Jutta Röser · Tanja Thomas · Corinna Peil (Hrsg.) Alltag in den Medien – Medien im Alltag
Medien – Kultur – Kommunikation Herausgegeben von Andreas Hepp Friedrich Krotz Waldemar Vogelgesang
Kulturen sind heute nicht mehr jenseits von Medien vorstellbar: Ob wir an unsere eigene Kultur oder ,fremde’ Kulturen denken, diese sind umfassend mit Prozessen der Medienkommunikation durchdrungen. Doch welchem Wandel sind Kulturen damit ausgesetzt? In welcher Beziehung stehen verschiedene Medien wie Film, Fernsehen, das Internet oder die Mobilkommunikation zu unterschiedlichen kulturellen Formen? Wie verändert sich Alltag unter dem Einfluss einer zunehmend globalisierten Medienkommunikation? Welche Medienkompetenzen sind notwendig, um sich in Gesellschaften zurecht zu finden, die von Medien durchdrungen sind? Es sind solche auf medialen und kulturellen Wandel und damit verbundene Herausforderungen und Konflikte bezogene Fragen, mit denen sich die Bände der Reihe „Medien – Kultur – Kommunikation“ auseinander setzen wollen. Dieses Themenfeld überschreitet dabei die Grenzen verschiedener sozial- und kulturwissenschaftlicher Disziplinen wie der Kommunikations- und Medienwissenschaft, der Soziologie, der Politikwissenschaft, der Anthropologie und der Sprach- und Literaturwissenschaften. Die verschiedenen Bände der Reihe zielen darauf, ausgehend von unterschiedlichen theoretischen und empirischen Zugängen das komplexe Interdependenzverhältnis von Medien, Kultur und Kommunikation in einer breiten sozialwissenschaftlichen Perspektive zu fassen. Dabei soll die Reihe sowohl aktuelle Forschungen als auch Überblicksdarstellungen in diesem Bereich zugänglich machen.
Jutta Röser · Tanja Thomas Corinna Peil (Hrsg.)
Alltag in den Medien – Medien im Alltag
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1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010 Lektorat: Barbara Emig-Roller VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Ten Brink, Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15916-4
Inhalt Jutta Röser, Tanja Thomas & Corinna Peil Den Alltag auffällig machen. Impulse für die Medienkommunikationsforschung .................................... 7 I.
Alltag in den Medien Alltag als Genre: Reality-TV Tanja Thomas Wissensordnungen im Alltag: Offerten eines populären Genres ............................................................. 25 Elisabeth Klaus & Barbara O’Connor Aushandlungsprozesse im Alltag: Jugendliche Fans von Castingshows........................................................ 48 Jan Pinseler Der gefährdete Alltag. Oder: Wie „Aktenzeichen XY … ungelöst“ die Welt sieht....................... 73 Alltägliche Geschlechterinszenierungen in Serie Brigitte Hipfl „Desperate Housewives“ – Dimensionen weiblichen Alltags............................................................. 89 Tanja Maier Das Alltägliche im Nicht-Alltäglichen. Geschlecht, Sexualität und Identität in „The L Word“ ........................... 104 Karin Knop & Tanja Petsch „Initiative für wahre Schönheit“ – Die Rückkehr des Alltagskörpers in die idealisierte Körperwelt der Werbung ........................................... 119 Alltagsbezüge im Journalismus Margreth Lünenborg Fernab vom Alltag: Journalismus und seine Realitätskonstruktionen .................................... 138 Friederike Herrmann Vom hohen Anspruch des ‚Banalen‘. Was Journalistinnen und Journalisten über Lebensnähe von der Alltagsgeschichte lernen können...... 154
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Inhalt
II. Medien im Alltag Printmedien im alltäglichen Gebrauch Kathrin Friederike Müller Das Besondere im Alltäglichen: Frauenzeitschriftenrezeption zwischen Gebrauch und Genuss................ 171 Michael Meyen, Nathalie Huber & Senta Pfaff-Rüdiger „Aufgeschriebene Männerabende“. Eine qualitative Studie zu den Nutzungsmotiven von Männermagazin-Lesern...................................... 188 Mascha Brichta Zwischen Popularität und Abwertung: Zur Bedeutung der „Bild-Zeitung“ im Alltag ihres Publikums ............... 202 Digitale Medien in Alltagskontexten Jutta Röser & Corinna Peil Räumliche Arrangements zwischen Fragmentierung und Gemeinschaft: Internetnutzung im häuslichen Alltag............................. 220 Corinna Peil „Hello Kitty“ im japanischen Medienalltag. Zur Integration mobiler Kommunikationstechnologien in alltagskulturelle Praktiken der Verniedlichung ...................................... 242 Andreas Hepp & Caroline Düvel Die kommunikative Vernetzung in der Diaspora: Integrations- und Segregationspotenziale der Aneignung digitaler Medien in ethnischen Migrationsgemeinschaften................................... 261 Arbeit, Alltagstrukturen und Mediennutzung Nathalie Huber „Man ist einfach rund um die Uhr Führungskraft“. Eine qualitative Studie zur Mediennutzung von Frauen in Führungspositionen ............... 282 Nicole Gonser & Wiebke Möhring Arbeitslose und Mediennutzung – Genderspezifische Betrachtung einer besonderen Nutzergruppe............. 298 Autorinnen und Autoren.............................................................................. 314
I. Alltag in den Medien
Den Alltag auffällig machen. Impulse für die Medienkommunikationsforschung Jutta Röser, Tanja Thomas & Corinna Peil
Mit Doku-Soaps wie We are Family (Pro7), U20 – Deutschland deine Teenies (Pro7) oder Abenteuer Alltag (Kabel Eins) werden im derzeit ausgestrahlten Fernsehprogramm im Einstundentakt alltägliche Situationen von ebenso ‚alltäglichen Menschen‘ vorgestellt, die sich thematisch zwischen „Papa raucht sich zu Tode“ (We are Family, Pro7), „Teenietochter mit Geldnöten“ (Mitten im Leben, RTL) und „Hilfe – meine Enkel“ (We are Family, Pro7) bewegen. Häufig geht mit solcherart medialen Inszenierung von Alltag auch ein verstärktes Interesse am häuslichen Leben einher, wie die seit einigen Jahren anhaltende Zunahme an Haus- und Gartenshows, Kochsendungen und Lifestyle-Programmen, die auf vielfältige Weise eine Ratgeber-Funktion zu erfüllen versprechen, belegt (vgl. Morley 2006: 22f.). In einer typischen Folge der wöchentlich auf RTL ausgestrahlten Sendung Die Supernanny wird eingangs in den familiären Konflikt eingeführt, der das Geschehen dominiert: „Die 13-jährige Tatjana und ihre Mutter Martina geraten täglich aneinander. Martina scheint den Zugang zu ihren Töchtern völlig verloren zu haben.“ In den darauf folgenden 45 Minuten erfährt das Publikum von den Sorgen und Nöten einer alleinerziehenden Mutter, die den Spagat zwischen den Ansprüchen ihrer drei Töchter, ihren eigenen Bedürfnissen und den beruflichen Anforderungen nicht schafft und deshalb Unterstützung bei der ‚Supernanny‘ sucht. Deren Aufgabe erklärt die durch die Sendung führende Stimme aus dem Off: „Diplom-Pädagogin Katia Saalfrank möchte Mutter Martina helfen, die Spirale der Einsamkeit zu durchbrechen, um einen neuen Zugang zu den Kindern zu finden.“ Mit ihrem pädagogischen Werkzeug zeigt die ‚Expertin‘ der Familie, wie sich Konflikte und Probleme wie Isolation und Langeweile durch die Gestaltung eines organisierten Alltags mit gemeinsamen Gesprächen und Unternehmungen vermeiden lassen. Neben dem Porträt einer temporär voneinander entfremdeten Familie und dem Versuch, deren Probleme zu behandeln, dokumentiert das Format, das für seine verkürzt dargestellte und oft als problematisch wahrgenommene Erziehungsberatung vielfach in der Kritik stand, auch die weniger aufregenden Seiten von Alltag, etwa wie die Familie zu Hause ihr Zusammenleben organisiert, Mahlzeiten einnimmt oder ihren Hobbys nachgeht.
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Die Fokussierung auf Alltäglichkeit spielt in diesen Programmen offenbar eine ebenso wichtige Rolle wie die Darstellung von Momenten, in denen der routinierte Alltag aus dem Ruder zu laufen droht. Nicht mehr das Besondere, Gehobene oder Elitäre bildet hier den narrativen Rahmen der Handlung, sondern der von Banalität, Gewohnheit und Unauffälligkeit bestimmte Alltag. Alltag wird in diesen Sendungen weniger zu einem verarmten Alltag erklärt oder zu einem zu überwindenden Zustand der Entfremdung oder Langeweile, wie er in den theoretischen Debatten u.a. bei Henri Lefebvre (1975) oder Agnes Heller (1978) kritisiert wird.1 Eher wird ein Alltag konstruiert, der entsprechend normalisiert zum Refugium werden kann, das Orientierung und Verlässlichkeit zu versprechen scheint. Die Formate mögen immer neue Protagonistinnen und Protagonisten zeigen, die Themen, Alltagsprobleme und Inszenierungsstrategien bleiben jedoch meist gleich. Es scheint, als habe das Fernsehen den Alltag und das Zuhause für sich (wieder-)entdeckt, als wolle es durch die Darstellung des Lokalen, Gewöhnlichen und immer Wiederkehrenden ein Gegengewicht bieten – einerseits zu Prozessen der Mobilisierung und Flexibilisierung, wie sie unsere gegenwärtige Gesellschaft kennzeichnen, andererseits zur „potentiellen Schrankenlosigkeit“ (Bausinger 1987: 22) von fiktionalen und sowohl geographisch als auch sozial entrückten Prime Time Serien wie CSI, 24 oder Lost, die möglicherweise im Sinne Ien Angs (1986) auf einer Gefühlsebene an den Alltag angelehnt sind, vordergründig mit der Lebenswelt ihrer Zuschauerinnen und Zuschauer aber wenig gemein haben. Anstelle solcher „Gegenwelten zum Alltäglichen“ (ebd.: 20) präsentiert das Fernsehen Alltag heute in einer großen Bandbreite, es interessiert sich für alltägliche Handlungen und Herausforderungen, die in vielerlei Hinsicht anschlussfähig an die Lebenswelt der Rezipientinnen und Rezipienten sind. Zugespitzt könnte man auch sagen: Das Fernsehen ist nicht mehr ‚Fenster zur Welt‘, sondern nur noch Fenster nach drüben, in den Garten der Nachbarn. Fernsehen reduziere sich, wie David Morley (2006) – den schottischen Stand-Up-Comedian Billy Connolly zitierend – beschreibt, auf eine mediale Teilhabe am Alltag anderer: „people sitting in their house, watching pictures of other people in their house“ (ebd.: 22). Durch diese Konfrontationen mit ‚anderen Alltagen‘, die durch Medien wie Fernsehen und Internet, aber auch durch gesellschaftliche Entwicklungen in Zeiten der Globalisierung forciert werden, wird zugleich der unauffällige Alltag zunehmend auffälliger (vgl. ebd.: 15). Den Alltag auffällig zu machen ist auch das Anliegen des vorliegenden Bandes. Dabei soll nicht nur in den Blick rücken, dass Alltag eine immer prominen1
Für einen entsprechenden Überblick über unterschiedliche Konzeptualisierungen von Alltag, die entlang der Bewertungen „Kritik“ und „Lob“ des Alltags strukturiert sind, vgl. Mehling 2007: 49ff.
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tere Rolle in medialen Deutungsangeboten spielt; in der Betrachtung von Medien im Alltag soll auch das Verhältnis von Medien- und Alltagshandeln näher beleuchtet werden. Denn die oben beschriebene Folge der Supernanny verweist zugleich auf eine weitere Facette von Alltag, die im Kontext von Medienkommunikation unsere Aufmerksamkeit erfordert: Die große Tochter Tatjana hat sich mit dem Laptop auf ihr Bett zurückgezogen und surft im Internet, um Ruhe vor ihrer nörgelnden Mutter zu haben; die kleine Tochter Celina schaut Fernsehen, weil sie gerade nicht beaufsichtigt wird und über das Gerät frei verfügen kann; und Mutter Martina telefoniert mit ihrem Freund und klinkt sich auf diese Weise kurzzeitig aus ihrem Alltag als alleinerziehende Mutter von drei Töchtern aus. Medienhandeln, das hat Bausinger (1983) bereits Anfang der 1980er Jahre festgestellt, ist immer auch Alltagshandeln und somit verknüpft mit nicht-medienbezogenen Praktiken, wie die hier beschriebenen Szenen veranschaulichen sollen. Es handelt sich dabei nicht um einen individuellen Vorgang, sondern Mediengebrauch ist immer in das soziale Gefüge des häuslichen Zusammenlebens und weiterer Kontexte integriert, wo er ganz unterschiedliche Bedeutungen entfalten kann (vgl. ebd.: 32). Dies gilt keineswegs nur für das Fernsehen, sondern, bislang eher unbeachtet, auch für die Printmedien. Und es gilt erst recht für die digitalen Medien wie Internet und Handy, weil sie vielfältige Anwendungen in einem Gerät ermöglichen und eine steigende Bedeutung der mediatisierten interpersonalen Kommunikation mit sich bringen. Seit einigen Jahren ist die hohe Relevanz von Fragen nach der Bedeutung von Alltag in den Medien und Medien im Alltag auch über Fächergrenzen hinaus nicht mehr begründungsbedürftig (vgl. exemplarisch Voß u.a. 2000; Boehnke/ Döring 2001; Keitel 2003; Schütz u.a. 2005; Huber/Meyen 2006; Röser 2007; Thomas 2008). In der deutschsprachigen Kommunikations- und Medienwissenschaft wurden Alltagsbezüge aber lange Zeit marginalisiert, nur selten standen sie im Zentrum der Betrachtung. Beiträge kamen häufiger aus benachbarten Disziplinen wie etwa der Ethnologie (vgl. Bausinger 1983) oder der Soziologie (für einen Überblick vgl. Voß 2000) und wurden in kommunikations- und medienwissenschaftlichen Arbeiten aufgenommen und weiterentwickelt. Vor diesem Hintergrund ist ein Ziel des vorliegenden Bandes, Forschungsarbeiten zusammenzutragen, die diesen Zugang explizit machen, indem sie Medienkommunikation im Kontext von Alltag perspektivieren. Dabei geht es nicht allein darum aufzuzeigen, was eine alltagsbezogene Analyse von Medienkommunikation konkret bedeutet, es soll zugleich das breite Spektrum dieses Themenfeldes veranschaulicht werden. Dieser Ansatz stand auch im Mittelpunkt einer Tagung an der Leuphana Universität Lüneburg, die den Ausgangspunkt der hier zusammengeführten Beiträge bildet.
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Eine solche Zusammenschau rückt sehr schnell in den Blick, dass der Begriff Alltag2 für vielfältige und durchaus heterogene Phänomene der Medienkommunikation Verwendung findet und in unterschiedliche Theorietraditionen eingebunden wird. Ein spezifisches Begriffsverständnis von Alltag in der Medienkommunikationsforschung herauszudestillieren, kann deshalb nicht das Ergebnis der Auseinandersetzungen sein. Wohl aber soll der Band dazu beitragen, Reflexionen zum jeweils verwendeten Verständnis von Alltag anzuregen. Denn bislang bleiben Verweise auf den Alltag in der Medienkommunikationsforschung oft unexpliziert und die Bedeutung des Begriffs erschließt sich eher intuitiv. Sehr allgemein kann gesagt werden, dass eine alltagsbezogene Forschung das Anliegen verfolgt, Medienkommunikation zu kontextualisieren, wobei die alltägliche Lebenswelt der Menschen einen wesentlichen Bezugspunkt bildet. Damit hebt sich dieser Zugang von institutionen- und medienzentrierten Perspektiven (und ebenfalls von individualpsychologischen Ausrichtungen) ab. Über diesen gemeinsamen Ausgangspunkt hinaus liefern die Beiträge gute Gründe, eine aktualisierende Diskussion über den Zusammenhang von Medien und Alltag insbesondere hinsichtlich seiner gesellschaftlichen Bedeutungen zu führen. Die Produktivität einer gerade nicht auf einen konsensuell bestimmbaren Alltagsbegriff angelegten Debatte wird auch und gerade in den hier entfalteten unterschiedlichen Verständnissen von Alltag als Raum, Sphäre, Praxis, Formation oder Struktur einerseits und den unterschiedlichen Gewichtungen seiner Beharrungskraft, seiner Strukturierungs-, Standardisierungs- und Orientierungsleistungen, aber auch des ihm innewohnenden Veränderungspotenzials andererseits sichtbar. Dabei werden in dem vorliegenden Band ausgewählte theoretische Traditionslinien in den Vordergrund gerückt. Diese knüpfen insbesondere an die kulturwissenschaftlich orientierten Ansätze der Cultural Media Studies, an Erkenntnisse der Gender Studies, der Sozialtheorie Pierre Bourdieus und Henri Lefebvres an. Mehrere Beiträge nehmen Bezug auf Erkenntnisse der britischen Cultural Studies, für deren VertreterInnen die Durchdringung der gesellschaftlichen Dimensionen von Alltagskulturen einen konstitutiven Ausgangspunkt des eigenen Forschungsinteresses bildet. Dies wird verbunden mit Analysen der Mikropolitiken des Medien- und Alltagshandelns, wofür insbesondere die ethnographisch orientierte Forschung steht, auf die sich mehrere AutorInnen beziehen (Brichta; Hepp/Düvel; Klaus/O’Connor; Müller; Röser/Peil). Auch in den Beiträgen, die maßgeblich auf grundlegende theoretische Schlussfolgerungen der Geschlechterforschung zurückgreifen, liefern die Arbeiten von VertreterInnen der Cultural Studies, für die die Alltagskontextualisierung von Medienkommunikation eine 2
Orientierungen, um das Spektrum möglicher Bezugnahmen auf verschiedene Definitionen von Alltag darzustellen und zu systematisieren, finden sich bei Voß u.a. 2000; Weiß 2003; Krotz/ Thomas 2007.
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Perspektive ‚von unten‘ im Spannungsverhältnis zur Dominanzkultur impliziert (vgl. Winter 2001), zusätzlich Bezugspunkte (Hipfl; Knop/Petsch; Maier; Müller; Peil; Thomas). Diese Bezugnahme auf die Geschlechterforschung drängt sich schon deshalb auf, weil ein zentrales Anliegen feministischer Theorien gerade in dem Insistieren auf der Tatsache besteht, dass Erkenntnisinteressen und Frageperspektiven auf eigenen Erfahrungswelten basieren und Begriffsrahmen und Relevanzmaßstäben unterliegen, die wiederum bestimmte Denkformen erlauben und andere ausschließen. Darüber hinaus wird Alltag in der kommunikationswissenschaftlichen Geschlechterforschung schon länger eine gewisse Aufmerksamkeit zuteil, denn Medien, Geschlecht und Alltag interagieren sowohl auf der Ebene der Repräsentation wie der Rezeption. Die Prozesse der Reproduktion von Geschlechterverhältnissen mitsamt den ihnen innewohnenden Ungleichheiten sind in großen Teilen medial vermittelt, d.h. sie werden in der Bewertung, Nutzung und Aneignung von Medientechnologien und -angeboten ausgehandelt, beispielsweise indem diese als ‚männlich‘ oder ‚weiblich‘ kodiert werden. In einigen Beiträgen des vorliegenden Bandes werden die Arbeiten von Pierre Bourdieu zu einem produktiven Referenzrahmen für ein Verständnis des Zusammenhangs von Medien und Alltag gemacht (Huber; Meyen/Huber/Pfaff; Thomas): Entlang der Begriffe Habitus, Kapital und Feld hat Bourdieu die gesellschaftliche Durchdringung alltäglicher Praktiken und die Manifestationen sozialer Unterschiede im Alltag verdeutlicht. Alltag, in dem Machtverhältnisse zum Ausdruck kommen und gleichzeitig hergestellt werden, kann unter Bezug auf Überlegungen Bourdieus in seinen Verschränkungen mit mediatisierten symbolischkulturellen, ökonomischen und politischen Regulierungen analysiert werden – und wird dennoch immer auch als veränderlich gedacht (Thomas). Dies wird auch dort deutlich, wo die Beiträge auf Arbeiten von Henri Lefebvre zurückgreifen, der sich kritisch mit der „Totalität“ des Alltags beschäftigt hat und die unhinterfragten Selbstverständlichkeiten wieder in Frage zu stellen suchte (Hipfl; Lünenborg). In eben diesem Sinne wird auch das Werk von de Certeau herangezogen (Peil), um den Aspekt der Veränderbarkeit zu betonen – schließlich hat sich de Certeau insbesondere auf die Heterogenität von Alltagspraktiken konzentriert und auf die kleinen erfolgreichen Momente von ‚Subversion‘ verwiesen. Während sich die im Band hergestellten Theoriebezüge in dieser Weise noch bündeln lassen, eröffnen die Beiträge thematisch ein breites Feld. Aufgrund der umfassenden (und auch unscharfen) Konnotationen von Alltag bestehen für eine darauf bezogene Forschung tendenziell unendliche Möglichkeiten der Kontextualisierung der Medienkommunikation – Ien Ang (1997) hat dies in allgemeiner Weise bezogen auf das Konzept des „radikalen Kontextualismus“ der Cultural Studies-Rezeptionsforschung problematisiert: Demnach sind die Kontexte der Medienrezeption potenziell unendlich, denn es handelt sich beim Mediengebrauch um eine multikontextuelle „Menge von gleichzeitig ablaufenden, kon-
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kurrierenden und sich gegenseitig beeinträchtigenden Tätigkeiten“ (ebd.: 91), um die immer weitere Kreise geschlagen werden können und die zudem miteinander interagieren. Gleiches gilt für eine Alltagskontextualisierung und dies sowohl in der Medien- wie in der Rezeptionsforschung. Als Ausweg aus dem Dilemma des radikalen Kontextualismus plädierte Ang dafür, dass Forschende ein Bewusstsein dafür entwickeln, nur Ausschnitte aus einer Gesamtheit und nur Momentaufnahmen aus einem Prozess herausarbeiten zu können, und dass sie den Standpunkt, von dem aus sie eine Auswahl treffen, deutlich machen (vgl. ebd.: 97). Dies mag auch einen weiteren Hinweis für die Auseinandersetzung mit dem hier verfolgten Themenfeld des Alltags in der Medienkommunikation liefern, ist doch die eigene Perspektive auf den Gegenstand anhand der entsprechenden Fragestellungen je spezifisch zu konkretisieren. Unsere Einteilung der Beiträge in zwei übergeordnete Perspektiven ist an der kommunikationswissenschaftlichen Fachsystematik orientiert und gruppiert einerseits unter der Überschrift „Alltag in den Medien“ Analysen von Medienangeboten und andererseits unter der Überschrift „Medien im Alltag“ Rezeptionsweisen. Eine Bezugnahme auf Alltag stellt sich auf diesen beiden fachsystematischen Feldern der Repräsentation und der Rezeption je spezifisch dar und lässt sich innerhalb jedes Felds weiter systematisieren. Im ersten Teil des Bandes Alltag in den Medien werden Beiträge vorgestellt, die sich auf Konstruktionen von Alltag in Medienangeboten konzentrieren und dabei insbesondere die Kontexte und Prozesse dieser Konstruktion, teilweise auch Bewertungen des inszenierten Alltags untersuchen. Inszenierungen von Alltag in den Medien haben freilich Traditionen. So lassen sie sich im deutschsprachigen Fernsehen schon in den Anfängen finden: Frühe Familienserien der westdeutschen Fernsehgeschichte enthielten Elemente des Alltäglichen. Wieder erkennbare Orte, Probleme und Figuren der fiktiven Familien Schöllermann (1954–1960) und Hesselbach (1960–1976) griffen Alltag auf; die Dokumentation „Die Fußbroichs – Dokumentarfilm über eine Kölner Arbeiterfamilie“ (1989) und die darauf basierende Serie von Ute Diehl, die von 1990 bis 2001 im WDR ausgestrahlt wurde, waren erste Versuche, Alltag von Medienlaien zu dokumentieren – allerdings hier noch mit der Absicht, seine Routinen und die in ihn eingelagerten Konsumpraktiken kritisch zu hinterfragen. Rückblickend wird der im Fernsehen inszenierte Alltag beispielsweise als „Dramaturgie des Normalen“ (vgl. Wrage 2007) untersucht – und auch wenn dieser Buchtitel sich auf die Fernsehgeschichte der ehemaligen DDR bezieht, so wäre er vielleicht auch eine passende Überschrift für Beobachtungen hinsichtlich aktueller medialer Alltagsinszenierungen. Diese prägen das Fernsehprogramm seit einigen Jahren über die verschiedenen Sender hinweg; quantitativ, indem sie Sendezeit in erheblichem Maß einnehmen, sowie qualitativ, indem sie „Fernsehkultur“ verändern (vgl. Murray/Ouellette 2004; Klaus 2008).
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Da aktuelle Konstruktionen von Alltag im Fernsehen zunehmend in Formaten des Reality-TV vollzogen werden, umfasst der erste Abschnitt des Bandes unter der Überschrift „Alltag als Genre: Reality-TV“ Beiträge, die die Alltagsrelevanz von Formaten dieses „Hybridgenres“ (Klaus 2006; 2008) aus verschiedenen Perspektiven heraus thematisieren. Tanja Thomas argumentiert, dass mediale Angebote insbesondere dann eine Attraktivität für ZuschauerInnen entwickeln können und an einer Reproduktion und Legitimierung gesellschaftlicher Verhältnisse beteiligt sind, wenn ihre Deutungsangebote an alltägliche Praktiken und Erfahrungen von Menschen anknüpfen und ihnen einen Sinn geben. Insbesondere Formate des Lifestyle-TV, das als Subgenre von Reality-TV diskutiert wird, werden damit zu geeigneten Untersuchungsgegenständen. Vor dem Hintergrund eines wissensbasierten Alltagsbegriffs geht dieser Beitrag einerseits der Frage nach, welches Wissen in solchen Sendungen offeriert wird. Andererseits wird dafür plädiert, theoretisch und empirisch an einer Konzeptualisierung des Zusammenhangs von Medien- und Alltagserfahrung zu arbeiten, um Aneignungsprozesse sozial unterschiedlich positionierter Subjekte im Sinne mediatisierter Vergesellschaftung angemessen rekonstruieren zu können. Der Beitrag von Elisabeth Klaus und Barbara O’Connor liefert auch zur Weiterentwicklung solcher Überlegungen einen instruktiven Beitrag. Deshalb wird er hier im direkten Anschluss präsentiert, auch wenn er ebenso überzeugend im zweiten Teil des Buches in einen sinnvollen Zusammenhang hätte gestellt werden können. Ausgangspunkt des Beitrags bildet die Annahme, dass insbesondere die vielfältigen Alltagsbezüge von Castingshows wesentliche Erfolgsbedingungen bei jugendlichen Fans darstellen. Anhand einer Fülle von Fallstudien zeigen Elisabeth Klaus und Barbara O’Connor, wie jugendliche Fans in Österreich und in Irland die Bedeutungen von Castingshows aushandeln: Systematisierend werden auf drei Ebenen soziale Kontexte der Rezeption von Castingshows, durch das Genre angeregte normative Diskurse und schließlich dadurch ermöglichte Verortungen der Subjekte in zentralen gesellschaftlichen und kulturellen Räumen untersucht. Der Beitrag von Jan Pinseler erinnert uns an eine sehr frühe Form des Reality-TV in Deutschland, die seit 1967 bis heute im deutschsprachigen Fernsehen präsent ist: Er zeigt, wie in der Fahndungssendung Aktenzeichen XY … ungelöst entlang der Darstellung von Kriminalität immer auch eine spezifische, unhinterfragte und selbstverständliche Auffassung von Alltag entsteht. Dieser bildet die Hintergrundfolie für die inszenierte Rekonstruktion von Verbrechen, die in die Welt des Alltags einbrechen. Indem Jan Pinseler diese Kontrastierungen als Mittel der Konstruktion von Alltag zum Gegenstand seiner Analysen macht, demonstriert er, wie ein spezifisches Verständnis von Alltäglichkeit und Normalität entsteht, dessen machtvolle Durchsetzung in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen in der Regel ausgeblendet bleibt. Die Thematisierung von Normen bildet ebenso eines der verbindenden Elemente in den Beiträgen, die wir in dem Abschnitt „Alltägliche Geschlechterinsze-
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nierungen in Serie“ zusammengefasst haben. Zugleich richten diese Beiträge die Aufmerksamkeit auf mediale Angebote, die regelmäßig als Serie bzw. wiederholt als Werbesendung im Fernsehen zu sehen sind. In der Auseinandersetzung mit der Serie Desperate Housewives richtet Brigitte Hipfl ihr Interesse einerseits auf die in der Serie dargebotenen alltäglichen Praktiken, die sie als Produkt und konstituierendes Element der widersprüchlichen Beziehungen, Machtverhältnisse und Fantasien betrachtet, die den Lebensalltag ausmachen. Andererseits verdeutlicht sie unter Rückgriff auf Arbeiten von Henri Lefebvre, dass Praktiken durch spezifische Räume konstituiert werden, Praktiken ihrerseits wiederum Räume prägen. Eine dieserart fundierte Analyse der Inszenierungen alltäglichen Lebens von Hausfrauen in amerikanischen Vororten eröffnet neue Einsichten: Alltägliches Leben und seine mediale Inszenierung wird – wie es Brigitte Hipfl unter Verweis auf Frigga Haug ausdrückt – erkennbar als „Kampfplatz“, auf dem aber nicht allein die Affirmation des Bestehenden reproduziert werden muss. Ähnliche Schlussfolgerungen zieht Tanja Maier angesichts ihrer Analyse von The L Word. Interessant wird diese Serie mit Blick auf den Zusammenhang von Medien und Alltag, insofern sie lesbische Frauen zu den Hauptprotagonistinnen macht und somit in Alltagstheorien fest verankerte Vorstellungen von Heteronormativität irritiert. Der Beitrag diskutiert auf eine vielschichtige Weise, ob, wie und wessen Vorstellungen von einer Eindeutigkeit, Naturhaftigkeit und Unveränderlichkeit der heteronormativen Zweigeschlechtlichkeit letztlich in Frage gestellt werden. Karin Knop und Tanja Petsch widmen sich in ihrem Text einer Werbekampagne des Kosmetikkonzerns Unilever: Der TV-Spot, der Produkte der Pflegeserie Dove verbunden mit dem Slogan „Initiative für wahre Schönheit“ anpries, wurde im Jahr 2004 in den Werbepausen zur Castingshow Germany’s Next Topmodel prägnant platziert. Die Frage, ob eine solche Kampagne dem Anspruch gerecht werden kann, neue Körper- und Frauenbilder innerhalb der Werbewelt und damit auch der (medialen) Alltagswelt zu etablieren, steht im Zentrum der Untersuchung. In diesem Sinne erfolgt eine Auseinandersetzung mit der Relation von Werbung und Alltag sowie dem Stellenwert von Werbung in der heutigen Alltagskultur, um die Bedeutung medialer Körperbilder für die Alltags- und Lebenswelt theoretisch fundiert zu analysieren. Ebenfalls mit der Frage nach Inszenierungen von Alltag in den Medien, aber insbesondere mit der Darstellung und Darstellbarkeit von Alltag in journalistischen Genres setzen sich die beiden Autorinnen der Beiträge auseinander, die sich in dem Abschnitt „Alltagsbezüge im Journalismus“ finden. Anknüpfend an Henri Lefebvre spürt Margreth Lünenborg den Alltagskonstruktionen im Journalismus nach, die sie in nachrichtlichen Formen vor allem durch die Fokussierung des Außergewöhnlichen und Nicht-Alltäglichen hergestellt sieht. Repräsentationen alltäglichen Lebens findet die Autorin am ehesten in subjektiven Formen der Berichterstattung – etwa in der an der Chicago School of Sociology
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orientierten Konzeptionierung der Reportage oder im New Journalism – wieder, deren Erzählungen von Alltag zugleich den Blick für die Thematisierung von Geschlechterfragen schärfen. Die Alltagsbezüge im Journalismus, so eine der zentralen Einsichten, sind aber nicht nur auf der Ebene der Medieninhalte zu suchen, sondern ebenso auf den Ebenen der Produktion, Rezeption und gesellschaftlichen Kontextualisierung von Journalismus. Demnach werde Alltäglichkeit beim Publikum auch dadurch konstituiert, dass der Journalismus durch seine Relevanzzuweisungen und Bewertungsmaßstäbe, durch die implizite Bestimmung von Norm und Abweichung, die Grenzen der Alltäglichkeit markiert. Friederike Herrmann greift in ihrem Beitrag die historische Tradition der Alltagsgeschichte auf, die mit der Erforschung alltäglicher Lebenswelten in den 1980er Jahren einen Perspektivwechsel in der Geschichtswissenschaft einleitete. Eine solche ‚von unten‘ schauende Perspektive auf Alltag fordert sie auch im Journalismus, wobei die Repräsentation von Alltag ihrer Auffassung nach weniger vom journalistischen Genre als von der Art der Berichterstattung abhänge. Selbst wenn thematisch eine Alltags- und Lebensnähe suggeriert wird, sei dies nicht gleichbedeutend mit einer journalistischen Darstellung, die tatsächlich an den Alltagserfahrungen der Leserinnen und Leser anknüpfe. Genau wie Margreth Lünenborg erscheint auch Friederike Herrmann die Reportage besonders geeignet für die journalistische Aufbereitung des Alltags. Produktiv ergänzt werden könne sie durch weniger anspruchsvolle Formen wie die „Miniatur“, die durch eine radikal subjektive Erzählweise und Orientierung am Einzelfall ebenso lebensnahe Schilderungen des Alltags liefere. Im zweiten Teil des Bandes unter dem Titel Medien im Alltag geht es um Medienaneignung in Alltagskontexten. Hier stehen die Nutzungsweisen von Print-, Digital- und anderen Medien im Zentrum und werden im Hinblick auf ihre Verflechtungen mit alltäglichen Praktiken, Routinen und Strukturen anhand verschiedener empirischer Studien und theoretischer Reflexionen näher beleuchtet. Bezüge zum Alltag wurden in der Medienaneignungsforschung auf zwei verschiedenen Ebenen hergestellt, die sich analytisch unterscheiden lassen, faktisch in der Rezeption jedoch ineinander greifen (vgl. zu den beiden Ebenen ausführlich: Röser/Peil in diesem Band). Auf der ersten Ebene spielt Alltag eine Rolle bei den Bedeutungsproduktionen der Rezipierenden, d.h. bezogen auf die inneren Prozesse der Aneignung. Hier geht es um die Alltagserfahrungen der Subjekte, die in den dynamischen und produktiven Prozess des Dekodierens einfließen. Rezipierende verhandeln mediale Inhalte auf unterschiedliche Art und Weise, sie positionieren sich zu ihnen und integrieren sie in ihre soziale Realität, verleihen ihnen also Bedeutung vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit ihrem, immer auch von Machtverhältnissen geprägten, Alltag. Auf der zweiten Ebene werden die situativen Bedingungen des Alltags, die räumlichen, zeitlichen und sozialen Konstellationen der Mediennutzung analysiert, die einen wesentli-
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chen Bezugsrahmen bei der Aneignung von Medien darstellen. Forschungen auf dieser Ebene rücken ethnographisch orientiert die Einbettung des Medienhandelns in Alltagssituationen ins Blickfeld und damit die Verbindungen von medialen und nicht-medialen Praktiken. Beide Felder der alltagsbezogenen Rezeptionsforschung sind insbesondere im Rahmen der britischen Cultural Studies ausgearbeitet worden (vgl. ebd.). In der deutschen Kommunikations- und Medienwissenschaft spielte ein Bezug zum Alltag auf beiden Feldern der Medienaneignung lange eine nur untergeordnete Rolle. Die inneren Prozesse der Medienaneignung, der Schwerpunkt der deutschen Rezeptionsforschung, wurden (und werden) vornehmlich mit psychologischen Konzepten etwa des Uses and Gratifications-Ansatzes untersucht. Die Frage lautet hier, wie sich Rezipierende mit speziellen Medieninhalten innerlich auseinandersetzen, welche Bedürfnisse und Motive das Individuum leiten und welche Wirkungen die Medienbotschaften im Denken und Fühlen hinterlassen (vgl. Meyen 2004). Damit gab es zwar auch hier seit den 1980er Jahren eine Hinwendung zu den aktiven RezipientInnen, jedoch spielten in dieser medienund individuenzentrierten Forschungsrichtung alltags- und machtbezogene Erfahrungen als Aneignungskontext keine Rolle. Vielmehr wurde eine psychologische Konzeption verfolgt, in der Mediennutzung als intimer Moment erscheint, in dem sich Individuum und Medium begegnen (vgl. Morley 1999). Diese psychologische Perspektive ist mit dem Cultural Studies-Konzept des Dekodierens im Kontext von Alltagserfahrungen und im Spannungsverhältnis zu dominanten Diskursen und Machtverhältnissen nicht vereinbar. Das zweite Feld des situativen Medienhandelns mit Medientechnologien in räumlich-zeitlichen und sozialen Alltagskontexten betrachtete die deutsche Kommunikations- und Medienwissenschaft lange Zeit als nicht zum Gegenstand des Fachs gehörig, da der Fokus auf öffentlicher Kommunikation liegen sollte. Es blieb deshalb ausgespart bzw. anderen Disziplinen wie etwa der (Technik-)Soziologie überlassen. Im Zuge der Digitalisierung hat sich dies seit Ende der 1990er Jahre schrittweise geändert, wobei insbesondere die durchgreifende Mediatisierung des Alltags (vgl. Krotz 2007) durch digitale Medien Impulse gab und z.B. die Nutzung des Mobiltelefons in (situativen) Alltagskontexten untersucht wurde. Beide Perspektiven verbinden sich bislang am ehesten in der Forschung über die kommunikative Aneignung von Medien (z.B. Keppler 1999; Hepp 1998), aber potenziell auch in der Forschung über die Aneignung von spezielleren Mediengenres mit einem zudem dezidiert alltagsbezogenen Themenangebot wie z.B. Frauenzeitschriften und anderen Printmedien (siehe die entsprechenden Beiträge in diesem Band). Mit dem Abschnitt „Printmedien im alltäglichen Gebrauch“ wird der zweite Teil des Bandes über Medien im Alltag eröffnet. Damit rückt ein doppeltes Forschungsdesiderat in den Blick, denn Printmedien mit ihren journalistischen Angeboten wurden bezogen auf die Aneignung allgemein nur wenig untersucht
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und umso mehr blieb ihre Einbettung in den Alltag unbeachtet – zu Unrecht, wie die Beiträge belegen. Kathrin F. Müller präsentiert Befunde ihrer qualitativen Rezeptionsstudie über die Nutzung und Aneignung der Frauenzeitschrift Brigitte, wobei theoretisch an die Cultural Studies und die Gender Studies angeknüpft wird. Müller verbindet beide oben genannten alltagsbezogenen Rezeptionsperspektiven, indem sie analysiert, wie die Nutzung des Mediums in den Alltag integriert wird, welche Funktionen das Lesen in sozialen Beziehungen hat und welche Relevanz die Leserinnen den redaktionellen Inhalten individuell zuweisen. Einerseits in Routinen und Interaktionen eingebettet, markiert die Brigitte-Lektüre andererseits das genussvoll erlebte Besondere. Die Rezipientinnen nehmen symbolisch an einer weiblichen Alltagskultur teil und verhandeln im Doing Gender zugleich Performanzen traditioneller und progressiver Rollenentwürfe – hier wird anschaulich, wie gesellschaftliche Kontexte in der Aneignung bedeutsam werden. In gewisser Weise als Pendant können die Männerzeitschriften gesehen werden, die sich im vergangenen Jahrzehnt etabliert haben. Michael Meyen, Nathalie Huber und Senta Pfaff-Rüdiger begeben sich auf die Suche nach den Nutzungsmotiven der Leser. Ihre Befunde basieren ebenfalls auf einer qualitativen Rezeptionsstudie, jedoch entfalten die AutorInnen ihren theoretischen Zugang ausgehend einerseits vom Uses-and-Gratifications-Ansatz und andererseits von Bourdieus Habituskonzept. Männerzeitschriften bieten, so zeigt die Analyse, den Lesern die Möglichkeit der ‚doppelten Distinktion‘: gegenüber Frauen und gegenüber anderen Männern. Die Magazine eignen sich damit als Basis für eine subkulturelle männliche Gruppenidentität und bieten einen männlichen Raum, der insbesondere bezogen auf Statussymbole und die Dimension Erfolg relevant gemacht wird. Auffallend ist, dass viele Männer einen speziellen Stellenwert der Zeitschriften im Alltag – abweichend von den Frauenzeitschriftenleserinnen – verneinen und immer auch relativierend oder gar abwertend über diese von ihnen genutzten Medien sprechen. Der dritte Beitrag von Mascha Brichta widmet sich dem Genre der Boulevardzeitungen und speziell den Leserinnen und Lesern der BildZeitung. Ähnlich wie Müller fragt sie nach den alltäglichen Gewohnheiten und der situativen Einbettung der Lektüre und rekonstruiert ganze Sets aus wiederkehrenden routinierten Handlungen im Alltag. Zudem beschäftigt sie sich mit der Alltagsrelevanz der in großen Lettern präsentierten Themen und Positionen – diese laden, so ein Befund, zur emotionalen Auseinandersetzung mit Nachrichten und Geschehnissen ein und bilden eine Basis für die Aushandlung persönlicher und gesellschaftlicher Werte. Dient die Zeitung im alltäglichen Miteinander als „Themengeber, Kontaktmittel und Gemeinschaftsstifter“, so bleibt auch die gesellschaftliche Umstrittenheit der Bild-Zeitung präsent und prägt die Rezeption in Form einer „internalisierten Abwertung“, die Ambivalenz erzeugt. „Digitale Medien in Alltagskontexten“ sind Thema des zweiten Abschnitts. Die hier allgemeiner gefasste Frage nach der Aneignung ‚des Internets‘ oder ‚des
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Mobiltelefons‘ in (häuslichen) Alltagskontexten führt schon rein forschungsökonomisch dazu, sich auf das situative Medienhandeln in raum-zeitlichen und sozialen Bezügen stärker zu konzentrieren als auf die symbolische Ebene. Dies gilt etwa für den Beitrag von Jutta Röser und Corinna Peil, in dem Interaktionen von Internetnutzung, räumlichen Arrangements und häuslichen Kommunikationsstrukturen aufgezeigt werden. Nach einer einleitenden Systematisierung alltagsbezogener Rezeptionsforschung wird theoretisch auf den Domestizierungsansatz Bezug genommen. Dieser bildet den Rahmen bei der anschließenden Vorstellung der Teilbefunde aus ethnographisch orientierten Haushaltsstudien zur Integration des Internets in den häuslichen Kontext. Deutlich wird, wie das Internet bei fortschreitender Alltagsintegration eine fragmentierende Wirkung entfalten kann, indem es häusliche Kommunikations- und Interaktionsroutinen durchkreuzt. Darauf reagieren einige Paare mit neuen räumlichen Arrangements im Sinne der (mediatisierten) Gemeinschaftsstiftung, andere bleiben in Konflikten gefangen. Die jeweiligen Praktiken interagieren eng mit den gelebten Geschlechterverhältnissen und haben zudem Auswirkungen auf die Funktionen anderer Medien, insbesondere des Fernsehens. Der daran anschließende Beitrag von Corinna Peil befasst sich mit Aneignungsweisen des Mobiltelefons in Japan und situiert diese innerhalb einer allgegenwärtigen Kultur der Niedlichkeit (kawaii-Kultur). Die Kontextualisierung der Mobilkommunikation bezieht sich hier in Anlehnung an de Certeau auf die Analyse von alltagskulturellen Praktiken der Verniedlichung, die, wie argumentiert wird, zu einer Integration mobiler Kommunikationstechnologien in weibliche Lebenswelten beigetragen haben. Kawaii-Kultur mag zutiefst in die Ideologie und die Mechanismen der japanischen Konsumlandschaft verstrickt sein, es kann ihr aber eine Vermittlungsleistung zwischen Alltag und Technik zugesprochen werden, die eine produktive Dynamik im Hinblick auf den Zugang zu digitalen Medien in Gang gesetzt hat. Andreas Hepp und Caroline Düvel richten ihr Interesse auf die durch digitale Medien wie Internet und Mobiltelefon ermöglichten kommunikativen Vernetzungen und fragen in ihrem theoretisch fundierten Beitrag nach deren Integrations- und Segregationspotenzialen im Alltag ethnischer Migrationsgemeinschaften. Überlegungen zur Netzwerkgesellschaft von Manuel Castells aufgreifend zeichnen sie anhand einer Fallstudie die Mehrfachvernetzungen von russischen Diasporaangehörigen in Deutschland nach, bei denen den digitalen Medien innerhalb der je spezifischen Medienumgebung eine zentrale Bedeutung zukommt. Im Hinblick auf den Integrationsbegriff, das Analyseparadigma und die Methodik fordern sie eine dreifache Neukonzeption der kommunikations- und medienwissenschaftlichen Migrationsforschung, um damit der Spezifik digitaler Medien und den daran anknüpfenden Konnektivitäten und Beteiligungschancen gerecht zu werden. Der letzte Abschnitt „Arbeit, Alltagsstrukturen und Mediennutzung“ vereint zwei Beiträge, in denen es speziell um Mediennutzung innerhalb von Alltags-
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strukturen geht, die durch (fehlende) Erwerbsarbeit geprägt sind. Nathalie Huber untersucht die alltägliche Mediennutzung einer bislang kaum ins Blickfeld geratenen Gruppe: Frauen in Führungspositionen. Sie bezieht sich theoretisch, ähnlich wie Meyen u.a., insbesondere auf Bourdieus Habitustheorie. Huber betont, dass die Führungsfrauen einerseits – vergleichbar den männlichen Führungskräften – sozial positioniert sind und zu erwarten ist, dass die Medienmenüs Statusansprüche und Distinktion zum Ausdruck bringen, die je nach sozialem Feld variieren. Andererseits könne dies im Spannungsfeld stehen zu einer möglicherweise geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung im privaten (Familien-)Alltag. Die 16 qualitativen Interviews zeigen u.a., wie eine arbeitsorientierte Mediennutzung zur Akkumulation von kulturellem Kapital, das Entspannungsbedürfnis nach Feierabend und die notwendige Alltagsorganisation interagieren und das Medienhandeln leiten. Die Frauen unterscheiden sich aber auch je nach Lebensphase, Familiensituation und Sicht auf die eigene Karriere. Die fehlende Berufsarbeit im Alltag nehmen Nicole Gonser und Wiebke Möhring zum Ausgangspunkt ihres Beitrags über die Mediennutzung von Arbeitslosen. Auch hier wird die Erwerbsarbeit als konstitutives Moment des Alltags gefasst, das zeitliche Strukturen und Routinen prägt. Die Autorinnen fragen, welche Folgen es in Abhängigkeit von psychischen Dispositionen für die Mediennutzung hat, wenn diese Strukturierung wegen Arbeitslosigkeit entfällt, und inwieweit dabei Geschlechterdifferenzen relevant sind. Auf Basis einer standardisierten Befragung von 350 Arbeitslosen wird deutlich, dass psychosoziale Faktoren die Mediennutzungsmuster beeinflussen, aber keine linearen Effekte entfalten. In vielerlei Hinsicht zeigt die Mediennutzung der befragten Arbeitslosen vergleichbare Tendenzen wie in der Gesamtbevölkerung, jedoch kommt dem Internet ein deutlich höherer Stellenwert zu. Die Autorinnen finden ferner Indizien dafür, dass Männer und Frauen mit vergleichbarem psychosozialen Erleben die Zeit der Arbeitslosigkeit unterschiedlich im (Medien-)Alltag gestalten. Der Zusammenhang von Medien und Alltag wird in den Beiträgen des vorliegenden Bandes auf je spezifische Weisen betrachtet – und wir haben diese entlang der Einteilung in Alltag in den Medien und Medien im Alltag vorgestellt. Damit wird deutlich, dass Prozessen der Weltaneignung, Weltdarbietung oder Welterzeugung mittels verschiedener Medien sowie deren Deutungsangeboten und Aneignung eine je eigene Logik zugesprochen werden kann (vgl. Keppler 2000: 140). Zugleich können wir erkennen, worauf Angela Keppler uns aufmerksam macht, dass sich weder die technische noch kulturelle „Logik“ von Medien „in einem luftleeren Raum“ ausgebildet haben, noch diese in ihrer sozialen Wirksamkeit „auf einen sinnleeren Raum“ treffen (ebd.). Um der Bedeutung von Medien als integralen Bestandteilen des Kulturellen als auch Prozessen mediatisierter Vergesellschaftung gerecht zu werden, laden wir dementsprechend dazu ein, die Beiträge des vorliegenden Bandes trotz der Einteilung in die
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beiden strukturierenden Felder im Sinne sich ergänzender und fortzuschreibender Analysen weiter zu denken. Dieser Band wäre ohne die Mitwirkung einer Vielzahl von Personen nicht möglich gewesen. Ihnen wollen wir an dieser Stelle herzlich danken: Unser erster Dank gilt den Autorinnen und Autoren. ‚Alltag‘ hat das Projekt auf vielfältige Weise durchkreuzt – so danken wir auch für aller Geduld. Vielfältige Anregungen verdanken wir den Mitgliedern der DGPuK-Fachgruppe „Medien, Öffentlichkeit und Geschlecht“; eine Tagung der Fachgruppe an der Leuphana Universität Lüneburg war Ausgangspunkt des vorliegenden Bandes. Für ihr Interesse und Engagement danken wir Ira Hennig und Merle Kruse, sie haben die Beiträge mit großer Aufmerksamkeit auf Uneinheitlichkeiten geprüft, sowie Dirk Reinhardt für die sorgfältige Erstellung der Druckvorlage. Gedankt sei den Herausgebern der Reihe für ihr Interesse und ihre Unterstützung bei der Publikation des Bandes sowie Barbara Emig-Roller für die freundliche Betreuung von Seiten des Verlags für Sozialwissenschaften.
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1. Lifestyle-Television: Attraktivität durch Alltagsbezug Lifestyle-TV – diese Bezeichnung hat sich in der englischsprachigen Literatur inzwischen weitgehend durchsetzen können – liefert viel Stoff für Auseinandersetzungen in der Öffentlichkeit, aber auch unter WissenschaftlerInnen. Es sind Sendungen wie The Biggest Loser (Pro7), Das Perfekte Dinner (Vox), Bruce – Eure Styling Show (ARD), Einsatz in vier Wänden (RTL), Zehn Jahre jünger (RTL), Das Model und der Freak (Pro7), Familienhilfe mit Herz (RTL), Raus aus den Schulden (RTL) oder auch Germany’s Next Topmodel (Pro7), mit denen Lifestyle-TV Wünsche und Interessen aufgreift, die auf den ersten Blick vorrangig darin bestehen, für sich und andere (wahlweise besonders raffiniert, gesund oder fettarm) zu kochen, das Aussehen und den Körper zu gestalten, sich einzurichten, einen Partner/eine Partnerin zu finden, die Beziehung zu gestalten, Kinder zu erziehen, Schuldenberge abzubauen, die eigenen Finanzen im Überblick zu behalten oder eine Karriere anzustreben. Es sind Formate dieses Genres, die laut Susan Murray und Laurie Ouellette (2004) an einem „Remaking [of] Television Culture“ beteiligt sind und Fernsehkultur, so wie wir sie bisher gekannt haben, verändern (vgl. ähnlich argumentierend Klaus 2008; Bratich 2006). Lifestyle-TV wird teilweise als Weiterentwicklung des Reality-TV, aber auch als „Subgenre“ von Reality-TV (Klaus 2008) bezeichnet oder als Hybridgenre kategorisiert – aktuelle Casting-Shows wie Deutschland sucht den Superstar oder Popstars werden damit als Kombination aus Talent-Show, Game-Show und Reality-Show verstanden (vgl. Redden 2008).1 1
Insbesondere auf die große Dynamik der Veränderung der hybriden Formate des Reality-TV wie Lifestyle-TV wird immer wieder hingewiesen, die eine Festlegung einer Genredefinition erschweren. Hilfreicher erscheint es, Charakteristika herauszuarbeiten; Elisabeth Klaus (2008: 170) weist überzeugend darauf hin, dass sich die Formate des Reality-TV durch Grenzüberschreitungen (z.B. zwischen Öffentlichkeit und Privatheit, Authentizität und Inszenierung, Fiktion und Realität) auf den verschiedenen Ebenen der Produktion, der Technik, der Ökonomie, des Medientextes und der Publikumsansprache kennzeichnen lassen. Hinsichtlich des LifestyleTV, das ich als Subgenre des Reality-TV verstehe, finden synonym auch die Begriffe MakeoverTV (Heller 2007), Lifestyle Makeover Shows oder Life Experiment Shows (Dover/Hill 2007) Verwendung. Erste Versuche einer Phaseneinteilung zur Entwicklung des Lifestyle-TV in Eng-
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Man schreibt den Formaten einerseits Demokratisierungspotenziale etwa hinsichtlich der Pluralisierung repräsentierter Geschlechteridentitäten (vgl. Brunsdon u.a. 2001) oder der „Beheimatung“ von MigrantInnen (Dietze 2008) zu und verweist auf die Tatsache, dass sich diese Art des Reality-TV immer mehr mit dem Alltag und „ordinary people“ auseinandersetze (vgl. Bonner 2005). Dies führe u.a. zu einer Destabilisierung der Grenzen und Hierarchien zwischen ExpertInnen und „ordinary people“ insbesondere angesichts der Pluralisierung der Formen von Expertise. Alltag und Alltäglichkeit werde durch Lifestyle-TV grundlegend verändert, wird da gar behauptet (vgl. Brunsdon u.a. 2001: 57). Zugleich werden die Formate heftig kritisiert. Demokratisierungspotenzial wird hier vehement bestritten; stattdessen verstehen etliche AutorInnen das „transformation programme“ geradezu als Simulation von Demokratisierungsprozessen. Sie konstatieren eine Universalisierung des Mittelklasselebensstils sowie eine Pathologisierung insbesondere der Mütter aus der Arbeiterklasse (vgl. Atwood Gailey 2007; Wood/Skeggs 2008: 188) und zeigen, dass somit gesellschaftliche Hierarchien bekräftigt werden (vgl. Philips 2005). Die Sendungen des LifestyleTV werden auch als Symbole der Kommerzialisierung beschrieben, die Lebenszufriedenheit und Selbstverwirklichung mit Konsum koppeln und Individualisierungsprozesse maßgeblich vorantreiben (vgl. Redden 2007). Schließlich werden die Formate auch ganz explizit als Ausdruck eines neoliberalen Marktes charakterisiert, dessen Paradigmen wie Wettbewerb und Konkurrenz medial in Szene gesetzt werden (vgl. Ouellette/Hay 2008; Palmer 2008; Heller 2007). In dem vorliegenden Beitrag soll die Frage nach der Attraktivität dieser Sendungen für ZuschauerInnen im Vordergrund stehen. Diese steht, so die These, im Zusammenhang mit der Relevanz der Formate für den Alltag der Zuschauerinnen und Zuschauer – wobei dieser freilich ohne Bezug auf gesellschaftliche Verhältnisse nicht zu verstehen ist. Denn sicherlich ist es, wie ich andernorts bereits mit Blick auf Sendungen wie Germany’s Next Topmodel (Thomas 2008a) oder Das Model und der Freak (Thomas 2008b) argumentiert habe, nicht ausreichend, diese Sendungen lediglich abzuqualifizieren, weil sie zur Einübung in traditionelle Geschlechterrollen, hegemoniale Männlichkeitspraktiken, in sexistisches Denken und Prozesse der Selbstverdinglichung einladen, zumal fraglos und mit guten Gründen der Einwand formuliert werden kann, dass ZuschauerInnen je nach sozialer Position und Kontext ganz unterschiedliche Lesarten einer solchen Sendung – man mag sie vergnüglich oder zynisch nennen – entwerfen (vgl. Thomas/Langemeyer 2007; vgl. dazu auch den Beitrag von Klaus/O’Connor in diesem Band). land hat Tim O’Sullivan (2005) vorgelegt; in großem Bogen skizziert er eine Entwicklung vom „Television Lifestyle“ zu „Lifestyle Television“. Freilich ist auch dieses (Sub-)Genre keines ohne historische Vorläufer. Dies systematisierend auszuführen, steht allerdings noch aus.
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Verschiedene Formate des Lifestyle-TV als spezifische Angebote der Populärkultur sollen im Folgenden vielmehr in ihrer Anschlussfähigkeit an Alltags(er)leben und -handeln unterschiedlich positionierter ZuschauerInnen als Vergesellschaftungsmodus diskutiert werden. Auf diese Weise können sich produktive Wege zur Beantwortung der von John Fiske (2006: 53) angestoßenen Frage eröffnen: Was haben diese speziellen Sendungen an sich, das sie so populär macht? Zur Diskussion dieser Frage greife ich im Folgenden Eggo Müllers Sicht auf die Stellung des Fernsehens in der Gesellschaft und nicht seine Stellung zur Gesellschaft auf (vgl. Müller 2005). Entwicklungen und Modifikationen medialer Deutungsangebote im Fernsehen sollen als Prozess verstanden werden, der zusammenfällt mit Veränderungen sozialer Lebensbedingungen, Alltagserfahrungen und -praktiken. Aus einer solchen Perspektive ist es hilfreich, die folgenden Ausführungen zunächst knapp unter Hinweis auf die Privatisierung und Kommerzialisierung des Fernsehmarktes sowie die Ökonomisierung des Sozialen zu rahmen, die Fernsehangebote maßgeblich prägen (Abschnitt 2). Exemplarisch werden im Anschluss ausführlicher einige Studien betrachtet, die einen Zusammenhang zwischen ausgewählten Formaten des Lifestyle-TV und Alltags(er)leben und -handeln herstellen: Es lässt sich zeigen, wie in den Sendungen (Re-)Produktionen sozialer Wissensbestände hinsichtlich ‚Klasse‘2 und Geschmack sowie Geschlecht, Körper und Schönheit/Gesundheit vorgenommen werden. Insofern werden hier weniger Lebensstile, denn Modelle der Lebensführung vorgeführt (Abschnitt 3). Angesichts einer ganzen Reihe von Studien (u.a. von Modleski 1982; Radway 1987; Ang 1986; Geraghty 1991; Brown 1994) lässt sich konstatieren, dass mediale Angebote insbesondere dann eine Attraktivität für ZuschauerInnen entwickeln können und an einer Reproduktion und Legitimierung gesellschaftlicher Verhältnisse maßgeblich beteiligt sind, wenn ihre Deutungsangebote an alltägliche Praktiken und Erfahrungen von Menschen anknüpfen und ihnen einen Sinn geben. Vor diesem Hintergrund wird ein Verständnis von Alltag eingeführt, das die Bedeutung sozialer Wissensbestände fokussiert und die Produktivität einer Konzeptualisierung der ‚Anschlussfähigkeit von Medien- und Alltagshandeln‘ herausarbeiten hilft (Abschnitt 4). 2
Die ‚Klassengesellschaft‘ ist in der angloamerikanischen Auseinandersetzung mit Lifestyle-TV, wie ich im Folgenden zeigen werde, sehr präsent. Diskussionen um die Brauchbarkeit eines zu aktualisierenden Klassenbegriffs tauchen in jüngerer Zeit auch in der deutschsprachigen soziologischen Debatte vermehrt wieder auf. Dabei erscheint mir insbesondere die Diskussion über die Frage produktiv, wer an der Konstruktion symbolischer Sinnwelten beteiligt ist und von welchen spezifischen Konstruktionen der Sozialwelt und ihrer medialen Repräsentation profitiert (vgl. Bittlingmayer/Kraemer 2001: 281). Dies mit Blick auf unterschiedliche Medienangebote angesichts der globalen Finanzkrise zu untersuchen, eröffnet vielfältige Forschungsperspektiven.
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Das Vorgehen beruht auf der von Michel Foucaults Arbeiten inspirierten Einsicht, dass Formate des Lifestyle-TV Wissensfelder artikulieren und von dem diskursiv hergestellten Wissen Strukturierungseffekte der sozialen Wirklichkeit ausgehen. Formate des Lifestyle-TV sind beteiligt an der Art und Weise, wie Wissen zirkuliert und funktioniert und können als Teile eines Wissensregimes im Sinne Foucaults betrachtet werden. Zusammenfassend plädiere ich dafür, sie gleichsam als Prisma hinsichtlich der Generierung und Hierarchisierung sozialer Wissensbestände zu analysieren, gerade indem sie Medienhandeln und Alltagshandeln verknüpfen. Aus einer solchen Perspektive schließlich soll eine erste Systematisierung verschiedener Ebenen der Anschlussfähigkeit von Medien- und Alltagserfahrung und -handeln eine Anregung liefern, anhand derer die potentielle Prägekraft des Lifestyle-TV für RezipientInnen und ihre ‚Alltage‘ diskutiert und weiterführend empirisch untersucht werden kann.
2. Lifestyle-Television: „Dienstleistungsfernsehen“ und „excess of the ordinary“ Um die Erfolgsgeschichte von Lifestyle-TV zu verstehen, ist mit Blick auf Deutschland nicht nur auf die Einführung des dualen Rundfunks hinzuweisen, sondern auch auf die politischen Umstrukturierungen angesichts einer zunehmenden Ökonomisierung des Fernsehmarktes, die nationalstaatliche Grenzen längst überschritten haben. Seit 1985 habe sich Fernsehen damit nicht nur als Feld der Globalisierung und Ökonomisierung erwiesen, sondern gleichsam „als Motor der Individualisierung, des Konsumismus und forcierter Kapitalisierung“, konstatierte Müller (1997: 52) schon vor über zehn Jahren. In von Konkurrenz und Wettbewerb geprägten neoliberal regulierten Gesellschaften, so behauptet Palmer im Jahr 2008, wurde Lifestyle-TV von den Werbetreibenden als optimales Werbeumfeld und für die Entwicklung neuer Finanzierungswege erkannt; die Formate werden zunehmend von Sponsoren finanziert und geprägt. Als „Goodwill Reality TV“ oder „Good Samaritarian Reality TV“ bezeichnet John McMurria (2008) Formate wie Extreme Makeover: Home Edition.3 Er beschreibt ausführlich, wie Unternehmen (in Zeiten von Festplattenrekordern) nach neuen Werbemöglichkeiten suchten und ihre Vermarktungsinteressen als Sponsoren von Deko-, Makeover- oder Do-It-Yourself-Formaten in Übereinstimmung mit 3
Laurie Ouellette und James Hay wählen für diese Sendungen, in denen aus ihrer Sicht vorrangig Menschen auftreten, die in Zeiten von Privatisierung und Selbstverantwortung nicht willens oder in der Lage sind, angemessen für sich zu sorgen, die Bezeichnung „Charity TV“. Sie betrachten dies keineswegs als völlig neue Entwicklung und weisen entsprechend auf Vorläuferformate hin. Gründe für die aktuelle Vielfalt und Ausdifferenzierung solcher Fernsehformate sehen sie in den staatlichen Politiken der Deregulierung und der ‚Reform‘ des Wohlfahrtsstaates (vgl. Ouellette/Hay 2008: 33).
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der neoliberalen Politik zur Förderung des Eigenheimbesitzes durch die BushRegierung umsetzen konnten.4 Fernsehen simuliere sich als Dienstleistungsagentur, so beschreiben es Chad Raphael (2004) und Eggo Müller (2005); es etabliere sich zunehmend als Institution, die mehr und mehr in sozialen Prozessen vermittelt, berät und Wünsche und Interessen der ZuschauerInnen als konsumierende BürgerInnen aufgreift, vertritt, moderiert oder sogar realisiert. Reality-TV, und insbesondere Lifestyle-TV wird in der Literatur sehr häufig, aber auf unterschiedliche Weise in den Zusammenhang mit Alltag gestellt: In einigen Beiträgen konstituiert sich ‚Alltag‘ durch die medialen Repräsentationen alltäglicher Handlungspraxen, in anderen durch Authentifizierungsstrategien eines Hier und Jetzt oder aber durch den Eingriff in den Alltag von KandidatInnen und damit eine Veränderung individueller, teilweise auch kollektiver, alltäglich erlebbarer Lebenswirklichkeiten. Charlotte Brunsdon (2003: 55) schlussfolgert vor dem Hintergrund eines Vergleiches mit frühen britischen Vorläuferformaten, Lifestyle-TV biete gegenwärtig „surely melodramatic television“. Sie erkennt Vorläufer des Subgenres in der Tradition der Game-Shows, die insbesondere durch die Nahaufnahmen von KandidatInnen in Entscheidungssituationen charakterisiert waren und sind. Ihre These lautet, dass es in den aktuellen Formaten des Lifestyle-TV weniger um die Transformation von Personen, Wohnungen, Gärten etc. gehe, sondern um die Reaktionen darauf. Und diese Nahaufnahmen, so argumentieren auch Helen Wood und Bev Skeggs (2008: 182) unter Rückgriff auf Arbeiten von Rachel Moseley, produzierten einerseits einen Realismus in der Simulation des Hier und Jetzt (anstatt der Behauptung von „Wahrheit“) und andererseits besonders melodramatische Szenen. Dies führe zu einem „excess of the ordinary“, lautet schließlich eine ihrer zentralen Thesen. Jack Bratich dagegen hebt in diesem Zusammenhang stärker hervor, dass diese Sendungen zugleich nachhaltig in das Alltagsleben der beteiligten Menschen ‚wie du und ich‘ eingreifen (Bratich 2006: 66): Er weist darauf hin, dass RealityTV „minimizes its representational function and maximizes its injection into the world“ und beschreibt damit eine Entwicklung, auf die Angela Keppler schon 1994 mit ihrer Unterscheidung von „narrativem“ und „performativem“ RealityTV hingewiesen hat. Da diese Formen des Makeover von häuslicher Umgebung, 4
Als besonders augenfälliges Beispiel einer Demonstration von Gemeinnützigkeit beschreibt McMurria die Spezial- und Sonderausgaben der Sendung nach der Hurrikankatastrophe in New Orleans im Jahr 2005, die allerdings lediglich individuelle, einzelfallbezogene und punktuelle Hilfeleistung statt einer Thematisierung und Bekämpfung struktureller Ungleichheit angeboten und damit eine Regierungspolitik unterstützt hätten, die den Abbau sozialer Sicherung forciert. Die ‚First Lady‘ Laura Bush trat in einer Sonderausgabe der Reality-Show auf und verteilte Kleidung an die Opfer.
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Lifestyle, Körper, Beruf oder gesamter Lebensumgebung für ZuschauerInnen als TeilnehmerInnen an der Produktion ‚wirkliche‘ Veränderungen mit sich bringen, greift Eggo Müller (2005: 9) einen Begriffsvorschlag von Steve Spittle (2002: 58) auf und führt die Bezeichnung „transformatives Lifestyle-Fernsehen“ ein. Dabei setzen die Transformationsprozesse laut Brunsdon aber nicht nur auf der Ebene der Subjekte ein: „Everyday Life and ‚ordinariness‘ are transformed“ behauptet sie und begründet beispielhaft: „Nowadays, gay male couples show their allotments, cookery programmes stage the inheritance of Empire. Women do heavy labouring work in gardens, men show one how to put on make-up. It may be a more melodramatic England, but it is undoubtedly also a more diverse one.“ (Brunsdon 2001: 57) Die Entwicklung medialer Deutungsangebote wie der Formate des LifestyleTV kann aus einer solchen Perspektive verstanden werden als Prozess, der zusammenfällt mit Veränderungen sozialer Lebensbedingungen, Alltagserfahrungen und -praxen. Damit kommen nicht nur die medialen Angebote, sondern auch deren RezipientInnen in den Blick. Diese RezipientInnen verfügen über unterschiedliche soziale Kompetenzen, mittels derer sie Subjekt- und Weltverhältnisse reproduzieren, aber auch in Frage stellen können. Diese Kompetenzen, die auch im Zuge einer Selbstsozialisation wesentlich im Gebrauch der medienbezogenen Kommunikation entstehen und in Alltagspraxen aktualisiert und reproduziert werden können, wirken an der Konstitution des Sozialen mit (vgl. Krotz 2003).5 Auf welche Weisen Lifestyle-TV in diesem Zusammenhang Angebote macht, zeigt der folgende Abschnitt.
3. Lifestyle-TV als Politiken der Lebensführung Um Dimensionen der Alltagsrelevanz des Lifestyle-TV hinsichtlich der (Re-)Produktion sozialer Wissensbestände und -ordnungen detaillierter aufzuzeigen, werden im Folgenden Ergebnisse ausgewählter Studien vorgestellt. Die anschließende Auseinandersetzung mit dem Begriff der alltäglichen Lebensführung trägt dazu bei, die potenziell handlungsleitende Bedeutung solcher medialen Deutungsangebote besser erkennen zu können. 5
Martin Saar (2007: 335) greift eine Überlegung Foucaults auf, die in diesem Zusammenhang zumindest Erwähnung finden soll: „Dass die moderne Macht subjektivierend wirkt, d.h. ‚die Individuen in Subjekte‘ (Foucault 2007b: 86) transformiert, ihnen eine bestimmte Identität aufprägt, sie in bestimmte Rollen einfügt und ihnen ein bestimmtes Wesen zuschreibt, ist das Dilemma jeden Kampfes oder Widerstands gegen die moderne Macht; denn sie ist in gewissem Sinne schon eingegangen in genau die Subjektivitäten, die sich gegen sie richten können“. Dies führt keineswegs in eine Ausweglosigkeit, wie Foucault in seinen späten Arbeiten explizit betont hat; Perspektiven des Widerstands im Denken Foucaults diskutieren aktuell die Beiträge in Hechler/Philipps 2008.
