ‚Medium‘ lassen sich darüber hinaus Begrifflichkeiten wie ‚Hypermedia-Anwendungen‘ und ‚Internet‘ genauer verorten. Im Folgenden soll daher das Schmidt’sche Medienkonzept kurz dargestellt und auf den Untersuchungsgegenstand angewandt werden. Der Kompaktbegriff ‚Medium‘ dient hierbei lediglich als Erklärungsmatrix, welche die unterschiedlichen Ebenen eines Mediums am Beispiel der Virtual Wall hervorheben soll. Schmidt unterscheidet bei seinem Kompaktbegriff ‚Medium‘ vier konstitutive Komponenten: (1) semiotische Kommunikationsinstrumente, (2) Medientechnologien auf Produzenten- wie auf Rezipientenseite – auch technisch-mediales Dispositiv genannt –, (3) die sozialsystemische Institutionalisierung sowie (4) Medienangebote. Ein Medium konstituiert sich schließlich als ein „Instrument der Wirklichkeitskonstruktion“11 im „sich selbst organisierende[n] systemische[n] Zusammenwirken dieser vier Komponenten unter jeweils konkreten soziohistorischen Bedingungen“12. Als eine weitere zu berücksichtigende Bedeutungsebene führt Schmidt zwei verschiedene Wirkungsdimensionen von Medien an: Medien entfalten sowohl semantische als auch strukturelle Wirkungen, die wiederum auf das Medium selbst Einfluss nehmen.13 Am Untersuchungsgegenstand sollen diese Kategorien näher erläutert und in Zusammenhang zueinander gebracht werden.
_____________ 11 Siegfried J. Schmidt: Kalte Faszination. Medien, Kultur, Wissenschaft in der Mediengesellschaft. Weilerswist: Velbrück 2000, 93-104, 100. 12 Siegfried J. Schmidt: „Medienkulturwissenschaft.“ In: Ansgar Nünning & Vera Nünning (Hrsg.): Konzepte der Kulturwissenschaften. Stuttgart: Metzler 2003, 351-369, 355. 13 Vgl. ebd. 354f.; sowie Schmidt: Kalte Faszination (Anm. 11), 93-104.
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(1) Semiotische Kommunikationsinstrumente sind als ‚Erfahrungsträger‘14 konstitutive Bestandteile von Medien. Hierzu zählen gesprochene natürliche Sprachen ebenso wie Schriften oder Bilder. Im Fall der Virtual Wall können zwei Ebenen von Kommunikationsinstrumenten unterschieden werden: Auf einer ersten Ebene ermöglichen Kommunikationsinstrumente die Kommunikation innerhalb der Medientechnologie ‚Internet‘, wie zum Beispiel der Binärcode oder Internetprotokolle (etwa TCP/IP)15. Diese erste Ebene ist Voraussetzung für die zweite, auf der die Inhalte zum Abruf durch Personen zur Verfügung gestellt werden. Das medial zu Vermittelnde wird demnach in einem ersten Schritt in Kommunikationsinstrumente übersetzt, die es den beteiligten technischen Apparaten erlauben, die übermittelten Inhalte zu entschlüsseln. In einem zweiten Schritt wird die Information in Kommunikationsinstrumente übersetzt, die für die zweite Ebene relevant sind. Im vorliegenden Artikel kann die Ebene der technoiden Kommunikation vernachlässigt werden. Im Fokus des Interesses liegt vielmehr die Kommunikation zwischen Produzent/-in und Rezipient/-in16 im Rahmen der Website, also die durch die erste bedingte zweite Ebene. Hier sind die relevanten Kommunikationsinstrumente Texte, Bilder und Töne.17 Der ‚Content‘ der Virtual Wall wird erst vermittelbar durch dessen Überführung in diese Erfahrungs- oder Referenzträger. (2) Die bereits erwähnte Medientechnologie als zweite konstitutive Komponente des Kompaktbegriffs ‚Medium‘ stellt das dar, was in vielen anderen Medi-
_____________ 14 Medien vermitteln als Instrumente der Wirklichkeitskonstruktion keine Bedeutung, sondern setzen Prozesse in Gang, mit deren Hilfe Bedeutungen konstruiert werden. Somit materialisieren „Zeichen [...] semiotisch kommunikative Erfahrungen einer Gesellschaft.“ Kommunikationsinstrumente wie etwa natürliche Sprachen, so schreibt Schmidt weiter, beziehen sich daher auch nicht auf „sprachunabhängige Objekte in ‚der Realität‘, sondern sie beziehen sich auf unser gesellschaftlich geteiltes Wissen möglicher Referenzen; mit anderen Worten, Zeichen beziehen sich auf eine soziale Praxis und nicht auf ontologische Gegebenheiten.“ Siegfried J. Schmidt: Die Welten der Medien. Grundlagen und Perspektiven der Medienbeobachtung. Braunschweig/Wiesbaden: Vieweg 1996, 18. 15 TCP/IP steht als Abkürzung für Transmission Control Protocol/Internet Protocol. TCP hat die Funktion Datenpakete in kleinere Einheiten zu zerlegen und die korrekte Übermittlung dieser Pakete zu überprüfen. IP übernimmt die Adressierung dieser Datenpakete. Vgl. hierzu Thomas Kind: „Internet.“ In: Helmut Schanze (Hrsg.): Metzler Lexikon Medientheorie, Medienwissenschaft. Stuttgart: Metzler 2002, 154-157. 16 Zur Kompatibilität des Untersuchungsgegenstandes mit einem klassischen Sender-Empfänger Modell siehe Anm. 37. 17 Die Bedeutung des Einsatzes spezifischer Kommunikationsinstrumente lässt sich anhand einer der drei intermedialen Kategorien von Irina Rajewsky, der ‚Medienkombination‘, eindrucksvoll darstellen. Als Beispiel einer ‚Medienkombination‘ nennt Rajewsky etwa die Klangkunst, die vor allem durch die Wahl der Kommunikationsinstrumente als ‚untypisch‘ wahrgenommen wird. Bei ‚Medienkombinationen‘ kommen also Kommunikationsinstrumente im Rahmen einer Medientechnologie zum Einsatz, die in der Regel auf andere Kommunikationsinstrumente zurückgreift. Siehe hierzu Irina O. Rajewsky: Intermedialität. Tübingen/Basel: Francke 2002, 15f.
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enkonzeptionen selbst als das Medium angesehen wird.18 Medientechnologien sind jedoch nicht nur Kanäle oder Container zur Vermittlung, sondern gleichzeitig auch Mittel zur Herstellung von Medienangeboten. Das Konzept der Medientechnologie umfasst daher weit mehr, als die angesprochenen, meist technisch orientierten Medienbegriffe vorsehen. Voraussetzung für die Vermittlung von Medienangeboten ist, dass Kommunikationsinstrumente genutzt werden, die mit der Medientechnologie kompatibel sind. Bei der Virtual Wall gehören zur Medientechnologie neben den Datenbanken die Datenbank-Server und die notwendige Software auf Produzenten- wie Rezipientenseite sowie u.a. Telefonleitungen, Computer-Hardware und Peripheriegeräte wie etwa Lautsprecher, Monitor, Tastatur und Maus. In diesem Verständnis umfasst die Medientechnologie ‚Internet‘ nicht nur den Dienst ‚World Wide Web‘19, sondern auch sämtliche Peripheriegeräte und ihre Software, die zum Einspeisen und Abrufen von Medienangeboten gebraucht werden. Die Hypermedia-Anwendung ist eine medientechnologische Gattung, da sie spezifische strukturelle Rezeptionsbedingungen innerhalb der Medientechnologie ‚Internet‘ festschreibt. (3) Als dritte Komponente benennt Schmidt die sozialsystemische Institutionalisierung. Träger der sozialsystemischen Institutionalisierung sind nach seinem Verständnis „soziale Organisationen zur Herstellung und Verbreitung von Medienangeboten (z.B. Verlage oder Rundfunkanstalten, samt ihren ökonomischen, juristischen, sozialen und politischen Handlungsvoraussetzungen)“.20 Für die Virtual Wall sind vor allem Organisationen von Bedeutung, deren Stellung ein spezifisches Medium durchsetzen und zu dessen Positionierung in der relevanten Gedächtnislandschaft beitragen kann.21 Die für die Virtual Wall zuständige Orga-
_____________ 18 Medien werden in diesen Konzeptionen primär als technische Verbreitungsmedien angesehen. Bezeichnungen wie Massen- und Individualmedien belegen, dass der Erkenntniswert dieser Medienentwürfe auf den Aspekt der (technischen) Verbreitung und dessen Effekte abheben. Vgl. hierzu etwa Helmut Schanze: „Medien.“ In: Ders.: Metzler Lexikon Medientheorie (Anm. 15), 199-201; Robert Kaiser: „Mc Luhan, Herbert Marshall.“ In: Schanze: Metzler Lexikon Medientheorie (Anm. 15), 196-197; sowie den Artikel von Josef Wallmannsberger: „Medientechnologie.“ In: Schanze: Metzler Lexikon Medientheorie (Anm. 15), 250-252 dessen erster Satz dies bereits belegt: „Im Begriff [der Medientechnologie] liegt eine gewisse Pleonastik, da mediale Vermittlung immer schon technologische Einrichtung impliziert“. Ebenso sind in diesem Zusammenhang Medientheorien zu nennen, deren Grundlage das klassische Sender-Empfänger Modell bilden, in dem Medien als ‚Kanäle‘ der Übermittlung konzipiert sind. 19 Dieser Dienst wird heute oft mit dem Internet, also dem „weltweiten Zusammenschluß verschiedener Computernetzwerke zu einem einzigen, dezentralen Netzwerk“, gleichgesetzt (Thomas Kind: „Internet.“ In: Schanze: Metzler Lexikon Medientheorie [Anm. 15], 154). Zur näheren Erläuterung des World Wide Web Dienstes siehe ebd., 155. 20 Schmidt: Die Welten der Medien (Anm. 14), 3. 21 Diese Institutionen schaffen für internet-vermittelte Medien Rahmenbedingungen, die laut Christoph Bieber zur Herausbildung einer Netzöffentlichkeit notwendig sind, und etablieren die medientechnologisch übergreifende Reichweite von Medien, die über das Internet transportiert werden.
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nisation – der VVMF –, hat die eigenen Handlungsvoraussetzungen hierfür selbst schaffen bzw. durch Lobbying herbeiführen können.22 Wie wichtig letztlich sozialsystemische Institutionalisierung für kollektive Medien der Erinnerung ist, kann anhand der Thesen Maurice Halbwachs’ zum kollektiven Gedächtnis veranschaulicht werden: Das kollektive Gedächtnis, so Maurice Halbwachs, wird nicht von der geschriebenen, sondern von der gelebten Geschichte gestützt. Der Unterschied zwischen gelebter und geschriebener Geschichte liegt darin, dass gelebte Geschichte über all das verfügt, „was notwendig ist, um einen lebendigen und natürlichen Rahmen zu bilden, auf den das Denken sich stützen kann, um das Bild seiner Vergangenheit zu bewahren und wiederzufinden“.23 Diese Rahmen werden durch verschiedene Formen sozialsystemischer Institutionalisierung etabliert. Auch Pierre Nora hat in seiner Konzeption der Gedächtnisorte bereits implizit die Rolle sozialsystemischer Institutionalisierung für die Herausbildung eines Mediums der kollektiven Erinnerung dargelegt. Gedächtnisorte, so Nora, entstehen dort, wo zur materiellen und funktionalen Bedeutung eines Mediums eine symbolische Dimension hinzutritt. Diese Dimension ist notwendig, da der Erinnerungsinhalt nicht länger Teil des gesellschaftlichen Lebens, Teil des allgemeinen Erinnerungsmilieus, ist. Die Aktivierung eines spezifischen Erinnerungsmilieus obliegt nun gesellschaftlich relevanten Kräften: Die sozialsystemische Institutionalisierung schafft nicht nur den Gedächtnisort, der außerhalb des Alltagslebens und außerhalb der als Vergangenheit wahrgenommenen Vergangenheit steht, sondern etabliert die Medientechnologie und schafft ein primär auf den Gedächtnisort – nicht den Gedächtnisinhalt – abgestimmtes Erinnerungsmilieu.24
Dies hat vor allem damit zu tun, dass die Prominenz und der Einfluss der Institutionen diesen Online-Medien den Weg in etablierte Medienöffentlichkeiten eröffnen. Vgl. Christoph Bieber: „Digitaler Strukturwandel der Öffentlichkeit? Zur Re-Konfiguration politischer Akteure durch Neue Medien.“ In: Patrick Rössler et al. (Hrsg.): Politische Akteure in der Mediendemokratie. Neue Anforderungen an die politische Kommunikation. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2002, 113-128. 22 Eine Schilderung der Entstehung des VVMF und seiner Handlungsvoraussetzungen enthält Jan C. Scruggs & Joel L. Swerdlow: To Heal a Nation. The Vietnam Veterans Memorial. New York: Harper & Row 1985. 23 Maurice Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis. Stuttgart: Ferdinand Enke Verlag 1967, 55. 24 Siehe hierzu Pierre Nora: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Berlin: Wagenbach 1990, 11-33. Vgl. zu Medien des kollektiven Gedächtnisses in Noras Lieux de mémoire auch den Beitrag von Patrick Schmidt in diesem Band. Die Verwendung des Institutionalisierungsbegriffs in der Soziologie mag weitere Einblicke in die Rolle dieser Medien-Komponente eröffnen. Vgl. hierzu vor allem Peter L. Berger & Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt am Main: Fischer 1992 sowie Anthony Giddens: Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung. Frankfurt a.M. et al.: Campus 1997.