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Exemplarisch konzentriere ich mich auf Beiträge, die zeigen, wie Formate des Lifestyle-TV typisiertes Wissen über Klasse und Geschlecht, Geschmack, körperliche Attraktivität und Gesundheit hervorbringen und wie dieses Wissen an hegemoniale Diskurse sowie politische Rationalitäten rückgebunden ist. Somit lassen sich Thesen über die Zusammenhänge zwischen medienkulturellen Praktiken im Lifestyle-TV, alltagskulturellen Erfahrungen und Praktiken von RezipientInnen und politischen Rationalitäten in westlichen Gesellschaften aufzeigen. Ein gemeinsamer Referenzpunkt der Studien ist dabei die zunehmende Ökonomisierung des Sozialen, häufig verbunden mit dem Hinweis auf Prozesse, die mit dem Begriff ‚Individualisierung‘ beschrieben werden. Die an Michel Foucault anknüpfenden Gouvernementalitätsstudien einerseits, Pierre Bourdieus Arbeiten zu Habitus, Feld und Kapital andererseits bilden wiederholt theoretische Bezugspunkte in den Analysen der Formate des Lifestyle-TV. Die Zunahme beispielsweise der ‚Deko‘- oder ‚Einrichtungs‘-Shows der 1980er und 1990er Jahre sei, so bekräftigt Deborah Philips (2005) mit Blick auf England, nicht zu verstehen ohne Berücksichtigung der massiven Förderung des Privateigentums und der Zunahme der Singlehaushalte in der Ära Thatcher (vgl. auch Palmer 2004: 179). Eigentum und insbesondere auch seine Dekoration seien in dieser Zeit zu einer ökonomisch relevanten kulturellen Praxis geworden. Zugleich habe sich ein neuer Diskurs über die Bedeutung des Zuhauses als „Kapitalanlage“ im mehrfachen Sinne entwickelt. Unter Bezugnahme auf Pierre Bourdieus Studie „Die feinen Unterschiede“ (1982) macht die Autorin zugleich darauf aufmerksam, dass ‚Geschmack‘ hinsichtlich Design keineswegs alleine als Frage des Verfügens über ökonomisches Vermögen, sondern eher als eine des Habitus anzusehen sei (Philips 2005: 227). Lifestyle-Sendungen im Fernsehen machten Vorschläge zur Ausstattung des eigenen Heims und lieferten somit zugleich Deutungen angemessenen ‚Geschmacks‘. Ähnlich argumentierend und ebenfalls unter Bezug auf Bourdieu weist auch Tania Lewis (2008: 81) darauf hin, dass Klasse in Sendungen des LifestyleTV nicht mehr vorrangig über ökonomisches Kapital repräsentiert werde, sondern über kulturelles Kapital bzw. über klassenvermittelte Geschmackskategorien. Lewis spricht von einer „increasingly governmental role of television“, die auf die Transformation des Alltags der ZuschauerInnen ziele und die Rolle von ExpertInnen verändere: „As the content of television increasingly both draws upon and colonizes people’s everyday lives, the nature, performance, and presentation of expertise and modes of authority on television are being reworked.“ (Lewis 2008: 73) Diese neuen, häufig selbst ernannten „ExpertInnen“ vermittelten vorrangig Alltagswissen und lieferten dabei eine Übersetzungsleistung: Statt eines mühsamen Erwerbs des kulturellen Kapitals der Mittelklasse böten diese aufstiegsorientierten ZuschauerInnen leicht zu imitierende Stylingtipps an. Gesellschaftliche Klassenunterschiede, die den Subtext der
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Sendungen lieferten, könnten somit entsprechend der prominenten Anrufung eines selbstverantwortlichen unternehmerischen Selbst in neoliberalen Diskursen geleugnet werden. Helen Wood und Bev Skegg (2008) konstatieren zusammenfassend, RealityTV6 präsentiere einen spektakulären, ahistorischen Einblick in soziales Leben. Dies bedeutet auch aus ihrer Sicht keineswegs, dass Klasse in den Sendungen nicht sichtbar wäre; die Autorinnen plädieren im Gegenteil dafür, den medialen Konstruktionen von Klasse wieder vermehrt Aufmerksamkeit zu schenken: Das Verständnis von Klasse, so Wood und Skegg, wandele sich in diesen Formaten zu Fragen nach moralischer Sichtbarkeit und individueller Selbstverantwortung. Verbunden mit einem solchen diskursiven Verschwinden von Klasse als Strukturkategorie in medialen Deutungsangeboten werde, wie Roger Bromley (2000) es anhand des jüngeren britischen Films gezeigt habe, das einzelne Individuum für seine Ungleichheits- und Ungerechtigkeitserfahrungen verantwortlich gemacht. Somit bekräftigen auch diese Autorinnen eine Sichtweise, Lifestyle-TV als gegenwärtige Versionen der medialen Inszenierung von prinzipieller Wahlfreiheit, häufig kombiniert mit einer Revitalisierung des Mythos von individuellem Aufstieg und einem Appell an Leistungsbereitschaft und Selbstverantwortung zu analysieren (vgl. Thomas 2008b). Wood und Skegg (2008: 178) betonen nachdrücklich, dass die Entwicklung der Formate des Lifestyle-TV mit Individualisierung als Vergesellschaftungsprozess korrespondiert. Hilfreich erscheint mir dabei eine analytische Unterscheidung zwischen den komplementären Dimensionen von Individualisierung als gesellschaftlichem Prozess, mit dem Lebens- und Ungleichheitserfahrungen korrespondieren, und der diskursiven Anrufung von Individualität als einem Paradigma eines Vergesellschaftungsmodus, der durch die Ökonomisierung des Sozialen maßgeblich gekennzeichnet ist. Während demnach auf der ersten Ebene Individualisierung als fortschreitende soziale Differenzierung verstanden wird, wird auf der zweiten gefragt nach „der gesellschaftlich veränderbaren, kulturellsymbolischen wie auch strukturellen Subjektpositionierung“ (Wagner 2004: 28), die die Subjekte umfassend auf Formen der Selbstkontrolle, Selbstverantwortung und Selbststeuerung verpflichtet. Entsprechend lässt sich auch anhand von deutschsprachigen Sendungen wie Das Model und der Freak exemplarisch zeigen (vgl. Thomas 2008b), dass und wie solche Sendungen zu unentwegter Selbstthematisierung, -problematisierung und -transformation auffordern. Die häufig formulierten Appelle zur Arbeit an der ‚Persönlichkeit‘ und zur Aufführung individueller Einzigartigkeit sind zudem – scheinbar paradox – häufig 6
Wood und Skeggs verwenden hier nicht den Begriff des Lifestyle-TV, beziehen sich aber auf solche Formate, die üblicherweise als Lifestyle-TV bezeichnet werden (z.B. What not to wear, Ten years younger, You are what you eat, Honey, we are killing the kids, Supernanny etc.)
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verbunden mit Konformitätsanforderungen und einer Aufforderung zur Normalisierung und Reproduktion vergeschlechtlichter, heteronormativer und rassialisierter Stereotype, die soziale Ungleichheiten verfestigen (können). Auf diese Ambivalenzen, die Diskurse rund um die Prozesse der Selbstformierung kennzeichnen, hat auch Angela McRobbie (2004: 256) verwiesen: Aus ihrer Sicht sind diese Individualisierungsdiskurse gekennzeichnet einerseits durch eine (diskursiv hergestellte) Erhöhung der Wahlmöglichkeiten, andererseits geprägt durch die Koexistenz neokonservativer Werte mit Blick auf Geschlecht, Sexualität und Familienleben. Zwar wird dem widersprechend auch argumentiert, es komme in den Sendungen zu einem „breaking down of distinctions between masculine and feminine domains of knowledge on lifestyle TV“ (Lewis 2007: 293 unter Verweis auf Taylor 2002); insofern werde ‚weiblich‘ konnotiertes Wissen bzw. ‚weibliche‘ oder ‚queere‘ Expertise aufgewertet. Wie Palmer (2004) allerdings betont, spielen diese neuen ExpertInnen eine zentrale Rolle in der Aufführung und Legitimierung spezifischer normativer Vorstellungen von Alltäglichkeit („ordinariness“), die eng an die bürgerliche, heterosexuelle, weiße Mittelschicht und ihre Normen gebunden bleiben. Zugleich sind solche Ansprachen „weiblicher“ Expertise, so McMurria (2008: 318), ökonomisch motiviert; er zeigt, wie diese in Reality-Shows in dem Moment auftauchen, als die Zahl allein stehender Hausbesitzerinnen zunimmt, zunehmend Werkzeuge speziell für Frauen entwickelt und in Baumärkten „Do it herself Workshops“ angeboten werden. Jedoch sind es gerade diese Ambivalenzen und Spannungsfelder, die einigen AutorInnen als zentral hinsichtlich der Attraktivität des Lifestyle-TV gelten: Eingedenk ihrer eigenen Analyse der OP-Show The Swan schlussfolgert Paula Irene Villa, die Gleichzeitigkeit von Selbst- bzw. Handlungsermächtigung und (Selbst-) Unterwerfung sei das eigentlich Faszinierende der dargebotenen reflexiv-modernen Praxen (vgl. Villa 2008: 16). Ähnlich argumentiert Heyes (2007) unter Bezug auf Foucault, wenn sie auf die zugleich ermächtigende wie disziplinierende Dimension des Diskurses über Schönheitschirurgie anhand der Formate wie Extreme Makeover und The Swan hinweist. Detailliert beschreibt Simon Strick (2008: 205) anhand des Formats The Swan, wie diese Sendung Möglichkeiten der Wahrnehmung des Selbst offeriert, „die Parameter für die Beurteilungs- und Optimierungsarbeit, also die Weisen der Selbstführung präskriptiv formulieren“ – d.h. das Format vermittelt einerseits spezifisches Wissen und macht andererseits die Umgestaltung des Körpers erzählbar als ermächtigende Technik der Selbstfindung. Dass es insgesamt bei diesen Shows, in denen vorrangig an und mit Körpern gearbeitet wird, keineswegs um Aussehen, sondern um die Verkörperung sozialer Normen geht, wurde inzwischen auch anhand der Formate des Lifestyle-TV vielfältig gezeigt (vgl. Villa 2008; Doyle/Irmi 2008; zur Reproduktion vergeschlechtlichter Normen in Sendungen wie What not to wear, Facelift Diaries oder Fat Club vgl. auch Roberts/West-Burnham 2007).
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Mehr und mehr spiele inzwischen Gesundheit, so stellt Tania Lewis fest, eine Rolle in Lifestyle-TV-Formaten. Sie umfasse neben dem Körper zunehmend auch die Psyche oder Seele, medizinische oder gesundheitliche Ratschläge, lifestyle-orientierte Beratung zu Themen wie Schönheit und Pflege und Tipps für die Balance zwischen Arbeit, Freizeit, Familienleben und Beziehungspflege. Gesundheit werde damit enger mit Themen der sozialen Identität verknüpft (vgl. Lewis 2008: 115). Unter Bezugnahme auf Featherstone (1991) beschreibt Lewis dies als Verschiebung des Verständnisses von Lebensstil, die zutreffender als Stilisierung des Alltagslebens beschrieben werden könne. Hinsichtlich der Auffassungen von Gesundheit sei dies zunehmend mit der Vorstellung einer individuellen Konsumentenentscheidung verknüpft, schließlich erscheine Gesundheit selbst als Resultat einer Wahl des Lebensstils. ‚Lifestyle‘ sei zwar dabei nach wie vor ganz offensichtlich stark bestimmt durch die soziale Position, doch vermittele der dominante Individualisierungsdiskurs in der Konsumkultur die Vorstellung von Wahlmöglichkeiten und Kontrolle. Die Sorge um die Gesundheit sei zunehmend in die Verantwortung und Pflicht des Einzelnen gerückt; eine Entwicklung, die nachdrücklich durch neoliberale Regierungspolitiken, insbesondere im Bereich des öffentlichen Gesundheitswesens gestützt werde. „Ökonomische und politische Konfiguration gesellschaftlicher Machtverhältnisse erzeugen Identitätszwänge, die sich als hegemoniale Körperbilder durchsetzen, als Körperideale und Idealkörper“, so bekräftigt auch Eva Kreisky (2008: 148) eine solche Sichtweise. Vor diesem Hintergrund aktueller Gesundheitspolitik sei Gesundheit „zu etwas geworden, das man wählen, kalkulieren, konsumieren und je nach Bedarf durch bestimmte Maßnahmen auch produzieren und steigern kann – und muss“ konstatiert Stefanie Duttweiler in ihrer diskursanalytischen Betrachtung der Konstruktionen, Praktiken und Strategien der „Plattform Ernährung und Gesundheit“, die das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz im Sinne eines „Nationalen Aktionsplanes Ernährung und Bewegung“ im Kampf gegen Übergewicht in Deutschland gegründet hat. Duttweiler zeigt, wie Gesundheit zur unbestimmten Leitvorstellung wird, zu dessen Erhaltung und Gestaltung der Einzelne aufgerufen ist. Somit wird Gesundheit auch zur moralischen Norm: „Nicht für seine Gesundheit zu sorgen, sich ‚gehen zu lassen‘ oder gar sich in vollem Bewusstseins des Risikos selbst zu schaden, gilt als unverantwortlich im Hinblick auf die Gesamtbevölkerung.“ (Duttweiler 2008: 135; vgl. dazu auch Wirtz 2008) Tania Lewis (2008) konstatiert wiederum anhand ihrer Analyse des Formats Honey, We’re killing the kids, dass sich homologe Entwicklungen zwischen dem dominanten Diskurs über Lebensstile und der Ausdifferenzierung der LifestyleTV-Formate beobachten lassen: Während der Lifestyle-Diskurs der 1980er und 1990er Jahre noch durch die Betonung spielerischer Dimensionen der Selbstge-
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staltung gekennzeichnet sei, werde derzeit der Zusammenhang zwischen individuellen Wahlmöglichkeiten, Biographie und moralischen Fragen von Verantwortung für Familie, Gemeinschaft, Nation in den Mittelpunkt gerückt. Lifestyle und Konsumpraktiken umfassten somit zunehmend ethische Dimensionen einer „consumer citizenship“. Dass diese Entwicklungen auch das deutschsprachige Fernsehen erreicht haben, zeigt die Tatsache, dass inzwischen eine Version von Honey, We’re killing the kids (Liebling, wir bringen die Kinder um, RTL II) auch in Deutschland ausgestrahlt wurde. Insbesondere das „Computer-Morphing“, das Eltern vorführt, wie sich ihr übergewichtiges Kind bei gleich bleibender Ernährung entwickeln und in welchem Alter es potenziell versterben wird, erregte Aufmerksamkeit und Kritik. Anfang des Jahres 2009 traten In The Biggest Loser (Pro7 adaptierte das US-amerikanische Format) 14 Schwergewichtige miteinander in einen Wettbewerb; der größte Gewichtsverlust in vorgegebener Zeit bringt die Siegerprämie und demonstriert Machbarkeit bei Vorliegen der notwendigen Selbstdisziplin.7 In der Zusammenschau gilt es zunächst zu konstatierten, dass Formate des Lifestyle-TV in vorliegenden Arbeiten als Ausdruck eines gesamtgesellschaftlichen Trends einer Proklamation von Selbstreflexivität und Autonomie der Einzelnen interpretiert werden; es gelte, sich selbst, den eigenen Körper und das Glück als Objekt der Investition und Kreativität zu betrachten und kontinuierlich zu überwachen. Zugleich werden die Sendungen als Einschreibungen von sozialer Macht und Reproduktionen sozialer Strukturen beschrieben, die symbolisch Grenzen erhalten und Hierarchien produzieren und reproduzieren – denn nicht zuletzt setzen die propagierten Lebensstile gesicherte Einkommensverhältnisse voraus. Immer wieder wird die Frage angesprochen, welche und wessen Lebensstile hier thematisiert und transformiert werden. Es wird zudem deutlich, dass es insbesondere Formen indirekter Steuerung sind, die in den Formaten des Subgenres und korrespondierend hinsichtlich der gegenwärtigen Regulierung staatlicher Politik kennzeichnend sind. Foucault hat schon zu Beginn der 1980er Jahre von einer „Lenkung durch Individualisierung“ gesprochen und festgestellt: „Diese Machtform gilt dem unmittelbaren Alltagsleben, das die Individuen in Kategorien einteilt, ihnen eine Individualität zuweist, sie an ihre Identität bindet und ihnen das Gesetz der Wahrheit auferlegt, die sie in sich selbst und die anderen in ihnen zu erkennen haben“ (2007b: 85). Eine solche „Lenkung durch Individualisierung“ im Sinne einer kontinuierlichen diskursiven Anrufung von Individualität wird inzwischen von vielen AutorInnen als zentrales 7
Dem deutschen Ärzteblatt ist der Hinweis auf den Hauptsponsor der Sendung, die private Schönheitsklinikkette Mang Medical One, zu entnehmen. Deren Angebot umfasse nicht nur übliche ‚Schönheitskorrekturen‘ wie Fettabsaugung und Straffung, sondern auch das ambulante Einsetzen eines sättigenden Magenballons. Vgl. http://www.aerzteblatt.de/V4/archiv/artikel.asp?src= heft&id=63210 (4.3.2009).
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neoliberales Paradigma identifiziert. Das Konzept ‚Individualisierung‘ – und das scheint mir das Entscheidende – wird erkennbar nicht (mehr) als Prozess, der Autonomiegewinne in Aussicht stellt.8 Individualisierung wird zum normativen Ausgangspunkt gesellschaftlicher Anerkennungsprozesse und daran, so wird deutlich, haben Medienangebote wie das Lifestyle-TV einen gewichtigen Anteil. Neoliberalismus kann dabei verstanden werden als Ideologie und Regulierungsstrategie des gegenwärtigen Kapitalismus. Fernsehformate als Modi der Vergesellschaftung im Neoliberalismus zu betrachten bedeutet m.E. allerdings nicht, sie als Resultat einer herrschenden Ideologie zu analysieren, sondern als Elemente des Sozialen, in denen sich vorherrschende Denkweisen und Handlungsmuster verdichten und verstetigen können (vgl. ausführlicher Thomas 2008c). Wie Stefanie Duttweiler (2008: 140) konstatiert, adressieren und produzieren die spezifischen neoliberalen Formen indirekter Steuerung aktive Subjekte, auf die Verantwortlichkeit, Zurechenbarkeit und Rationalität appliziert werden können: „So führen die vielgestaltigen, in Alltag, Konsum- und Lebensstil der Einzelnen eindringenden Maßnahmen nicht zu einer Entmündigung des Individuums. Im Gegenteil: Die Einzelnen werden ermächtigt, für sich selbst Sorge zu tragen – auch und gerade weil ihnen dazu keine Wahl bleibt.“ (ebd.) Ähnlich sieht dies offenkundig auch Guy Redden (2007: 163), wenn er schreibt: „There is no cultural imperative greater for contemporary capitalism than getting people to refashion their lives, whatever their social identities”. Gesellschaftliche Entwicklungen werden demnach in medialen Deutungsangeboten aufgegriffen und sie greifen in sie ein: Lifestyle-TV, so argumentiere ich im Folgenden, bietet damit Modelle nicht nur von Lebensstil, sondern für alltägliche Lebensführung an.
4. Lifestyle-TV, Alltagserfahrungen und Alltagshandeln: Ebenen der Anschlussfähigkeit Die Allgegenwart von Medien und ihren Inhalten prägt die symbolischen Praktiken der Menschen in gegenwärtigen Medienkulturen. Darüber, dass Medien als integrierte Bestandteile sozialer Realität „vielfältige, auch konstitutive Funktionen 8
Theoriegeschichtlich lassen sich drei Strömungen ausmachen, die den Prozess der Individualisierung unterschiedlich bewerten: Es lassen sich Arbeiten bündeln, die die wachsende Zuschreibung von ‚Individualität‘ durch Erziehung, Administration und Kulturindustrie als Vorgang der Disziplinierung verstehen, durch den ein konformistischer ‚Individualismus‘ entsteht. Andere deuten die funktionale Pluralisierung als eine Chance der Steigerung von Individualität, die Fähigkeiten zu reflexiver, selbstverantwortlicher Lebensführung freisetzt, eine dritte Theorieschule betrachtet den Prozess als zweischneidigen Vorgang zugleich der Emanzipation von traditionellen Bindungen und einer hintergründigen Konformitätssteigerung. Für einen Überblick vgl. Schroer 2001.
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für gesellschaftliche Prozesse sowie für kollektive und individuelle Lebensführung“ (Theunert 2008: 209) haben, wird durchaus wiederholt Konsens formuliert (vgl. Weiß 2002: 58; Paus-Hasebrink 2005: 22). Notwendig ist dabei, die Verwendung des Begriffs der Lebensführung zu erläutern; gerade mit Blick auf Formate des so genannten Lifestyle-TV erweist sich dies als besonders dringlich. Die analytische Produktivität einer kritischen Betrachtung des – durch eine Übersetzung des Begriffs Lifestyle-TV ins Deutsche – nahe liegenden Begriffs ‚Lebensstil‘ eröffnet sich, wenn damit deutlich wird, dass Dimensionen der Alltagsrelevanz entsprechender Fernsehformate des Lifestyle-TV nicht auf den Aspekt von ‚Stilisierungen‘ oder ‚Lebensstil‘ etwa im Sinne einer Vorliebe für bestimmte Kleidungsstile, Filmgenres oder Musikgeschmack verkürzt werden dürfen. Vielmehr rufen die Sendungen zum „Nachdenken über Lebensweisen, die Wahl der Lebensform, die Regulierung des eigenen Verhaltens, die Selbstzuweisung von Zielen“ auf, die Michel Foucault (2007a: 76) als „Technologien des Selbst“ bezeichnet. Analysen des Lifestyle-TV können maßgeblich gewinnen durch einen Bezug auf Foucaults späte Arbeiten, in denen er sein Erkenntnisinteresse auf die Selbstführung der Individuen richtet, d.h. darauf, „wie sie sich im Rückgriff auf verfügbare kulturelle Modelle reflexiv auf ihr eigenes Verhalten beziehen und Maximen der ‚richtigen‘ oder ‚angemessenen‘ Lebensführung folgen, sich selbst ‚subjektivieren‘“ (Keller 2008: 123). Entsprechend konstatieren Wood und Skegg (2008), es gehe in den Formaten des Lifestyle-TV nur oberflächlich gesehen um Geschmack, Stil, Design und Etikette (ebd.: 186), im Kern aber um die Aufführung intellegibler, d.h. selbstverantwortlicher und selbstunternehmerischer Subjekte. Da zudem jede Praxis der Selbstverantwortung entsprechender Ressourcen und Kompetenzen bedarf, könne Lifestyle-TV als eine der sichtbarsten politischen Formen der Generierung sozialer Ungleichheit auf der Ebene der moralischen Ökonomie der Persönlichkeit betrachtet werden (vgl. ebd.: 190). Lifestyle werde somit auch jenseits medialer Repräsentation zum „floating signifier“ (Binkley 2007) in einem kulturellen Feld scheinbar unstrukturierter Positionen, das maßgeblich durch die Entwicklungen des globalisierten Arbeitsmarktes und einen radikale Um- und Abbau des Sozialstaates geprägt ist. Statt Lifestyle-TV mit Lebensstilen zu assoziieren, wird vor diesem Hintergrund dafür plädiert, die Relevanz der Formate in ihrer Bedeutung für Prozesse alltäglicher Lebensführung zu betrachten. Es sind im Wesentlichen drei Aspekte, die für eine Verwendung des Begriffs „alltägliche Lebensführung“ sprechen: Erstens umfasst alltägliche Lebensführung grundlegende Wertorientierungen und Prinzipien hinsichtlich einer als wünschenswert erachteten Lebensgestaltung – also eine motivationale Komponente, die freilich immer als kulturell vermittelt zu verstehen ist und den Einzelnen auch unbewusst bleiben kann. Zweitens sind mit Symbolgehalt versehene Handlungsmuster gemeint, die eine
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Koorientierung von Akteuren in sozialen Interaktionen ermöglichen (vgl. Otte 2005: 452). Diese expressive Komponente macht darauf aufmerksam, dass alltägliche Lebensführung als individuelle Aktivität auch abgestimmt und verschränkt werden muss mit den Aktivitäten anderer. Drittens kann eine Betonung auf dem zweiten Teil des Kompositums Lebensführung verdeutlichen, dass diese weder als Konstellation der sozialen Bedingungen noch als Ausdruck individueller Entscheidungen gesehen werden soll. Der Zugang zu und die Verfügungsmöglichkeiten über materielle, kulturelle und soziale Ressourcen bestimmen nicht unmittelbar die Muster der Lebensführung, wie Bourdieu sehr anschaulich gezeigt hat9; es sind vielmehr die damit produzierten Aktivitäten, angeeigneten Objekte und korrespondierenden Wertorientierungen, die diskursiv vermittelt und hierarchisiert werden. Der Begriff der alltäglichen Lebensführung hebt zudem auf die Alltagsrelevanz der Praktiken ab, die im Mittelpunkt der Betrachtung des Lifestyle-TV stehen sollen. Alltag10 beruht in dem hier vorgeschlagenen Verständnis auf Wissensbeständen und Handlungsregeln, die im Vollzug alltäglichen Handelns in der Regel nicht hinterfragt werden. Die Besonderheit dieser Wissensbestände und Handlungsregeln besteht auch darin, dass sie den Menschen direkt und ohne weiter notwendige Reflexion zur Verfügung stehen, solange sie funktionieren. So wird Koordination möglich, die maßgeblich durch Typisierungen geleistet wird, die intersubjektiv konstruiert sind und damit dem Subjekt in seiner Alltagswelt als externe Wirklichkeit gegenüber zu treten scheinen. Alltag kann entsprechend als Wahrnehmungs- und Handlungsmodus beschrieben werden, er umfasst wissensunterlegte soziale Praktiken. Diese können als eingelebte Weisen erfahren werden, sich auf etwas zu verstehen; sie werden in sozialen Praktiken sichtbar. Wenn also alltägliche Lebensführung auf Wissensbeständen und Handlungsregeln beruht, die auch medial vermittelt werden, stellt sich die Frage, welche in Formaten des Lifestyle-TV vermittelt werden.11 Nimmt man die in den erwähnten Studien vielfach formulierte These von der Hierarchisierung von ‚Lebensstilen‘ in den Formaten des Lifestyle-TV auf, wird 9
Bourdieus zentraler Beitrag zur Klassendiskussion ist in der Verknüpfung von Klassenlagen und Lebensführung zu sehen (vgl. Krais 2004: 197f.). Die Akteure und ihre soziale Praxis rücken hier in den Blick: Sie sind es, die Differenzen in den Positionen in Unterschiede der Lebensführung transformieren. Um diese beobachtbaren Unterschiede zu verstehen, entwickelt Bourdieu sein Konzept von Habitus. Bourdieu selbst spricht übrigens von Lebensstilen, bezieht sich aber explizit auf Max Webers „Lebensführung“ (vgl. Krais 2004: 198). 10 Die verschiedenen Konzepte von Alltag variieren in Abhängigkeit zu der theoretischen Perspektive und von dem Kontext, in dem sie vorgenommen werden. Zum besseren Verständnis von alltäglichen Praktiken in Medienkulturen vgl. ausführlicher Thomas/Krotz 2008. 11 Mit einer solchen Frage geht man über den Bezug auf Wissen über internalisierte Wissensvorräte und objektivierte Wissensbestände hinaus. Auch diese Perspektive ist von Foucault inspiriert, der gesellschaftlich-historische Praxisfelder nach Diskursen und Praktiken von Macht/Wissen befragt (vgl. Keller 2008: 128).
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deutlich, dass die Vermittlung von alltäglicher Lebensführung auch die Reproduktion von Macht und Hegemonie beinhaltet und somit zu Fragen nach den Ressourcen und Möglichkeiten der individuellen Anpassung des Einzelnen an diese Bedingungen bzw. deren Überschreitung provoziert. Dies bestärkt die theoretisch fundierte Einsicht, dass Medieninhalte, Medienhandeln, Wissensbestände und Alltagshandeln12 nicht in einen Kausalzusammenhang gestellt werden dürfen. Vielmehr soll – wie bereits zu Beginn hinsichtlich der Entfaltung der Wirkungsmächtigkeit medialer Deutungsangebote argumentiert – die Anschlussfähigkeit von Medien- und Alltagserfahrung13 betrachtet werden, um die Prägekraft des Lifestyle-TV für alltägliche Lebensführung unterschiedlich positionierter Akteure reflektieren zu können. Dies soll hier zunächst theoriegeleitet vorgenommen werden. Studien, die den Zusammenhang von Medien- und Alltagserfahrung und -handeln betonen, konzentrieren sich einerseits auf die gegenständliche Aneignung im Rahmen eines tätigkeitsorientierten Aneignungskonzepts. Andererseits – und für den vorliegenden Zusammenhang des Lifestyle-TV zentraler – verweisen Studien vor dem Hintergrund handlungstheoretischer Konzepte darauf, was Medienangebote und Medienpraktiken im Kontext von (jugendlicher) Alltagserfahrung bedeuten können (vgl. Mikos 2001, 2005): Sie liefern beispielsweise Ressourcen für Arbeit am Selbst (vgl. Barthelmes/Sander 2001), Aushandlung von Identität (vgl. Charlton/Neumann-Braun 1990; Winter/Thomas/Hepp 2003; Mikos/Hoffmann/Winter 2007), Geschlechteridentität (vgl. Luca 1998; Götz 1999; Bechdolf 1999; Tillmann 2008); sie stellen Identitätsräume (vgl. Hipfl u.a. 2004), ermöglichen Identifikation, Probehandeln, „bieten ein Forum für Träume und die Imagination von Lebensentwürfen“ (Wegener 2008: 39). Hinsichtlich differenter individueller Modi der Medienaneignung im Lebensalltag Jugendlicher liefert Wegener theoretische Systematisierungen und Fallbeispiele (vgl. ebd.: 58ff., fallbezogen 187ff.). Hier liegt der Fokus auf „Formen und Prozesse[n] in der Medienaneignung (…), in denen individuelle Themen mit Medienthemen verbunden und in wechselseitigem Abgleich strukturiert werden“ (ebd.: 58). Gerade mit Blick auf Individualisierungsprozesse 12 Im Folgenden steht das Medienhandeln von ZuschauerInnen der Fernsehsendungen im Sinne aktiver Aneignungsprozesse im Mittelpunkt. Die Betrachtung kann sicherlich ausgeweitet werden (z.B. auf das Medienhandeln ehemaliger RezipientInnen, die im Lifestyle-TV zu Akteuren werden); dies muss aber unter Hinweis auf den begrenzten Umfang des Textes zurückgestellt werden. 13 Mediale Erfahrung kann mit Angela Keppler (1999: 187) als „Erfahrung von Situationen außer Reichweite des eigenen Handelns, in Reichweite der existentiellen Erfahrung“ aufgefasst werden (Hervorheb. i.O.). Mediale Erfahrung wird somit als ein Erfahrungsmodus verstanden; sie wird zwar zur integralen Komponente von Lebenserfahrung, lässt diese aber weder verkümmern noch verschwinden. Mediale Erfahrung kann, so Keppler (ebd.), die Funktion einer orientierenden Erfahrung haben, wenn sie von dem Subjekt auf die eigene Situation bezogen wird.
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wird in einigen handlungstheoretischen Arbeiten gefordert, die individuellen Erfahrungen und Erlebnisweisen in den Vordergrund handlungstheoretisch fundierter Rezeptionsforschung zu stellen und von der Einbettung in Kontexte sehr weitgehend zu abstrahieren (vgl. unter Bezug auf Fernsehrezeption Mehling 2008: 350). Um jedoch die Bedeutung eines Genres wie dem des Lifestyle-TV mit Blick auf alltägliche Lebensführung zu verstehen, muss der Fokus auf individuelle Aneignungspraktiken eine Erweiterung erfahren. Wenn insbesondere nach der Anschlussfähigkeit des Lifestyle-TV an Alltag gefragt wird, werden Aneignungspraktiken hinsichtlich der (Re-)Produktion der (in Interaktionsprozessen hergestellten) sozialen Orientierungen und Wissensbestände in den Vordergrund gerückt, die zur Affirmation wie Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse beitragen können. Entlang vorliegender (empirischer) Studien lassen sich bislang grundsätzlich fünf verschiedene Ebenen unterscheiden, auf denen eine Anschlussfähigkeit von Lifestyle-TV an Alltagserfahrung und -handeln basieren kann: Sie kann auf Wissensvorräten und Handlungsregeln auf kognitiv-rationaler, kommunikativer, formal-inhaltlicher, emotionaler bzw. phantasiebezogener wie performativer Ebene beruhen: Erstens wird deutlich, dass RezipientInnen auf kognitiv-rationaler Ebene nach Äquivalenten suchen: Vorliegende Studien zeigen, dass Relevanz und Vergnügen an medialen Unterhaltungsangeboten im Zusammenhang stehen mit den Möglichkeiten, an biographisch bedeutsame Themen, lebensgeschichtliche Erfahrungen und Handlungen anknüpfen zu können (vgl. u.a. Livingstone 1990; Mikos 1994; Cornelißen 1998; Beiträge mitsamt einer kritischen Reflexion der Medien im Sozialisationsprozess liefert der Band von Hoffmann/Mikos 2007). Die Anschlussfähigkeit beruht somit auf der Plausibilität von (fiktionalen) Handlungssträngen, Problemen und Inszenierungen und den Übereinstimmungen der Darstellungen in TV-Sendungen mit den Vorstellungen der ZuschauerInnen von in der sozialen Welt tatsächlich möglichen Ereignissen und Erfahrungen (vgl. Klaus 2005: 321). Dies kann auch deren moralische Bewertung umfassen (vgl. Hill 2005: 108ff.) und bedeutsam werden u.a. hinsichtlich der motivationalen Dimension alltäglicher Lebensführung. Zweitens resultiert eine Anschlussfähigkeit an Alltagserfahrungen aus der kommunikativen Einbindung der Rezeption in alltägliche (Kommunikations-) Netzwerke (vgl. Keppler 1995). Diese Ebene potentieller Anschlussfähigkeit berührt u.a. Dimensionen der Koorientierung in Prozessen alltäglicher Lebensführung. Dahingehend lässt sich auch drittens argumentieren, dass auf der formalen und inhaltlichen Ebene Merkmale von Formaten (z.B. aufgrund von Genrewissen) die Diskussion mit anderen stimulieren und damit ein gemeinschaftliches kommunikatives Vergnügen (vgl. Radway 1987, Brown 1994)
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erzeugen: Somit wird Aneignung zugleich hinsichtlich der für Prozesse der alltäglichen Lebensführung expressiven Dimension alltäglicher Lebensführung bedeutsam.14 Dass viertens Medienaneignung auch als Ergebnis einer phantasievollen Ver- bzw. Bearbeitung ambivalenter Alltagserfahrungen aufgefasst werden kann, hat u.a. Valerie Walkerdine (vgl. u.a. 1997) verschiedentlich gezeigt. Zudem hat Ien Angs (1986) bekannt gewordene Studie zur Rezeption der Serie Dallas exemplarisch verdeutlicht, dass Anschlussfähigkeiten von Medien- und Alltagserfahrung auf emotionaler Ebene stattfinden können („emotionaler Realismus“) und damit durchaus auch auf motivationaler Ebene alltäglicher Lebensführung bedeutsam werden können. Fünftens findet man – wenn auch noch wenige – Hinweise darauf, dass ebenso performative Prozesse eine Rolle spielen: Selbst- und Medienerfahrung wird elementar auch über Körperdiskurse und -praktiken vermittelt, bekräftigt oder auch verändert (vgl. Dorer 2001). Brigitte Hipfl und Matthias Marschik (2009) machen anhand der jüngeren Arbeiten von Valerie Walkerdine deutlich, wie performatives Medienhandeln von Jungen und Mädchen im Videospiel Fantasien hegemonialer Männlichkeit bzw. Weiblichkeit folgen.15 Auch diese Ebene der Anschlussfähigkeit von Alltags- und Medienerfahrung und -handeln wäre weiterführend zu untersuchen.
5. Lifestyle-TV als bedeutungsgenerierende Praxis: Weiterführende Perspektiven Unabhängig von bestehenden Differenzen herrscht in etlichen gesellschaftstheoretisch fundierten Studien zu Formaten des Lifestyle-TV Konsens darüber, diese möglichst multiperspektivisch als „cultural forms, an institutional and sociopolitical development, a representational practice, and a source of meaning and pleasure“ zu untersuchen (Murray/Ouellette 2004: 14). Dementsprechend wurde deshalb zunächst auf bestehende Regulierungspraktiken des (Fernseh-)Marktes verwiesen, die die Entstehung und Modifizierung der Formate des Lifestyle-TV prägen. Immer wieder wurde betont, dass die Formate sich durch ihre Alltagsthematisierung auszeichnen und darin auch die 14 Dover und Hill (2007) argumentieren aufgrund von RezipientInnenbefragungen, dass diese Makeover-Shows als „low quality television“ wahrnehmen und der Inszenierungscharakter solcher Shows sehr präsent sei. Die geringe Wertschätzung der Sendungen auf die Frage „how important is it that lifestyle is shown on television“ oder der Hinweis, dass ZuschauerInnen „rejected the idea of learning from makeover shows” (ebd.: 35) scheint mir nicht ausreichend für die Schlussfolgerung, das es andere Formate sind, die sich Alltagserfahrungen nähern und in ihrer kulturellen wie sozialen Relevanz untersucht werden sollten (vgl. ebd.: 38). 15 In dieses Medienhandeln sind Alltagstheorien zur Zweigeschlechtlichkeit eingewoben (vgl. dazu auch den Beitrag von Tanja Maier in diesem Band).
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Ursache für ihre Attraktivität zu finden sei. Deshalb wurde anhand einiger Studien der Bezug auf Alltag exemplarisch aufgezeigt; damit wurden sehr unterschiedliche Begriffsverständnisse offensichtlich. Betrachtet man verschiedene Analysen der Repräsentations- und Inszenierungspraktiken in verschiedenen Formaten im Überblick, so entstehen weiterführenden Fragen, etwa danach, welcher und wessen Alltag in den Sendungen des Lifestyle-TV präsentiert bzw. transformiert wird. Dies hat zunächst verdeutlicht, dass Alltag nur in seiner gesellschaftlichen Verankerung zu verstehen ist. Zudem lassen sich diese Fragen vor dem Hintergrund eines erweiterten Konzepts von alltäglicher Lebensführung einerseits und eines wissensbasierten Alltagsbegriffs andererseits neu formulieren: An welche und wessen Wissensbestände knüpfen die Sendungen an? Wodurch sind diese Wissensbestände gekennzeichnet? Auf der Basis vorliegender Studien wurde exemplarisch gezeigt, wie Formate des Lifestyle-TV typisiertes Wissen über Klasse und Geschlecht, Geschmack, körperliche Attraktivität und Gesundheit hervorbringen und wie dieses Wissen an hegemoniale Diskurse sowie politische Rationalitäten rückgebunden ist. Deutlich wurde, dass diese Studien maßgeblich durch Arbeiten von Pierre Bourdieu und Michel Foucault inspiriert sind. Darüber hinausgehend wurde in dem vorliegenden Beitrag dafür plädiert, insbesondere die späten Schriften Foucaults zu berücksichtigen; hier fragt er weniger danach, wie ein Macht-Wissensgeflecht aus Diskursen und institutionalisierten Praktiken auf Individuen zugegriffen hat und zugreift. Es geht ihm eher darum zu erkennen, wie Praktiken der Selbstsorge entstehen, „in denen und durch die sich ein Subjekt auf sich selbst bezieht, also die Position der Anleitung wie diejenige der Adressierung übernimmt“ (Keller 2008: 96). Entgegen einer häufig vorgebrachten Kritik hat Foucault dabei diese Subjektivierungsweisen nicht als determinierende Mechanismen beschrieben, sondern gefragt, „was die Subjekte aus dem machen, was ihnen als Subjektivierung zugemutet wird“ (ebd.: 55). Wenn diese Zumutung ‚Subjektivierung‘ von Zuschauerinnen und Zuschauern in der so genannten reflexiven Moderne wiederholt erlebt wird, mag die von verschiedenen AutorInnen angeführte These, dass das eigentlich Faszinierende der Formate des Lifestyle-TV in einer Gleichzeitigkeit von Selbst- bzw. Handlungsermächtigung und (Selbst-)Unterwerfung ruht, zutreffen. In der Inszenierung des Mythos eines Lebens nach Wahl (vgl. Thomas 2008b) angesichts zunehmender gesellschaftlicher Unsicherheiten könnte ein Grund für die Attraktivität der Formate liegen. Da Mediengebrauch „offenbar eingebaut [ist] in ein Gefüge, das sich aus kommunikativen und sozialen Praktiken, ihnen zugrunde liegenden Ressourcen und ihnen vorausgehenden Lebensbedingungen, auf die die Praktiken abgestimmt sind, zusammensetzt“ (Weiß 2009: 9) wurde hier dafür plädiert, entlang des Begriffs der Anschlussfähigkeit an einer Konzeptualisierung des Zusammen-
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hangs zwischen Medien- und Alltagserfahrung und -handeln zu arbeiten, um Aneignungsprozesse sozial unterschiedlich positionierter Subjekte im Sinne mediatisierter Vergesellschaftung angemessen zu rekonstruieren und damit den Zusammenhang von Medieninhalten, Medienhandeln, Wissensbeständen und Alltagshandeln angemessener nachvollziehen zu können. Um Lifestyle-TV als bedeutungsgenerierende Praxis in seiner Attraktivität für RezipientInnen zu verstehen, konnte hier vorerst nur theoriegeleitet eine erste Systematisierung verschiedener Ebenen der Anschlussfähigkeit zwischen Medien- und Alltagserfahrung und -handeln vorgeschlagen werden. Sie zu prüfen und zu erweitern, obliegt weiterführenden empirischen und zugleich gesellschaftstheoretisch fundierten Untersuchungen zur Rezeption und Aneignung von Formaten des Lifestyle-TV durch RezipientInnen, deren soziale Positionierung im Forschungsprozess nicht vorschnell alleine über Geschlecht, Ethnizität, Einkommen und Bildungsabschlüsse eruiert werden darf. Es sollte eine Orientierung an der jeweiligen Lebensführung der RezipientInnen vorgenommen werden, die mit den präsentierten Mustern der Formate des Lifestyle-TV auf den skizzierten Ebenen der Anschlussfähigkeit in Beziehung zu setzen wäre. Theoretische Durchdringung und empirische Sensibilität müssen Hand in Hand gehen, um der ‚Logik der Praxis‘ im Sinne Bourdieus gerecht zu werden; nur so kann das Historische und Gewordene gegenwärtiger handlungsleitender Praxen ebenso Berücksichtigung finden wie das kreative, innovative Moment sozialen Handelns (vgl. Krais 2004: 191). Foucault hat eindruckvoll gezeigt, wie sich Subjekte in historisch variablen Wechselverhältnissen von Wissen, Macht und Praktiken (vgl. Saar 2007: 327) bilden. Aus einer solchen Perspektive könnten weiterführende Analysen der Aneignung von Lifestyle-TV-Formaten einen Beitrag dazu zu leisten, „Wege zu skizzieren, auf denen Menschen in unserer Kultur Wissen über sich selbst erwerben“ (Foucault 2007c: 288) – im Alltag, unter den Bedingungen gegenwärtiger Medienkulturen.
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Aushandlungsprozesse im Alltag: Jugendliche Fans von Castingshows Elisabeth Klaus & Barbara O’Connor
1. Alltag und Identität in der Mediennutzung Castingshows sind populäre Sendungen und feiern seit ihrem Erscheinen auf der televisionären Bildfläche um die Jahrtausendwende – jedenfalls gemessen an den Einschaltquoten in der gefragten jugendlichen Zielgruppe – große Erfolge. Im Unterschied zu manchen anderen Formaten des Reality-TV scheinen die Abnutzungseffekte zugleich geringer zu sein, so erlebte etwa in den USA American Idol im Sommer 2008 bereits die siebte Staffel und So, you think you can dance die vierte (vgl. auch Huff 2006: 121–128). Deutschland sucht den Superstar startete im Januar 2009 in der sechsten Staffel und Germany’s next Topmodel im Februar 2009 in der vierten. Ziel dieses Artikels ist es, Rezeptionsweisen in Hinblick auf die vielfältigen Alltagsbezüge der Shows für ihre jugendlichen Fans genauer herauszuarbeiten, die wir für eine ihrer wesentlichen Erfolgsbedingungen halten. Das Verhältnis von Medien und Alltag ist eines der zentralen Themen der Cultural Studies. Das aufgrund seiner Selbstverständlichkeit und Gewöhnlichkeit so schwer fassbare Alltägliche wird in der Perspektive der Cultural Studies zu einer wichtigen Arena für die Aushandlung von Bedeutungen und die Aneignung von Ideologien. Neben Routine und Gewöhnlichkeit, die den Alltag als statisch erscheinen lassen, zeichnet er sich gleichermaßen durch eine Dynamik aus, die die Gewohnheit kontinuierlich untergräbt und Veränderungen ermöglicht. Medien sind vielfältig in solche Prozesse involviert. Sie strukturieren den Alltag, und Alltagsroutinen und -rituale entwickeln sich entlang der Mediennutzung. Zugleich stellen sie Material zur alltäglichen Ausgestaltung und Verhandlung unserer sozialen und individuellen Identitäten bereit. Die Verbindung zwischen Alltag und Identität hat Edensor herausgearbeitet. „[T]he dynamic process of identity formation, or identification, occurs in mundane life as well as in more spectacular collective gatherings, in the enaction of practical knowledge as much as in the overt assertion or celebration of communal values and characteristics, which are equally part of a larger social dimension of experience, thought and action.“ (Edensor 2002: 24) Mediennutzung und -aneignung im Alltag sind deshalb immer mit Identitätsbildungsprozessen verknüpft. Egal, ob es sich dabei um die Selektion eines Programms, um die eigentliche Sehsituation oder das Gespräch und die weitergehende
Aushandlungsprozesse im Alltag: Jugendliche Fans von Castingshows
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Reflexion über das Gesehene handelt, in all diesen Aktivitäten wird auch ausgehandelt, „wer wir sind“, „wo wir herkommen“, aber vor allem, wie Hall (1996: 4) betont hat, „wer wir werden könn(t)en“. Das gilt für alle Menschen, aber umso mehr für Jugendliche, die solche Fragen zentral und explizit beschäftigen. Die Bedeutung von Genres und Formaten wie den Castingshows liegt deshalb wesentlich darin begründet, dass diese Möglichkeiten bereitstellen, Identitäten im Sinne Halls zu verhandeln. Diese Überlegungen bilden den Ausgangspunkt für die folgende Darstellung und Interpretation unseres empirischen Materials zur Aneignung der Shows. Dabei unterscheiden wir zwischen drei Ebenen, auf denen Identität im Alltag mittels der Castingshows verhandelt wird: Erstens diskutieren wir die sozialen Kontexte des Fernsehens von Castingshows; zweitens thematisieren wir die normativen Diskurse, die das Genre anregt; und schließlich fokussieren wir drittens die dadurch ermöglichten Verortungen der Subjekte in zentralen gesellschaftlichen und kulturellen Räumen von Nation, Klasse, Geschlecht oder Ethnie. Die sozialen Kontexte des Fernsehens von Castingshows lenken das Augenmerk auf die sozialen Netzwerke von RezipientInnen und umfassen die Situation des Zuschauens, das allein, mit Freunden oder Familienmitgliedern geschehen kann. Weitergehend zählen wir zu diesen Kontexten auch die Gespräche, die in der Sehsituation selber oder später in anderen sozialen Netzwerken über das Gesehene geführt werden. Die Castingshow ist in dieser Perspektive in erster Linie ein Mittel zur Gestaltung und Aushandlung der sozialen Beziehungen von ZuschauerInnen. Normative Diskurse zeigen sich in der Art und Weise wie ZuschauerInnen über Aspekte des Genres und spezifische Formate und Texte sprechen. In den Diskussionen über die KandidatInnen, die Jury oder das Bühnenbild werden unter anderem die Spielregeln des sozialen und kulturellen Miteinanders verhandelt, die von den einzelnen Gesellschaftsmitgliedern immer wieder neu angeeignet werden müssen. Dabei geht es etwa um Fragen danach, was als gerecht und was als ungerecht gilt, welches Verhalten akzeptiert wird und welches als unakzeptabel erscheint, was als legitime Beurteilung von KandidatInnen und als verdienter Sieg gilt und was nicht. Schließlich werden unter der Überschrift Verortungen grundlegende soziale Kategorien diskutiert, die zentrale Aspekte von Identität benennen. Die für die einzelnen Gesellschaftsmitglieder bereit gestellten Identitätsräume von Nation, Geschlecht, Klasse, Ethnie (vgl. Hipfl u.a. 2004, insbesondere Hipfl 2004) werden mit Hilfe der Shows bestätigt, hinterfragt oder verändert. Diese Prozesse finden auf allen drei von uns unterschiedenen Ebenen statt. Nehmen wir etwa die Kategorie Gender als Beispiel, dann werden Genderidentitäten auch in den situativen Bezügen und in den an die Shows geknüpften Gesprächen hergestellt. Zugleich handelt es sich um einen normativen Diskurs, der angibt, was für bestimmte Gesellschaftsmitglieder als angemessenes ‚weibliches‘ oder ‚männliches‘ Verhalten gilt und welche Geschlechterpositionierungen entsprechend als gerecht
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oder ungerecht erscheinen. Dasselbe gilt für andere ‚spaces of identity‘, die das soziale und kulturelle Leben präfigurieren, aber nur in dem Maße bestimmen, in dem die einzelnen Gesellschaftsmitglieder sich in diesen Räumen verorten, diese ausgestalten und deren Grenzen verändern. Entsprechend ist unsere Unterscheidung der drei Ebenen strikt heuristisch zu verstehen, lediglich ein Mittel zur analytischen Darstellung unseres empirischen Materials unter dem Gesichtspunkt der Alltagsrelevanz der Castingshows. Unsere Daten basieren auf einem Pilotprojekt und stammen aus verschiedenen Quellen. Das weitgehende Fehlen von Publikumsstudien über Castingshows hat uns zunächst dazu motiviert, Fokusgruppeninterviews mit Jugendlichen in Österreich und Irland durchzuführen, drei in Irland mit insgesamt 26 Jugendlichen im Alter von 13–15 Jahren (im Folgenden abgekürzt als FG-IR) und zwei in Österreich mit insgesamt elf Jugendlichen im Alter von 11–14 Jahren (FG-Ö). Anzumerken ist dabei, dass die irischen Jugendlichen vor allem aus der Arbeiterklasse, die österreichischen überwiegend aus der unteren Mittelschicht stammten. Als Ausgangspunkt haben wir mit Starmania (ORF) in Österreich und You´re a Star (RTE) in Irland zwei Sendungen gewählt, die von den führenden nationalen öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der beiden Länder produziert werden. Die Gruppendiskussionen waren aber nicht auf diese beiden Shows beschränkt. Die Jugendlichen verglichen die Sendungen mit anderen, die sie gesehen hatten und debattierten teilweise sogar lebhafter über diese. Neben den Fokusgruppeninterviews sind fünf weitere, kleinere empirische Studien in die Auswertung eingeflossen, die im Verlauf der 2006/2007 gesendeten dritten Staffel unterschiedliche Aspekte der Starmania-Rezeption junger Salzburger ZuschauerInnen untersucht haben (alle in Klaus/Grünangerl 2007). Dabei handelt es sich um eine strukturierte Befragung über die Vorlieben und Abneigungen von SchülerInnen in Bezug auf die einzelnen Showelemente (im Folgenden abgekürzt als ST1). Das Involvement mit der Sendung wurde in einer weiteren strukturierten (ST2) sowie in einer qualitativen Befragung (ST3) untersucht. Nachgefragt wurden auch die mit der Sendung verbundenen Erlebnisfaktoren (ST4). Schließlich erfasste eine teilnehmende Beobachtung die während der Show in einer Familie bzw. zwischen einem Paar geführten Gespräche (ST5). Die Ergebnisse dieser Studien wurden herangezogen, sofern sie den Zusammenhang von Castingshow und Alltag weitergehend erhellen. Auch wenn die einzelnen Erhebungen weder vergleichbar noch generalisierbar sind, so liefern sie doch für eine explorative Untersuchung sich gegenseitig verstärkende Indizien über die Alltagsdimensionen der Genrerezeption. Bevor wir die Ergebnisse entlang der drei analytisch getrennten Ebenen präsentieren, verorten wir zunächst die Castingshow im Kontext des Reality-TV und gehen auf die im Vergleich zu den Rezeptionsstudien umfangreicheren textkritischen Arbeiten dazu ein.
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2. Die Castingshow: Überlegungen zum Genre Ein Casting, so definiert es der Brockhaus (2006), „ist ein Auswahlverfahren bei der Rollenbesetzung von Theaterstücken, Modenschauen sowie Fernseh-, Filmund Musikproduktionen“. Castingshows sind Talentwettbewerbe, bei denen das Können junger Menschen von einer Jury bewertet und dann die GewinnerInnen meist per Publikumsabstimmung bestimmt werden. Im Mittelpunkt standen zunächst vor allem gesangliche oder tänzerische Fähigkeiten, in den letzten Jahren sind berufliche Wettbewerbe etwa um einen Model- oder Ausbildungsvertrag hinzugekommen. Talentwettbewerbe, beispielsweise den Talentschuppen (ARD, 1966–1981), gab es auch schon in der Frühzeit des Fernsehens. Im Unterschied zu den Castingshows wurden damals jedoch Talente bloß entdeckt, während sie bei den heutigen Castingshows entwickelt und zum Vorschein gebracht werden. Turner (2004; 2006) hat sich mit diesem Wandel in der Bedeutung von Stars und Prominenz und den Modalitäten ihrer Produktion auseinandergesetzt (vgl. auch Redmond/Holmes 2007; Gamson 1994). Er beobachtet die Zunahme von „DIY celebrities“, „Do it yourself“-Berühmtheiten, und fragt danach, wer diese neuen Stars produziert. Nicht länger werde Prominenz durch Medien lediglich vermittelt, sondern diese stellten sie aktiv her. In Deutschland wurde die Castingshow 2002 durch Deutschland sucht den Superstar (DSDS, RTL) zum Gesprächsthema, auch wenn bereits seit 2000 Popstars (zunächst RTL2, dann Pro7) für viel Aufmerksamkeit gesorgt hatte. Wie zahlreiche andere international erfolgreiche Castingshows basiert DSDS auf dem britischen Pop Idol. Auch Starmania und You’re a Star sind an Pop Idol angelehnt. 2.1 Ein Subgenre des Reality-TV Die Castingshow ist ein Subgenre des Reality-TV. Zunächst wurde das Reality-TV als ein Genre, später als eine Genrefamilie wahrgenommen (vgl. Klaus/Lücke 2003), inzwischen scheint es angemessener, von einer neuen, dauerhaften Angebotsform des Fernsehens zu sprechen. Lange gab es in vielen Sendeanstalten zwei getrennte Produktionsbereiche, die Unterhaltungsabteilung und die Informationsabteilung. Die Genres des Reality-TV haben sich zwischen die beiden traditionellen Angebotsformen geschoben und bieten realistische Fiktionen bzw. fiktionalen Realismus. Sie sind zugleich Unterhaltungs- und Informationsprogramme, betonen mal die Seite des Geschichtenerzählens, mal die der Dokumentation des Weltgeschehens. Beim Reality-TV sind die wichtigsten ProtagonistInnen Alltagsmenschen. Zwar gibt es mit der Jury und den ModeratorInnen auch professionelles Personal, die ‚kleinen Leute‘ jedoch stehen im Mittelpunkt der meisten Formate. Seltener präsentiert das Reality-TV Prominente, die dann in Alltagssituationen gezeigt werden oder sich unter extremen Bedingungen be-
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währen müssen. Castingshows und Real Life Soaps werden durch die Einbindung der ZuschauerInnen, durch Votings und Marketing anders finanziert als herkömmliche Produktionen. In beiden Genres können Menschen einerseits von der Seite des Publikums zu der von FernsehakteurInnen wechseln, durch die Möglichkeit des Voting können ZuschauerInnen andererseits den Verlauf der Shows mitbestimmen – sie werden, wenn auch nur mit geringem Einfluss, zu Mitproduzierenden (vgl. Klaus 2006, 2008). Die Castingshow ist wie andere Genres des Reality-TV ein Hybridgenre und teilt mit ihnen die programmatische Vermischung von Unterhaltung und Information, von Fiktion und Dokumentation, schließlich von Inszenierung und Authentizität. Sie unterscheidet sich von manchen anderen Subgenres des Reality-TV durch den Wettkampf, den die KandidatInnen gegeneinander führen, und sie ist einzigartig in der Beobachtung der Verwandlung von Alltagsmenschen in Stars. Werden die KandidatInnen zunächst als ‚Menschen wie Du und Ich‘ präsentiert, so scheinen sie im Verlauf der Serie durch intensives Training und Disziplin über ihr altes Ich hinaus zu wachsen und zu einem neuen Selbst zu finden, das ihr Potential vermeintlich besser zur Geltung bringt. In manchen Shows, vor allem den auf Popidol basierenden Produktionen, können ZuschauerInnen mittels Voting entscheiden, wie erfolgreich diese Transformationen verkörpert werden. Leidenfrost und Schadler (2005), die die verschiedenen Elemente der zweiten Staffel von Starmania untersucht haben, kommen zu dem Schluss, dass diese scheinbare Verwandlung von ganz gewöhnlichen Menschen in ‚Stars‘ ein wesentlicher Erfolgsfaktor der Inszenierung ist.1 Talent ist in den Castingshows gleichzeitig eine essenzielle Eigenschaft, die man von Natur aus hat, und eine Fähigkeit, die durch harte Arbeit erworben wird. Dieser Widerspruch wird in den Sendungen selber jedoch nicht thematisiert. Die Shows präsentieren einerseits den Verlauf der Castings und inszenieren die Arbeit der KandidatInnen an ihren Ausdrucksfähigkeiten und ihre Lernerfolge. Andererseits rücken sie dabei gleichzeitig deren Selbstinszenierungen als ‚authentische Subjekte‘ in den Mittelpunkt. 2.2 Unter Neoliberalismusverdacht Die Mehrzahl der dazu vorliegenden Textanalysen teilt einen kritischen Blick auf die Castingshow. Prototypisch dafür stehen etwa Jähners (2005: 634, Hervorheb. i.O.) Ausführungen: „Man muss (…) in der Suche nach dem Star zugleich die gewöhnliche Stellenausschreibung, in der Show ein exemplarisch veröffentlichtes Bewerbungs- und Prüfungsverfahren – und ebenso die ersehnte erste Anstellung, das mögliche Sprungbrett folgender Karriereschritte im Fernsehen sehen.“ Der Soziologe zeigt anschaulich die Parallelen zwischen den 1
Die „Vielschichtigkeit der authentisch inszenierten Dramaturgie in Popstars“ hat Nolte (2003: 63) herausgearbeitet.
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Regeln der Castingshow und den Normen und Werten der neoliberalen Arbeitsgesellschaft auf (vgl. auch Zorn 2007; Seeßlen 2008). Ähnlich argumentiert Thomas, wenn sie die Castingshow als „Werkstatt des neoliberalen Subjekts“ (2004) bzw. des „Unternehmerischen Selbst“ (2006) analysiert, die den Leistungsgedanken perpetuiere und die Selbstvermarktung der KandidatInnen mit Zumutungen und Disziplinierungen verbinde: „Jede/r ist Experte in eigener Sache, verantwortlich dafür, sein eigenes Humankapital (…) mit maximalem Gewinn und auf eigenes Risiko zu verwalten und zu vermarkten.“ (Thomas 2004: 195) In den Castingshows erscheinen Sieg oder Niederlage im sozialen Wettbewerb2, der vor allem durch materielle Voraussetzungen, gesellschaftliche Bedingungen und kulturelle Ressourcen entschieden wird, als Folge individuellen, mehr oder weniger strebsamen Handelns freier Subjekte. Zu einer neoliberalen Arbeit am Selbst gehört auch die Normierung der Außendarstellung und Selbstpräsentation. Die verwandten Makeover Shows haben Banet-Weiser und Portwood-Stacer (2006) entsprechend unter dem Gesichtspunkt einer forcierten Normalisierung femininer Geschlechterperformativitäten analysiert. Jähner weist jedoch einschränkend darauf hin, dass die Zurichtung des neoliberalen Subjekts in den Castingshows längst nicht immer erfolgreich verläuft, etwa die Ideologie des „Jeder gegen Jeden“ nicht durchgängig übernommen wird. Er sieht vielmehr in der cooptition – eine Wortschöpfung aus „cooperation“ und „competition“ – ein zentrales Moment der Formate und interpretiert dieses, sowohl auf Seiten der KandidatInnen als auch des Publikums zu beobachtende Phänomen als kollektive Abwehrhaltung gegenüber gemeinsamen Gefahren wie Arbeitslosigkeit oder Verarmung (vgl. Jähner 2005: 634). Turner (2006) setzt sich kritisch mit den Castingshows als ein Beispiel für „Democratainment“, als ein plebiszitäres Unterhaltungsangebot, auseinander und zieht vor, von einem „demotic turn“ zu sprechen, einer volkstümlichen Wende in der Populärkultur, nicht notwendig einer demokratischen. Andrejevic (2003; 2005) hat Reality-TV und insbesondere Real Life Soaps wie Big Brother als „work of being watched“ und „work of watching one another“ analysiert. Der Kern seiner Analyse trifft auch auf die Castingshow zu. Das Versprechen der Interaktivität ist an zunehmende Überwachungstechniken und -praxen gekoppelt, die datenschutzrechtlich ausgesprochen problematisch sind, von vielen ZuschauerInnen aber offensichtlich unhinterfragt akzeptiert werden. Auf der anderen, der Produktionsseite werden die KandidatInnen zu ‚gläsernen Menschen‘, weil die Offenlegung ihres Privatlebens und ihres sozialen Umfeldes ein wichtiges Element der Sendungen ist. Wenn wir Andrejevic’ Überlegungen auf die Castingshow anwenden, dann könnte die Präsentation der KandidatInnen und die Mitbestimmung des Publikums auch im Rahmen der Entwicklung hin 2
Reijnders u.a. (2007) zeigen, dass Idols keinen Gesangswettbewerb, sondern einen sozialen Wettbewerb inszeniert.
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zu einem Staat interpretiert werden, der in der Folge des 11. September 2001 die Überwachung und Kontrolle seiner BürgerInnen verstärkt hat. Dem gegenüber stehen allerdings neue Freiheiten und Spielräume der ZuschauerInnen, sich ihre Aneignungsweisen und die Art ihrer Partizipation aus einer bislang nicht gekannten Zahl an Beteiligungsformen auszusuchen und sich anderen Möglichkeiten zu verweigern. 2.3 Auf der Suche nach dem Publikum Turner (2006: 158) sieht „the spectacle of the audition“ als eine Maskerade an, weil es suggeriere, dass jede/r zum Star werden könne. Eine mögliche Folge dieser Intervention in die kulturelle Identität der Menschen sei es, dass Ruhm zu erlangen und zum Star zu werden, zu einer Karriereoption für junge Menschen werde (vgl. ebd.: 162). Spätestens an dieser Stelle fällt auf, dass Textanalysen und Fernsehkritik der Ergänzung durch Publikumsstudien bedürfen, die in Bezug auf Castingshows kaum vorliegen. So warnt Biltereyst vor einer voreiligen Abwertung des Reality-TV, denn „we need more research on the kind of social and moral issues that reality programmes treat, how these themes are related to different national and cultural contexts and how audiences and public discourses react.“ (Biltereyst 2004: 21) Dort, wo Studien sich den wirklichen ZuschauerInnen zugewendet haben, zeichnen die WissenschaftlerInnen ein viel positiveres Bild davon, wie das Publikum sich mit Sendungen des Reality-TV auseinandersetzt. So zeigt Hill (2005), wie stark die verschiedenen Publika das ihnen zur Verfügung gestellte Material nutzen, um über ethische und moralische Werte zu diskutieren. O´Connor (2007) hat ausgeführt, wie irische Jugendliche Big Brother und andere Formate zugleich engagiert verfolgen und sich damit kritisch auseinander setzen (vgl. auch Roscoe 2001). Quin (2004: 95) verknüpft die Ergebnisse ihrer Soap Opera Studie mit einer australischen Studie zu Big Brother (vgl. Lumby 2007) und kommt zu dem Schluss, dass beide Genres für Jugendliche ein „relationship laboratory“ bereit stellen. Die Publikumsforschung trifft sich hier mit den Ergebnissen der von Reijnders, Rooijakkers und van Zoonen (2007: 2–3) durchgeführten Strukturanalyse des niederländischen Idols. Danach können neue, erfolgreiche Formate gesehen werden als „a platform for the articulation, representation and discussion of contemporary values“. Idols fungiert Reijnders, Rooijakkers und van Zoonen (ebd.: 20–21) zufolge als eine Arena, „in which values are discovered, expressed, represented, discussed or forgotten.“ Obwohl Gemeinschaft und Konkurrenz die beiden zentralen Elemente seien, die den ZuschauerInnen angeboten werden, bestimmten diese letztlich selbst, ob und wie die durch den Text bereit gestellten Positionen aufgegriffen würden. Die Transformationsperiode der KandidatInnen, in der diese mit anderen konkurrieren, finde in den Finalrunden eine solidarische und harmonische Auflösung, deren Bezugsrahmen die nationale Gemein-
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schaft sei. Neben der Strukturanalyse wählten die AutorInnen einen ethnographischen Zugang und zeigen wie Idols im Rahmen einer eigenen Partykultur durch verschiedene Gruppen angeeignet wird und in diesem Kontext zur Stärkung der jeweiligen Gruppenidentität beiträgt (vgl. Reijnders u.a. 2006: 20–21). Aslama und Pantti (2007), die das finnische Extreme Escapades textanalytisch untersucht haben, haben die Frage, welche nationalen Identitäten hier entworfen werden, viel kritischer beantwortet als Reijnders, Rooijakkers und van Zoonen (2007). Sie sehen in der Sendung einen „banalen Nationalismus“ (Billig 1995) am Werk, der Globalisierungsprozesse reflektiere. Nationale Werte würden dabei in einer Weise verhandelt, die ganze Bevölkerungsgruppen als nicht zur Nation gehörig identifiziere und so von der gesellschaftlichen Partizipation ausschlösse. Auch solche voneinander abweichenden Bewertungen, wie sie im Vergleich der finnischen und der niederländischen Studie sichtbar werden, können nur durch die Rezeptionsforschung geklärt werden. Während in der Publikumsforschung Big Brother als Paradebeispiel des Reality-TV relativ viel Aufmerksamkeit erhalten hat, steckt die Arbeit am Subgenre der Castingshow erst in den Kinderschuhen. Schwarz (2006) hat im Rahmen ihrer Magisterarbeit nach der gemeinschaftlichen familiären Aneignung von Starmania gefragt. Sie findet eine gemeinsame kommunikative Bearbeitung jedoch nur in den Mutter-Tochter-Dyaden in bildungsstarken Familien, wobei die Gesamtzahl von fünf untersuchten Familien die Verallgemeinerbarkeit dieser Aussage deutlich einschränkt. Zudem haben Skeggs, Thumim und Wood (2008) darauf aufmerksam gemacht, dass Klassenzugehörigkeit sich mindestens so stark in der Form des Gesagten wie in den Inhalten der Antworten ausdrückt und dies zentral für die Interpretation der Daten ist. In Bezug auf ihre eigene Studie führen sie aus: „[T]he focus group method creates types of classed discourses which must be explained before one can interpret the data.“ (Skeggs u.a. 2008: 18, Hervorheb. i.O.) Die Publikumsforschung unterstreicht die Vielfalt des Rezeptionserlebnisses und der Aneignungsweisen und betont, dass die Sendungen des Reality-TV Material für Identitätsbildungs- und Vergemeinschaftungsprozesse bereitstellen. Wir greifen im Folgenden sowohl die Fragen der textkritischen Analysen wie auch der Rezeptionsstudien auf und fragen danach, welche Themen ZuschauerInnen anhand der Castingshows artikulieren und welche Werte und Normen darin zum Ausdruck kommen.
3. Castingshows im Alltag ihrer RezipientInnen In den von uns durchgeführten Studien finden sich vielfältige Hinweise darauf, dass die Castingshows ihre Bedeutung für die Fans aufgrund ihrer zahlreichen und komplexen Alltagsbezüge erhalten. Das macht ihre hohe Erlebnisqualität
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aus. Die Vielzahl von Gratifikationen, die die Fans nennen, zeichnet Starmania gegenüber anderen Formaten aus. Auf der Basis einer Befragung von 200 SchülerInnen zeigt sich, dass unter den von Dehm und Storll (2003) sowie Dehm, Storll und Beeske (2004; 2005) identifizierten Erlebnisfaktoren Emotionalität bei den Starmania Fans ganz oben steht, gefolgt von Orientierung und Zeitvertreib (vgl. ST4). Die Faktoren Ausgleich und Soziales Erleben bilden die Schlusslichter. Das emotionale Erleben wird besonders geprägt durch sehr hohe Zustimmungswerte (von jeweils 80–90 Prozent) der Fans zu folgenden Items: „ich kann dabei lachen“, „ich finde es spannend“ und „es macht mir Spaß“. Gewohnheit wie auch das schlichte Verbringen von Zeit sind gleichermaßen bedeutend für den Zeitvertreib, den die Sendung bietet. In Bezug auf die Orientierungsleistung sticht die Funktion der Show als Stichwortgeber für Gespräche hervor. Bereits hier deuten sich die Alltagsbezüge der Castingshow-Rezeption an, die sich in den qualitativen Untersuchungen in ihrer ganzen Vielfalt zeigen. 3.1 Soziale Kontexte des Fernsehens Die sozialen Kontexte des Fernsehens umfassen die Rezeption als sozial situiertes und als kommunikatives Ereignis. Die Befragten in den Gruppendiskussionen schauen sich die Castingshows am häufigsten mit Verwandten, manchmal allein und seltener auch mit FreundInnen an. Während und nach der Show tauschen sie sich häufig mit Familienmitgliedern oder mit Gleichaltrigen über das Gesehene aus. Castingshows sind kommunikative Ereignisse, die zur Gestaltung der alltäglichen Beziehungen und der Bildung sozialer Netzwerke genutzt werden (vgl. Röser 2007). Fiske (1987) war einer der ersten, der auf diese mittlerweile gut belegte Bedeutung des „show-related talk“ hingewiesen hat. Familiäre Beziehungsstifter Die Familiengespräche über die Castingshow drehen sich oft um persönliche Vorlieben und Abneigungen. Dabei fällt die große Übereinstimmung zwischen den verschiedenen Familienmitgliedern auf, die sich quer zu den Generationen zeigt: „I would say he’s brutal and me ma would say, ‘yea, I know’“. (FG-IR) Während der Beobachtung einer Sehsituation in Österreich (vgl. ST5) findet zwischen Mutter und Tochter folgender Austausch statt: Tochter: also des Anfangslied gfällt mir net so besonders Mutter: gefallt dir net? Tochter: na, des gfällt mir net so besonders Mutter: i find, des ist ja nur gekünstelt Tochter: vor allem, mir gfällt es deshalb nicht, weil ma nie weiß, wer was singt wegen dem Chorgesinge Mutter: und außerdem is es ersichtlich, dass sie sich alle net bewegen können
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Mutter und Tochter bestätigen sich hier gegenseitig in ihrem Urteil. Die Castingshows beinhalten zahlreiche Elemente, die zum Reden einladen: die Ausstattung, die Darbietung der einzelnen KandidatInnen, ihr persönlicher Hintergrund, die Entscheidungen der Jury oder des Publikums, schließlich das Mitvoten – all das kann zum Gesprächsanlass werden. Überraschend häufig tauchen dabei die Generationen übergreifenden Gemeinsamkeiten in der Bewertung auf (vgl. Barthelmes/Sander 1997). Die Zurschaustellung familiärer Harmonie findet seine Entsprechung auf der Textebene vieler Formate, wo ein harmonisches Familienleben inszeniert wird. Die Rezeptionsforschung zu den populären Medienangeboten zeigt, dass die Fernsehgespräche sich häufig zwischen dem medialen Text und dem Alltagerleben hin und her bewegen. Der Auftritt eines Kandidaten löst bei einem Paar – hier handelt es sich um junge Erwachsene (ST5) – Alltagsassoziationen aus: Mann: irgendwie schaut des aus wie in ana Karaokebar Frau: ja eben, des hab i mir a grad dacht Frau: des erinnert mi an des wie ma Weihnachten Karaoke gesungen haben Mann: ja genau Frau: des war aber schon lustig zu Weihnachten, war zwar ein bisserl steif aber sonst Frau: aber des hätten wir a so hinbracht mit dem Karaokegerät Mann: langsam, langsam Frau: der schaut wirklich lieb aus, aber du bist hübscher [gibt dem Mann ein Küsschen]
Im Verlauf dieser Gesprächssequenz wechselt das Paar mehrfach zwischen der Ebene des Fernsehgeschehens und des Alltagserlebens hin und her: Der Kommentar zum Auftritt löst Erinnerungen an das vergangene Weihnachtsfest aus und führt schließlich auch zum expressiven Bekenntnis zur eigenen Beziehung. Auch in der Familienbeobachtung (ST5) finden sich dafür Beispiele. Der Fernsehtext wird zu Erlebnissen in der Vergangenheit in Beziehung gesetzt und stößt Reflexionen über die sozialen Beziehungen an. Anschlusskommunikationen dienen zugleich der Aushandlung von Familienrollen. Das Fernsehen kann dabei partiell eine familiäre Rollenumkehrung bewirken, wenn sich Kinder in Bezug auf einzelne Formate kompetenter als ihre Eltern erweisen (vgl. Paus-Haase/Wagner 2002 in Bezug auf Pokémon). Während der Familienbeobachtung, bei der neben dem Mädchen und seiner Mutter auch eine Freundin der Mutter anwesend ist (ST5), finden die Formatkenntnisse der Tochter Anerkennung: „Angelika, dei Tochter is die volle Expertin!“ In den österreichischen Fokusgruppeninterviews werden aber auch Spannungen zwischen den Generationen und von den Eltern abweichende Meinungen thematisiert. Ein Mädchen bezeichnet ihre Mutter als „Informationsjunkie“ und hebt hervor: „Ich streite mich mit der Mama, was wir jetzt schauen (…) und ich gewinne.“ Ein Mitglied dieser Fokusgruppe bestätigt: „Meine Mutter mag gerne normale Filme schauen und ich streite auch gerne mit meiner Mutter wegen
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Filmen und so (…) Sie interessiert das [Castingshows] überhaupt nicht und ich gehe dann in mein Zimmer und schau es da.“ Eine 11-jährige Salzburger Schülerin lässt sich während der Rezeption unter keinen Umständen stören: „Wenn mich wer unterbricht, dann sag ich ‚sei leise‘. Dann mach ich meine Türe zu.“ (ST3) Eine hohe Handyrechnung hat dazu geführt, dass die Eltern das Voten verboten haben. „Ich ruf’ dann heimlich unter der Decke an, ich hab’ die Nummer schon eingespeichert.“ Hier zeigen sich Abgrenzung und ein bewusster, wenn auch nicht offener, Widerstand gegen die elterliche Autorität. Peer-Group-Kommunikation Über die unmittelbare Sehsituation hinaus regen die Sendungen zu Nachfolgekommunikationen an und sind ein Thema in der Gleichaltrigengruppe. Sowohl die österreichischen als auch die irischen Jugendlichen berichten darüber, dass Castingshows insbesondere im schulischen Alltag Gesprächsstoff liefern und ihre Bedeutung wesentlich aus dem Mitreden-Können resultiert. Die Shows werden dabei für die Peer-Group-Kommunikation und zur Aushandlung von Identitätspositionen und Beziehungen genutzt. So berichten verschiedene Mädchen in den österreichischen Fokusgruppen, dass sich die Jungen über das Sehvergnügen der Mädchen an den Castingshows lustig machen und versuchen, diese zu ärgern, indem sie Teile der Sendung parodieren, etwa in Bezug auf Germany’s next Topmodel: „Die Jungs sind dann immer so wie Models spaziert.“ Oder in Bezug auf Starmania: „Bei uns ist mal ein Junge hinter mir gesessen und immer wenn irgendjemand gewonnen hat, mit dem Lied mit dem er gewonnen hat, das singt der dann die ganze Stunde. Das ist voll nervig!“ (FG-Ö) Die Kommunikation über eine Sendung scheint immer dann besonders lebhaft und involviert zu sein, wenn Elemente der Sendung sich mit Alltagserfahrungen treffen. In der dritten Staffel von Starmania wurde bei den „Leider nein“Videos – dabei werden besonders peinliche Bewerbungen gezeigt – mehrfach der Auftritt eines Kandidaten aus der Gothic-Szene eingeblendet, der lediglich unverständliche Laute ausstieß. Dabei handelte es sich um einen Salzburger Schüler, den mehrere TeilnehmerInnen an einer der Fokusgruppen kannten: „Da geht einer in meine Schule, der Clemens, der hat sich nur hingestellt und geschrieen. ‚Wäääh‘ (…) Das war so ein Riese, schwarz angezogen und schwarze Augen! (…) Der hat gesagt, er hat Geld gekriegt, weil es eine Wette war, oder so irgendwas.“ Die vorher teilweise abgelenkten Gruppenmitglieder sind bei dieser Erzählung ganz bei der Sache. Sie finden den Auftritt des Jugendlichen, der die Prinzipien des Castings missachtet, witzig und mutig. „In der Schule immer, wenn er an uns vorbei geht, sagen alle immer ‚Leider Nein‘! und dann er immer: ‚Rumm‘!“ Dass der Kandidat im eigenen Umfeld lebt, scheint dabei ebenso eine Quelle des Vergnügens zu sein wie dessen ironisches Spiel mit den Regeln.
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Die Bedeutung der Castingshow ergibt sich nicht allein aus dem textuellen Angebot, sondern steht mit familiären Werten und den Normen der Gleichaltrigengruppe in Verbindung. Die Rezeption zeigt sich als ein vielschichtiger Prozess, in dem je nach Bezugssystem durchaus widersprüchliche Positionen gleichzeitig eingenommen werden können. Die soziale Eingebundenheit der Zuschauenden und ihre Alltagsorientierung beeinflusst grundlegend deren Annäherung an den Text. 3.2 Normative Diskurse Die Auseinandersetzung mit den Castingshows umschließt zentrale normative Diskurse. Indem einzelne Elemente favorisiert und Vorlieben oder Abneigungen geäußert werden, werden zugleich Spielregeln des Sozialen verhandelt. Eine der Starmania-Studien beschäftigte sich mit der Frage, welche Showelemente des Formats Jugendliche positiv und welche sie negativ bewerten (ST1). Dazu wurden zwanzig Showelemente identifiziert und eine strukturierte Befragung unter 253 zehn- bis 14-Jährigen aus fünf verschiedenen Schulen durchgeführt, die die Sendung zumindest „ab und an“ mitverfolgten. Fast alle Elemente erhielten dabei positive Noten. In Bezug auf ihre Vorlieben zeigen sich signifikante Unterschiede zwischen Schülern und Schülerinnen: Das Design, die gesangliche Präsentation und die Hintergrundinformationen zu den KandidatInnen benoten die Mädchen signifikant besser, den Juror und den Kommentator deutlich schlechter als die Jungen. Zwischen den verschiedenen Schultypen zeigen sich zwei hochsignifikante Unterschiede: Das Voting und die „Leider nein“-Videos werden von den GymnasiastInnen deutlich besser bewertet als von den HauptschülerInnen, die auch in Bezug auf fast alle anderen Elemente schlechtere Noten verteilen. Das läuft der in der Fernsehkritik häufiger zu findenden – und stark ideologisch geprägten – Annahme entgegen, Sendungen des Reality-TV würden im Sinne eines „Prolo“- oder „Unterschicht“-Programms (vgl. Klaus/Röser 2008) von HauptschülerInnen kritikloser rezipiert als von GymnasiastInnen – auf Starmania trifft das jedenfalls nicht zu. Die Gründe dafür konnten wir mit unserer Studie nicht weitergehend erschließen. Faire Behandlung und verdienter Sieg Fairness gehört zu den Spielregeln des Sozialen, die in den Gruppendiskussionen ausführlich thematisiert werden. Fairness beinhaltet das grundlegende Versprechen der Castingshow, die Teilnehmenden gerecht zu behandeln sowie den Talentiertesten zum Ruhm zu verhelfen. Dieses Doppelgesicht der Fairness kommt in einer der österreichischen Diskussionsrunden zum Vorschein. Auf die Frage der Interviewerin: „Und findet ihr die Juroren wichtig, oder könnte man die weg lassen?“, antwortet ein Mädchen: „Ich finde die wichtig, weil bei manchen Sen-
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dungen rufen die [ZuschauerInnen] nur an, und die rufen nicht an, weil sie [die KandidatInnnen] was können, nur weil sie sie cool finden (…) und dann bleiben Leute drin, die überhaupt nichts können.“ (FG-Ö) Fairness, sowohl auf der Seite der Jury wie auf der Seite des (wählenden) Publikums wird engagiert diskutiert. Was in der strukturierten Befragung als Ablehnung konkurrenter Elemente in Starmania erscheint, zeigt sich in den Fokusgruppen deutlicher als eine Forderung nach fairer Behandlung der KandidatInnen durch die Jury. Dieter Bohlen, Juror von Deutschland sucht den Superstar und bekannt für seine provokanten, verletzenden Kommentare, findet nur der teilnehmende Junge „witzig“ (FG-Ö). Dem stehen zahlreiche gegenläufige Äußerungen von Mädchen gegenüber, die Bohlen unfair und „gemein“ finden: „Ich hasse den Dieter Bohlen über alles“, sagt eines, und ein anderes antwortet auf die Frage, was sie bei den Castingshows am Schlechtesten fände: „Dieter Bohlen!“ Als Gegenfigur dazu wird in einer der Gruppen Heidi Klum von Germany’s next Topmodel genannt (die aber in der anderen Gruppe keine Zustimmung findet): „Die ist kinderfreundlich.“ „Die hat selber Kinder.“ „Für die Jugendlichen zum Wiedergutmachen, zum Aufbauen.“ „Die tröstet halt.“ Heidi Klum erscheint hier im Kontrast zu Bohlen als ideale, gerechte Mutter, die verständnisvoll agiert solange die Kandidatinnen sich anstrengen, aber auch streng sein darf, wenn diese nicht hart genug an sich arbeiten. In den irischen Gruppendiskussionen findet sich diese geschlechtergebundene Bevorzugung von eher freundlich, harmonisch agierenden Juroren gegenüber kritischen und manchmal auch gemeinen nicht. Simon Cowell, zu der Zeit Juror von The X Factor (zu verschiedenen Zeiten auch von American Idol, Britain’s Got Talent und Pop Idol), wird viel positiver bewertet als andere Jurymitglieder und wegen seiner Professionalität und seines Sachverstands gelobt. „And I like Simon Cowell as well, he is real out straight. And he’d tell you if you weren’t good and he’d tell you if you were good.“ „He tells the truth.“ „Simon Cowell he has experience.“ (FG-IR) Manche Jurymitglieder haben eine große Bedeutung für die ZuschauerInnen. Vor- und Abneigungen werden dabei offensichtlich von einer Vielzahl von Faktoren bestimmt, die sowohl kulturelle Ursachen haben können als auch von Persönlichkeitsmerkmalen abhängen. Direkt, fair, wahrhaftig, authentisch und freundlich zu agieren, werden als Eigenschaften von beliebten JurorInnen genannt. Insbesondere fließt in die Bewertung der österreichischen und irischen Jugendlichen auch ein, wie diese sich außerhalb der Castingshows präsentieren. Die Castingshows sind Prototypen für das neue Phänomen mediengenerierter Stars. Gewinnen sollen die Besten, die Talentiertesten, aber was genau das heißt, wird ständig verhandelt. Während das in der jeweiligen Show gesuchte Talent für die FokusgruppenteilnehmerInnen sowohl in Irland als auch in Deutschland wichtig ist, ist es in den Augen der Jugendlichen nicht die einzige Voraussetzung, um zu Ruhm zu gelangen. Auf die Frage der Interviewerin,
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„How important is image?“ antwortet ein Teenager: „You have to have the whole package.“ „You don’t have to be stunning to win it or anything, but in all fairness (…) a real horrible ugly popstar [wouldn’t win], you have to have the image really.“ (FG-IR) Eine der österreichischen TeilnehmerInnen, die besonders engagiert für Fairness votiert – „Ich find es zum Beispiel voll blöd, wenn man für einen anruft, der grottenschlecht singt, nur weil er cool ausschaut.“ – und sich darüber empört, dass ein blinder Kandidat Ihrer Meinung nach allein wegen seines Aussehens abgewählt wurde, betont zugleich, dass gesangliche Fähigkeiten allein aber auch nicht ausreichen: „Es geht schon auch ums Ausschauen und so.“ Die sich dahinter offenbarenden Zwänge der Kulturindustrie, für die das Aussehen bedeutend ist, werden damit weitgehend akzeptiert. In beiden Sehsituationen der teilnehmenden Beobachtung (ST5) wird die Stimme einer Kandidatin sehr positiv bewertet. Zugleich sei diese aber nach Meinung der Zuschauenden bereits zu alt, um vom Sender noch erfolgreich vermarktet zu werden. Dies wird nicht als unfair angesehen, sondern als Bedingung der medialen Produktion von Stars akzeptiert. Nur ausnahmsweise ist der Gedanke, selbst berühmt zu werden, für die Befragten attraktiv, die überwältigende Mehrheit hat andere Lebens- und Berufsvorstellungen, denn: „You can’t rely on being famous so you have to think of something else as well.“ (FG-IR) Die Jugendlichen lehnen es ab, zum Objekt der Begierde der Medien und so ihrer Privatsphäre beraubt zu werden. „Aber berühmt nicht, da steh ich nicht so drauf (…) wegen der Paparazzi.“ (FG-Ö) Ganz ähnlich drücken es zwei irische Teenager aus: „You wouldn’t be able to enjoy yourself ‘cos all the photographers comin’ after you an all, annoyed and you wouldn’t be able to have a good night without cameras up in your face or anything.“ „I want to be famous, but I want to be left alone, just live a quiet life.“ (FG-IR) Noch wichtiger als die unangenehmen Nebeneffekte des Ruhms scheint aber zu sein, dass Singen und Tanzen, die Herausbildung verschiedener Talente von den Jugendlichen nicht unter dem Gesichtspunkt beruflicher Qualifikationen, sondern als Freizeitaktivitäten gesehen werden. In den Diskussionen darüber, wie man berühmt werden kann und welche Nachteile das hat, zeigen sich viele Übereinstimmungen zwischen den irischen und österreichischen Jugendlichen. In den geäußerten Lebensvorstellungen der Teenager nimmt das Ziel, ein Star zu werden, im Gegensatz zur Annahme Turners (2006) nur eine marginale Rolle ein. Kooperation und Konkurrenz Das von Jähner (2005) cooptition genannte Phänomen des gleichzeitigen Auftretens von Kooperation und Konkurrenz wurde auch in den Fokusgruppen thematisiert. Als zu konkurrent wahrgenommene KandidatInnen stoßen dabei auf
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Ablehnung. So antwortet das Mitglied einer irischen Fokusgruppe auf die Frage, welche Eigenschaften KandidatInnen besitzen, die ihnen besonders gefallen: „Get along with everyone (…) making CDs an’ all and if you wanted someone to sing with you, if you are real nice they will sing with you but no one will sing with you if you’re [saying] ‘come on, sing with me now’ [infer demanding].“ Freundlich und kooperativ zu sein, das sind die entscheidenden Merkmale beliebter KandidatInnen. Jedoch zeigt die Antwort auch ein instrumentelles Verhältnis zur Kooperationsbereitschaft – sie ist ein notwendiges Mittel, um zu gewinnen. Zugleich ist Konkurrenz aber ein markantes Merkmal der Sendungen. Einer der irischen Jugendlichen hält American Idol für gekünstelter als The X Factor, weil dort konkurrente Elemente unterdrückt würden: „They [contestants in American Idol] were singin’ and rehearsin’ and they all seemed real happy, but that’s not, there’s always goin’ to be competition and fights goin’ on, people tryin’ to get in and do their best or whatever, tryin’ to win, The X Factor shows the ups and downs of it.“ „Zu den Gegnern hart sein“, wird auch in einer der österreichischen Fokusgruppen als eine Erfolgsbedingung von Germany’s next Topmodel genannt. Eine Castingshow ohne Konkurrenz bricht die Spielregeln und vermindert den Spaß an der Sendung. Hier scheint sich anzudeuten, dass Jugendliche die Notwendigkeit der „co-optition“ anerkennen. Auch wenn das sicher kein ganz neues Phänomen ist, so handelt es sich dabei doch um eine Fähigkeit, die heute im Arbeitsleben wie in der Kulturindustrie stärker verlangt und nachgefragt wird. Die Kompetenz, mit anderen MitbewerberInnen zusammen zu arbeiten, gleichzeitig diese aber als Konkurrenz auszuschalten hat unter der Prämisse eines neoliberal organisierten Arbeitsmarktes an Bedeutung gewonnen. Performatives und authentisches Selbst Publikumsstudien etwa zu Big Brother (Hill 2005; O’Connor 2007) haben gezeigt, dass die Suche nach einem authentischen Selbst, das sich in Krisensituationen offenbart, ein wichtiger Teil des Sehvergnügens ist. Dabei versuchen die Zuschauenden herauszufinden, welche Handlungen die KandidatInnen bloß spielen und welche authentisch sind, ihrer ‚wahren Natur‘ entspringen. Die Castingshows stellen jedoch die Frage nach dem Verhältnis von Performanz und Natürlichkeit ganz anders als die sozialen Experimente der Reality Soaps. In Castingshows müssen die KandidatInnen das performative und das authentische Selbst integrieren, um erfolgreich zu sein. Hier wird die gelungene Aufführung, die eindrucksvolle Performanz zum Indikator für ein zum Vorschein gebrachtes Talent. Sie zeigt die tatsächlichen, ‚natürlichen‘ Fähigkeiten und gilt nicht als unnatürliches Gehabe. „You have to really act normal. Act yourself, what you do on the street when you’re on the telly ‘cos people will like ya. If you start actin’ all posh because you’re on TV and start showin’ off on TV, that’s when
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they hate ya.” (FG-IR) Die Gewinnerin einer der Staffeln von X-Factor war nach Meinung der Fokusgruppenmitglieder so beliebt, weil sie in ihren Auftritten überzeugte und zugleich in ihrer Ausstrahlung natürlich blieb. In einer der österreichischen Gruppen befanden einige Mädchen, dass die Gewinnerin der zweiten Staffel von Germany’s next Topmodel eigentlich „schiarch“ [hässlich] gewesen sei. Auf die Frage, wie sie dann hätte gewinnen können, erläutert eine, die Kandidatin habe im Laufe der Zeit gelernt, sich gut zu schminken und interessant darzustellen. Sich schminken und zugleich natürlich zu wirken ist demnach kein Widerspruch. Die Grenze ziehen die Teenager woanders: „Wenn man eine Maske oben hat, dann ist man nicht mehr natürlich.“ Hinter einer Maske versteckt sich das ‚wahre Selbst‘, wohingegen die richtige Wahl des Outfits, des Liedes, des Make-Ups dieses Selbst sichtbarer werden lässt oder überhaupt erst zum Vorschein bringt. Die Beurteilung der KandidatInnen erfolgt nicht allein aufgrund ihres Auftritts in den Sendungen, sondern auch danach, was die Jugendlichen über deren Umfeld, ihre Einstellungen und ihre Bemühungen zwischen den Sendeterminen erfahren. Hintergrundberichten kommt deshalb sowohl in Österreich als auch in Irland eine große Bedeutung zu (vgl. FG-Ö, FG-IR, ST1). Dass in You’re a Star (YAS) vergleichsweise wenig Hintergrundinformationen gegeben werden, nennen irische Teenager als wichtigen Grund, warum sie die Show ablehnen. The X-Factor (XF) und American Idol (AI) schneiden hier wesentlich besser ab: „In XF they actually tell you about their lives. AI as well, they do the same thing.“ „When you’re watchin’ em singin’ [in YAS] (…) You don’t know who it is. You don’t know their story or what they’re singin’ for.“ Der Wunsch nach Hintergrundgeschichten ähnelt einem Befund zum Erfolg der Soap Operas: Die Geschichte der verschiedenen Filmfiguren, ihre Einstellungen, ihr soziales Umfeld sind den Fans vertraut und so können sie mit ihnen fühlen, sie lieben oder hassen und kompetent darüber spekulieren, was weiter passieren wird. Auf der Homepage von Starmania wurden die Lieder, die die KandidatInnen bei der nächsten Sendung singen würden, vorab bekannt gegeben. Das führte zu teilweise sehr lebhaften Diskussionen darüber, ob die Songs jeweils zu ihrer äußeren Erscheinung, ihren Ausdrucksformen und ihrer Stimme passten und wie die KandidatInnen dementsprechend abschneiden würden. Auch dabei geht es um Fragen nach dem Verhältnis von „wirklichem“ und performativem Selbst, ein Diskurs, der für die Castingshow Rezeption eine große Bedeutung hat. 3.3 Verortungen in gesellschaftlichen Identitätsräumen Die in den Textanalysen vermutete Verbindung zwischen gesellschaftlicher Entwicklung und den Castingshows findet sich auch in den Gruppendiskussionen wieder. Zahlreiche Äußerungen zeigen, dass mittels der Sendungen Identitätsräume wie Nation, Geschlecht, Klasse oder Ethnie vielfältig und widersprüch-
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lich verhandelt werden. Auf dieser Ebene zeigten sich deutliche Unterschiede zwischen den irischen und den österreichischen Fokusgruppen. Während die irischen Jugendlichen vor allem verhandelten, wo der Ort für Berühmtheit und gelungene Unterhaltung läge, beschäftigten die österreichischen Teenager vor allem Fragen nach Geschlechteridentitäten und Doing Gender. Kultureller Antinationalismus Das herausragende und überraschend eindeutige Ergebnis der irischen Fokusgruppeninterviews liegt im Ausmaß, in dem die Teenager das heimische Produkt You’re a Star ablehnten. Die Kritik fiel in allen drei Gruppen vernichtend aus und war in einem kulturellen Sinn zutiefst antinational. Nach Meinung der irischen Jugendlichen kann You’re a Star in keiner Hinsicht – weder in Bezug auf seine Produktionswerte, das Bühnenbild oder die Inszenierung, noch die KandidatInnen, die JurorInnen, die ModeratorInnen oder das Publikum – mit der britischen und amerikanischen Konkurrenz, The X Factor bzw. American Idol, mithalten. Die Gesangsqualität in You’re a Star fällt nach Meinung der Teenager weit hinter diesen Produktionen zurück: „In XF they are really good and talented. In YAS, some of them, they haven’t got a note to their name.“ Kritik wurde auch am irischen Akzent laut, der sich nicht mit den gewählten Liedern vertrage: „The accents didn’t go well with the song. They were singin’ with Irish accents.“ Beklagt wurde weiter, dass die Show und ihre TeilnehmerInnen zu vertraut seien und deshalb zu wenig Neues und Vielfältiges bereit hielten: „The people in it as well, you’re too used to your own country’s voice (…) In the other one there’s different kinds of people in it (…)“ „It’s like your friends are on the telly when you are listening to YAS. It’s like meetin’ different people [on the other shows].“ Auch die Wahl der Songs wurde als zu langweilig und altmodisch kritisiert: „Irish not able to sing, they always sing real borin’ songs.“ „XF will give you up to date songs, old songs, hip-hop songs, all different songs.“ Häufig wurde auch die Bewegung – Rhythmus, Ausdruck und Tanz – der KandidatInnen kommentiert: „And in America, you know the different kind of people, different kind of races and all that can move their body an’ all better, the people are real loose (…).“ „Ireland are ‘scarlet’ [vor Peinlichkeit errötend: ein Dubliner Ausdruck] but in America they don’t really care, they let it rip.“ Die Produktion und Inszenierung wird als ärmlich, „poor“, beschrieben, weil RTE nicht genug Geld in die Sendung investiere: „American Idol is just (…) WO! and X Factor is just WO! It’s huge, Irish [show] the mike always goes wonky or something.“ „I think it’s too cheap lookin’ or something (…) the Irish one.“ Die Jugendlichen erwähnen das Bühnenbild, die Special Effects, Beleuchtung und Nebelwerfer als Elemente, die in den britischen und amerikanischen Castingshows gelungener seien.
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Ein Teil dieser Kritik kann auf die Machart von You’re a Star zurückgeführt werden, weil vieles darauf hindeutet, dass die Sendung tatsächlich preiswerter produziert wird als die Vergleichssendungen. So ist bei Starmania das Studio aufwendiger gestaltet, es gibt mehr Hintergrundgeschichten und die Coachings der KandidatInnen sind gründlicher. Auch der Internet-Auftritt ist vielfältiger, enthält im Gegensatz zu You’re a Star zahlreiche interaktive Elemente und verändert sich von Woche zu Woche. Insofern verweist die Beurteilung der Jugendlichen auch auf ihre Medien- und Genrekompetenz. Jedoch lassen sich nicht alle kritischen Einwände, etwa wenn es um Sprache und Songauswahl geht, dadurch erklären. Auf die Nachfrage der Interviewerin, was denn in You’re a Star für Lieder gesungen würden, antwortet ein Teenager beispielsweise: „Irish songs,“ um dann diese Kategorie weitergehend zu erläutern: „Not all Irish songs, old songs, songs that people don’t really like and don’t know.“ Das Ausmaß der Kritik, die mit zahlreichen nationalen Stereotypen durchsetzt ist, weist über Schwächen des irischen Formats selber hinaus. Erfolg und Ruhm werden einerseits mit einer Kritik an Irland verbunden und andererseits mit der Arbeit am Selbst in Zusammenhang gebracht: „More people in America want it more (…) Irish people don’t really care (…). Not enough effort put into it.“ Das emotional involvierte und alle Aspekte umfassende, insgesamt vernichtende Urteil über You’re a Star scheint damit Teil einer weitergehenden Skepsis gegenüber den irischen populärkulturellen Traditionen zu sein, die an die Vormoderne und das ländliche Leben geknüpft werden. Ein moderner, städtischer Lebensstil scheint vor allem außerhalb Irlands denkbar; der Ort, um berühmt zu werden, liegt anderswo. Diese Haltung hat historische Wurzeln: Bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts wandte sich die städtische Dubliner Arbeiterklasse von den ländlichen Traditionen ab und eignete sich die britische Populärkultur an. Dieses starke historische Involvement mit der britischen Popkultur wird möglicherweise durch neuere Entwicklungen aktualisiert, wie etwa die Gleichzeitigkeit von Globalisierungs- und Säkularisierungsprozessen, durch die die Körper weitgehend aus den Zwängen der katholischen Kirchenlehre befreit wurden, um sie der neuen ökonomischen Ordnung zuzuführen. Der Unterschied zwischen Irland und Österreich ist frappierend, denn in den österreichischen Fokusgruppen findet sich nur eine einzige Aussage eines Jungen, die mit der vielstimmigen und vehementen Kritik der irischen Teenager vergleichbar ist: „Ich habe früher immer Starmania geschaut, aber ich finde, dass das immer schlechter geworden ist, dafür ist DSDS immer besser geworden (…). Ja überhaupt, die können einfach besser singen wie wir, finde ich, (…) die Deutschen.“ Sonst wird Starmania nicht im Kontext einer imaginierten nationalen Gemeinschaft verortet, wie es für die irische Sendung gilt. Implizit ist aber eine Wertschätzung für Starmania als national erfolgreicher Castingshow in einer Reihe von Äußerungen enthalten.
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Geschlechterspiele In beiden strukturierten Befragungen zur Starmania-Rezeption österreichischer SchülerInnnen zeigten sich geschlechtsbezogene Unterschiede. Das betrifft einerseits, wie oben erwähnt, die Vorlieben für die einzelnen Elemente der Show (ST1): Mädchen bewerteten das Design und den Gesang besonders gut, die Jungen favorisierten hingegen die eher konfrontativen Elemente. Andererseits ergab auch die im Anschluss an eine Befragung von 186 SchülerInnen durchgeführte Faktorenanalyse Unterschiede im Involvement von männlichen und weiblichen StarmaniaFans (ST2). Unter den Mädchen war der wichtigste Involvementfaktor die intentionale Hinwendung zum Programm. Sie gaben signifikant häufiger als die befragten Jungen an, ihr Fernsehkonsum sei bewusst und zielgerichtet, ihre Aufmerksamkeit während der Rezeption hoch, das Gesehene werde reflektiert sowie mit anderen besprochen und sei emotional bedeutsam. Bei den Jungen hingegen ist die Alltagsrelevanz der zentrale Involvementfaktor. Dabei stehen der Bezug zwischen den Sendungsinhalten und dem eigenen Alltag sowie der persönliche Nutzen des Fernsehkonsums im Mittelpunkt. Die Antworten der SchülerInnen zeigen statistisch signifikante Geschlechterdifferenzen. Diese werden am Material der Castingshow konstruiert, sind aber gleichermaßen dem Doing Gender in der Befragungssituation selber geschuldet. Auch die empirische Forschung beteiligt sich so an der Konstruktion von Geschlechterdifferenzen, denn eine weitergehende Analyse verrät noch etwas anderes: Die Unterschiede zwischen den Fans von Starmania und den SkeptikerInnen sind innerhalb der jeweiligen Geschlechtergruppe durchwegs größer als die zwischen männlichen und weiblichen Fans (ST2). Trotzdem stellen Castingshows unbestreitbar Material zur Konstruktion geschlechtlicher Identitäten bereit, wie sich vor allem in den österreichischen Fokusgruppen zeigt. Zum einen betrifft das die unmittelbare Auseinandersetzung mit dem Text, zum anderen die dadurch angestoßenen Interaktionen in der Gleichaltrigengruppe und schließlich auch die Art und Weise, wie das Gespräch in den Fokusgruppen darüber genutzt wird, um Geschlechterbeziehungen zwischen den Jugendlichen auszuhandeln. Die Castingshows offerieren eindeutige Geschlechterzuweisungen und beruhen auf einem Geschlechterdualismus, der sich an der heterosexuellen Norm orientiert. In den Diskussionen werden Abweichungen davon kommentiert. So begründen mehrere Mädchen ihre Abneigung gegenüber dem DSDS-Kandidaten Daniel Küblböck auch mit dessen vermeintlicher Homosexualität. Wie intensiv Geschlechterpositionen manchmal verhandelt werden, zeigt sich in den Diskussionen zu Bruce Darnell, Juror von Germany’s next Topmodel, der schwarz ist und selber viele Jahre lang als Model gearbeitet hat. Dass auch Männer modeln könnten, stößt zunächst auf pauschale Ablehnung der Mädchen. Konkret auf Bruce Darnell bezogen wird diese zunächst als unmännlich abgelehnte Position aber neu ausgehandelt: „Bruce ist irgendwie geil,
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er wirkt irgendwie immer so witzig.“ „Voll gut!“ „Er ist witzig und er macht mit.“ „Ja, der Bruce hat sogar versucht, auf Stöckelschuhen zu gehen.“ Der Juror wird aber nicht nur positiv bewertet: „Aber wer mir ein bisschen auf die Nerven geht, ist der Bruce (…) Weil der so komische Sprüche sagt (…) Das ist ein Macho.“ Dem Interesse an diesem Juror liegt offensichtlich dessen Uneindeutigkeit zugrunde, als Model, als Mann auf Stöckelschuhen, der zugleich frauenfeindliche Sprüche von sich gibt, und schließlich auch als Schwarzer. Gender- und Sexualitätsdiskurse sind häufiger mit der Diskussion um Fremdheit und Andersartigkeit verknüpft. Sowohl in der Familienbeobachtung (ST5) als auch in einer der Fokusgruppen wird die Moderatorin von Starmania, Arabella Kiesbauer, die eine deutsche Mutter und einen afrikanischen Vater hat, zum Diskussionsgegenstand. Beide Male geht es um die Haare der Kandidatin. Dass sie im Gegensatz zu früheren Staffeln Kiesbauer nunmehr mag, begründet ein Mädchen damit, dass diese nun keine krausen Haare mehr trüge: „Die hat sich nämlich voll verändert! Die trägt nämlich immer ne Perücke, die hat keine glatten Haare.“ (FG-Ö) Die krausen Haare dienen als Markierung einer anderen Identität und zeichnen Kiesbauer als Außenseiterin aus. Was genau die Mädchen an der Veränderung der Haartracht positiv beurteilen, bleibt aber uneindeutig, da glatte Haare nicht nur auf Assimilationsprozesse verweisen, sondern zugleich als modisch gelten und schließlich auch die eigene Körperarbeit der Moderatorin demonstrieren. Die Castingshows animieren zur Inszenierung von Geschlecht in der Gleichaltrigengruppe. Wie oben erwähnt, beschweren sich mehrere Mädchen darüber, dass sich die Jungen in ihrer Klasse über die Shows lustig machten. Das Lächerlichmachen ihres Sehvergnügens ärgert sie. Zugleich nehmen sie den Jungen nicht ab, dass diese den Sendungen so wenig abgewinnen können und versuchen diese beim Sehen zu ertappen. „Bei uns, als Germany’s next Topmodel aus war, da haben zum Beispiel voll viele Jungs darüber geredet.“ „Ja, bei uns auch.“ In einer der Fokusgruppen erklärt der anwesende Junge zu Beginn ausdrücklich, dass er Germany’s next Topmodel niemals sähe. Als er sich später an der Diskussion über die Siegerin der Staffel angeregt beteiligt und auch ihren Namen kennt, wird das von mehreren Mädchen sofort kommentiert. Der Junge verteidigt sich daraufhin: „Ja, ich krieg das mit von den Klassenkameraden und so.“ Mädchen: „Alles Ausreden!“ Geschlechteridentifikationen und heterosexuelle Normalität sind in der gemischten Fokusgruppe durchgehend als Spannung präsent. Dass die Verhandlung von Geschlechteridentitäten in den österreichischen Fokusgruppeninterviews zentral ist, während sie in den irischen Gruppen keine Rolle spielt, ist verblüffend. Die unterschiedliche kulturelle und nationale Herkunft, die andere Schichtzugehörigkeit, Altersunterschiede und die verschiedenen Sendungen, über die diskutiert wird, führen offensichtlich dazu, dass die Jugendlichen die angebotenen Castingshows für die Verortung in unterschiedlichen Identitätsräumen nutzen.
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4. Fazit: Alltagstauglichkeit der Castingshow Für ihre jugendlichen Fans stellt die Castingshow vielfältiges Material bereit, um Alltagsprobleme zu bearbeiten. Damit Fernsehtexte nicht folgenlos bleiben, müssen diese von den einzelnen ZuschauerInnen mit Bedeutung belegt werden. Das geschieht vor der Folie des Alltagslebens und durch eine Rückbindung des Textes und einzelner seiner Elemente an Alltagserfahrungen. Um diese Alltagsbezüge genauer zu beleuchten, haben wir eine analytische Unterscheidung zwischen drei miteinander verwobenen Ebenen eingeführt: Zum einen stellt die Rezeption selber eine soziale Handlung dar und ist entsprechend in den Alltagsroutinen und alltäglichen Beziehungen verankert. Diese Kontexte entscheiden mit darüber, wer mit wem schaut und welche Gespräche während und nach der Rezeption stattfinden. Auf einer weiteren Ebene werden in der Auseinandersetzung mit den Sendungen normative Diskurse über Fairness, Konkurrenz und Darstellungen des Selbst geführt. Schließlich werden auf der dritten Ebene anhand des Textes gesellschaftliche Identitätsräume ausgehandelt, insbesondere von Nation, Fremdheit, Geschlecht und Sexualität. Die erste Ebene – Rezeption als soziale Handlung – wird besonders offensichtlich in vielen Textanalysen vernachlässigt und besonders häufig in Rezeptionsstudien erfasst. Die Castingshows erlauben ein Gemeinschaftserleben in allen beiden für Jugendliche besonders relevanten Lebenskontexten, der Familie und der Peer Group. In der gemeinsamen Sehsituation dient das Gespräch über Castingshows häufig der gegenseitigen Bestätigung und erhält so eine Integrationsfunktion, da es gerade in einer schwierigen Entwicklungsphase den Austausch über gemeinsame Werte und Normen fördert. Ohne die Berücksichtigung der sozialen Kontexte des Fernsehens können die produktive Aneignung von Texten und die damit einhergehenden Bedeutungsverschiebungen nicht angemessen erfasst werden. Die Fokusgruppeninterviews zeigen, dass die Castingshow – damit ist die zweite Analyseebene der normativen Diskurse angesprochen – als soziales Spiel erlebt wird, in dem eine Verständigung darüber stattfindet, was es heißt, im Leben fair behandelt zu werden. Publikum und Juroren werden kritisiert, wenn sie die doppelte Funktion von Fairness, als angemessene Behandlung von KandidatInnen und als richtige Beurteilung im Hinblick auf das gesuchte Talent nicht erfüllen. Auch wenn die österreichischen Jugendlichen etwas mehr Wert auf eine freundliche Behandlung von KandidatInnen zu legen scheinen als die irischen, so überwiegen doch im Diskurs über Fairness eindeutig die Gemeinsamkeiten. Im Hinblick auf das für die Castingshow konstitutive Phänomen der cooptition stimmen die irischen und österreichischen Jugendlichen ebenfalls weitgehend überein. Und schließlich zeigt sich eine ähnliche Haltung in beiden Ländern auch, wenn die Teenager über Prominenz sprechen. Sieg und Prominenz werden dabei zentral an
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das Vorhandensein eines ‚natürlichen‘ Talents geknüpft, darüber hinaus aber auch an eine gelungene und hart erarbeitete Performanz. Für die befragten Jugendlichen ist ein Star zu werden allenfalls eine Freizeitoption, aber keine Lebens- und Berufsperspektive. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass auf der Ebene der Verhandlung moralischer Werte die Gemeinsamkeiten zwischen den irischen und österreichischen Jugendlichen überwiegen. Das entspricht unseren Vorannahmen. Ein Ausgangspunkt unserer Studie war nämlich die Ähnlichkeit zwischen den Medienlandschaften Österreichs und Irlands. Beide Länder empfangen als ‚Kleinstaaten‘ Programme von ihren großen gleichsprachigen Nachbarn, England und Deutschland, und sind darauf bedacht, sich der Dominanzkultur dieser Länder durch Betonung eigener kultureller Traditionen zu entziehen. Diese Positionierung, so unser ursprünglicher Gedanke, würde die Antworten der jugendlichen ZuschauerInnen in ähnlicher Weise prägen. Diese Annahme hat sich in Bezug auf die normativen Diskurse weitgehend bestätigt, stimmt jedoch nicht im Hinblick auf die dritte Analyseebene, auf der das Wie der Verortung in verschiedenen gesellschaftlichen Identitätsräumen im Mittelpunkt stand. Dabei zeigten sich in den Diskussionsrunden sehr deutliche Unterschiede. Während in Irland ein kultureller Antinationalismus die Gespräche prägte, kreisten sie in Österreich um geschlechtliche und sexuelle Identitäten und Performanzen. Welche Ursachen dem zugrunde liegen, darüber lässt sich anhand unseres Materials, das zur Absicherung des Befunds schon rein quantitativ zu erweitern wäre, nur spekulieren. So ranken sich nationale Stereotype in Österreich etwa darum, dass „die Deutschen“ offener und schonungsloser in ihrer Kritik sind und solche Konfrontationen das Gegenüber schnell beleidigen. Das könnte auch die vehemente Ablehnung Dieter Bohlens durch Mädchen in beiden österreichischen Diskussionsgruppen erklären. Von der österreichischen Kulturpolitik wird offiziell das Bild eines zwar kleinen Landes, aber einer großen Kulturnation gefördert. Beide Konstruktionen könnten zu der viel positiveren Einschätzung der nationalen Sendung, Starmania, im Vergleich zum irischen You’re a Star beigetragen haben. Eine Argumentationsfigur, wie sie im irischen Sample häufig ist, dass das Nachbarland allein aufgrund seiner Größe über mehr Talente, interessantere Lieder und vielfältigere KandidatInnen verfüge, taucht in den österreichischen Fokusgruppen mit Bezug auf Deutschland nur ausnahmsweise auf. Die Divergenzen könnten auch mit Unterschieden in den Stichprobenmerkmalen zusammenhängen. Die irischen Jugendlichen waren etwas älter und stammten überwiegend aus der Arbeiterklasse, während die Mehrzahl der österreichischen Befragten aus der Mittelschicht stammte. Die traditionelle Orientierung der Dubliner Arbeiterklasse an der britischen Populärkultur wird in den Fokusgruppeninterviews von den irischen Jugendlichen reaktiviert und aktualisiert. Zu beachten sind weiter auch die unterschiedlichen Rezeptionskontexte, die die Sendeanstalten und die von ihnen angebotenen Texte schaffen. Bei Starmania
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handelt es sich um eine aufwendige Inszenierung, während You’re a Star offensichtlich preiswerter produziert wird. Dass die irische Sendung mittlerweile eingestellt wurde, überrascht angesichts unserer Ergebnisse nicht. Die Interviews liefern zahlreiche Gründe dafür, warum die jugendliche Zielgruppe die irische Show ablehnte. In den beiden österreichischen Diskussionsrunden spielte Starmania eine geringere Rolle als Germany’s next Topmodel (Pro7). Obwohl viele der Jugendlichen Starmania kannten und die dritte Staffel, die im Januar 2008 zu Ende gegangen war, verfolgt hatten, sprachen sie während der Interviews im März des Jahres viel lebendiger über die zu der Zeit laufende deutsche ModelShow. Dass das Format expliziter mit Genderingprozessen verknüpft ist – immer geht es um die attraktive Präsentation des „weiblichen“ Körpers –, könnte die intensive Beschäftigung mit dem Doing Gender in den österreichischen Fokusgruppen erklären. Es lohnt sich, den größeren Gesprächsanreiz, den Germany’s next Topmodel im Vergleich zu Starmania bietet, einer näheren Betrachtung zu unterziehen. Einerseits wäre denkbar, dass Castingshows so etwas wie das Fast Food für jugendliche Aushandlungsprozesse im Alltag liefern. Einmal vorüber, verlören sie dementsprechend schnell wieder an Bedeutung. Andererseits könnten die Jugendlichen aber auch die noch neuere Model-Show einfach spannender finden als Starmania, das sie bereits länger kennen. Dazu würde passen, dass Starmania mit jeder neuen Staffel ZuschauerInnen eingebüßt hat. Normative Diskurse und Identitätsräume werden gleichermaßen in den Textanalysen und in den Rezeptionsstudien zu den Castingshows angesprochen. Unsere Pilotstudie unterstreicht die grundlegende Erkenntnis der Rezeptionsforschung, dass das Publikum Medientexte in vielfältiger Weise nutzt und ohne die Betrachtung von Publikumsaktivitäten, valide Schlüsse auf die gesellschaftliche Bedeutung der Sendungen nicht gezogen werden können. Zugleich verweisen aber die Textanalysen auch auf Aspekte, die dem Interviewmaterial selber nicht direkt entnommen werden können. Weil Publikumsaktivitäten als Teil eines Doing Culture nie vollständig transparent und auf der Ebene des Individuums auch immer nur in Teilen einer bewussten Reflexion zugänglich sind, bleiben Textanalysen für die Entdeckung solcher intransparenten und unbewussten Teile der Medienaneignung von großer Bedeutung. Die individuelle Aneignung und Modifizierung neoliberaler Gesellschaftskonzepte gehört dazu ebenso wie die weitgehend, aber nicht nur affirmative Einrichtung in den bereit gestellten Identitätsräumen von Nation und Geschlecht.
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Der gefährdete Alltag. Oder: Wie „Aktenzeichen XY … ungelöst“ die Welt sieht Jan Pinseler
1. Einleitung: Verbrechen und Alltag Als eine der ältesten Sendungen im deutschen Fernsehen zeigt uns Aktenzeichen XY … ungelöst seit über vierzig Jahren unaufgeklärte Verbrechen. Doch bei genauerem Hinsehen wird deutlich, dass Aktenzeichen XY … ungelöst nicht nur Bilder von Kriminalität ins Fernsehen bringt, sondern vielmehr bundesdeutschen Alltag vorführt. Nur scheinbar steht das Verbrechen allein im Vordergrund der Darstellungen. Vielmehr sind die Filme, die Aktenzeichen XY … ungelöst zeigt, von Darstellungen alltäglicher Lebenswelt durchzogen. In diese dringt das Verbrechen ein, diese zerstört es oder bringt es zumindest durcheinander. Doch welcher Art ist der Alltag, der hier gezeichnet wird? Und an welche Vorstellungen von Alltag wird bei den Zuschauerinnen und Zuschauern angeknüpft? Welche werden mit Authentizität versehen und welche werden abgewertet? Darstellungen von Verbrechen in Aktenzeichen XY … ungelöst können kaum als Abbildungen von Wirklichkeit verstanden werden, sie sind vielmehr spezifische Inszenierungen tatsächlich stattgefundener ungelöster Kriminalfälle. Sie erscheinen jedoch als authentisch, weil dieser Eindruck mit Hilfe einer Vielzahl von Techniken der Authentizitätsherstellung hervorgerufen wird und weil der Verweis auf die Realität des tatsächlichen Verbrechens, des dadurch hervorgebrachten Leides der Opfer von den Zuschauerinnen und Zuschauern kaum ignoriert werden kann. Wenn für die dargestellte Kriminalität gilt, dass ihre Authentizität eine durch filmische Mittel hergestellte Authentizität ist, so gilt dies auch für die Darstellungen des Alltags der Opfer vor dem Verbrechen, von denen Aktenzeichen XY … ungelöst durchzogen ist. Deshalb soll hier untersucht werden, wie dieser Alltag in Aktenzeichen XY … ungelöst aussieht. Hierzu soll zunächst eine Sendung genauer beschrieben werden, wobei das Augenmerk insbesondere darauf gelegt wird, welche Darstellungen des Alltags sich hier finden lassen. Dann wird die Entstehung der Sendung Aktenzeichen XY … ungelöst nachgezeichnet, die inzwischen zum Vorbild für eine Reihe ähnlicher Sendungen in verschiedenen Ländern, aber auch in Deutschland geworden ist. Verbrechen finden jedoch
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im Fernsehen nicht nur in Fahndungssendungen statt – einer medialen Gattung deren Prototyp Aktenzeichen XY … ungelöst ist – sondern auch in Nachrichtensendungen und vor allem in Krimis. Deshalb wird systematisch dargestellt, welche Ansätze es gibt, mediale Verbrechensdarstellungen medientheoretisch zu fassen, um dann vorhandene Untersuchungen von Aktenzeichen XY … ungelöst und Sendungen des gleichen Formats zu betrachten. Hiervon ausgehend wird schließlich analysiert, wie Darstellungen des Alltags in Aktenzeichen XY … ungelöst an der Herstellung von gesellschaftlicher Hegemonie beteiligt sind.
2. Facetten des Alltags: „Aktenzeichen XY … ungelöst“ im Mai 2008 Betrachten wir zunächst beispielhaft eine Sendung Aktenzeichen XY … ungelöst. Am 28. Mai 2008 strahlte das ZDF die fünfte Folge der Sendung auf einem neuen Sendeplatz (mittwochs) und in neuer Länge (90 Minuten) aus. Die Sendung beginnt mit dem Werbespot einer Sicherheitstechnikfirma, in der vermummte Gestalten nachts in ein Haus einbrechen. Danach ist der Moderator Rudi Cerne zu sehen, wie er telefoniert, im Labor Spuren analysiert, sich eine Tatwaffe ansieht – kurz, wie er Polizeiarbeit leistet. Der erste Fall der Sendung, der nach einer kurzen Themenvorschau folgt, befasst sich mit dem Tod eines alten Mannes. Dieser hat erst vor kurzem seine Frau verloren und hat noch Probleme damit, sein Leben wieder zu ordnen: „Nun muss er den Alltag allein meistern“, erläutert der Off-Sprecher, während der Mann dabei zu sehen ist, wie er versucht, ein Hemd zu bügeln. Allerdings misstraut er Banken und hat deshalb viel Bargeld zu Hause, so die Sendung, worüber er auch – obwohl ihn seine Nachbarin davor warnt – gerne und häufig redet. Schließlich wird der Mann in seiner Wohnung überfallen und stirbt an den Folgen des Überfalls. Im zweiten Fall der Sendung geht es um einen Überfall auf einen Mann in Köln. Er ist gerade auf dem Weg zur Wohnung eines Freundes, wo er dessen Blumen gießen will, als er angegriffen und von jungen Menschen, die sich miteinander auf russisch unterhalten, zusammengeschlagen und ausgeraubt wird. Nur die schnelle Hilfe von Passanten rettet ihm das Leben. Die Täter heben derweil Geld von seiner Kreditkarte ab und nutzen diese für Großeinkäufe. Hieran anschließend strahlt Aktenzeichen XY … ungelöst eine Suchmeldung nach einem Kreditbetrüger aus, die der Moderator Rudi Cerne im Studio verliest. Im dritten ‚Filmfall‘ geht es um den Diebstahl von Fotovoltaikplatten vom Dach eines Stallgebäudes. Die Sendung zeigt zunächst in einem Einspielfilm, wie die Platten in Betrieb genommen werden und dies bei einer kleinen Feier begossen wird. In einer Nacht kommen dann Diebe und bauen die Fotovoltaikplatten ab. Daraufhin installieren die Betreiber eine Überwachungskamera, die beim nächsten Diebstahl, der bald folgt, allerdings nicht richtig funktioniert. Wiederum kurze Zeit
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später – die Überwachungskamera funktioniert jetzt – stehlen die Diebe Zubehör, so dass sie wieder unerkannt entkommen können. Im Studiogespräch, das der Moderator mit einem der ermittelnden Polizisten führt, wird deutlich, dass es sich um eine organisierte Diebesbande handelt, die bundesweit operiert. Der fünfte Fall der Sendung behandelt den Mord an einer Polizistin in Heilbronn. Diese ist zunächst dabei zu sehen, wie sie nach Hause kommt, Brötchen mitgebracht hat und mit ihrer Mitbewohnerin und Kollegin frühstückt. Auf der Arbeit überredet sie dann einen Kollegen, seinen Dienst mit ihr zu tauschen, damit sie an dem Einsatz teilnehmen kann, bei dem sie schließlich erschossen werden wird. Gemeinsam mit einem anderen Kollegen kontrolliert sie hierbei zunächst eine Gruppe junger Männer: „Da sind so schräge Typen, die kontrollieren wir jetzt mal“, begründet sie dies im Film ihrem Kollegen gegenüber. Es erweist sich, dass einer der Männer ein Platzverbot hat, das die Polizisten durchsetzen. Anschließend machen sie eine Pause und werden dabei in ihrem Polizeiauto erschossen. Es gäbe nur eine DNA-Spur von einer mysteriösen Frau, die die Polizei jetzt suche, wie der Film und das anschließende Studiogespräch zwischen Rudi Cerne und einem Polizisten erläutert. Im vorletzten Fall der Sendung geht es um einen Fall von Autodiebstahl. Nachdem der Film zwei Männer gezeigt hat, die in einer slawischen Sprache miteinander reden und vergeblich versuchen, einen BMW aufzubrechen, sehen wir eine junge Frau beim Frühstück – es ist 5:30 Uhr. Ihr Vater kommt hinzu und erklärt, er wolle seiner Frau das Frühstück ans Bett bringen. Die junge Frau verabschiedet sich und fährt in ihrem Auto los. An einer Kreuzung wird sie von den Männern überfallen und aus dem Auto gezerrt, bevor diese mit ihrem Auto davonfahren und die junge Frau auf der Straße stehen lassen. Mit einem Zeugen verfolgt sie zunächst die Täter, dieser ruft dann die Polizei. In der anschließenden Moderation werden die Zuschauerinnen und Zuschauer aufgefordert, ihr Auto immer von innen zu verriegeln. Im letzten ‚Filmfall‘ dieser Sendung sehen wir zunächst, wie das spätere Opfer sich mit einem Freund in einer Bar verabredet. „In der Bar […] treffen sich ausschließlich Männer. Korinke ist öfter hier“, vermerkt der Off-Kommentar. Das Opfer wird von einem jungen Mann angesprochen, nimmt diesen mit nach Hause, wird von ihm betäubt und ausgeraubt: „Werner Korinkes neuer Bekannter entpuppt sich als hinterhältig“, so erläutert der Kommentar. Die Kriminalfälle, die Aktenzeichen XY … ungelöst hier darstellt, beziehen sich auf ganz unterschiedliche Lebensbereiche. Einmal geht es um einen gut situierten Rentner, der ausgeraubt wird, einmal um den Diebstahl wertvollen Materials von Gewerbetreibenden, dann um den – in der Darstellung der Sendung – kaltblütigen Mord an einer Polizistin, einmal um so genanntes Carnapping und schließlich darum, wie ein Mann einen anderen Mann mit der Aussicht auf Sex mit nach Hause nimmt, von diesem aber ausgeraubt wird. Was diese Darstellungen auszeichnet, ist, dass nicht nur das Verbrechen selbst dargestellt
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wird, sondern dass das Verbrechen hier immer vor dem Hintergrund einer Darstellung alltäglichen Lebens stattfindet. Das Verbrechen ist dabei nicht Bestandteil des Alltags, sondern das Verbrechen stört und unterbricht diesen Alltag bzw. beendet ihn. Der alte Mann versucht, seinen Alltag zu meistern, kommt damit auch ganz gut klar, bis er an die Falschen gerät, die ihn ausrauben und schließlich töten. Die junge Frau hat einen angenehmen Morgen bei ihren Eltern, bevor dieser jäh gestört wird, als sie überfallen wird. Der Mann geht, wie häufiger, in die Schwulenbar, um sich zu amüsieren, wo er den Mann trifft, der ihn ausrauben wird. Der Alltag kann möglicherweise wieder hergestellt werden, er wird aber nie so sein wie zuvor. Die junge Frau steht noch lange unter Schock, die Unternehmer müssen sich gegen Diebstähle schützen, der schwule Mann wird nie wieder so unbeschwert jemanden mit zu sich nach Hause nehmen, den er in einer Bar kennen gelernt hat. Alltag in Aktenzeichen XY … ungelöst ist also etwas Überhöhtes, eine heile Welt, in die das Verbrechen als das Böse von außen eindringt und das diesen Alltag – zumindest zunächst – zerstört.
3. „Aktenzeichen XY … ungelöst“: Entwicklung eines Formats Diese Darstellung des Alltags als Folie, vor deren Hintergrund Verbrechen stattfinden, ist keine neue Entwicklung. Dies wird etwa deutlich, sieht man sich den ersten Beitrag in der ersten Sendung von Aktenzeichen XY … ungelöst vom 20. Oktober 1967 an. Dieser schildert den Mord an einer Frau, die vor der Tat mit ihrem mutmaßlichen Mörder in einer Gaststätte gezeigt wird, wo sich beide beim Tanzen amüsieren.1 Schon in der ersten Sendung sitzen Moderator, Polizisten und Mitarbeiter in einem als Fahndungszentrale gestalteten Studio, in dem auch die Anrufe der Zuschauerinnen und Zuschauer entgegengenommen werden. Von Beginn an wird Aktenzeichen XY … ungelöst zehn Mal jährlich freitags abends mit einer Länge von sechzig Minuten live gesendet. Seit mehr als dreißig Jahren wird die Sendung von einer Mischung aus ‚Filmfällen‘ und ‚Studiofällen‘ bestimmt und werden gegen Ende der Sendung ‚Ergebnisse‘ bekannt gegeben. Derzeit wird die – jetzt monatlich ausgestrahlte – Sendung von Rudi Cerne moderiert. Da Aktenzeichen XY … ungelöst über die Darstellung von Kriminalität immer auch eine spezifische Auffassung von Normalität als unhinterfragbar und 1
Während aber die Geschichte von Aktenzeichen XY… ungelöst am 20. Oktober 1967 beginnt, wurde die vermutlich erste Fahndungssendung im Fernsehen schon fast dreißig Jahre früher, am 4. Juli 1938 gesendet. An diesem Tag wurde im nationalsozialistischen Fernsehen, das fast ausschließlich für die Ausstrahlung in so genannten Fernsehstuben produziert wurde, zum ersten Mal die Sendung Die Kriminalpolizei warnt! ausgestrahlt. Die 1939 mehrfach ausgestrahlte Sendung „bestand zumeist aus Gesprächen mit Kriminalbeamten über aktuelle Verbrechen“ (Winker 1994: 227).
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selbstverständlich darstellt, verwundert es nicht, dass die Sendung auch Kritik hervorgerufen hat. Mit der Einführung von Aktenzeichen XY … ungelöst beginnt auch eine politische Diskussion um die Sendung, die erst in den späten 1980er Jahren verstummt. Die Kritik argumentierte vor allem damit, dass die Sendung ein Klima der Menschenjagd schaffe und die Rechte von Verdächtigen missachte. Die Sendung stelle eine Mischung aus Show und Unterstützung polizeilicher Arbeit dar. Nach Motiven von VerbrecherInnen und Ursachen von Verbrechen werde nicht gefragt, VerbrecherInnen würden vielmehr dämonisiert. Diese Sendeform würde mit einer angeblich immer weiter steigenden Kriminalität begründet, so der Tenor der Kritik (vgl. etwa Meinhof 1980 [orig. 1968]; Heinemann 1976; Schneider 1980; Rath 1981 und 1985). Sowohl Eduard Zimmermann und das ZDF als auch Politiker in Regierungen wiesen diese Argumente zurück (vgl. Zimmermann 1969; Hirsch 1979; Weis 1979; Hampel 1997). Diese Kritik wurde insbesondere dann laut, wenn die Sendung politische Auseinandersetzungen mit strafrechtlichen Kategorien gedeutet hat, so bei den Auseinandersetzungen um den Bau der Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf. Im September 1986 wurden Auszüge aus Polizeivideos mit fünf WAA-Gegnern in der Sendung gezeigt und für Hinweise auf die Identität der Männer eine Belohnung von 10.000 DM ausgesetzt. Die Redaktion der Sendung Aktenzeichen XY … ungelöst betont, dass Kriminalfälle nur auf Ersuchen von Polizei und Staatsanwaltschaft in die Sendung aufgenommen werden. Dementsprechend unterwirft sich die Redaktion in der Auswahl der Beiträge fast vollständig der Polizei. Die Redaktion selber gestaltet vor allem – allerdings wiederum in enger Kooperation mit der Polizei – die Filmbeiträge über die Verbrechen. In der Darstellung gegenüber den Zuschauerinnen und Zuschauern wird diese Arbeitsteilung und die redaktionelle Abhängigkeit von Polizei und Staatsanwaltschaft jedoch zumeist verschleiert. Sind im Vorspann der Sendung im Jahr 2000 noch PolizistInnen bei verschiedenen Ermittlungstätigkeiten zu sehen, so steht im Vorspann ab 2002 der neue Moderator Rudi Cerne im Mittelpunkt und wird unter anderem beim Untersuchen von Beweisstücken gezeigt. Auch auf verbaler Ebene wird die Trennung zwischen der Redaktion, die eine Fernsehsendung gestaltet und der Polizei, die Verbrechen aufklärt, immer wieder verwischt. Diese Vermischung setzt sich auch in der Gestaltung des Studios fort. Seit der ersten Sendung wird mit der Einrichtung des Studios auf das Bild einer Fahndungszentrale angespielt, in der Menschen, die in der Sendung teilweise als PolizistInnen identifiziert werden, gemeinsam an der Lösung von Kriminalfällen zu arbeiten scheinen. In Deutschland war Aktenzeichen XY … ungelöst lange die einzige Fahndungssendung. Erst in den 1990er Jahren begannen Nachahmersendungen im deutschen Fernsehen mit der Ausstrahlung. Bereits der Deutsche Fernsehfunk der untergehenden DDR begann 1990 mit der Ausstrahlung von Kripo live, das
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seit der Gründung der ostdeutschen Landesrundfunkanstalten vom Mitteldeutschen Rundfunk (MDR) produziert wird und zur Zeit sonntags abends ausgestrahlt wird. Seit 1992 wird vom Ostdeutschen Rundfunk Brandenburg (ORB) – inzwischen im Rundfunk Berlin Brandenburg (RBB) aufgegangen – vierzehntäglich die Sendung Täter Opfer Polizei ausgestrahlt. Von 1997 bis 2000 sendete SAT.1 Fahndungsakte, eine Sendung, die mehr dem US-amerikanischen America’s Most Wanted als Aktenzeichen XY … ungelöst gleicht, welches aber in Anlehnung an Aktenzeichen XY … ungelöst entwickelt wurde. International wurde das von Eduard Zimmermann entwickelte Format hingegen schon früher aufgegriffen. Ab 1984 strahlte der niederländische Fernsehsender AVRO eine regelmäßige Fahndungssendung unter dem Titel Opsporing Verzocht aus. Im selben Jahr wurde auch in Großbritannien eine Fahndungssendung ins Leben gerufen, die sich an Aktenzeichen XY … ungelöst orientierte. Von Anfang an wurden in der britischen Variante aber Äußerungen von Zeuginnen und Betroffenen in den Filmen mit Hilfe von Interviewsequenzen eingebaut. Neben den Filmbeiträgen über nicht aufgeklärte Verbrechen beinhaltet auch Crimewatch UK kleinere Fälle, die von – teilweise uniformierten – PolizistInnen im Studio vorgestellt werden. Ab 1987 begann sich auch das damals neue Fox-Network in den USA für das Format zu interessieren. Seit April 1998 wird America’s Most Wanted jeden Sonntag auf FOX ausgestrahlt. Die Sendung beschränkt sich im Gegensatz zu den meisten anderen Fahndungssendungen auf Gewaltverbrechen, berichtet also nicht über Wirtschaftsverbrechen, und strahlt nur solche Beiträge aus, in denen es einen namentlich bekannten Tatverdächtigen gibt. Zum Teil spielen sich Opfer in den ‚nachgestellten Szenen‘ in America’s Most Wanted selber. Auch in Israel, Ungarn, Australien und Neuseeland werden Fahndungssendungen ausgestrahlt2.
4. Theorien medialer Verbrechensdarstellungen Massenmedien setzen sich beständig, nicht nur in Fahndungssendungen, mit Verbrechen auseinander. Dies kann kaum überraschen, wenn man sich vor Augen führt, dass in jeder Gesellschaft ständig umstritten ist, was normal und was abweichend ist. Schon Durkheim hat Verbrechen als normalen Bestandteil jeder Gesellschaft begriffen, die sich aber durch einen ambivalenten Charakter auszeichnen. Einerseits gefährden sie Ordnung, bekräftigen diese aber andererseits dadurch gleichzeitig (vgl. z.B. Durkheim 1965). Gerade in der Abweichung wird die Regel deutlich, wird sichtbar, was als normal gilt. Nicht jedes abwei2
Für eine ausführliche Geschichte von Fahndungssendungen im Allgemeinen und Aktenzeichen XY … ungelöst im Speziellen vgl. Pinseler (2006), für die Auseinandersetzung mit Fahndungssendungen in anderen Ländern vgl. die Beiträge in Fishman/Cavender (1998).
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chende Verhalten ist jedoch ein Verbrechen. Vielmehr kann man Verbrechen als einen Spezialfall von abweichendem Verhalten verstehen, das vom Strafrecht sanktioniert wird (vgl. Becker 1973). Abweichung ist demzufolge das Ergebnis eines Zuschreibungsprozesses, indem andere Personen eine spezifische Handlung als abweichend bezeichnen. Was in einer spezifischen Gesellschaft als Abweichung verstanden wird, ist somit die Folge von Regelsetzungen, die in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen erfolgen, in denen sich bestimmte gesellschaftliche Gruppen mit ihren spezifischen Interessen gegen andere Gruppen und deren Interessen durchsetzen. Da Macht und Ressourcen in einer Gesellschaft nicht gleich verteilt sind, spiegeln die existierenden Regeln und deren Durchsetzung oder Nicht-Durchsetzung auch gesellschaftliche Machtstrukturen wider (vgl. Hall u.a. 1978; Cremer-Schäfer/Steinert 1998). Mit der Darstellung von Abweichung werden folglich die in einer Gesellschaft gültigen Regeln und ihre Durchsetzung demonstriert. Im Alltag erscheint die Definition eines bestimmten Verhaltens als abweichend häufig als etwas Natürliches, dementsprechend wird auch bei medialen Darstellungen von Abweichung in aller Regel nicht diskutiert, wer eine spezifische Handlung als Abweichung definiert hat. Verbrechen eignen sich besonders gut, gesellschaftliche Wert- und Normvorstellungen darzustellen und somit Normalität mit Hilfe der Darstellung von Abweichung zu zeigen. Welche gesellschaftlichen Folgen die vorfindbaren medialen Verbrechensdarstellungen haben, ist jedoch umstritten. In Anlehnung an Ericson (1991) kann man zwei unterschiedliche Forschungstraditionen unterscheiden, die sich mit medialen Verbrechensdarstellungen befassen: die Wirkungsforschung einerseits und den ideologiekritischen Ansatz andererseits. Insbesondere dort, wo die Darstellung von Kriminalität insgesamt in den Medien untersucht wird, basieren die Analysen häufig auf dem Wirkungsansatz. Diese Studien kommen in der Regel zu dem Ergebnis, dass die mediale Darstellung von Verbrechen nichts mit der Wirklichkeit zu tun habe (vgl. z.B. Bortner 1984; Lamnek 1990). Um dies zeigen zu können, würde man jedoch immer eine andere, nichtmediale Repräsentation von Wirklichkeit als Vergleichsmaßstab benötigen. Neben der Kritik falscher Darstellungen polizeilichen Vorgehens wird in solchen Studien daher die Kriminalstatistik als vertrauenswürdige Beschreibung von Wirklichkeit zum Vergleich herangezogen. Das Ergebnis solcher Untersuchungen besteht dann zum Beispiel darin festzustellen, dass Gewaltverbrechen über- und Eigentumsdelikte in den Medien unterrepräsentiert seien (vgl. z.B. Dominick 1973). Das Problem dieses Ansatzes besteht nicht nur darin, dass er nicht nach den Bedeutungszuschreibungen fragt, die mit medialen Verbrechensdarstellungen verbunden sind, sondern er operiert auch mit der – als selbstverständlich dargestellten – Annahme, die Kriminalstatistik sei eine Abbildung von Wirklichkeit. Dies ignoriert jedoch, dass die Kriminalstatistik eine Beschreibung polizeilichen Handelns darstellt, die Angaben über der Polizei
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bekannt gewordene Verbrechen und von der Polizei verdächtigte Personen enthält. Sie spiegelt also die Arbeit der Polizei und die Merkmale der von ihr für schuldig gehaltenen Personen wieder, ist jedoch kein Abbild von Wirklichkeit (vgl. Cremer-Schäfer/Steinert 1998: 20). Vielmehr handelt es sich bei der Kriminalstatistik um eine Deutung von Wirklichkeit, genau wie auch mediale Darstellungen von Verbrechen Deutungen von Wirklichkeit sind. Da beide Deutungen unterschiedlichen Zwecken folgen, kann man jedoch kaum eine dieser Deutungen als Abbild von Wirklichkeit ausgeben und davon ableiten, die andere Deutung sei falsch. Eine völlig andere Sicht auf mediale Verbrechensdarstellungen findet sich bei Vertretern des ideologiekritischen Ansatzes, die vor allem davon ausgehen, dass Massenmedien in ihren Deutungen von Geschehen die Herrschenden als Quellen und Produzenten von Deutungen von Geschehen bevorzugen und dadurch die herrschende Ideologie weiterverbreiten. Die Journalisten, so etwa Hall u.a. (1978), könnten nur sekundäre Bedeutungszuschreibungen vornehmen, da die Ereignisse von Polizei, Justiz und Politik schon ‚vorgedeutet‘ seien.
5. Fahndungssendungen im Fokus der Wissenschaft Aktenzeichen XY … ungelöst ist – obwohl eine der ältesten noch laufenden Sendungen im deutschen Fernsehen – nur vereinzelt wissenschaftlich untersucht worden. Auffallend ist jedoch, dass die vorhandenen Analysen – in unterschiedlichen Formulierungen und Begrifflichkeiten – immer wieder auf verschiedene Aspekte der Darstellung von Alltag und Alltäglichkeit Bezug nehmen. Fahndungssendungen, so zeigen diese Ergebnisse, stellen die Welt als eindeutig in gut und böse unterteilt dar. Der Inszenierungscharakter von Verbrechensdarstellungen in Fahndungssendungen wird mit Hilfe von Techniken der Authentisierungsherstellung verschleiert. Dazu bedienen diese sich ständiger expliziter Realitätsbezüge in den Filmbeiträgen, der Einrichtung des Studios als Ermittlungszentrale und eines auktorialen Erzählers, in der Regel eines Off-Sprechers, der als zentrale Informationsinstanz dient. In den filmischen Darstellungen von Verbrechen wird ein soziales Gleichgewicht, vorzugsweise das einer Kleinstadt, zerstört. Opfer wie Täter werden dabei stereotyp dargestellt, die jeweils für das Gute beziehungsweise das Böse stehen. In den untersuchten Fahndungssendungen wird durch die Darstellung von Verbrechen ein moralischer Diskurs geführt, der die geltenden Regeln einer Gesellschaft und spezifische Normen darstellt. Die Darstellung der Kriminalfälle orientiere sich an wiederkehrenden, von vielen Menschen gefürchteten Stereotypen, die so einen Namen und ein Gesicht bekämen, stellt Cavender (1998) in der Analyse von America’s Most Wanted und Unsolved Mysteries fest. Im Gegensatz zu den Tätern seien die Opfer re-
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spektable und meist gut aussehende Menschen, mit denen sich das Publikum identifizieren könne. Sie sind unschuldig und verletzlich, „but, as in the horror genre, the narrative moves inexorably towards their destruction“ (ebd.: 83). Auch Donovan (1998: 127) weist darauf hin, dass mit Hilfe von Personalisierungen Täter und Opfer in jeweils typischer Form dargestellt würden. Damit würden Widersprüche und Vieldeutigkeiten in einer eindeutigen Ordnung aufgelöst (vgl. Fishman 1999: 269). In der Darstellung von Verbrechen in America’s Most Wanted und Unsolved Mysteries ist das Leben der Opfer durch das Verbrechen in einem besonders starken Ausmaß aus dem Gleichgewicht gebracht: Ihr Leben wird tragisch zerstört, ein gerade erreichtes Ziel wird durch das Verbrechen zunichte gemacht, ihnen werden nicht einfach Gegenstände geraubt, sondern Familienerbstücke (vgl. Cavender/Bond-Maupin 1993: 311). Diese Darstellungen erscheinen durch die Verknüpfungen mit Techniken der Herstellung von Authentizität als reines Abbild, nicht als mediale Inszenierung von tatsächlich stattgefundenen Verbrechen (vgl. auch Pinseler 2006). Schon Waldmann (1977) arbeitete heraus, wie mittels des Studioaufbaus in Aktenzeichen XY … ungelöst der Modus der Realitätswiedergabe erreicht wird, während in den Filmbeiträgen selber der Modus der Fiktionalität herrsche, wobei die Darstellung jedoch mit Hilfe des Sprechers aus dem Off als authentisch ausgegeben werde. Auch Russo (1980) weist in seiner Analyse dem Sprecher eine wichtige Funktion zu. Dieser agiere mit Behauptungen, wobei von gesichertem Wissen zu unsicheren Behauptungen übergegangen werde und sich somit „eine Aura des Authentischen […] über eine absolut fiktive Kriminalshow“ lege (ebd.: 36). Ähnlich wie Waldmann beschreibt auch Bauer, wie in dem von ihm untersuchten Beitrag in Aktenzeichen XY … ungelöst mit Hilfe von Fiktionalitätssignalen eine klare Trennung zwischen dem Modus der Faktizität – in den Moderationen und Interviews mit Polizisten – und dem Modus der Fiktionalität – in den Filmbeiträgen – erfolge. Er verweist insbesondere auf die Verwendung von Musik in den Filmbeiträgen, die als Fiktionalitätssignal wirke (vgl. Bauer 1992: 217ff.). Bauer stellt fest, dass es der Sendung Aktenzeichen XY … ungelöst nicht nur um die Rekonstruktion von Verbrechen, sondern vor allem um einen „moralischen Diskurs“ als „Instrument der Normvermittlung“ gehe (ebd.: 281). Für die britische Sendung Crimewatch UK konstatiert Sears (1995), die filmische Rekonstruktion von Verbrechen würde als Abbildung realer Ereignisse ausgegeben und dadurch Fakten in Fiktion verwandelt. Absichtlich werde die Grenze zwischen Fakten und durch Fiktion hergestellten Fakten verwischt. Typischerweise beginne ein Filmbeitrag in America’s Most Wanted oder Unsolved Mysteries mit einem Gleichgewichtszustand (vgl. Cavender 1998:85). Dabei würde das Klischee einer Kleinstadt zitiert, deren Ruhe durch ein Verbrechen erschüttert wird. Diese Zerstörung des Gleichgewichts wird mit dissonanter Musik, schnellen Schnitten und extremen Nahaufnahmen des Verbrechens
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filmisch unterstrichen. Sowohl Cavender (1998: 86) als auch Donovan (1998: 124) weisen darauf hin, dass in den amerikanischen Fahndungssendungen Bestrafung die einzig mögliche Lösung für Verbrechen ist und die Sendungen immer härtere Methoden der Verbrechensbekämpfung fordern. Aktenzeichen XY … ungelöst zeichne sich, so etwa Wulff (1995), nicht nur dadurch aus, dass die hier erzählten Geschichten gerade keinen glücklichen Ausgang nehmen, sondern dass sie darüber hinaus zu Handlungen der Zuschauerinnen und Zuschauer aufrufen. Damit schließt er an die oben erwähnten politischen Diskussionen der siebziger und achtziger Jahre über Aktenzeichen XY … ungelöst an. Rath (1981) meint, in Aktenzeichen XY … ungelöst werde Moral nicht vorgeführt, sondern nur das Funktionieren der Methoden zur Durchsetzung herrschender Moral exemplarisch geschildert (vgl. auch Rath 1985). So überrascht es auch nicht, dass ein ZDF-Redakteur die Sendung Aktenzeichen XY … ungelöst und alle ZDF-Krimis als „eine der staatserhaltendsten Sendungen, die wir im Fernsehen bringen“ beschreibt (Schardt 1985: 22). Dabei können die Zuschauerinnen und Zuschauer an der Festnahme des Verbrechers mitwirken, sie können also helfen, das soziale Gleichgewicht, das durch das Verbrechen zerstört wurde, wiederherzustellen (vgl. Cavender 1998; Donovan 1998). Für Fishman (1999: 270ff.) zeigt sich in diesem Punkt ein populistischer Mythos der Verbrechensbekämpfung. Die Sendungen propagierten aktive BürgerInnen als Lösung gesellschaftlicher Probleme. Sie stellten eine Welt der Normalität dar, die von einer Welt des Chaos und der Unbeständigkeit durcheinander gebracht wird. Der populistische Mythos behaupte eine breite Verteilung der Macht und des Reichtums und gaukle so den Zuschauerinnen und Zuschauern vor, sie könnten sich aktiv beteiligen. Damit würden Zentralisierung und Interventionen durch den Staat entwertet. Der Gerechtigkeitswillen müsse nach dieser Darstellung nicht von staatlichen Institutionen, sondern von den Bürgerinnen und Bürgern selbst durchgesetzt werden. Damit kommt Fishman zu einer ähnlichen Einschätzung wie Sears (1995), der in den Werten, die die britische Fahndungssendung Crimewatch UK vermittelt, die veränderten Wertvorstellungen unter der Regierung Thatcher gespiegelt sieht: „Individual action is valued over state responsibility, effects rather than causes become the focus of treatment, and a vaguely public notion of law and order is prioritised over smaller-scale social cohesion […].“ (Sears 1995: 58)
Die Inszenierung einer dichotom in Gut und Böse geteilten Welt beinhaltet auch spezifische Vorstellungen, wie die Welt des Guten aussieht, wie Bond-Maupin (1998) beispielhaft an der Darstellung von Frauen in America’s Most Wanted gezeigt hat. Mit Hilfe spezifischer Darstellungsmuster würden Täterinnen stereotypisiert und damit ein spezifisches Gesellschaftsbild und in diesem Fall eine spezifische Vorstellung von der gesellschaftlichen Position von Frauen als ver-
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bindliches Bild transportiert wird. Sexualität ist in der Darstellung von America’s Most Wanted immer ein zentrales Element des Verbrechens selber, des Vertuschens des Verbrechens oder der Flucht der Frauen, die die Gutmütigkeit und das Vertrauen von Männern missbrauchten. „These women were seductive, preoccupied with sex, and sexual manipulative. Their male victims were unable or unwilling to resist their sexual advances. The men were largely unsuspecting of the danger they faced. The unsuspecting, generous, and loving nature of the men were juxtaposed against sexual treachery of the women, one of whom was renamed by the show’s host as the ‘Black Widow’.“ (Bond-Maupin 1998: 36)
Verbrechen von Frauen gingen in America’s Most Wanted meist mit Verhaltensweisen und Eigenschaften einher, die einer stereotypen Darstellung von Schönheit, Häuslichkeit und Mutterschaft widersprechen. Durch die Verknüpfung dieser ‚unfraulichen‘ Eigenschaften mit der Darstellung des Verbrechens wird die Schuld, so Bond-Maupin, noch verstärkt. Ein zentrales Element der Erklärung der gezeigten Verbrechen besteht demnach darin, dass die Frauen sich der Kontrolle durch Männer entzogen haben. In America’s Most Wanted geht Verbrechen mit der Ablehnung konventioneller Vorstellungen von Weiblichkeit durch die Täterinnen einher, fasst Bond-Maupin zusammen: „Stereotypical beauty establishes a victim’s value. Fat or masculine dress defines criminality.“ (ebd.: 43). Insgesamt zeigt sich also, dass der Alltag, wie er in Fahndungssendungen dargestellt wird, immer spezifischen Regeln folgt. Er ist nicht nur der Alltag einer bürgerlichen Kleinfamilie, sondern in ihm folgen die Personen auch festgelegten Rollenbildern.