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Im Fall der Virtual Wall ist der VVMF die maßgebliche Institution zur Konstitution der erforderlichen ‚Rahmen‘.25 Aufgrund seiner führenden und einzigartigen Stellung in der nationalen Erinnerungslandschaft der Vereinigten Staaten zum Vietnamkrieg, die ihm sogar Einfluss auf die Lehrpläne einzelner Bundesstaaten eröffnet hat,26 bestimmt der VVMF den Erfolg oder Misserfolg eines jeglichen Gedächtnismediums zum Vietnamkrieg in diesem Land. Bedenkt man darüber hinaus, dass das Internet kaum als primärer Ort des kollektiven Gedenkens27 in Betracht gezogen wird, ist die Rolle des VVMF von umso größerer Bedeutung, da er durch eine offensive Einbettung in das eigene ‚Erinnerungsprogramm‘ die Durchsetzung und aktive Nutzung der Virtual Wall als Gedächtnismedium etabliert hat und weiterhin garantiert.28 (4) Die vierte und letzte konstitutive Komponente des Schmidt’schen Medienbegriffs ist das Medienangebot. Als Beispiele für Medienangebote benennt Schmidt etwa Zeitungsartikel oder Rundfunk- und Fernsehsendungen, doch begreift er Medienangebote nicht als ‚Bedeutungscontainer‘. Hieraus resultiert, dass keine Informationen oder Bedeutungen durch werkimmanente Interpretation aus ihnen entnommen werden können.29 Stattdessen beschreibt Schmidt Medienangebote als „(unbewusst oder strategisch eingesetzte) kulturell normierte Anlässe für subjektgebundene produktive Bedeutungskonstruktionen (wie z.B. Erinne-
_____________ 25 Zur Entstehung des VVMF, des Vietnam Veterans Memorial und somit der entsprechenden Erinnerungslandschaft siehe Scruggs & Swerdlow: To Heal a Nation (Anm. 22). 26 Vgl. hierzu die Angaben auf den Seiten des VVMF zu dem Programm Teach Vietnam (VVMF: Teach Vietnam. 2003. URL: http://www.vvmf.org/index.cfm?SectionID=6 [Stand 26.01.2004]). 27 Hierbei kommt vor allem das Rezeptionscharakteristikum der individuellen Rezeption zum Tragen. In der Regel ist die Nutzung des Internets auf den individuellen Gebrauch beschränkt und wird eher selten durch Gruppen bzw. ein Kollektiv ausgeübt. Kollektives Gedenken hingegen wird meist auf die Rezeption durch ein Kollektiv und nicht auf ein Individuum hin ausgelegt. Hinzu kommen bei einem Denkmal die Aspekte der Materialität und der Semantisierung des Raumes, die bei der Konzeption von kollektivem, öffentlichem Gedenken bewusst inszeniert werden und die im Internet nicht in dieser Form umzusetzen sind. 28 Nicht zu vernachlässigen ist ebenso der Aspekt der Konflikthaftigkeit einer Erinnerungsthematik. Insbesondere Themen, die in der politischen Öffentlichkeit gemieden oder gar tabuisiert werden, wie etwa der Holocaust in Deutschland oder der Vietnamkrieg in den Vereinigten Staaten, kommen erst durch Organisationen wie den VVMF auf die politische Agenda. Der Konflikt, der laut Andreas Langenohl, die entscheidende Variable kultureller Erinnerung ist, kann schließlich ausgetragen werden und auf die Aushandlung des spezifischen Erinnerungsmilieus Einfluss nehmen. Siehe hierzu Andreas Langenohl: „Erinnerungskonflikte und Chancen ihrer ‚Hegung‘.“ In: Soziale Welt 52 (2001), 71-92 sowie ders. „‚Kulturelles Gedächtnis‘? Soziologische Bedenken.“ In: Erwägen Wissen Ethik 13 (2002), 255-257. 29 „Die bis heute weitverbreitete Auffassung, Informationen bzw. Bedeutungen seien in Medienangeboten i.w.S. (Texten, Dokumenten, Filmen usf.) enthalten und würden hermeneutisch aus ihnen wieder entnommen, ist theoretisch wie empirisch nicht haltbar.“ Schmidt: Die Welten der Medien (Anm. 14), 66.
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rungen)“.30 Hierbei ist allerdings zu beachten, dass Medienangebote nicht autonom sind und daher nicht ohne Miteinbeziehung der übrigen Komponenten betrachtet werden können.31 Wann wird ein Medium zu einem Gedächtnismedium? Die Voraussetzungen hierfür werden im Zusammenwirken der oben dargestellten Medien-Komponenten geschaffen. Besonders hervorzuheben ist hierbei das Medienangebot als konkreter Anlass zur rezipientenseitigen Konstruktion von Erinnerungen. Gedächtnismedien muss also die Möglichkeit zu Grunde liegen, mit ihrer Hilfe zu erinnern. Ausschlaggebend ist demnach die Medienwirkung. Denn hieran lässt sich ablesen, ob die Möglichkeit der Erinnerungskonstruktion, die als spezifische Funktion angeboten wird, von den Aktanten genutzt wird oder nicht. Nur wenn Rezipienten die ihnen zugedachte Rolle als erinnerndes Subjekt annehmen und erfüllen, hat ein Medium seinen Zweck als Gedächtnismedium nicht verfehlt. Ein Medium des Gedächtnisses kann also auch dann entstehen, wenn das betreffende Medium nicht als Gegenstand zur Erinnerung geschaffen wurde. Den Zusammenhang zwischen den Möglichkeiten eines Mediums und deren tatsächlicher Nutzung erläutert Schmidt näher, indem er zwischen der strukturellen und der semantischen Medienwirkung unterscheidet. Die strukturellen Wirkungen, die sich im Zusammenwirken der vier konstitutiven Komponenten eines Mediums manifestieren, „entfaltet ein Medium, indem es durch seine Nutzungsmöglichkeiten ganz unabhängig von den einzelnen Aktanten Optionen eröffnet, die genutzt oder verweigert werden können.“32 Im Falle der Virtual Wall eröffnen die strukturellen Wirkungen zum Beispiel die Option, einer oder mehrerer der dort erfassten Personen zu gedenken.33 Da diese Option auch angenommen wird,
_____________ 30 Ebd. 31 Vgl. Schmidt: Kalte Faszination (Anm. 11), 95. Worin liegt nun aber in dieser Medienkonzeption der Unterschied zwischen Medien und Medienangeboten? Medien sind, so Schmidt, „nur bedingt bewusstseinsfähige Instrumente der Sinn-Kopplung und Wirklichkeitskonstruktion, wobei die Materialität der Dispositive wie der Medienangebote eine entscheidende Rolle spielt“ (ebd., 96). Der Hauptunterschied besteht somit in der Materialität. Medienangebote sind konkrete Anlässe, wohingegen Medien abstrakte Instrumente zur Wirklichkeitskonstruktion sind. Wie aber kann man dann die Virtual Wall zugleich als Medienangebot wie auch als ein Medium des kollektiven Gedächtnisses beschreiben? Das Medienangebot Virtual Wall, wie auch Medien des kollektiven Gedächtnisses sind Instrumente zur Erinnerung und erfüllen somit dieselbe Funktion. 32 Schmidt: „Medienkulturwissenschaft“ (Anm. 12), 355. 33 Diese Option ist gegeben durch die Möglichkeit der Virtual Wall so genannte remembrances hinzuzufügen. Eine remembrance ist eine Datei, die einem (oder allen) der Gefallenen bzw. Vermissten gewidmet ist. Es können sowohl Textnachrichten also auch Audio- oder Bilddateien hinterlegt werden. Im Mai 2003 waren etwa 52.400 Dateien verzeichnet, am 28.11.2003 war die Zahl der Dateien auf 88.536 angewachsen. Am 10.1.2004 enthielt die Virtual Wall 90.917 angehängte remembrances. Die entsprechend aktuellen Zahlen können in der Rubrik ‚Remembrances‘ direkt unterhalb des Links ‚View all remembrances‘ abgelesen werden (VVMF: Remembrances. 2003. URL: http://www.vvmf.org/index.cfm?SectionID=111 [Stand 26.01.2003]).
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ist das Medienangebot Virtual Wall also ein Erinnerungsanlass zur aktuellen Konstruktion von Vergangenheit und somit ein Gedächtnismedium. Es lässt sich allerdings nicht allein anhand der strukturellen Wirkungen erklären, wie ein Gedächtnismedium zu einem kollektiven Medium der Erinnerung wird. An dieser Stelle erlangen die semantischen Wirkungen eines Mediums Bedeutung. Diese Wirkungen können laut Schmidt „durch die inhaltliche Nutzung von Medienangeboten im Rahmen der strukturellen Bedingungen eines Mediums in der Gesellschaft entfaltet werden.“34 Die strukturellen Bedingungen resultieren aus dem sich selbst organisierenden Zusammenwirken von Kommunikationsinstrumenten, Medienangebot, Medientechnologie und sozialsystemischer Institutionalisierung. Hier ist die sozialsystemische Institutionalisierung von besonderer Bedeutung. Durch das Bewerben der Virtual Wall und der Etablierung dieses Gedächtnismediums innerhalb der Gedächtnislandschaft ‚Amerikanische Erinnerung an den Krieg in Vietnam‘ durch den VVMF wird die bereits bestehende Erinnerungsgemeinschaft angesprochen und eingebunden. Der Einsatz einer weiteren Medientechnologie im Instrumentarium dieser Erinnerungslandschaft vermag zudem weitere Personen anzusprechen, die etwa das Erinnern am heimischen Rechner dem Erinnern in der Konfrontation mit Rezipienten am Vietnam Veterans Memorial aus diversen Gründen vorziehen. Dass es bei der Virtual Wall ein rezipierendes Kollektiv35 gibt, lässt sich allein an der Zahl der remembrances36 ablesen, die der Virtual Wall kontinuierlich beigefügt werden. Da die Autoren der remembrances meist eine E-Mail-Adresse hinterlassen, können Nutzer der Virtual Wall Kontakt zueinander aufnehmen. In einigen Fällen enthalten remembrances sogar explizite Bitten um Kontaktaufnahme.37
_____________ 34 Schmidt: „Medienkulturwissenschaft“ (Anm. 12), 355. 35 Die Charakteristika diese Kollektivs können an dieser Stelle nicht näher beleuchtet werden, da dies den Rahmen des Artikels sprengen würde. 36 siehe Anm. 33. 37 Die Rezeptionscharakteristika der Virtual Wall können nicht mit einem simplen SenderEmpfänger Modell beschrieben werden. Zum einen ist ein solches Modell nicht mit dem Kompaktbegriff ‚Medium‘ kompatibel, da das Medium kein bloßer ‚Kanal‘ der Vermittlung ist, sondern ein Instrument der Wirklichkeitskonstruktion. Das Konzept eines ‚Senders‘, der eine Botschaft kodiert, und eines ‚Empfängers‘, der diese dekodiert, scheint somit auch nicht sinnvoll anwendbar. Rezipienten der Virtual Wall sind daher keine ‚Empfänger‘. Vielmehr ist zwischen Produzenten und Rezipienten im Sinne von Konstruierenden zu unterscheiden. Produzenten sind all diejenigen, die an der strukturellen Konstruktion der Virtual Wall beteiligt waren und/oder sind, wie z.B. Personen, die an der Konzeption und technischen Umsetzung dieses Gedächtnismediums beteiligt waren und/oder sind, sowie Autoren von remembrances. Rezipienten sind all diejenigen, die mit Hilfe der Virtual Wall eine subjektive und aktualisierte Bedeutung von Vergangenheit konstruieren.
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III. Die Virtual Wall als Erinnerungsanlass Nachdem die Frage beantwortet wurde, wie aus einem Medium ein Medium des kollektiven Gedächtnisses wird, soll näher auf die Konstruktivität des vorliegenden Untersuchungsgegenstandes eingegangen werden. Hierbei sind mindestens zwei Ebenen der Betrachtung zu unterscheiden: Auf der ersten Ebene wird das Medium durch die einzelnen konstitutiven Komponenten und deren spezifische Zusammensetzung strukturell als Medium konstruiert. Auf der zweiten Ebene erfolgt die Konstruktion einer spezifischen Funktion des Mediums durch das Zusammenspiel von Medienanlass und dem rezipierenden Kollektiv. Diese zweite Ebene basiert auf der ersten, da das Medium die jeweilige Funktion strukturell ermöglichen muss. Die erste Ebene wurde bereits bei der Darlegung des Medienkonzepts hinreichend erläutert, so dass der Fokus dieses Abschnitts auf der Konstruktion der Funktion der Virtual Wall liegen wird und somit auf deren Rezeption durch ein Kollektiv. Den Kern der Virtual Wall stellen die bereits genannten Erinnerungsdateien, die remembrances, dar. In Anlehnung an das Vietnam Veterans Memorial liegt der Schwerpunkt der Erinnerung an den Vietnamkrieg auf den dort verzeichneten Individuen. Doch im Unterschied zum Vietnam Veterans Memorial in Washington, D.C., treten die Personen, denen das Gedenken gilt, noch stärker in den Vordergrund, was vor allem in der zum Einsatz kommenden Medientechnologie begründet ist. Die Erinnerungsdateien können beim Besuch der Virtual Wall an keiner Stelle in einem Gesamtüberblick eingesehen werden. Das alleinige Ordnungsmerkmal ist der spezifische Eintrag zu einer der verzeichneten Personen. Dieser Umstand wurde mit der neuesten Veränderung der Virtual Wall noch einmal verstärkt. Zuvor war es möglich, neben der Suche nach Einträgen über eine Person auch nach Gruppen38 zu suchen. Jedoch wurden die entsprechenden Ergebnisse in Form einer Liste von Links präsentiert, die zu einzelnen Einträgen von Personen führten. Die Rezeption der Gruppeneinträge war somit wiederum nur über die einzelnen Profile möglich. Auch in der neuen Version der Website gelangt man über den Navigationspunkt ‚View all remembrances‘39 nicht zu einer Gesamtliste oder gar zu übergeordneten Ordnungskriterien, sondern erhält lediglich die Anzeige einer Liste all derer remembrances, die an einem spezifischen Datum dort veröffentlicht wurden. Das folgende Bild zeigt beispielhaft das spezifische Profil des Clayton Allen Fannin, welches bereits durch mehrere remembrances – vier Texteinträge sowie eine Bilddatei – ergänzt wurde. Ein reguläres Standardprofil ohne Erweiterungen enthält lediglich die links neben der Fotografie plat-
_____________ 38 Die Gruppen waren nicht als solches vorgegeben, sondern ergaben sich aus der Kombination einzelner Suchkriterien, wie etwa dem Ort der Einschreibung. 39 VVMF. Remembrances. 2003 (Anm. 33).