6. Alltag in „Aktenzeichen XY … ungelöst“ Schon bei der kurzen Zusammenfassung einer Sendung von Aktenzeichen XY … ungelöst eingangs dieses Beitrages wurde deutlich, dass Alltag als Folie, vor der sich ein Verbrechen ereignet, hier eine wesentliche Rolle spielt. Dieser Alltag ist dabei immer der Alltag einer heilen Welt, wobei diese heile Welt durchaus auch kleine Probleme haben kann, die aber nur dazu dienen, den Charakter der alltäglichen Welt als heiler Welt zu unterstreichen (vgl. Pinseler 2003). Auch wenn der alte Mann im ersten Beitrag der Sendung kleine Probleme hat, seinen Alltag nach dem Tod seiner Frau zu bewältigen, so führt der Film ihn uns doch als Mann vor, der Freunde hat und ein angenehmes Leben führt. Noch deutlicher wird dies in den dann folgenden Filmbeiträgen. Die junge Frau, deren Auto geraubt wird, lebt zufrieden bei ihren glücklichen Eltern, ihr Vater bringt ihrer Mutter das Frühstück ans Bett, sie selber ist gut gelaunt, bis das Verbrechen in den Alltag einbricht. Ähnlich ist es bei der Polizistin, die mit Brötchen nach Hause kommt, zufrieden frühstückt, bevor sie in den Einsatz geht, bei dem sie
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ermordet wird. Auch die Landwirte, denen die Fotovoltaikplatten vom Dach geraubt werden, sind als erfolgreiche und umtriebige Unternehmer zu sehen, die auf die Installation der Platten erst einmal anstoßen. Erst die Diebstähle bringen ihren ruhig dahinfließenden Alltag aus dem Trott. Nur der Alltag des schwulen Mannes, der betäubt und ausgeraubt wird, ist nicht so grundsätzlich vom Verbrechen getrennt, schließlich nimmt er den Täter selbst mit in die Wohnung. Es scheint, so die Darstellung der Sendung, zu seinem Alltag zu gehören, fremde Männer mit nach Hause zu nehmen und sich so tendenziell dem Verbrechen auszuliefern. Entsprechend wird hier kaum ein Alltag vor dem Verbrechen gezeigt, der Alltag dieses Mannes selber ist es vielmehr, der das Verbrechen ermöglicht.3 Insgesamt kann man feststellen, dass der Alltag, wie er in Aktenzeichen XY … ungelöst geschildert wird, keinen Kontext hat und keine sozialen Unterschiede kennt. Vielmehr wird er als heile Welt dargestellt, die nur vom Verbrechen bedroht und den Charakter einer heilen Welt aufrechterhalten könnte, gebe es nur das Verbrechen nicht. Wenn man Alltag als „integralen Bestandteil der Lebensform in einer Gesellschaftsschicht und […] als Teil der gesamtgesellschaftlichen Machtstrukturen“ (Krotz/Thomas 2007: 34) versteht, dann ist für die mediale Darstellung des Alltags zu untersuchen, welche Vorstellungen von alltäglichem Leben hier als selbstverständlich dargestellt werden. Darin spiegelt sich ein spezifisches Verständnis von Normalität, dessen Durchsetzung in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und über Machtstrukturen ausgeblendet wird. Schon an den Beiträgen aus der vorgestellten Sendung von Aktenzeichen XY … ungelöst wird deutlich, dass hier nicht nur eine Darstellung von Kriminalität stattfindet, sondern die Darstellung von Alltag eine wesentliche Rolle spielt; eines Alltags, in den diese Kriminalität eindringt, den sie zerstört oder zumindest unterbricht. Dies gilt insgesamt für Darstellungen von Verbrechen in Aktenzeichen XY … ungelöst. Alltag ist hier implizit verknüpft mit einer spezifischen Vorstellung von Normalität, die spezifische Züge trägt: Sie ist die Normalität einer westeuropäischen heterosexuellen Kleinfamilie aus der Mittelschicht. Jede Abweichung von dieser Normalität ist erklärungsbedürftig – der alte Mann ist Witwer, die junge Frau lebt noch bei ihren Eltern – oder wird im Film ignoriert – wie bei dem schwulen Mann, der überfallen wird und dessen Barbesuch über die Bilder aus dieser Bar als exotisch inszeniert wird. Indem Aktenzeichen XY … ungelöst hier also einen spezifischen Alltag als gesellschaftliche Normalität vorführt, zeigt die Sendung Grenzen von Normalität auf und beteiligt sich so an einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung um Normalität und Abweichung. Die erfolgreiche gesellschaftliche Durchsetzung einer spezifischen Definition von Abweichung als verbindlich ist verknüpft mit 3
Vgl. zur Darstellung von Hetero- und Homosexualität in Fahndungssendungen Pinseler 2007.
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der Durchsetzung spezifischer gesellschaftlicher Vorstellungen als allgemeinverbindlich. Dieser Prozess kann bekanntlich als Herstellung von Hegemonie beschrieben werden. Herrschaft, so Gramsci, lässt sich auf Dauer nur über die Herstellung von Hegemonie sichern, also dadurch dass die Beherrschten in gewissem Maße Herrschaft als auch für sie vorteilhaft betrachten. Die Herstellung von Hegemonie wird, nach Gramsci, in der Zivilgesellschaft durchgesetzt, also in den dem Staat vorgelagerten Institutionen. Hierzu gehören ganz wesentlich die Massenmedien. Indem Aktenzeichen XY … ungelöst an das Alltagsverständnis von Verbrechen anknüpft, verknüpft es diese mit einem hegemonialen Konzept und versieht es mit Natürlichkeit. Was Normalität und was Abweichung ist, erscheint so selbstverständlich und gerade nicht hinterfragbar und stellt Hegemonie her: „Hegemonie bezeichnet geradezu den Kampf um die Aktivierung bestimmter Elemente des Alltagsverstandes, ihre Verknüpfung mit dem eigenen hegemonialen Projekt, wie auch die Desaktivierung anderer Elemente.“ (Marchart 2008: 81)
In Aktenzeichen XY … ungelöst findet genau diese wiederholte Aktivierung eines alltäglichen Verständnisses von Verbrechen, als von außerhalb einer Gesellschaft kommend statt. Dieses Verständnis wird über Inszenierungsstrategien authentisiert und so als reines Abbild von Wirklichkeit ausgegeben. Vordergründig werden dabei Verbrechen dargestellt mit dem erklärten Ziel, die Zuschauerinnen und Zuschauer an der Aufklärung dieser Verbrechen zu beteiligen. In der Vorstellung dieser Verbrechen wird aber zudem ein bestimmtes Verhalten als strafrechtlich relevantes Verhalten vorgeführt, diese Vorstellung im alltäglichen Verständnis durchgesetzt. Bestrafung für dieses Verhalten erscheint so als gerecht. Die kulturellen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, in denen sich spezifische Vorstellungen von Verbrechen und Strafen als gesellschaftlich verbindlich durchgesetzt haben, werden dagegen vollständig ausgeblendet.
7. Zusammenfassung Der Alltag, wie er in Aktenzeichen XY … ungelöst dargestellt wird, so hat sich gezeigt, ist ein beständig vom Verbrechen bedrohter Alltag. Menschen werden – in der Darstellung der Sendung – zu Opfern, weil sie leichtgläubig sind (wie der alte Mann, der in seiner Wohnung ermordet wird), weil sie hilfsbereit sind (wie der Mann, der eigentlich nur die Blumen in der Wohnung eines Freundes gießen wollte), weil sie unvorsichtig sind (wie die junge Frau, die Auto fährt ohne dies von innen zu verriegeln), weil sie nicht umfassend auf ihr Eigentum aufpassen (wie die Bauern, denen die Fotovoltaikplatten vom Dach gestohlen werden), weil sie ein Risiko eingehen (wie der schwule Mann, der einen Unbekannten mit nach Hause nimmt) oder weil sie ihr Schicksal herausfordern (wie die Polizistin,
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die ihren Kollegen überredet, den Dienst zu tauschen). Ihr alltägliches Leben wird als gewöhnlich, als ‚normal‘ vorgeführt. Worin diese Normalität besteht, wird in den Darstellungen der VerbrecherInnen deutlich, die die alltägliche Normalität zerstören. Auffallend ist, dass nur im Fall des überfallenen schwulen Mannes dessen Alltag kaum dargestellt und nur der Barbesuch gezeigt wird, der zu dem dargestellten Verbrechen führte. Wenn Alltag in Aktenzeichen XY … ungelöst als unhinterfragte, selbstverständliche Normalität gezeigt wird, dann ist dies immer ein Alltag weißer deutscher Menschen aus der Mittelschicht. Schon der Lebenswandel des schwulen Mannes scheint erklärungsbedürftig. Alltag wird in Aktenzeichen XY … ungelöst also auch ex negativo geschildert. Dies geschieht, indem vorgeführt wird, wie Alltag aussieht, der zu Abweichung führt, wie dies zum Beispiel geschieht, wenn die Polizisten „schräge Typen“ kontrollieren, ohne dass im Film diese Kontrolle und der folgende Platzverweis begründet werden muss. Diese Darstellungen einer spezifischen Vorstellung von Alltag als ‚normal‘ knüpfen an hegemoniale Vorstellungen an. Mit der Darstellung von Verbrechen können Normalität gezeigt und damit spezifische Normen- und Wertevorstellungen als allgemeingültig verkündet werden. In den Filmen in Aktenzeichen XY … ungelöst geht es zu einem großen Teil gar nicht um die Darstellung des Verbrechens selbst, vielmehr wird zumeist das Leben der Opfer vor der Tat ausführlich dargestellt. Vor dem Hintergrund einer alltäglichen ‚heilen Welt‘ der Opfer erscheint das Verbrechen, das von außen in den Alltag eindringt, dann umso böser. So entsteht das Bild einer Dichotomie von Gut und Böse, in der diese unterschiedlichen Welten angehören und sich gegenseitig ausschließen. Diese Gegenüberstellung erfolgt mit Hilfe von filmischen und rhetorischen Mitteln. Je weniger sich die Alltagswelt der Opfer und die außeralltägliche Welt der Täter berühren, desto mehr kann das Verbrechen als einfach böse beschrieben, muss es nicht als Bestandteil einer Gesellschaft erklärt werden und können Widersprüche zugunsten einer eindeutigen Ordnung aufgelöst werden. Diese Technik der dichotomen Gegenüberstellung von Gut und Böse ist nicht alleine Sendungen wie Aktenzeichen XY … ungelöst vorbehalten, sie scheint vielmehr eine allgemein verbreitete Technik zur medialen Darstellung von Abweichung zu sein. Darauf deuten jedenfalls Studien zu Horrorfilmen (vgl. Wulff 1985) und zur Verbrechensdarstellung in Nachrichten (vgl. Ericson u.a. 1991) hin, die hierfür jeweils einen ähnlichen Mechanismus beschreiben. Diese schwarz-weiß-Zeichnung von Gut und Böse – in der zudem auch in der bildlichen Darstellung das Böse häufig aus dem Dunkeln kommt und in die hell erleuchtete Welt des Guten eindringt – erleichtert es dann auch, den Ausschluss des Bösen zu fordern und diese Forderung bis zu Ausschlusskampagnen zuzuspitzen. Das Böse erscheint hier als an sich böse, es muss nicht weiter erklärt werden. Und gerade weil die Darstellung sich dieser schwarz-weiß-Malerei
Der gefährdete Alltag. Oder: Wie „Aktenzeichen XY … ungelöst“ die Welt sieht
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bedient, können spezifische Wertvorstellungen als natürlich und allgemein verbindlich dargestellt werden. Wer von diesen Wertvorstellungen abweicht, der ist immer in Gefahr, sich in die Welt des Bösen zu begeben, sich selber aus der Welt des Guten auszuschließen. Somit versehen mediale Darstellungen des Bösen auch die herrschende Gesellschaftsordnung mit Legitimität, indem sie sie als alternativlos hinstellen.
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„Desperate Housewives“ – Dimensionen weiblichen Alltags Brigitte Hipfl
Mein Name ist Mary Alice Young. Wenn Sie die heutige Morgenzeitung lesen, stoßen Sie vielleicht auf einen Artikel über den ungewöhnlichen Tag, den ich letzte Woche erlebte. Normalerweise passierte in meinem Leben nichts Außergewöhnliches, aber das änderte sich am letzten Donnerstag. Zunächst erschien alles völlig normal: Ich machte meiner Familie das Frühstück, ich erledigte meine Hausarbeit, ich beendete meine Projekte, ich machte meine Besorgungen. Um die Wahrheit zu sagen, ich verbrachte den Tag genau wie jeden anderen Tag, indem ich still meiner täglichen Routine nachging, bis alles in Perfektion erstrahlte. Umso erstaunlicher war es, als ich beschloss, in meinen Flurschrank zu gehen und einen Revolver hervorzuholen, der noch nie benutzt worden war. Meine Leiche wurde von meiner Nachbarin entdeckt, Mrs. Martha Huber, die von einem eigenartigen knallenden Geräusch erschreckt worden war.
Dieser Text, gemeinsam mit Bildern von gepflegten Häusern und Vorgärten einer US-amerikanischen Vorstadtstraße, leitet die erste Folge der Fernsehserie Desperate Housewives ein. Es ist ein dramatischer Einstieg in den Lebensalltag von fünf Frauen, der in dieser Serie auf die Bereiche fokussiert ist, die den Frauen traditionellerweise zugeschrieben werden – Partnerschaft, Familie und Heim. Gleich zu Beginn wird schon ersichtlich, dass das, was auf den ersten Blick so ideal, perfekt oder heimelig wirkt, noch andere Dimensionen hat, die sich erst bei genauerem Hinschauen erschließen. Diese Dimensionen und Aspekte näher zu beleuchten, ist das Ziel dieses Beitrages. Dazu wird in einem ersten Schritt das Werkzeug vorgestellt, mit dem gearbeitet wird, um die Komplexität und die Widersprüchlichkeiten, die den Alltag der weiblichen Hauptakteurinnen von Desperate Housewives ausmachen, besser zu verstehen. Danach wird die räumliche Dimension des Alltags in Desperate Housewives, und damit die sozio-kulturelle Bedeutung der amerikanischen Vorstadt, genauer in den Blick genommen. Zum Schluss wird das aus der Psychoanalyse stammende Konzept des Unheimlichen benutzt, um eine kritisch-dekonstruktive Lesart der Fernsehserie vorzuschlagen. Dies macht es möglich, einen Aspekt theoretisch zu beleuchten, der in der Werbung für die Serie immer im Mittelpunkt stand – die mysteriösen und geheimnisvollen Vorgänge in der Wisteria Lane1.
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Wisteria Lane ist der Name der Straße, in der die Handlung bei Desperate Housewives angesiedelt ist.
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1. Alltag – eine Annäherung aus feministischer, Cultural Studiesund kulturgeographischer Perspektive Die Auseinandersetzung mit Desperate Housewives wird aus einer Perspektive vorgenommen, die von den Cultural Studies, feministischer Theorie und Konzeptionen aus der Kulturgeographie beeinflusst ist: Aus den Cultural Studies wird der Fokus auf die gewöhnlichen Praktiken des Alltags und die Bedeutungen, die damit erzeugt werden (vgl. z.B. Bromley 1999) übernommen. Den alltäglichen Praktiken kommt insofern eine so zentrale Rolle zu, als sie gleichzeitig Produkte und konstituierende Elemente der widersprüchlichen Beziehungen, Machtverhältnisse und Fantasien sind, die den Lebensalltag ausmachen. Sie sind sowohl durch die je spezifischen Rahmenbedingungen bestimmt, gleichzeitig halten sie diese Rahmenbedingungen aufrecht bzw. können sie diese verändern. Die feministische Theorie schärft den Blick dafür, die Geschlechterverhältnisse dabei nicht aus den Augen zu verlieren. Hilfreich für das Verständnis des Alltags der Frauen in Desperate Housewives finde ich das Konzept der Frauenformen, das Frigga Haug mit der von ihr geleiteten Forschungsgruppe entwickelt hat (vgl. Meyer-Siebert 1999). Mit Frauenformen sind die fertigen Formen gemeint, „die die einzelnen Individuen in jeder Epoche vorfinden und in die hinein sie ihre Persönlichkeit entfalten können und müssen. Damit sind die eigenen Aktivitäten ebenso einbezogen in die Untersuchung wie die Bedingungen, die die einzelnen ergreifen: Formierung ebenso wie Selbstformung. Zugleich transportiert der Begriff noch eine Zusatzbedeutung: Frauenformen, das sind auch die Idealmaße, in die Frauen sich zwängen, körperlich ebenso wie seelisch, es sind die Idealisierungen und ihre Wirklichkeiten und zugleich die Träume und Hoffnungen von Selbstverwirklichung.“ (Meyer-Siebert 1999: 866–867)
Haug hat damit bereits in den 1980er Jahren ein Konzept entwickelt, das Vergesellschaftung in dialektischer Weise als Organisation von Zustimmung und selbsttätiger Einpassung begreift und das, ohne dass es von ihr damals angesprochen wurde, in vielen Punkten mit dem gegenwärtig stärker diskutierten Konzept der Gouvernementalität von Foucault (vgl. etwa Bröckling/Krasmann/Lemke 2000) übereinstimmt. Die Kulturgeographie weist darauf hin, dass der Alltag an bestimmten Orten gelebt wird und daher genauer untersucht werden sollte, was für Orte dies sind und in welcher Weise dort welche Körper wie agieren und interagieren. Hierbei handelt es sich um Fragen von großer politischer Relevanz, da aufgrund ungleicher gesellschaftlicher Machtverhältnisse nicht alle Körper an allen Orten präsent sind, sondern diese je nach Geschlecht, ‚Rasse‘, sozialer Zugehörigkeit, sexueller Präferenz usw. nicht nur in unterschiedlicher Weise agieren sondern gerade auch durch die unterschiedlichen Praktiken und Geographien bestimmter Orte in spezifischer Weise konstituiert werden (vgl. z.B. Nast/Pile 1998). Gleich-
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zeitig kommt hier ein Verständnis von Raum zum Tragen, demzufolge Räume nicht einfach gegeben sind und als neutrale, leere Container fungieren, in denen soziale Praktiken stattfinden. Vielmehr werden Räume ebenfalls durch soziale Praktiken konstituiert (vgl. Hipfl 2004). Wir haben es hier also mit einer gegenseitigen Bedingtheit der zeitlich-räumlichen Bedingungen und der sozialen Praktiken zu tun, in der Machtverhältnisse zum Ausdruck kommen und gleichzeitig hergestellt werden. Es ist dieses vielfältige Zusammenspiel, gestützt von Fantasien, das die verschiedenen Bedeutungen eines Raums bestimmt. Henri Lefebvre (1991) hat vorgeschlagen, die Komplexität von Raum als etwas sozial Gemachtes anhand von drei Feldern oder Registern von Raum, die immer zusammenspielen, zu fassen. Einmal ist dies die materielle Dimension des Raums, die direkt erfahrbar, wahrnehmbar und empirisch fassbar ist. Dazu zählen alle Produkte wie Bauten, Wohn-, Park- und Freizeitanlagen, Straßen, Zäune etc., die von Menschen in spezifischen Kontexten hergestellt wurden. In diesen Konstruktionen werden gesellschaftliche Machtverhältnisse wirksam, indem sie uns bestimmte Handlungsweisen nahe legen. Lefebvre verwendet für dieses Register des Raums die Begriffe physikalischer Raum oder „perceived space“ bzw. „spatial practice“. Wichtig ist ihm dabei der dialogische Charakter, der für die Beziehung zwischen Menschen und Raum konstitutiv ist. Das zweite Register umfasst die Vorstellungen, die zu diesem physikalischen Raum entwickelt werden. Hier geht es also um die Art und Weise, wie über einen bestimmten Raum gesprochen wird. All die verschiedenen Repräsentationsmodi, von Gesetzen, informellen Regeln bis zu Erzählungen, Filmen, Bildern, Liedern usw. sind dabei von Interesse, werden doch in ihnen – wenn auch in sehr unterschiedlicher Weise – die Diskurse sowie Macht- und Kontrollbeziehungen, die alles Räumliche konstituieren, thematisiert. Lefebvre spricht in dem Zusammenhang von mentalem Raum, „conceived space“ oder „representations of space“. Das dritte Register, von Lefebvre als „lived space“ bezeichnet, umfasst das tatsächliche Leben, das in den je spezifischen räumlichen Bedingungen und Wechselwirkungen stattfindet. Hiermit sind die komplexen Wechselbeziehungen zwischen den Menschen und den von ihnen konstruierten Räumen angesprochen, die sich in den sozialen Praktiken, die selbst wieder voller Widersprüche sind, äußern. All unsere performativen Akte finden in bestimmten Räumen mit den ihnen eigenen Strukturen und Machtrelationen statt, die bestimmte Formen von Aktivitäten ermöglichen und andere einschränken. Für die Analyse des Alltags in der Fernsehserie Desperate Housewives wird in einem ersten Schritt untersucht, wo die Handlung angesiedelt ist – in einer amerikanischen Vorstadt. Die drei Lefebvreschen Register fungieren dabei als eine Art Leitfaden, indem zuerst auf die Konstruktion dieses spezifischen Raums (perceived space) und auf die Diskurse zu und Repräsentationen von Vororten (conceived space) eingegangen wird. Dabei greife ich auf Studien
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zurück, die diese Vororte als historisch-spezifische Produkte und als Resultat einer ‚rassen‘- und klassenbezogenen Interessenskonstellation darstellen. Die Frage der Entstehung der amerikanischen Vororte und der Art und Weise, wie über sie gesprochen wurde, liefert nicht nur einen wichtigen Kontext für das Verständnis des gelebten Alltags in diesen Vororten (lived space), wie er exemplarisch in Desperate Housewives gezeigt wird. Sie ist, folgt man Lefebvre, mehr als bloß Kontext, sondern Bestandteil der Wechselbeziehungen, die das Register der gelebten Erfahrungen charakterisieren.
2. Die Vorstadt-Familie als amerikanisches Idealbild Die amerikanischen Vorstädte, in denen der Großteil der Bevölkerung in den USA lebt, werden sehr unterschiedlich bewertet (vgl. etwa Scanlon 2006: 731). Einerseits gelten sie als das sichtbarste Zeichen der Realisierung des amerikanischen Traums, wonach jeder und jede es zu einem bestimmten Wohlstand bringen und sein bzw. ihr eigenes Haus besitzen könne. Andererseits werden Vorstädte häufig als Materialisierung eines nichtssagenden, homogenen Amerika abgewertet und als ein Ort beschrieben, der durch sterile Konformität gekennzeichnet ist (vgl. auch Elias 2006). Kenneth Jackson (zit. in Scanlon 2006: 732) führt in seiner Geschichte der Suburbs aus, dass das Konzept der Vororte in den USA in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Fuß zu fassen begann. Damals galten zwar Städte als die kulturellen Zentren, gleichzeitig war es nicht sehr attraktiv, in der Stadt zu leben. Vor allem Angehörige der weißen Mittelschicht klagten über zu wenig Platz und schlechte sanitäre Einrichtungen. Dazu kam die Sorge, dass es als Folge dieser Lebensbedingungen zu einer Zunahme an unsozialem, gewalttätigem Verhalten komme. Vor diesem Hintergrund gewann die Vorstellung von eigens geschaffenen, außerhalb der Stadt großräumig angelegten und sauberen Communities, immer mehr an Attraktivität. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, die in den USA von einem Rekord an Eheschließungen und dem so genannten Babyboom gekennzeichnet war, war der Wohnbedarf besonders hoch (vgl. Spigel 1992: 33). Mit dem Housing Act von 1949, mit dem Bauunternehmer finanzielle Anreize zum Bau von Einfamilienhäusern in Vororten erhielten, startete die amerikanische Regierung eine Initiative, um das Wohnproblem zu lösen. Durch günstige staatliche Kredite wurde es auch jungen Familien ermöglicht, sich ein eigenes Haus leisten zu können. Politische und ökonomische Interessen haben sich in dem Fall gegenseitig gestützt. Die Regierung löste das Wohnproblem in einer Weise, mit der ihre Vorstellung vom American Way of Life untermauert wurde und subventionierte gleichzeitig eine Entwicklung, die für Immobilien-Makler und Baufirmen zum großen Geschäft wurde. Die Vorstadtsiedlungen wurden zu einer imaginä-
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ren Landschaft, in die die Amerikaner und Amerikanerinnen ihre Ambitionen von sozialem Aufstieg und Wohlstand, sowie ihre Vorstellungen von Freiheit, privatem Eigentum und einem harmonischen Zusammenleben projizierten (vgl. Hayden 2003: 4). In welcher Weise diese Bilder und Vorstellungen als Stütze der hegemonialen politischen Diskurse jener Zeit fungierten, in denen sich die USA als Gegenmodell zum Kommunismus positionierten, wird an Aussagen von Bauunternehmern deutlich, die Hayden zitiert. So sprachen diese z.B. davon, dass der Kauf eines Einfamilienhauses und die Verschönerungen und Verbesserungen, die in der Folge ständig gemacht würden, den Effekt hätten, dass die Besitzer sicher keine Kommunisten werden würden. Denn sie müssten viel arbeiten, um sich das alles leisten zu können. Wie sehr der Bau der amerikanischen Vorstadtsiedlungen von der kapitalistischen Ideologie bestimmt war, kann man u.a. daran erkennen, dass das Hauptaugenmerk auf die Errichtung der Häuser gerichtet war, dagegen die dazu gehörige Infrastruktur und der Ausbau eines öffentlichen Verkehrsnetzes stark vernachlässigt wurden. Die Bewohner und Bewohnerinnen waren auf Autos angewiesen. Dies hatte zur Folge, dass pro Haus mindestens zwei Autos benötigt wurden – eines vom Mann für den Weg zur Arbeit und eines von der Frau für die Einkäufe und die übrigen Wege, die sie in der Erfüllung der Hausarbeiten und Betreuung der Kinder zu erledigen hatte. Mit dem Heranwachsen der Kinder wurden dann noch mehr Autos, sowie größere Häuser und Garagen gebraucht. Vor diesem Hintergrund ist gut nachvollziehbar, warum die Suburbs als Herz des amerikanischen Kapitalismus gelten. Verbunden damit war die Vorstellung, dass die soziale Klasse keine Rolle spielt und allen die Realisierung dieses von der Regierung sanktionierten Idealbildes von der Familie, die im eigenen, modernen Haus in der Vorstadt lebt, offen steht. De facto waren es jedoch fast ausschließlich Weiße aus der Mittelschicht, die diese Möglichkeit nutzen konnten. Grund dafür waren die Preispolitik und verschiedene Zugangsrestriktionen, die zu neuen Formen der Segregation führten. So waren die Preise für die Häuser so hoch angesetzt, dass sie für Familien mit geringerem Einkommen zu teuer waren. Außerdem wurden Schwarzen keine Kredite gewährt, sodass sich in den Vororten eine aus ‚Rassen‘- und Klassenperspektive sehr homogene Gruppe ansiedelte, die das Ideal des American Way of Life repräsentierte. Die Suburbs waren auf dem Reißbrett entworfene, vorfabrizierte Räume, die, wie Spigel (2001: 15) meint, von Leuten geplant wurden, die damit den damals vorherrschenden kulturellen Vorstellungen eine materielle Form gaben. Diese massenhaft produzierten Vorort-Siedlungen stehen für die Träume und Fantasien der Amerikaner und Amerikanerinnen in der Nachkriegszeit und für spezifische soziale Praktiken, mit denen Bedeutungen und Identitäten produziert werden. Die Familie, die außerhalb der Stadt in einer der neu gebauten Vorstadtsiedlungen im eigenen, modernen Haus mit Garten lebte, repräsentierte das
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Idealbild dieser Vorstellungen. Damit wurden auch ganz praktische Hoffnungen verknüpft, wie etwa, dass nach zwei Jahrzehnten, die von Schocks und sozialen Dislozierungen gekennzeichnet waren, wieder Stabilität und Sicherheit zurückkehrten (vgl. Spigel 1992: 2). Diese Betonung des Häuslichen ist allerdings, so Spigel (1992: 33f.), mehr als die bloße Rückkehr zu viktorianischen Vorstellungen von wahrer Weiblichkeit oder zu den Familienidealen der Vorkriegszeit. Ihrer Meinung nach handelt es sich eher um ein Update dieses Familienideals, das im Kontext der Nachkriegserfahrungen neu verhandelt wird. Es ist ein Versuch, die Widersprüche zu überdecken, die sich aus der traditionellen Frauenrolle und den modernen Lebensbedingungen für Frauen ergeben. Das Bild der Familie, die im eigenen Haus im Vorort lebt, stellte zu der Zeit eine sehr wirkkräftige utopische Fantasie dar, die in einer verwirrenden sozialen Umwelt sowohl materiellen Nutzen als auch persönliche Stabilität versprach. Für Spigel (2001: 17) sind die Vororte historische Konstrukte, in denen die auf den ersten Blick widersprüchlichen, gleichzeitig voneinander abhängigen Werte wie Privatheit und Öffentlichkeit ausgehandelt werden. Spigel (2001: 32) beschreibt Vororte als einen spezifischen diskursiven Raum, der es den Familien ermöglicht, so gegensätzliche Bedürfnisse wie den Wunsch nach privatem Rückzug und dem nach Teilhabe an einer Gemeinschaft miteinander zu verbinden. Das Design der Vororte bildete die strukturellen Rahmenbedingungen für diesen diskursiven Raum. Die Straßen und Häuser waren so angelegt, dass die einzelnen Häuser einerseits direkt aneinander angrenzten bzw. durch die Straße voneinander getrennt waren, sodass sie beides versprachen – sich in den Privatbereich zurückziehen bzw. sich in die jeweilige Community integrieren zu können. Bei der Architektur der Häuser erfüllten die großen Fenster die Funktion, die scharfe Grenzziehung zwischen innen und außen zu mildern. Dies war, so Spigel, eine Form der Vermittlung zwischen privat und öffentlich, die in der Nachkriegszeit in den USA sehr verbreitet war. In diesen Vororten entwickelte sich eine neue Form von Nachbarschaft, die vor allem durch Homogenität gekennzeichnet war (vgl. Spigel 2001: 33, 42). Die jungen, aufstrebenden, weißen Mittelschicht-Familien fanden sich nun – meistens getrennt von ihrem früheren Freundschafts- und Familienverband – in dieser vorfabrizierten Nachbarschaft wieder. Dort waren sich die Bewohner und Bewohnerinnen hinsichtlich Alter, Einkommen, Hautfarbe und Familienstruktur sehr ähnlich; sie repräsentierten das Idealbild der amerikanischen (Kern-)Familie und reproduzierten dieses Ideal gleichzeitig wieder. Die Häuser waren für Familien geplant – Platz für alte Menschen, Alleinstehende, Schwule, Lesben oder Obdachlose war nicht vorgesehen. Als passender Ort für diese Menschen galt die Stadt. Hier wird deutlich, dass der Wunsch, in einem Vorort zu leben, von der Fantasie gestützt wird, dass man sich in diesen Vororten unter Gleichen befindet und das Leben deshalb vertraut und sicher sei. Damit verknüpft ist auch die
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Vorstellung, dass sich aufgrund der demographischen Gemeinsamkeiten und der räumlichen Nähe so etwas wie ein Gemeinschaftsgefühl entwickelt, das als Ersatz für die zurückgelassenen Freundschaften fungiert. Inzwischen hat sich die demographische Situation in den Vorstädten zwar stark verändert, lebt nun doch auch der Großteil der Bevölkerung mit afroamerikanischem, asiatischem oder Latino-Hintergrund in den Vorstädten. Aber trotzdem wird das allgemeine Bild von amerikanischen Vorstädten nach wie vor mit der weißen Mittelschicht verknüpft (vgl. Scanlon 2006: 733f.).
3. Frauen in den Vororten Heftige Kritik an den Vororten kam in den 1960er Jahren insbesondere aus feministischer Perspektive. Betty Friedan weist in ihrem Buch Der Weiblichkeitswahn oder die Selbstbefreiung der Frau (1966) darauf hin, dass die Realisierung des amerikanischen Traums nur aufgrund der Hegemonie eines bestimmten Frauenbildes möglich war. Nach den Krisen und sozialen Problemen, die die Depression und der Zweite Weltkrieg mit sich brachten, war das Interesse in den USA besonders stark auf das Familienleben und auf häusliche Ideale gerichtet, die Stabilität symbolisieren. Dies zeigte sich auch in dem Diskurs zur Weiblichkeit, der zu der Zeit dominierte: Ihre wahre Erfüllung findet die Frau in ihrer Weiblichkeit und im Ausfüllen ihrer Rolle als Ehefrau und Mutter. Entsprechend richteten, so Friedan (1966: 15–16) „Millionen Frauen (…) ihr Leben nach dem hübschen Vorbild der amerikanischen VorortHausfrau ein, die vor dem großen Wohnzimmerfenster mit einem Kuß von ihrem Mann Abschied nimmt, ihre Wagenladung voll Kinder in der Schule abliefert und strahlend lächelnd mit der neuen elektrischen Bohnermaschine den makellosen Küchenboden wachst. Sie buken ihr Brot selbst, schneiderten ihre eigenen und ihrer Kinder Kleider und hatten die neue Waschmaschine und Schleuder den ganzen Tag in Betrieb. Sie wechselten die Bettwäsche zweimal wöchentlich statt einmal, lernten in Abendkursen Teppichknüpfen und bedauerten ihre armen frustrierten Mütter, die von einem Beruf geträumt hatten. Ihr einziger Traum war, vollkommene Ehefrauen und Mütter zu sein (…).“
Friedans Buch kann wie eine Illustration des Haugschen Konzepts der Frauenformen gelesen werden: Friedan beschreibt, wie Frauenzeitschriften, Fernsehsendungen und Werbung gemeinsam das Ideal- und Leitbild der Frau schaffen, das zur Normvorstellung für die Lebensentwürfe der jungen Frauen wird. Anhand der Interviews, die sie mit College-Absolventinnen führt, wird nachvollziehbar, wie sich die Frauen selbst in diese vorgegebenen Frauenformen einpassen. Die Interviews führen auch die psychischen Auswirkungen dieses Frauenleitbildes vor. Friedan beschreibt, wie die alltäglichen Praktiken, die die Frauen Tag für Tag wiederholen, in einem „namenlosen, schmerzlichen Unbefriedigtsein“ (Friedan 1966: 27), im vagen, undefinierbaren „Verlangen nach ‚etwas mehr‘
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als Geschirrspülen, Bügeln, Bestrafen und Loben der Kinder“ (Friedan 1966: 43) resultieren. Für Friedan ist das die Kehrseite des „Weiblichkeitswahns“, der Frauen auf die Rolle der Hausfrau und Mutter reduziert und sie „dazu bringt, ihren Verstand zu verleugnen“ (Friedan 1966: 46). Für Friedan, wie auch für viele Feministinnen nach ihr, liegt der einzige Weg aus dieser Misere für Frauen im Durchbrechen dieses Diskurses – indem sie einen Lebensplan entwickeln, in dem Ehe und Mutterschaft mit lebenslangen persönlichen Anliegen, wie Beruf oder Karriere, kombiniert werden können (Friedan 1966: 221). Friedans Lösungsvorschlag ist ein Versuch, die Trennung zwischen dem privaten, in erster Linie von Frauen ausgefüllten Raum und dem von Männern dominierten öffentlichen Raum zu überwinden. Dieses Thema wurde in der Folge zu einer zentralen Forderung der Frauenbewegung und wurde ausgiebig in der feministischen Forschung bearbeitet. Dabei ist jedoch mitzuberücksichtigen, dass eine so klare Trennung des Lebensalltags von Frauen und Männern, bei der die Frauen sich, wie Friedan beschreibt, auf Kinder und Heim, die Männer auf die Erwerbsarbeit orientieren, nicht durchgängig der Fall ist. Vielmehr ist dies ein Phänomen, das überwiegend auf Angehörige der Mittelschicht zutrifft. Dort waren zwar auch viele Frauen erwerbstätig um ein zweites Einkommen beizusteuern. Aber da es sich meist um schlecht bezahlte und wenig befriedigende Arbeit handelte, fand die Idee, dass Frauen sich zuhause stärker verwirklichen können als bei ihren „pink-collar“ Jobs, breite Zustimmung (vgl. Spigel 1992, 33). Bei Frauen aus anderen sozialen Gruppen war die Situation ohnehin anders. So waren Frauen aus der Arbeiterklasse, alleinstehende Frauen und Witwen fast immer genötigt, zu arbeiten und daneben den Haushalt zu führen. Viele Frauen aus der Oberschicht engagierten sich außerdem in Wohltätigkeitsvereinen oder bei Kunstveranstaltungen. Friedan veranschaulicht mit ihren detailreichen Beschreibungen eine wichtige feministische Einsicht – nämlich, dass die Trennung in eine private und eine öffentliche Sphäre Effekt einer sozial und politisch motivierten Organisation des sozialen Raums ist, bei der dem Geschlecht eine zentrale Rolle zukommt (vgl. Spigel 2001: 9f.). Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war in den USA gekennzeichnet von einer Knappheit an Arbeitsplätzen und einem Revival von Familie und Häuslichkeit. Unter Bezugnahme auf Studien von Elaine Tyler May argumentiert Spigel (1992: 34), dass dem Häuslichen in dieser von der Logik des Kalten Krieges geprägten historischen Phase die Funktion zugeschrieben wurde, die verschiedenen sozialen Probleme zu lösen. Egal ob es sich um sexorientierte Teenager oder um Bedrohungen durch den Kommunismus handelte, die Lösung wurde immer im Privaten, eben in der Familie, gesehen. Vor dem Hintergrund wird verständlich, warum der Familie und damit auch dem Idealbild des Familienlebens in den Vorortsiedlungen ein utopisches Potential zugeschrieben wurde. Es wurde davon ausgegangen, dass es nur auf der Basis eines
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funktionierenden Familienlebens möglich sei, sich den aktuellen Herausforderungen zu stellen und eine neue Zukunft zu entwickeln (vgl. Spigel 1992: 34). Gleichzeitig war diese historische Phase gekennzeichnet von Modernisierungsprozessen und der Entwicklung einer auf Konsum ausgerichteten Gesellschaft. Es wurden Produkte für das individuelle Heim entwickelt, mit denen vor allem die Frau als Konsumentin angesprochen wurde. Die neuen Haushaltsgeräte, von der Waschmaschine bis zum Geschirrspüler, versprachen eine Professionalisierung der Hausarbeit: Sie würden den Hausfrauen einen Großteil ihrer Arbeit abnehmen, sie von schwerer körperlicher Arbeit entlasten und zu einer Managerin und Designerin des Hauses machen. Diese Entwicklungen werden aus feministischer Warte unterschiedlich diskutiert. Friedan problematisiert, dass diese Diskurse die Frauen zwar mit einem attraktiv und modern erscheinenden Label versehen, sie aber erneut auf die traditionelle Geschlechterrolle festlegen. Folgt man den Ausführungen von Patty Sotirin, Patrice Buzzanell und Lynn Turner (2007: 248f.), wonach sich Managementdenken und die Priorität technisch-rationaler Logik – von ihnen als „Managerialismus“ bezeichnet – zunehmend auch in der Familie durchzusetzen beginnen, dann kann die Rede von der Professionalisierung der Hausarbeit als ein Beispiel dafür interpretiert werden. Die drei Autorinnen verorten die erste Phase dieser Entwicklung um 1900, als begonnen wurde, Prinzipien des Taylorismus auch auf Heim und Familie zu übertragen. In der Nachkriegszeit, Mitte des 20. Jahrhunderts, in der humanistische Managementmodelle dominierten, kommt der Mutter die zentrale Rolle dabei zu, dass die Familie als sicherer Hafen bestehen kann. In der gegenwärtigen, von Diskursen des Unternehmertums und Unternehmergeistes dominierten gesellschaftlichen Situation, wird, so zeigen Sotirin, Buzzanell und Turner anhand der Analyse einschlägiger Ratgeberliteratur auf, von der Familie erwartet, dass sie die notwendigen Ressourcen bereitstellt, damit sich die Familienmitglieder auf ein ‚Leben-als-Karriere‘ vorbereiten können. Mütter entsprechen in diesem Modell den CEOs2 bei Unternehmen. Sotirin, Buzzanell und Turner (2007: 248f.) kritisieren in ihrem Beitrag die Ideologie des Managerialismus, die verspricht, dass mit ‚besserem Management‘ alle sozialen Probleme gelöst werden können, dabei aber eine Entpolitisierung von Alltagspraktiken bewirkt und eine moralische Ordnung favorisiert wird, bei der Effizienz und Effektivität sowohl Mittel als auch angestrebtes Ziel sind. Eine ganz andere Position vertritt etwa Judy Giles (2004), wenn sie davon spricht, dass die Organisation und Gestaltung des Heims von Frauen auch als sehr befriedigend erlebt werden kann, weil ihnen damit neue, positiv besetzte Identitätspositionen bereit gestellt werden. 2
CEO ist die Kurzbezeichnung für Chief Executive Officer und beschreibt die Tätigkeit von Personen, die in der Führung von Unternehmen die letzte Entscheidungsbefugnis haben.
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4. Fernsehen in den Vororten, Vororte im Fernsehen Spigel stellt in ihren Arbeiten eine Verbindung her zwischen den Fantasien, die mit den Vororten verknüpft sind und denen, die sich auf das in der Nachkriegszeit immer populärer werdende Fernsehen beziehen. Wie bereits angesprochen, beruht das große Interesse am Leben in Vororten auf der Vorstellung, dass dort das Bedürfnis nach Privatsphäre und einem, im Unterschied zur Stadt und ihren nicht zu vermeidenden Sozialkontakten, selbstbestimmten, auf eigenen Entscheidungen beruhendem Alltagsleben befriedigt wird (vgl. Lasch 1994) und sich gleichzeitig mit dem Bedürfnis nach der Zugehörigkeit zu einer Community verbinden lässt. In diesem Kontext wird nun das Fernsehen als eine technische Entwicklung angepriesen, die als „Fenster zur Welt“ das öffentliche Leben ins private Wohnzimmer bringen kann, also ein ideales Medium der Verbindung von privat und öffentlich ist. Gleichzeitig wird dem Fernsehen das Potential zugeschrieben, den Alltag der Menschen weiterhin sauber und sicher zu erhalten. Denn der Fernsehkonsum findet zuhause im trauten Heim statt und sorgt, so die damals vorherrschende Meinung, auch dafür, dass sich Kinder und Jugendliche lieber zuhause als in möglicherweise problematischen Umgebungen aufhalten. Das Fernsehen hat aber auch direkt das Leben in den Vororten thematisiert und damit wesentlich dazu beigetragen, dass sich ein bestimmtes Bild vom Leben in den Vororten durchgesetzt hat (vgl. Beuka 2003: 3). Wie Spigel (2001: 43) ausführt, wird in der Nachkriegszeit vor allem in den unzähligen Situationskomödien ein romantisiertes Bild nachbarschaftlicher Beziehungen gezeigt. Die Interaktionen unter den Nachbarn erscheinen wie die unter lebenslangen Freunden und wirken damit gewissermaßen als Heilmittel gegen die Angst vor Isolation, die mit dem Wechsel von den Städten in die Vororte verbunden war. Später war das Leben in den Vororten ein beliebter Topos in Filmen und Fernsehserien, um die Ambivalenzen und dunklen Seiten der amerikanischen Gesellschaft anzusprechen. Robert Beuka (2003: 1) meint sogar, dass in fast allen amerikanischen Filmen, in denen es um Suburbs geht, diese als Dystopie gezeichnet werden – als künstlich geschaffene Orte, an denen das Leben als entfremdet und eingeschränkt erlebt wird. Dies trifft auf Filme wie Die Truman Show, Pleasantville, American Beauty oder Far From Heaven zu, die nach Beuka Ausdruck des zwiespältigen Verhältnisses der Amerikaner und Amerikanerinnen zu den Vororten sind. Dieses zwiespältige Verhältnis hat, so Beuka, mehrere Gründe. Einmal repräsentieren die Vororte die Sehnsüchte und Ängste der amerikanischen Mittelschicht. Dazu kommt die spezifische Konstellation der Vororte als Raum, der sich nicht in das Gegensatzpaar von Stadt und Land einordnen lässt. Vororte sind weder Stadt noch Land und haben aufgrund der exakten, einheitlichen Planung auch keinen spezifischen Charakter. Für Beuka sind Vororte Prototypen dessen, was Fredric Jameson als „postmodern hyperspace“
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bezeichnet – es fehlt ihnen ein vom Ort ausgehender Sinn für die eigene Identität. Mit Marc Augé (1994) könnte man Vororte auch als Nicht-Orte bezeichnen. Breuka weist auch darauf hin, dass oben genannten Filmen ein Motiv gemeinsam ist – sie nutzen die Vororte der 1950er Jahre um einen sozialen Kommentar zur gegenwärtigen Situation abzugeben. Das funktioniert deshalb so gut, weil die Vororte in den USA zu einer Metapher für den amerikanischen Way of Life geworden sind (vgl. Beuka 2003: 2). Bevorzugt wird in den populärkulturellen Beispielen die Kehrseite des Idealbildes vom Leben in den Vororten thematisiert. Dazu gehören etwa die klaustrophobischen Gefühle der Menschen, die dort leben, da es ihnen aufgrund der Konstruktionsweise dieser Wohnanlagen nicht möglich ist, sich den Blicken der Nachbarn zu entziehen. Entsprechend groß ist der soziale Druck, hinsichtlich Konsumgütern und Lebensstil mit den Nachbarn mitzuhalten. Gerne werden die Vorstädte auch als Brutstätten von Neurosen und rebellischen Jugendlichen, als Gefängnisse für Hausfrauen bzw. als Orte, an denen die Männer ihrer Männlichkeit beraubt werden, repräsentiert (vgl. Breuka 2003: 4). Meine Lesart von Desperate Housewives geht in die von Breuka angesprochene Richtung. Mithilfe des auf Sigmund Freud zurückgehenden Konzeptes des Unheimlichen werde ich argumentieren, dass Desperate Housewives auch die Seiten des Alltags beleuchtet, die üblicherweise verdeckt bleiben. In diesem Sinne interpretiere ich diese Fernsehserie als einen Kommentar zum gegenwärtigen Alltag von Frauen.
5. „Desperate Housewives“ – Einblick in die ‚unheimlichen‘ Grundlagen des (weiblichen) Alltags Wenn man, wie Barbara Creed (2005: 483), davon ausgeht, dass Alltag nicht nur das umfasst, was unauffällig und gewöhnlich ist, sondern ebenso Ereignisse, die das Vertraute und die Routine stören, dann wird deutlich, dass zum Alltäglichen auch all das gehört, das auf den ersten Blick als sein Gegenteil erscheint – das Außergewöhnliche und Nicht-Vertraute. Alltag ist also nicht so stabil und unveränderlich, wie dies meist angenommen wird, sondern beinhaltet immer auch das Nicht-Alltägliche, das uns befremdlich, irritierend oder unheimlich erscheint. Sigmund Freud (1970: 249f.) hat in seiner Untersuchung des Unheimlichen aufgezeigt, dass das Bedeutungsfeld des Wortes ‚heimlich‘ sehr ambivalent ist, da es Aspekte wie heimelig, zum Haus gehörig, vertraut, nicht fremd, dazu gehörig, aber auch versteckt und verborgen enthält und schließlich mit seinem Gegensatz ‚unheimlich‘ zusammenfällt. „Unheimlich ist irgendwie eine Art von heimlich.“ (Freud 1970: 250) Er greift eine Bemerkung von Schelling auf, wonach all das unheimlich sei, „was ein Geheimnis, im Verborgenen bleiben sollte und hervorgetreten ist“ (Freud 1970: 249). Wie Nicholas Royle
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(2003: 3f.) deutlich macht, haben sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts viele Denker (von Marx, Nietzsche, Freud, Heidegger, Wittgenstein bis zu Derrida) mit dem Unheimlichen beschäftigt. Royle charakterisiert das Unheimliche als eine Krise, die sich auf all das bezieht, das einem als natürlich erscheint – wie die eigene Natur oder die Realität (vgl. Royle 2003: 1). Das Unheimliche beruht auf einer eigentümlichen Vermischung von Vertrautem und Unvertrautem, das unterschiedliche Formen annehmen kann. So kann z.B. etwas Vertrautes unerwartet in einem fremden Kontext auftreten oder umgekehrt etwas völlig Fremdes, Verstörendes in einem vertrauten Kontext. Aber auch seltsame Zufälligkeiten und Wiederholungen können dieses Gefühl des Unheimlichen bewirken. Freud erklärt dieses Gefühl mit dem Wiederauftauchen überwunden geglaubten Aberglaubens und der Rückkehr verdrängter psychischer Komplexe wie Ängste oder Allmachtsfantasien. Creed (2005: 483f.) stellt sich die Frage, welchen Beitrag das Unheimliche zum Verständnis des so genannten ‚wirklichen Lebens‘ leisten und in welcher Weise es uns bei der Analyse medialer Repräsentationen des Alltags unterstützen kann. Anknüpfend an Freud versteht sie das Unheimliche als etwas, das eigentlich verdeckt bleiben soll, nun aber in der vertrauten Alltagswelt zum Vorschein kommt. Damit bekommt, wie Rosemary Jackson (1981: 69 zit. nach Creed 2005: 484) betont, das Unheimliche eine politische Dimension, da es auf die Elemente verweist, die der scheinbaren Ordnung und Stabilität des Alltags zugrunde liegen. Dazu zählt die Tatsache, dass vor allem auf der persönlichen Ebene nur aufgrund ständiger Wiederholungen von spezifischen Handlungen der Effekt auftritt, den Alltag, aber auch die eigene Identität, als stabil wahrzunehmen. Hier findet sich eine Parallele zu Judith Butlers Konzept der performativen Konstitution geschlechtlicher Identität und ihrem Hinweis, dass gerade in der Wiederholung das Potential zur Veränderung steckt (vgl. Creed 2005: 485). Für Creed sind in dem Zusammenhang Fernsehserien besonders aufschlussreich, da sie davon leben, die Konstruiertheit der Geschlechterrollen und damit auch des Alltags zu thematisieren. Diese Medienbeispiele stellen uns ihrer Meinung nach durch die Zurschaustellung der performativen Dimension des Alltags also bereits die Ansatzpunkte zur Verfügung, die Instabilität und damit auch das Unheimliche des Alltags herauszuarbeiten. Dies trifft, so mein Argument, auch auf Desperate Housewives zu. In dieser Fernsehserie steht ebenfalls der Alltag von Frauen im Mittelpunkt – es geht um ihre Beziehungen, ihre Wünsche und Sehnsüchte und um ihre alltäglichen Aktivitäten. Desperate Housewives kann als eine Inszenierung des Unheimlichen in dem Sinne gelesen werden, als die Widersprüche und Schwächen der Akteurinnen und der ständige Einbruch des Außer-Gewöhnlichen im Zentrum stehen. Die Verzweiflung der dargestellten Frauen (die im Titel der Serie angesprochen wird), ist aber ein Effekt der Bedingungen, unter denen sie leben. Vorgeführt
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werden ihre Versuche, in Reaktion auf die sozialen und kulturellen Ansprüche und Erwartungen Formen zu finden, in denen diese gelebt werden können. Wir amüsieren uns darüber, weil in oft humorvoller und ironischer Weise gezeigt wird, dass dies im Grunde gar nicht möglich ist. Aber das ist nicht nur unterhaltsam, sondern kann auch als ein Kommentar zur gegenwärtigen Lebenswelt von Frauen interpretiert werden. Es werden nämlich die Seiten des Alltags zum Vorschein gebracht, die im Interesse der bestehenden sozialen Ordnung verdrängt oder unterdrückt werden. Konkret wird dies in Desperate Housewives anhand der klassischen Themen wie Sexualität, Ehe, Kinder, Familie und Arbeit durchgespielt, für die insbesondere die feministische Theorie aufgezeigt hat, wie sich an ihnen die dominanten Ideologien als spezifische, den Frauen bereit gestellten Subjektpositionen materialisieren.3 Wenn wir nun bei der derzeit bestimmenden Ideologie des Neoliberalismus ansetzen, dann lässt sich Desperate Housewives auch als ein Infragestellen neoliberaler Versprechungen lesen. Wie ich im ersten Teil des Textes deutlich gemacht habe, sind Vororte mit der Fantasie verknüpft, dass das Leben dort völlig selbstbestimmt sei und Raum für die eigene Entfaltung biete. Diese Vorstellung deckt sich mit der Rhetorik des Neoliberalismus, wonach es an den Einzelnen liegt, ihr Leben selbst zu gestalten und die richtigen Entscheidungen zu treffen. Richard Sennett (1998) hat sehr anschaulich beschrieben, wie sich das neoliberale Denken in der Arbeitswelt mit den Anforderungen des flexiblen Kapitalismus verbindet und welche psychischen Folgen daraus für die Menschen erwachsen. Er sieht im Wegfall von Gewissheiten, langjährigen Freundschaften und Verbindungen, die durch die geforderte Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt (mit ständigem Wechsel von Arbeit und Wohnort) bedingt sind, das Aufkommen von großer Unsicherheit und gleichzeitig die Sehnsucht nach einer Gemeinschaft. Sennetts Analyse beschreibt den Alltag unter den Bedingungen des Neoliberalismus aus der Perspektive der Erwerbsarbeit. Die Fernsehserie Desperate Housewives, so meine These, liefert uns in populärkultureller Form einen Einblick, wie sich die normative Macht des Neoliberalismus im häuslichen Alltag von Frauen niederschlägt und gleichzeitig durch Alltagspraktiken gestützt wird. Erkennbar wird dies auf mehreren Ebenen. Einmal stehen die einzelnen Hauptfiguren für die unterschiedlichen Bereiche, in denen sich die neoliberale Rede von der Selbstbestimmung als aktuelle Herausforderungen für Frauen bemerkbar macht. Bree repräsentiert die perfekt organisierte Hausfrau, Gabrielle den verführerischen Frauenkörper, Lynette die verantwortungsvolle, engagierte Mutter und Susan die ewig Suchende nach dem idealen Mann. Zum zweiten wird uns vorgeführt, wie es ihnen dabei geht. Dies 3
Eine Analyse der Serie aus dieser Perspektive habe ich an anderer Stelle vorgenommen (vgl. Hipfl 2006).
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lässt sich kurz zusammenfassen: Jede Akteurin erfährt die Grenzen von Selbstbestimmung, macht eine Krise nach der anderen durch und ist, was die eigene Position betrifft, verunsichert. Gerade in diesen Verunsicherungen und Krisen steckt aber nach Creed (2005: 448) das transformative Potential, das dem Unheimlichen zugeschrieben wird. In diesen Krisen kommt nämlich einerseits zum Vorschein, was zu Gunsten der Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung verdeckt ist – dass es sich dabei um eine instabile, konstruierte Ordnung handelt, die ständig aufs neue hergestellt werden muss. Das gilt auch für die Geschlechterordnung, die in Fernsehserien wie Desperate Housewives zur Schau gestellt wird. Andererseits können in Krisen dieser Art auch die unbewussten Fantasien erkennbar werden, die in Slavoj Žižeks Verständnis als Stützen der Macht fungieren und ebenfalls dieses Gefühl des Unheimlichen auslösen (vgl. Tie 2004: 174).
6. Conclusio Frigga Haug empfiehlt, den Alltag von Frauen – und ich ergänze, auch die medialen Repräsentationen dieses Alltags – als „politischen Kampfplatz zu denken, aber Alltag auch als Quelle, aus der Wissen zu schöpfen ist für die vielfältig verschwiegenen Dimensionen weiblicher Sozialisation, der Herstellung von Weiblichkeit, des Wirkens von Ideologie, von Macht und Herrschaft; und zugleich als Feld, von dem aus Rekonstruktionen zu machen sind“ (Haug 1994: 159). Ich habe mit diesem Text versucht, einen Beitrag zur Produktion des von ihr angesprochenen Wissens zu leisten. Als nächstes steht es an, sich an die Rekonstruktionen zu machen.
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Das Alltägliche im Nicht-Alltäglichen. Geschlecht, Sexualität und Identität in „The L Word“ Tanja Maier
1. Jenseits der Randrepräsentation: Lesbische Frauen in „The L Word“ Im Mai 2006 strahlte der kommerzielle Sender Pro7 erstmals The L Word im deutschsprachigen Fernsehen aus. In den USA, wo die Serie bereits im Januar 2004 erfolgreich anlief, warb der Pay-TV Sender Showtime mit dem Slogan „Same Sex, different City“, um eine inhaltliche Nähe zum Erfolgsgaranten Sex and the City herzustellen. Von Pro7 wurde der Untertitel „Wenn Frauen Frauen lieben“ gewählt. Mit diesem Slogan ist das Sujet der Serie auf einfachste Art umrissen: Im Mittelpunkt steht das Leben verschiedener femininer Lesben in Los Angeles. Die lesbischen Figuren werden als individuelle Charaktere inszeniert und sind mit Filmschauspielerinnen wie Mia Kirshner (Exotica) oder Jennifer Beals (Flashdance) mitunter prominent besetzt. Thematisch geht es, wie auch in Sex and the City, um ‚alltagsnahe‘ Themen wie Familie, Freundschaft aber vor allem um Liebe und Sexualität. Im Gegensatz zu vielen US-amerikanischen Qualitätsserien, die bisher im deutschsprachigen Raum ausgestrahlt wurden, wie Emergency Room, Ally McBeal, Buffy oder Sex and the City, und in denen nur wenige lesbische Charaktere auftauchen, wird in The L Word mit dieser Randrepräsentation gebrochen. Lesbische Frauen haben hier nicht nur einen Platz als ‚Ausnahme‘ von der Norm(alität), sondern in der Serie sind die Hauptfiguren fast ausschließlich durch lesbische Rollen ‚verkörpert‘. Zudem waren in Qualitätsserien bisher nur verknappte Darstellungen lesbischer Sexpraktiken zu sehen gewesen, wie man sie auch aus dem Mainstreamkino kennt: „[E]s gibt wenig zu sehen, das Küsse, Streicheln und an-/ aufeinandergeschmiegte weibliche Körperlandschaften überschreitet.“ (Stecher 2001: 120) In The L Word wird lesbische Sexualität hingegen offen und explizit formuliert beziehungsweise visualisiert. Auf den ersten Blick bietet die Serie durchaus besondere, aufregende und ungewöhnliche Liebes- und Sexpraktiken sowie Körperbilder an, die bisher in TV-Serien nicht zu sehen waren. Bezogen auf die Repräsentation von Geschlecht und Sexualität stellt sich die Frage, ob The L Word damit zu einer „Entselbstverständlichung des Selbstverständlichen“ (Degele 2004: 46) beiträgt oder ob doch wieder das Alltagswissen über die Zweige-
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schlechtlichkeit und die Heteronormativität reproduziert wird. Dieser Frage soll im Folgenden anhand einer Analyse der 14 Folgen der ersten Staffel nachgegangen werden. Hierfür zeige ich zunächst, wie und in welchen Kontexten lesbische Sexualität im Fernsehen thematisiert werden kann. Eine besondere Bedeutung kommt hierbei vergeschlechtlichten Körperkonstruktionen zu, wobei auch Fragen nach Blickstrukturen und vestimentären Inszenierungen angesprochen werden. Außerdem werden die Lebenswelten und die Handlungsräume der Figuren relevant, innerhalb derer die lesbischen Figuren in Szene gesetzt sind. Dies führt dann zu der Frage, welche Konstruktionen von Identität und Begehren in der Serie möglich sind. Entsprechend der Fragestellung, ob und wie in The L Word das heteronormative Alltagswissen reproduziert wird, gilt es zunächst auf theoretischer Ebene den Begriff des Alltagswissens mit Fragen nach Geschlecht und Heteronormativität zu verbinden.
2. Alltagswissen und Geschlecht Alltagswissen verstehe ich als Ensemble jener Wissensbestände, die in spezifischen sozio-kulturellen Kontexten von einzelnen Gruppen oder ganzen Gesellschaften als allgemeingültig akzeptierte Wahrheiten gelten (vgl. Krotz/Thomas 2007). Es wird für selbstverständlich gehalten und auch bei den anderen Gruppen- oder Gesellschaftsmitgliedern vorausgesetzt. Alltagswissen ist also innerhalb bestimmter Kontexte universell und muss „im Vollzug alltäglichen Handelns in der Regel nicht hinterfragt werden“ (Krotz/Thomas 2007: 37). In alltäglichen Wissensbeständen wird aber nicht nur das Selbstverständliche thematisiert, sondern zugleich bleiben in ihnen abweichende Definitions- und Deutungsmuster verborgen. Zu einer der selbstverständlichen ‚Wahrheiten‘, die so verstanden in alltäglichen Interaktionen hergestellt und durch soziale Praxen strukturiert ist, gehört unter anderem das gesamtgesellschaftliche Alltagswissen von der ‚Natur der Zweigeschlechtlichkeit‘. Anknüpfend an den ethnomethodologischen Ansatz von Garfinkel fassen Suzanne Kessler und Wendy McKenna unter anderem folgende Basisannahmen des Alltagswissens über Geschlecht zusammen: Es gibt zwei und nur zwei Geschlechter (Dichotomizität). Diese eindeutige Zweigeschlechtlichkeit ist von der Natur vorgegeben; deshalb kann eine Person nur entweder ein Mann oder eine Frau sein (Naturhaftigkeit). Die Geschlechterzugehörigkeit ist bei der Geburt festgelegt und bis ans Lebensende unveränderlich (Konstanzannahme) (vgl. Kessler/McKenna 1978: 113f).1 So verstandenes Wissen be1
Kessler und McKenna benennen insgesamt acht Dimensionen des alltäglichen Geschlechterbegriffs. Die hier aufgeführten Annahmen einer Konstanz, Naturhaftigkeit und Dichotomizität wurden von Hirschauer als die „axiomatischen Basisannahmen“ (Hirschauer 1994: 672) des Alltagswissens von Geschlecht bezeichnet.
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schreibt nicht einfach nur kognitive Erkenntnisverfahren, sondern es wird performativ hergestellt. Performatives Alltagswissen reflektiert gesellschaftliche Bedingungen nicht nur, es reinszeniert bestehende Machtverhältnisse immer wieder aufs Neue, wobei sich die Performativität des Alltagswissens über Geschlecht in den alltäglichen Praxen der Menschen ausdrückt. Dabei ist das Alltagswissen über Geschlecht strukturierend für die alltäglichen Praxen der Menschen als auch strukturiert durch deren Praxen. Neben der Selbstverständlichkeit einer Eindeutigkeit, Naturhaftigkeit und Unveränderlichkeit/Konstanz von Geschlecht ist das Alltagswissen um zwei Geschlechter auch mit dem Wissen von der Heterosexualität als (Norm)alität verknüpft. „Heteronormativität basiert auf der Annahme, Heterosexualität (als sexuelles und soziales Verhalten wie auch als Identitätsangebot) sei die essentielle Grundlage des Menschseins“, schreibt Dieter Haller (1997: 86f.). Und Lauren Berlant und Michael Warner haben die Heteronormativität als „Gefühl der Richtigkeit“ (Berlant/Warner 2005: 78, 87) bezeichnet. Anknüpfend an den Begriff des Alltagswissens ist sie somit eine Orientierung, eine Selbstverortung in der komplexen Welt und zugleich eine gesellschaftliche und kulturelle Praxis. Sie durchdringt nicht nur sexuelle Praxen und stellt individuelle und kollektive Identitäten her, sondern wird auch in Sprache, Kultur, Wissenschaft, Staat und Institutionen andauernd (re-)produziert. Sozial-, kultur- und naturwissenschaftliche Geschlechtertheorien setzen dem Alltagswissen über die heteronormative Zweigeschlechtlichkeit die Vorstellung von einer Prozesshaftigkeit und Historizität von Geschlecht und Sexualität entgegen. Sie gehen davon aus, dass Geschlecht und Sexualität in und durch alltägliche soziale Interaktionen und Erfahrungen sowie historische, gesellschaftliche und kulturelle Diskurse (re-)produziert werden. An diesem Prozess sind sowohl die Interaktionen der Individuen als auch gesellschaftliche Praxen, Institutionen und Diskurse beteiligt. Die ethnomethodologische Geschlechterforschung hat gezeigt, wie das Alltagswissen über die heteronormative Zweigeschlechtlichkeit in alltäglichen – im Sinne von typischen, sich ständig wiederholenden, routinisierten, regelmäßigen – Interaktionen immer wieder aufs Neue hergestellt wird und gleichzeitig alltägliche Interaktionen strukturiert. Das Alltagswissen von Geschlecht und Sexualität wird aber nicht nur in Interaktionen zur Anwendung gebracht. In poststrukturalistisch orientierten Theorien wird anknüpfend an Judith Butlers Konzept der Performativität stärker betont, dass sich die Geschlechterzugehörigkeit vermittels disziplinierender und normierender Mittel im gesellschaftlichen Diskurs konstituiert (vgl. Butler 1991: 49).2 Geschlecht ist demnach ein Effekt sich ständig wiederholender Akte, ein wiederholendes Zitie2
Zu den unterschiedlichen, sich gegenseitig produktiv ergänzenden Prioritätensetzungen und Fokussierungen der beiden genannten Forschungstraditionen vgl. Maihofer 2004.
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ren, ein Re-Inszenieren von Konventionen und Normen sowie ihrer ‚konstitutiven Ausschlüsse‘ (vgl. Butler 1991; Butler 1995; Butler 1996). Folgt man dem Wissen, dass sich Geschlecht nicht ‚natürlich‘ aus der Biologie ergibt, sondern in und durch soziale Interaktionen sowie historische, gesellschaftliche und kulturelle Diskurse (re-)produziert wird, dann kommt medialen Diskursen eine wichtige Rolle bei der Herstellung von Geschlecht und Sexualität zu. D.h., dass Alltagswissen auch mediales Wissen ist, das in medialen Diskursen performativ hergestellt wird. Es zirkuliert in medialen Diskursen, Repräsentationen und Praxen und wird durch seine ständige Wiederholung reproduziert (aber auch verändert). Und wenn die Rezipierenden sich dieses Wissen aneignen und auf seiner Grundlage handeln, stellen sie das System der Zweigeschlechtlichkeit in (alltäglichen) Interaktionen immer wieder aufs Neue her.