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zierte Liste mit den relevanten Eckdaten zur Person. Der ‚Content‘ der Virtual Wall wird primär über ein solches Profil rezipiert.
Abb. 1: Profil von Clayton Allen Fannin
Die (Rezeptions-)Struktur der Virtual Wall legt den Fokus auf die Erinnerung an die individuellen US-amerikanischen Opfer. Die fünf Navigationspunkte der Site verdeutlichen dies: (a) ‚Remembrances‘, (b) ‚Search‘, (c) ‚Put A Face With A Name‘, (d) ‚Support ‘ sowie (e) ‚Experience the Wall ‘. Bereits die Punkte (a) und (b) dienen dem Zweck, zu den remembrances und den dazugehörigen Profilen zu führen. Dies erfolgt über eine Erinnerungsdatei hin zum Profil oder umgekehrt. Gleichzeitig findet sich unter den drei ersten Navigationspunkten die Möglichkeit, die Virtual Wall um zusätzliche Erinnerungsdateien zu erweitern. Punkt (d) enthält die für derartige Websites obligatorischen Frequently Asked Questions (FAQ), ein Feedback-Formular sowie ein Formular zur Änderung der Eckdaten einer spezifi-
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schen Person, das vom VVMF an das Department of Defense weiter gleitet wird. Der Navigationspunkt (e) ‚Experience the Wall‘ enthält eine virtuelle Simulation des Vietnam Veterans Memorial, über welche man ebenso auf die einzelnen VeteranenProfile zugreifen kann. Diese ‚eindimensionale‘ und unspektakuläre Simulation ist jedoch für die Rezeption der Virtual Wall kaum von Bedeutung.40 Neben der dargestellten Fragmentierung des Erinnerungsinhalts fällt zudem auf, dass die Rezeptionsmöglichkeiten der Virtual Wall individualisiert angelegt sind. Es gibt keinen vorgegebenen Weg durch die Website, der das erinnernde Kollektiv zusammenführen könnte. Denkbar wäre zum Beispiel eine guided tour, die eine Rezeptionsreihenfolge vorgeben könnte. Viel wichtiger für die Ausprägung eines auf die angewandte Medientechnologie zugeschnittenen Kollektivs könnte ein Forum oder ein Chat sein. Diese beiden Optionen könnten zur Herausbildung einer medienspezifischen community führen, wie dies bei anderen Foren oder Chats oftmals zu beobachten ist. In der vorhergehenden Version der Virtual Wall waren ein Diskussionsforum und ein Chat vorgesehen. Unklar ist, warum sowohl Chat als auch die threaded discussions nach einiger Zeit wieder eingestellt wurden. Besonders eindrucksvoll wurde die individualisierte Rezeption der Virtual Wall auch durch die in der vorhergehenden Version mögliche Personalisierung der Website deutlich. Man konnte sich nach der Registrierung eine mit ‚My Virtual Wall‘ betitelte, leicht individualisierte Startseite erstellen. Die Editierung der personalisierten Virtual Wall beschränkte sich jedoch auf das Platzieren einzelner Links auf Profile oder remembrances auf dieser Startseite. Die Veränderung eines der dort aufgeführten Profile, zum Beispiel durch das Hinzufügen neuer Erinnerungsdateien durch Andere, wurde beim nächsten Besuch durch ein Symbol vor dem Link kenntlich gemacht. Die Möglichkeiten, die in der Virtual Wall von deren Produzenten angelegt wurden, zielen also einzig und allein auf die Erinnerung an die amerikanischen Gefallenen und Vermissten des Vietnamkrieges. Nicht nur die Opfer der gegneri-
_____________ 40 Die charakteristischen Rezeptionsmerkmale des Vietnam Veterans Memorial, wie etwa die Reflextion der Besucher in schwarzem, geschliffenem Granit, oder die Möglichkeit, die in den Granit eingelassenen Namen zu berühren, können in der Virtual Wall nicht umgesetzt werden. Auch die Semantisierung des Raumes – die beiden Enden des Memorials deuten auf das Lincoln Memorial und das Washington Monument, und das Memorial selbst ist in den Boden eingelassen – fällt durch den Einsatz der Medientechnologie ‚Internet‘ weg. Hierdurch erscheint die Simulation ‚eindimensional‘, und es fehlt ihr an Anziehungskraft. Ein weiterer zu beachtender Aspekt ist der des Layouts. Nach der letzten Veränderung der Virtual Wall im September 2003 wurde nur diese Simulation nicht an das neue Layout der Website angepasst. Hierdurch wird der Eindruck erweckt, dass diese Rubrik im Gegensatz zum Rest der Website nicht überarbeitet wurde und somit ‚veraltet‘ ist. Hinzu kommt, dass die Verlinkung über die Simulation zu den einzelnen Profilen seit Dezember 2003 nicht funktioniert. Da sich die Navigationsmerkmale der Simulation nur sehr marginal verändert haben, kann man daraus schließen, dass sich diese Rubrik in der Überarbeitung befindet. Allerdings fällt dies nur denjenigen auf, die mit der Funktionalität der vorherigen Version vertraut waren.
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schen Seite werden ausgeblendet, sondern ebenso zivile Verluste sowohl der Amerikaner als auch anderer Nationen. Die Virtual Wall führt somit eine Erinnerungshegemonie fort, die bereits durch das Vietnam Veterans Memorial etabliert wurde. Neben der passiven Rezeption der Virtual Wall hat die oder der Erinnernde die Möglichkeit, die Virtual Wall um eigene Einträge zu erweitern und somit den emotionalen Eindruck einzelner Profile nachhaltig zu verändern.41 Da man nicht selbst, sondern nur der VVMF letztlich die vorher überprüften remembrances der Virtual Wall hinzufügt, kann ausschließlich die vom VVMF vorgesehene Funktion – der in der Virtual Wall erfassten Personen zu gedenken – erfüllt werden.42 Dass diese Option von einem erinnernden Kollektiv angenommen wird, zeigt sich allein an der großen Anzahl von remembrances, die bis zum heutigen Datum veröffentlicht wurden.43 Die Virtual Wall ist somit als ein Konstrukt der Erinnerung zu verstehen, dass sowohl Erinnerung konstruiert, als auch durch Erinnerungen konstruiert wird. Die Optionen, die den Aktanten eröffnet werden, führen zur Nutzung der Virtual Wall als kollektives Medium der Erinnerung. Durch die der Virtual Wall hinzugefügten Erinnerungsdateien wird diese inhaltlich modifiziert, neu konstruiert und eröffnet zugleich neue Bedeutungskonstruktionen.
IV. Die Beziehung von Erinnerungslandschaft und Medium des kollektiven Gedächtnisses Die Historizität von Kollektivgedächtnissen hat zur Folge, dass sich auch deren Medien historisch wandeln. An der Virtual Wall lässt sich exemplarisch verdeutlichen, wie sich einzelne Medien des kollektiven Gedächtnisses und die sie umgebene Erinnerungslandschaft wechselseitig verändern.
_____________ 41 Im Vergleich zum Vietnam Veterans Memorial ist dies von besonders großer Bedeutung. Während die Rezipienten am Memorial in Washington, D.C., sich mit den Namen vieler Individuen als Teil eines gewaltigen Mahnmals konfrontiert sehen, erhalten die Besucher der Virtual Wall Informationen über das betreffende Individuum. Vor allem die Erweiterung der Profile durch Fotografien der Personen versehen den fremden Namen mit ‚Charakter‘. Natürlich ist der ‚Charakter‘ der spezifischen Person von Profil zu Profil verschieden, was vom Inhalt und der Art der hinzugefügten remembrance(s) abhängt. Manche remembrances enthalten biografische Details aus dem Leben derer, denen gedacht wird. Andere wiederum sind unpersönlicher Art und haben kaum einen Einfluss auf die Wahrnehmung der Erinnerten durch ‚Fremde‘. 42 Zwar gibt es die Möglichkeit, eine so genannte general remembrance zu verfassen, die allen Gefallenen und Vermissten auf der Virtual Wall gewidmet ist, doch gibt es keine Option, sich alle anzeigen zu lassen. Gelegentlich wird eine der general remembrances in der Rubrik ‚Remembrances‘ unter der Überschrift ‚Featured Remembrance‘ gesondert hervorgehoben. Die Auswahl erfolgt jedoch anhand des spezifischen Inhalts der Erinnerungsdatei und nicht aufgrund der Zuordnung ‚general‘. Andere general remembrances können nur zufällig gefunden werden. 43 Vgl. die Angaben in Anm. 33.
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Abb. 2: Die in das Online-Angebot des VVMF eingebettete Startseite der Virtual Wall
Die Virtual Wall ist Teil der vom VVMF maßgeblich modellierten nationalen Erinnerungslandschaft ‚Amerikanische Erinnerung an den Vietnamkrieg‘. Da das Kapitel Vietnam in der amerikanischen Geschichte aufgrund der gesellschaftlichen und politischen Konflikte um diesen verlorenen Krieg noch lange Zeit nach
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dessen Ende ein ‚heißes Eisen‘ für die Politik war, stellte sich die Etablierung einer entsprechenden Erinnerungskultur als äußerst schwierig dar. Das Thema Vietnam war für den politischen Diskurs tabu, und die Erinnerung war den betroffenen Überlebenden und Hinterbliebenen allein überlassen. Da sich die Thematik nicht mit einem heroischen Kriegerdenkmal verbinden ließ, wurde die Lösung des Problems in der Entpolitisierung des Gedenkens gesehen. Der VVMF hatte in seiner speziellen Konzeption eines nationalen Denkmals einen möglichen Ankerpunkt für eine zu entwerfende Erinnerungskultur geschaffen: Der nationale Verlust von Familienmitgliedern und US-amerikanischen Individuen wurde in den Vordergrund gerückt. Das Vietnam Veterans Memorial konnte 1982 schließlich als eine Art ‚heroisches Mahnmal‘ Einzug in den Memorial Park in Washington, D.C., halten. Durch die Lokalisierung des Mahnmals und das Design konnte zudem eine Brücke zwischen nationaler und individueller Erinnerung errichtet werden.44 Dieses Medium der kollektiven Erinnerung bildet das Zentrum einer durch den VVMF weiter ausgebauten Erinnerungslandschaft. Zu dieser gehören Programme und Medienangebote, wie etwa das Programm Teach Vietnam45 oder das Medienangebot The Legacy of The Wall46. (vgl. Abb. 2) In dieser Erinnerungslandschaft ist die Virtual Wall von besonderer Bedeutung, da sie eine mediale Erweiterung des Vietnam Veterans Memorial darstellt. Noch vor Fertigstellung des Vietnam Veterans Memorial zeichnete sich ab, dass das erinnernde Kollektiv sehr stark an die einzelnen dort erfassten Individuen gebunden war. Nicht nur die zahlreichen Gegenstände, die am Memorial hinterlassen wurden, zeigen dies. Auch die Tatsache, dass viele der Besucher/-innen, die eine persönliche Bindung zu einem oder mehreren der dort Verzeichneten hatten, mit dieser Person durch Berühren des Namens in Verbindung zu treten versuchten, belegt dies eindrucksvoll. Ein Vergleich dieser beiden Medien des kollektiven Gedächtnisses zeigt, dass die Virtual Wall, vor allem aufgrund der zum Einsatz kommenden Medientechnologie, diesen Bedürfnissen des erinnernden Kollektivs weitere Facetten hinzufügen kann. Das Vietnam Veterans Memorial kann ein Gefühl der Zugehörigkeit zu einem erinnernden Kollektiv besser vermitteln als die Virtual Wall, da man am Mahnmal immer auch mit anderen Erinnernden konfrontiert wird. Dies hat vor allem mit der Semantisierung des Raumes zu tun – einer Option, die einem internet-vermittelnden Medium in dieser Form nicht zur Verfügung steht. Hingegen kann die Virtual Wall den Bedürfnissen der Mitglieder des erinnernden Kollektivs, den Individuen auch individuell zu gedenken, womöglich eher gerecht werden.
_____________ 44 Siehe hierzu den Literaturhinweis in Anm. 22. 45 Weitere Informationen über die edukative Initiative Teach Vietnam unter VVMF. Teach Vietnam (Anm. 26). 46 Informationen zu der Wanderausstellung The Legacy of The Wall unter VVMF: The Legacy of The Wall. 2003. URL: http://www.vvmf.org/index.cfm?SectionID=22 (Stand 26.01.2003).
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Dies geschieht durch die Funktion, durch die der Name auf der ‚Wand‘ innerhalb der Virtual Wall mit weiteren Informationen versehen werden kann. Diese Option ist aufgrund der medientechnologischen Gegebenheiten fast bis ins Unendliche erweiterbar. Die Verzeichneten bekommen dadurch ein ‚Gesicht‘ und eine ‚Biografie‘ und werden somit zu ‚Persönlichkeiten‘. Durch diese ‚Biografie‘ wird deutlich, dass diese Individuen einem familiären und sozialen Gefüge entrissen wurden. Der Verlust, den der Vietnamkrieg mit sich gebracht hat, kann somit noch deutlicher empfunden werden. Darüber hinaus spricht die Virtual Wall zugleich Nutzer einer anderen Medientechnologie an, so dass der potentielle Kreis der Mitglieder des Kollektivs der spezifischen Erinnerungslandschaft erweitert wird. 47 Die Faktoren Raum und Zeit, die beim Besuch des Vietnam Veterans Memorial von großer Bedeutung sind, treten bei der Rezeption der Virtual Wall in den Hintergrund. Auch finanzielle und logistische Faktoren mögen eine Rolle spielen, da eine Reise nach Washington, D.C., für die Mehrheit der Mitglieder des erinnernden Kollektivs teurer und zeitintensiver sein wird als ein Besuch der Virtual Wall, der in der Regel wenig Planung und Kosten voraussetzt. Bereits jetzt lässt sich erkennen, dass sich die wechselseitige Veränderung von Gedächtnismedium und Erinnerungslandschaft weiter fortsetzt: Seit einigen Jahren arbeitet der VVMF an der Verwirklichung eines Visitor Center, welches unterirdisch auf dem Gelände des Vietnam Veterans Memorial angelegt werden soll.48 Ein Zitat des VVMF Gründers Jan Scruggs verdeutlicht die Intention dieser Erweiterung: „This addition to the Memorial is a tribute to the three million men and women who served in the Vietnam War and will transform The Wall that heals into The Wall that educates.“49 Eine erneute Transformation der Erinnerungskultur, deren Mittelpunkt das Vietnam Veterans Memorial darstellt, zeichnet sich somit bereits ab. Inhaltlich soll das Vietnam Veterans Memorial Visitor Center Informationen zum Memorial wie auch Hintergrundwissen zu den Ereignissen des Vietnamkrieges vermitteln. Gleichzeitig sind Informationsbroschüren geplant, die
_____________ 47 Als Einschränkung ist hierbei anzuführen, dass jede Medientechnologie vom potentiellen Nutzer spezifische Medienkompetenzen voraus setzt. Rezipienten der Virtual Wall müssen zum Beispiel über die notwendigen Kenntnisse verfügen, um über die Medientechnologie ‚Internet‘ auf die Virtual Wall zugreifen zu können. Zudem muss man wissen, welche Software benötigt wird, um die verschiedenen Kommunikationsinstrumente am heimischen Rechner angezeigt zu bekommen bzw. abspielen zu können. 48 Der VVMF hat im Dezember 2004 die Rubrik ‚The Memorial‘ um den Navigationspunkt ‚Education Center‘ erweitert (VVMF: Education Center. 2003. URL: http://www.vvmf.org/index.cfm?Section ID=51 [Stand 26.01.2004]). Hierunter werden zahlreiche Informationen zur Geschichte und der weiteren Planung dieses Centers angeboten. Anlass dieses neuen ‚Unterkapitels‘ im Informationsangebot des VVMF ist der zum 15. Januar 2004 ausgeschriebene Design-Wettbewerb. 49 Zitat aus einer Pressemitteilung des VVMF vom 18. November 2003, in der über die Erreichung der rechtlichen Voraussetzungen zur Verwirklichung des Visitor Center berichtet wird (VVMF: President Bush Signs Visitor Center Bill. 2003. URL: http://www.vvmf.org/index.cfm?SectionID=298 [Stand 26.01.2004]).
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eine Verbindung des Vietnam Veterans Memorial zu den angrenzenden Kriegerdenkmälern herstellen sollen. Welche Rolle die Virtual Wall bei dieser Umstrukturierung der Erinnerungslandschaft spielen wird, lässt sich zu diesem Zeitpunkt nur mutmaßen. Eine Aussage des VVMF zu den Plänen lässt eine Integration der Virtual Wall in dieses Visitor Center vermuten: „[The Visitor Center] also will serve as a facility to collect written and digital remembrances of those whose names are inscribed on the Memorial, thus creating a unique historical record for current and future generations.“50 Durch die Integration der Virtual Wall in das Visitor Center würde eine direkte Einbindung des Publikums des Vietnam Veterans Memorial in die Virtual Wall und somit eine engere Zusammenführung zweier zum Teil sehr unterschiedlicher Rezipientenkreise möglich. In Bezug auf die historische Wandelbarkeit von Medien des kollektiven Gedächtnisses bleibt die Betrachtung der Virtual Wall somit auch über die nächsten Jahre hinweg spannend.
V. Individuelle Ausblickspunkte auf ein kollektives Gedächtnis Neben der Historizität lässt sich an der Virtual Wall als Medium des kollektiven Gedächtnisses auch die Kulturspezifität von kollektiven Gedächtnismedien exemplarisch darlegen. Wenngleich die Medientechnologie ‚Internet‘ per se als grenzüberschreitend und transnational wahrgenommen wird, ist dies für die Betrachtung dieses spezifischen Mediums doch unerheblich. Die Optionen, die eine Medientechnologie eröffnet, werden durch die jeweilige Konstruktion eines Medienangebots weiter beschränkt. Im Fall der Virtual Wall sind die durch die spezifische Programmierung vorgesehenen Nutzungsmöglichkeiten und der Faktor der Rezeption für die Betrachtung der Kulturspezifität ausschlaggebend. Da die Virtual Wall strukturell nur individualisiertes Erinnern an spezifische Personen zulässt, wird sie dem kollektiven Gedächtnis, wie Maurice Halbwachs es beschrieben hat, besonders gerecht. Halbwachs zufolge sind keine Gruppen oder kollektive Träger von (lebendigen) Erinnerungen, sondern immer nur Individuen. Diese Individuen nähren und formen das durch sie entstehende kollektive Gedächtnis. Das Kollektiv selbst beschreibt Halbwachs in Anlehnung an den Philosophen und Mathematiker Gottfried Wilhelm Leibniz als eine Art „unendlich und den verschiedensten Linien nach teilbare soziale Materie“51. Darüber hinaus gibt es keine kollektive Wahrnehmung des zu Erinnernden, da „jedes individuelle Gedächtnis [...] ein ‚Ausblickspunkt‘ auf das kollektive Gedächtnis [ist]; dieser Ausblickspunkt wechselt je nach der Stelle, die wir darin einnehmen, und diese Stelle selbst wechselt den Beziehungen zufolge, die ich mit anderen Milieus un-
_____________ 50 VVMF. Education Center (Anm. 48). 51 Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis (Anm. 23), 74.
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terhalte“52. Die Rezeptionsmöglichkeiten der Virtual Wall sind demnach einem erinnernden Kollektiv optimal angepasst. Die Virtual Wall ist Teil einer Erinnerungskultur, innerhalb der episodische Erinnerungen, ihre mediale Repräsentation und Rekonstruktion – und damit: ihre Kollektivierung – eine große Rolle spielen.53 Episodische Erinnerungen sind eingebettet in einen spezifischen zeitlichen und räumlichen Rahmen und beziehen sich auf persönlich erlebte Ereignisse, Orte oder Dinge.54 (vgl. Abb. 3)
Abb. 3: Eine der Erinnerungsdateien für Richard C. Amato
Den globalen Rahmen der in der Virtual Wall erfassten Erinnerungsinhalte stellen die Ereignisse während des Vietnamkriegs sowohl in Vietnam als auch in den Vereinigten Staaten dar. Der ‚Content‘ setzt sich wiederum aus einer Vielzahl von einzelnen episodischen Erinnerungen zusammen, die Ausblicke auf das Leben der im Rahmen der Virtual Wall erinnerten Personen eröffnen. Da ausschließlich US-amerikanischen Soldatinnen und Soldaten gedacht wird, die in der amerikani-
_____________ 52 Ebd., 31. 53 Zur Erläuterung der psychologischen Kategorien der semantischen, episodischen, deklarativen und prozeduralen Erinnerungen siehe: William Hirst & David Manier: „The Diverse Forms of Collective Memory“. In: Gerald Echterhoff & Martin Saar (Hrsg.): Kontexte und Kulturen des Erinnerns. Maurice Halbwachs und das Paradigma des kollektiven Gedächtnisses. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft 2002, 37-58. Der Artikel untersucht, unter welchen Bedingungen diese Kategorien auf eine kollektive Ebene übertragen werden können. Zum kollektiven episodischen Gedächtnis siehe insbesondere 41 sowie 53f. Vgl. dazu auch den Beitrag von Gerald Echterhoff in diesem Band. Zur medialen Vermittlung episodischer Erinnerungen in den USA im Zusammenhang mit dem 11. September vgl. den Beitrag von Erik Meyer und Claus Leggewie. 54 Vgl. ebd., 41.
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schen Kultur verwurzelt waren und durch deren Hinterbliebene weiterhin sind, kann die kulturelle Prägung sich innerhalb der Virtual Wall manifestieren.
Abb. 4: Eine der Erinnerungsdateien für Gary Lee Binder
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Mit Hilfe der Erinnerungsdateien werden Emotionen erzeugt, die essentielle Elemente sozialer wie auch kultureller Interaktion sind. Welche Emotionen wann angemessen sind, wie sie ausgedrückt werden und wann sie zu erwarten sind, ist kulturspezifisch kodiert und dementsprechend konventionalisiert. Das geteilte Wissen um diesen kulturellen Code fließt schließlich sowohl bei der Produktion als auch bei der Rezeption der Virtual Wall mit ein, so dass die im Rahmen dieses Gedächtnismediums konstruierte Vergangenheit kulturspezifisch ist.55 (vgl. Abb. 4) Sowohl die Inhalte als auch die Option, sich zu erinnern, sind auf das nationale amerikanische Trauma Vietnamkrieg hin ausgerichtet. Die Öffentlichkeit, die sich um dieses Medium der kollektiven Erinnerung herum gebildet hat, ist tief in der amerikanischen Kultur verwurzelt. Die beiden oben abgebildeten remembrances zeigen beispielhaft sowohl die Verwurzelung der Rezipienten in der amerikanischen Kultur als auch die Verankerung der Erinnerungen in den individuellen Trägern derselben. Zudem fließt die spezifische kulturelle Erinnerungsproblematik in die Gestaltung dieser Erinnerungslandschaft und somit in die Konstruktion der Virtual Wall mit ein.
VI. Fazit Die Virtual Wall ist ein Medium der kollektiven Erinnerung. Eingebettet ist die Website in eine komplexe, sich verändernde Erinnerungslandschaft, welche die amerikanische Erinnerung an den Vietnamkrieg zum Inhalt hat. Zwar wurde die Virtual Wall in Anlehnung an das Vietnam Veterans Memorial geschaffen, doch ist sie keine bloße Simulation desselben. Das in der Medientechnologie ‚Internet‘ umgesetzte Medium vermag den Charakteristika kollektiver Gedächtnisse aufgrund der medientechnologischen Gegebenheiten und der daraus resultierenden Rezeptionscharakteristika offensichtlich auf eine andere Weise gerecht zu werden, als dies das Vietnam Veterans Memorial kann. Dass die Virtual Wall ohne die anderen Medien der kollektiven Erinnerung innerhalb dieser Erinnerungslandschaft nicht als ein solches Medium akzeptiert worden wäre, sollte dennoch nicht außer Acht gelassen werden. Die Virtual Wall wurde mit dem Ziel, der auf dem Vietnam Veterans Memorial verzeichneten Personen zu gedenken, konzipiert und konstruiert. Die Historizität von Medien des kollektiven Gedächtnisses lässt sich ebenso an der Virtual Wall ablesen, da die Erinnerungslandschaft konstanten Veränderungen unterworfen ist. Die Umdeutungen sind in den sich wandelnden Ansprüchen der Mitglieder des rezipierenden Kollektivs an die entsprechenden kollektiven Gedächtnismedien begründet. Als Teil der nationalen Erinnerungslandschaft
_____________ 55 Vgl. hierzu die Ausführungen Schmidts zu Gefühlen als unentbehrlicher Bestandteil sozialer Interaktion in: Ders.: Die Welten der Medien (Anm. 14), 13f.
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ist die Virtual Wall nicht nur historisch wandelbar, sondern auch kulturspezifisch konstruiert. Kern der Akzeptanz der Virtual Wall als kollektives Medium der Erinnerung ist die Individualisierung des Gedenkens: Erstens kommt die Virtual Wall den charakteristischen, isolierten Rezeptionsbedingungen von Medien, die für die Übermittlung durch die Medientechnologie ‚Internet‘ geschaffen wurden, entgegen. Zweitens befriedigte sie den Wunsch der Mitglieder des erinnernden Kollektivs, der getöteten oder als vermisst geltenden Soldatinnen und Soldaten aus individualisierter Perspektive zu gedenken – ein Grundbedürfnis, das sich immer stärker abgezeichnet hatte. Dies lässt sich zum einen durch die politische Verdrängung der Vietnam-Thematik in den familiären Raum erklären und zum anderen durch den Charakter erinnernder Kollektive, deren Träger die individuellen Mitglieder des Kollektivs sind. Zum Zeitpunkt der Errichtung des Vietnam Veterans Memorial hatte sich die Erinnerungspraxis, spezifischer Personen innerhalb eines engeren sozialen Umfeldes zu gedenken, bereits habitualisiert. Eine aktuelle Konstruktion der amerikanischen Vergangenheit in Vietnam auf kollektiver Ebene musste diese gesellschaftlichen Erfahrungen mit einbeziehen. Drittens bietet die Virtual Wall die Möglichkeit, episodische Erinnerungen in einen kollektiven Gedächtnisbestand zu überführen. Über diese Erinnerungen wird die kulturelle und zum Teil auch persönliche Prägung der Mitglieder des erinnernden Kollektivs in die Virtual Wall inkorporiert, so dass hier eine Erinnerungskultur entstehen konnte, die sich sehr nah an den familiären und individuellen Erinnerungen des Traumas Vietnam bewegt.