3. „The L Word“: Alltägliches Geschlechterwissen oder heteronormativitätskritische Perspektive? 3.1 Verkörperungen Welches Wissen über lesbische Frauen wird nun in der TV-Serie The L Word konstruiert und reproduziert? Hierfür bietet es sich an, den Blick zunächst darauf zu richten, wie die Protagonistinnen selbst in Szene gesetzt werden. Die lesbischen Charaktere der Serie, die den Zuschauenden in der ersten Staffel als zentrale Identifikationsfiguren angeboten werden, sind schnell vorgestellt. Den engeren Kreis der lesbischen Clique bilden fünf Figuren: Die Museumsdirektorin Bette Porter (Jennifer Beals) und ihre langjährige Freundin Tina Kennard (Laurel Holloman), die ein gemeinsames Kind bekommen möchten. Die berühmte Tennisspielerin Dana Fairbanks (Erin Daniels), die sich zunächst nicht als Lesbe outen will. Shane McCutcheon (Katherine Moennig), die angeblich nichts von Beziehungen hält und stattdessen einen One-Night-Stand nach dem anderen hat. Und nicht zuletzt die bisexuelle Alice Pieszecki (Leisha Hailey), die sich für alles interessiert, was mit lesbischer Erotik und lesbischen Beziehungen zu tun hat. Zu dieser Gruppe kommt Jenny Schecter (Mia Kirshner) hinzu, als sie nach ihrem Studium zu ihrem Freund Tim Haspel (Eric Mabius) nach Los Angeles zieht. Dort lernt sie nicht nur die lesbische Clique kennen, sondern auch deren Freundin Marina Ferrer (Karina Lombard), mit der Jenny eine Affäre beginnt. Die genannten lesbischen Figuren sind alle auffallend attraktiv, sie haben schlanke, trainierte, makellose und gesunde Körper. Die Entsprechung einer normativen Körperästhetik wurde bereits vor dem Start der ersten Folge durch die begleitende Werbekampagne deutlich herausgestellt. Auf großflächigen Werbeplakaten, die Pro7 im öffentlichen Raum platzierte, übernehmen die weiblichen
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Körper im Sinne Laura Mulveys die Position des „to be looked-at-ness“ (Mulvey 1975: 11). Auch auf der Ebene der diegetischen Welt sowie der übergeordneten Blickachse der Serie werden die Figuren zu Objekten eines heteronormativen Blickregimes gemacht. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: In einer der ersten Sequenzen der Pilotfolge sitzt Jenny auf Tims Schoß und erzählt ihm davon, wie sie durch den Zaun im Pool ihrer Nachbarinnen zwei Frauen beim Sex beobachtet hat. Sie schwärmt mit lasziver Stimme von den Brüsten einer der beiden Frauen, dabei werden sie und Tim immer stärker von der Geschichte erregt. Er fordert sie auf, mehr zu erzählen, bis sie schließlich Sex miteinander haben. In einer zunehmend sexualisierten Gesellschaft folgt die Szene einer erotischen Dramaturgie, in der die lesbischen sexuellen Praxen als ‚Anreicherung‘ des heteronormativen Begehrens dienen. Allerdings arbeitet die Serie hier mit Kontrapunkten, insofern die lesbischen Figuren nicht nur als begehrliche Blickobjekte ausgestellt werden. In dramaturgisch wichtigen Momenten – wie einigen Sexszenen – nehmen die Zuschauenden mitunter die Perspektive der Protagonistinnen ein. Die Kamera nimmt die Situation so auf, wie die beiden Frauen sie selbst sehen. Sie fährt in DetailEinstellungen über die Gesichter und Körper. Wir sehen nur einzelne Körperzonen, bei den langsamen Schwenks über die Gesichter werden die begehrenden Blicke deutlich, die die Frauen untereinander entwickeln. Die lesbischen Figuren werden somit als begehrend und füreinander begehrlich in Szene gesetzt. Auf der narrativen Ebene geschieht dies unter anderem durch die sexuelle Handlungsfähigkeit, die die lesbischen Frauen für sich reklamieren. Die Figuren bleiben nicht einfach die sexuellen Objekte des Mainstream-Fernsehens, sondern handeln und agieren als sexuelle Subjekte. In der Serie werden lesbische Frauen nicht nur küssend und kuschelnd gezeigt, sondern auch Sextechniken thematisiert, die im Mainstream lesbischer Film- und Fernsehrepräsentationen bisher weitgehend tabuisiert waren: Penetrationsstellungen, der Einsatz von Dildos oder Sex an öffentlichen Orten. Bezogen auf lesbische Beziehungsformen werden in der Serie auch Partnerschaftsmodelle in Szene gesetzt, die nicht an monogamen, langfristigen Zweierbeziehungen ausgerichtet sind. Die Serie enthält also durchaus Momente, die heteronormative Sehgewohnheiten irritieren. Die Anerkennung der aufgeworfenen sexuellen Subjektpositionen wird aber an normative Vorstellungen von Zweigeschlechtlichkeit geknüpft. Die Zuschreibungen von Weiblichkeit, und damit einhergehend die Sexualisierung und Objektivierung der lesbischen Frauen, wird zum Beispiel auch über die Einkleidungen sichtbar und erkennbar gemacht. In dem offiziellen Begleitbuch zur Serie, in dem ein ganzes Kapitel dem Look der Figuren gewidmet ist, schreibt die Autorin Kera Bolonik: „Seit der TV-Premiere haben die Frauen von The L Word mit allen Vorurteilen bezüglich des angeblich typisch lesbischen Looks gründlich aufgeräumt
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(Trekkingschuhe, Holzfällerhemden und Kurzhaarfrisur, noch Fragen?).“ (Bolonik 2006: 140) Dem kulturellen Stereotyp der schlecht gekleideten, unerotischen und desexualisierten Lesbe wurde mit The L Word die schicke, glamouröse und erotische lesbische Frau entgegengesetzt.3 Entsprechend ihrer Charakterisierung werden die geschlechtlichen Zuschreibungen bei den einzelnen Figuren durchaus mit unterschiedlichen, sich in der erzählten Zeit der Geschichte auch verändernden Stilmitteln hergestellt. Die Bekleidungsstile der einzelnen Figuren reichen von modernen, lässigen Looks bis hin zu schicken Designeroutfits von Prada, Dolce & Gabbana, Gucci oder YSL. Gemeinsam ist den Protagonistinnen, dass sie alle ausgesprochen trendbewusst sind, über ein breites Kleidungsrepertoire verfügen und ihr vestimentäres Inventar vielfältig gestalten. Die weit ausgeschnittenen, eng anliegenden und figurbetonten Schnitte und transparente Stoffe stellen die an gesellschaftlicher Idealität ausgerichteten weiblichen Körper zur Schau. Über die Bekleidung werden die Figuren aber nicht nur feminisiert, sexualisiert und objektiviert,4 sondern es werden darüber auch sexuelle Begehrlichkeiten definiert. So sprechen die Figuren in der Serie immer wieder darüber, was die Bekleidung und der Stil über die sexuelle Orientierung einer Frau aussagen. ‚Richtige‘ lesbische Frauen werden als ästhetisiert, feminin und modebewusst inszeniert, ihr Begehren richtet sich ausschließlich auf ästhetisierte Frauen.5 Eine Figur wie der Drag King Performer Ivan Aycock (Kelly Lynch), der ab Folge 13 (Fantastische Leidenschaft) in zwei Episoden der ersten Staffel auftaucht, ist für keine der lesbischen Protagonistinnen begehrlich.6 Hier ließe sich fordern, was Elahe Haschemi Yekani bezogen auf filmische Repräsentationsstrategien festgestellt hat: „Eine Filmsprache, die weniger einer zweigeschlechtlichen Logik verhaftet wäre, müsste visuelle Strategien entwickeln, die auch uneindeutige Körper [und nicht-normative Körperinszenierungen, T.M.] als begehrend und begehrlich abbildet.“ (Yekani 2007: 273) 3
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Eine ähnliche Bewegung habe ich bereits anhand von bundesdeutschen Familienserien nachgezeichnet (vgl. Maier 2007a: 158–177, Maier 2007b). Allerdings lassen sich hier deutliche Unterschiede bezogen auf die Sexualitäts-, Identitäts- und Geschlechterkonstruktionen in The L Word ausmachen, insbesondere was die Brüche mit Stereotypen angeht. Die TV-Mode mit ihrem Markenbewusstsein will natürlich nicht nur den weiblichen Körper verkaufen, sondern auch sich selbst (vgl. hierzu ausführlich Maier 2007b). Es ist mir an dieser Stelle wichtig zu betonen, dass es mir nicht darum geht, Weiblichkeit oder Mode abzuwerten. Genauso wenig möchte ich lesbische Frauen in Frage stellen, die sich an Bildern von Weiblichkeit orientieren. Ich vermute, dass Drag Kings und Transmänner in der Serie die Bedeutungen der klassischen phallischen Lesbe übernommen haben. Sie werden aber nicht für das Aneignen von Männlichkeit (etwa bezogen auf sexuelle Praxen), sondern für den Verlust von Weiblichkeit (bezogen auf geschlechtliche Identitäten) bestraft. Dieser These kann an dieser Stelle leider nicht weiter nachgegangen werden, da in der ersten Staffel fast keine männlichen Weiblichkeiten auftauchen. Es wäre hierfür weiterführend, eine vergleichende Analyse der Figur von Ivan in Staffel 1 und 2 mit Moira bzw. Max (Danielle Shea) in der dritten Staffel vorzunehmen.
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Mittels der Inszenierung von Körpern und Kleidung werden die Protagonistinnen in The L Word möglichst klar und eindeutig einem Geschlecht (hier weiblich) zugeordnet, die Mitgliedschaft erscheint konstant und ‚natürlich‘. Bezogen auf die Einkleidungen von Weiblichkeit bietet die Serie aber auch mögliche Mehrdeutigkeiten und Irritationen an. Dies lässt sich exemplarisch anhand der Figuren Bette und Shane nachzeichnen. Bette Porter verkörpert den Typ der Karrierefrau, die Eleganz, Stil und Seriosität ausstrahlt. In ihrem beruflichen Alltag als Direktorin eines Kunstmuseums trägt sie oft Hosenanzüge, Hemden oder Blusen und Nadelstreifen. In der Arbeitswelt sind bei ihr Einkleidungen wichtig, um soziale Hierarchien und ihren Status offensichtlich zu machen. Dementsprechend werden bei ihren Businessoutfits oft Assoziationen an den klassischen Herrenanzug hergestellt. Allerdings finden hier deutliche Modifikationen bezogen auf das Businessoutfit der männlichen Charaktere in der Serie statt. Die Hosenanzüge von Bette sind im Gegensatz zu den Herrenanzügen tailliert und feminin geschnitten, ihre Herrenanzughemden haben immer größere Kragen und längere Ärmel. Während ihre männlichen Kollegen zugeknöpfte Hemden, meist mit Krawatte tragen, fallen bei Bette im Bereich der Oberkörperbekleidung die tiefen Ausschnitte auf, zu denen sie oft zarte Ketten trägt. Die großzügig dekolletierten Einkleidungen können als visueller Rückbezug auf dominante Vorstellungen von Weiblichkeit gelesen werden. Zudem wird ihre professionelle Alltagskleidung durch ihre langen, meist offenen Haare, hochhackige Schuhe (etwa Stiletto-Pumps) und weiblich konnotierte Accessoires wie edle Armreifen oder Handtaschen feminisiert. Insgesamt ist ihr beruflich-professionelles Outfit im Vergleich zu den männlichen Businessoutfits immer weicher und softer, um nicht den Verdacht der Vermännlichung auf sich zu ziehen. Im Gegensatz zu Bette, die in ihrer Freizeit oder zu formellen Anlässen durchaus weiblich konnotierte Kleidungsstücke trägt, wird Shane nie mit Röcken, Kleidern oder hochhackigen Schuhen zu sehen gegeben. Sie trägt einen lässigen Street-Look, der sie selbstbewusst, cool und ein wenig rebellisch erscheinen lässt. Shane eignet sich mitunter männlich konnotierte Kleidungsstücke an, wie etwa schwere Boots, Männerhemden, Krawatten oder Jacketts. Wie bei Bette wird auch bei Shane auf narrativer und visueller Ebene immer wieder an dominante Vorstellungen von Weiblichkeit angeknüpft. Wie ich bereits beschrieben habe, verfügt sie wie alle lesbische Protagonistinnen über ein starkes Interesse an Mode, welches heute scheinbar ‚natürlich‘ mit Weiblichkeit verbunden zu sein scheint (vgl. Ellwanger 1991: 92). Darüber hinaus ist sie die Figur, die in einem weiblich konnotierten Beruf arbeitet, der auf Mode verweist: Shane ist Friseurin. Sie trägt aufwändig gestylte Trendhaarschnitte, ihr Erscheinungsbild ist immer gepflegt, selbst ihr Vintage-Look ist modisch und sorgfältig gestylt. Mitunter ist sie mit tiefen Dekolletés oder Vintage-Westen aus Samtund Jeansstoff bekleidet, unter denen ihre unbedeckten Brüste zu sehen sind. Ihr
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Rockstar-Look, der immer figurbetont ist, wird durch ihr weiblich konnotiertes Make-up unterstützt. Die Wimpern sind kräftig schwarz getuscht, die Augen komplett mit einem breitem Kajal umrahmt, die Lippen erscheinen mit einem kräftigen roten Ton voll und glänzend. Bei der Figur von Shane lässt sich eine visuelle Inszenierung von Individualität und Originalität beobachten. Durch ihren Look verkörpert sie urbane Strategien der Unkonventionalität, ohne dabei eine nicht-normative Körperästhetik zu entwickeln. Bezogen auf die Einkleidungen werden in The L Word normative Vorstellungen und Wahrnehmungen von Zweigeschlechtlichkeit nicht grundlegend in Frage gestellt, vielmehr verweisen die modischen Inszenierungen auf einen gewissen Wandel von Geschlechterinszenierungen. Die partielle Aneignung von Männlichkeiten durch die lesbischen Figuren wird als Zugewinn an Macht, Durchsetzungs- und Handlungsfähigkeit dargestellt und positiv besetzt, solange die Identitätskategorie ‚Frau‘ nicht unterlaufen wird. Wie ich nun zeigen möchte, scheint in der Serie Lesbisch-‚sein‘ zudem nur in den glamourösen Räumen der Metropole denkbar und lebbar. 3.2 Glamouröser Urbanismus Die Serie macht die Metropole7 als urbanes Paradigma zu einem wichtigen Teil der Erzählung. Schon der Vorspann zur Pilotfolge macht dies deutlich. Er beginnt mit einer Kamerafahrt, welche bekannte Bilder von L.A. zeigt: Wir sehen die Skyline von Los Angeles und das verzweigte System der Schnellstraßen, wir blicken von den Hollywood-Hills in Richtung Downtown, wobei immer wieder die Präsenz von Hollywood im Stadtbild verankert wird. Die Kamerafahrt endet in West Hollywood. Wir sehen zwei Frauen eng umschlungen in einem luxuriösen Bett liegen und erfahren, dass sie gerade planen, ein gemeinsames Baby zu bekommen. In diese urbane Kultur mit ihrer sexuellen Vielfalt tritt Jenny hinein, eine junge Frau aus dem Mittleren Westen. Jenny verkörpert die ‚naive junge Frau vom Lande‘, die gerade die High School abgeschlossen hat und zu ihrem Freund nach L.A. zieht. Jenny erscheint zunächst als eine ‚Provinzlerin‘, die im Hoffen auf den Durchbruch als Schriftstellerin in die Großstadt kommt. Der Glamour von Los Angeles mit seinem Showbusiness steht für das Abstreifen des Alten. Damit beginnt auch die kulturelle Erzählung von lesbischem Begehren, das im engstirnigen, konservativen Mittleren Westen unterdrückt geblieben ist und im Kontext des urbanen Glamourlebens nun endlich zum Vorschein kommt (vgl. 7
Unter Metropolen verstehe ich Räume, die in „globalen Zentren des Kapitals“ und „bedeutenden Städten eines Nationalstaates“ (Sinfield 2000: 21, zit. nach Halberstam 2005: 270) entstehen. Sinfield macht deutlich, dass nicht alle Subjektivitäten, die in Metropolen zusammen leben, auch urbane Identitäten und Sexualitäten sind.
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hierzu auch Halberstam 2005: 271f.). Jenny ist die Figur, die bis dahin über keine Erfahrungen mit lesbischer (Sub-)Kultur und Sexualität verfügt. Dies zeigt sich unter anderem daran, dass sie anfänglich als ‚die Andere‘ über die homosexuellen Lebensformen spricht, aber langsam in die lesbische Community eingeführt wird. Die Großstadt bildet für Jenny aber auch den Rahmen für Begehrensformen, die ihr bis dahin verschlossen waren. Die Serie reproduziert die Dichotomie zwischen Zentrum und Peripherie8, die wiederum sexualisiert wird. Die Metropole ist flexibel, fortschrittlich, modern und lustvoll, dementsprechend kann hier Homosexualität offen gelebt werden. Die provinziellen Regionen erscheinen in diesem Denken hingegen moralisch, rückständig, langweilig und prüde, was zur Folge hat, dass Homosexualität nur versteckt gelebt werden kann. Die Serie reproduziert die lange bestehende Verschmelzung von Großstadt und Homosexualität, wobei das urbane Leben mit Kunst und Kultur assoziiert wird. In diesem Zusammenhang ist es interessant, dass die Serie in L.A., insbesondere in West-Hollywood spielt. Indem die lesbischen Figuren in diesem Setting agieren, werden sie eng mit dem Phänomen ‚Glamour‘ und all seinen kulturellen Konnotationen verknüpft. Über das Phänomen ‚Glamour‘ schreibt Tom Holert: „Der Begriff verweist auf ein ganzes Bündel von Qualitäten, die mit Schönheit, Attraktion, (neuem) Reichtum, Oberflächlichkeit, Prominenz, Sex, Klatschjournalismus, Laufstegen und Hollywood in Verbindung stehen, aber nicht unbedingt mit Kunst. […] Inzwischen freilich wird die Zuschreibung ‚Glamour‘ auch im Kunstbereich bereitwillig angenommen.“ (Holert 2002: 104)
Die ‚offen‘ lesbischen Lebens- und Begehrensformen der Serienfiguren sind in der glamourösen Mode-, Kunst- und Kulturszene von L.A. angesiedelt. Immer wieder rückt auf der Handlungsebene die künstlerische und kulturelle Produktivität der lesbischen Protagonistinnen ins Zentrum. Sie sind allesamt beruflich erfolgreich, wobei das berufliche und soziale Umfeld durch kulturelle, modebezogene und künstlerische Bezüge geprägt ist. Bette ist Kunstkuratorin und leitet als Direktorin ein kleineres Kunstmuseum, das California Arts Center. Tina hat für den gemeinsamen Kinderwunsch ihren Beruf als erfolgreiche Filmproduktionsassistentin aufgegeben und engagiert sich für Bettes künstlerische Interessen. Jenny ist eine aufstrebende Schriftstellerin mit einem etwas klischeehaften Hang zu Nietzsche. Marina ist nicht nur die Besitzerin des In-Cafes Planet, sondern sie unterhält auch einen intellektuellen Literaturzirkel. Alice ist Journalistin für das L.A.-Magazin und immer mit allen modischen Trends vertraut. Shane ist keine ‚einfache‘ Friseurin, sondern sie entwickelt sich zur angesagten HairStylistin der glamourösen High-Society von Hollywood. So sind die genannten Figuren finanziell und sozial privilegiert, sie leben und arbeit(et)en in einem 8
Wie Judith Halberstam zeigt, prägt diese Vorstellung über Homosexualität auch Teile queerer Theorie und Praxis Forschung (vgl. Halberstam 2005).
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kulturellen, künstlerischen oder modebezogenen Setting. Die Verteilung des sozialen oben und unten erfolgt weniger über die Herkunft, als vielmehr über das körperliche Erscheinungsbild sowie über den privilegierten Lebensalltag in einer Kunst-, Kultur- und Modewelt. In der Erzählung scheint ein Alltag, in dem Sinne, dass lesbische Lebensund Begehrensformen nicht hinterfragt werden müssen, nur in den glamourösen Räumen der Metropole denkbar und lebbar. In diesem Zusammenhang ist interessant, dass die genannten Charaktere alle ‚offen‘ lesbisch leben, während die Profi-Tennisspielerin Dana die einzige Frau der Clique ist, die sich zu Beginn der Erzählung noch nicht ‚geoutet‘ hat. Dana fürchtet ihren Sponsor zu verlieren und hat Angst vor den Reaktionen ihrer republikanischen Eltern. Es wird das Alltagswissen reproduziert, dass im Kontext Sport ein ‚offen‘ lesbisches Leben schwieriger sei als in der Mode- und Kunstszene von Los Angeles.9 Während sie auf dem Platz und auf Sportveranstaltungen auf Drängen ihres Managers ihr sexuelles Begehren geheim hält und versteckt, kann sie es hingegen im Szene Cafe Planet mit ihren Freundinnen ‚offen‘ thematisieren. In Folge 8 (Liebesopfer) geht von ihrem Sponsor Subaru die Initiative aus, Dana als eine ‚lesbische Anna Kournikova‘ zu vermarkten. Daraufhin wird sie sehr zu Danas Freude in einer groß angelegten Werbekampagne mit dem Slogan ‚Get out and Stay out‘ als Lesbe benannt. In dem Prozess, in dem Dana durch einen großen Sponsorvertrag populärer wird und ins mediale Rampenlicht von L.A. rückt, tritt sie auch aus dem Raum des ‚Closet‘ hinaus und gibt sich letztlich vor ihren Eltern und auf öffentlichen Veranstaltungen als lesbische Frau zu erkennen. Die Großstadt mit ihren imaginierten modernen Lebens-, Kunst- und Konsumstilen bringt die lesbischen Charaktere also überhaupt erst hervor. Der glamouröse urbane Raum ist der Ort, an dem die vormalige Devianz lokalisiert, aber auch kultiviert und handhabbar gemacht wird. Im Kontext der Großstadt mit ihren imaginierten sexuellen und kulturellen Ausschweifungen scheint es die Möglichkeit zu geben, lesbische Beziehungen zu leben. Mehr noch, es ist in der Erzählung der Ort, an dem ‚offen‘ lesbisch lebende Frauen überhaupt zu einem anerkannten Teil der oberen Mittelschicht werden können. 3.3 Konstruktionen von Identität und Begehrensformen Wie aber wird Lesbisch-‚sein‘ in The L Word genau dargestellt, was macht hier eine ‚Lesbe‘ aus und welches Konzept von Identität steht dahinter? Wird ge9
Dieser Gegensatz von Sport und Kunst/Kultur wird auch bezogen auf die ‚Dreiecksgeschichte‘ zwischen Tim, Marina und Jenny reproduziert. Tim ist Sporttrainer und stellt einen Gegenpol zu der kultivierten Marina dar, auf die sich das sexuelle Begehren von Jenny im Laufe der Erzählung verschiebt.
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schlechtliche und sexuelle Identität im Sinne Butlers als dynamisch, unabgeschlossen und veränderbar verstanden (vgl. Butler 1996: 23) oder werden Bedeutungen festgeschrieben und normative Identitätsvorstellungen reproduziert? Wie bereits weiter oben anhand der Körperkonstruktionen deutlich geworden ist, werden die Figuren auf der visuellen Ebene als weibliche Frauen definiert, deren Begehren sich rein auf weibliche Frauen richtet. Aber auch auf der narrativen Ebene wird andauernd betont, wer ‚zu Recht‘ die Bezeichnung Lesbe tragen darf. Lesben sind biologisch eindeutige Frauen, die nach ihrer Selbstbenennung nur noch (feminine) Frauen und keine Männlichkeiten sexuell begehren. Ein Gespräch zwischen Bette und der exzentrischen Kunstliebhaberin und -mäzenin Peggy Peabody (Holland Taylor) zeigt dies exemplarisch. Als die reiche Stahlerbin erzählt, dass sie 1974 ein Jahr lang eine lesbische Beziehung hatte, erkennt Bette diese Selbstsetzung nicht an und erwidert: „Wir nennen das Ex-Lesbe“10. Die lesbischen Erfahrungen von Peggy werden lediglich als „heterosexuelle Ausflüge in die Homosexualität“ (Stein 1996: 164) dargestellt und somit wird eine klare Trennlinie zwischen wirklichen und falschen Mitgliedern der lesbischen Gemeinschaft konstruiert. Auf diese Weise wird die Polarität zwischen homosexuell und heterosexuell aufrechterhalten und das verdeckt, was Arlene Stein am Beispiel des Konstrukts der Ex-Lesbe gezeigt hat: dass sexuelle Identitäten mehrdimensional und veränderlich, dabei aber immer gesellschaftlich konstituiert sind (vgl. Stein 1996: 183f). Die verschwimmenden Grenzen zwischen Homosexualität und Heterosexualität werden in The L Word verleugnet, zugunsten eines stabilen und einheitlichen Konzepts von Weiblichkeit und lesbischer Authentizität. Wie die Serie damit die Chance vergibt, dichotome Kategorien zu reflektieren, lässt sich deutlich anhand der Beziehung zwischen Alice und Lisa zeigen. Lisa ‚verkörpert‘ ein weniger klares und vereindeutigtes Identitätskonzept als die anderen Figuren. Er verfügt über einen relativ eindeutigen männlichen Körper und trägt Kleidung, die geschlechtlichen kulturellen Normen entspricht. Zugleich verwendet er einen weiblich konnotierten Namen und bezeichnet sich selbst als ‚lesbisch identifizierter Mann‘. Für ein heteronormatives Alltagswissen sind diese Zuschreibungen als auch die Beziehung zwischen Lisa und Alice eines der irritierenden Momente in The L Word. Die bisexuelle Alice wurde in der Serie mehrfach von Frauen enttäuscht, weshalb sie sich entschließt, wieder sexuelle Kontakte mit Männern einzugehen. Lisa und Alice kommen sich in Folge 8 (Liebesopfer) auf einer ausschweifenden Yacht-Party näher. Als sie Sex 10 In der englischen Originalfassung kreiert Bette hierfür den Begriff ‚has-bian‘. Dieser Wortwitz geht in der deutschsprachigen Fassung verloren. Ob diese Ironie andere Konnotationen hervorruft, soll an dieser Stelle aber nicht berücksichtigt werden, da die vorliegende Analyse den deutschsprachigen Kontext und die hier ausgestrahlte Serienversion fokussiert.
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miteinander haben, holt Lisa einen Dildo aus der Tasche. Alice fragt entsetzt, was er denn damit wolle. Sie greift an seinen Penis und stellt fest, er sei doch ein richtiger Mann und da brauche man(n) so etwas nicht. Lisa entgegnet, er sei ein lesbisch identifizierter Mann und verwehrt ihr beim Sex zunächst seinen Penis. Den Zuschauenden wird die Identität von Lisa als ‚falsche Maskerade‘ vorgeführt, wobei die Nichtentsprechung einer lesbischen Identität über anatomische Aspekte, genauer den biologisch männlich definierten Körper, thematisiert wird. Im weiteren Verlauf der Erzählung besteht Alice darauf, er solle sie lieben wie „ein richtiger Mann“. Als sie später aus der Kajüte kommen, ist Alice sichtlich zufrieden, während Lisa sich gekränkt von Alice abwendet. Lisa wird durch seinen Penis klar als Mann definiert, qua Biologie gehört er unverrückbar dieser Kategorie an, sein Leben lang. Mit diesen Vorstellungen von Männlichkeit hängt zusammen, dass der Besitz eines Penis auf natürliche Art und Weise mit genitaler Sexualität und sexueller Penetration verbunden zu sein scheint. Im Fall des sexuellen Begehrens von Lisa wird besonders deutlich, wie eng die hegemonialen Verbindungen von Gender, Genitalien und sexuellem Begehren sind. Eine Ausnahme, wie sie Lisa verkörpert, erscheint unnatürlich und lachhaft. Lisa wird weder zu Beginn als Sympathieträger eingeführt,11 noch wird sein Verhalten in dieser Situation als nachvollziehbar dargestellt. Die Repräsentation wird ins Lächerliche gezogen, sie erscheint absurd und wird überformt. Das Lächerlich-machen ist in diesem Kontext als eine Strategie der Abwehr des Einbrechens von Männlichkeit in eine authentische lesbische Identität zu lesen. Lisa wird als ein Mann inszeniert, der sich durch seine zweifelhafte Selbstbeschreibung Zutritt zur lesbischen Gemeinschaft verschaffen will. So machen sich die weiblichen Protagonistinnen in verschiedenen Szenen darüber lustig, dass Lisa sich als Lesbe bezeichnet.12 Letztlich trennt sich Alice in Folge 10 (Alles kommt anders) mit der folgenden Begründung von Lisa: „Ich will keinen lesbischen Freund, tut mir leid. Ich möchte einen Freund, der hetero ist, oder ich möchte eine Lesbe, die eine Frau ist“. Die natürlich, dichotom und konstant gedachte Geschlechteridentität ist die entscheidende Kategorie, wenn es um den Ausschluss aus der lesbischen ‚Gemeinschaft‘ geht. Hier werden zugleich die verschwimmenden Grenzen zwischen Homosexualität und Heterosexualität verleugnet und sexuelle Praxen und 11 So widerspricht die Figur auch insgesamt dem Glamourstil der lesbischen Protagonistinnen. Seine Bekleidung ist durch einen Öko-Look gekennzeichnet, er ernährt sich ausgesprochen gesund und interessiert sich für Reiki. 12 Lediglich in Folge 7 (Verlieren) sagt die heterosexuelle Kit zu den anderen: „Du meine Güte. Was ist mit euch bloß los, dass ihr alles auseinander nehmen müsst und euch an jeder Kleinigkeit aufhängt. Wenn er seine Rechte als weißer Mann aufgeben möchte, um ein Bürger zweiter Klasse zu werden, dann hey, willkommen in unserer Welt“. Den Umstand, dass Lisa nicht seine Geschlechteridentität aufgeben will, wie Kit unterstellt, diskutiere ich hier nicht weiter.
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Beziehungen nur über das Geschlecht des begehrten Objektes definiert. Eve Sedgwick und andere13 wehren sich gegen diese Denkfigur: „It is a rather amazing fact that, of the very many dimensions along which the genital activity of a person can be differentiated from that of another (dimensions that include preference for certain acts, certain zones or sensations, certain physical types, a certain frequency, certain symbolic investments, certain relations of age or power, a certain species, a certain number of participants, etc. etc. etc.), precisely one, the gender of object choice, emerged from the turn of the century, and has remained, as the dimension denoted by now ubiquitous category of ‘sexual orientation’.” (Sedgwick 1990: 8)
Indem The L Word Zugehörigkeiten auf der Basis von fixen Identitäten betrachtet, vergibt sie die Möglichkeit, sowohl Geschlecht als auch sexuelle Präferenzen und Beziehungen als wechselnd und vielleicht auch unberechenbar darzustellen.
4. Schlussfolgerungen Bezogen auf die eingangs gestellte Frage lässt sich festhalten, dass The L Word das dominante kulturelle Bilderrepertoire und sein Blickregime durchaus ein Stück weit verschiebt, insofern sie lesbische Sexualität offen thematisiert bzw. visualisiert. Die Serie enthält durchaus Momente, die heteronormative Sehgewohnheiten irritieren und den klassischen Alltagsvorstellungen von der ‚normalisierten lesbischen Frau‘ ohne aktives sexuelles Begehren oder der pathologisierten phallischen Lesbe entgegenarbeiten (vgl. hierzu Maier 2007b). Allerdings reproduziert The L Word auch ein heteronormatives Blickregime, das lesbische Frauen als begehrliche Objekte konsumierbar macht und die Anerkennung der aufgeworfenen sexuellen Subjektpositionen an normative Vorstellungen von Zweigeschlechtlichkeit knüpft. Die vereindeutigte Geschlechteridentität und der Geschlechterkörper sind die entscheidende Kategorie, über die lesbische Frauen definiert werden. Was Lesbisch-‚sein‘ kennzeichnet, ist in The L Word aber auch mit klassenspezifischen und geographischen Besonderheiten verknüpft. ‚Richtige lesbische Frauen‘ werden als weiblich, modebewusst, erfolgreich und urban definiert, ihr Begehren richtet sich auf ästhetisierte Frauen. Die ‚unkonventionellen‘ Liebes- und Begehrensmuster, die in der Serie präsentiert werden, scheinen nur im Kontext von urbanen Räumen mit ihrem imaginierten Sex- und Glamourleben selbstverständlich lebbar. Der Dualismus Zentrum/Peripherie wird in The L Word ebenso wenig denormalisiert wie die binäre Logik Männlichkeit/Weiblichkeit. Die Serie greift zwar durchaus die Heterosexualität als Norm an, hält dabei aber an essentialistischen, binär gedachten Identitätskategorien und einer Hetero-/ Homo-Dichotomie fest. Das Alltagswissen von der Eindeutigkeit, Naturhaftig13 Vgl. z.B. auch Califia 1983, Hale 2005.
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keit und Unveränderlichkeit der heteronormativen Zweigeschlechtlichkeit wird genauso wenig entselbstverständlicht wie die scheinbar selbstverständliche Kongruenz von Geschlecht, Begehren und Identität. Trotz gewisser Irritationen bietet die Serie somit keine queere Perspektive an. Indem in der Serie die Kategorie der Identität als stabil, binär organisiert und einheitlich gedacht wird, werden Unterschiede zwischen denen unterdrückt, die beispielsweise als ‚die lesbischen Frauen‘ bezeichnet werden (vgl. Butler 1991: 22). Dies hat zur Folge, „all diejenigen auszuschließen, die die Identitätsanforderungen und -bedingungen nicht erfüllen“ (Hark 1996: 12) können oder wollen. Der strategische Einsatz für die Stabilität lesbischer Identität und die Sichtbarmachung lesbischer Lebensweisen richtet sich somit gegen sexuelle und geschlechtliche Dekonstruktion.
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„Initiative für wahre Schönheit“ – Die Rückkehr des Alltagskörpers in die idealisierte Körperwelt der Werbung Karin Knop & Tanja Petsch
1. Einleitung Am 13. Dezember 2007 fand eine Art ‚Essstörungsgipfeltreffen‘ in Berlin statt, auf dem die Bundesministerin für Gesundheit, die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie die Bundesministerin für Bildung und Forschung die Initiative Leben hat Gewicht – gemeinsam gegen den Schlankheitswahn vorstellten. Mehr und mehr werden Körper im Kontext der Gesundheitskommunikation und vor dem Hintergrund von Essstörungen – angefangen bei dem europaweiten Brennpunktthema eines sich epidemisch ausbreitenden Übergewichts bis zum anderen Ende des Spektrums, nämlich Magersucht und Bulimie – breit diskutiert. Unabhängig von faktisch zunehmenden Essstörungen ist seit geraumer Zeit ersichtlich, dass der Körper immens an Bedeutung gewonnen hat und – unabhängig von tatsächlichem Über- oder Untergewicht – eine zunehmende Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper um sich zu greifen scheint. Gerade bei Jugendlichen wird dies überdeutlich, wenn man die Ergebnisse der jüngsten Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung aus dem Jahre 2006 (Heßling/Bode 2006) heranzieht.1 Betrachtet man die Statements der Politikerinnen zur Initiative Leben hat Gewicht – gemeinsam gegen den Schlankheitswahn, wird unmittelbar augenfällig, dass den Medien bzw. spezifischen Medienangeboten offenbar eine besondere Bedeutung bei der Genese von Essstörungen und Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper zugesprochen wird. Angesichts dessen möchte die Gesundheitsministerin „die (Vor-)Bilder ändern und ein realistisches Maß finden“ und mit der Mode- und Werbebranche Gespräche führen – mit dem Ziel, mittelfristig konkrete Vereinbarungen bis hin zu Selbstverpflichtungen zu treffen (BMG/BMBFSFJ/BMBF: 2007).2 1
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Die repräsentativen Daten zum Körperbewusstsein von Jugendlichen zwischen 14 und 17 Jahren zeigen vor allem genderbezogene Differenzen auf, da Mädchen ihr Aussehen signifikant kritischer be- und vor allem verurteilen als Jungen. Europäische Nachbarländer wie z.B. England haben bereits seitens der Politik auf die alarmierend steigende Anzahl von Essgestörten reagiert: Dort wurde jüngst per Gesetz ein bindendes Mindestgewicht in Relation zur Körpergröße für Laufsteg-Models festgelegt, das bei nachgewiesener Unterschreitung zu einem Auftrittsverbot und rechtlichen Konsequenzen für das illegal handelnde Modehaus führt. http://www.spiegel.de/panorama/0,1518,505805,00.html (23.6.2008).
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Beinahe klingen ihre Worte wie die Textelemente der Begleitmaterialien zu einer Unilever-Werbekampagne für die Körperpflegeprodukte von Dove, innerhalb welcher analog argumentiert wird. Dove stützt sich hierbei auf die Studie „Real Truth About Beauty – A Global Report“,3 deren Ergebnisse u.a. darauf schließen lassen, dass Medien und Werbung zu der Verbreitung einer eindimensionalen Darstellung von Schönheit beitragen. Denn 68 Prozent aller Probandinnen kritisieren, dass (werbe-)mediale Körperrepräsentationen einen „unrealistischen Maßstab setzen, den die meisten Frauen nie erreichen können“. Deutlich Position beziehend, sind die Ausnahmekampagnen von Dove mit so bezeichnenden Titeln wie Keine Models aber straffe Kurven und Initiative für wahre Schönheit versehen, wobei letztere Titulierung kampagnenübergreifend erfolgreich als permanenter Dove-Claim etabliert wurde und in der Rezeptionswahrnehmung nun unterschiedlichste Einzelkampagnen unter diese Initiative subsumiert werden. Der Keine Models aber straffe Kurven-Spot wurde gar bewusst kontrastiv in den Werbepausen des umstrittenen Casting-Formats Germany’s Next Topmodel ausgestrahlt, dessen Kandidatinnen einem äußerst rigiden Schlankheitsdiktat unterworfen sind. Die der Entstigmatisierung ‚normal‘-gewichtiger Frauenkörper verpflichteten Dove-Aktionen, die bereits erste Nachahmer gefunden haben,4 sollen im Zentrum der folgenden Betrachtungen stehen, da sie neue Körper- und Frauenbilder innerhalb der Werbewelt und damit auch der (medialen) Alltagswelt zu etablieren suchen. Ob und inwiefern sie diesem Anspruch gerecht werden, wird hier zu verhandeln sein. Für eine detaillierte Analyse der Dove-Kampagnen und besonders deren Bedeutungsspektrum innerhalb des medialen Körperdiskurses ist zunächst einmal die Relation von Werbung und Alltag in Augenschein zu nehmen, um den Stellenwert von Werbung in der heutigen Alltagskultur zu klären und einhergehend den der Werbekommunikation von unterschiedlichsten Seiten attestierten Status als omnipräsente Definitions- und Normierungsinstanz zu untersuchen. Im Besonderen rückt dabei die Bedeutung der medialen Körperbilder für den Alltagsund Lebens- bzw. genauer Identitätsbereich Körper in den Fokus des Interesses. Mit Begriffen wie ‚Körperkult‘ und ‚Schönheitswahn‘ werden zeitgenössische Abhandlungen betitelt, die darauf verweisen, welche Relevanz dem Körper, nämlich dem schönen, schlanken, jugendlichen Körper in den verschiedensten Alltags-Kontexten zugesprochen wird. Anhand medialer Körperrepräsentationen kann der gegenwärtige (korporale) Normierungs- und Normalismusdiskurs abgelesen werden, der hier in seinen relevanten Eckpunkten skizziert wird. Vor 3
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Teilgenommen haben 3.500 Frauen aus 11 Ländern: Argentinien, Brasilien, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, Kanada, Niederlande, Portugal, Spanien und USA. Die gesamten Ergebnisse sind abrufbar unter: http://www.initiativefuerwahreschoenheit.de/uploadedfiles/de/Dove_ Global_Report.pdf (2.1.2008). So referieren beispielsweise die Werbekampagnen Schönheit ist … von Nivea und Schönheit für alle von Yves Rocher ganz offenkundig auf die Initiative der Dove-Konkurrenz.
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dieser Folie wird das Innovationsmoment der Dove-Kampagnen als ‚Ausnahmeerscheinung‘ und ‚Realitätsangebot‘ innerhalb der werbe- wie telemedialen Landschaft verdeutlicht, u.a. auch die Einbettung in das Reality-TV-Format Germany’s Next Topmodel. Die Dove-Initiativen werden einer kritischen Betrachtung unterzogen, um sie auf ihren Gehalt bei der Einführung neuer, alltagsnaher Körper- und Frauenbilder zu überprüfen. Für die Gewichtung von Werbung als diskursive Macht, die Körper- bzw. Geschlechterbilder mitprägt, muss vorab in Rechnung gestellt werden, dass unsere Alltagswelten mehr denn je vor allem eines sind: Werbewelten. Eine allumfassende „Kommerzialisierung der Kommunikation“ diagnostizierten Siegfried J. Schmidt und Brigitte Spiess (1997: 92) bereits Ende der 1980er Jahre und umschrieben damit die immense Flut der werblichen Kommunikation, die unseren Alltag seitdem zunehmend durchdringt. Die medialen Deutungsangebote und selbstverständlich auch die Werbung als konstitutiver Teil derselben greifen „alle Arten von Entwicklungen in der Gesellschaft auf und bieten sie den Menschen dann wieder als Thema und Projektionsobjekt“ an (Krotz 2007: 36). Den Medien ist dabei eine wachsende Orientierungsfunktion zu attestieren, die sich auf immer mehr Handlungsbereiche der Menschen auswirkt. Für die Alltags- und Lebensbereiche sowie für alle auf Kommunikation basierenden Phänomene wie etwa soziale Beziehungen und Identitäten haben die zunehmenden Medienkommunikationen und die damit verbundenen sozialen Praktiken unmittelbar Bedeutung (vgl. ebd.: 115). Als ein solcher medial durchdrungener Bereich im Alltagsleben erweist sich eben auch der Körper, der verstärkt an Relevanz gewinnt.
2. Der Körper als gestaltbare Visitenkarte im (medialen) Alltag Die Pole des aktuellen Körperdiskurses sind der Körper und die Medien, da wir nicht imstande sind, die Medien vom Körper zu trennen, es kein ‚reines‘ oder ‚natürliches‘ Körperbild gibt: „Wir können den Körper nur in Bildern und Begriffen vom Körper denken und sehen, das heißt eben als Medium, das viele Formen annehmen kann, das wir beschreiben“ (Lischka 2000: 10). Körpersoziologische Abhandlungen (u.a. Gugutzer 1998, 2004) zeigen im Zuge dieses Diskurses dabei deutlich, dass die Veränderungen von Körperbildern mit der Veränderung von sozialen Strukturen einer Gesellschaft und den Wahrnehmungswie Verhaltensweisen verbunden sind. Wir haben Distanz zu unseren Körpern, die wir entsprechend sozialer Werte, individueller Wünsche oder kommerzieller Notwendigkeiten zu formen suchen. In der heutigen Mediengesellschaft sind es maßgeblich mediale Deutungsangebote, die die Definition von Schönheit sowie richtiges und falsches Schönheitshandeln prägen. Diese Instanzen stehen vielerorts im Kreuzfeuer der Kritik: „Im Sinne der Anklage missbrauchen Fernsehen, Zeitschriften und Internet diese Macht, indem sie ungesunde oder wahnwitzige
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Ideale und Praktiken vermitteln“ (Gugutzer 2007: 5). Bleibt zunächst zu fragen: Was gilt überhaupt als ‚normal‘? Normalität ist ein variables, historisch und kulturell determiniertes Konstrukt, das – wie Jürgen Link (1999, 2005) zu Recht herausstellt – produziert werden muss. Für Normalisierungsprozesse betont Link den Aspekt der flexiblen Selbstnormalisierung moderner Menschen; dabei ist die leitende Vorstellung, dass sich Individuen auf Verlaufskurven unterstellter Normalität beziehen und an diesen ihr eigenes Verhalten, ihr Berufsleben und eben auch ihr Schönheitshandeln ausrichten.5 Subjekte versuchen sich selbst an neue Normalitäten zu assimilieren, indem sie z.B. ihre Ernährungsweise in die Grenzen der ‚Normalität‘ einfügen. Der Körper wird also als sichtbarer Normalitätsausweis instrumentalisiert. Gerade der Körper, welcher als „der Garant der Authentizität“ (Duttweiler 2003: 4) galt, rückt nun als relevanter und vor allem formbarer Identitätsaspekt in den Fokus. Der Körper wird zunehmend modulierbar und disponibel, zu einer veränderbaren Größe, über die man bei Bedarf verfügen kann, zum „Material“, das zur „Bearbeitung freigegeben“ ist (Schneider 2000: 13f.). Der Körper ist nicht mehr länger eine letzte feste Größe. Der aktuell als ‚normal‘ lancierte Körper ist ergo zunächst einmal ein zu gestaltender, eine selbst zu bearbeitende Skulptur, die die eigene Normalitätssicherung gewährleisten kann, und diese orientiert sich wiederum flexibel-normalistisch an jeweils publiken Körperbildern. Der „averaging mechanism“ (Menninghaus 2007: 45) führt unter den Bedingungen der heutigen Lebenswelt jedoch zu extrem verstärkten Diskrepanzen zwischen empirischen und ‚idealen‘ Körpern, denn mediale Bildwelten induzieren einen Dauerkonsum hochunwahrscheinlicher, zumeist aufwendig präparierter Model-Körper aus aller Welt. Diese medial verzerrte Wahrnehmung konzipiert einen realitätsfernen normal range;6 diverse empirische Studien7 belegen negative Wirkungsmöglichkeiten solcher Hyperkörper.8 5
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Unter Normalismus sei hier mit Link (2005: 44) „die Gesamtheit aller sowohl diskursiven wie praktisch-intervenierenden Verfahren, Dispositive, Instanzen und Institutionen, durch die in modernen Gesellschaften ‚Normalitäten‘ produziert und reproduziert werden“ gefasst, wobei die Werbung ein Element derselben ist. Als normal range werden nach Link (1999: 44) diejenigen Merkmalsausprägungen verstanden, die innerhalb von glockenähnlichen Verteilungen – im Sinne „symbolisch gaußoider“ Verteilungen – von einer überwältigenden Mehrheit in einem breiten Mittelbereich (normaler Bereich) besetzt werden. Laut Schemer (2006: 13) sind – vorrangig für weibliche Rezipienten – folgende Wirkungsmöglichkeiten festzuhalten: verzerrte Wahrnehmung des eigenen Körpers als zu dick, geringere Zufriedenheit mit dem eigenen Körper, negative Gefühle wie Schuld, Scham oder depressive Stimmung, geringe Einschätzung der eigenen Attraktivität, geringeres körperbezogenes Selbstwertgefühl, ausgeprägtes Schlankheitsbedürfnis. Der Hyperkörper ist ein stereotypisiertes Ideal, welches die zu einer bestimmten Zeit kursierenden Wünsche und Werte in konzentrierter Form aufnehmen kann (vgl. Bonacker 2002). Der Hyperkörper ist dabei ebenfalls Ausprägung der generell hyperritualisierten Repräsentationsformen in der Werbung (vgl. u.a. Goffman 1981: 327).
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Da Schönheit wie auch Schlankheit historisch sowie kulturell variabel definiert wird und zudem individueller Präferenz unterliegt, ist es äußerst schwierig, Schönheit kategorisch festzulegen.9 Grundsätzlich gilt, dass Attraktivität gleichgesetzt wird mit Erfolg und Zufriedenheit; unattraktive äußere Erscheinungen lassen hingegen Assoziationen von Nachlässigkeit, Faulheit bis hin zu Versagen zu. Der gestaltete Körper indes präsentiert seine Geformtheit und bezeugt damit die Lebensführung der Person, ihr Gesundheitsbewusstsein, ihre Selbstdisziplin: „Der Körper wird zur ‚authentischen‘ Visitenkarte einer Zugehörigkeit zum Club der Leistungswilligen und Bessergestellten; er bezeugt die employability“ (Alkemeyer 2007: 17). Korrespondierend zu anderen Alltags- und Lebensbereichen sind Frauen auch im Hinblick auf Schlankheit und körperliche Attraktivität einer strengeren Normierung unterstellt als männliche Akteure. Weiblichkeit unterliegt seit jeher bezeichnender Kausalität: Sie wird ontologisch bestimmt durch Schönheit. Es herrscht ein Attraktivitäts- und Kultivierungsdiktat, welchem zur ‚Weiblichkeitsberechtigung‘ Folge zu leisten ist – allerdings hinter einer Fassade der Natürlichkeit; die weibliche Modellierungspflicht wird naturalisiert und so gegen Anzweiflungen a priori immunisiert. Es wird eine massive Konzentration auf die Arbeit am (eigenen) Körper verordnet, eine – mit den Worten Michel Foucaults (1986: 136) – „übertriebene Sorge“ um den eigenen Körper wird etabliert, und zwar mittels vielerorts utopistischer, aber als ideal, ergo erstrebenswert ausgegebener Zielvorgaben. Diese – und das ist das Entscheidende für die Akzeptanz – werden als realistisch, also auch realisierbar, dargeboten10 und können so im Resultat als Reglementierungsmaßnahmen fungieren. Eine an der Normvorgabe orientierte, folglich eine korporal disziplinierte und erfolgreiche diätetische Lebensweise dient – wie bereits ausgeführt – als Ausweis von Selbstkontrolle und Leistungsfähigkeit, ist zugleich aber auch sichtbarer Beleg der zugewiesenen sozialen Rolle und damit Beitrag zur strategischen Konsolidierung bestehender Machtstrukturen und Herrschaftsverhältnisse bzw. zur Zementierung bestimmter Diskurse und deren Definitions- und Normierungsmacht. 9
Ein gegenwärtiger Minimalkonsens, der die Ingredienzien eines ‚Schönheitsrezeptes‘ zusammenstellt, lässt sich allerdings ermitteln: So gelten heute als praktisch universale Präferenzmerkmale hohe Symmetriewerte von Gesicht und Körperteilen, glatte Haut, hemisphärische Brüste, eine bestimmte Relation von Taille und Hüfte, das Kindchen-Schema bei Frauengesichtern und männliche Sportlerfiguren (vgl. u.a. Menninghaus 2007: 37). 10 Die Idee einer uneingeschränkten korporalen Machbarkeit, eines ‚Body-Tunings‘ ohne Grenzen, scheint im 21. Jahrhundert beinahe alltäglich in die Tat umgesetzt zu werden, wenn kosmetische und plastische Chirurgie in den Medien als ‚everyday business‘ dargestellt werden: Von fiktionalen Stoffen wie die im deutschen Fernsehen bereits in der vierten Staffel erfolgreich laufende US-amerikanische Serie um ein Schönheitschirurgenteam Nip/Tuck – Schönheit hat ihren Preis über Vorher-Nachher-Reality-Dokus in täglichen Boulevardmagazinen bis hin zur bis dato unangefochtenen Klimax im Sinne der von Verona Pooth moderierten OP-Reality-Show The Swan, in welcher der Rezipient über Wochen den ästhetisch-chirurgischen Transformationsstadien einer 16-köpfigen Gruppe junger Frauen beiwohnen konnte.
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3. Diesseits und jenseits der 90-60-90: Der werbemediale Körperdiskurs zwischen Hyperkörper und Normalkörper Entgegen der Komplexität des Alltags, genauer der Bandbreite der unterschiedlichsten realexistenten Alltagskörper, ist in der Werbewelt vorrangig eine Form präsent: der Hyperkörper, dessen werbemediale Generierung und Etablierung hier kurz konturiert sei. Von Beginn ihrer Entstehung an wirft man den Medien im Allgemeinen und den Werbemedien im Besonderen vor, klischeehaft, vergröbernd oder unterkomplex – in der Summe also entdifferenzierend – zu verfahren und die Differenzierungsgewinne, die in anderen Einzeldiskursen erreicht werden, systematisch zu unterbieten (vgl. Winkler 2004: 186). Ebenso lässt sich auch seit jeher die zyklische Bestätigung des jeweils konstruierten Normalen, aber auch des Idealen konstatieren. Mit Rückgriff auf Links Perspektive hinsichtlich des Normalismusdiskurses ist diese Werberedundanz auch wie folgt begründet: Wenn Normalität konstruiert bzw. produziert werden muss, dann muss der Wiederholung, der wiederholenden Bestätigung und Bestärkung eine klare Funktion zugewiesen werden; diese besteht darin, in der Kumulation Einzelereignisse zu addieren, „entweder weil sie in irgendeiner Weise strukturähnlich sind, oder weil sie in der Aufhäufung selbst Struktur und Ähnlichkeit produzieren“ (ebd.). Und eben so geschieht dies im werblichen Körperdiskurs, dem unterstellt werden muss, dass er nicht unwesentlich an der Verengung des normal range im Normalfeld Körpergewicht beteiligt ist und damit an der Norm eines überschlanken Körpers mitwirkt. Die Idealkörper in der Werbung sind dabei aber wegen ihrer „statistischen Seltenheit gerade keine Beispiele für normale, sondern für supernormale, also eigentlich positiv anormale Körper“ (Link 2005: 48), die jedoch durch ihre seit Jahrzehnten währende Präsenz strukturbildend geworden sind und nahezu naturalisiert erscheinen, so dass sie beinahe unter die Schwelle der Wahrnehmung geraten. Die Entstehung des hyperschlanken und hyperschönen Körpers ist aus der Funktionslogik des Werbesystems zwingend zu erklären: Georg Franck (1993: 748) skizziert den Grundriss einer „Ökonomie der Aufmerksamkeit“, deren zentrale Idee darin liegt, in der heutigen Mediengesellschaft das „Einkommen an Aufmerksamkeit über das an Geld zu stellen“ und diese damit zur zentralen Kategorie der modernen Gesellschaft zu machen. Das Management von Aufmerksamkeit ist so zum sozialen Steuerungsmechanismus der Mediengesellschaften geworden (vgl. Schmidt 2000b). Innerhalb des Werbesystems bewahrheitet sich die Bedeutsamkeit von Aufmerksamkeit in einem Höchstmaß, denn Werbung ist in kaum zu unterschätzendem Maße gezwungen „folgenreiche Aufmerksamkeit“ (Schmidt 1995: 31) zu schaffen, die sich wünschenswerter Weise in Zahlungsund Zustimmungsbereitschaft niederschlägt. Bezogen auf die Körperrepräsentationen in der Werbung bedeutet dies, dass – wie oben zu zeigen war – Hyperkörper, also superattraktive Körper das Produkt ästhetisch überhöhen, um Aufmerksam-
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keit zu generieren. Gemäß dem von Alois Hahn (2003: 26) präzise erkannten Prinzip, dass das Unwahrscheinliche das Auffällige sei, eben jenes vor dem Hintergrund der Normalität „Abgehobene“, und dass die Grenzen von Normalität „durch Schwellen der Aufmerksamkeit konstituiert“ werden, lässt sich erklären, warum in einer unendlichen Wiederholung mit minimalsten Abweichungen der überschöne weibliche Körper in der Werbewelt beheimatet ist. Um die Aufmerksamkeitsschwellen immer wieder zu überschreiten, mussten – der werbespezifischen Regel der nie enden wollenden Überbietung geschuldet – letztendlich Hyperkörper in der Werbung präsent sein bzw. inszeniert werden. Diese Inszenierungsformen des Werbekörpers zeigen sich jedoch bei genauerer Betrachtung als Varianten des Bekannten und Gewohnten, denn innerhalb der Werbesemantik müssen stets zwei zentrale Anforderungen eingelöst werden: Erstens gilt es anschlussfähig an das Alltagswissen der Rezipierenden zu sein, und zweitens dabei gleichzeitig den Eindruck des Neuen zu erwecken, um die Aufmerksamkeit der Rezipierenden immer wieder neu zu gewinnen (vgl. Willems/Kautt 1999: 524f.). Innerhalb der Instanz Werbewelt wird so eine neue Körpernorm, eine Form des Normalismus des schlanken und schönen Körpers, produziert und reproduziert, die vom realweltlichen Normkörper abweicht. Durch jahrzehntelange Repräsentation schöner und schlanker Frauenkörper ist somit bei Werberezipierenden Strukturwissen generiert worden, das sich mit dem Konzept der Typisierung von Alfred Schütz (1971: 17ff.) treffend umschreiben lässt. Durch Typisierungen nämlich „sedimentiert sich ein Wissensvorrat, der (…) dazu dient, mit allen und auch mit neuen Situationen umzugehen“ (Krotz/Thomas 2007: 38)11 und somit zugleich unsere Medienrezeption, das Verstehen von Medieninhalten und folglich auch Werbebotschaften prägt. Im Üblichen entfernt sich Werbung – um in kürzester Zeit aufs Eindeutigste decodierbar zu sein – nicht im Geringsten von herrschenden Werten, Normen und Normalitäten. Sie fungiert sogar typischerweise als eine geradezu poetische Verdichtung alltagskultureller Sinnmuster. Spezifisch ist der Werbung hierbei aber eine Inszenierung „aus der alle Vorgänge und Bedeutungen, in denen das Ideal nicht präsent ist, fortgelassen – gewissermaßen aus dem Sichtbargemachten herausredigiert – wurden“ (Goffman 1981: 327). Für körperbezogene Idealisierungsrepräsentationen bedeutet dies, die Frauen, die in der Reklame posieren, besitzen „ebenmäßigere Zähne und sind schlanker, jünger, größer und ‚besser aussehend‘ als die Frauen, wie wir sie in den meisten Szenen, auch in den realen Szenen erleben“, so ein Kernergebnis der weitreichenden Studie Erving Goffmans (1981: 87). Werbung ist daher weniger Scheinwelt als vielmehr Hyperwelt 11 Selbstverständlich ist jede Typisierung im Sinne der Herstellung eines Sinnzusammenhangs biografisch, kulturell und gesellschaftlich bestimmt (vgl. Krotz/Thomas 2007: 38) und muss daher jeweils – geht man von medienbezogenen Typisierungen aus – rezeptionsseitig validiert werden.
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(vgl. Willems 2005: 118). Denn am Modell des Werbekörpers wird also nicht nur für etwas – ein Produkt, eine Dienstleistung etc. – geworben, sondern durch die jeweils ausgewählten Vorstellungen vom schönen und starken Körper wird zudem synchron für ein – zu verschiedenen Zeiten variierendes – präferiertes Körperbild geworben, so dass Werbebilder auch in diesem Feld zu „imperativen Bildern“ (Schmidt 2000a: 92) werden. Der Werbediskurs wird hier demnach als ein machtvoller Diskurs verstanden, dem es gelungen ist, den Hyperkörper bzw. Idealkörper als Norm innerhalb des Werbesystems erfolgreich zu lancieren, und damit Teil eines übergreifenden Systems zu werden, das mitbestimmt, welche Körper als normal, üblich, natürlich oder wünschenswert durchzusetzen sind. Ergo ist der werbemediale Diskurs eingebettet in einen normativen Diskurs über normale, attraktive Körper und Körperdisziplinierung. Gegen eine ‚Besetzung‘ des Körpers durch übergeordnete Mächte hat es – u.a. nach Thomas Alkemeyer (2007: 16) – historisch jedoch immer wieder Gegenbewegungen gegeben, die den hegemonialen Körperidealen alternative bzw. oppositionelle Körperbilder und -praktiken entgegenstellten. Als eine solche Maßnahme können – mit verschiedensten Einschränkungen und Differenzierungen – die Dove-Kampagnen verstanden werden, um deren Implikationen bei der Etablierung vermeintlich neuer Körperrepräsentationen es hier nun zu tun ist. 3.1 Idealisierte Modelkörper und alltägliche Körpermodelle: Die Dove-Kampagne „Keine Models aber straffe Kurven“ Die von dem Unilever-Kosmetikkonzern Dove im Jahr 2004 initial durchgeführte Kampagne mit dem aussagekräftigen Titel Keine Models aber straffe Kurven (siehe Abb. 1) erfuhr immense Beachtung. Die enorm hohe Aufmerksamkeitsquote erschließt sich allem voran wie folgt: In der Kampagne wurde die Aufmerksamkeitsschwelle – verstanden als Normalitätsschwelle – nämlich dahingehend überschritten, dass mit realweltlichen Normalkörpern bzw. Alltagskörpern geworben wurde. Der TV-Spot zur Ausnahmekampagne von Dove wurde bezeichnenderweise in den Werbepausen des umstrittenen Reality-TV-Formats Germany’s Next Topmodel12 ausgestrahlt und dezidiert als Gegenkonzept lanciert. Die entsprechende Staffel der Casting-Show war in der Kritik, da dort Kandidatinnen aufgrund von Übergewicht ausscheiden mussten, wenngleich ihr Body Mass Index (BMI) eher Untergewicht diagnostizieren ließ. Entschieden kontrastiv zur Schönheitsselektion, dem Eliminierungsprinzip à la Germany’s Next Topmodel, das die Kandidatinnen mit dem Wettkampf-Ultimatum „nur eine kann Germany’s Next Topmodel werden“ zu Konkurrentinnen um den 12 Zur Anrufung des ‚unternehmerischen Selbst‘ und den Disziplinierungsverfahren innerhalb der Modelshow vgl. Tanja Thomas in diesem Band.
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Modelplatz der Schönheitskönigin macht, wird bei Dove eine Gruppe von Frauen, ein Spektrum an alltäglicher Schönheit, variierend in Größe, Gewicht, Proportion etc., gleichrangig präsentiert. Die Laien-Modelle sollen ausdrücklich den Charme des Unperfekten, Ungestellten und Unprofessionellen versprühen, um sich mit der damit assoziierten Authentizität glaubwürdig von der Reality-Show abzuheben. Holt die Werbepause per se schon die Rezipierenden zurück in die jeweils eigene Alltagsrealität – erstens durch die Sendeunterbrechung, zweitens werden die Zeitfenster nur allzu häufig für Alltagserledigungen genutzt, drittens offerieren die Werbeblöcke alltagsbekannte und -relevante Produkte –, wird der alltagsweltliche Bezug hier obendrein noch intensiviert durch die alltäglichen ‚Normalkörper‘ der Dove-Frauen. Diese fordern selbstbewusst ihren Platz außerhalb des Topmodel-Schönheitsballes: Zwischen die Sendeblöcke von Germany’s Next Topmodel drängen sich der Werbeblock und darin die sich ostentativ wohlfühlenden Gegenkandidatinnen. Abbildung 1: Keine Models, aber straffe Kurven-Kampagne
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Der eigentliche marketingorientierte Zweck der Kampagne war es, eine hautstraffende Pflegeserie einzuführen: eine hautstraffende Dusche, eine hautstraffende Lotion und ein straffendes Cellulite Creme-Gel, das auf die ‚Problemzonen‘ an Bauch, Beinen und Po abgestimmt ist, so die Produktinformation der UnileverHomepage.13 Hierzu wurden – so der Wortlaut auf der Homepage des Unternehmens – ausdrücklich „ganz normale Frauen mit ganz normaler Figur, einschließlich fülligerer Figuren“ ausgewählt, die sich unretuschiert von dem prominenten Fotografen Ian Rankin ablichten ließen und schließlich in Unterwäsche auf Plakaten und im Fernsehspot posierten. ‚Ganz normal‘ meint in diesem Kontext, dass man ein dezidiert anderes Körperbild zu präsentieren suchte, welches sich von den Körpern der gängigen Werbemodels abhebt. Jene Hyperkörper – en gros geformt auf Basis massiver Selbstdisziplinierungsmaßnahmen, Entbehrung und zum Teil unter Inkaufnahme von Essstörungen, gesundheitlichen Mangelerscheinungen etc.14 – galt es laut Dove im Rahmen dieser Kampagne aufzudecken und in wünschenswerter Konsequenz deren Potential bei der Entstehung von Essstörungen oder der Ausformung mangelnden Selbstbewusstseins zu schwächen. Für die gewählte Werbestrategie ist augenfällig, dass hier ganz in der Tradition der Toscani-Bennetton-Kampagnen der 1980er und 1990er Jahre Werbung in der Art gestaltet ist, dass durch eine Durchbrechung der klassischen Werbegestaltungsregeln Aufmerksamkeit geweckt wird und eine mediale Millionenplattform auch dazu genutzt wird, problematische, gesellschaftlich relevante Themen zu behandeln. Dass dies nicht allein der sozialen Verantwortung des Unternehmens geschuldet ist, bedarf keiner ausführlichen Erwähnung. Vielmehr kommt hier ein so genanntes Social Responsibility Marketingkonzept zum Tragen, welches hinsichtlich seiner Werbeziele äußerst erfolgreich war: Erstens sorgte es für eine schnelle Bekanntmachung, zweitens reüssierte es in der Differenzierung gegenüber der Konkurrenz und drittens wurde eine nachhaltige Steigerung der Produkt- und Markenbekanntheit effizient verwirklicht. Insgesamt wurden nicht weniger als 30 Prozent Umsatzzuwachs für Dove Body Care erwirtschaftet (vgl. Stroer 2005). Neben dem überwältigenden Medienecho und der damit kostenlos zur Verfügung gestellten Werbezeit sowie dem Auslösen einer Diskussion über Schönheitsideale war also auch ein immenser ökonomischer Erfolg zu verzeichnen. Die Presse berichtete intensiv über dieses vermeintlich neue Werbekonzept und auch die Rezipierenden der Kampagne brachten ihre Begeisterung über das Erscheinen ‚ganz normaler Frauen‘ jenseits der 13 http://www.initiativefuerwahreschoenheit.ch/supports.asp?url=supports.asp§ion=&id=1182 (11.11.2006). 14 Solche Reglementierungen werden mit Bezug auf Foucault (1976: 175f.) als eine allgemeine Politik der Zwänge gefasst, die am Körper arbeiten und seine Elemente wie Verhaltensweisen kalkulieren und manipulieren.
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Maße 90-60-90 zum Ausdruck. Wenngleich auch immer wieder kritische Untertöne anklangen, so z.B. in der FAZ, in der moniert wurde, „dass ausgerechnet ein Unternehmen nun gegen Stereotypen ankämpfen“ möchte, dessen „Branche eben diese jahrzehntelang produziert hat“ (Thomann 2005: 1), darf die Kampagne im Großen und Ganzen als voller kommerzieller und auch aufmerksamkeitsökonomischer Erfolg gewertet werden. Unbestritten kann der Kampagne angerechnet werden, dass sie Folgendes leistet: Konträr zu bislang dominierenden, dezidiert körperbezogenen normalistischen Werbestrategien, innerhalb derer meist Situationen vorgeführt werden, „in denen der Körper als Störungsquelle oder ‚Problemzone‘“ (Willems 2003: 77) erscheint, die sich mit dem jeweils beworbenen Produkt günstig beeinflussen oder im Idealfall eliminieren lässt, zeigt Dove den ‚unperfekten‘, ‚alltäglichen‘, vielmehr an dem realen Normalkörper orientierten Frauenkörper. Dieser wird zwar einerseits als vom Ideal des Modelkörpers abweichender inszeniert, erhält jedoch durch das Attribut „straffe Kurven“ seinen Attraktivitätsbonus. Es geht daher innerhalb der Dove-Kampagne also nicht um die Dramatisierung von Formen normaler ‚Abweichung‘ wie Übergewicht und die Implikation, dass diese partielle ‚Deviation‘ durch den Einsatz eines entsprechenden Produkts gelöst werden kann (vgl. Willems 2003: 77), sondern stattdessen darum, dass diese partielle Abweichung vom Ideal positiv kontextualisiert wird. Allerdings muss selbstredend einschränkend Erwähnung finden, dass auch hier wieder die Produktverwendung als Glücksversprechen lanciert wird und letztendlich straffe glatte Haut das gesetzte Ideal bleibt. Die innovative Werbemaßnahme enthält folglich auch ambivalente Aspekte, denn Werbung agiert auch hier wieder „parasitär, indem sie alle sozialen Phänomene, die für wichtig erachtet werden, ständig auf verwertbare Kommunikationsthemen abhorcht, um sie dann auftragsgemäß zu funktionalisieren“ (Schmidt 1995: 92). Dove hat die individuelle und gesellschaftliche Problematik immer rigiderer Schönheitsideale erkannt und ein Gegenkonzept entworfen. Die Dove-Kampagne – ausgestattet mit allem, was üblicherweise die Sozialkampagne einer Non-Profit-Organisation auszeichnet – ist in ihrer Inszenierung von authentischen, realweltlich ‚normalen‘ Körpern sichtlich um die Konstruktion medialer Aufrichtigkeit bemüht bzw. um die Verknüpfung von Marke wie Hersteller mit dem Charakteristikum Aufrichtigkeit. Dass Werbung lügt und uns idealisierte Bilder wie auch Schönheitsbilder zeigt, ist jedoch hinlänglich bekannt. U.a. hat bereits Niklas Luhmann darauf abgehoben, dass außer Frage stehe, dass die Werbung zu manipulieren suche und in höchstem Maße unaufrichtig agiere. Allerdings sei ihr dadurch, dass sie aus eben diesem Umstand keinen Hehl mache, eine gewisse Aufrichtigkeit zu eigen (vgl. Luhmann 1996: 85). Werbeübliche Formen der Idealisierung ablehnend, unterstützt die Kampagne so ihre sozialambitionierte, aufklärerische Motivation und erweist sich
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darin sowohl innovativ als auch konventionell, da traditionelles Advertising seit jeher versucht, die jeweiligen Kommunikate mit Strategien der Glaubwürdigkeitserhöhung anzureichern.15 Der Kosmetikkonzern entscheidet sich zur Produktion von Sichtbarkeit und zur effizienten Ausschöpfung der immer knapper werdenden Ressource Aufmerksamkeit aber eben nicht für die Werbeformel der Steigerung bzw. Überbietung, sondern für die Strategie der Reduktion. Es wird also in der Erstkampagne wie in allen Nachfolgern gerade nicht mit noch schöneren bzw. überhübschen Modellen, sondern kontinuierlich mit alltäglichen, mit authentisch wirkenden Frauen und in nicht ästhetisch übercodierter, idealisierter Form für das Produkt geworben. Der Kosmetikriese gibt sich hierbei gar im asketischen Gestus mit einer puristischen Kontextualisierung des Produkts zufrieden. Letztlich ist die „Authentisierungsmechanik“ – wie Jörn Glasenapp dies benennt – in allen medialen Kontexten grundsätzlich dieselbe: „Stets ist es die Norm, die die verdachtsbesetzte, also als unaufrichtig rezipierte Folie bildet, vor der das als aufrichtig empfundene Zeichen zur Abhebung kommt; allerdings nur, wenn es sich als fremdes beziehungsweise neues in Szene setzt“ (Glasenapp 2003: 108). Das aufrichtige, authentische Zeichen, nämlich der Körper der ‚Normalfrau‘, wird den unaufrichtigen Zeichen – in diesem Falle den zur Norm avancierten retuschierten und idealisierten Werbekörpern, die fest im kulturellen Rezeptionsrepertoire bzw. kulturellen Bildgedächtnis verankert sind – gegenüber gestellt und kommt vor dieser Kontrast- und Relationsfolie äußerst aufmerksamkeitswirksam zur Geltung. Dieser Authentisierungsmechanik wurde sich auch explizit bedient: In markantester Konkurrenz profilierte Dove seinen TV-Spot in den Werbepausen zur Casting-Show Germany’s Next Topmodel. Aber heben sich die weiblichen Werbekörper von Dove tatsächlich so deutlich ab von traditionellen Frauendarstellungen? Die als Werbenovität betrachtete Strategie der Repräsentation realweltlicher Alltagsexistenzen mit ihrem Impetus von Authentizität und Natürlichkeit offenbart auch deutlich tradierte Elemente; die inszenierten Geschlechterkörper weisen u.E. neben allen innovativen Ansätzen ebenso traditionelle Merkmale auf: Einerseits werden Frauen spärlich bekleidet abgebildet und werden einmal mehr als – um mit Laura Mulvey (1998: 397) zu sprechen – „to be looked at ness“ in Szene gesetzt. Die Blickstrukturen lassen keinen Zweifel aufkommen, es dominiert ein ‚dialogisierender‘ Blick, den die Frau an die Betrachtenden adressiert, wobei ein männliches Blicksubjekt als Urteilsinstanz über das Wahrnehmungsobjekt unterstellt wird. Dies unterstützend, exponieren die Dove-Models einzelne Körperpartien und verstärken die Botschaft, dass sie und ihr Körper als „Anblick“ – wie John Berger (1990: 15 Mit Vorher-Nachher-Präsentationen, Realismus, Bescheidenheit und Selbstkritik sowie diversen anderen Verfahren finden vielerlei Strategien zur Glaubwürdigkeitsgenerierung Anwendung (vgl. Willems 2000: 215ff.).