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„Collecting Today for Tomorrow“1 Medien des kollektiven Gedächtnisses am Beispiel des ‚Elften September‘ I. Von der individuellen Erinnerung zur kollektiven Kommemoration Die Beschäftigung mit ‚Medien des kollektiven Gedächtnisses‘ wirft automatisch die Frage nach der Abgrenzung von Medien des individuellen Gedächtnisses auf. Als solche eignen sich zunächst alle Materialien, die dazu angetan sind, Informationen in einer Art zu speichern, die es dem Individuum erlauben, sich an diese direkt bzw. an damit verknüpfte Sachverhalte zu erinnern. Dabei dürfte die schriftliche Fixierung die in der Moderne gebräuchlichste Form der Mnemotechnik sein. Die Notiz verkörpert idealtypisch eine individuelle Gedächtnisstütze und wird bislang im Alltag auch nur begrenzt von technisierten Aufschreib- (computerbasierte Textverarbeitungsprogramme) oder Aufzeichnungssystemen (Diktafon) abgelöst. Alternativen wie der ‚Knoten im Taschentuch‘ („Einsendeschluss in drei Tagen“) haben sich als nicht so leistungsfähig herausgestellt, weil nämlich schnell vergessen wird, an was diese Markierung erinnern sollte. Gemeint ist mit dem Gedächtnisbegriff in der Regel aber eine weniger triviale Form des Erinnerns von Daten und Fakten, die auf die Biografie des betreffenden Individuums abzielt. Es geht dabei nicht um den Einkaufszettel, sondern um die dauerhafte Repräsentation von Begebenheiten, die aus der Perspektive des an künftiger Erinnerung interessierten Individuums biografisch bedeutsam erscheinen. Auch dieser Verwendungszusammenhang hat eine idealtypische Gattung hervorgebracht, nämlich das Tagebuch. In ihm werden in der Regel zeitnah und selektiv Erlebnisse notiert und sinnstiftend kommentiert. Es zielt direkt auf die Dokumentation einer individuellen Lebensgeschichte, sei es in der Auseinandersetzung mit emotionalen Zuständen oder der Protokollierung von persönlichen Eindrücken und Erfahrungen. Als im Allgemeinen besonders privat ausgezeichnetes Gedächtnismedium ist seine Erfolgsgeschichte jedoch gerade durch die
_____________ 1 „September 11 as History: Collecting Today for Tomorrow“ lautete der Titel eines Symposiums der Library of Congress vom 10.9.2003.
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Veröffentlichung intimer Aufzeichnungen begründet, womit die Unterscheidung zwischen Medien des individuellen und kollektiven Gedächtnisses prekär wird.2 Größere Verbreitung als das Tagebuch, dessen Verfertigung ein erhebliches Maß an Zeit und Muße voraussetzt, dürfte in der Gegenwart die Sammlung von Fotografien (Foto-Alben) als Medien des individuellen Gedächtnisses haben. In Abhängigkeit von der Verfügbarkeit eines Fotoapparats und den Kosten für die Anfertigung von Abzügen (die bei digitaler Fotografie durch entsprechende Speicher- und Verbreitungsmedien ersetzt wird) ermöglicht die Fotografie eine vergleichsweise unaufwändige Form der Speicherung. Sie erfasst in der Regel auch ganz andere Informationen als die schriftliche Aufzeichnung. Es handelt sich um Momentaufnahmen eines Zustandes, der nur gestützt durch Notizen und Bildlegenden oder vom informierten Betrachter adäquat zugeordnet werden kann. Bei diesem jedoch kann das Bild eine Fülle von Erinnerungen evozieren, ohne dass es notwendig wäre, die betreffenden Informationen zu explizieren und eigens zu (ent)äußern. Insofern handelt es sich bei der Fotografie um ein besonders leistungsfähiges Medium des individuellen Gedächtnisses.3 Film und Video bieten ähnliche mnemotechnische Möglichkeiten, sie sind aber sowohl hinsichtlich Produktion als auch der Rezeption voraussetzungsvoller. Neben solchen mit einer expliziten Überlieferungsabsicht angefertigten medialen Artefakten eignen sich aber auch alle ‚Überreste‘ als Medien des individuellen Gedächtnisses, insofern sie für denjenigen, der damit konfrontiert wird, eine besondere Bedeutung haben. Dies gilt für materielle wie immaterielle Zeichenträger gleichermaßen. Die aufbewahrte Eintrittskarte eines Konzerts kann an die damit verbundenen Erlebnisse und Eindrücke genauso erinnern wie das Hören der betreffenden Musik, womit nur sehr simple Verweisungszusammenhänge angesprochen werden und weitaus komplexere Assoziationen anzunehmen sind. Was unterscheidet diese kursorisch rekapitulierten Medien von denen des kollektiven Gedächtnisses? Geht man von der Existenz eines solchen aus, so lässt sich der Unterschied in zweierlei Hinsicht skizzieren: Es kann erstens angenommen werden, dass die repräsentierten historischen Inhalte für ein bestimmtes Kollektiv als relevant erachtet werden, und man muss zweitens davon ausgehen, dass diesem Kollektiv die Rezeption der betreffenden Medien auch möglich ist. In diesem Sinne kann das unveröffentlichte Tagebuch kein Medium des kollektiven Gedächtnisses sein, und das veröffentlichte Tagebuch kann nur dann dazu werden, wenn dessen Inhalte in einen signifikanten Zusammenhang mit den Mitgliedern eines Kollektivs gebracht werden können.
_____________ 2 Zur Vermittlung von individuellem und kollektivem Gedächtnis vgl. die von Welzer konstatierte Orientierung kommunikativ tradierter Lebensgeschichten an „medialen Scripts“ etwa aus Spielfilmen (Harald Welzer: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München: Beck 2002, 178). 3 Vgl. zum fotografischen Gedächtnis auch den Beitrag von Jens Ruchatz in diesem Band.
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Zur Funktion der Speicherung tritt auf der Ebene der Medien des kollektiven Gedächtnisses also die der Verbreitung, die in modernen Gesellschaften gemeinhin von Massenmedien übernommen wird. Dabei unterscheidet sich jedoch die gedächtnisbezogene Gebrauchsweise der individuell erzeugten Artefakte von denen der kulturindustriell produzierten bzw. distribuierten. Im Gegensatz zum Tagebucheintrag oder dem Familienfoto werden die meisten massenmedialen Inhalte nicht zu dem Zweck der Archivierung und späteren Rezeption angefertigt, sondern sie sind gerade durch ihre je aktuelle Bedeutung charakterisiert. Während das private Foto üblicherweise von Anfang an als ein Medium des individuellen Gedächtnisses fungiert, dient ein Spielfilm beispielsweise bei seiner Erstaufführung nur dann als Medium des kollektiven Gedächtnisses, wenn er auch Aussagen über die Vergangenheit enthält. Ist dies nicht der Fall, dann kann er nur im Lauf der Zeit zu einem Medium des kollektiven Gedächtnisses werden, etwa wenn ein Kollektiv ihn aus der Retrospektion als für frühere Zustände charakteristisch erachtet. Insofern sind Massenmedien nicht per se Medien des kollektiven Gedächtnisses, sondern können nur unter bestimmten Bedingungen als solche angesprochen werden. Erscheint die Entwicklung eines aktuellen Artefakts zu einem Gedächtnismedium, die durch Prozesse kollektiver Historisierung bestimmt ist, als unproblematisch, so wirft die absichtsvolle Vermittlung historischer Inhalte die zentrale Problematik der Selektion auf. Während das Individuum autonom entscheiden kann, welche Artefakte einen persönlichen Erinnerungswert haben und deshalb von ihm archiviert und rezipiert werden, ist dies bei Kollektiven erheblich komplizierter. So ist bei bestimmten Gruppen und Gemeinschaften ein Konsens über tradierenswerte Informationen denkbar bzw. es existieren Kollektive, die gerade durch diesen Konsens als ‚Erinnerungsgemeinschaften‘ charakterisiert sind. Eine Generation lässt sich beispielsweise als eine solche Erinnerungsgemeinschaft begreifen. Der Einzelne fühlt sich ihr gerade deswegen zugehörig, weil sich die Mitglieder seiner Altersgruppe in identitätsstiftender Weise auf spezifische historische Begebenheiten beziehen und um diese herum ‚gruppieren‘, ohne dass dies (wie meistens unterstellt wird) eine übereinstimmende Deutung des Geschehens implizieren würde. Diese soziale Konstruktion basiert somit seitens der Subjekte auf freiwilliger Mitgliedschaft. Bei einer der lange bevorzugten Analyseeinheiten moderner Sozial- und Kulturwissenschaft gilt dies in der Regel jedoch nicht: Der Nationalstaat sowie der auf dessen territoriale Einheit bezogene Gesellschaftsbegriff operieren im Modus der Zwangsmitgliedschaft. Dies mag für die Analyse von Medien des kollektiven Gedächtnisses in autoritären politischen Systemen, in denen eine klar definierbare Elite die Macht ausübt und damit über Formen und zu vermittelnde historische Inhalte entscheidet, unproblematisch sein. In pluralistischen Gesellschaften bedarf es hingegen komplexer Meinungsbildungsprozesse, in denen jeweils und andauernd ausgehandelt werden muss, was überhaupt als Gegenstand kollektiver Kommemoration erachtet werden
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kann. Eine ‚sinnstiftende‘ Übereinkunft wird man hier nur geschichtspolitisch konstruieren, aber nicht als verbindlich unterstellen dürfen. In diesem Sinne bringen Massenmedien, die historische Inhalte vermitteln, zunächst vor allem Angebote für Artefakte hervor, welche als Medien des kollektiven Gedächtnisses fungieren können. Darunter fallen fiktionale wie dokumentarische Filme und Fernsehsendungen, aber auch Romane und Sachbücher sowie Comics und multimediale Anwendungen mit historischen Sujets. Relevantes Kriterium für ihre Verbreitung ist in der Regel weniger die normative Absicht der Themensetzung; ihr Erfolg entscheidet sich vielmehr marktabhängig. Ein Film, den keiner sieht, oder ein Buch, das keiner liest, kann kaum zu einem Medium des kollektiven Gedächtnisses werden, es sei denn, es würde sich als zu Unrecht ignorierte Rarität ‚entdecken‘ lassen und gerade damit allgemeine Bekanntheit erlangen. Es spielen hierbei vor allem ‚sachfremde‘ Kriterien eine Rolle, die man aus der Theorie der Nachrichtenwerte kennt 4 – der ‚Stoff‘ an sich muss interessant oder aber zumindest interessant aufbereitet sein. Neue Aspekte oder Akzente wecken mehr Interesse als bereits bekannte Thematisierungsstrategien. Exklusives Material generiert im Gegensatz zu bereits vorhandenen Darstellungen Aufmerksamkeit. Personalisierende Zugänge und markante Details finden eher Resonanz als abstrahierende Aussagen. Und prominente Akteure haben bessere Chancen zur Artikulation als andere, es sei denn, ihnen wird ebenfalls der Status eines ‚Superstars‘ oder die Fama einer 15-Minuten-Berühmtheit zuerkannt. Nur unter Berücksichtigung solcher Aspekte einer so genannten ‚Ökonomie der Aufmerksamkeit‘5 sind Themenkonjunkturen und die differierende Popularität von verschiedenen Formaten im Hinblick auf für das kollektive Gedächtnis relevante massenmediale Angebote und Artefakte ausreichend zu erklären.
2. Der ‚Elfte September‘ als Erinnerungsort Wir haben damit einen möglichen Rahmen angegeben, in welchem sich ‚Medien des kollektiven Gedächtnisses‘ bewegen, und wollen diesen Rahmen – zwangsläufig tentativ und vorläufig – am Beispiel der kollektiven Erinnerung an den ‚Elften
_____________ 4 Vgl. dazu auch die These von der Genese der spezifischen Bildästhetik der von Guido Knopp verantworteten TV-Geschichtsdokumentationen aus der Konkurrenz von öffentlich-rechtlichen und kommerziellen Fernsehprogrammen bei Wulf Kansteiner: „Die Radikalisierung des deutschen Gedächtnisses im Zeitalter seiner kommerziellen Reproduktion: Hitler und das ‚Dritte Reich‘ in den Fernsehdokumentationen von Guido Knopp.“ In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 51 (2003), 626-648. 5 Georg Franck: Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf. Wien: Hanser 1998.
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September‘ 2001 (‚Nine Eleven‘6) erproben. Was dessen Kommemoration und die mit ihm verbundene kollektive Identitätsbildung betrifft, kann man dieses Datum als ein mit großer Wahrscheinlichkeit generationsstiftendes Ereignis bezeichnen, das zugleich – so unsere These – den nationalen Rahmen sprengt, in welchem Generationen üblicherweise konstruiert und verhandelt werden.7 Diese Beschränkung dürfte im Zeichen massenkultureller Globalisierung bereits seit längerem obsolet sein. Gerade die Erinnerung an den ‚Elften September‘ wird stimuliert und gerahmt durch seine Inszenierung und permanente Reinszenierung als transnationales Medienereignis, womit eben nicht gemeint sein soll, dass es sich um eine in allen Nationen und Kulturen gleiche Perzeption handelt. Kulturelle Ausdifferenzierung gehört vielmehr zu jedem, auch transnationalen Generationszusammenhang. Am Beispiel dieses von Beginn an transnationalen Ereignisses kann man die Evolution und Ausdifferenzierung von Medien des kollektiven Gedächtnisses darstellen. Sie reichen von ‚privaten‘, in die Sphäre öffentlicher Kommemoration transportierten Erinnerungsfetzen über literarische und audio-visuelle Genres der Darstellung zu neuen, integrativen Speicher- und Interaktionsmedien (Internet), in denen die ‚alten Medien‘ zugleich gebündelt werden; damit werden die vorherrschenden Tradierungsweisen kollektiver Erinnerung per Massenkommunikation in neuartige, individualisierte Massenmedien überführt und rekonfiguriert. Die folgende Skizze soll diese Ausdifferenzierung des kollektiven Erinnerns am ‚globalen Erinnerungsort‘8 des ‚Elften September‘ exemplarisch verdeutlichen. Die kollektive Erinnerung an ‚Nine Eleven‘ ist sehr stark präformiert durch die Perspektive der Fotoapparate und Kameras, die am Morgen des 11.9.2001 im Augenblick des Geschehens zufällig (in einem Fall sogar ‚planmäßig‘9) auf das World Trade Center (WTC) gerichtet waren und den Urhebern des Terroranschlags in New York den wohl einkalkulierten Gefallen taten, die unerhörte Begebenheit im Bild festzuhalten. Der Einschlag der beiden Flugzeuge, die dadurch
_____________ 6 Diese Zahlenkombination ist für US-Amerikaner einprägsam, da es sich auch um die telefonische Notrufnummer handelt. 7 Den Status eines transnationalen Medienereignisses hat man auch schon der Studentenbewegung um 1968 und der Holocaust-Rezeption zugewiesen. Vgl. dazu Carole Fink et al. (Hrsg.): 1968. The World Transformed, Cambridge/New York: Cambridge UP 1998 sowie Daniel Levy & Natan Sznaider. Erinnerung im globalen Zeitalter. Der Holocaust. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001. 8 Vgl. dazu Claus Leggewie: „11. September 2001 – welche Niederlage. Notizen zur Entstehung eines globalen Erinnerungsortes.“ In: Horst Carl et al. (Hrsg.): Kriegsniederlagen: Erfahrung – Erinnerung. Tagungsakten des SFB 437 Kriegserfahrung und des SFB 434 Erinnerungskulturen (Tübingen 4.-5. April 2003). Berlin 2004 (im Druck). Zum Verhältnis von ‚Erinnerungsort‘ und ‚Medien des kollektiven Gedächtnisses‘ vgl. den Beitrag von Patrick Schmidt in diesem Band. 9 Der Künstler Wolfgang Staehle hat die Terrorattacke – nichts ahnend – durch eine auf 24 Stunden eingestellte Webcam eingefangen. Das Video war 2001 in der Max Protech Gallery zu sehen, Screenshots sind abgebildet in Paul Virilio (Hrsg.): Ce qui arrive. Paris: Fondation Cartier 2002, 178f.
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verursachten Feuerbälle und der zu befürchtende, aber dramatisch verzögerte Einsturz beider Türme des WTC sind live in alle Welt übertragen worden; dank einer permanenten Wiederholung sind diese Bilder zu den Ikonen von ‚Nine Eleven‘ geworden. Die Prägung dieses massenhaften Bild-Eindrucks kann man ermessen an den anderen Anschlägen am gleichen Tag, von denen es nur wenige, post festum aufgenommene Bilddokumente gibt. Und sie kontrastiert auch mit den Erinnerungen derjenigen, die im WTC anwesend waren und den Anschlag überlebt haben, sowie mit den Erinnerungen der Menschen in den umliegenden Gebäuden und all derjenigen, die dem Ereignis aus einem Fenster in New York und Umgebung zuschauten, ohne dass sie dabei als Reporter für das Fernsehen berichteten oder, quasi zur Beglaubigung des Gesehenen, in den Fernseher starrten. Das Prägende dieser individuellen Erinnerung waren Gefühle von ungläubigem Staunen, Panikreflexen und Todesängsten, die vermittelt über Telefonate aus dem WTC Tausende anderer Menschen ergriffen, ereignete sich die Katastrophe doch in einer der dichtest besiedelten Stadtlandschaften der Welt. Zu diesen visuellen Eindrücken kamen bei den Überlebenden und Anrainern des WTC der ohrenbetäubende Lärm, der penetrante Geruch, der alles überdeckende und einhüllende Staub – all dies noch Wochen nach dem Ereignis und verschärft durch rigide Absperrungsmaßnahmen, die Tausende daran hinderten, ihre Wohnungen und Büros aufzusuchen. An diesem extremen Beispiel kann man die mediale Transformation individueller in kollektive Erinnerungsstücke aufzeigen: – –
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Telefonate aus dem WTC oder aus gekaperten Flugzeugen, in denen Notrufe abgesetzt oder nahe stehenden Personen letzte Lebenszeichen gegeben wurden, sind mittlerweile in Textform oder als Audiofile publiziert worden.10 Die materiellen Überreste der eingestürzten Türme, mit Millionen von Schriftstücken, Bürogegenständen aller Art, persönlichen Besitztümern und, horribile dictu, Leichenteilen, die von Bergungsmannschaften zu Identifizierungszwecken gesammelt und auf eine große New Yorker Deponie (‚Fresh kills‘) gebracht wurden, wurden ausgestellt.11 Suchfotos, Steckbriefe und Mitteilungen, die verzweifelte Angehörigen in der Nähe von ‚Ground Zero‘ angebracht hatten, etwa an die Umzäunung der St. Pauls-Kapelle, gingen in Fotodokumentationen und -ausstellungen ein, genau wie Schnappschüsse vom 11. September und von den ersten Tagen danach.
_____________ 10 Vgl. Der Spiegel 36 (2003) sowie die New York Times (29.8.2003). 11 Siehe dazu die Broschüre zur Ausstellung Recovery des New York State Museum (download als PDF-Datei unter www.nysm.nysed.gov/exhibits/recovery.pdf).
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In der New York Times und später in Buchform erschienen individuelle Nachrufe auf die meisten Toten aus dem World Trade Center und bei den Rettungsmannschaften.12 Wichtigstes Erinnerungszeichen war das ‚amerikanischste‘ aller amerikanischen Medien, die Nationalflagge; ‚Old Glory‘ umhüllte als stummes Zeichen die Särge toter Feuerwehrleute, schmückte TV-Trailer, zierte Bettwäsche, Socken und Mützen, bedeckte ganze Fassaden und flankierte die Ausfallstraßen; und in einem Fernsehfilm von CBS schwenkte sogar ein Neugeborenes den Wimpel in seiner Hand.13
Mit solchen und weiteren Materialien wurde die ‚oral history‘ des ‚Elften September‘ in das kommunikative Gedächtnis der Stadt New York eingespeist, während sich auf der Grundlage des erwähnten Film- und Videomaterials ein MetaNarrativ des ‚Elften September‘ weltweit über die Fernsehstationen verbreitete. 14 Das geschah vor allem zum ersten Jahrestag des Ereignisses, dessen ikonische Qualität sich rasch im ‚Menschheitsgedächtnis‘ einnistete; zentral war dabei die Endlos-Reproduktion der Bilderfolge im Fernsehen. Private und lokale, also individuell und idiosynkratisch codierte Gedächtnisstücke (wie etwa ein vom Asbeststaub eingehülltes Teeservice, das als Pressefoto um die Welt ging), werden in diesen Referenz- und Interpretationsrahmen eingebaut, der mit dem griffigen Titel ‚Nine Eleven‘ Zäsurcharakter beansprucht. Schon am Abend des Geschehens wurde ihm epochale Bedeutung zugemessen – nichts werde bleiben wie es war, hieß die einschlägige Ansage15, die weniger auf eine Unterbrechung der ökonomisch-technischen Funktionssysteme moderner Gesellschaften abhob (welche ja erstaunlich reibungslos weiter liefen) als auf einen sozialpsychologischen und mentalitätsgeschichtlichen Einschnitt spekulierte. Das Fernsehen konnte sich in diesem Zusammenhang als die maßgebliche Institution kollektiven Erinnerns beweisen, ganz ähnlich wie der Fall der Berliner Mauer im doppelten Sinne (eine) Fernsehgeschichte wurde. Elektronische Bildmedien treten dabei gewollt oder ungewollt propagandistisch auf, wie die audiovisuelle Inszenierung des ersten Jahrestags des ‚Elften September‘ gezeigt hat. Zwar hatten die Programm-Verantwortlichen Sensibilität zugesagt, aber schon die Masse der Sendungen verletzte jedes Maß und oft auch die Würde der Opfer.
_____________ 12 Als „Portraits of Grief “ in den Ausgaben der New York Times bis zum 31.12 2001, dann als Buch mit dem Titel Portraits: 9/11/01. The Collected ‚Portraits of Grief ‘ from the New York Times (New York: Times Books 2002). 13 Sabine Heinlein: „Flaggen und Gehängte. Amerika und die jüngsten Moden des Krieges.“ In: Frankfurter Rundschau (5.1.2002). 14 Vgl. hierzu auch – aus psychologischer Perspektive – die Merkmale des kollektiv-episodischen und des kollektiv-semantischen Gedächtnisses in dem Beitrag von Gerald Echterhoff in diesem Band. 15 Vgl. dazu die Dokumentation des Verlags Karl Müller (Hrsg.): Die erste Seite: Internationale Schlagzeilen nach dem 11. September 2001. Frankfurt a.M.
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Von besonderer Bedeutung war hier der zufällig entstandene, als Dokumentation der Arbeit der New Yorker Feuerwehr geplante Dokumentation 9/11 von Jules und Gideon Naudet (Frankreich 2002). Eher hilflos reagierte das Kino auf den ‚Elften September‘. Die amerikanische Filmindustrie bot überwiegend Vorproduziertes (Collateral Damage, Bad Company) und Lachhaftes (The Sum of all Fears). Schien ausgerechnet diese uramerikanische Institution von der Wucht der ‚authentischen‘ Bilder paralysiert zu sein, ordneten elf internationale Regisseure den Anschlag in ihrem in Venedig uraufgeführten Episodenfilm 11‘09“01 in Gewaltschauplätze auch der übrigen Welt ein.16 Damit unterstrichen sie, dass der ‚Elfte September‘ Gegenstand globaler Erinnerung ist, die Amerika nicht allein ausrichtet und die USA auch als Täter (andernorts) vorführt. Hollywood, in enger Fühlung mit der CIA, gab sich patriotisch, martialisch und rachsüchtig – als wäre die ‚Traumfabrik‘ gekränkt darüber, wie die ‚wirklichen‘ Bilder ihre sämtlichen Horrorfantasien überstiegen. Ein ‚Dreh‘ wie der von Mohammed Atta und seinen Komplizen war noch nie auf der Leinwand zu sehen. Zu sehen waren post festum, freilich, welch’ eine Ironie, die Attentäter wenige Stunden vor den Taten beim Einchecken in ihre Maschinen, routinemäßig aufgezeichnet durch die Überwachungskameras an Flughäfen oder Bankomaten, womit das Panoptikum der globalen Überwachung seine grandiose Nutzlosigkeit in der völlig unauswertbaren Bilderflut unter Beweis stellte. Überhaupt hatte eine vermeintlich an Bilder gewohnte „Mediengesellschaft“ extreme (und nur zu verständliche) Schwierigkeiten, diese unerhörten Bilder „einzuordnen“. Weder war die Inszenierung des realen Schreckens, die kühl die Omnipräsenz der Kamera einkalkuliert, wie oft behauptet, durch formal identische Plots in Horrorfilmen oder Werbespots antizipiert. Noch kann man behaupten (wie dies nach den Kriegen am Golf und auf dem Balkan Usus wurde), Bilder von Kriegsschauplätzen würden per se ‚lügen‘, oder sie würden rezipiert wie postmoderne Simulationen, wie es eine weit verbreitete These von Jean Baudrillard besagt.17 Der ‚Elfte September‘ war, wenn man über seine langfristige Bedeutung überhaupt spekulieren möchte, eher eine Zäsur der visuellen Wahrnehmung, die vor allem der PseudoEvidenz des (bewegten) Bildes und der damit verbundenen Fokussierung von Aufmerksamkeit auf Bildmaterial einen Schlag versetzt hat. Im Vergleich dazu sei ein Blick auf ältere Gedächtnismedien – wie die Fotografie, die fiktionale und nicht-fiktionale Literatur, die Musik und die Zeichnung – geworfen. Es liegen einige repräsentative Fotobände zum ‚Elften September‘ vor,
_____________ 16 Frankreich 2002, Produktion: Alan Brigand. 17 Jean Baudrillard: La guerre du golfe n'a pas eu lieu. Paris: Edition Galilée 1991.