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44) in Analogie zu Mulvey formuliert – gelesen werden sollen. Auch die von Herbert Willems und York Kautt als klassisch bezeichnete Inszenierung von Weiblichkeit in der Werbung, nämlich die Präsentation der Frau unter Verwendung von Attributen der Kindlichkeit, lässt sich nachweisen: Die lebensfrohen Werbefrauen können problemlos als Referentinnen des ‚weiblichen Wesens‘ interpretiert werden. Denn „übermütiges Springen, Herumtollen und Tanzen verkörpert die kindliche Verfassung und Leichtigkeit des weiblichen Seins“ (Willems/Kaut 1999: 518), wobei es hier zusätzlich um den „Grad an Ungezwungenheit und Natürlichkeit“ (Koppetsch 2000: 106) geht, der zur Attraktivität der ‚Normalfrau‘ beiträgt. Ebenso lassen sich sowohl im gezeigten Spot als auch in der Printanzeige die von Erving Goffman (1981: 18) und in dieser Tradition auch von Gitta Mühlen-Achs (2003) herausgearbeiteten Hyperritualisierungen aufzeigen: Die weibliche Berührung als schützendes, liebkosendes Berühren, die Selbstberührung der eigenen Körper als etwas kostbares Empfindliches, die Rituale der Unterordnung – zu sehen an den durch die spezifische Haltung verkleinerten und wenig raumgreifenden Körpern – und wie bereits angeführt die Infantilisierung und kindliche Maskerade als Ausdruck der Lebensfreude oder alternativ gelesen als rituelle Beschwichtigung. Bei den in der Dove-Werbung dramatisierten Körpern handelt es sich zweifelsohne zuallererst um Distinktionskörper, wird doch auf visueller als auch auf textueller Ebene die Lesart impliziert, dass hier Repräsentationen offeriert werden, die vom klassischen Ideal des ‚perfekten‘ Frauenkörpers abweichen – wenngleich sich die korporalen ‚Ausschreitungen‘ aus dem Korridor der Normalität in einem normnahen Rahmen bewegen. Einerseits attestieren die Novitäten auf der Ebene der Körperinszenierung der Kampagne die Qualität von Nonkonformität; andererseits finden die besagten Normabweichungen bei gendersensitiver Fokussierung vorrangig auf diesem Feld der Geschlechteridentität statt, so dass auf anderen Ebenen zugleich traditionelle Darstellungsmodi zur Anwendung kommen. 3.2 Du hast die Wahl: Ideale oder wahre Schönheit? Suggerierte Attraktivitätsdemokratie in Doves „Initiative für wahre Schönheit“ Eine Steigerung und Umformung der bis dato praktizierten Werbestrategie wird innerhalb der 2005 gestarteten Social Responsibility Kampagne unter dem Titel Initiative für wahre Schönheit (siehe Abb. 2) umgesetzt. Hier wird der Produktbezug gänzlich verlassen, lediglich der Markenname Dove erscheint. Mit dieser Initiative wird ganz der von Oliviero Toscani (1996: 19) in „Die Werbung ist ein lächelndes Aas“ implizit formulierten Forderung an die Werbetreibenden entsprochen, dass sie „die gesellschaftliche und erzieherische Rolle des Unternehmens, das ihnen ein Budget anvertraut“ wahrnehmen. Dove setzt dies ideal-
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typisch um, indem die Plattform Werbung auch für soziale Ziele – die Infragestellung rigider Schönheitsideale – eingesetzt wird. Dove verweist hier ebenso wie Toscani „auf die Idee, dass es vielleicht möglich ist, eine Art von allgemeinem humanistischen Gedankengut unter Anerkennung und ausdrücklicher Nutzung der Macht des Marktes öffentlich zu verbreiten“ (ebd.). Und demgemäß sollen auch bei Dove Produkte ihre Anziehungskraft über die sozialen Komponenten der Botschaft, die von den Herstellern propagiert werden, erhalten. Die Printmedien- und Plakatkampagne präsentiert Frauen unterschiedlichen Alters und Aussehens, die sich demonstrativ wohl fühlen. Die Rezipierenden werden darin aufgefordert, über die präsentierten Körper zu urteilen, wenngleich die Dove-Frauen sich als gänzlich unabhängig von einer solchen Bewertung darstellen. Vielmehr scheinen sich alle äußerst wohl zu fühlen und können somit als schön bewertet werden – denn im Wohlfühlen zeigt sich das Individuum im Einklang mit gesellschaftlichen Erwartungen (vgl. Degele 2004: 20).16 Auf der Webseite zur Kampagne wird dann jedoch polarisierend abgestimmt: „Faltig oder Fabelhaft?“, „Vollschlank oder Voll OK?“, „Grau oder Großartig?“ Durch virtuelles Voting wird die Meinung der UserInnen über ältere oder fülligere Modelle erhoben. Die Stimmverteilung entscheidet letztlich jeweils über die Akzeptanz der exemplarischen nonkonformen Werbekörper und eruiert somit geduldete ‚Schönheitsfehler‘, sozusagen ‚schöne Stigmata‘. Abbildung 2: Werbemediale Demokratiefiktion
16 Zur ausführlichen Erläuterung des „Wohlfühlzwanges“ im Kontext der Individualisierungsdebatte vgl. Degele (2004: 95). Das Kriterium, den Schönheitsidealen zu entsprechen, sei hinfällig geworden. Die Ansicht, dass Ideale obsolet geworden sind, wird hier nicht geteilt, die wachsende Bedeutung eines demonstrativen Wohlfühlens indes umso mehr.
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Rufen wir uns in Erinnerung, was der Werbeapokalyptiker John Berger (1990: 143) in den 1970er Jahren als zentralen Vorwurf an die Werbung formulierte, nämlich dass die Werbung den Konsum zum Demokratieersatz mache und damit die Wahl, „was man isst, anzieht oder fährt“ an die Stelle der wirklich bedeutsamen politischen Wahl trete. Die Werbung trage auf subtile Weise dazu bei, zu verschleiern und zu kompensieren, was in der Gesellschaft undemokratisch ist. Dove agiert auch hier ganz entgegen der Annahme: Im Sinne von sozialer unternehmerischer Verantwortung geht es nun nicht mehr ausschließlich um die richtige Wahl der Produkte, sondern um eine vom Konzern eingerichtete Kommunikationsplattform, die den Betrachter animiert, sich zu herrschenden Schönheitsidealen zu positionieren. Man kann bzw. konnte also beim Betrachten der Anzeigen- und Plakatkampagne im Geiste eine Entscheidung treffen oder auf dem eigens dafür eingerichteten Onlineportal tatsächlich wählen und sich aktiv auf die ‚Demokratiefiktion‘ der Wahl in Sachen Schönheitsideal einlassen. Der soziale Prozess des Schönheitshandelns im Sinne Nina Degeles (2004: 10) – zur Erzielung sozialer Anerkennungseffekte – lässt sich nunmehr numerisch ermitteln. So lässt sich erschließen, welche ‚abweichenden‘ Körper akzeptiert werden und damit Teil der hegemonialen Medien- und Alltagskultur im Feld der Schönheitsideale und Normen sind bzw. werden können und welche eben nicht. Auch wenn Schönheitshandeln nie als privates Handeln zu verstehen ist und immer nach dem Blick der anderen verlangt, wird diese Situation im genannten Fall bis ins Äußerste gesteigert. Im Rahmen der Initiative für wahre Schönheit rief Dove im Jahr 2005 zusammen mit dem Frankfurter Zentrum für Ess-Störungen die Initiative BodyTalk ins Leben, ein Präventionsprogramm für junge Menschen, das kostenlose Workshops für Schulklassen umfasst. Das Programm intendiert die Entwicklung eines positiven Körpergefühls und einen kritischen Umgang mit Schönheitsnormen. Die medienpädagogische Arbeit im Umgang mit medienvermittelten Schönheitsidealen betreffend, erschöpft sich der Beitrag der Dove-Kampagne Body Talk darin, zu zeigen, dass die Medien über diverse Möglichkeiten der technischen Manipulation von Körpern verfügen. Auch der – als Werbespot lancierte – Film „Evolution“ (siehe Abb. 3) zeigt, wie Schönheit durch Inszenierung vor der fotografischen bzw. filmischen Aufnahme und in der Postbearbeitung mittels digitaler Veränderung konstruiert wird: Eine ‚durchschnittlich‘ attraktive junge Frau mit sichtbaren Hautunreinheiten avanciert so zu einer Hyperschönheit auf einer großen Plakatwand, kommentiert vom eingeblendeten Text „No wonder our perception of beauty is distorted“. Jüngst wurden weitere Filme mit pädagogisch-investigativem Impetus publiziert, u.a. Onslaught, in dem diverse Medienbotschaften und Produkte, vor allem Diätpräparate und Schönheitsoperationen, in einem Schnellschnitt kumuliert werden. Der Film endet mit der an das imaginierte Elternhaus gerichteten imperativen Message „Talk to your daughter before the beauty industry does“.
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Abbildung 3: Doves „Evolution“
4. Resümee Angesichts dramatisch steigender Zahlen von Essstörungen und einem korporalen Disziplinierungstrend, medial vertreten in boomenden Reality-Formaten über Selbst- und speziell Körperoptimierung,17 ist es mehr als dringend geboten, im Bereich empirischer wie (werbe-)medialer Körper eine Veränderung des normal range anzustreben und Impulse zur Reflektion über Normalfelder wie Schönheit und Schlankheit zu setzen. Eines solchen Vorhabens hat sich der Kosmetikkonzern Dove erfolgreich angenommen. In der Annahme, dass die medial vermittelten Schönheitsideale einen nicht geringen Anteil an krankhaftem Essverhalten und einem negativen Körperempfinden tragen,18 übernimmt der Konzern faktisch soziale Verantwortung und investiert sein Budget in die Repräsentation von alternativen Werbemodellen, die Thematisierung von überzogenen medienvermittelten Idealvorstellungen und die Durchführung von Workshops zur Auseinandersetzung mit medialen Körperrepräsentationen. Durch das Aufzeigen von und das Aufklären über Medienlogiken, formalästhetische Nachbearbeitungen, Darstellungs- und Veränderungsmodi wird eine partielle Ausweitung des 17 Diese Maßnahmen sind mit Foucault (1993: 26) als Selbsttechnologien zu verstehen, „die es dem Einzelnen ermöglichen, aus eigener Kraft oder mit Hilfe anderer eine Reihe von Operationen an seinem Körper (…) vorzunehmen, mit dem Ziel, sich so zu verändern, dass er einen gewissen Zustand des Glücks“ erlangt. 18 Selbstverständlich ist hierbei darauf hinzuweisen, dass Essstörungen nur unter Berücksichtigung von Zivilisations-, Rationalisierungs- und Individualisierungsprozessen zu verstehen sind und vor allem die psychischen Kosten versinnbildlichen, „die eine krankhaft auf Leistung, Disziplin, Willensstärke, Selbstkontrolle und Selbstverantwortung ausgerichtete Gesellschaft verursacht“ hat (Gugutzer 2005: 351, vgl. auch Thomas 2008).
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normal range hinsichtlich körperlicher Attraktivität verwirklicht, wodurch diese neuen medialen Körperbilder in Teildiskurse diffundieren und somit zu Differenzierungsgewinnen in den Einzeldiskursen beitragen. Die Diskrepanz zwischen empirischen Alltagskörpern und ‚idealen‘ hochunwahrscheinlichen Werbekörpern wird überwunden und zugleich ausgestellt. Entgegen der partiell entindividualisierten, uniformen Hyperkörper zeigt Dove Individuen, die sich hinsichtlich ihres Alters, ihrer Körpermaße und ihres generelles Aussehens abheben. Diese partielle ‚Deviation‘ wird dabei selbstbewusst performativ ausgestaltet und somit wird vertreten, dass man den eigenen Körper schätzt, wenngleich er ein vom gesetzten Ideal abweichender ist. Die Distinktionskörper bewegen sich hierbei in einem normnahen Rahmen: Es ist zwar gemäß der Werbebotschaft nicht mehr obligatorisch, hyperschlank und jugendlich zu sein, aber dem Diktum des Idealproportionierten, Authentischen und Charismatischen sowie dem Wohlfühlzwang bleiben die Kampagnen verpflichtet. Beibehalten wird auch ein eher konventionell zu nennendes Formenrepertoire der Geschlechterdarstellungen. In den Dove-Kampagnen finden sich folglich innovative wie traditionelle Elemente vereint und dieses Spannungsverhältnis ist auch zurückzuführen auf eine entscheidende Funktionslogik der Werbung: Es muss der Eindruck des Neuen vermittelt werden, um Aufmerksamkeit zu erregen, und gleichzeitig müssen werbliche Kommunikate immer an bestehendes Alltagswissen und Genrewissen anschließen. Nur so können schnelle und effektive Decodierung sowie erwünschte Akzeptanz seitens der RezipientInnen erreicht werden – in diesem Falle die Zustimmung zur Rückkehr des Alltagskörpers in die idealisierte Körperwelt der Werbung.
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Fernab vom Alltag: Journalismus und seine Realitätskonstruktionen Margreth Lünenborg
1. Alltag und Ausnahmezustand Wenige Tage vor Weihnachten 2007 wurde in der Münchner U-Bahn ein Rentner von zwei männlichen Jugendlichen so gewaltsam verprügelt, dass er mit mehrfachem Schädelbruch in ein Krankenhaus eingeliefert werden musste. Eine Überwachungskamera hatte den brutalen Übergriff dokumentiert. Dieses Video ist seitdem zigfach in Nachrichtensendungen, Talkshows und auf WahlkampfVeranstaltungen gezeigt worden, bei YouTube ist es in vielfachen Versionen permanent verfügbar (vgl. u.a. http://www.youtube.com/watch?v=-MFqKQ1LEGM). Die außergewöhnliche Brutalität der Tat und mehr noch deren vermeintlich authentische Dokumentation machten die Schlägerei zum Medienereignis. Aufgrund der türkischen und griechischen Herkunft der beiden jungen Täter entstand – insbesondere vorangetrieben durch Roland Koch im hessischen Landtagswahlkampf – eine aufgeregte Debatte um Intensivstraftäter mit Migrationshintergrund und ein härteres Jugendstrafrecht. Durch die alltäglich verfügbaren Bilder wird die außergewöhnliche Tat zum Dokument einer vermeintlich alltäglichen Bedrohung. Auch wenn Kriminologen nachweisen können, dass Jugenddelinquenz abnimmt, dass weniger die Ethnie als vielmehr das soziale Milieu konfliktschürend wirkt, so bietet die mediale Aufbereitung der Münchner Tat dennoch die symbolischen Ressourcen, eine alltagsrelevante Bedrohung durch das Fremde herzustellen. Mit dem Fokus auf das Fremde, Negative, Nicht-Alltägliche schafft Journalismus die Diskursgrundlage für die Verschiebung der Alltagswahrnehmung. Auch wenn die Wahlergebnisse in Hessen deutlich gemacht haben, dass der Bedrohungsdiskurs nicht mehrheitsfähig war, bleiben die Bilder und Texte dieses Diskurses dennoch präsent und konstituieren alltagsgebundene Wahrnehmung von gesellschaftlicher Zugehörigkeit und Ausgeschlossenheit, von männlicher Bedrohung und der Gefahr des Älter- und Gebrechlich-Seins. Henri Lefebvre (2000) unterscheidet zwischen dem Alltagsleben (la vie quotidienne), dem Alltäglichen (le quotidien) sowie der Alltäglichkeit (quotidienneté). In der Moderne, so führt er aus, sei das Alltagsleben zurückgeblieben als „compound of insignificance“ (Lefebvre 1991: 97). Indem die Einheit gesellschaftli-
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chen Lebens verloren ging und funktionale Ausdifferenzierung die Struktur der Gesellschaft konstituierte, wird das Alltägliche „zu dem, was übrig bleibt, wenn man all die besonderen und spezialisierten, die bedeutungsvollen und erkennbaren Aktivitäten abzieht“ (Grossberg 2003: 104). Das Alltägliche wird damit jedoch nicht bedeutungslos, stattdessen wird es zur ökonomisch und technisch kontrollierten Formation. Im Kapitalismus, so Lefebvre, bestimmt es damit das Konsumverhalten ebenso wie das alltägliche Handeln. Journalismus hat an dieser Funktionalisierung von Alltäglichem maßgeblichen Anteil. Die Konstituierung von modernem Alltagsleben als dem Nicht-Relevanten, Nicht-Öffentlichen wird maßgeblich durch die Selektionsprinzipien des Journalismus hergestellt. Doch verschwindet Alltagsleben damit nicht aus der öffentlichen Wahrnehmung. Mit dem Begriff der Alltäglichkeit (quotidienneté) erfasst Henri Lefebvre die ambivalente und widerständige Kraft. Alltäglichkeit ist das, was über das Alltägliche hinausgeht, und was Alltag zusammenhält. „Alltäglichkeit verweist auf die Banalität des alltäglichen Lebens, auf die Tatsache, dass ‚nichts passiert und alles sich verändert‘.“ (Grossberg 2003: 105) Zugehörigkeit zur Gesellschaft konstituiert sich für das Publikum durch das Erleben von Alltäglichkeit. Gerade in der Abgrenzung vom Außergewöhnlichen der journalistischen Neuigkeiten und zugleich auf diese aufbauend entsteht die Wahrnehmung von Alltäglichkeit. Zentrale Befunde der Rezeption von Nachrichten referieren auf dieses dialektische Verhältnis (vgl. Ruhrmann 1994; Brosius 1995): Im Abgleich des eigenen Alltagserlebens mit den aktuellen Neuigkeiten journalistischer Medienangebote wird Relevanz hergestellt und so die eigene Position im gesellschaftlichen Gefüge neu justiert. Sichtbar wird daran, in welch diffiziler Weise Außergewöhnliches, NichtAlltägliches und Alltäglichkeit im Journalismus miteinander verbunden sind. Diesen Verbindungen wird der Beitrag systematisch nachgehen. Entscheidend für die folgenden Überlegungen ist dabei stets die Frage, in welcher Weise Journalismus Bilder des alltäglichen Lebens erzeugt, Alltagskonstruktionen herstellt und damit konstitutiv für die Verständigung einer Gesellschaft über sich selbst Bedeutung erlangt (vgl. Lünenborg 2005).
2. Journalismus und Alltag: Eine Systematik Journalismus und Alltag: Das macht – so muss man geradezu reflexhaft antworten – einen Widerspruch in sich aus. Journalismus berichtet über das Außergewöhnliche, die Veränderung, das Neue, das Bemerkens- und damit Berichtenswerte. Ob als empirisch validierte Nachrichtenfaktoren wie Prominenz und Konflikt oder als trivialisiertes Alltagswissen kondensiert in der Metapher ‚Mann beißt Hund‘, charakteristisch für den journalistischen Blick auf die Welt ist das Nicht-Alltägliche, das Außergewöhnliche. Das ist es, was uns die klassi-
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schen Lehrbücher des Nachrichtenjournalismus vermitteln (vgl. Weischenberg 2001: 23ff.; Zschunke 2000: 123ff.; von La Roche 2006: 71ff.). Und es lässt sich durchaus überzeugend argumentieren, dass der Journalismus im Ensemble massenmedialer und kultureller Angebote nicht die ideale Form ist, um Alltag zu beobachten, sichtbar zu machen, zu reflektieren und zu bewerten. Geeigneter erscheint dafür beispielsweise jene Literatur, die keiner zwingenden Zuweisungen zum Bereich des Fiktionalen oder des Dokumentarischen bedarf. Christa Wolf steht mit ihren autobiographischen Aufzeichnungen „Ein Tag im Jahr 1960–2000“ exemplarisch für diese Qualität dokumentarisch-analytischer Auseinandersetzungen mit Alltagsleben. Sie fragt zu Beginn ihrer Chronologie: „Wie kommt Leben zustande? Die Frage hat mich früh beschäftigt. Ist Leben identisch mit der unvermeidlich, doch rätselhaft vergehenden Zeit? Während ich diesen Satz schreibe, vergeht Zeit; gleichzeitig entsteht – und vergeht – ein winziges Stück meines Lebens. So setzt sich Leben aus unzähligen solcher mikroskopischen Zeit-Stücke zusammen. Merkwürdig aber, dass man es nicht ertappen kann. Es entwischt dem beobachtenden Auge, auch der fleißig notierenden Hand und hat sich am Ende (…) hinter unserem Rücken nach unserem geheimen Bedürfnis zusammengefügt: gehaltvoller, bedeutender, spannungsreicher, sinnvoller, geschichtsträchtiger. (…) Irgendwann, unbemerkt von uns, verwandeln diese Alltage sich in gelebte Zeit.“ (Wolf 2003: 5)
Warum also sollte Journalismus berufen sein, Leben und damit dieses alltägliche Leben zu beobachten und fleißig zu notieren? Warum sollte er in der Lage sein, hinter diese Augenblicke zu schauen und deren tiefere Bedeutung zu erfassen? Sollte er diese Aufgabe nicht lieber Schriftstellerinnen, Dokumentarfilmern und Ethnologinnen überlassen, jenen Professionen also, denen die präzise Beobachtung und Dokumentation des Alltags ein Kernanliegen ist? Doch mit der Festschreibung von Journalismus als zuständig für das Außergewöhnliche, den Nicht-Alltag und der damit verbundenen Vernachlässigung des Alltäglichen im journalistischen Repertoire verbindet sich grundsätzliche Kritik. Hier setzen Auseinandersetzungen und kritische Reflexionen über den Journalismus, seine Leistungen und Defizite an. Wenn Journalismus die Aufgabe hat, zur Synchronisation von Weltgesellschaft beizutragen (vgl. Blöbaum 1994), bleibt fraglich, ob er diese Leistung erbringen kann unter Ausblendung dessen, was wir als ‚Alltag‘ bezeichnen. Konstituiert sich gar ‚Alltag‘ beim Publikum in Abgrenzung zu dem, was als journalistisch relevant gilt? Führen mithin Nachrichtenfaktoren als nachvollziehbare, professionelle Selektionskriterien zur Ausgrenzung des Alltäglichen aus der journalistischen Produktion? Oder anders herum, verliert die Beobachtung des Alltags durch den Journalismus ihre Qualität schon allein dadurch, dass sie dem Bedeutungssystem des Außergewöhnlichen zugewiesen wird? Einleitend soll jedoch der Zusammenhang zwischen Journalismus und Alltag etwas grundsätzlicher in den Blick gerückt werden. Denn auch wenn sich feststellen lässt, dass Journalismus nur in recht eingeschränktem Maße alltägliches
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Leben zum Thema macht, bleibt er dennoch in mehrfacher Hinsicht mit dem Alltag verbunden. 1. Die Ebene der Medieninhalte: Hier gilt es zu fragen, wie und in welchem Maße thematisiert Journalismus Alltag? In welchen Medien, Ressorts, Genres und Formaten tut er das? Was wird dabei thematisiert und was wird ausgelassen? Welche Relevanz hat das Maß an Alltäglichem im Journalismus für die Repräsentation von Geschlechterstrukturen? Wird Alltägliches weiblich konnotiert, während das Besondere, Hervorstechende und Außergewöhnliche als männlich konstruiert wird? Auf diese Fragestellungen konzentriert sich dieser Beitrag vorwiegend, doch die Bedeutung des Journalismus für die alltägliche Konstituierung von Gesellschaft ist damit nicht hinlänglich erfasst. 2. Die Ebene der Produktion: Sie beschreibt Formen eines journalistischen oder redaktionellen Alltags, des alltäglichen Handelns einer Profession in ihren organisatorischen, rechtlichen und ökonomischen Rahmungen. Das verweist einerseits auf professionelle Routinen, Abläufe und Entscheidungsprozesse. Diese routinisierten redaktionellen Strukturen und Prozedere beinhalten hierarchische und geschlechtsgebundene Strukturierungen. Sie umfassen zugleich Praktiken, die ethische und juristische Grundsätze in Alltagshandeln umsetzen. Andererseits verbirgt sich in den alltagsgebundenen redaktionellen Routinen auch – zumeist unausgesprochenes – Wissen um Verbindendes, Gemeinsames, Identitätsstiftendes. So beschreibt der redaktionelle Alltag ein gemeinsames soziales und kulturelles Milieu, innerhalb dessen Verständigung über Relevanz und Norm vorgenommen wird. Als ‚journalistische Kulturen‘ (vgl. Hanitzsch 2007; Lünenborg 2005; Machill 1997) werden solche professionellen Praktiken oftmals nur dann explizit, wenn sie in vergleichender Perspektive in den Blick genommen werden. So lassen sich hierarchische oder egalitäre Diskussionskulturen und Führungsstile unterscheiden, fakten- oder meinungsorientierte Journalismuskonzepte, partizipatorische oder verlautbarende Kommunikationsweisen. Diese unterschiedlichen Dimensionen journalistischer Kulturen lassen sich mit Blick auf ihre immanente oder explizite Geschlechtsgebundenheit analysieren. Begreift man journalistisches und redaktionelles Handeln als alltägliche soziale Praxis, so realisiert sich diese Praxis (auch) im beständigen Doing Gender. Die kommunikationswissenschaftliche Geschlechterforschung liefert vielfältige Befunde zur Analyse geschlechtsgebundener Führungsstile im Journalismus (vgl. Keil 2000), zur geschlechtsgebundenen Zuschreibung von professioneller Kompetenz (vgl. Klaus 2002) oder zu geschlechtshierarchischen Entscheidungsstrukturen (vgl. Neverla 1986; Lünenborg 1996; de Bruin/Ross 2004). Redaktioneller Alltag als veralltäglichte soziale Praxis wird somit stets auch in der Struktur der Zweigeschlechtlichkeit hergestellt. Die Bilder des erfolgreichen, investigativen Reporters oder der quotenstarken Talkshow-Moderatorin erweisen sich als geschlechtsgebundene Zuschreibungen professioneller Qualität.
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3. Die Ebene der Rezeption: Was für Rezeptionsforschung trivial ist, ist für die Journalismusforschung keineswegs selbstverständlich: Die Rezeption journalistischer Angebote findet, genauso wie die jeglicher anderer Medienangebote, alltagsgebunden statt. Medienhandeln ist alltägliches Handeln. Darin wird es ökonomisch und technologisch nutzbar und verwertbar. Nur in Ausnahmefällen lässt sich die Rezeption und Aneignung journalistischer Angebote angemessen kennzeichnen als gezielte Selektion nach relevanten Informationen. Als typisch lässt sich vielmehr eine Rezeption beschreiben, bei der die Nutzung journalistischer Angebote in das alltägliche Medienmenü und den alltagsgebundenen Tagesablauf eingefügt ist (vgl. Neverla 1992, 2007). Exemplarisch dafür steht die ritualisierte Fernsehnutzung, bei der das gemeinsame Sehen der Abendnachrichten die Prime Time einläutet, oder das ausgedehnte Sonntagmorgen-Frühstück, bei dem die Lektüre der Sonntagszeitung ein positiv assoziiertes, familiengebundenes Rezeptionserleben darstellt. Relevant wird dieses Wissen, wenn medienbiographische Forschung sichtbar macht, dass nur dann, wenn in Kindheit und Jugend solche alltagsgebundenen Lektüre-Erfahrungen gemacht wurden, eine Chance auf Fortsetzung eben dieser ritualisierten Lektüre der Tageszeitung im Erwachsenen-Alter besteht (vgl. Röttger 1994; Rager 2003). Im Informationsmedium Nummer 1, der Tageszeitung, erweist sich die Alltagsgebundenheit der Nutzung zunehmend als Chance und als Herausforderung. Die Etablierung des Tabloid-Formates auch für Qualitätszeitungen wurde möglich angesichts der schlichten Erkenntnis, dass das unhandliche Berliner Format die Lektüre in Bus und Bahn erschwert. Diese Alltagsgebundenheit der Nutzung hat zuvor schon ein neues Produkt in der Medienlandschaft ermöglicht: Die Gratiszeitung in Uund S-Bahnen ist europaweit aus dem Zeitungsmarkt nicht mehr wegzudenken. Allein in Deutschland waren die Abwehrkämpfe der Verlage noch weitestgehend erfolgreich. Das Produkt macht sich die alltägliche Mobilität seiner NutzerInnen für eine Neuorganisation der Distribution, Finanzierung und Gestaltung der Tageszeitung zu nutze. Durch die Loslösung vom Trägermedium und die Möglichkeit einer individuellen Menüzusammenstellung in digitalen Angeboten wie dem E-Paper, RSS-Feed oder News-Filter verlieren traditionelle, orts- und zeitgebundene Rezeptionsrituale und -kontexte an Bedeutung. In welcher Weise sich neue Rezeptionsgewohnheiten alltagsgebunden etablieren werden, lässt sich heute noch nicht verlässlich prognostizieren. Selbstverständlich lässt sich auch die Rezeption journalistischer Angebote nach Geschlecht unterscheiden. Doch die Forschung verweist dabei auf mehr Gemeinsamkeiten als Differenzen. Cornelißen (1998) hat am Beispiel der Fernsehnutzung detailliert nachgezeichnet, dass Unterschiede in Umfang und Art des Fernsehkonsums weniger auf die Differenz qua Geschlecht und weitaus stärker auf differierende alltägliche Handlungsmuster beispielsweise in häuslicher oder außerhäuslicher Tätigkeit zurückzuführen sind.
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4. Die Ebene der gesellschaftlichen Kontextuierung: Journalismus konstituiert für das Publikum (und mittelbar auch für das Nicht-Publikum) Alltäglichkeit (quotidienneté), indem er Norm und Abweichung benennt, Inklusion und Exklusion vornimmt, Relevantes und Triviales zuordnet und all diesen Facetten von Dasein einen Platz in der formalen Struktur der journalistischen Aufbereitung von Wirklichkeit zuweist.1 Diese Zuweisungen lassen sich unterscheiden nach Medium, nach Genre und Format, nach dem Ressort oder der Adressierung des Publikums. Indem Journalismus Wichtiges auf der Titelseite platziert und Skurriles auf die Seite „Aus aller Welt“ verschiebt, wird ein Ordnungssystem geschaffen, das konstitutiv für die Herstellung von Alltäglichkeit ist. Diese Zuweisungen werden im Journalismus vorgenommen – ihre Wirkung entfalten sie jedoch im Prozess der kollektiven Aneignung, also jenem komplexen Zusammenhang, bei dem die individuelle Lektüre zusammenwirkt mit dem Wissen über gruppengebundene Muster der Zuweisung und Bewertung. Verständigung über Normalität und Abweichung, über Zugehörigkeit und Ausgeschlossenheit wird in der diskursiven Aneignung journalistischer Texte hergestellt. Dazu liefert Journalismus zentrale Diskursbausteine. Sie entfalten ihre Wirkung weniger im einzelnen Text, sondern im diskursiven Zusammenhang der gesamten Textproduktion. Aus der Perspektive der Geschlechterforschung ist dabei zu fragen, in welcher Weise Geschlechterstrukturen der durch Journalismus geschaffenen Alltäglichkeit eingeschrieben sind. In welcher Weise ist das Geschlecht relevant für die Bestimmung von Zugehörigkeit zu oder Ausgeschlossensein von gesellschaftlicher Macht und kollektiven Ressourcen? Die vier Ebenen lassen sich zusammenfassend beschreiben: – Journalismus konstruiert Bilder des Alltäglichen. Dies schafft er vorwiegend ex negativo, indem er über Nicht-Alltägliches berichtet. – Journalismus entsteht im alltäglichen redaktionellen Leben. Die expliziten, professionellen Regeln und weit stärker die nicht benannten, sozialen und kulturellen Regeln gestalten einen redaktionellen Alltag, in dem journalistisches Handeln als soziale Praxis seinen Ausdruck findet. – Journalismus schafft Alltägliches. Für die Rezeption und Aneignung journalistischer Medienangebote prägen sich alltagsgebundene Rituale aus. – Journalismus konstituiert Alltäglichkeit. Dies gelingt ihm im Verbund mit anderen Medien- und kulturellen Angeboten, indem er dem kollektiven Publikum ein Bewusstsein davon vermittelt, was Zugehörigkeit zur Gemeinschaft einer Nation, Gesellschaft oder Subkultur ausmacht und wo die Grenzen dessen liegen. 1
Diese Leistung von Journalismus lässt sich als Herstellung von cultural citizenship bezeichnen, wie an anderer Stelle ausführlich beschrieben wurde (vgl. Klaus/Lünenborg 2004).
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3. Die Darstellung von Alltag im Nachrichtenjournalismus oder: Wie Nachrichtenfaktoren Geschlechterdifferenz herstellen Nachfolgend soll die Ebene der Medieninhalte näher betrachtet werden. Hier bewegt man sich im Kernbereich der Journalismusforschung. Erkenntnisleitend ist dabei die Fragestellung, unter welchen Umständen und in welcher Weise Facetten und Dimensionen des Alltags Eingang in die journalistische Berichterstattung finden. Rückt man das Konzept des ‚objective reporting‘, des Nachrichtenjournalismus in den Mittelpunkt der Betrachtung, so spielen Nachrichtenfaktoren als professionelle Selektionsmuster eine zentrale Rolle und dienen zugleich, wie Winfried Schulz (1990) betont, als Grundstruktur zur Konstruktion einer nach eigenen Regeln geschaffenen Nachrichtenrealität. Auf ihrer Grundlage wird das hergestellt, was als journalistische Realitätsvermittlung bezeichnet werden kann. Schulz hebt den Konstruktionsprozess dieser Realitätsdarstellung ausdrücklich hervor und knüpft damit an frühere Überlegungen beispielsweise von Gaye Tuchman an, die die Herstellung von Objektivität als ‚strategisches Ritual‘ und Nachrichten als spezifische Erzählungen bezeichnet hat (vgl. Tuchman 1972, 1978). Diese spezifische Konstruktionsleistung wird insbesondere mit Blick auf die Referenz zum Alltag unübersehbar. Werden Nachrichtenfaktoren wie persönlicher Einfluss, Prominenz, Struktur, Konflikt, Kriminalität, Personalisierung oder Ethnozentrismus zu zentralen Selektionskriterien, so ist Alltag damit kaum zu erkennen und zu beschreiben. Andrea Prenner hat bereits 1995 detailliert dargelegt und nachgewiesen, dass die von Schulz ermittelten Nachrichtenfaktoren auf einem impliziten gender bias beruhen. Die Konstruktion von Wirklichkeit durch Nachrichten lässt sich danach auch als spezifischer Prozess der Konstruktion einer geschlechtsgebundenen Realität nachzeichnen. Andrea Prenner (1995: 72) resümiert auf dieser Grundlage: „(…) die gültigen Nachrichtenfaktoren neigen dazu, den politischen Status quo zu erhalten und die herrschenden Machtverhältnisse zu zementieren.“ Im Detail erörtert Prenner, wie Schulz’ grundlegende Unterscheidung zwischen ‚politischen‘ und ‚unpolitischen‘ Nachrichten – und nur bei den politischen misst er beispielsweise die Kategorien Konflikt oder persönlicher Einfluss – unreflektiert zur ReEtablierung einer Geschlechterdichotomie führt. Mit Blick auf das Verhältnis von Journalismus, Alltag und Geschlecht bedeutet das: Zentrale journalistische Nachrichtenselektionsfaktoren, die allesamt darauf abzielen, das Außergewöhnliche, Aktuelle, Neue zu vermelden und also nicht Alltag zum Thema zu machen, basieren grundlegend auf einer geschlechterdichotomen Struktur. Die grundlegende Unterscheidung erfolgt entlang der Differenz Politik vs. Unpolitisches. Auf der Grundlage empirischer Daten lässt sich nachweisen, dass in dieser Weise Geschlechterdifferenz und -hierarchie in einem doppelten Sinne hergestellt wird:
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1. Die Fokussierung des Nachrichtenjournalismus auf Prominenz/Außergewöhnliches/Nicht-Alltägliches selektiert jene gesellschaftlichen Handlungsfelder, die geschlechterhierarchisch strukturiert sind und vernachlässigt demgegenüber andere Handlungsfelder, in denen stärker geschlechterparitätische oder frauendominierte Strukturen vorliegen. Die Handlungsfelder Politik oder Wirtschaft erhalten gegenüber den Handlungsfeldern Gesundheit oder Erziehung ungleich größere Aufmerksamkeit. Ungleiche Relevanz wird so fortlaufend medial wiederhergestellt. 2. Bei der Fokussierung auf die ‚relevanten‘ Felder gemäß Nachrichtenfaktoren konstruieren Medien – hier im Besonderen der Journalismus – eine eigenständige Wirklichkeit, die wiederum Geschlechterdifferenzen bestärkt. Dazu liegen umfangreiche Daten vor (vgl. für Hörfunknachrichten: Werner/Rinsdorf 1998; Cornelißen/Grebel 1999; für Fernsehnachrichten: Weiderer 1993; für Nachrichten in Tageszeitungen: Schmerl 2002; Röser 2006). Exemplarisch seien hier nur Daten aus dem Global Media Monitoring Project (2005) genannt: Weltweit machten in den zentralen Nachrichten Frauen nur 21 Prozent der AkteurInnen aus. Während sie im Bereich Politik 14 Prozent stellten, nahmen sie in den Bereichen Soziales immerhin 28 Prozent ein. Noch deutlicher wird die Geschlechterdifferenz mit Blick auf die Funktionen, die Frauen bzw. Männern in den Nachrichten zugewiesen werden. Den geringsten Anteil nehmen Frauen als Expertinnen und Sprecherinnen ein (17 % bzw. 14 %), den größten Anteil als ‚vox pop‘ (34 %) und als ‚Betroffene‘ (31 %). Es ist davon auszugehen, dass sich diese Zahlen in der deutschen Berichterstattung seit der Wahl von Angela Merkel zur Kanzlerin positiv verändert haben. Ob damit tatsächlich strukturelle Verschiebungen auch jenseits des Kanzlerinnen-Bonus auftreten, bedarf einer detaillierteren Analyse.2 Dennoch ist offenkundig: Die journalistische Selektion von Personen, Themen und Ereignissen in der nachrichtlichen Berichterstattung konstruiert ganz offensichtlich eine geschlechtshierarchische Realität, in der dem Alltag kaum oder keine Aufmerksamkeit geschenkt wird. Nachrichten sind weitestgehend Nicht-Alltag. Die nicht-alltägliche Welt der Nachrichten ist stark männlich dominiert. An anderer Stelle (Lünenborg 1996, 1997) habe ich dieses Konstruktionsprinzip bereits ausführlich thematisiert und auf verschiedenen Ebenen Veränderungen der Selektionskriterien und Selektionsmechanismen vorgeschlagen, die eine Veränderung der Geschlechterstrukturen und der Alltagsimmanenz von Nachrichten zur Folge haben würden. Exemplarisch seien genannt: 2
Genau diese Analyse ist u.a. Gegenstand eines Forschungsprojektes, das unter dem Titel „Spitzenfrauen im Fokus der Medien. Die mediale Repräsentation von weiblichen und männlichen Führungskräften in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft“ von Margreth Lünenborg, Jutta Röser, Tanja Maier und Kathrin Müller im Auftrag des BMBF durchgeführt wird (www.spitzenfrauenindenmedien.de).
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– An die Stelle der Ereignisorientierung sollte eine verstärkte Prozessorientierung treten. – Nachrichten sollten anstelle fragmentierter Partikularinformationen stärker Zusammenhänge darstellen. – Anstelle von Konflikthaftigkeit sollten strukturelle Bedingungen und gesellschaftliche Kontexte als Voraussetzungen von Konflikten in den Blickpunkt rücken. – Anstelle der Prominenz der Sprecher sollte verstärkt die Authentizität der Akteurinnen und Akteure zum Ausgangspunkt der Nachricht werden (vgl. Lünenborg 1996). Bis hierhin ist sichtbar geworden, dass der Nachrichtenjournalismus offenkundig nicht sehr ertragreich ist, wenn wir uns auf die Suche nach Alltagsrepräsentation im und durch den Journalismus machen. Zugleich ist diese Orientierung auf Aktualität, Prominenz und Konflikt hochgradig geschlechterhierarchisch wirksam.
4. Alltägliches Leben in subjektiven Formen journalistischer Berichterstattung Aber selbstverständlich sind mit der Beschränkung auf Formen des nachrichtlichen Journalismus nicht alle heute relevanten Formen, Formate, Genres und Präsentationsweisen von Journalismus erfasst. Alltag wird für Journalismus relevant, wenn er nicht danach fragt, welche politische Entscheidung heute getroffen wird und welches Ereignis jetzt stattfindet, sondern danach, welche Folgen solche Entscheidungen und Ereignisse haben (vgl. auch Herrmann in diesem Band). Dann macht sich Journalismus auf die Suche danach, wie sich politische und soziale Strukturen in den Lebensalltag von Menschen einschreiben, diesen prägen und aus dieser kollektiv gewordenen Erfahrung heraus wiederum für politisches Handeln relevant werden. Während also der Nachrichtenjournalismus das Besondere, Ereignisträchtige, Herausragende formuliert und herstellt, versuchen sich andere journalistische Berichterstattungsmuster einer ‚gesellschaftlichen Ganzheit‘ anzunähern. „In der Moderne ist die Einheit gesellschaftlichen Lebens aufgebrochen, und das Alltägliche tritt hervor und nimmt seinen Platz ein als eine neue Art eigener Ganzheit.“ (Grossberg 2003: 104) Das Erkennen des Alltäglichen lässt sich nicht empirisch ableiten als Ansammlung von Details, sondern es erfordert eine eigene interpretative Kraft. Im Journalismus existieren verschiedene Traditionen, Praktiken, Genres und Formate, die genau diese „eigene interpretative Kraft“ auf der Basis zahlreicher angesammelter Details für sich in Anspruch nehmen. In der Systematik journalistischer Genres oder Darstellungsformen (vgl. zur kritischen Auseinandersetzung mit diesen Systematiken Lünenborg 2005: 106ff.) wird diese Leistung
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gerade nicht von den berichtenden Formen (Meldung, Nachricht, Bericht), denen ‚objektiver‘ Charakter zugesprochen wird, erbracht, sondern von den ‚subjektiven‘ Formen wie Reportage, Feature oder Portrait. Von besonderer Relevanz werden in diesen Formen die spezifisch narrativen Leistungen, die Journalismus hier erbringt. Mittels spezifischer Erzählungen des Alltags werden Interpretationen von Wirklichkeit geliefert. Bevor an zwei aktuellen Textbeispielen genau diese narrativen Verfahren analysiert werden, soll an dieser Stelle auf ausgewählte historische Traditionen im Journalismus eingegangen werden. Sie zeigen beispielhaft, welch originäre Leistungsfähigkeit Journalismus gerade in der Auseinandersetzung mit Alltag und alltäglichem Leben erbringen konnte. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit beleuchten diese Traditionen zugleich auch, welche Leistungen in der Journalismusforschung unberücksichtigt bleiben, wenn sich diese ganz auf den Nachrichtenjournalismus konzentriert. 4.1 Die Reportage in der Tradition der Chicago School of Sociology In den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts entwickelte sich in Chicago, maßgeblich geprägt durch den Journalisten und Sozialwissenschaftler Robert E. Park, eine eigenständige kultur- und sozialwissenschaftlich geprägte Forschung, die als Chicago Schule der Stadtethnographie bezeichnet wird. Die spezifische Identität dieses Instituts beschreibt Joseph R. Gusfield folgendermaßen: „Wir sagten immer, dass eine Abschlussarbeit über das Trinken, die von einem Harvard-Studenten geschrieben wurde, ‚Modi kultureller Freisetzung in westlichen Gesellschaftssystemen‘ heißen würde, käme sie von einem Studenten der Columbia, hieße sie: ‚Latente Funktionen des Alkoholgenusses nach einer nationalen Stichprobe‘, und bei einem Doktoranden in Chicago ‚Soziale Interaktion bei Jimmy’s: eine Bar auf der 55sten Straße‘.“ (zit. nach Lindner 2004: 114)
Dichte Beschreibungen des sozialen Alltags an den Rändern der etablierten, hegemonialen Gesellschaftsstruktur – das charakterisiert die Chicagoer Stadtsoziologie. Über die Nähe dieser Art der Stadtforschung mit Formen des ReportageJournalismus ist vielfältig geschrieben worden (vgl. Lindner 1990; Haas 1999; Pöttker 2001; Lünenborg 2005). Es gibt Parallelen in der Recherche bzw. Feldforschung, in dem Interesse an nicht-hegemonialen sozialen Milieus, in dem aufklärerischen-gesellschaftsverändernden Impetus der Stadtsoziologie und der Großstadtreportage der 1920er Jahre. Die Großstadt-Reportage wird als die Ausdrucksform der Moderne begriffen. Die fragmentierte Wirklichkeit unterschiedlicher sozialer und kultureller Milieus im engen Stadtraum findet ihren sprachlichen Ausdruck in der Perspektivenvielfalt der Reportage. Die Grenzen zwischen Journalismus und Literatur verlaufen fließend und unscharf. Relevant erscheint hier noch ein anderer Zusammenhang: Es ist die Verbindung zwischen der ethnographischen Forschung, die sich für das Triviale, Alltägliche, Absonderliche interessiert, und der Journalistik als einer wissenschaft-
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lichen Disziplin, die es wagt, sich mit der gleichen Ernsthaftigkeit den banalen, trivialen, ‚niveaulosen‘ Phänomenen von Journalismus und deren Bedeutung für die Gesellschaft zu widmen. Eine so verstandene Journalistik rückt Formen des Unterhaltungsjournalismus oder des Reality TV mit der gleichen Intensität und Relevanzzuweisung in den Fokus der wissenschaftlichen Betrachtung wie sie Formen des Qualitätsjournalismus in der Journalistik seit langem zukommen. Eine kulturorientierte Journalistik, die nicht im ersten Schritt normativ vorgeht und Relevanz allein auf den engen Kern des politischen Nachrichtenjournalismus beschränkt, ermöglicht eine solche Öffnung (vgl. dazu ausführlich Lünenborg 2005). 4.2 New Journalism als Ästhetisierung von Alltäglichem Die Entwicklung des New Journalism in den 1960er Jahren knüpft teilweise an die Traditionen der Großstadt-Reportage an.3 Charakterisiert mit Umschreibungen wie „Lebensgefühl statt Fakten“, „Erzählung statt Wiedergabe, Intuition statt Analyse, Menschen statt Dinge, Stil statt Statistik“ (Haas/Wallisch 1991: 298) erschafft er eine eigene, narrative Wirklichkeit. Einerseits rücken dabei soziale Randgruppen der Moderne in den Mittelpunkt. Andererseits zelebrieren Autorinnen und Autoren des New Journalism sich selbst und ihre Protagonisten als Lifestyle. Der Autor Tom Wolfe verkörpert beide Dimensionen in exponierter Weise. Formal lässt sich New Journalism kennzeichnen durch eine intensive Hinwendung zur Alltagssprache, inklusive dialektaler Färbungen. Es wird der Versuch unternommen, gesprochene Sprache möglichst präzise schriftlich wiederzugeben. Regeln der Orthographie und Grammatik gelten dabei wenig. Auf diese Weise soll Authentizität und Nähe zu den Protagonisten entstehen. Die Arbeitsweise erfordert, ähnlich der ethnographischen Feldforschung der Chicago School, ein intensives Eintauchen in das Milieu, wochen- oder monatelange Recherche, die mit der tagesaktuellen journalistischen Produktion kaum kompatibel ist. Nicht zufällig werden die bekanntesten Arbeiten deshalb als Bücher publiziert. Arbeitsbedingungen und Publikationsformen des Journalismus erscheinen nur begrenzt geeignet für diese Form der Alltagsbeschreibung und Stilisierung. New Journalism versteht sich selbst als Ästhetisierung von profaner Alltagsbetrachtung. 4.3 Aktuelle Beispiele – oder: Wie der Blick auf das Alltägliche Geschlechterfragen in den Blick rückt Abschließend sollen zwei aktuelle journalistische Texte in den Blick genommen werden. Sie zeigen exemplarisch, welche Formen von Alltagsbetrachtung Jour3
Einen guten Überblick zur deutschsprachigen Forschung zum New Journalism liefern die Beiträge in Bleicher/Pörksen (2004), zu den prominenten amerikanischen Autoren Bus (2003).
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nalismus heute bietet und bieten kann. Als exemplarische Betrachtung ermöglichen sie eine Sicht auf die Thematisierung des Alltäglichen im BoulevardJournalismus der B.Z. ebenso wie im Qualitätsjournalismus der Wochenzeitung Die Zeit. Sichtbar wird damit, dass die Beobachtung des alltäglichen Lebens keineswegs auf ein Segment beschränkt bleibt, die Art der Beobachtung sich jedoch deutlich unterscheidet. An den zwei Beispieltexten zeigt sich zugleich – und hier kann nur auf der Grundlage der Beispiele argumentiert werden, systematische Befunde dazu sind nicht bekannt –, dass mit der Betrachtung des Alltäglichen durch den Journalismus neue Optionen entstehen, Geschlechterverhältnisse explizit zu thematisieren und dadurch zu einer Verringerung des gender gap beizutragen. Als Alltagspersonen haben Frauen deutlich bessere Chancen, gesehen und journalistisch wahrgenommen zu werden (vgl. für den Nachrichtenjournalismus die im 3. Absatz diskutierten Befunde). Beispiel 1: „Der jüngste Tag“ Die Zeit veröffentlichte in ihrer Ausgabe vom 31. August 2006 im Ressort Leben – sicher kein Zufall, das Leben ist dem Alltag schon ziemlich nahe – unter der Überschrift „Der jüngste Tag“ eine Reportage über einen Selbstversuch (Sußebach 2006): Die Redaktion wiederholte ein Experiment des Guardian und lud für einen Tag die Kinder aller Redaktionsmitglieder ein, um das „Problem der Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Familie“ in praktischer Erprobung zu bearbeiten. 19 Kinder verbrachten so einen Tag in den Berliner Redaktionsräumen der Zeit. Dieses Experiment beschreibt Henning Sußebach anschließend so: „(…) die Kinder beginnen mit der Hausdurchsuchung. Der Anblick des Büros eines Kollegen – es gleicht einer Altpapierdeponie – ist dabei nur der Auftakt eines Autoritätsverlustes, den wir Eltern nicht bedacht hatten. Warum noch das Kinderzimmer aufräumen, wenn es hier viel schlimmer aussieht? Überhaupt: Die Erwachsenen trinken aus Flaschen, verstecken Schokolade in ihren Schubladen und sagen dauernd ‚Scheiße‘.“
Beobachtung paart sich bei Sußebach mit Selbstreflexion: „Was ist das, Arbeit? Was kann so wichtig sein, dass die Eltern morgens um neun aus dem Haus gehen und erst abends um sieben wiederkommen? Und auch das ist eine drängende Frage: Was ist ein Chef? Wer ist der Mann, der mit einem einzigen Anruf ein ganzes Wochenende beenden kann? Dem sogar der eigene Vater gehorchen muss?“
Diese Passagen mögen nur exemplarisch zeigen, wie Lebenswelt (hier Kinderalltag) auf professionelle Alltagsroutinen der journalistischen Produktion treffen – wie dieses Zusammentreffen journalistisch aufbereitet und zielgruppengerecht präsentiert wurde. Als „Clash of cultures“ deklariert der Autor arg theatralisch diese sehr begrenzt inszenierte, alltagsweltliche Begegnung. Und genau diese Begrenztheit thematisiert er auch genauso offen: „Wir haben nicht mehr getan, als einen Tag lang kinderkompatible Welt zu spielen und das dann journalistisch
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zu verwerten.“ Die Zeit-Leser erfahren, dass die Kinder auch bei physischer Anwesenheit am Arbeitsplatz keine wirkliche Vorstellung davon bekommen, was Zeitungmachen eigentlich ist. Die Entgegenständlichung digitalisierter Produktion macht sie kindlichem Erfahrungswissen unzugänglich. Ungewöhnlich an dieser Art der Thematisierung von Alltag im Journalismus ist ihre Selbst-Reflexivität. Die Thematisierung des eigenen journalistischen und des außer-journalistischen Alltags, familiär gebunden oder außer-familiär, knüpft an die eingangs entwickelte Systematik an und verbindet die journalistische Thematisierung von Alltäglichem mit der Betrachtung redaktionellen Alltagslebens. Durchgängig werden damit auch Geschlechterrollen und -identitäten thematisiert, indem ‚angemessenes‘ Vater-Sein und Mutter-Sein, Elternrollen und KollegInnenrollen zueinander ins Verhältnis gesetzt werden. Einerseits entsteht so mediale Selbstreferenzialität – RedakteurInnen thematisieren sich und ihren vergleichsweise privilegierten Alltag. Andererseits ermöglicht genau diese Selbstreferenz eine besondere Qualität und Authentizität. Alltägliches Leben wird hier aus der Perspektive des Autors definiert, dargestellt und reflektiert. Und diese Selbstbezüglichkeit ist stets explizit. So werden die Maßstäbe der Beurteilung von Alltag nachvollziehbar. Zugleich bleibt es – und auch das ist explizit – ein exotisches Experiment, eine mediatisierte Simulation von Alltag. Beispiel 2: „Ist Hartz IV vererbbar?“ Die Berliner Boulevard-Zeitung B.Z. kündigt am 2. Oktober 2006 auf der Titelseite an: „Familie Hartz IV“ (o.V. 2006). Am Beispiel der Familie K. aus Berlin-Lichtenberg wird das Leben mit Hartz IV ‚erzählt‘. Hier ist es nicht selbstreflexive Betrachtung, sondern eher paternalistische Fürsorge, die die Erzählhaltung charakterisiert. „Wie geht es einer Familie, in der alle arbeitslos sind? In der keiner etwas zu tun hat?“ (Schulemann/Siewert 2006) Unter der Überschrift „Ist Hartz IV vererbbar?“ wird nicht Drückebergertum gebrandmarkt, sondern holzschnittartig Lebensgeschichte rekonstruiert, um damit Verständnis zu wecken. Familie K. gehört zu den typischen Wende-Verlierern. Trotz erlernten Berufs gelang es nicht, auf dem veränderten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Scheidung und neue Familiengründung verschärften den persönlichen Druck. Die Kinder reproduzieren das Muster: „Christine hat hennagefärbtes Haar, einen erweiterten Hauptschulabschluss, aber keine Ausbildung.“ Kennzeichnend bleibt dabei die Sicht der JournalistInnen auf das Fremde, ihnen Unvertraute. „Sie stellt Kevin (1) einen Teller Chips vor die Nase. Dazu gibt’s aufgelöstes Eistee-Granulat, eine Scheibe Wurst.“ Die Protagonisten werden in ihrer Alltäglichkeit ausgestellt und zugleich vorgeführt. Eine reflexive Sicht auf das eigene Leben wird ihnen nicht zugebilligt – anders als den Redakteuren der Zeit. Die B.Z. weist einer Soziologin die Expertise zu, das Schicksal der Familie K. zu deuten: „Es wird eine Resignation an die Kinder weitergegeben unter dem Mot-
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to: Es hat ja alles sowieso keinen Sinn.“ Diese Expertise steht in frappierendem Gegensatz zu der dargestellten, individuellen Lebensgeschichte. Der Familienvater wird durchaus Respekt einflößend dargestellt: „Der gelernte Koch hat sechs Kinder und drei Enkel. ‚Ich muss los, Schatzi‘, sagt Peter. Er verdient sich in der Suppenküche Arche und als Fußballtrainer 400 Euro monatlich dazu, und heute Abend hilft er noch im Obdachlosenheim.“ Im populären Format des Boulevard-Journalismus wird hier die brüchige Erzählung des (Wende)Verlierers geliefert. Der Leserschaft der B.Z. sind solche Biographien aus eigener Erfahrung oder im sozialen Umfeld vertraut. Die Dämonisierung der Sozialschmarotzer wird deshalb vermieden. Mit dem Zurschaustellen des alltäglichen Lebens wird zugleich vermittelt, dass die Einhaltung bürgerlicher Lebens- und Ernährungsregeln sinnstiftend wirkt. Während die Alltagserzählung aus der Zeit-Redaktion ihre Qualität in der Selbstreflexion der eigenen Lebens- und Arbeitsumstände erwirbt, wird die Hartz-IV-Familie in der B.Z. als Beobachtungsobjekt präsentiert, das nur bedingt den gesellschaftlichen Erwartungen entspricht. Der fremde Blick auf den befremdlichen Alltag stellt hier die normative Positionierung her.
5. Fazit Journalismus bietet in seinen ‚seriösen‘ und ‚populären‘ Ausdrucksweisen tradierte Muster der Beobachtung und Darstellung von alltäglichem Leben. Sie nehmen im Gesamtrepertoire journalistischer Angebote nur einen beschränkten Anteil ein. Damit stellen sie jedoch eine spezifische Ressource dar, mittels derer Journalismus Erzählungen des alltäglichen Lebens liefert. Sichtbar wird dabei, dass diese alltagsgebundenen Erzählungen in besonderer Weise die Möglichkeit beinhalten, Geschlecht als soziale und kulturelle Dimension des Alltags in den Blick zu rücken. Damit unterscheiden sich solche Formen des subjektiven Journalismus von jenen nachrichtlichen, ‚objektiven‘ Formen, denen ein spezifischer gender bias als immanenter Bestandteil der Nachrichtenauswahl und Konstruktionsprinzip eigen ist. Hier wird Geschlechterblindheit zum strukturierenden Prinzip. Während der Nachrichtenjournalismus über den Alltag ex negativo berichtet, indem er das Ereignishafte und Außergewöhnliche in den Mittelpunkt rückt, stellt er gleichwohl Alltäglichkeit beim Publikum her. Dies findet primär durch die immanenten Zuweisungen und Verortungen der gelieferten Partikularinformationen statt, weniger durch die dort vermittelten Fakten und Informationen. Mit diesen Positionierungen bestimmen die RezipientInnen Inklusion und Exklusion, oben und unten innerhalb der Gesellschaft. So stellt Journalismus in seinem primären Fokus auf das Außergewöhnliche die Grenzen des Alltäglichen her.
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Vom hohen Anspruch des ‚Banalen‘. Was Journalistinnen und Journalisten über Lebensnähe von der Alltagsgeschichte lernen können Friederike Herrmann
1. Der Alltag und das Interesse des Publikums Die Zeitung gehört zum Alltag, sie ist Teil unseres Alltags. Sie besitzt mindestens ein zentrales Merkmal des Alltags: die regelmäßige, routinemäßige Wiederkehr. Dadurch konstituiert sie Rituale, ihre Lektüre markiert für viele Leserinnen und Leser einen festen Punkt im Tagesablauf: Sie wird beispielsweise immer zum Frühstück gelesen oder während der Fahrt zur Arbeit oder als Auftakt zum Feierabend. Doch nicht nur die Rezeption der Zeitung ist in den Alltag eingebettet, auch ihre Inhalte repräsentieren Alltägliches: Sie berichtet über regelmäßig wiederkehrende Sitzungen von Gemeinderat oder Vereinen, über die Gewohnheit von Jugendlichen jeden Nachmittag bei schüler- oder studiVZ vorbeizuschauen, über das andauernde Klagen von VerkehrsteilnehmerInnen und LadenbesitzerInnen, über fehlende Parkmöglichkeiten, Busverspätungen und andere Unannehmlichkeiten des täglichen Lebens. Die Zeitung informiert über Serviceeinrichtungen und spiegelt in Reportagen und Hintergrundberichten das alltägliche Leben. Schon im Wort Journalismus steckt „jour“, der Tag, die tägliche Wiederkehr, das, was alle Tage passiert. Gleichzeitig scheint Journalismus das Gegenteil von Alltag zu bedeuten. JournalistInnen behaupten in ihren Schlagzeilen, sie böten das Aufregende, Exotische, Ungewöhnliche, den Kontrapunkt zum Alltag. Tatsächlich sind die meisten der Nachrichtenwerte, nach denen JournalistInnen die Meldungen selektieren, Anti-Alltags-Konstrukte, wie Prominenz, Konflikt, Überraschung (vgl. z.B. Meier 2007: 192ff.). „Das Nichtalltägliche blieb (…) bis heute der entscheidende Selektionsgesichtspunkt alltagspublizistischer Produktion und Rezeption“, schreibt der Kommunikationswissenschaftler Manfred Rühl (2001: 266). Unter JournalistInnen kursiert dies als griffige Formel: ‚Hund beißt Mann‘ ist keine Nachricht, ‚Mann beißt Hund‘ ist eine Nachricht. Der Alltag ist keine Nachricht, das Nicht-Alltägliche ist die Nachricht. Themen sind vom Tisch, wenn sie zum Alltag geworden sind: Das Waldsterben hat einst die Medien beherrscht, heute geht es ungebremst weiter, die Lage ist
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also eigentlich noch dramatischer geworden – aber es ist kein Thema mehr. Man kann die Medien dafür beschimpfen, doch reagieren sie nur auf die Interessenlage des Publikums. Wer will schon hören, was er ohnehin schon weiß? Ist der Alltag nun Thema für den Journalismus oder ist er es gerade nicht?
2. Die Entdeckung des Alltags in der (Geschichts-)Wissenschaft Weiterhelfen kann bei dieser Frage ein Blick auf den Umgang verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen mit dem Alltag. Auch in der Wissenschaft war der Alltag lange kein Thema. Die Geschichtswissenschaft etwa beschäftigte sich mit den großen Ereignissen, den Herrschern und Kriegen, später dann eher mit den sozialen Bewegungen und Umwälzungen – unerheblich hingegen erschien die Mikro-Ebene des Alltags, z.B. die Geschichte alltäglicher Personen. Was konnten das Leben und die Erfahrungen einer einzelnen Fischarbeiterin oder eines Zigarrendrehers schon zum Verständnis der Geschichte beitragen? In den 1980er Jahren begann sich dies zu ändern. Alltag etablierte sich als wissenschaftliche Kategorie inspiriert von Ethnomethodologie, Alltagsgeschichte und bestimmten Zweigen der Sozialwissenschaften. Insbesondere von Thomas Luckmann und Peter Berger wurde ‚Alltag‘ in der Tradition von Edmund Husserl und Alfred Schütz theoretisch erkundet und definiert (vgl. Gyr 1999: 147). Auf der anderen Seite suchten Empiriker den tatsächlich gelebten Alltag genauer zu beschreiben und zu analysieren. Es ging dabei nicht mehr nur um den fremden Alltag, den Alltag ferner Völker und anderer Kulturen, sondern vor allem auch darum, einen neuen Blick auf den eigenen Alltag zu werfen, seine Untiefen zu erforschen. Einen wichtigen Anteil an dieser Entwicklung hatte an vielen Universitäten die Volkskunde, die aus einer kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen nationalsozialistischen Vergangenheit heraus ‚volkstümelnde‘ Sichtweisen abgestreift hatte. Sie etablierte sich mit neuem methodischen und theoretischen Rüstzeug als „Wissenschaft vom Alltag“ (Gyr 1999: 145f.).1 Mit Traditionsbrüchen im Alltagsleben, die damals spürbar wurden, erklärte der Tübinger empirische Kulturwissenschaftler Hermann Bausinger das neu erwachte Interesse (vgl. Bausinger 1987: 14). Denn solche Umbruchzeiten machen deutlich, dass auch das, was uns anscheinend selbstverständlich umgibt – der Alltag – historisch entstanden ist. Und damit wächst das Interesse an den Bedingungen, die diesen Alltag formen. Was das neue Paradigma anstoßen wollte und oft auch konnte, lässt sich am Beispiel der Geschichtswissenschaft zeigen. Lange war dort – vielleicht ähnlich wie im Journalismus – der Gedanke vorherrschend, dass es gerade die nichtalltäglichen Ereignisse seien, die das Geschehen vorantreiben, beispielsweise 1
Vielerorts legte sie auch den verstaubten Namen „Volkskunde“ ab, etablierte sich beispielsweise in dem in diesem Wandel führenden Tübingen als „Empirische Kulturwissenschaft“.
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Kriege, neue technische Erfindungen oder große Persönlichkeiten, Herrscher oder Reformer. Erst die Sozialgeschichtsschreibung – etwa in der Tradition der Bielefelder Historischen Sozialwissenschaft – räumte mit dieser an historischen Persönlichkeiten und Ereignissen orientierten Geschichtswissenschaft auf und nahm stattdessen die Strukturen in den Blick. Themen waren beispielsweise Arbeiter und Arbeiterbewegung oder ganz allgemein das Verhältnis von Staat und Gesellschaft, Religion und Klasse. Man hatte sich von der erzählenden Geschichtswissenschaft abgewandt und schrieb stattdessen analytisch und argumentierend, dadurch aber auch sehr abstrakt. Den Alltag und das Leben der einzelnen Individuen freilich fanden diese Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen nicht erforschenswert. Ganz im Gegenteil, die Sozialhistoriker waren zunächst einmal pikiert, als Anfang der 1980er Jahre ein kleines Völkchen auftauchte, das sich ‚Barfußhistoriker‘ nannte und den Alltag der ‚kleinen Leute‘ untersuchen wollte. Deren Schicksal und Erleben schien den Sozialhistorikern nichts zum Verständnis der historischen Zusammenhänge beizutragen. Die Wurzeln der neuen Bewegung waren vielfältig. Es gab die Geschichtswerkstätten, die inspiriert von der „Grabe, wo du stehst“-Idee des Schweden Sven Lindqvist (1989) Geschichte vor Ort erforschten, die Vergangenheit des Stadtteils oder Dorfes. So entstand eine der ersten Geschichtswerkstätten Deutschlands in Hamburg-Ottensen und widmete sich der Geschichte der Zigarrendreher und Fischarbeiterinnen, die dort gelebt hatten. Inspirationen kamen auch aus der undogmatischen Marx-Lektüre. Marx’ leicht modifizierter Satz „Die Menschen machen ihre Geschichte nicht aus freien Stücken, aber sie machen sie selbst“ wurde zu einem Leitmotiv (vgl. z.B. Niethammer 1985). Allenfalls als Illustration wollten die etablierten Historiker die Ergebnisse dieser Forschung auf Mikro-Ebene gelten lassen. Der Sozialhistoriker HansUlrich Wehler sprach von „grünlich schillernden Seifenblasen“2 und traf mit der Farbe der damals noch jungen Partei das Milieu, aus dem sich auch die neue Geschichtsbewegung speiste. Doch es waren nicht nur Laien, die diese neuen Ansätze verfolgten, sondern zunehmend auch junge HistorikerInnen an den Universitäten. Die erkannten in der Erforschung und Darstellung von Einzelschicksalen weit mehr als eine Illustration, sprachen vielmehr von einem neuen Paradigma. Der Alltag sei der Ort, an dem sich historische Veränderungen manifestieren, so ihr Credo, hier erfolge die Sinngebung, hier würden neue Strukturen geschaffen oder auch abgelehnt. Die Menschen sind also nicht etwa Marionetten übergreifender Strukturen, sondern sie erfahren und gestalten Veränderungen individuell, nehmen sie wahr oder verdrängen sie, sind jedenfalls nicht Objekte des Geschehens, sondern Subjekte. 2
Aussage Wehlers bei einer Podiumsdiskussion auf dem 35. Historikerkongress in Berlin am 6. Oktober 1984, eigene Mitschrift, F.H.
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Der Blick allein auf die Strukturen verstellt diese Einsicht. So hatte die Sozialgeschichte beispielsweise klasseninterne Differenzierungen innerhalb der Arbeiter viel zu wenig wahrgenommen. Ähnliches gilt für den Widerstandsbegriff im Nationalsozialismus, der zu wenig differenziert und damit verkannt hatte, welches Nebeneinander von partieller Bejahung und Opposition es im Nationalsozialismus gegeben hat oder dass Widerstand oft von alltäglichen Interessen, wie der Verfügbarkeit von Lebensmitteln, angestoßen wurde (vgl. Broszat/Fröhlich 1987). Die Vieldeutigkeit geschichtlicher Veränderungen wird erst auf der Ebene des Alltags deutlich: „Theoretische Großbegriffe der Sozialgeschichte wie der Prozeß der Modernisierung und Rationalisierung – so die Argumentation – verfehlten zwangsläufig die historische Wirklichkeit und Erfahrungswelt der Individuen und Gruppen in ihrer Widersprüchlichkeit, Ungleichzeitigkeit und Komplexität.“ (Berliner Geschichtswerkstatt 1994: 7)
Neue Methoden wurden erschlossen oder von den Nachbarwissenschaften übernommen: Tagebücher, Briefe, Fotos, Alltagsgeräte wurden zu historischen Quellen, ebenso wie die Menschen selbst durch die Methode der Oral History, der aus der persönlichen Erfahrung erzählten Geschichte (vgl. z.B. Breckner 1994). Mit diesem Werkzeug erforschten die neuen Historiker Erfahrungen, Mentalitäten, Lebenswelten. Geschichte wurde ‚von unten‘, „aus der Perspektive der Subjekte, aus dem Blickwinkel der Alltagserfahrung und Handlungskompetenz der einzelnen Individuen und Gruppen erschlossen“ (Berliner Geschichtswerkstatt 1994: 9). Die Perspektiven und folglich auch die Darstellungen orientierten sich häufig am Einzelfall, wie der Historiker Alf Lüdtke betont: „Wenn sich Ambivalenzen nur in der Verknüpfung einer Vielzahl von Einzelbeobachtungen bzw. von disparaten Quellen und Überresten erschließen, dann sind einzelne Fälle und deren Geschichte unerlässlich. Sie geben nicht nur Kolorit, sondern zeigen Geschichte als Prozeß, als Geflecht wie als Mosaik von (Inter)aktionen. In der Form einer Miniatur lässt sich die ‚Dichte‘ von Lebenssituationen und Handlungszusammenhängen anschaulich machen (…).“ (Lüdtke 1989: 29)
Es wurde der Geschichte durch diesen Ansatz also nicht nur ein neuer Gegenstandsbereich erschlossen, sondern eine neue Perspektive. Und damit wurden auch Hausarbeit und Familie, Sexualität, Kindererziehung und Nachbarschaft zum Thema. Mit der neuen Perspektive entdeckte die Geschichtswissenschaft jene Hälfte der Bevölkerung, die bislang kaum einmal als geschichtsträchtig gegolten hatte: die Frauen. Inzwischen ist von der Alltagsgeschichte nicht mehr so viel die Rede. Das bedeutet aber nicht, dass die Wissenschaft sich wieder von ihr abgewandt hätte. Vielmehr sind im Zuge des Cultural Turn viele der neuen Ansätze in die Kulturgeschichte eingegangen. Allerdings könnte dabei mitunter der wichtige Gedanke verschwinden, dass das Private, der Alltag, politisch ist. Es war ja tatsächlich eine neue Einsicht, die damit formuliert wurde: Die Art, in der wir unsere Beziehungen und unser privates Leben gestalten, hängt von politischen Vorgaben
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ab und wirkt auch auf diese zurück. In der direkten Auseinandersetzung mit politischer Geschichtsschreibung wurde deutlich, dass der Alltag und damit das sehr unterschiedliche Schicksal und Erleben einzelner Menschen Geschichte und Politik formen und gestalten. Der hier skizzierte Begriff von Alltag liegt den folgenden Untersuchungen und Überlegungen zugrunde. Unter Alltag wird bezogen auf den Journalismus die Konkretion, die Miniatur, die Beschreibung des Einzelfalls in all seinen Widersprüchlichkeiten und Ambivalenzen verstanden. Gemeint ist hier also nicht der Nutzwert- und Ratgeberjournalismus, der RezipientInnen bei der Bewältigung der täglichen Abläufe unterstützt. Es geht vielmehr um eine Perspektive, die das gesellschaftliche Geschehen ‚von unten‘ in den Blick nimmt, vergleichbar der Alltagsgeschichte. Es ist jene Wirklichkeit, die in der Analyse von Strukturen und Institutionen nicht abgebildet werden kann. Damit kann der persönliche Arbeitsalltag gemeint sein, der zwar häufig in einer Institution stattfindet, aber im Konkreten oft anders aussieht als die Strukturen der Institution vorzugeben scheinen. Es ist aber insbesondere auch der Alltag jenseits solcher Institutionen gemeint, das Familienleben, die Kommunikation auf der Straße, die kleinen Gemeinschaften. Für diesen Alltag wird synonym oft auch der Begriff der Lebensnähe verwandt (vgl. z.B. Pasquay 2007). Und da nach wie vor Nachbarschaft, Einkaufen und Familie Domänen der Frauen sind, sind sie in solchen Alltagskontexten präsenter als etwa in den Institutionen der Politik. Die Konzentration des institutionenbezogenen Journalismus auf männliche Eliten wird ersetzt durch den Blick auf handelnde Menschen jenseits dieser Institutionen: Jugendliche oder alte Menschen, Migrantinnen und Migranten beispielsweise.