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auch eine Sammlung literarischer Auseinandersetzungen18, auch wenn ‚den‘ Roman zum ‚Elften September‘ noch kein Schriftsteller gewagt hat; auf den Büchertischen liegen vornehmlich Dokumentationen19, Ratgeber und patriotische Erbauung.20 Ferner gibt es einige einschlägige Theaterstücke, vor allem das viel gespielte The guys von Anne Nelson21 und das umstrittene The Mercy Seat von Neil LaBute22. Einen ‚Erinnerungsort‘ eigener Art legte Bruce Springsteen mit dem Album The Rising vor, das sich Millionen Amerikaner als das vielleicht schon repräsentative Gedenkstück für die Opfer der Terroranschläge anhörten.23 Diese musikalische Miniatur hat sich, ähnlich wie Fotoausstellungen in New Yorker Galerien, anderen Versuchen überlegen gezeigt, der Katastrophe auf massenmediale Weise beizukommen. In solchen Momentaufnahmen wird Leid individualisiert und gerade damit auch kollektive Trauer möglich. Ähnliches gilt für die Comic-Produktion, exemplarisch bei Art Spiegelman.24 Schwierig gestalteten sich bisher alle Pläne, ‚Ground Zero‘ als auch ‚realen‘, für Hinterbliebene, Opfer und Touristen zugänglichen Erinnerungsort zu gestalten und so dieser jüngsten „Topografie des Terrors“ Gestalt zu verleihen. Unvereinbar wirkende Forderungen durchkreuzten dieses Vorhaben: Die Kontinuität des Geschäftslebens („business as usual“) mit der „Offenhaltung der Wunde“ und einem würdigen Gedenkort für Angehörige der Toten verbinden zu wollen, kommt einer mnemotechnischen Quadratur des Kreises gleich. Sicher wird am ‚Ground Zero‘, nach vermutlich noch lange anhaltenden symbolischen Konflikten und administrativen Querelen, eine repräsentative Gedenkstätte entstehen, die sich in den im Architektur-Wettbewerb siegreichen Entwurf von Daniel Libeskind einpassen muss. Dieser Entwurf, ein gezacktes, auf die Statue of Liberty anspielendes Zeichen der Hoffnung, zentralisiert als Monument das Gedenken an
_____________ 18 Ulrich Baer (Hrsg.): 110 Stories: New York Writes After September 11. New York: New York UP 2002; William Heyen (Hrsg.): September 11, 2001: American writers respond. Silver Springs/Md.: Etruscan Press 2002. 19 Als beste gilt auch in den USA Stefan Aust & Cordt Schnibben (Hrsg.): 11. September. Geschichte eines Terrorangriffs. Stuttgart/München: DVA 2002. 20 Vgl. etwa Roger Rosenblatt: Where We Stand: 30 Reasons for Loving our Country. New York: Harcourt 2002; William J. Bennett: Why We Fight. Moral Clarity and the War on Terrorism. New York: Doubleday Books 2002 sowie Dinesh D’Souza: What’s So Great About America. New York: Regnery Publishing 2002. 21 Das Stück, das monatelang in verschiedener prominenter Besetzung am New Yorker Broadway zu sehen war, kam 2003 in der Regie von Jim Simpson mit den Darstellern Sigourney Weaver und Anthony LaPaglia auch in die Kinos. Vgl. auch den Spielfilm 25th Hour von Spike Lee, USA 2003. 22 Dieses Stück nimmt den ‚Elften September‘ ‚nur‘ als Anlass für eine private Beziehungsgeschichte, in welcher ein untreuer Ehemann den Anschlag zum willkommenen Anlass seines Verschwindens nimmt. Dies ist eine typische Schnittstelle zwischen ‚privatem‘ und ‚öffentlichem Gedächtnis‘. 23 Das Erscheinen der CD (Sony) am 29. Juli 2002 war selbst ein Medienspektakel. 24 „Im Schatten keiner Türme“, Comic-Serie in: Die Zeit (Mai/Juni 2003).
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den ‚Elften September‘ auf ähnliche (und zugleich konträre) Weise wie die ikonische TV-Sequenz der Zerstörung des WTC. Die Entwürfe zu einem 9/11-Memorial sind mittlerweile bewertet worden; auch dazu wurde kritisch angemerkt, ein solches Mahnmal werde kaum ohne interpretative Zugaben, also einen musemsdidaktischen Appendix, auskommen. Aufgabenstellung war hier, in abstrakter Weise (also nicht mit der überdimensionalen Skulptur eines New Yorker Feuerwehrmannes) an das individuelle Leid, nicht an ein kollektives Desaster zu erinnern.
3. Portale der Erinnerung25 Angesichts dieser Schwierigkeiten kann man generell nach Möglichkeiten und Grenzen eines virtuellen Erinnerungsortes fragen, wobei das Internet den Vorteil besitzt, nicht ortsgebunden zu sein. Es kann als tatsächlich globales Gedächtnismedium zur Verfügung stehen und zugleich ob seiner multimedialen und interaktiven Kapazitäten die Ansprüche erfüllen, die im Verlauf der Wettbewerbe erhoben wurden: die Mitwirkung der Menschen (Nachbarn, Besucher, Familienangehörige der Opfer)26 und die Zusammenführung der einzelmedialen Inputs in einem digitalen Bild- und Tonarchiv. Als Komposit-Technologie kann das Internet ja tatsächlich sämtliche Medien- und Kommunikationsformate zu einem „Multi-Monomedium“ verdichten, an dem weniger die Erzeugung oder Aufnahme von Information ‚neu‘ ist als eben diese Medienkonvergenz, die es im Sinne unserer Fragestellung erlaubt, vom individuellen zum kollektiven Gebrauch und wieder zurück zu wechseln. Doch war das Internet auch ein Tummelplatz diverser Verschwörungstheorien. Damit fällt es weit hinter die vermeintlichen Potentiale zurück, die neue Medien als Orte öffentlicher Deliberation und Kommemoration haben können. Andererseits bilden diese fragmentarischen und konfusen Reaktionen getreu die lustvolle Verwirrung und heillose Panik ab, die der ‚Elfte September‘ zum Ausdruck brachte und auslöste. Hier meldet sich sozusagen der ‚Bauch‘ der Weltgesellschaft, den eine an offizieller und offiziöser Rhetorik orientierte Geschichtsschreibung nur schwer rekonstruieren kann, und der vom Mainstream der Kommemoration auch kaum erreicht wird.27 Während solche Artikulationen die
_____________ 25 Der Abschnitt reflektiert unsere Forschungsinteressen im Kontext des Teilprojekts E11 im SFB Erinnerungskulturen unter dem Titel „Visualisierung und Virtualisierung von Erinnerung. Geschichtspolitik in der medialen Erlebnisgesellschaft“, siehe www.memorama.de. 26 Diese Mitwirkung ist in eingeschränkter Form angestrebt bei der Virtual Wall, dem virtuellen Appendix des Vietnam Memorial in Washington, siehe dazu den Beitrag von Angela M. Sumner in diesem Band. 27 Einen Überblick über die im Netz zirkulierenden Verschwörungstheorien gibt, in sympathetischer Absicht, Mathias Bröckers, der das Internet als „letzte Garantie freier Kommunikation“ würdigt.
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unausbleibliche Konfusion des kommunikativen Gedächtnisses reflektieren, bilden die nun abschließend thematisierten Online-Archive und themenspezifischen Internet-Portale erste Ansätze einer Institutionalisierung individualisierter Massenkommemoration. Die wohl umfangreichste Online-Präsenz, die sich der Erinnerung an die Geschehnisse des ‚Elften Septembers‘ widmet, ist das „September 11 Digital Archive“ (www.911digitalarchive.org). Der Auftrag der Website, die von zwei universitären Einrichtungen unterhalten wird28, wird folgendermaßen charakterisiert: „The September 11 Digital Archive uses electronic media to collect, preserve and present the history of the September 11, 2001 attacks.“ Die betreffenden Quellen basieren maßgeblich auf den Einsendungen der User dieser Website, die dazu aufgefordert werden, sowohl ihre Erinnerungen retrospektiv darzulegen, als auch eigens angefertigte mediale Artefakte einzureichen. Der Bestand an Dokumenten, die online verfügbar sind, wird in folgende Rubriken eingeteilt: Unter der Überschrift „Stories“ werden vorwiegend persönliche Erlebnisberichte („first-personnarratives“) zum 11. September gesammelt, die entweder schriftlich eingereicht oder unter einer gebührenfreien Telefonnummer aufgezeichnet werden. Die Rubrik „E-Mail“ enthält gemäß der Aufforderung „Be a part of how the history of September 11 gets told!“ entsprechende Kommentare, die sich auf die präsentierten Quellen bzw. die Ereignisse selbst beziehen. Analog dazu ist die Rubrik „Still Images“ angelegt („Be a part of how the history of September 11 gets viewed!“), die Fotografien des Ereignisses aber auch digital kreierte oder manipulierte Bilder sowie Reproduktionen konventioneller Kunst enthält, welche in Auseinandersetzung mit dem Anschlag entstanden sind. In Anlehnung an diese Unterteilung werden unter dem Titel „Moving Images“ sowohl dokumentarische Videos zum Ereignis und seinen Folgen als auch digitale Animationen wie FlashFilme präsentiert. Unter der Überschrift „Audio“ wird auf ein weiteres OnlineProjekt verwiesen, nämlich die Sammlung von Aufzeichnungen unter dem Titel „Sonic Memorial“ (www.sonicmemorial.org). Dabei handelt es sich um eine Website, auf der sowohl Tondokumente archiviert sind, die mit dem Ereignis zu tun haben (z.B. auf Anrufbeantwortern aufgezeichnete Telefonanrufe von Betroffenen), aber auch retrospektiv angefertigte Aufzeichnungen von individuellen Erinnerungen sowie Tondokumente aus der Geschichte des World Trade Centers wie z.B. das Rauschen der Fahrstühle. Diese Quellen sind nicht nur nach verschiedenen Parametern recherchierbar, sondern unter dem Titel „Sonic Browser“
Vgl. Mathias Bröckers: „Welcome to Brainwashington D.C..“ In: telepolis (10.8.2003) und ders.: „Zwei Jahre nach 9/11.“ In: telepolis (8.9.2003). 28 Verantwortlich ist das American Social History Project/Center for Media and Learning am City University of New York Graduate Center sowie das „Center for History and New Media“ an der George Mason University.
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werden ausgewählte Aufnahmen als interaktive Installation in Form einer „Soundscape“ präsentiert.
Abb. 1: Interaktive Installation: Der „Sonic Memorial Browser“ (www.sonicmemorial.org)
Das „September 11 Digital Archive“ enthält unter der Rubrik „Dokumente“ weiterhin Flyer, die nach dem Ereignis in New York City zirkulierten, Reporte von Organisationen und Institutionen, die sich auf das Ereignis beziehen, sowie verschriftlichte Interviews mit Zeitzeugen. Der letzte Bestandteil der Website ist ein Portal, das annotiert auf weitere Websites zum Thema verweist. Die Kategorien, nach denen die dort recherchierten Links unterteilt sind, skizzieren das Spektrum der Online-Aktivitäten zur kommemorativen Auseinandersetzung mit dem 11. September. Sie sind einerseits nach den Verfassern der Angebote („Personal, Corporate, Organizations & Institutions, Media, Charity, Government“) und anderseits nach den Inhalten („Stories, Essays & Reflections, Discussion, Memorial, News, Links, Still Images, Audio, Video“) geordnet. Ein eigener Eintrag gilt der Dokumentation von Auszügen aus Weblogs, die in zeitlicher Nähe zum Ereignis entstanden sind. Dabei handelt es sich um Online-Tagebücher, die individuell geführt werden, aber potentiell von jedem lesbar sind, der die betreffende Adresse im World Wide Web kennt. Im deutschsprachigen Raum sind insbesondere Aufzeichnungen der Publizistin Else Buschheuer bekannt geworden, die zum Zeitpunkt der Geschehnisse online waren und inzwischen auch als Buch vorliegen.29
_____________
29 Else Buschheuer: www.else-buschheuer.de; dies.: Das New York Tagebuch. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2002.
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Im Hinblick auf die Charakteristika der skizzierten Online-Angebote als Gedächtnismedien fällt auf, dass die Funktion der Speicherung mit der Funktion der Verbreitung zusammenfällt30: Schon die individuell erstellte Website ist potentiell jedem User zugänglich und auch die in den Online-Archiven gesammelten medialen Artefakte werden im Gegensatz zu einem materialen Archiv nicht erst durch Ausstellungen, Bücher oder ähnliche Verbreitungsformen einer größeren Öffentlichkeit bekannt. Ähnlich wie bei der materialen Archivierung besteht jedoch die Gefahr, dass heute vorhandene Inhalte morgen nicht mehr auffindbar sind. Dies wurde im Fall der Online-Reaktionen auf den ‚Elften September‘ zum Anlass genommen, erstmals themenbezogen und zeitnah eine Archivierung von Webseiten und ihrer Veränderung zwischen dem 11.9. und dem 1.12.2001 vorzunehmen (www.september11.archive.org). Während dieses Unterfangen für alle Arten von Websites gilt, konzentrieren sich andere auf die Dokumentation von Online News Sites durch Screenshots (www.interactivepublishing.net/september) oder archivieren abrufbar die internationale Fernsehberichterstattung vom 11.9.2001 (tvnews3.televisionarchive.org/tvarchive/html/). Als weiteres Charakteristikum lässt sich die Einbeziehung der User in den Prozess der Verfertigung von kollektiv zugänglichen Gedächtnismedien erkennen. Die Angebote zeichnen sich gerade dadurch aus, dass nicht nur exklusive Artefakte archiviert werden, sondern potentiell allen Beiträgen eine Relevanz zugesprochen wird. Dadurch wird das Kriterium der Selektivität, das für die Veröffentlichung in anderen Medien typisch ist, unterlaufen.31 Dem Trend zur Pluralisierung und hypertextuellen ‚Ausfransung‘ von Autorenschaft entspricht auch die Individualisierung der Inhalte von Websites, die ausdrücklich als ‚Memorial‘ konzipiert sind. Im Zentrum dieser Angebote steht häufig die Nennung der Namen von Opfern der Anschläge in Verbindung mit weiteren persönlichen Angaben, die nach Möglichkeit durch ein Porträtfoto ergänzt werden. Auch hier wird oft die Einbeziehung der User ermöglicht, die sich online in Kondolenzlisten eintragen können, oder es werden den Usern Angebote unterbreitet, sich mit ihrer emotionalen Befindlichkeit im Hinblick auf das Ereignis auseinander zu setzen (z.B. durch die Wiedergabe von Texten zu ereignisbezogenen Gebeten).
_____________ 30 Ähnlich formuliert Jan Assmann, der im Hinblick auf das Internet folgende Veränderungen vermutet: „Sie werden vor allem zwei Grenzen betreffen, die sich verschieben und verwischen werden: die Grenze zwischen dem kommunikativen und dem kulturellen Gedächtnis und die Grenzen zwischen Funktions- und Speichergedächtnis [...].“ (Jan Assmann: „Das kulturelle Gedächtnis.“ In: Erwägen, Wissen, Ethik [EWE] 13 [2002], 239-247, 246.) 31 Auch hier argumentiert Jan Assmann (ebd.), wenn auch bezogen auf die Speicherkapazitäten, ähnlich: „Durch die exponentiell gesteigerten Speicherungsmöglichkeiten des Computers werden Grenzen und Selektionsmechanismen hinfällig, die von der Ökonomie und Verwaltbarkeit materieller Speichermedien diktiert sind.“
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Zu dieser Form der Kommemoration gehören darüber hinaus Merchandising-Angebote, d.h. es sind Kleidungsstücke, Geschirr oder Mouse-Pads mit Aufdrucken erhältlich, die das Logo der betreffenden Website in Verbindung mit einem entsprechenden Schriftzug zeigen. Die professionellsten Angebote dieser Art stammen von staatlichen Stellen wie der White House Commission on Remembrance (www.remember.gov), von Massenmedien wie dem TV-Nachrichtenkanal CNN (www.cnn.com/SPECIALS/2001/memorial/) oder etwa einem Dienstleister für die Online-Veröffentlichung von Todesanzeigen (www.legacy. com).
Abb. 2: Memo-Merchandising: „The Irish Tribute“ (www.cafeshops.com/irishabroad/16)
Verbreitet sind auch Angebote, die sich jeweils einer Teilmenge der Opfer unter dem Gesichtspunkt kollektiver Identität widmen. Besonders prominent sind dabei Angebote, die die zu Tode gekommenen Helfer fokussieren, sich also beispielsweise mit den betroffenen Feuerwehrleuten im allgemeinen oder eines bestimmten Stützpunktes befassen (z.B. www.publicsafe.net/fdny_main.htm). Aber auch andere Kollektive wie die Mitarbeiter einer betroffenen Firma (z.B. www.cantorfamilies.com/cantor/jsp/index.jsp), die Angehörigen einer ethnischen Gruppe (z.B. www.irishtribute.com/) und Opfer mit als relevant erachteter sexueller Orientierung finden Berücksichtigung (z.B. www.angelfire.com/fl3/ uraniamanuscripts/sept11.html). Hier zeigt sich schließlich, dass die OnlineRepräsentation des Gedenkens dazu geeignet ist, nicht nur Individuen, sondern
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eben auch andere Kollektive als die Nation in den Mittelpunkt der Kommemoration zu stellen. Solche ‚Portale der Erinnerung‘ gewähren somit einen Ausblick auf die Entwicklung von ‚Medien des kollektiven Gedächtnisses‘ im Kontext kultureller Glokalisierung.
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Zu den Autorinnen und Autoren Aleida Assmann, Studium der Anglistik und Ägyptologie in Heidelberg und Tübingen. Seit 1993 Professorin für Anglistik und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz. Forschungsgebiete: Geschichte des Lesens, Historische Anthropologie der Medien, insbes. Theorie und Geschichte der Schrift, Kulturelles Gedächtnis. Veröffentlichungen: Die Legitimität der Fiktion (München 1980), Arbeit am nationalen Gedächtnis (Frankfurt a.M. 1993), Zeit und Tradition (Köln 1999), Erinnerungsräume (München 1999), Geschichtsvergessenheit/Geschichtsversessenheit (mit Ute Frevert, Stuttgart 1999). Hanne Birk, Studium der Anglistik, Germanistik und Philosophie in Freiburg und an der Brock University, Ontario, Kanada. 2001-2002 wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Anglistik, JLU Gießen. Seit 2003 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Gießener SFB 434 Erinnerungskulturen. Derzeit Arbeit an einem Promotionsprojekt zum Thema „Kulturspezifische Inszenierungen von Erinnerung in zeitgenössischen Romanen autochthoner AutorInnen Australiens, Kanadas und Neuseelands“ an der JLU. Aufsätze zur ‚postkolonialen Erzähltheorie‘ und zu ‚Metaphern des Gedächtnisses‘. Benjamin Burkhardt, Studium der Geschichte, Journalistik, Politologie sowie Kunstgeschichte an der JLU Gießen und Cheltenham. Zurzeit mit Hilfe eines Stipendiums der Studienstiftung des deutschen Volkes Arbeit an einem Promotionsprojekt über „Politische Bilder und Archivpolitik“. Zudem Aufbau eines digitalen Archivs politischer Bilder (BiPolAr) für die JLU. Veröffentlichungen zu bildwissenschaftlichen Fragen unter anderem bei Telepolis und bei H-Soz-u-Kult. Gerald Echterhoff, Ph.D. im Jahr 2000 an der New School for Social Research (New York), danach Postdoctoral Fellow an der Columbia University (New York). Derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter am Psychologischen Institut der Universität zu Köln. Habilitationsprojekt zum Thema „Gedächtnisprozesse im sozialen Kontext: Kognitions- und kulturpsychologische Perspektiven“. Forschungsschwerpunkte: Gedächtnis und Urteilsbildung, Metakognition, narrative Informationsverarbeitung, Wissenschaftstheorie und Forschungsmethoden, soziale Wahrnehmung von Fremdgruppen und interkulturelle Kommunikation. Publikationen in Fachzeitschriften und Enzyklopädiebeiträge. Herausgeber u.a.
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Autorinnen und Autoren
von Kontexte und Kulturen des Erinnerns (mit Martin Saar, Konstanz 2002) und Der Stoff, an dem wir hängen (mit Michael Eggers, Würzburg 2002). Astrid Erll, wissenschaftliche Mitarbeiterin am SFB 434 Erinnerungskulturen der JLU Gießen im Teilprojekt „Die Ausformung von Großbritanniens imperialer Erinnerungskultur“. Forschungsschwerpunkte: Englische Literatur und Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts, Komparatistik, Literatur- und Kulturtheorie, kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorien, Medientheorien, Narratologie. Veröffentlichungen u.a. Gedächtnisromane (Trier 2003), Literatur – Erinnerung – Identität (mit Marion Gymnich & Ansgar Nünning, Trier 2003). Zuletzt erschienen: „Erinnerungshistorische Literaturwissenschaft: Was heißt… und zu welchem Ende…?“ In: A. Nünning & R. Sommer (Hrsg.): Kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft. Tübingen 2004. Béatrice Hendrich, Studium der Islamkunde, islamischen Philologie und Publizistik in Mainz, Studium der Europa-Wissenschaften an der RWTH Aachen, Promotion in der Islamwissenschaft an der JLU Gießen 2002. Zurzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin am SFB 434 Erinnerungskulturen, Arbeitsvorhaben „Identität und Erinnerungskulturen der Aleviten in Deutschland“. Veröffentlichungen: Milla - millet - Nation? Von der Religionsgemeinschaft zur Nation? (Frankfurt a.M. 2003); „‚Endzweck der Geschichte, die von der Theologie über die Metaphysik zur positiven Wissenschaft fortschreitet, ist Glückseligkeit.‘ Eine Rede von Mustafa Kemal Pasa über die Aufhebung des Sultanats.“ In: A. Hartmann (Hrsg.): Geschichte und Erinnerung im Islam. Göttingen 2003, 193-203. Claus Leggewie, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Gießen, Direktor des Zentrums für Medien und Interaktivität und Leiter des Teilprojektes „Visualisierung und Virtualisierung von Erinnerung. Geschichtspolitik in der medialen Erlebnisgesellschaft“ im Gießener SFB 434 Erinnerungskulturen . Erik Meyer, wissenschaftlicher Mitarbeiter im SFB 434 Erinnerungskulturen an der JLU Gießen. Autor von Die Techno-Szene. Ein jugendkulturelles Phänomen aus sozialwissenschaftlicher Perspektive (Opladen 2000) und Mithrsg. von Jugend, Medien, Popkultur. Ein Sammelalbum (Berlin 2003). Zuletzt erschienen: „Erinnerungskultur als Politikfeld. Geschichtspolitische Deliberation und Dezision in der Berliner Republik.“ In: W. Bergem (Hrsg.): Die NS-Diktatur im deutschen Erinnerungsdiskurs. Opladen 2003. Birgit Neumann, Studium der Anglistik, Romanistik, Philosophie und Pädagogik an der Universität Köln und an der Université de Blaise Pascal in ClermontFerrand. Derzeit Fertigstellung der Promotion zum Thema „Narrative Inszenierungen von Erinnerungen, Geschichten und Identitäten in kanadischen fictions of
Autorinnen und Autoren
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memory“ an der JLU Gießen; Promotionsstipendiatin des Cusanuswerks. Seit Januar 2003 ist sie am Teilprojekt „Die Ausformung von Großbritanniens imperialer Erinnerungskultur“ des SFB 434 Erinnerungskulturen beteiligt. Veröffentlichungen zur postkolonialen Erzähltheorie, Literatur- und Gedächtnistheorie und kanadischen Literatur. Ansgar Nünning, Professor für Englische und Amerikanische Literatur- und Kulturwissenschaft an der JLU Gießen. Gründungsdirektor des Gießener Graduiertenzentrums Kulturwissenschaften (GGK). Sprecher des Graduiertenkollegs Klassizismus und Romantik im europäischen Kontext. Projektkoordinator des internationalen Promotionsstudienganges Literatur- und Kulturwissenschaft und Leiter des Teilprojekts „Die Ausformung von Großbritanniens imperialer Erinnerungskultur“ im SFB 434 Erinnerungskulturen. Zahlreiche Veröffentlichungen im Bereich der anglistischen Literatur- und Kulturwissenschaft sowie der Literaturtheorie, u.a.: Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion (Trier 1995); Literaturwissenschaftliche Theorien, Modelle und Methoden (Trier 1995, 31998); Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie (Stuttgart 1998, 22001); Konzepte der Kulturwissenschaften (Stuttgart 2003). Kirsten Prinz, Studium der Germanistik und Geschichte in Köln. Zurzeit Promotion zum Thema „Erinnerungen an den Nationalsozialismus in der aktuellen deutschsprachigen Gegenwartsliteratur“. Beiträge im Metzler Lexikon Gender Studies – Geschlechterforschung (Stuttgart/Weimar 2002) sowie in Mythen in Kunst und Literatur. Tradition und kulturelle Repräsentation (Hrsg.: Annette & Linda Simonis. Köln et al. 2004). Rolf Reichardt, Honorarprofessor für Neuere Geschichte an der JLU Gießen. Leiter des Sammelschwerpunkts „Frankreich-Forschung: Kultur – Gesellschaft – Regionen“ an der Universitätsbibliothek Mainz. Leiter des Teilprojekts „Revolutionserinnerung in der europäischen Bildpublizistik 1789-1889“ im SFB 434 Erinnerungskulturen der JLU Gießen. Neuere Buch-Publikationen: Bildgedächtnis eines welthistorischen Ereignisses (mit Christoph Danelzik-Brüggemann, Göttingen 2001); Das Blut der Freiheit. Französische Revolution und demokratische Kultur (Frankfurt a.M. 32002); Symbolische Politik und politische Zeichensysteme im Zeitalter der französischen Revolutionen (mit Rüdiger Schmidt & Hans-Ulrich Thamer, Münster 2003); Visualizing the Revolution (mit Hubertus Kohle, London 2004). Jens Ruchatz, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungskolleg Medien und kulturelle Kommunikation der Universität Köln. Aufsätze zur Mediengeschichte der Individualität, zur Theorie und Geschichte der Medien, insbesondere der Fotografie. Buchveröffentlichungen: Licht und Wahrheit. Eine Mediumgeschichte der fotografischen Projektion (München 2003); Hrsg. von Mediendiskurse deutsch/deutsch (Pots-
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dam 2004); Hrsg. zus. mit Nicolas Pethes Gedächtnisforschung disziplinär (Themenheft Handlung Kultur Interpretation, 1/2003); Hrsg. zus. mit Nicolas Pethes Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon (Reinbek 2001). Patrick Schmidt, wissenschaftlicher Mitarbeiter am SFB 434 Erinnerungskulturen der JLU Giessen im Teilprojekt B10 „Städtische Erinnerungskulturen und die Genese von Anachronismen in der Frühen Neuzeit“. Studium der Mittleren und neueren Geschichte, Germanistik und Journalistik an der JLU Gießen von 1994 bis 2001. 2001 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Institut der Universität Potsdam. Dissertationsprojekt zum Thema „Zunfttraditionen. Zünftische Erinnerungskulturen und soziokulturelle Dynamik in der frühneuzeitlichen Stadt“. Annegret Stegmann, Studium der Mittleren und Neuen Geschichte, Anglistik, Theater-Film- und Fernsehwissenschaft in Heidelberg und Köln. 2000-2002 wissenschaftliche Hilfskraft am Englischen Seminar der Technischen Universität Braunschweig. Seit 2002 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Anglistischen Seminar der Universität Heidelberg. Zurzeit Arbeit an einem Promotionsprojekt an der Universität Heidelberg zum Thema „Die Erinnerung an Charles I als Paradigma der intertextuellen Rekonstruktivität des kulturellen Gedächtnisses“. Angela M. Sumner, Studium der Politikwissenschaft, Neueren englischen und amerikanischen Literaturwissenschaft, Text- und Mediengermanistik sowie des Öffentliches Rechts in Gießen. 2000-2001 studentische Hilfskraft in der Multimedia-Lernwerkstatt Fremdsprachen, 2001-2002 studentische Hilfskraft im SFB Erinnerungskulturen, 2002 studentische und anschließend wissenschaftliche Hilfskraft in der Präsidialverwaltung, Referat EU-Programme. Seit August 2002 halbe Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Gießener Graduiertenzentrum Kulturwissenschaften (GGK). Darüber hinaus Arbeit an einem Promotionsprojekt am Institut für Politikwissenschaft der JLU Gießen zum Thema „The Virtual Wall: virtual memorials in the process of cultural commemoration“.
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