3. Wie die Zeitung den Alltag verschluckt – ein Beispiel JournalistInnen lieben das Konkrete, Anschauliche. Sie wissen, dass das Einzelschicksal mehr berührt als die anonyme Masse, dass die Beschreibung einer einzelnen Rose eher ein Bild hervorruft als die abstrakte Rede von einem Blumengarten. Aus dieser Perspektive sollte ihnen ein Ansatz, der den konkreten Alltag in den Blick nimmt, viel näher sein als einer, der sich auf das analytische Erfassen von Strukturen richtet. Leserstudien zeigen, dass auch das Publikum sich Lebensnähe von der Tageszeitung wünscht und damit den Alltag meint: „Besonders wichtig finden die Leser (…) Tatsachenberichte aus dem Alltag (…).“ (Pasquay 2007) Insbesondere Frauen und Jugendliche sollen dadurch stärker angesprochen werden (vgl. Jakobs/Ott 2003). Es gibt also gute Gründe für die Zeitungen, sich des Alltags anzunehmen. Und dies geschieht auch. Allerdings lohnt ein näherer Blick auf die Art der Berichterstattung über den Alltag.
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Dies soll am Beispiel des Schwäbischen Tagblattes, der Lokalzeitung der Universitätsstadt Tübingen, untersucht werden. Die Zeitung ist bekannt dafür, dass sie sich einem aufklärerischen und kritischen Journalismus verpflichtet fühlt und reinen Terminjournalismus und ‚Hofberichterstattung‘ meidet. Die Zeitung setzt gerne selbst Themen, auch jenseits des Mainstreams. Eine Redakteurin in leitender Position, Ulrike Pfeil, hat in einem Aufsatz explizit die stärkere Berücksichtigung von Themen des Alltags gefordert, insbesondere auch, um Frauen besser zu erreichen (vgl. Pfeil 2001). Diese Sensibilität mag auch damit zusammenhängen, dass von den 14 Redakteurinnen und Redakteuren, die im Untersuchungszeitraum in der Stadtredaktion arbeiteten, die Hälfte Frauen waren. Das ist ein besserer Schnitt als der Bundesdurchschnitt (vgl. z.B. Weischenberg u.a. 2006: 260). Die Ausgangsvoraussetzungen für eine kompetente und innovative Berichterstattung über den Alltag könnten also besser kaum sein. Eine beispielhafte Untersuchung der Themenauswahl im Lokalteil einer zufälligen Woche3 ergibt denn auch, dass von sieben Aufmacherartikeln des Lokalteils dieser Woche drei alltagsnahen Themen gewidmet sind: Es geht um Martinigänse, Verspätungen im Nahverkehr der Bahn und die Lage des Einzelhandels in der Altstadt. An prominenter Stelle stehen also Themen, die allesamt die Chance bieten, lebensnah zu berichten und Alltägliches darzustellen. Zudem ist bei solchen Themen zu erwarten, dass Frauen häufiger zu Wort kommen oder Beachtung finden, da diese Bereiche immer noch als ihre Domäne gelten. Wie aber sieht nun die Berichterstattung im Einzelnen aus? Untersucht man diese Artikel genauer, so fällt zunächst auf, dass entgegen aller Erwartungen Frauen nicht vorkommen; in den Artikeln werden sieben Männer mit Namen genannt und keine einzige Frau.4 In dem Text über Martinigänse finden nur Gänsehalter eine namentliche Erwähnung und das sind Männer. Im Artikel über den Einzelhandel der Altstadt taucht ein männlicher Stadtrat auf, ansonsten steht die FDP als Partei im Mittelpunkt. Im Beitrag über Verspätungen im Nahverkehr werden die Bahnverantwortlichen befragt – das sind alles Männer – und es kommt ein Kunde zu Wort, ein Geschäftsreisender. Dass in den Artikeln ausschließlich Männer erscheinen, liegt an der Perspektive der Berichterstattung: Es geht um Arbeitswelt und Politik und nicht um die alltägliche Lebensgestaltung jenseits solcher Institutionen. Der Artikel über die Martinigänse hätte durchaus die Möglichkeit geboten, darüber zu schreiben, wie dieses Ritual in den Alltag eingebettet ist, inwieweit städtische, moderne Familien es noch pflegen, was es für die Bevölkerung auf 3 4
Es handelt sich um die Woche vom 2. bis 8. November 2003. Nur indirekt werden Frauen einmal erwähnt, in der Schrägstrich-Formulierung „Einkäufer/innen“, was noch einmal zeigt, dass das Tagblatt ein Bewusstsein für Geschlechterrepräsentation besitzt.
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dem Land bedeutet. Stattdessen erfahren wir ziemlich viel über hochmoderne Gänseställe, die mobil sind und isolierte Plastikwände haben. Wir werden über technische Details der solargespeisten Elektroknotengitter unterrichtet, die Füchse fernhalten. Wir erfahren sogar die Zahl der amtlich gemeldeten Gänse im Kreis Tübingen im November 2003. Aber wir erfahren nichts darüber, welche Bedeutung die Menschen des Jahres 2003 dem Brauch der Martinigänse beimessen. Es kann also zweierlei festgestellt werden: Auch wo vermeintlich über den Alltag berichtet wird, konterkarieren hergebrachte Muster journalistischer Routinen den Ansatz und eine lebensnahe Berichterstattung findet nicht statt. JournalistInnen orientieren sich – auch wenn sie über lebensnahe Themen berichten – oft allzu sehr an den Institutionen und nicht am konkreten Einzelfall. Das hat zur Folge, dass die konkreten Personen, Erfahrungen und Handlungen des Alltags unsichtbar bleiben. Auch Themen, die auf den ersten Blick lebensnah erscheinen, sind es bei näherem Hinsehen nicht. Die geringe Repräsentation von Frauen geht damit Hand in Hand. Für die Forschung bedeuten diese Ergebnisse, dass WissenschaftlerInnen, die die Behandlung des Alltags in Zeitungen untersuchen wollen, sich nicht mit der Auszählung von Themen begnügen können, sondern die Texte selbst analysieren müssen, weil die Art der Berichterstattung entscheidend ist. Und für die journalistische Praxis heißt dies, dass anscheinend alltagsnahe Themen noch keine wirklich lebensnahe Berichterstattung garantieren – weshalb sich auch kein positiver Effekt auf die Sichtbarkeit von Frauen zeigt. Aus vielen Studien ist bekannt, dass der geringe Anteil von Frauen in den zitierten Beiträgen dem Durchschnitt auch anderer Zeitungen entspricht (vgl. z.B. Journalistinnenbund 2006).5 Das Beispiel zeigt allerdings auch: Alltag ist ein schwammiger Begriff, der vieles umfassen kann – den Alltag in der Arbeitswelt, sogar das Alltagsgeschäft der Politik. Der Alltag allerdings, den die oben genannten Sozial- und Kulturwissenschaftler der 1980er Jahre gemeint haben und auf den sich Verlegerinnen und Verleger und wahrscheinlich auch Leserinnen und Leser beziehen, wenn sie mehr Alltag in der Zeitung fordern, ist ein Alltag, der auch mit Lebensnähe übersetzt werden kann. Es ist ein Alltag, der mit dem privaten Leben und seiner Gestaltung zu tun hat und nur sehr konkret am Einzelfall beschrieben werden kann. Dieser Alltag ist in den letzten Jahrzehnten im Wandel begriffen, vielfältiger geworden, und das Bedürfnis über ihn zu lesen mag mit dem Bedürfnis 5
Wenn man sämtliche Artikel, die im Tagblatt dieser Woche erschienen sind, rein quantitativ danach auswertet, wie häufig Männer und Frauen erwähnt werden, kommen auf zehn Männer dreieinhalb Frauen. Interessant dabei ist, dass die Männer nicht nur in der Politik, sondern auch in vielen der vermeintlich alltagsnahen Themen wie Unterhaltung, Reise oder Mode überrepräsentiert sind. Deutlich heraus fallen eigentlich nur die Bereiche Gesundheit, Soziales und Gleichberechtigung, zum letzten Thema bietet das Tagblatt immerhin vier Artikel binnen einer Woche (Statistik der Autorin).
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nach mehr Orientierung in der Vielfalt zusammenhängen. Vordergründig wurde dieser Alltag in den zitierten Beispielen behandelt, tatsächlich fiel er dem stereotypen Blick der Journalisten zum Opfer. Man könnte sogar vermuten: Da war guter Wille vorhanden, aber auf dem Weg ist das Ziel verloren gegangen. Die Chance, aus einem bürgernahen Thema einen Text zu machen, der auch die Alltagserfahrungen der Leserinnen und Leser aufgreift, wurde vergeben.
4. Perspektiven für die journalistische Präsentation des Alltags Die Alltagsferne vieler Presseartikel lässt sich sicher zu großen Teilen mit den Konventionen des Journalismus erklären: Da sind die berühmten W-Fragen, allen voran die nach dem „Was“ und „Wer“. Jeder Journalist und jede Journalistin lernt in der Ausbildung, dass diese Fragen am Anfang jedes Berichtens stehen müssen. Dies schafft eine Konzentration auf Fakten und sei es – wie in dem dargestellten Beispiel – auf die Gänsezahl. Die Kernfrage nach dem Alltag aber ist die Frage nach dem „Wie“ (vgl. Thurn 1980: 27). Wer nach dem „Was“ des Alltags fragt, fragt nach Fakten und Ereignissen. Die aber sind im Alltag tatsächlich langweilig, alltäglich eben. Spannend wird es dann, wenn wir hinter die Kulissen schauen und fragen, wie wir den Alltag verstehen und gestalten, wie in ihm handeln. Es geht nicht um Fakten, sondern um Erfahrungen und Deutungen. Es geht um die Prozesse, die uns alltäglich begleiten, die wir normalerweise allerdings nicht reflektieren. Dies sind die Themen, denen sich beispielweise einer der prominentesten Alltagsforscher, der französische Soziologe Jean-Claude Kaufmann widmet. In seiner Studie „Schmutzige Wäsche. Zur ehelichen Konstruktion von Alltag“ (1994) untersuchte er, wie 20 Paare sich beim Thema Wäschewaschen zwischen alten Gewohnheiten und modernen Ansprüchen zusammenraufen. Wenn die Frau ihren Partner im Laufe einer Beziehung irgendwann nicht mehr bittet, seine schmutzigen Socken wegzuräumen, sondern es praktischerweise gleich selbst tut, so ist das ein winziger Akt, der doch gleichzeitig eine Veränderung im Rollenverhältnis der beiden anzeigt und konstituiert. Für Kaufmann sind es solche kleinen Beobachtungen, die mitunter mehr Aufschluss über Ambivalenzen moderner Paarbeziehungen geben als objektive Fakten und Zahlen über Singlehaushalte, Scheidungsraten und Berufstätigkeiten. Kaufmann formuliert es so: „Für mich ist das Banale wesentlich, es gibt keinen Gemeinplatz, der es nicht verdiente, sich über ihn Gedanken zu machen. Das Besondere an der Banalität besteht darin, dass alle sie kennen und gleichzeitig ignorieren, nur das darüber wissen wollen, was sie schon wissen, also ziemlich wenig.“ (Kaufmann, zit. nach Korsmeier 2007) Es gilt also, das Unbekannte am eigenen Alltag zu entdecken. Der Blick darauf verlangt von JournalistInnen andere Recherchewege. Die Top-Down-Perspektive,
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die Befragung der Vertreter von Behörden und anderen Institutionen, führt hier kaum weiter. Dem Alltag kommt man nur mit der Annäherung ‚von unten‘ auf die Spur, durch das Gespräch mit Bürgerinnen und Bürgern. Die Recherche wird dadurch schwieriger und zeitaufwendiger. Denn Behörden und Institutionen sind den Medien gegenüber auskunftspflichtig und an festgelegten Orten zu festgelegten Zeiten zu finden. Viel mühsamer ist es dagegen Leute zu finden, die aus ihrem Alltag erzählen mögen. Und auch das Gespräch selbst wird aufwändiger, wenn JournalistInnen Situationen beobachten und Erzählungen zuhören, statt vorher festgelegte Punkte abzufragen. Die Ergebnisse schließlich können nicht objektiv sein, sondern immer nur subjektiv, denn es sind Interpretationen (vgl. hierzu auch Lünenborg in diesem Band). Aber im Hinblick auf Relevanz und Neuigkeitswert – also auf klassische Nachrichtenfaktoren – steht eine gute Alltagsgeschichte keineswegs hinter aktuellen Nachrichten zurück. Unter den klassischen Genres des Journalismus scheint die Reportage die geeignetste Form, will man darstellen, wie Menschen ihren Alltag erfahren und gestalten. Ihr Thema sind Einzelfälle, ihre Darstellungsform darf subjektiv sein. Allerdings wird von der Reportage häufig gefordert, dass sie ‚pars pro toto‘ stehen soll, also den Einzelfall nur als Beispiel, als Illustration gelten lässt, letztlich also eine Top-Down-Perspektive beibehält: „Die Reportage ist kein Ersatz für Nachricht oder Bericht, sondern deren Ergänzung.“ (von La Roche 2006: 150) Manche Autoren gehen so weit zu behaupten, auch die Reportage sei im Kern eine Nachricht, müsse den Leserinnen und Lesern Tatsachen und Informationen in einem persönlich gefärbten Erlebnisbericht vermitteln (z.B. Fey/Schlüter 2003: 22f.). Vielleicht spiegeln solche Definitionen nur, wie sehr Journalismus oft von der Nachricht her gedacht wird. Lehrbücher gehen häufig davon aus, dass eine Reportage spannende Tatsachen zum Thema haben müsse. Spannende Fakten aber findet man im vertrauten Alltag in der Regel nicht. In der Realität hat der Journalismus allerdings vielfältigere Formen des Erzählens entwickelt, und es gibt großartige Reportagenschreiberinnen wie die ehemalige Spiegel-Autorin Marie-Luise Scherer, deren Texte oft keine Fakten im nachrichtlichen Sinn enthalten. Sie ist ein Beispiel für jene Autorinnen und Autoren, die in der Reportage Alltag einfangen. Häufig sind sie Grenzgänger zwischen Journalismus und Literatur. Marie-Luise Scherer beschreibt ihre Arbeitsweise allerdings als extrem aufwändig: „Ich tappe wochenlang durch die Sümpfe (…). Für einen richtigen nervösen Profi wäre das Zeitverlust. Ich kenne ja noch keinen Informanten und wende mich an keinen Bürgermeister. Ich gehe einfach los.“ (Scherer 2006: 36f.) Von einer ihrer Reportagen sagt sie: „Was ist denn die Handlung beim Akkordeonspieler? Der geht in Berlin hin und her, fährt ab und zu über Moskau in den Kaukasus und wieder zurück. Was soll man da erzählen, nackt, im dpa-Stil? Ich habe keine hochinteressanten Fakten. Das sind Geschichten, die leben durch die Präzision der Schilderung.“ (ebd.: 33)
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Auch der berühmte amerikanische Reporter Gay Talese (2005) glaubt, „dass es sich lohnte, über das Gewöhnliche, das alltägliche Geschehen im Leben ganz normaler Menschen zu schreiben – dass es insbesondere für Zeitungsleser interessant war (…)“ (ebd.: 22f.). Ein solches Schreiben hat Tradition. Wer zum Beispiel alte Texte von Kurt Tucholsky und Karl Kraus liest, findet viele Beispiele, in denen diese Autoren den Alltag beschreiben und häufig ironisch entlarven.6 Dies sind Autorinnen und Autoren, die es tatsächlich schaffen, einen neuen Blick auf den vertrauten Alltag zu werfen. Man könnte freilich einwenden, dass dies schreiberische Großtalente sind, die zudem viel Zeit für ihre Geschichten hatten. Doch auch in lokalen Zeitungen finden sich Beispiel dafür, wie der Alltag erkundet werden kann, etwa durch die konkrete Beschreibung der Lebensumstände einer 46-jährigen Arbeitslosen, die als Alleinerziehende einen Hauhalt mit zwei Kindern führt (vgl. Rekittke 2007). Jenseits aller allgemeinen Daten ahnt man dann, wie wenig Durchschnittswerte und Hartz IV-Statistiken aussagen. Denn es spielt eine große Rolle, wo man wohnt; ob die Kinder auf eine Schule gehen, in der sie gehänselt werden, wenn sie Secondhand-Kleidung tragen; ob die Großmutter im gleichen Ort lebt und zum Weihnachtsbraten einlädt und ob im Bekannten- und Freundeskreis Gutverdienende zu finden sind, die ihre ausrangierte Waschmaschine oder den Fernseher weitergeben. Und die größte Rolle spielt, wie jemand all diese Erfahrungen in seine jeweilige Biografie einordnen kann, in welchem Ausmaß sie als ungerecht und erniedrigend erlebt werden, wie sehr sie die bisherigen sozialen Beziehungen stören und in Frage stellen.7 Solche Geschichten sind wichtig und erscheinen viel zu selten in deutschen Zeitungen. Allerdings zeigt dieses Beispiel einen Alltag, der den meisten Leserinnen und Lesern unbekannt sein dürfte, weil sie nicht von Hartz IV leben müssen. Deshalb ist hier auch ein Nachrichtenwert im traditionellen Sinn gegeben. Ich will abschließend anhand von Beispielen zeigen, wie der ganz unspektakuläre, vertraute Alltag in die Medien kommen kann. Das eine Beispiel stammt aus dem Hamburger Abendblatt: Einmal noch Heino Lotti W i e s e h a n hat sich schick gemacht, ein grauer Anzug, die Haare schön frisiert. „Na, das muß ich doch!“ sagt sie und lächelt ein bißchen verschämt. „Wenn ich schon mal ausgeh’.“ Für Heino. Dem Anlaß angemessen. Es ist schließlich ein ganz besonderer Abend. Heino ist auf Abschiedstournee, und Lotti Wiesehan ist live dabei. Die Karten für das Konzert in Stade hat sie von ihren Töchtern zum 84. Geburtstag bekommen. Für die dritte Reihe, ganz vorn. Die Töchter sind beide dabei. „Wir haben uns geopfert“, flüstert 6
7
Ein wunderbares Beispiel ist etwa Kurt Tucholskys kurze Satire „Affenkäfig“, in der er durch raffinierte Wahl der Perspektive sowohl die Affen als auch das Berliner Publikum hinter Gittern sieht, was die Frage offen lässt, wer sich hier eigentlich zum Affen macht (vgl. Tucholsky 1952). Allerdings werfen solche Geschichten ein anderes Problem auf, nämlich das der Identifizierbarkeit der dargestellten Personen gerade an kleineren Orten. Hier müssen ethische Normen des Journalismus zum Teil neu überdacht und formuliert werden (vgl. Pfeil 2001).
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die eine und kichert. Frau Wiesehan sitzt souverän auf ihrem Stuhl und besieht sich das Treiben. Zuletzt sei sie auf einem Konzert von Marianne und Michael gewesen, erzählt sie, das sei aber schon ein paar Jahre her. Was sie an Heino mag, kann sie nicht so schnell in Worte fassen. Sie lächelt lieber. „Seine ganze Art“, sagt sie dann und daß es ja seine letzte Tour ist und daß man dann wenigstens mal rauskomme. Zu Hause in Bremervörde, wo Frau Wiesehan bei einer ihrer Töchter lebt und ihr Leben lang Hausfrau und Mutter war, schaut sie gern Volksmusiksendungen. Bei den Liedern singt sie mit, heute abend auch. Zur After-Show-Party will sie dann aber doch nicht gehen. Obwohl Heino versprochen hat, persönlich vorbeizuschauen. „Ach nee“, sagt Lotti Wiesehan. „Ich bin froh, wenn wir wieder nach Hause fahren können.“ msch (Hamburger Abendblatt, Menschlich gesehen, 31. Oktober 2005)
Diese Darstellung fragt nach dem „Wie“, also danach, wie Lotti Wiesehan ihren Alltag erfährt, versteht, deutet, wie sie handelt. Dadurch unterscheidet sich dieser Text von den üblichen Darstellungen älterer Leute in Zeitungen, die sich meist an Fakten orientieren, was in solchen Fällen reichlich uninteressant ist. Solche faktenorientierten Texte lesen sich zum Beispiel so: Hildegard May hat am Freitag ihren 95. Geburtstag gefeiert. „Ich mache mir nicht so viel Kummer, im Leben kommt es, wie es kommen muss“, sagt die Jubilarin. Im Altenheim Darmstadt in der Rüdesheimer Straße 115, wo sie seit fast drei Jahren wohnt, wird die allein stehende Dame regelmäßig von Freunden besucht. (…) Ihre Schulausbildung schloss Hildegard May in Groß-Gerau an der Höheren Handelsschule ab. Sie absolvierte eine kaufmännische Lehre und war unter anderem bei der Handwerkskammer und danach bis zu ihrer Pensionierung an der Technischen Universität Darmstadt tätig. (…) Vielseitig interessiert geblieben ist Hildegard May auch im hohen Alter. Die Jubilarin nimmt an Ausflügen des Heimes teil, informiert sich im Fernsehen über das Zeitgeschehen und liest gerne, vor allem Krimis. Als Lieblingsautorinnen nennt sie Donna Leon und Dorothy L. Sayers, deren Bücher sie in der englischen Originalsprache liest. „Damit kann ich meine Sprachkenntnisse erhalten“, sagt die Jubilarin. sil (Darmstädter Echo, 7. Februar 2006)
Eine solche Darstellung ist für viele langweilig und verführt zu der vorschnellen Annahme, dass der Alltag kein interessantes Thema sei. Dabei könnten solche kleinen Jubiläumstexte zu Schmuckstücken werden, wenn JournalistInnen nicht Lebensdaten und Fakten abfragen würden, sondern sich Erfahrungen erzählen ließen, nach dem „Wie“ suchen und die Möglichkeiten individueller Sinngenerierung erkunden würden. Vielleicht wäre es sinnvoll, jenseits der großen, anspruchsvollen Reportage die klassischen Genres des Journalismus um eine weitere Form zu ergänzen: die Fallstudie, die Miniatur. In dieser aus der Ethnographie entlehnten Form kann der ‚banale‘ Alltag den Leserinnen und Lesern in kleinen Geschichten präsentiert werden. Seit ein paar Jahren bieten die Weblogs eine Möglichkeit, subjektive Wahrnehmungen zu schildern. Die Form persönlichen Schreibens, die Subjektivität, ist hier noch viel deutlicher gefordert als zum Beispiel bei der Reportage. In Blogs kann man zahlreiche Beispiele für Alltagsgeschichten finden, so etwa im Berlin-Journal von Zeit Online, unter der Kategorie „Spazuren“ ein Eintrag von Jochen Reinecke:
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Der Berliner gilt ja als ruppig. Nun war ich im Urlaub auf Rügen. Und da hatte ich ein sehr beruhigendes Erlebnis, denn ich sah, dass man auch andernorts sehr, sehr ruppig sein kann. Folgenden Dialog bekam ich in der „Janny’s Eis“-Filiale zu Göhren auf Rügen mit: Sehr alte Frau, Eis essend, zur Eisverkäuferin: „Ihr Eis schmeckt köstlich“. [keine Reaktion der Eisverkäuferin] Sehr alte Frau, Eis essend, zur Eisverkäuferin: „Ihr Eis schmeckt sehr gut!“ Eisverkäuferin: „Da hab ich keine Aktien drin, ich verkauf das nur“. Sehr alte Frau, Eis essend, zur Eisverkäuferin: „Ihr Eis ist das beste in ganz Göhren!“ Eisverkäuferin: „Gibt’s denn hier überhaupt noch andere Eisdielen?“ Alte Frau verzweifelt ab. Würde sagen, das war die ganz harte, klassische Mitropa-Schule. (Zeit Online, Weblog, Berlin-Journal, 28. August 2007, Abruf vom 23. Februar 2008)
Anders als die Reportage haben solche Formen keinen Nachrichtenkern. Sie dürfen auch fragmentarisch sein. Letztlich aber ist die Präsentation des Alltags nicht so sehr eine Frage der Form oder des Genres, sondern einer Perspektive, die nicht Strukturen und Institutionen erfassen will, sondern ‚von unten‘ schaut. In gewisser Weise greifen also die oft geschmähten Weblogs genau das auf, was die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der 1980er Jahre meinten, wenn sie von Alltag sprachen: das Konkrete, das den großen Theorien und Zuschreibungen widerspricht, in denen diese sich brechen. Es ist deshalb auch wichtig, das Fragmentarische dieser Aussagen zu akzeptieren und nicht sofort nach ihrer Verallgemeinerbarkeit oder Relevanz zu suchen. Denn solche Kategorien schaffen sofort wieder abstrakte Größen, die das genaue Erfassen der Widersprüche des Alltags verhindern.
5. Fazit: Den Blick ‚von unten‘ trainieren Noch einmal zusammengefasst: Die Historiker der 1980er Jahre haben entdeckt, dass der Alltag wesentlich ist, weil er die ‚normalen‘ Bürgerinnen und Bürger als Subjekte ihrer Lebensgestaltung zeigt. Eine solche Auffassung von Alltag ist hochpolitisch, dahinter steht die Auffassung, dass die Menschen ihre Geschichte selbst machen – wenn auch nicht unbedingt aus „freien Stücken“ (Niethammer 1985). Diese Geschichte ist nur am Einzelfall erfassbar, weil nur dann sichtbar werden kann, wie widersprüchlich und ambivalent die Menschen ihre Welt deuten und konstruieren. Journalistinnen und Journalisten, die Storys erzählen wollen und sich darum am Einzelfall orientieren, müsste eine solche Auffassung eigentlich nahe sein. Dennoch übersehen sie häufig den entscheidenden Perspektivwechsel, der in einer politischen Auffassung von Alltag steckt: Die Alltagsgeschichten sind geeignet, allzu allgemeine Theorien und Konzepte über unsere Gesellschaft in Frage zu stellen und zu differenzieren. Traditioneller Journalismus aber tendiert dazu, Einzelfälle nur als Illustrationen vorgefertigter Konzepte von Strukturen
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und Institutionen gelten zu lassen. Diese Top-Down-Perspektive aber nimmt den Alltagsgeschichten ihren eigenen Wert und ihre Sprengkraft. Das eigentlich Neue – und damit auch für Journalisten Interessante – liegt woanders: Wie jeder einzelne Mensch sein Leben und unsere Welt interpretiert und konstruiert. Und in einer solchen Perspektive kommt auch die weibliche Lebenswelt zu ihrem Recht, die bis heute weniger an Institutionen ausgerichtet ist und sich auch weniger an vorgefertigten Strukturen orientiert. Die literarische Reportage, wenn sie sich des vertrauten Alltags als Thema annimmt, interpretiert nicht, sie zieht auch keine Schlussfolgerungen. Sie richtet den subjektiven Blick auf ein Stück Welt, das wir durch Verdichtung der journalistischen Form im besten Fall neu wahrnehmen. Allein in dieser Perspektive liegt ihr Wert. Diesen Wert können wir auch in anekdotischen Schilderungen und Miniaturen entdecken. Natürlich stellt sich die Frage nach der Relevanz, nach den Schlussfolgerungen. Doch solches zu schnell zu fordern, könnte die Auswahl von vornherein einschränken. Ebenso wie in der Literatur liegt der Wert solcher Darstellungen in der Schilderung selbst.8 Von Literatur zu verlangen, dass sie uns verallgemeinerbare Interpretationen bietet, hieße das Wesen von Literatur zu verkennen. Dies soll auch für diese Form von journalistischen Alltagschilderungen gelten. Die Miniatur ist auch deshalb eine geeignete Form für solche journalistischen Schilderungen, weil die kurze Präsentation weniger stilistisches Können von den AutorInnen verlangt als die längere Form der Reportage. Für sie braucht es – wenn keine aufregenden Fakten zugrunde liegen – literarische Kompetenzen, um die LeserInnen auch bei den längeren Schilderungen vertrauten Alltags interessiert zu halten und durch geschickte Dramaturgie zu bannen. Gefordert wäre also der Mut von Journalistinnen und Journalisten, den Einzelfall wirklich als einzig stehen zu lassen: als die einmalige, unvorhersehbare Art, wie Menschen ihr Leben deuten und gestalten. Gefordert wäre auch der Mut, die Fixierung auf Fakten einmal hintan zu stellen und statt nach dem „Was“ nach dem „Wie“ zu fragen. Dann böten Geschichten aus dem Alltag das, was der Journalismus nun einmal bieten muss: das Neue und Unbekannte.
Literatur Bausinger, Hermann (1987): Alltägliche Herausforderungen und mediale Alltagsträume. In: Schmitz, Hermann-Josef/Tompert, Hella (Hg.): Alltagskultur in Fernsehserien. Hohenheimer Protokolle, Bd. 24. Stuttgart: Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart , 9–28. Berliner Geschichtswerkstatt (Hg.) (1994): Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte. Zur Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte. Münster: Westfälisches Dampfboot. 8
Sicher gibt es auch die Texte, die eine „Moral von der Geschicht’ “ transportieren, aber sie sind eine didaktische Sonderform.
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II. Medien im Alltag
Das Besondere im Alltäglichen: Frauenzeitschriftenrezeption zwischen Gebrauch und Genuss Kathrin Friederike Müller
1. Einführung: Frauenzeitschriftenrezeption als Desiderat kommunikationswissenschaftlicher Forschung Frauenzeitschriften sind ein Traditionsmedium. Seit mehr als 50 Jahren haben sie im Zeitschriftenmarkt – und damit auch im Medienmenü ihrer Leserinnen – einen festen Platz. Ihre ungebrochene Beliebtheit zeigt sich in den aktuellen Nutzungsdaten: Laut Media Analyse 2007 greift jede zweite Frau zwischen 14 und 64 Jahren regelmäßig zu einem der 56 gelisteten Titel (vgl. Gruner + Jahr 2007: 7ff.).1 Vor dem Hintergrund dieser Popularität erstaunt es, dass die kommunikationswissenschaftliche Forschung die Frage speziell nach der Rezeption von Frauenzeitschriften bisher weitgehend ausgespart hat (vgl. Röser 2005: 28). So weiß man noch wenig darüber, wie und warum Frauen das Medium rezipieren. Die inhaltsanalytische Forschung verfügt im Gegensatz dazu über eine umfangreiche Tradition, die ihren Ausgangspunkt in den kulturkritischen Analysen der 1960er und 1970er Jahre nimmt.2 Zu Beginn der 1990er Jahre vollzog sich ein Perspektivwechsel, infolge dessen nach Übereinstimmungen zwischen dem redaktionellen Inhalt und der Lebensrealität der Zielgruppe geforscht wurde. In Längsschnittstudien zeigte sich eine beständige Modernisierung der Frauenzeitschrifteninhalte und ihre Bezugnahme auf sich wandelnde, gesellschaftlich definierte Frauenbilder; nachgewiesen wurden ferner zielgruppenabhängige Unterschiede zwischen den Konzepten und Leitbildern einzelner Titel (vgl. ebd.: 27). Frauenzeitschriften haben einen Sonderstatus im Mediensystem, weil in den 1
2
Nicht alle diese Titel entsprechen der wissenschaftlichen Definition von „Frauenzeitschrift“. In diesem Aufsatz werden unter Frauenzeitschriften zielgruppenspezifische Publikumszeitschriften verstanden, die sich überwiegend an weiblich kodierten Themeninteressen orientieren und deren Leserschaft einen Frauenanteil von über 70 Prozent aufweist (vgl. Röser 1992: 82ff.). In der Frühphase der Frauenzeitschriftenforschung gingen die Forschenden davon aus, dass die Beziehung zwischen Inhalt und Leserin wie ein einfacher Reiz-Reaktions-Mechanismus funktioniert. Die Rezipientinnen wurden als passiv und manipulierbar gesehen; dieser Ansatz bot deshalb kaum Anknüpfungspunkte für Analysen der Frauenzeitschriftenrezeption (vgl. Röser 2005: 26).
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meisten anderen Medieninhalten, insbesondere der Printmedien, geschlechterrollengeprägte Erfahrungen und Lebenszusammenhänge eher ausgeblendet werden (vgl. Klaus 1998: 222ff.). Deshalb ist eine Analyse ihrer Rezeption für die Erklärung geschlechtsgebundener Medienvorlieben von Frauen aufschlussreich. Gleichwohl ist die Analyse der Rezeption von Frauenzeitschriften sowohl in der deutschsprachigen als auch in der internationalen Forschung bisher ein Desiderat geblieben. Kathrin Steinbrenner (2002) fragt in ihrer Pionierstudie, welche Charakteristika des Zeitschrifteninhalts eine dauerhafte Leserinnen-Blatt-Bindung erzeugen. Ihre Befunde deuten darauf hin, dass Frauen solche Titel zu ihren Lieblingszeitschriften machen, denen sie ähnliche Attribute zuschreiben wie ihrer eigenen Persönlichkeit. Offen bleibt jedoch, warum diese Übereinstimmung gesucht wird, weshalb ein grundsätzliches Interesse an dem Medium besteht und wie die Leserinnen in der konkreten Rezeptionspraxis mit dem Medium und seinen Inhalten umgehen. Auf diese Fragen geben die Studien von Hannah Wilhelm (2004) und Michael Meyen (2006) vertiefende Antworten. Mit Bezug auf den Usesand-Gratifications-Ansatz untersuchen sie individuelle Motive der Rezeption von klassischen Frauenzeitschriften. Ausgehend von den drei Analyseebenen Alltag, Identität und Emotion erscheint die Rezeption von Frauenzeitschriften als Mittel, um Informationen zu sammeln, Pausen und Feierabende zu gestalten, sich in sozialen Bezügen zu verorten und eine positive Grundstimmung herzustellen. Beide Studien lassen bedingt durch ihre individuenzentrierte Perspektive jedoch Fragen offen: Die Erklärungen für das Rezeptionshandeln bleiben auf intrinsische Motive beschränkt, die diagnostiziert, aber kaum auf ihre Hintergründe hin beleuchtet werden. Bedingt durch das Ausschließen der gesellschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen bleibt unklar, wodurch das Handeln der Subjekte motiviert ist. Ein Zusammenhang zwischen Rezeption und Geschlecht wird aus diesem Grund nicht hergestellt, deutet sich in den Befunden aber partiell an. Dass die gesellschaftliche Situation der Leserinnen für das Verständnis der Frauenzeitschriftenrezeption Relevanz hat, zeigt in Ansätzen die richtungsweisende Rezeptionsstudie von Joke Hermes (1995). Ihr zufolge werten die Nutzerinnen ihr Selbstbild auf, indem sie sich Wissen aus den Inhalten aneignen und sich dadurch als „wise woman“ erfahren (ebd.: 45). Offensichtlich findet also eine Auseinandersetzung mit der Geschlechterrolle statt, die Hermes aber nicht genauer analysiert. Die Ergebnisse deuten ferner darauf hin, dass Alltagsrhythmen die Rezeptionszeiten und -orte mitbestimmen (vgl. ebd.: 32). Im vorliegenden Aufsatz werden Teilergebnisse einer Rezeptionsstudie vorgestellt, die das Lesen von Frauenzeitschriften explizit auf gesellschaftliche Kontexte bezieht und dabei insbesondere die (Re-)Produktion von Geschlechterrollen berücksichtigt. Ausgehend vom Konzept einer produktiven Rezipientin, die in der Auseinandersetzung mit dem Medium eigene Bedeutungen hervorbringt, wird nach der Rolle des Frauenzeitschriftenlesens in alltäglichen und
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lebensweltlichen Zusammenhängen gefragt. Alltag wird in dieser Studie als äußere Struktur begriffen, die gesellschaftliche Regeln und Bedingungen an den Tagesablauf anlegt, aber auch als Set von Deutungspraktiken, mit deren Hilfe sich das Individuum routiniert seine Umwelt erschließt (vgl. Voß 2000: 38ff.). Ausgehend von der Hypothese, dass die Rezeption von Frauenzeitschriften den Leserinnen die Möglichkeit zur Auseinandersetzung mit geschlechtsgebundenen Erfahrungen und Lebenszusammenhängen eröffnet, werden darüber hinaus in der Rezeption praktizierte Doing Gender-Prozesse untersucht. Ziel des Aufsatzes ist es, die Beziehung zwischen Alltag und Frauenzeitschriftenrezeption systematisch und umfassend kontextuiert herauszuarbeiten und präzise zu charakterisieren. Dazu wird das Verhältnis von Alltag und Medienhandeln zunächst theoretisch betrachtet. Anschließend wird anhand empirischer Befunde aus 19 Tiefeninterviews zur Rezeption von Brigitte verdeutlicht, wie sich Frauenzeitschriftenlesen in alltagsweltlichen Kontexten darstellt.
2. Alltägliches Medienhandeln im Spannungsfeld gesellschaftlicher und individueller Einflüsse Alltag und Frauenzeitschriftenrezeption stehen in Beziehung miteinander. Um das Verhältnis theoretisch zu fassen, werden Medienhandeln und Alltag an dieser Stelle genauer betrachtet. Beide Begriffe sind eng verbunden, denn: „Medienhandeln ist immer auch Alltagshandeln und umgekehrt erfolgt Alltagshandeln vielfach mediatisiert.“ (Röser 2007a: 7) Trotz dieser gegenseitigen Bedingtheit ist der Alltagsbegriff kommunikationswissenschaftlich kaum definiert (vgl. Krotz/ Thomas 2007: 33). In der interdisziplinären Alltagsforschung hingegen haben sich drei theoretische Zugänge entwickelt (vgl. ebd.: 36), von denen vor allem subjekt- oder tätigkeitsorientierte Konzepte für eine Analyse des alltäglichen Medienhandelns geeignet erscheinen.3 Demnach ist der Alltag sowohl vom praktischen, individuellen Handeln der Subjekte als auch durch den Einfluss gesellschaftlicher Bedingungen charakterisiert. Alltägliches Handeln steht somit im Spannungsfeld zwischen dem Wirken gesellschaftlicher Machtstrukturen einerseits und der Gestaltungsfreiheit des Individuums bzw. dessen Umgang mit der sozialen Welt andererseits: „Handlung, Gesellschaft und Kultur“ prägen deshalb den Alltag, der folglich immer auch „schicht-, generations-, geschlechts- und milieuspezifisch untersucht werden“ muss (ebd.). Die Cultural Studies betrachten Medienhandeln aus diesen beiden Blickwinkeln. Einen wichtigen methodologischen Zugriff bildet die ethnografische Kommunikationsforschung, innerhalb derer die Einflüsse gesellschaftlicher Bedingun3
Die beiden anderen Zugänge bilden die sozial-objektivistischen und die subjektiv-interpretativen Konzepte (vgl. Krotz/Thomas 2007: 36).
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gen und individuellen Handelns auf die Mediennutzung gleichermaßen analysiert werden (vgl. Ang 2006). In dieser Forschungsperspektive wird der Alltag aufgewertet, weil er im Gegensatz zur Sichtweise der Kritischen Theorie nicht als Ort der Unterdrückung, sondern als Baustelle vieler möglicher differenzierter (Gegen-)Kulturen verstanden wird. In ihrem „Alltagsleben“ können die „Leute“ demnach produktiv sein, indem sie eigene Sinnzuschreibungen im Prozess des Dekodierens aus den Medieninhalten entwickeln; diese können sich partiell gegen die dominante Kultur des „Machtblocks“ richten (Hepp 2004: 68f.). Medienhandeln wird also als selbstständige, produktive und z.T. auch oppositionelle Tätigkeit des Individuums angesehen (vgl. Fiske 1989, Hall 1999), durch die ‚Subordinierte‘ im „bedeutungsstiftenden Vergnügen“4 eigene Alltagskulturen gestalten können (Hepp 2004: 75). Gleichzeitig wird vorausgesetzt, dass hegemoniale Kräfte den Medieninhalt und die Lebenswelt des Individuums über gesellschaftliche Einflüsse prägen (vgl. Fiske 1989). Diese umfassende Sicht ist gerade für die Analyse des Medienhandelns von Frauen und damit für die Untersuchung der Rezeption von Frauenzeitschriften aufschlussreich, weil zum einen nach dem aktiven Umgang der Frauen mit dem Medium und dessen Bedeutung in einer geschlechtsspezifisch geprägten Alltagskultur gefragt werden kann, zum anderen aber auch der Einfluss patriarchaler Machtstrukturen, die Frauen auf subordinierte Positionen verweisen, mit einbezogen wird. Auch wenn es das Medienhandeln von Frauen5 nicht gibt, werden beide Geschlechter in ihrem Medienhandeln doch von unterschiedlichen Faktoren beeinflusst. Im folgenden Abschnitt werden deshalb unter Berücksichtigung empirischer Befunde Faktoren benannt, die vor allem das Medienhandeln von Frauen mitprägen.
3. Geschlechtsgebundenes Medienhandeln Fragt man nach den Gründen für die Entstehung von Differenzen im männlichen und weiblichen Medienhandeln, so ist der Charakter des häuslichen Alltags ein wesentlicher Bezugspunkt. Männer und Frauen erleben ihn unter unterschiedlichen Bedingungen, die vor allem auf „die geschlechtsgebundene Ausgestaltung 4
5
Unter bedeutungsstiftendem Vergnügen wird die Produktion von Lesarten verstanden, die funktional und relevant sind. Funktionalität bezieht sich in diesem Zusammenhang darauf, dass die Bedeutungskonstitutionen den Alltagserfahrungen einen Sinn verleihen, während die Relevanz darauf zielt, dass sie einen direkten Bezug zur Alltagserfahrung der Leserinnen haben müssen (vgl. Hepp 2004: 75). Frauen bilden keine einheitliche Gruppe, weil andere Faktoren wie soziale oder ethnische Herkunft und Lebensalter zu ganz unterschiedlichen Rezipientinnenpositionen führen, die mit abweichenden Medieninteressen bzw. einem unterschiedlichen Umgang mit demselben Inhalt einhergehen (vgl. Ang/Hermes 1994). Das Geschlecht bildet aber dann die zentrale Zugangskategorie zu Medieninhalten, wenn sich das Medium, wie im Fall von Frauenzeitschriften, explizit über das Geschlecht an die Rezipientinnen richtet (vgl. Röser 2005: 23f.).
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häuslicher Rollen“ (Röser 2007b: 24) zurückzuführen ist. Die Arbeitsteilung im Haushalt erscheint in diesem Kontext besonders relevant: Frauen, egal ob sie erwerbstätig sind oder nicht, verrichten immer noch deutlich mehr Hausarbeit. Die Zeit, die sie zu Hause verbringen, ist damit durch andere Eigenschaften geprägt als die gleichaltriger Männer. So arbeiten Frauen zwölf Stunden länger in der Woche im Haushalt als ihre Partner und investieren im Vergleich zu ihnen etwa doppelt so viel Zeit in die Pflege von Kindern und anderen Angehörigen (vgl. Statistisches Bundesamt 2006: 42ff.). Zwar war die Hälfte der erwerbsfähigen Frauen im Jahr 2006 berufstätig, doch 42 Prozent davon halbtags, während es bei den berufstätigen Männern nur sechs Prozent waren. Um sowohl Berufs- als auch Reproduktionsarbeit leisten zu können, schränken Frauen ihre Freizeit stärker ein als Männer. Da der häusliche Alltag von Frauen von vielfältigen Aufgaben geprägt ist, bleibt ihnen weniger Zeit für die exklusive Mediennutzung, so dass sie die Wahl der zu rezipierenden Inhalte selektiver und bewusster treffen müssen. Aufgrund der Tatsache, dass Frauen – oft zusätzlich zur Berufsarbeit – Hausarbeit und Familienversorgung leisten, gibt es für viele von ihnen keine klare Trennung zwischen Arbeit und Freizeit, die für die meisten Männer mit dem Eintritt in die häusliche Sphäre vollzogen wird, und keinen geregelten Feierabend. Ergebnisse aus der Fernsehforschung haben gezeigt, dass Fernsehen für Männer in erster Linie erholsam ist. Frauen empfinden es aufgrund der häuslichen Arbeitssituation oft als schuldbesetzt und praktizieren es häufiger unkonzentriert (vgl. Röser 2007b: 24). Die Fernsehrezeption wird außerdem an alltägliche Hausarbeitsrhythmen angepasst (vgl. Hobson 1982). Frauenzeitschriftenrezeption, soweit sie von Frauen als häusliche Mediennutzung praktiziert wird, steht vermutlich unter ähnlichen Einflüssen. Im Vergleich zum Fernsehen kann sie von den Leserinnen unkomplizierter in die Haus- und Reproduktionsarbeit eingefügt werden, weil ein Einstieg in oder Ausstieg aus den einfachen Texten unkompliziert ist und die Inhalte stets unverändert abgerufen werden können (vgl. Hermes 1995: 32). Der Doppelcharakter des Haushalts als Ort der Arbeit und Freizeit muss bei der Analyse der Frauenzeitschriftenrezeption also mitbedacht werden. Aber nicht nur gesellschaftlich bedingte Alltagsstrukturen wirken auf die Medienrezeption, sondern auch die Ebene der Medienaneignung des geschlechtsgebunden positionierten Subjekts und Einflüsse auf der Mikroebene des häuslichen Alltags. Ein Beispiel für den produktiven Umgang von Frauen mit Medieninhalten stellen Befunde zum Lesen von Romanen dar: In der Auseinandersetzung mit dem Text entwerfen die Leserinnen alternative Lebens- und Beziehungsgefüge außerhalb patriarchalischer Normen (vgl. Radway 1987). Medienhandeln muss schließlich stets auch im Kontext anderer Medien gesehen und der Einfluss des sozialen Umfelds berücksichtigt werden (vgl. Bausinger 1983: 33f.). So ist geschlechtsgebundenes Medienhandeln auch dadurch bedingt, dass in der häuslichen Umgebung „gesellschaftliche Dominanzverhältnisse und Diskurse
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reproduziert und erzeugt“ werden (Röser 2007b: 25). Die Rolle, die der Partner hinsichtlich der Rezeption von Frauenzeitschriften einnimmt, bedarf also der besonderen Betrachtung, ebenso die des Medienensembles.
4. Erkenntnisinteressen und methodisches Vorgehen Die Ergebnisse vorliegender Inhalts- und Rezeptionsanalysen sowie die theoretischen Annahmen legen nahe, dass die Frauenzeitschriftenrezeption von alltäglichen Einflüssen geprägt ist, umgekehrt aber auch den Alltag mitgestaltet. Ausgehend von diesen Voraussetzungen stellen sich folgende Forschungsfragen: – Wann und in welchen Kontexten werden Frauenzeitschriften genutzt? Welchen Einfluss hat die alltägliche Lebenswelt? – Haben die Inhalte eine praktische Relevanz im Alltag? Wie und in welcher Form wird der gelesene Inhalt in den Alltag überführt? – Wie wird die Frauenzeitschriftennutzung durch die Einwirkung anderer Menschen beeinflusst? Besteht ein Zusammenhang zwischen der Gestaltung sozialer Beziehungen und der Rezeption des Mediums? – Setzen sich die Leserinnen mit Weiblichkeitsentwürfen auseinander und kompensieren damit den Mangel an Rollenangeboten für Frauen in anderen Medien? Überführen die befragten Frauen die Inhalte in eine eigene (geschlechtsspezifisch) gelebte Alltagskultur? Zur Beantwortung dieser Fragen wurde eine empirische Studie mit 19 qualitativen Interviews konzipiert. Es wurden 15 Frauen befragt, die Brigitte entweder abonniert haben oder regelmäßig lesen;6 zusätzlich wurden vier weitere Interviews mit Gelegenheitsleserinnen geführt, die Brigitte vier bis achtmal im Jahr kaufen, um Gründe für eine weniger intensive Rezeption und eventuell abweichende Nutzungsmuster zu ermitteln. Die Wahl fiel auf Brigitte als Referenzmedium, weil sie nach wie vor Marktführerin im Segment der klassischen Frauenzeitschriften ist (vgl. Gruner + Jahr 2007: 7ff.). Darüber hinaus gibt es eine breite Basis an inhaltsanalytischer Forschung zu diesem Titel, auf die bei der Konzeption des Leitfadens zurückgegriffen wurde. Die Rekrutierung der Interviewteilnehmerinnen erfolgte im Schneeballverfahren per E-Mail und mittels persönlicher Empfehlungen.7 Bei 6
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In der Gesamtstudie im Rahmen meiner Dissertation, aus der in diesem Aufsatz Teilergebnisse vorgestellt werden, wurden nicht nur der Einfluss des Alltags auf die Frauenzeitschriftenrezeption, sondern auch die medienbiographische Entwicklung des Frauenzeitschriftenlesens analysiert sowie Doing Gender-Prozesse beim Lesen der Frauenzeitschriften untersucht, d.h. es wurde gefragt, inwieweit die Leserinnen anhand des Mediums Aspekte ihrer geschlechtlichen Identität aushandeln und performen. Dieser Aspekt wurde mit den Analysemethoden der Grounded Theory in einer Feinauswertung der Interviews vertieft (vgl. Müller 2009). Die Interviews fanden in Berlin, Niedersachsen, im Rheinland und im Ruhrgebiet statt, um Befragte aus sowohl urbanen als auch ländlichen Lebensräumen zu erfassen.
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der Auswahl wurde auf eine gleichmäßige Verteilung soziodemografischer Faktoren geachtet.8 Als Erhebungsmethoden wurde das problemzentrierte Interview mit einem Copytest kombiniert (vgl. Scholl 2003). Im problemzentrierten Interview wurde gefragt, wie die Frauenzeitschriftennutzung in den Alltag integriert ist und welche Einflussfaktoren das Lesen bestimmen. Als Copytest wurde den Befragten eine Ausgabe von Brigitte vorgelegt und an ihrem Beispiel thematisiert, welche Inhalte gelesen wurden, warum bestimmte Präferenzen bestehen und ob Beiträge aus einzelnen Ressorts eine praktische Funktion im Alltag haben. Die Interviews wurden mit der strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse (vgl. Mayring 2003) sowie in einer Feinanalyse unter Einbeziehung induktiver Codierverfahren ausgewertet, um Doing Gender-Prozesse zu erfassen.
5. Ergebnisse zur Frauenzeitschriftenrezeption: „Brigitte“-Lesen im Alltag Im Folgenden werden die zentralen Ergebnisse zur Rezeption der Frauenzeitschrift Brigitte im Kontext des Alltags ihrer Leserinnen vorgestellt und hinsichtlich gesellschaftlich bedingter Strukturen, im Zusammenhang mit sozialen Beziehungen sowie auf individueller Ebene diskutiert. Veranschaulicht wird, wie der Alltag der Leserinnen Rhythmen und Räume zur Mediennutzung vorgibt und wie die Inhalte in den Alltag integriert und zu Bestandteilen der Alltagskultur der Leserinnen gemacht werden. 5.1 Frauenzeitschriftenrezeption in situativen Alltagskontexten Um grundlegende Einblicke in die Frauenzeitschriftenrezeption in alltäglichen Kontexten zu bekommen, wurde gefragt, wann und in welchen Zusammenhängen 8
Die Befragten waren zum Zeitpunkt der Interviews zwischen 23 und 69 Jahre alt. Es wurde auf eine Durchmischung des Samples hinsichtlich der Formalbildung geachtet: Zehn der Befragten haben Abitur, neun haben einen Real- oder Fachschulabschluss. Acht der Abiturientinnen studierten im Anschluss, zwei machten eine betriebliche Ausbildung. Zwei weitere Befragte haben nach dem Realschulabschluss eine betriebliche Ausbildung gemacht, bevor sie auf dem zweiten Bildungsweg erst das Abitur und dann ein Studium abgeschlossen haben. Demnach verfügen insgesamt elf Befragte über eine betriebliche Ausbildung, zehn über ein abgeschlossenes Studium. Zum Zeitpunkt des Interviews arbeiteten neun der Interviewteilnehmerinnen auf Voll- oder Teilzeitstellen. Vier hatten Aushilfs- oder Nebenjobs. Zwei der Befragten waren nicht berufstätige ‚Nur-Hausfrauen‘, zwei Rentnerinnen, eine befand sich in Elternzeit und eine weitere Interviewte studierte. 13 der Frauen sind Mütter, sechs davon leben mit Kindern im eigenen Haushalt. 14 leben mit einem Partner zusammen. Zwölf sind verheiratet, fünf sind ledig, eine der Befragten ist geschieden und eine verwitwet. Eine Befragte lebt in einer homosexuellen Beziehung, 15 in heterosexuellen Partnerschaften, drei Interviewte leben alleine.
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Frauen das Medium nutzen. Ausgehend von einem fragmentierten Tagesablauf vieler Frauen, der keine klar abgegrenzten Arbeits- und Erholungszeiten aufweist, wurde untersucht, wie die Befragten die Nutzung des Mediums in alltägliche Abläufe – vor allem in den Kontext der Hausarbeit – integrieren und ob es Unterschiede zwischen sogenannten ‚Nur-Hausfrauen‘, berufstätigen Leserinnen, Müttern und Kinderlosen gibt. Erstaunlicherweise wirken sich die verschiedenen Lebensbedingungen der Befragten auf ihre Nutzungsgewohnheiten nicht sonderlich stark aus, so dass eher Gemeinsamkeiten als Unterschiede dominieren. Bemerkenswert ist, dass zwei Drittel aller Nicht-Abonnentinnen den Kauf von Brigitte im Kontext von Haushaltspflichten tätigen: „fast immer im Lebensmittelgeschäft“ (Clara, Volkshochschul-Dozentin/Hausfrau, 54 Jahre). Auch wenn der Kaufakt in Alltagsroutinen integriert ist, ist er für die Leserinnen doch mehr als bloße Routine. Nahezu alle Käuferinnen blättern die Ausgaben im Laden durch und verschaffen sich dadurch einen Moment der Konzentration auf sich selbst. Das Einkaufen bekommt auf diese Weise einen anderen Charakter, weil es durch den Kauf der Zeitschrift partiell umgedeutet wird. Diese Situation erleben die Frauen als Augenblick ausschließlich für sich und setzen damit einen Kontrapunkt zum Einkauf für Partner und Familie. So durchbrechen sie kurz die gesellschaftlich vorgegebenen Routinen des Alltags und die damit einhergehenden Tätigkeitsmuster. Wichtig ist ihnen auch das Erleben der Vorfreude auf das kommende Lesen der Ausgabe, weil es bereits während der Reproduktionsarbeit eine Verbindung zur Freizeit herstellt. Obwohl das Medium sehr flexibel rezipierbar ist, werden die Nutzungsorte und -zeiten deutlich weniger abwechslungsreich gewählt, als es möglich wäre. Die Befragten rezipieren Brigitte vorwiegend innerhalb der häuslichen Umgebung. Sie lesen oft abends, um sich zu entspannen, wenn sie sowohl die Erwerbs- als auch die Reproduktionsarbeit verrichtet haben. Ein Grund dafür ist das „Prinzip der positiven Perspektive“ (Röser 1992: 306): Weil im Inhalt von Brigitte Themen mit negativem Tenor ausgespart werden, fühlen sich die Rezipientinnen beim Lesen nicht zusätzlich belastet: „Das [die Artikel im Stern] würde mich zu Albträumen verleiten. Während Brigitte (…), die haben eben andere Themen und man kann abschalten durch die Themen in Brigitte. Und selbst wenn mal was Kritisches kommt, dann ist es noch irgendwo konstruktiv. Dann bringen sie irgendwelche Frauenprojekte in Somalia, wo Frauen sich aufgerafft haben und Unternehmerinnen geworden sind, was eben dann auch wieder positiv ist.“ (Margit, Förderschulpädagogin, 54 Jahre)
Bedingt durch diese journalistische Strategie, innerhalb derer konfliktäre Themen im Inhalt verhandelt werden, indem sie „konstruktiven“ Lösungen zugeführt werden und somit implizit auf die Möglichkeit verwiesen wird, persönliche und gesellschaftliche Probleme ins „Positive“ umzuwandeln, empfinden die Leserinnen die Rezeption als Erholung und Unterhaltung und erleben dabei
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angenehme Gefühle. Die abendliche Lektüre dient einigen Befragten deshalb auch als Einschlafhilfe. Brigitte gibt dem Alltag Struktur, indem sie häusliche Arbeit und Freizeit voneinander trennt. Sowohl für die Leserin als auch für Partner und Kinder signalisiert die Zuwendung zur Zeitschrift, dass der Arbeitstag beendet ist. Frauen, die halbtags arbeiten oder ihrem Beruf teils außerhäusig, teils zu Hause nachgehen, unterteilen durch die Rezeption den Tag: Oft lesen sie Brigitte direkt nach der Ankunft im Haushalt und trennen durch die Lektüre die Arbeit außerhalb des Hauses am Vormittag von Aufgaben, die sie in der zweiten Tageshälfte zu Hause erledigen. Dazu gehört sowohl im Häuslichen verrichtete Berufsarbeit als auch Hausarbeit. Sie setzen die Zeitschrift zur Erholung von der Berufsarbeit ein, indem sie eine bewusst genossene, legitimierte Pause machen und somit etwas für die eigenen Bedürfnisse tun: Befragte: „[Ich lese] eher nachmittags am Küchentisch.“ I: „Und gibt es eine besondere Stimmung, in der Sie Brigitte lesen?“ Befragte: „Ja, so ein bisschen müde, so ein bisschen in einer Schlendrian-Stimmung: ,Jetzt lassen wir das mal so laufen. Du müsstest eigentlich tausend andere Sachen tun. Lies jetzt mal Brigitte, das muss ja auch sein.‘ In dem Sinne.“ (Gerda, Gymnasiallehrerin, 62 Jahre)
Frauen mit sehr kleinen Kindern rezipieren Brigitte oft in den wenigen Pausen, die ihnen in ihrem Alltag bleiben. Sie sind die einzigen, die sich die Flexibilität des Mediums Zeitschrift zunutze machen. Das Lesen von Brigitte ist eine Möglichkeit, „(…) für mich selbst zu sein, für den Moment jetzt. Das ist heilig, wenn sie [die Tochter] vielleicht schläft und ich dann alleine frühstücke. Und ich lese dann so. Dann ziehe ich mich zurück. Dann möchte ich meine Ruhe haben.“ (Sarah, Architektin in Elternzeit, 28 Jahre) Die Rezeption stellt also auch einen Rückzugsraum dar. Diese Funktion beschreiben auch Leserinnen, die mit älteren Kindern und einem Partner zusammenleben: „Also mir geht bei Frauenzeitschriften das Persönliche durch den Kopf. Einfach nur so: Etwas für mich. Einfach mal nicht für meine Familie. Nicht für mein Kind und nicht für meinen Mann, sondern einfach nur mal etwas für mich.“ (Simone, Kinderkrankenschwester, zzt. Hausfrau, 46 Jahre) Durch das Lesen von Brigitte vermitteln die Befragten nach außen, dass sie temporär nicht für die Familie da sind und nicht gestört werden möchten, nach innen konzentrieren sie sich auf sich selbst. Die Leserinnen schaffen sich so innerhalb der familiären Strukturen ein Stück eigenes Leben (vgl. BeckGernsheim 1983) und grenzen sich gegen Bedürfnisse anderer Familienmitglieder ab. Insgesamt wird das Lesen von Brigitte als Zäsur eingesetzt: Frauen ziehen über die dabei entstehende Pause eine Trennlinie zwischen unterschiedlichen Tagesabschnitten. Die Nutzung von Brigitte ist in den Alltag integriert und hat einen festen Platz. Dabei ist sie für die Frauen, mit Ausnahme der Mütter von Kleinkindern, eher eine Station im Tagesablauf als ein Lückenfüller. Ihre Stärke
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liegt also weniger in ihrer Flexibilität als vielmehr in ihrer Signalfunktion. Die Frauen verdeutlichen über diesen symbolischen Feierabend sowohl dem Umfeld als auch sich selbst, dass die Phase der Erholung oder des Tagesabschlusses erreicht ist. Hinsichtlich der sozialen Beziehungen in der Familie schaffen sich die Leserinnen durch die Rezeption Freiräume. Sie können im Lesen ihren eigenen Interessen nachgehen, den Interessen anderer ausweichen und sich ihre Selbstständigkeit und Autonomie bewahren. Von gesellschaftlich vorgegebenen Rhythmen geprägte Alltagsstrukturen und Frauenzeitschriftenlesen hängen also insofern zusammen, als Frauen ihr Ruhebedürfnis, ihren Rückzug und die Beendigung der Reproduktionsarbeit nach Außen über das Lesen der Zeitschrift demonstrieren können. Frauen, die in der Doppelrolle leben, wechseln über die Zeitschriftnutzung zwischen Erwerbs- und Reproduktionsarbeit. 5.2 Praktische Nutzung alltagsnaher Inhalte Die Leserinnen wurden im Interview gefragt, ob Inhalte mit Alltagsbezug eine praktische Verwendung finden. Die Untersuchung zeigt, dass vor allem Beiträge aus zwei Ressorts in die Alltagspraxis einfließen. Zum einen kochen viele der Befragten Rezepte aus Brigitte nach oder verwenden Tipps aus dem Kochressort, zum anderen werden Reise- oder Ausflugsziele und Hotelvorschläge aus dem Reiseressort zur Urlaubsplanung verwendet. Auffällig ist, dass die Befragten die Rezepte nach alltagspraktischen Gesichtspunkten selektieren. Es werden nur einfache, kostengünstige Rezepte genutzt, aufwendige oder teure Varianten werden allenfalls dann gekocht, wenn Besuch kommt oder Feiertage anstehen: „Frau Lea Linster [eine prominente Köchin, Anm. K.M.] lese ich nicht immer. Nur manchmal, wenn es mich interessiert. (…) Sie macht es dann auch sehr aufwendig. Aber sie kocht ja nun auch profimäßig. (…) Das ist dann nichts für die Hausfrau, finde ich.“ (Renate, Hotelfachfrau, zzt. Hausfrau, 57 Jahre) Weitere Selektionskriterien sind der persönliche Geschmack und der der Familienmitglieder. Die Rezepte stellen eine Erleichterung der Reproduktionsarbeit dar, weil sie den Leserinnen ermöglichen, abwechslungsreicher zu kochen. Zugleich sehen die Leserinnen Brigitte als einen Garant für gesunde Ernährung, so dass die Nutzung der Rezepte nicht nur eine Vereinfachung darstellt, sondern auch Ausdruck einer guten, umsichtigen Versorgung der Haushaltsmitglieder ist. Rezepte und Anleitungen sind vor allem für jüngere Frauen von Bedeutung, die das Kochen erst erlernen müssen oder Alternativen zur Kochweise ihrer Mutter suchen. In späteren Lebensphasen werden die Rezepte aus Vergnügen am Kochen genutzt. 16 der 19 Befragten archivieren sie zudem. Artikel aus dem Reiseressort werden ebenfalls häufig archiviert sowie einer praktischen Nutzung zugeführt. Sie werden dann verwendet, wenn Reisen ge-
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plant oder Hotels gesucht werden, können aber auch einen Anstoß darstellen, in die im Artikel beschriebene Region zu reisen. Auch Anleitungen zum Sport, die Brigitte-Diät oder Tipps zur Erhaltung der Gesundheit bzw. zur Bewältigung von Erkrankungen werden dann praktisch umgesetzt, wenn situativ Bedarf danach besteht. Das Mode- sowie das Kosmetikressort bieten ebenfalls praktisch verwendbare Inhalte an. Da von KritikerInnen oft befürchtet wird, dass die Zeitschriften eine Auswirkung auf das Konsumverhalten der Leserinnen haben (vgl. Bär 1978; Ulze 1979; Duske 1989), wurde im Interview verfolgt, ob sich die Befragten häufig Waren kaufen, die in Brigitte vorgestellt werden. Die Ergebnisse zeigen, dass die Befragten die Zeitschrift zwar nutzen, um sich eine Übersicht über aktuelle modische Trends oder neue Kosmetikprodukte zu verschaffen, aber nur in seltenen Fällen Produkte erwerben. Die Rezeption führt also nicht regelhaft zu einem Kauf von Waren. Häufiger werden hingegen Bücher oder CDs auf Empfehlung der Zeitschrift erworben oder Filme angesehen. Die Leserinnen verlassen sich auf die Empfehlungen der Redaktion, weil sie die Erfahrung gemacht haben, dass die vorgestellten Kultur-Produkte ihrem Geschmack entsprechen. Insgesamt zeigt sich also, dass die Leserinnen die Inhalte auf vielfache Weise in ihrem Alltagshandeln zum Tragen bringen. Betrachtet man die Kontexte, in denen Inhalte eine praktische Relevanz haben, so zeigt sich, dass Haushaltsund Familienpflichten dabei nicht im Mittelpunkt stehen. Nur die Funktion als Kochbuch oder -schule steht eindeutig mit einem Aufgabenbereich aus dem traditionellen Rollenzusammenhang in Verbindung. Überwiegend aber beziehen sich die praktischen Nutzungszusammenhänge – wie Reisen, Mode, Bücher, Filme, Musik – stärker auf die Leserin selbst als auf das familiäre Umfeld. Offenbar spielt die Beschäftigung mit sich und der eigenen Identität auf der Ebene der praktischen Verwendung eine größere Rolle als Vorschläge zur Wohnungseinrichtung und -dekoration, Erziehungsratgeber, Beiträge zur Ernährung oder zur Gesundheit von Kindern, die mit der Reproduktionsarbeit in Verbindung stehen, aber nur dann genutzt werden, wenn sie zur Lebenssituation der Leserinnen passen. Das gilt auch für Themen aus dem Bereich Psychologie: Die eigene Betroffenheit oder die nahestehender Menschen kann die Beherzigung der darin formulierten Ratschläge initiieren, insgesamt dienen sie aber weniger als Orientierung zur eigenen Lebensführung als vielmehr zum Erleben von fremden Perspektiven und Lebenssituationen. 5.3 Frauenzeitschriften als Mittel zur Moderation sozialer Beziehungen Medienhandeln als Alltagshandeln ist immer auch eine Möglichkeit, soziale Beziehungen zu gestalten. Als geschlechtszentriertes Medium sind Frauenzeitschriften besonders dazu geeignet, gemeinschaftsstiftend hinsichtlich der Bezie-
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hung zu anderen Frauen zu wirken, können aber auch dazu dienen, Standpunkte aus Frauensicht gegenüber Männern zu vertreten. Auf der Ebene der sozialen Beziehungen dient der Inhalt von Brigitte als Kommunikationseinstieg für Gespräche mit Frauen, zu denen bereits ein vertrautes Verhältnis besteht, also zu Freundinnen, Schwestern, Müttern oder Töchtern. Die Befragten tauschen sich mit ihnen sowohl über vorgestellte Produkte als auch über Artikel aus beratenden Ressorts wie Psychologie aus und besprechen ausgehend von dem Text innerfamiliäre oder persönliche Probleme. Mit Frauen, die weniger vertraut sind, werden keine Gespräche über den Frauenzeitschrifteninhalt geführt. Ein Grund dafür ist, dass die Befragten um die soziale Unerwünschtheit des Frauenzeitschriftenlesens wissen und sich nicht vor Fremden zum Medium bekennen möchten. Innerhalb der Paarbeziehung werden Artikel genutzt, um dem Partner Themen nahe zu bringen, die aus Sicht der Befragten relevant für die Partnerschaft sind: „Also manche Artikel gebe ich auch bewusst an meinen Lebenspartner und sage: ‚Lies mal bitte‘.“ (Monika, Krankenschwester, zzt. stellvertretende Pflegedienstleiterin, 45 Jahre) Die Befragten vermitteln ihrem Partner über den Artikel ihre Sicht auf die Beziehung. Mit Hilfe des Artikels werden Konflikte oder Bedürfnisse thematisiert, ohne dass sie krisenhaft wirken: „Die Sachen, die ich ihm zu lesen gebe oder vorlese, sind halt immer diese Artikel, wo es um Paarbeziehungen und eben um Beziehungen zwischen Menschen geht. Gerade, wenn die auch mal ein bisschen satirisch sind.“ (Franziska, Sachbearbeiterin, 27 Jahre) Einige der Befragten praktizieren Partnerschaftsrituale mit der Zeitschrift. Sie geben ihren Partnern Rezepte aus Brigitte mit der Bitte, sie für ein gemeinsames Essen zuzubereiten: „Ja, ich schneide ihm das dann aus und er guckt sich das dann an. Und wenn ihm das [Rezept] gefällt und er sich das vorstellen könnte, dann kocht er es am Wochenende gerne nach.“ (Margit, Förderschulpädagogin, 54 Jahre) Auf Basis des Zeitschrifteninhalts ist es den Leserinnen möglich, sich mit vertrauten Menschen über relevante Themen, aber auch über gemeinsame Interessengebiete auszutauschen. Die Interviewten gestalten enge soziale Beziehungen, indem sie Anschlusskommunikation an Beiträge aus Brigitte suchen. In Gemeinschaften mit anderen Frauen fungieren die Artikel als Verbindung stiftendes Element, ihrem Partner vermitteln die Befragten darüber geschlechtsgebundene Sichtweisen. 5.4 Frauenzeitschriften als Kompendium weiblicher Alltagskultur Die Rezeption wird in individuell orientierten Bezügen vor allem als Mittel zur Selbstpflege, aber auch als Teilhabe an einer als traditionell weiblich empfundenen Alltagskultur eingesetzt. Die Befragten nutzen die Frauenzeitschriftenrezep-
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tion nicht nur, um sich eine Freude zu machen oder sich zu belohnen, sondern es geht in der konkreten Rezeptionssituation auch um die Bestätigung eigener Alltagskompetenzen, die Aktualisierung von Alltagswissen und darum, sich Wissen über weibliche Alltagskulturen anzueignen. Vor allem Ratschläge aus Artikeln der Ressorts Psychologie, Kochen und Gesundheit werden auf der Folie eigener Erfahrungen und persönlichen Vorwissens überprüft: „Ja, das ist im Grunde alles das, was ich weiß, was mir klar ist. Auch bei diesen Dingen hier. Obwohl ich es lese. Es sind dann doch immer mal wieder neue Tipps. Aber ich bin nun auch so ein fleißiger Medizinsendungengucker im Fernsehen, dass ich immer denke: ‚Das habe ich alles drauf‘.“ (Renate, Hotelfachfrau, zzt. Hausfrau, 57 Jahre) Die Befragten ziehen daraus Selbstbestätigung, weil sie Aspekte traditioneller Rollenzusammenhänge, die selten eine Anerkennung erfahren, als Wert und sich selbst als kompetent erleben (vgl. zu diesem Aspekt Hermes 1995: 36ff.). Diese Funktion kann auch in eine oppositionelle Haltung münden, wenn sich die Interviewten kompetenter fühlen als die Redaktion, und im Extremfall zur Beendigung der Leserinnenschaft führen. Brigitte wird von den Leserinnen aber nicht nur zur Bestätigung eigener Kompetenzen, sondern auch als Wissenslieferant genutzt. Als Kompendium weiblicher Alltagskultur gebrauchen die Leserinnen die Zeitschrift, um sich über aktuelle Trends und Entwicklungen besonders hinsichtlich traditionell weiblicher Themeninteressen zu informieren. Diese Funktion betonen vor allem junge Frauen, die aufgrund der Betreuung von kleinen Kindern weniger Möglichkeiten haben, sich dieses Wissen außerhalb ihres Haushalts anzueignen: „Man bleibt ja irgendwie auch so ein bisschen im Zeitgeist. Ich meine, das ist mein Kontakt, gerade um ein bisschen zu sehen, was in Mode ist.“ (Sarah, Architektin, zzt. Elternzeit, 28 Jahre) Frauen, die über 50 Jahre alt sind, lesen Brigitte, um Anteil an der Alltagskultur jüngerer Frauen zu nehmen und durch die Rezeption den Geschmack und die Weltsicht ihrer Töchter besser zu verstehen. Allen Befragten dient die Zeitschrift dazu, einen Überblick über neue Produkte, die größtenteils mit dem traditionellen weiblichen Rollenbild in Verbindung stehen, zu bekommen. Dabei geht es nicht um deren Kauf, sondern um eine Teilhabe an Trends. Schon das Wissen um sie stellt für die Befragten einen Wert dar, weil sie es als Element einer geschlechtsgebundenen Alltagskultur begreifen, der sie sich zugehörig fühlen. Die Rezeption von Brigitte stärkt zum einen das Selbstbewusstsein der Leserinnen und dient zum anderen der Teilhabe an einer Gemeinschaft von Frauen. Die Leserinnen erleben Fähigkeiten, die sie im Kontext traditioneller Rollenzuschreibungen erworben haben, durch die Rezeption als Können und als Wert. In der Auseinandersetzung mit dem Medium eignen sie sich zusätzliche Kenntnisse an, die mit traditionellen Aspekten der weiblichen Geschlechterrolle in Verbindung stehen, indem sie Wissen aus den Artikeln übernehmen. In Brigitte wird
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das Leben als Frau in progressiven und in traditionellen Rollenbezügen als anerkennens- und erhaltenswert charakterisiert. Denn indem Brigitte Themen wie Berufstätigkeit oder Artikel zu Frauenfragen und Gleichberechtigung anbietet, sind immer auch modernisierte Rollenentwürfe präsent. Da die meisten Befragten in beiden Bezügen leben, fühlen sie sich durch die Inhalte bestätigt und empfinden ihre Lebenswelt als medial geschätzt und akzeptiert. Diese Funktion der Frauenzeitschrift ist vor allem deshalb wichtig und originär, weil weibliche Lebenszusammenhänge in anderen Medien oft ignoriert oder einseitig dargestellt werden.
6. Fazit: Frauenzeitschriften – das Besondere im Alltäglichen In diesem Artikel wurden vier Dimensionen der Frauenzeitschriftenrezeption in Alltagskontexten systematisiert: Es wurde analysiert, wie die Nutzung des Mediums in den Alltag eingebettet wird, welche Inhalte einer praktischen Nutzung zugeführt werden, welche Funktionen das Lesen in sozialen Beziehungen hat und welche Bedeutung die Aneignungspraxen in individuellen Bezügen aufweisen. Innerhalb des Rhythmus’ eines Arbeitstages dient der Akt der Rezeption dazu, Erwerbs- bzw. Reproduktionsarbeit und Freizeit voneinander zu trennen und sich von Familienmitgliedern und deren Bedürfnissen abzugrenzen. Die praktische Verwendung der Inhalte im Alltag ist weniger relevant als vermutet und beschränkt sich vor allem auf das Kochressort, Kulturtipps und Artikel zum Thema Reisen. Der Frauenzeitschrifteninhalt wird von den Leserinnen nicht automatisch als nachahmenswert angesehen, sondern bekommt dann praktische Relevanz, wenn die Umsetzung für die Befragten unkompliziert und funktional ist. In sozialen Bezügen werden Medieninhalte über Gespräche in eine reale weibliche Alltagskultur transferiert, die vor allem mit vertrauten Frauen geteilt wird. In der Kommunikation mit dem Partner ist das Medium ein Sprachrohr für die Sichtweise von Frauen und hilft, eigene Standpunkte zur Beziehungsgestaltung besser zu verdeutlichen. Schließlich rezipieren die Leserinnen Brigitte, um sich selbst als weiblich, kompetent und souverän zu erleben. Sie knüpfen ihr Medienvergnügen also auch deshalb an alltagsnahe Inhalte, weil sie sich und ihre geschlechtsspezifischen Kompetenzen darüber positiv wahrnehmen. Somit haben die Beiträge eine andere praktische Relevanz als vermutet: Sie wirken entspannend, weil sie in ihrem Bezug auf den weiblichen Lebenszusammenhang vertraut sind und weil sie Selbstbewusstsein geben. Darüber hinaus sind Frauenzeitschriften aus Sicht ihrer Leserinnen deshalb das Besondere im Alltäglichen, weil sie Erholung von vielfältigen Anforderungen, Privatheit sowie eine Beschäftigung mit sich selbst erlauben.
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Die vorliegenden Ergebnisse unterstreichen, dass strukturelle, soziale und individuelle Faktoren bei der Rezeption eng miteinander in Beziehung stehen. Somit greifen Analysen, die ausschließlich individuelle Bedeutungszusammenhänge thematisieren und die die deutschsprachige Forschung bisher dominierten (vgl. Steinbrenner 2002; Wilhelm 2004; Meyen 2006), zu kurz, um die komplexe Beziehung zwischen Mediennutzung, Gesellschaft und Subjekt zu charakterisieren. Diese Verbindung wird am Beispiel der „Rückzugs- und Entspannungsfunktion“ deutlich, die Meyen (2006: 10) und Wilhelm (2004: 110) ebenfalls beschreiben. Sie verstehen sie als Tagesabschluss und Erholungspause. Ihre Bedeutung geht aber darüber hinaus: Durch die Rezeption in den Abendstunden wird der Alltag nur vordergründig entlang einer Linie von Arbeit und Freizeit strukturiert. Wichtiger ist, dass die Befragten sich beim Lesen mit sich selbst beschäftigen und sich positiv besetzte Attribute zusprechen. Die Rezeption erscheint in diesem Zusammenhang nicht als eine Flucht in eine vermeintlich heilere Welt, wie sie der Uses-and-Gratifications-Ansatz in der Eskapismusthese formuliert, sondern als bewusste Konzentration auf Bereiche, die an das alltägliche Leben anknüpfen. Die Leserinnen besinnen sich darin auf ihre Stärken, die als Vorzüge beschrieben werden, über die ausschließlich Frauen verfügen. Zu kurz greift auch eine Reduzierung der Funktion der Frauenzeitschriften auf die Zuschreibung von fiktiven Selbstbildern, wie sie Hermes (1995) ermittelt und damit eine Zuschreibung von Eigenschaften meint, die Frauenzeitschriftenleserinnen aufgrund der Auseinandersetzung mit den Inhalten des Mediums erworben zu haben meinen oder sich aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Leserinnenschaft eines bestimmten Titels zusprechen. In der Frauenzeitschriftenrezeption identifizieren sich die Leserinnen nicht nur imaginär mit bestimmten Eigenschaften, sondern erfahren eine Bestätigung hinsichtlich realer Alltagspraxen. Eine verbreitete Zwischendurch- oder Nebenbeinutzung und eine geringe Relevanz der Hefte für die Leserinnen, wie sie in anderen Studien thematisiert wurde (vgl. Hermes 1995; Wilhelm 2004; Meyen 2006), konnte hier nicht bestätigt werden. Die Rezeption hat für die Frauen einen hohen Stellenwert, weil sie ausschließlich selbstorientiert geschieht. Auch die Brigitte-Leserinnen wissen um die gesellschaftliche Abwertung der Frauenzeitschriften, machen sie sich aber geschickt zunutze. Unter Verweis auf die scheinbar harmlose, nicht ganz ernstzunehmende Frauenzeitschrift können zwischenmenschliche Anliegen vorgebracht werden, so dass sie weniger gravierend oder verletzend wirken. Frauenzeitschriften erscheinen vor dem Hintergrund der Befunde nicht als Ersatz für die beste Freundin und die Nutzung somit nicht als von parasozialer Interaktion bestimmt (vgl. Steinbrenner 2002: 197), sondern als Instrument zur aktiven Gestaltung von sozialen Beziehungen. Über die Inhalte der Frauenzeitschriften nehmen die Leserinnen symbolisch an einer weiblichen Alltagskultur teil, überführen diese aber auch in ihre geleb-
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ten weiblichen Gemeinschaften. Die Rezeption ist also ein aktiver Prozess, bei dem zwar Alltagsstrukturen die Weichen für Nutzungszeiten und -orte stellen, in der Nutzungssituation macht aber gerade auch die Abweichung vom Alltag den Reiz des Mediums aus. Ein anderer, zentraler Grund für die Rezeption von Frauenzeitschriften ist das Doing Gender, das die Leserinnen in der Aneignung praktizieren. Im Akt der Rezeption findet eine Auseinandersetzung mit der eigenen, geschlechtlichen Identität statt und es werden Performanzen traditioneller und progressiver Rollenentwürfe verhandelt (vgl. vertiefend Müller 2009). Die Rezeption von Frauenzeitschriften wird also stets von der Strukturkategorie Geschlecht geprägt, dient aber gleichzeitig ihrer Definition und Modifikation.
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„Aufgeschriebene Männerabende“. Eine qualitative Studie zu den Nutzungsmotiven von Männermagazin-Lesern Michael Meyen, Nathalie Huber & Senta Pfaff-Rüdiger
1. Einleitung Seit Mitte der 1990er Jahre hat sich ein neuer Zeitschriftentyp auf dem deutschen Markt etabliert. Mit einem ‚Lifestyle‘-Themenmix aus Fitness und Gesundheit, Mode, Sport, Autos, Technik und Kultur, mit erotischen Fotos sowie einer ausdrücklich männlichen (und dabei oft ironischen) Perspektive erreichten Men’s Health (1996 in Deutschland gestartet), GQ (1997), FHM, Maxim (beide 2001) und Matador (2004–2008)1 zuletzt monatliche Auflagen zwischen 110.000 und 250.000 Exemplaren (IVW I/2008). Vorher gab es für das männliche Geschlecht entweder rein thematisch konzipierte Zeitschriften mit einer nur „implizit“ geschlechtsgebunden Ausrichtung (etwa Sport-, Auto- oder Heimwerkermagazine) auf der einen Seite und ausgewiesene Herrenmagazine mit Sex- und Erotikthemen auf der anderen Seite (Röser 2005: 24). Der Erfolg der neuen Männermagazine hat nicht nur zahlreiche Experten widerlegt, die immer wieder von einem gesättigten Markt sprachen, sondern auch Franz Ronneberger, der es noch vor zwei Jahrzehnten für „wenig wahrscheinlich“ hielt, dass sich „Männerzeitschriften als Gegentyp zu den Frauenzeitschriften“ entwickeln werden (Ronneberger 1986: 37). Ronneberger konnte offenbar nicht ahnen, welche Folgen die Kommerzialisierung des Rundfunks für die damals dominierenden Sexzeitschriften haben würde. Während Lui (1992) und Penthouse (2002) eingestellt wurden, hat sich der Marktführer Playboy zu einer „unterhaltsamen Illustrierten“ gewandelt (Schwab 2001: 92). Dort sind zwar nach wie vor Playmates und nackte Prominente zu bewundern, das Blatt erinnert aber inzwischen eher an eine „Frauenzeitschrift für den Mann“ (Stäbler 2006: 17) als an die Sexzeitschrift Playboy, die 1972 auf den deutschen Markt kam. Dieser Aufsatz fragt nach den Ursachen für den Erfolg der Männermagazine und blickt dabei vor allem auf die Rezipienten – eine „Leerstelle“ in der Forschung (Röser 2005: 32). Warum kaufen Männer Männerzeitschriften? Welche 1
Matador wurde mit Heft 6/2008 aus wirtschaftlichen Gründen eingestellt.
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Bedürfnisse befriedigen die Blätter und welchen Stellenwert haben sie im Alltag ihrer Leser? Wenn Jutta Röser (2005: 23) Recht hat und Männermagazine tatsächlich als Pendant zu den Frauenzeitschriften zu sehen sind, dann müsste es nicht nur bei der thematischen Konzeption Parallelen geben, sondern auch bei der Nutzung. Es ist bekannt, dass Frauenzeitschriften den Leserinnen einen Schutz- und Rückzugsraum bieten und ideale Alltagsbegleiter sind, dass sie die „weibliche Seite“ („Mode, Schminken, Abnehmen, Cellulite“; Meyen 2006a: 259) besser bedienen als alle anderen Medienangebote und dass sie außerdem beim Management von Identität und Emotionen helfen (vgl. Röser 1992; Steinbrenner 2002; Wilhelm 2004; Rössler/Veigel 2005; Meyen 2006a. Vgl. auch Müller in diesem Band). Auch wenn die allermeisten Frauen die Blätter offenbar nicht allzu wichtig nehmen, gehen sie am Kiosk nicht nach dem Zufallsprinzip vor. Beeinflusst wird die Entscheidung vor allem von zwei Faktoren: zum einen von der Lebensphase, in der sich die Leserin befindet, und zum anderen von dem Bild, das sie von sich selbst gern vermitteln möchte. Frauenzeitschriften sind auch Status- und Lebensstilsymbole (und als solche Distinktionsmerkmale) und müssen einen Bezug zu den Problemen haben, vor denen die Käuferin gerade steht oder die sie auf sich zukommen sieht (vgl. Meyen 2006a: 260). Es ist zu vermuten, dass Männer ihr Medienmenü nach ähnlichen Kriterien zusammenstellen und ähnliche Motive zum Kauf von Männermagazinen führen. Um diese These zu prüfen, wurden insgesamt 39 Leser von Playboy, GQ, FHM und Matador in qualitativen Interviews befragt (31 in insgesamt sieben Gruppendiskussionen und acht in Einzelgesprächen). Bevor in den Abschnitten 4 und 5 die Ergebnisse präsentiert werden, liefert der Beitrag zunächst eine Skizze des theoretischen Rahmens (Abschnitt 2) und des methodischen Vorgehens (Abschnitt 3).
2. Identitätsmanagement, doppelte Distinktion und kulturelles Kapital Um sich der Frage zu nähern, warum Männer zu Männermagazinen greifen, bietet sich das Habitus-Konzept des französischen Soziologen Pierre Bourdieu (1982) an. Meyen (2007: 339) hat den Habitus als „Schlüssel zu den Mediengewohnheiten und zu den Themen, für die sich ein Mensch interessiert“, beschrieben. Der Habitus wird von frühester Kindheit an geformt und ein Leben lang modifiziert. In den Habitus gehen die „Prinzipien des Urteilens und Wertens“ ein, die in einer Gesellschaft vorherrschen (Krais 2004: 91). Habitus lässt sich daher am besten mit dem Wortpaar „sozialisierte Subjektivität“ übersetzen (Bourdieu/Wacquant 1996: 159). Der Begriff „Habitus“ steht dabei für Denk-, Handlungs- und Wahrnehmungsschemata, die zur Orientierung in der sozialen
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Welt dienen und Praktiken hervorbringen (vgl. Schwingel 2003: 62f.). Diese Schemata wiederum fungieren als Grundlage für den praktischen Sinn des Habitus (vgl. Bourdieu 1987). Der praktische Sinn hilft den Akteuren, sich innerhalb von sozialen Feldern zurechtzufinden; er leitet Entscheidungen an, „die zwar nicht überlegt, doch durchaus systematisch“ erscheinen (ebd.: 122). Ähnlich wie die vom subjektiven Sinn angeleiteten Handlungen bei Alfred Schütz sind die vom praktischen Sinn generierten Handlungen demzufolge selten bewusst gesteuert. Der subjektive Sinn kann nach Schütz (1971: 28) nur dann erkannt werden, wenn „die einen Handlungsablauf bestimmenden Motive enthüllt werden“. Die Suche nach einem subjektiven Sinn und damit letztlich auch nach dem praktischen Sinn ist folglich immer auch Motivforschung (vgl. Pfaff-Rüdiger 2007: 14). Die Motivforschung ist Teil der kommunikationswissenschaftlichen Mediennutzungsforschung und wurde bislang vor allem in der funktionalistischen Tradition des Uses-and-Gratifications-Approach verfolgt.2 Denis McQuail und Michael Gurevitch haben aber bereits 1974 darauf hingewiesen, dass der funktionalistische Ansatz nur einer von drei möglichen theoretischen Zugängen zum Uses-and-Gratification-Ansatz sei. Neben dem Funktionalismus und der Kritischen Theorie schlugen McQuail und Gurevitch eine handlungstheoretische Perspektive nach Alfred Schütz vor (vgl. McQuail/Gurevitch, 1974). Genauso ist aber auch eine theoretische Fundierung des Uses-and-Gratification-Ansatzes durch die praxeologische Erkenntnisperspektive nach Bourdieu möglich. Die Praxistheorie nach Bourdieu bietet zwei Vorteile: Zum einen können auch unbewusste und habitualisierte Mediennutzungsmuster erfasst werden. Wenn man Bourdieus Habitus-Konzept als „sozialisierte Subjektivität“ versteht, dann ermöglicht es zum anderen, den Wandel der gesellschaftlichen Umstände zu berücksichtigen. Besonders die Sichtweise auf Männlichkeit hat sich in den letzten Jahrzehnten erheblich verändert. Wurde Männlichkeit in der bürgerlichen Gesellschaft noch mit dem „Allgemein-Menschlichen“ gleichgesetzt (Döge/Meuser 2001: 11), so verlor sie durch den Feminismus nach und nach die „Evidenz des Selbstverständlichen“ (Bourdieu 1997b: 226). Dabei trafen die Forderungen der Frauen nach Gleichberechtigung nicht nur die traditionelle Geschlechterbeziehung, sondern verlangten vom Mann außerdem, sich selbst (neu) zu definieren. 2
Zentraler Ausgangspunkt in der funktionalistischen Tradition des Uses-and-GratificationsApproach sind die aktiven Rezipierenden, die das Medienangebot zweckorientiert und zur Befriedigung der eigenen Bedürfnisse nutzen (vgl. Katz u.a. 1974; Rubin 2002; Schenk 2007: 681– 697). Die empirischen Studien, die in dieser Tradition entstanden sind, haben teilweise sehr lange Kataloge mit Bedürfnissen hervorgebracht, die allesamt von den Medien befriedigt werden sollen (vgl. exemplarisch McQuail 1983: 82f.). Einige dieser Bedürfnisse wurden mit Konzepten aus der Psychologie und der Soziologie untermauert, aber bisher nicht systematisch auf eine soziologische Theorie – wie zum Beispiel die Praxistheorie nach Pierre Bourdieu – bezogen.
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Röser (2005: 29) hat das Aufkommen der Männermagazine in den 1990er Jahren mit dem Diskurs über Männlichkeit erklärt, der durch die veränderten Umstände notwendig geworden sei. Männermagazine diskutieren neben den traditionell ‚männlichen‘ Themen (Erfolg, Sport, Statussymbole) auch für Männer neue Themen wie beispielsweise Mode, Gesundheit und Beziehungen (vgl. Jackson u.a. 1999: 354); sie stellen darüber hinaus die Frage nach dem „Wahrgenommen-Sein“ (Meuser 2001: 226). Die Thematisierung des eigenen Auftretens wurde für Männer auch deshalb relevant, weil die steigende Arbeitslosigkeit und der Berufswunsch vieler Frauen die „berufliche Identität als konstitutives Element des Mannes“ (King/Bosse 2000: 13) in Frage stellten. Dass diskontinuierliche Erwerbsbiographien seitdem eher die Regel als die Ausnahme sind (vgl. ebd.: 8f.), sorgte für zusätzliche Unsicherheit. Nach Bourdieu (1997a: 203) findet die Verständigung über den männlichen Habitus nur in männlichen Räumen statt. In dieser Studie wird deshalb auch danach gefragt, ob die Männermagazine einen solchen (neuen) männlichen Raum geschaffen haben. Es ist zu vermuten, dass die Zeitschriften vor allem zum Identitätsmanagement genutzt werden (vgl. Scherer/Wirth 2002) und dass die Hefte dabei die Möglichkeit der „doppelten Distinktion“ bieten (Bourdieu 1997a: 215) – gegenüber Frauen und gegenüber anderen Männern. Da jeweils unterschiedliche Formen des Männlichen thematisiert werden, eignen sich die Magazine als Basis für eine (männliche) Gruppenidentität. Als das „Körper gewordene Soziale“ (Krais/Gebauer 2002: 5) ist der Habitus von außen sichtbar und lässt sich durch die Lebensführung der Akteure erkennen und rekonstruieren – etwa durch die Lage und die Einrichtung der Wohnung, durch Autos, Kleider, Hobbys oder eben durch die Nutzung bestimmter Medienangebote. Genau wie Automarken, Wohnformen oder Kleidung signalisieren die genutzten Medien, welcher sozialen Gruppe sich der Rezipient verbunden fühlt, welche Einstellungen und Werte er teilt und welche Position er anstrebt. Obwohl Bourdieus Habitus-Konzept auf dauerhafte Wahrnehmungs-, Denkund Handlungsschemata zielt und betont, dass frühe Erfahrungen spätere formen, ist der Habitus nichts Starres und Unveränderliches, sondern wird immer wieder modifiziert. Entscheidende Determinante ist dabei die soziale Position des jeweiligen Akteurs. Bei Bourdieu ist der Kampf um Status geradezu ein Synonym für menschliches Leben überhaupt. Er geht davon aus, dass wir vor allem deshalb handeln, um uns von anderen abzuheben – ein Prozess, der ständig läuft und der uns überhaupt nicht bewusst sein muss (vgl. Bourdieu 1998). Die Macht eines Akteurs beschreibt Bourdieu (1983) mit dem Begriff des Kapitals. Er unterscheidet vier Kapitalformen: ökonomisches Kapital (materieller Reichtum), kulturelles Kapital (Fähigkeiten, Fertigkeiten, Wissensformen), soziales Kapital (Netzwerke) und symbolisches Kapital (Prestige). Kapital ist in jedem Fall akkumulierte Arbeit. Um Geld zu verdienen, muss man genauso Zeit
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einsetzen wie für das Lernen oder für die Pflege von Beziehungen. Wenn man mit Bourdieu davon ausgeht, dass letztlich alle Menschen nach Kapital streben, um ihre Position zu verbessern, dann ist zu fragen, wie das Lesen von Männermagazinen zum individuellen Kapitalfundus beiträgt. Meyen (2007) hat festgestellt, dass der Umgang mit Medienangeboten jeweils auf einer Skala mit den Endpunkten „Unterhaltung“ und „Arbeit“ verortet werden kann. Mediennutzung als Unterhaltung dient dabei der Reproduktion der Arbeitskraft (wichtig für die Gewinnung ökonomischen Kapitals) und Mediennutzung als Arbeit dem Erwerb kulturellen Kapitals. Männermagazine dürften folglich nicht nur zum Identitätsmanagement genutzt werden, sondern auch, um sich zu erholen und um kulturelles Kapital zu akkumulieren.
3. Methodisches Vorgehen Um an relativ stabile Nutzungsmuster und relativ stabile Nutzungsmotive zu gelangen, werden die Bedürfnis- und Alltagsstrukturen von MännerzeitschriftenLesern in den Mittelpunkt gerückt. Nutzungsmuster spiegeln sich in typischen Nutzungssituationen und Nutzungsgewohnheiten wider und stellen damit „wiederholt auftretende Typen von Nutzungsepisoden“ dar (Schweiger 2007: 234). Um Aussagen zum Stellenwert von Männerzeitschriften im Alltag ihrer Leser und zu den Nutzungsmotiven machen zu können, wurde mit Gruppendiskussionen und Tiefeninterviews gearbeitet. Qualitative Befragungsformen ermöglichen einen Zugang zum subjektiven Sinn, den Menschen mit Medienformaten verbinden, indem sie Bezüge zwischen den handlungsleitenden Themen und den Medieninhalten herstellen (vgl. Pfaff-Rüdiger 2007: 14). Anders als in der Marktforschung wird die Methode der Gruppendiskussion in der Kommunikationswissenschaft selten genutzt. Gruppendiskussionen eignen sich durch ihre geringe Strukturierung zur Exploration vor allem thematisch eingegrenzter Sachverhalte und haben den Vorteil, dass die Teilnehmenden sich in alltagsnahen Situationen gegenseitig anregen und bestätigen, selbst Schwerpunkte setzen und so Hemmschwellen abbauen. Da das Verfahren auf diese Weise Zugang zu Material gewährt, das latent im Vorbewussten liegt (Lamnek 1998: 74), wird es besonders in der Meinungs-, Einstellungs- und Motivforschung eingesetzt. Gruppendiskussionen als qualitatives Erhebungsverfahren zielen in Anlehnung an Siegfried Lamnek (1995: 118) auf Repräsentanz anstelle von Repräsentativität. Sowohl die Selektion der Befragten als auch die Teilnahme am Gespräch selbst stoßen an sprachliche und soziale Barrieren. Über die einzelnen GesprächsteilnehmerInnen lassen sich in der Auswertung oft nur unvollständige Aussagen treffen, da nicht jeder zu jedem Thema etwas sagt und Nicken oder Schweigen schwer interpretierbar sind. Außerdem beeinflussen gruppendynami-
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sche Prozesse den Gesprächsverlauf und erschweren die Auswertung, für die in der Methodenliteratur nur wenig Hilfe angeboten wird. Diese Nachteile wurden in Kauf genommen, da es darauf ankam, zunächst überhaupt Motive für den Kauf und das Lesen von Männermagazinen zu erkunden. Am besten geeignet schienen dafür Diskussionen, die sich jeweils auf ein bestimmtes Blatt konzentrierten und an denen Männer teilnahmen, die eine besondere Bindung an diese Zeitschrift entwickelt hatten. Die Studie von Jackson u.a. (1999) hat gezeigt, dass die Teilnahme von Nichtlesern oder gelegentlichen Lesern zu Verzerrungen führt und eher über das (negative) Image der Zeitschrift gesprochen wird als über die Nutzung. Insgesamt sind sieben Gruppendiskussionen in die Auswertung eingeflossen: zu Matador (3), GQ (2), Playboy und FHM (je1).3 Rekrutiert wurden die 31 Teilnehmer über Abonnentenlisten und vor allem über Dritte – über Bekannte von Studierenden. Obwohl die Auswahl quotiert wurde (nach Alter, Berufstätigkeit, Familienform), waren auf diese Weise weder Verlegenheits- und Gelegenheitsleser zu erreichen noch Personen, die nicht in der Nähe Münchens leben. Außerdem waren in der Stichprobe Männer mit höherer Formalbildung überrepräsentiert. Dies hat vor allem mit dem zentralen Rekrutierungsproblem bei Gruppendiskussionen zu tun: Stark beschäftigte und am Gegenstand nur beiläufig interessierte Personen sind nicht bereit, zu einem festgelegten Zeitpunkt an einen bestimmten Ort zu kommen, um über eben diesen Gegenstand zu sprechen. Weil die Gruppendiskussionen außerdem kaum Aufschluss über den Stellenwert von Männermagazinen im Medienmenü und im Alltag der einzelnen Teilnehmer geben konnten, wurden ergänzend acht Tiefeninterviews mit jungen Männern (18 bis 25 Jahre) genutzt, in denen es um die gesamte Lebensführung der Befragten ging (vgl. Thonhauser 2007). Die soziodemografischen Merkmale der Stichprobe: – Alter: elf Männer zwischen 18 und 25 Jahren, 17 zwischen 26 und 35, sechs zwischen 36 und 45 und fünf älter als 45 Jahre; – Familienform: 29 Singles, fünf Verheiratete, fünf Männer in fester Beziehung; – Berufstätigkeit: 18 Angestellte, neun Selbständige (darunter gleich drei Fotografen), neun Studenten, zwei Arbeitslose, ein Rentner.4 Das Image der einzelnen Zeitschriftentitel hatte ebenfalls Einfluss auf die Rekrutierung. So war es beispielsweise deutlich schwieriger, FHM- als GQ-Leser zu finden. Ausgewertet wurden die Diskussions- und Interviewtranskripte über eine qualitative Inhaltsanalyse (zu den Details vgl. Meyen 2006b: 44–46). 3
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Eine Gruppendiskussion mit Lesern der Men’s Health zeigte, dass hier das Interesse der Leser auf anderen Lebensbereichen wie Gesundheit oder Sport lag. Sie wurde eher als Special-InterestZeitschrift und nicht als Lifestyle-Magazin wahrgenommen. Für die Auswertung wurde deshalb auf die Ergebnisse dieser Gruppendiskussion verzichtet. Die Art der Rekrutierung erklärt, warum keine Soldaten befragt wurden. Aus Experteninterviews mit Redakteuren von Männermagazinen ist bekannt, dass dies eine wesentliche Zielgruppe der Zeitschriften ist (vgl. Stäbler 2006).
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4. Männermagazine im Alltag Männermagazine sind selbst Lesern, die sich dazu eine Stunde lang befragen lassen, nicht allzu wichtig. Auf die Frage, was sie tun würden, wenn es den Playboy morgen nicht mehr geben würde, reagierte die Diskussions-Runde mit Schulterzucken, Ironie („weinen“) und Abgeklärtheit („auf jeden Fall verzichtbar“). Ein junger Volkswirt sprach in einem Tiefeninterview mehr als 15 Minuten über Männermagazine, unterschied detailversessen zwischen seinen Lieblingsblättern GQ („super Schreibstil“, „Stilgötter“, „Genießen und Schweigen“) und FHM („wenn ich irgendwie geärgert werde“ und wissen möchte, „wie bösartig Menschen sein können“), sagte dann aber am Schluss, dass Zeitschriften für ihn im Vergleich mit anderen Medienangeboten das „mit Abstand Uninteressanteste“ seien. Eine Ausnahme allerdings gibt es offenbar: Medienprofis. Wer sich beruflich mit Fotos, Lifestyle und vielleicht auch mit Journalismus beschäftigt, für den können Männermagazine einen anderen Stellenwert bekommen. Ein Berufsfotograf, Jahrgang 1960, nutzt zum Beispiel die Zeitschrift Matador, um sich seinen Expertenstatus zu bestätigen. Dort seien offenbar nur „Idioten“ am Werk, die von „Licht und Schatten keine Ahnung“ hätten und die Mädchen „bescheuert“ schminken würden. Den Playboy braucht dieser Mann, weil zu ihm „viele Girls“ kommen und fragen, ob er für ihren Freund das Titelfoto „nachschießen“ könne. Auf den geringen Stellenwert, den die Leser den Männermagazinen im Alltag einräumen, deuten auch die Leseorte hin. Männermagazine werden für das Flugzeug gekauft oder für die Bahn („Bayern-Ticket und die GQ unter dem Arm“, PR-Referent, Jahrgang 1973), sie werden gelesen, wenn gerade nichts anderes anfällt (etwa im Garten und in der Hotellobby) oder wenn es beruflich sein muss (wie bei den befragten Fotografen), und sie liegen bei vielen Abonnenten auf der Toilette oder werden dorthin extra mitgenommen. „Der Mann an sich liest gerne auf der Toilette“, sagte ein Koch, Jahrgang 1975, „ist ein sehr schöner Zeitvertreib“. Wenn man nicht davon ausgeht, dass ausgerechnet das stille Örtchen der letzte ‚Schutz- und Rückzugsraum‘ für die geplagte männliche Seele ist, dann ist zu vermuten, dass diese Funktion hier, anders als bei Frauenzeitschriften, weniger wichtig ist. Männer können sich solche Räume auch ohne das Vehikel Zeitschrift schaffen (sehr viel leichter jedenfalls als Frauen): im Büro oder auf dem Fußballplatz, in der Kneipe oder in der Garage. Dies erklärt möglicherweise auch den Auflagen-Unterschied. Allein die wöchentlichen Frauenzeitschriften verkaufen mehr als zehn Millionen Exemplare, von den Monatsblättern und den Marktführerinnen Brigitte und Glamour, die alle 14 Tage eine neue Ausgabe produzieren, ganz zu schweigen. Die Männermagazine erscheinen längst nicht so oft (meist monatlich) und kommen zusammen auf eine Auflage knapp über
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der Millionengrenze. Für die These vom Einfluss der Lebenswelt und der Erwartungen, die mit der Geschlechtsrolle verbunden sind, spricht, dass sich ausgerechnet ein pensionierter Offizier ähnlich wie Frauenzeitschriftenleserinnen äußert. Dieser Mann, Jahrgang 1947, hat eine 26 Jahre jüngere, berufstätige Frau, einen siebenjährigen Sohn und den Status eines Hausmanns („Ich bin der Putzlappen und die Küchenschabe und betreue natürlich meinen Sohn“). „Wenn der Matador im Briefkasten liegt“, habe er ein „sehr angenehmes Gefühl“, „als würde ein guter Freund klingeln“, und freue sich auf das Lesen. Die Lektüre wird dann zelebriert: „Ich lege mich auf die Couch und lese die richtig.“ Bei den anderen Befragten fehlte nicht nur die Vorfreude. Auch sonst werden Männermagazine offenbar deutlich weniger zum Emotionsmanagement genutzt als Frauenzeitschriften.5 Ein Methodenartefakt, zu erklären einfach dadurch, dass Männer weniger Gefühle zeigen? Nein. Wo Frauen von Märchen sprechen, von Prominentenklatsch und Traumwelten, sehen die Männer Ziele. Dies gilt nicht nur für einen Volkswirt, der von der GQ wissen will, wie sein Leben einmal sein wird. Ein Münchener Abiturient, Jahrgang 1985, sagte, „Promis“ seien eher etwas für seine Mutter. Die Sachen aus der GQ könne er sich zwar im Moment noch nicht leisten, aber „der Stil“, die „Aufmachung“ und „das Leben“ seien schon toll. Ein Maxim-Leser, noch Student, spürt den „Wunsch nach mehr Geld“ und einen „gewissen Neidfaktor“, wenn er Armani- und Boss-Anzüge sehe. Anders als Frauen sind Männer offenbar auch nicht glücklich, irgendein billiges Nachahmerprodukt zu haben, das fast genauso aussieht wie das Original: „Ich finde Prada-Anzüge extrem geil und würde mir auch nur Prada-Anzüge kaufen, wenn ich das könnte“, sagte ein Angestellter mit Mittlerer Reife, Jahrgang 1980, der den Matador abonniert hat. Als Signal für ökonomisches Kapital und damit als Instrument im Status-Wettkampf funktionieren Männerspielzeuge nur, wenn sie echt sind und wirklich teuer waren. Genau wie die Leserinnen von Frauenzeitschriften erwarten die Befragten in Männermagazinen weder Politik noch „Problemthemen“. Ein ehemaliger Offizier, Jahrgang 1947, der „einen beachtlichen Teil des Tages“ Qualitätsmedien wie dem Spiegel oder der Süddeutschen Zeitung widmet, sagte, es sei „manchmal sehr entspannend“, eine Zeitschrift zu lesen, die „sich nicht mit Politik beschäftigt“. Außerdem sehe er ja „auch ab und zu gern ein nacktes Mädchen“. Ein Beamter, Jahrgang 1963, meinte, er „hätte ein Problem“, wenn er erst etwas über den neuen Ferrari lese, dann „Sri Lanka nach dem Tsunami“ komme, und schließlich „ein hübsches Mädchen“. Wenn man im Matador blättere, wolle man „eine Illusion haben“. Männermagazine eignen sich, um Lücken im durch5
Wenn im Folgenden die Befunde über Männerzeitschriftenleser mit denen zur Rezeption von Frauenzeitschriften verglichen werden, beziehen wir uns auf Meyen 2006a sowie Meyen 2006b: 79–87.
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strukturierten Alltag zu füllen. Sie erfordern weniger kognitiven Aufwand als die Lektüre eines Buches. „Beim Buch lese ich oft viel länger als ich eigentlich kann. Weil es gerade so spannend ist und man halt weiter lesen will. Bei Matador passiert mir das nicht. Das dauert eine Minute und dann habe ich den Text weg“ (Matador-Leser, Jahrgang 1965). Männermagazine haben trotzdem ein Imageproblem. In der Diskussion über den Playboy mussten sich die Teilnehmer erst einmal gegenseitig versichern, dass sie ja „alle reife Männer“ seien und sich nicht für die Zeitschrift „schämen“ müssten. In der FHM-Runde wurde der Playboy als „Erotik- bis Sexmagazin“ beschrieben, das man genau wie „Pornozeitschriften“ lieber nicht kaufe. FHM sei zwar auch fast eine „Mutprobe“, aber das Blatt habe wenigstens etwas „Informationsgehalt“ und sei für viele Leser auch der Versuch, „über die legale Schiene ein wenig nackte Haut sehen zu können“.
5. Nutzungsmotive Ferrari, hübsche Mädchen und nackte Haut: Männermagazine bedienen die ‚männliche Seite‘. Die Gruppendiskussionen und die Tiefeninterviews haben bestätigt, dass diese Zeitschriften genutzt werden, um sich selbst zu bestätigen und eine (männliche) Gruppenidentität zu konstruieren. Die Blätter liefern damit Sicherheit in unsicheren Zeiten – nicht zuletzt, weil das Stilmittel Ironie immer wieder Distanz zu den behandelten Themen ermöglicht (vgl. Jackson u.a. 1999: 353). Männermagazine bieten das, was (nur) Männer interessiert und was es so „in keinem anderen Medium“ gibt (Student, Jahrgang 1983): Frauen und Autos, Uhren und Abenteuer, Zigarren, Alkohol und in einigen Blättern auch „fiese, gemeine, dreckige Witze“ (Journalist, Jahrgang 1973, FHM-Leser). Ein Student hat FHM mit einem „aufgeschriebenen Männerabend“ verglichen („worüber man abends so beim Bierchen redet“). Ein anderer Student kann über Maxim „immer schmunzeln“, weil die Zeitschrift „etwas leicht Chauvinistisches“ habe, und ein GQ-Leser, Jahrgang 1973, der als Barkeeper arbeitet, hat von „Männerspielsachen“ gesprochen: „gute Frau, guter Anzug, gutes Auto“. Männermagazine sind außerdem Distinktionsmerkmale und werden genutzt, um sich von anderen abzugrenzen (in erster Linie nach unten) und Gleichgesinnte zu erkennen. Vor allem Playboy und GQ wurden in den Gruppendiskussionen als Statussymbole beschrieben. Nach Ansicht eines Online-Managers, Ende 20, ist GQ vergleichbar mit der Frauen-Zeitschrift Vogue. Die GQ-Leser orientieren sich stark an der Oberschicht und schämen sich nicht, Geld zu haben oder viel Geld haben zu wollen. In dieser Zeitschrift finden die Leser Anleitungen, wie man das Geld am besten ausgibt. Wahrscheinlich war es deshalb auch kein Zufall, dass sich ein Unternehmer, ein Controller, ein VWL-Student und ein Bar-Mann zur GQ äußerten. Während die anderen Männermagazine alle-
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samt leicht bekleidete oder nackte Frauen zeigen, schätzen die GQ-Leser, dass in ihrem Magazin gerade dies nicht zu sehen ist: „Die Frauen in Maxim oder FHM sehen aus wie die Frauen, die auf den Feigling-Packungen drauf sind“, sagte ein Student. „So ganz bittere Outfits. Und da gibt es dann Mädchen des Monats oder so. Das gibt es bei der GQ halt nicht“. Ein PR-Referent, Jahrgang 1973, der den Playboy als „Marke“ sieht, sagte, Männermagazine wie FHM seien „total plump“ und sollten wohl die „niederen Schichten ansprechen“. Einem Studenten, Jahrgang 1981, wäre es „peinlich“, mit Men’s Health „im Zug zu sitzen“. GQ dagegen habe vorn „nicht solche Muskelmenschen“ drauf, sei nicht so „billig“ wie Maxim und „nicht ganz so dämlich“ wie FHM. Die befragten FHM-Leser haben zwar eingeräumt, dass man das Blatt besser „nicht aus der Handtasche heraushängen lässt“ (Student, Jahrgang 1982), aber zugleich betont, dass FHM „nichts für den einfachen Bauern“ sei. „So ein Bauernsohn“ könne mit den Berichten über die Stars nichts anfangen und habe gar nicht die nötige „Allgemeinbildung“, um den Wortwitz des Blattes zu verstehen (der gleiche Student und ein Journalist, Jahrgang 1979). Ein 32-jähriger Leser sprach von einer „Titanic mit Titten“, und ein gleichaltriger Diskutant meinte, dass es nach außen gar nicht so bekannt sei, dass FHM ein „Verarsch-Magazin“ sei – man merke das erst nach dem zweiten oder dritten Lesen. Ein weiteres Nutzungsmotiv hängt eng mit dem Angebot für die ;männliche Seite‘ zusammen: Legitimation und Selbstbestätigung. Wenn StammtischGespräche und Chauvinistisches sogar gedruckt werden, dann liege ich mit meinen eigenen politisch unkorrekten Gedanken vielleicht doch nicht so falsch oder bin damit zumindest nicht allein. Zugleich legitimieren Männermagazine heimliche Wünsche – nicht nur mit Blick auf die Frauen. Ein Volkswirt, Jahrgang 1980, der in einem Tiefeninterview befragt wurde und gerade einen Job gefunden hatte, sagte, wer in GQ vorgestellt werde, der schäme sich nicht dafür, „Geld zu haben“. Die Zeitschrift zeige, wie sein Leben „eventuell dann bald auch sein wird“ und dass es sich lohne, „hart zu arbeiten“. Wie Frauenzeitschriften sind Männermagazine Ideengeber (Was gibt es zu kaufen, wie ticken Frauen und wie vertusche ich einen Seitensprung?) und liefern so Gesprächsstoff, informieren über das Meinungsklima und erleichtern damit die Anpassung an die Umwelt. Ein Restaurant-Manager, Jahrgang 1973, hat sich vor einem Vorstellungsgespräch in einem Fünf-Sterne-Hotel eine GQ gekauft, um sich über die Erwartungen orientieren zu können. Die PlayboyLeser waren sich einig, dass Männer heutzutage sehr viel mehr Wert auf ihr Äußeres legen müssten als früher. „Ich finde, auch der Job verlangt das“, sagte ein Selbständiger, Jahrgang 1969. Wer „als Person optisch“ nicht wirke, brauche sich gar nicht mehr um einen Manager-Posten zu bewerben. Ein 32-jähriger Barmann meinte, dass er immer im Trend sein müsse: „Wenn man weiß, was in GQ und Playboy steht, ist man mittendrin im Gespräch.“
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Solche Wissenshäppchen, die die Leser auch im Matador finden (Motto: „Männer wollen’s wissen“), sind für Männer offenbar wichtiger als für Frauen. Die Bruchstücke aus den Männerzeitschriften sind einsetzbar, um sich interessant zu machen und damit die eigene Position zu verbessern. Da die behandelten Themen nah am Alltag liegen, kein Vorwissen verlangen und oft einen ‚Aha-Effekt‘ auslösen, eignen sich diese Wissenshäppchen gut für den Smalltalk: Man weiß etwas und ist up to date. Beispielsweise hatte ein Fotograf, Jahrgang 1960, im Matador gelesen, wie groß Fußballtore sind – „Grundwissen“, „so kleine Kästchen“, die fast auf jeder Seite seien. Er hasse Fußball zwar „wie die Pest“, aber „jetzt weiß ich wenigstens, wie lang so ein Tor ist und wie hoch das ist, wenn mich das mal einer fragen sollte“. In der gleichen Diskussion war von „Allgemeinbildung“ die Rede (Beamter, Jahrgang 1963) und von „Wissenswertem“, das „man gleich wieder vergessen“ könne (der Ex-Offizier). Die GQ-Leser sprachen von „Trends“ und von „Sachen, die man eigentlich nicht erwartet hat“, und die FHM-Leser von „neuen Objekten“ sowie von „Zusatzwissen“. Dass man selbst einen so leichten und unterhaltsamen Zeitvertreib wie das Lesen von Männermagazin (auch) als Arbeit sehen kann, mit der kulturelles Kapital gewonnen wird, brachte ein Student der Volkswirtschaftslehre, Jahrgang 1984, auf den Punkt: „Ja. Mußestunde, Entspannen. Schon. Aber das ist nicht der Zweck. Entspannen würde ich sonst auch beim Kaffee“ – und zwar auch ohne Matador. Männermagazine bereiten ihren Lesern auch Genuss. Während die Frauen vor allem die Lesesituation zu genießen scheinen (Badewanne, Strand, Lieblingsdecke), bezieht sich dieses Motiv bei den Männermagazinen fast ausschließlich auf die Qualität des Produkts – auf die Verpackung und auf das Papier (ein „Wertgegenstand“, „relativ wertvoll“, „macht für eine Schundzeitschrift einen sehr hochwertigen Eindruck“ – alles Zitate aus Matador-Diskussionen), auf die „exklusive Ausstattung“ (GQ-Leser, Jahrgang 1973), auf die „künstlerisch sehr hochwertigen Fotos“ (der gleiche Leser) und auf die Professionalität der Macher. Genau wie Frauenzeitschriften eignen sich Männermagazine außerdem als „Belohnungshappen“ – in Lernpausen (Student, Jahrgang 1980, Matador-Leser) und im Job („in ruhigen Minuten“; Tankwart, Jahrgang 1979), als Einstimmung auf das Wochenende (Abiturient, Jahrgang 1985, GQ-Leser), „vor dem Schlafengehen noch im Bett“ (Arbeitsloser, Jahrgang 1949) und als kleiner „Spaß“ nach „einem harten Arbeitstag“ (Playboy-Leser, Jahrgang 1973).
6. Fazit Fragt man Männer direkt nach der Bedeutung von Männermagazinen in ihrem Alltag, dann schreiben sie ihnen einen geringen Stellenwert zu – auf Männerzeitschriften könnten sie, gerade im Vergleich zu anderen Medien, noch am
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ehesten verzichten. Aber genau das macht einen Teil des Reizes von Männerzeitschriften aus: Die Mediennutzung erfolgt nicht arbeitsorientiert, sondern dient in erster Linie der Unterhaltung, zur Rekreation und Reproduktion der Arbeitskraft. Man tut sich etwas Gutes, wenn man sie liest, ohne den Druck zu verspüren, sich dabei Wissen aneignen zu müssen. Damit sind die Zeitschriften die idealen Lückenfüller für das kurzzeitige Abtauchen in eine heile (Männer-) Welt. Wenn die Zeitschriften zusätzlich nützliche Wissenshäppchen vermitteln, so ist das ein angenehmer Nebeneffekt – sozusagen kulturelles Kapital ‚to go‘. Gleichzeitig dienen die Zeitschriften dem Identitätsmanagement. Sie bieten, anders als andere Medien, einen explizit männlichen Raum, in dem sich die Leser in Themenauswahl und Sprache wiederfinden. In Geschichten über Statussymbole oder berufliche Erfolge können sie ihre eigenen Ziele und Träume nicht nur reflektieren, sondern auch legitimieren. Bei den Lesern von Männermagazinen lässt sich das beobachten, was Bourdieu (1997a: 215) „doppelte Distinktion“ genannt hat: Die Leser wählen einen Titel aus, der ihrem Selbstbild und Anspruch entspricht, und grenzen sich damit von den Lesern anderer Titel (nach unten) ab. Viele GQ-Leser würden nicht FHM lesen. Die Zeitschriften dienen dabei zugleich der Abgrenzung von Frauen – denn Männer schätzen an diesen Blättern, dass Frauen sie selten bis gar nicht lesen. Bei den Nutzungsgewohnheiten zeigen sich zum einen deutliche Parallelen zwischen Frauen- und Männerzeitschriften. Leser wie Leserinnen schätzen an ‚ihren‘ Zeitschriften, dass sich diese explizit an sie als Mann bzw. Frau richten. Durch das Schmökern in den Zeitschriften fühlen sie sich verstanden. Auch das Identitätsmanagement spielt sowohl bei der Lektüre von Männer- als auch von Frauenzeitschriften eine zentrale Rolle. Während Frauen aber auch Emotionen ‚managen‘, geht es den Männern eher um das Reflektieren der eigenen Ziele. Zum anderen konnten deutliche Nutzungsunterschiede herausgearbeitet werden: Im Gegensatz zu Frauen berichten Männerzeitschriftenleser seltener von LeseRitualen, wie dem Kuscheln auf dem Sofa oder dem Baden mit Kerzenlicht. Insgesamt suchen Männer durch das Zeitschriftenlesen weniger nach einem Schutz- und Rückzugsraum, was auch daran liegen dürfte, dass der öffentliche Raum nach wie vor männlich dominiert ist (Büro, Fußballplatz, Kneipe, Garage etc.). Letztlich spiegelt sich in der Nutzung von Männer- bzw. Frauenzeitschriften die unterschiedliche Lebenswelt der Geschlechter wider.
Literatur Bourdieu, Pierre (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt/Main: Suhrkamp. Bourdieu, Pierre (1983): Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. In: Kreckel, Reinhard (Hg.): Zur Theorie sozialer Ungleichheiten. Göttingen: Schwartz, 183–198.
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Michael Meyen, Nathalie Huber & Senta Pfaff-Rüdiger
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Eine qualitative Studie zu den Nutzungsmotiven von Männermagazin-Lesern
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Zwischen Popularität und Abwertung: Zur Bedeutung der „Bild-Zeitung“ im Alltag ihres Publikums Mascha Brichta
1. Einleitung Hans Magnus Enzensberger beklagte bereits 1983, die Bild-Zeitung sei ähnlich „ubiquitär verbreitet“ wie der Quelle-Versandhauskatalog (ebd.: 657) – damals wie heute ein durchaus treffender Vergleich. Bild erreicht ein Massenpublikum: Montags bis Samstags werden 3,4 Millionen Exemplare des Blattes verkauft (IVW II/2008), womit Bild trotz Auflagenverluste vergangener Jahre die mit Abstand meistverkaufte Tageszeitung Deutschlands bleibt und auch im europäischen Vergleich ihre Spitzenposition hält (vgl. World Association of Newspapers 2008). Vor allem aber die Reichweite des Blattes ist enorm: Bild wird jeden Tag von insgesamt 11,61 Millionen Menschen gelesen (ma II/2008). Ihre erstaunliche Publikumsresonanz macht die Bild-Zeitung zu einem unübersehbaren kulturellen Produkt, das als Alltagsbestandteil vieler Menschen zweifelsohne Relevanz besitzt. Gleichzeitig ist das Blatt so umstritten wie kaum ein anderes deutsches Medienerzeugnis. Als populärkulturelles Medienprodukt und darüber hinaus als Deutschlands einzige überregionale Boulevardzeitung zieht Bild Skepsis und Argwohn der Kultur- und Medienkritik an wie keine andere. Im Spannungsfeld zwischen Popularität und Abwertung fragt dieser Beitrag nach der Bedeutung der Bild-Zeitung im Alltag ihres Publikums. Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, wurden sechs Gruppendiskussionen mit insgesamt 41 Leserinnen und Lesern des Blattes durchgeführt und analysiert. Als Ergebnis werden drei Kernbereiche der Alltagsrelevanz vorgestellt, die sich an die Systematisierung von Jutta Röser (2006; vgl. Röser/Peil in diesem Band) zu Alltag in der Rezeptionsforschung anlehnen. Demnach lassen sich mit Blick auf die bisherige Forschung vor allem zwei theoretische Zugänge unterscheiden, die nicht immer voneinander abgrenzbar sind und sich überschneiden: Zum einen lässt sich die Ebene des situativ eingebundenen, praktischen Medienhandelns identifizieren. Die Aneignung von Medien hat sich dabei als kein isoliertes Phänomen erwiesen, sondern als eingebunden in andere raum-zeitliche und soziale Kontexte, die die Aneignungsprozesse strukturieren und wechselseitig von ihnen beeinflusst werden. Medienrezeption wird so neben anderen alltäglichen Praktiken als ein elementarer Bestandteil von Alltag konzipiert. Diese Zusammenhänge sind vor allem von Beiträgen britischer Wissen-
Zur Bedeutung der „Bild-Zeitung“ im Alltag ihres Publikums
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schaftler im Hinblick auf Fernsehrezeption herausgearbeitet worden (vgl. z.B. Lull 1988; Gauntlett/Hill 1999). Entsprechend fokussiert der vorliegende Beitrag zunächst das situative, praktische Medienhandeln der Rezipierenden von Bild. ‚Alltag‘ ist aber laut Röser (vgl. ebd.) nicht nur auf den reinen Gebrauch von Medien, also das Medienhandeln, beziehbar: Der andere von ihr identifizierte Zugang ist die Medienaneignung als innerer Prozess des Dekodierens – also des Denkens, Fühlens, Sinn-Machens, Bewertens und Positionierens zu Medien und Medieninhalten – im Kontext von Alltagserfahrungen. Diese Ebene ist ungleich vielfältiger und diffuser. Dabei hat das, was sich im Denken und Fühlen abspielt, wiederum Auswirkungen auf das Medienhandeln. Der zweite hier diskutierte Aspekt der Alltagsrelevanz von Bild nimmt demnach die inhaltlichen und sprachlichen Bedeutungen in den Blick, die LeserInnen aus den Texten der Zeitung konstruieren und für ihren Alltag relevant machen. Alltag ist demnach sowohl im praktischen Medienhandeln relevant (d.h. was tun LeserInnen mit Bild, wann, wie, wo und warum) als auch in der inneren Bedeutungsproduktion (d.h. wie denken und was fühlen LeserInnen in Bezug auf Bild). Beide Dimensionen vereinen sich schließlich im letzten Aspekt der Alltagsrelevanz von Bild, der hier hervorgehoben wird. Im Vordergrund stehen dabei die sozialen und kommunikativen Kontexte, in denen die Rezeption von Bild im Alltag der LeserInnen eine Rolle spielt. Denn Medienhandeln und -bedeutungen sind immer auch eingebunden in vielfältige gesellschaftliche Zusammenhänge, Prozesse und Werteschemata. Insbesondere die „tendenzielle Verachtung“ (Bruck/Stocker, 1996: 10) alles Trivialen und Populären – und damit auch der Bild-Zeitung – wird im vorliegenden Beitrag in ihrer Bedeutung für die Rezeption analysiert. 1.1 Die „Bild-Zeitung“ im Spiegel der Forschung Beim Blick auf akademische Beiträge zu Bild und verwandten Medienangeboten springen vor allem zwei Tatsachen ins Auge. Erstens steht der großen positiven Publikumsresonanz der Zeitung ein Phänomen gegenüber: das problematische Ansehen von Boulevardjournalismus und Populärkultur. Zweitens finden sich zwar zahlreiche Arbeiten zu Sprache, Stil und Inhalten von Boulevardzeitungen, aber nur sehr wenige, die sich mit Publikumsperspektiven beschäftigen und die Rolle der Bild-Zeitung im Alltag ihrer LeserInnen thematisieren. Peter A. Bruck und Günther Stocker (1996: 10) konstatieren eine „tendenzielle Verachtung“ alles Trivialen und Populären in der Forschung. In der Tat sind die meisten wissenschaftlichen und journalistischen Überlegungen zu Bild und anderen Formen populären Journalismus1 von Kritik und Besorgnis geprägt. 1
Die Bild-Zeitung wird in diesem Beitrag als populärjournalistisches Produkt betrachtet. Den Begriff des „populären Journalismus“ benutzt Rudi Renger (2000), um einen Zusammenhang
204
Mascha Brichta
Im Rahmen kulturkritischer und demokratietheoretischer Überlegungen werden Boulevardzeitungen und boulevardeske Darstellungsformen anderer Medien beispielsweise als demokratiegefährdend diskutiert und als gesellschaftliches Problem wahrgenommen (vgl. z.B. Scholl/Weischenberg 1998; Barnett 1998; Sparks 2000). Das Anliegen vieler Autoren scheint mit einer Forderung von Klaus Weber (1978: 282) treffend umschrieben: Es seien „gesellschaftliche Zustände herbeizuführen, die (…) Zeitungen wie Bild überflüssig machen“. Zu ähnlichen Schlussfolgerungen kommen auch eine Reihe von Analysen, die Sprache, Inhalte und Darstellungsstrategien kritisieren (vgl. z.B. Mittelberg 1967; Büscher 1996). Als Folge der öffentlichen Kritik an Bild während der Studentenunruhen der 1960er Jahre stand vor allem die Ideologiekritik im Zentrum der Auseinandersetzungen mit dem Blatt, wobei die Bild-Zeitung als Machtinstrument zur Manipulation der Massen stilisiert (vgl. z.B. Arens 1971; Alberts 1972; Küchenhoff 1972; Albrecht 1982) und als ‚Politikmacher‘ kritisiert wurde (vgl. z.B. Bechmann u.a. 1979; Rust 1984). Auch die journalistischen Praktiken und die Moral der Redakteure gerieten in den Fokus (vgl. Wallraff 1977, 1979, 1981). Bild wurde als Synonym für ‚unsauberen‘ Journalismus analysiert (vgl. z.B. Berger/Nied 1984; Minzberg 1999; Schirmer 2001). Ähnlich haben VertreterInnen aus Kultur und Medien Einfluss und Machart des Blattes seit seinem Bestehen immer wieder verurteilt (vgl. z.B. Böll 1974; Enzensberger 1983; teils ironische, teils ernsthafte Kritik findet sich auch heute noch täglich auf www.bildblog.de). Die implizierte Vermutung eines starken manipulativen Einflusses der BildZeitung auf Alltagsbewusstsein und Meinungsbildung ihrer Nutzerinnen und Nutzer veranlasst viele AutorInnen, die Geringschätzung des Blattes auch auf sein Publikum zu übertragen. Dies mündet in zum Teil recht stereotypen Vorstellungen darüber, was die Attraktivität von Boulevardzeitungen für ihre Leser ausmacht. Erich Straßner (1991: 114) folgert beispielsweise, dass der simple und komprimierte Satzbau des Boulevardblattes den LeserInnen das Denken radikal erleichtern solle; Stefan Schirmer (2001: 132) konstatiert, man müsse „bedenken, dass Bild offenbar bestrebt ist, die Komplexität von Sachverhalten zu reduzieren, um der geringen Lesekompetenz einiger Rezipientenkreise entgegen zu kommen“; Steven Barnett (1998: 78) vermutet, dass die Lektüre dem „voracious appetite for voyeurism“ ihrer Leser entgegen komme; und Hans Magnus Enzensberger (1983: 659) bezeichnet das Publikum von Bild pauschal als „Konsumidioten“. Allerdings beruhen solche Annahmen nicht auf empirischen Analysen, denn die Rezeption von Boulevardzeitungen stand bisher kaum im forscherischen Fokus. Aus Reichweiten- und Leserschichterhebungen ist zwar bekannt, dass von von Journalismus und Populärkultur herzustellen, den er über die gesellschaftliche Abwertung konstruiert. Im englischen Sprach- und Wissenschaftsgebrauch ist der Begriff „popular journalism“ als Synonym für Boulevardjournalismus längst etabliert, wie zum Beispiel die Anthologie von Peter Dahlgren und Colin Sparks (1992) zeigt.
Zur Bedeutung der „Bild-Zeitung“ im Alltag ihres Publikums
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den insgesamt 11,6 Millionen Lesern 63 Prozent männlich sind, der Altersschwerpunkt der Leserschaft zwischen 30 und 59 Jahren liegt und das Haushalts-Netto-Einkommen in den meisten Fällen 2.500 Euro beträgt (vgl. ma II/2008). Die Daten zeigen aber zugleich, dass Bild durch alle Gesellschaftsschichten und Berufsgruppen hindurch gelesen wird und damit einen Bevölkerungsquerschnitt erreicht, der von anderen Überregionalen nicht abgedeckt wird (vgl. Klingemann und Klingemann 1983). Worüber diese Erhebungen jedoch nichts aussagen können, ist die Frage, welchen Sinn LeserInnen in der Lektüre konstruieren, und welche Rolle Bild in ihrem Alltag spielt. Nach längerer „forscherischer Vernachlässigung“ (Bruck/Stocker 1996: 10) lässt sich seit rund zehn Jahren eine Trendwende ausmachen, im Zuge derer das Publikum von Boulevardzeitungen international stärkere Beachtung findet. Mittlerweile existieren einige Rezeptionsstudien (vgl. ebd.; Klingemann/Klingemann 1983; Pursehouse 1991; Bird 1992; Brichta 2002; Habicht 2006; Johansson 2006). Obwohl nur eine dieser Arbeiten den Fokus explizit auf die Einbettung der Bild-Zeitung in den Alltag ihrer Nutzerinnen und Nutzer und die Ansprache sozialer Erfahrungen legt (vgl. Brichta 2002), können wichtige Erkenntnisse dazu aus allen genannten Studien entnommen werden. Ganz allgemein kann festgestellt werden, dass eine Vielzahl von unterschiedlichen Lesweisen und Haltungen zu Boulevardzeitungen besteht (vgl. Bruck/Stocker 1996). Was viele LeserInnen schätzen, ist vor allem die hohe Verständlichkeit der Texte, aber auch die Rolle der Zeitungen als ‚Anwalt der kleinen Leute‘ (vgl. Bruck/Stocker 1996; Brichta 2002; Habicht 2006; Johansson 2006). Dass die Rezeption von Boulevardzeitungen nicht in einem Vakuum stattfindet, belegen die Studien ebenfalls: Nutzerinnen und Nutzer setzen die Zeitungen immer wieder in Kontext zu ihrem eigenen Alltag und zu gesellschaftlichen Diskursen, zu denen sie sich positionieren (vgl. Brichta 2002). In allen Studien zur Aneignung von Boulevardzeitungen zeigt sich eine Geringschätzung des Genres seitens seines Publikums. So fanden Hans-Dieter und Ute Klingemann (1983: 246) in ihrer standardisierten Befragung von „Lesern und Nicht-Lesern“ von Bild heraus, dass „der deutschen Bevölkerung zu Bild spontan eher etwas spezifisch Negatives als etwas spezifisch Positives einfällt“. Gelobt wurden die Übersichtlichkeit, die Aktualität der Berichte, die „Lebenshilfe“ sowie der Sportteil der Bild. Vor allem die befragten ‚Nicht-Leser‘ fielen jedoch durch ihren hohen Anteil kategorisch negativer Urteile über das Blatt auf. Doch auch die Leser betonten negative Merkmale der Zeitung, die sich vor allem auf die „reißerische Aufmachung“, die „Sensationsdarstellung“ und die „geringe Glaubwürdigkeit“ der Berichte, sowie auf Artikel über Prominente, Klatsch, Tratsch und Skandale bezogen (ebd.: 248ff.). Ganz ähnliche skeptisch-distanzierte Haltungen seitens des Publikums zeigen auch andere Rezeptionsstudien. Sofia Johansson (2006: 125ff.) beispielsweise stellte in Bezug auf britische Boulevardzeitungsleser fest, dass diese häufig von „rubbish papers“ sprechen. Dies äußert sich auch in der durchgehend
206
Mascha Brichta
schwierigen Rekrutierung von InterviewpartnerInnen (vgl. Bruck/Stocker 1996; Brichta 2002; Johansson 2006). In den meisten Fällen wird die tendenzielle Geringschätzung von Boulevardzeitungen durch ihre Leserinnen und Leser zwar festgestellt, nicht jedoch vertiefend analysiert. Gerade der Haltung zum Genre kommt aber eine große Bedeutung für die Rezeption zu, wie der vorliegende Beitrag zeigt. 1.2 Die Aneignung von Populärkultur aus Sicht der British Cultural Studies Traditionelle Überlegungen zu Boulevardjournalismus erinnern oft an die Grundgedanken der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule, besonders an die von Theodor Adorno und Max Horkheimer in den 1930er und 1940er Jahren entworfene Kritik an Populärkultur mit ihrer starken Befürchtung der Manipulationsmacht und dem klassisch passiven Publikumsbild (vgl. Adorno/Horkheimer 1947). Für die Analyse der Alltagsrelevanz der Bild-Zeitung erscheint eine solche Herangehensweise aber nur begrenzt sinnvoll, da sie eine vorweg abqualifizierende Haltung zu dem Blatt und seinen LeserInnen impliziert. Massenmedien wie Boulevardzeitungen haben zweifelsohne eine Bedeutung für ihr Publikum, die es zu analysieren gilt. Dieser Beitrag lehnt sich deshalb an die Perspektive einiger Forscherinnen und Forscher an, die lose unter dem Dach der British Cultural Studies zusammengefasst werden können. Sowohl die Ansätze von Vertretern der Frankfurter Schule als auch die der British Cultural Studies haben eine kritische Auseinandersetzung mit Kultur, Medien und Macht zum Ziel. Sie unterscheiden sich jedoch in ihrer Herangehensweise an das Populäre und in ihrer Sichtweise auf das Publikum. Douglas Kellner (1997: 27) fasst es so zusammen: „British cultural studies overcomes some of these limitations of the Frankfurt school by systematically rejecting high/low culture distinctions and taking seriously the artefacts of media culture. Likewise, they overcome the limitations of the Frankfurt school notion of a passive audience in their conceptions of an active audience that creates meaning and the popular.“
Neben der aktiven Publikumskonzeption liegt ein weiterer Grundgedanke in dem Entwurf von Kultur als sozialer Alltagspraxis, wodurch ein direkter Zusammenhang zwischen Kultur und Alltagsleben hergestellt wird. Populärkultur wird dabei als selbstverständlicher Bestandteil von Alltag gefasst. Vor allem John Fiskes Ideen (1987, 1989a, 1989b, 1993) zur Alltagsrelevanz von Populärkultur sind hierfür ausschlaggebend. Eine zentrale Aussage von ihm lautet: „Popular culture is made by the people, not produced by the culture industry“ (ebd. 1989a: 24). Popularität ist also kein Merkmal des Medientextes, sondern es sind die Rezipierenden, die Kulturwaren populär machen. Dabei spielt vor allem die „Relevanz“, die das Publikum ihnen zuweist, eine Rolle. Diese entsteht dann, wenn NutzerInnen populäre Texte in Beziehung setzen mit dem, was im eigenen Alltag Bedeutung hat. Röser konkretisiert dies (2000: 51):
Zur Bedeutung der „Bild-Zeitung“ im Alltag ihres Publikums
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„Populär können demnach nur solche Medieninhalte werden, in denen Rezipierende Bezüge zu ihren sozialen, alltagseingebundenen Erfahrungen identifizieren und denen sie deshalb Relevanz und Bedeutsamkeit zuerkennen. Relevanz ist somit eine Rezeptionskategorie: Texte ‚haben‘ nicht soziale Relevanz, sondern Rezipierende geben ihnen Relevanz (oder auch nicht), indem sie sie in Beziehung zu ihren sozialen Erfahrungen und ihrer Sicht von Welt lesen.“
Im Gegensatz zur hochkulturellen Abwertung der Populärkultur wird ihr hier also ein sozialer Sinn zugewiesen, und zwar sowohl auf der Ebene der Rezeption als auch auf der des Textes: Populäre Medientexte sind Träger von Bedeutungspotenzialen, womit ihnen eine wichtige Rolle im Prozess der „kulturellen Zirkulation“ (Müller 1993: 56), d.h. der Durchsetzung und Entstehung von Bedeutungen, zukommt (vgl. Winter 1997: 48). Je nach Produkt können laut Fiske die angebotenen Bedeutungen sehr vielfältig sein, was er mit dem Begriff der „Polysemie“ (1987: 84ff.) umschreibt. Populärkulturelle Produkte sind durch leichte Verständlichkeit geprägt (ebd.: 95), bedürfen aber aufgrund ihrer Unterdeterminiertheit, Offenheit, Brüchigkeit und Multidiskursivität der Bedeutungsproduktion durch die Rezipierenden. Für die Produktivität des Publikums sind vor allem die Kontexte der Nutzerinnen und Nutzer wichtig. Bezogen auf die Medienaneignung bedeutet dies, dass „Rezeption im Spannungsfeld von Text und Kontext“ (Röser 2000: 48) gesehen werden muss: Rezipierende produzieren Bedeutungen im Kontext ihres gesamten Seins, das durch situative und formale Faktoren (wie z.B. Genrewissen), die eigenen Alltagserfahrungen und die eigene Sichtweise auf die Welt konstituiert wird. Diese Sichtweise hat ihren Bezug in gesellschaftlichen Diskursen, in denen Rezipierende positioniert sind bzw. sich selbst einordnen. Die Bezugnahme auf den Rezeptions- und Produktionsprozess impliziert also auch die Reproduktion gesellschaftlicher Verhältnisse, Normen und Werte.
2. Untersuchungsdesign Wie und in welchen Kontexten machen Rezipierende Bild für ihren Alltag relevant? Um Antworten auf diese Forschungsfrage zu gewinnen, wurden sechs Gruppendiskussionen mit Leserinnen und Lesern des Boulevardblattes ausgewertet.2 Insgesamt nahmen 19 Frauen und 22 Männer zwischen 26 und 69 Jahren an den Diskussionen teil. Es wurde auf eine Streuung bezüglich Alter und Schulbildung geachtet. Um möglichen geschlechtsspezifischen Zugängen gerecht zu 2
Diese Daten sind Teil einer umfassenden qualitativen Studie zur Rezeption von Boulevardzeitungen in Deutschland und Großbritannien, an der insgesamt 62 LeserInnen von Bild und 42 LeserInnen der britischen Boulevardzeitung The Sun (verteilt auf 18 Gruppendiskussionen) teilgenommen haben. Der interkulturelle Aspekt wird in diesem Beitrag vernachlässigt, da sich die Ergebnisse speziell zur Alltagsrelevanz in beiden Ländern kaum unterscheiden. Zur ausführlichen Diskussion von Unterschieden und Gemeinsamkeiten in Aneignung, Deutung und Bewertung von Boulevardzeitungen im deutsch-englischen Vergleich vgl. Brichta, in Vorbereitung.
208
Mascha Brichta
werden, wurden die Gruppen zum Teil gemischt mit Männern und Frauen und zum Teil geschlechtshomogen besetzt (s. unten stehende Übersichtstabelle). Alle Diskussionen wurden aufgezeichnet (audio) und transkribiert, wobei die Namen der TeilnehmerInnen durch Pseudonyme ersetzt wurden. Die Auswertung erfolgte im Wechsel zwischen induktiven und deduktiven Vorgehensweisen. Im ersten Schritt wurden Zitate und Passagen in den Transkripten grob nach Themenbereichen geordnet (vgl. Mayring 2003). Ergänzt wurde dies durch mehrere induktive Durchgänge, die weitere Aspekte lieferten. Schließlich konnten die Ergebnisse in die drei nachfolgend vorgestellten Kernbereiche der Alltagsrelevanz von Bild zusammengefasst werden. Tabelle: Übersicht der Gruppendiskussionen und TeilnehmerInnen3 Gruppendiskussion (GD)
Pseudonym Beruf
Schulbildung
Alter
GD1: Frauen
Maria Lena Hannah Sofie
Selbständig (Copyshop) Taxifahrerin Büroangestellte Kauffrau
Mittlere Reife Hauptschule Hauptschule Mittlere Reife
49 50 50 54
Ilona GD2: Frauen (echte Gruppe: Nach- Sarah Vera barinnen) Amelie Natascha Kathrin Maike
Rechtsanwaltsfachangestellte Bankkauffrau Elektronikerin Arbeiterin Verkäuferin nicht berufstätig Verkäuferin
Abitur Mittlere Reife Mittlere Reife Hauptschule Hauptschule Hauptschule Hauptschule
28 29 29 35 37 39 42
GD3: Männer
Alexander Max Felix David Paul
Verkäufer Maler nicht berufstätig Einzelhandelskaufmann IT-Netzwerktechniker
Mittlere Reife Hauptschule Hauptschule Abitur Mittlere Reife
45 46 48 50 56
GD4: Männer (echte Gruppe: Kollegen)
Dirk Mario Olaf Harald Phillip Lutz Reiner Matthias Thorsten Chris Hannes
Monteur Transporteur Endkontroller (Metallindustrie) Montageschlosser Schweißer Werkzeugmaschinen-Programmierer Dreher Montageschlosser Dreher Dreher Maschinenarbeiter
Hauptschule Mittlere Reife Mittlere Reife Hauptschule Hauptschule Abitur Mittlere Reife Hauptschule Hauptschule Mittlere Reife Hauptschule
27 33 36 41 42 43 43 44 45 52 57
3
In einem standardisierten Fragebogen wurden darüber hinaus Angaben zum generellen Mediennutzungsverhalten und Medienmenü der TeilnehmerInnen sowie zur Rezeptionshäufigkeit und -situation von Bild erhoben.
Zur Bedeutung der „Bild-Zeitung“ im Alltag ihres Publikums GD5: Gemischt
Nadia Franziska Bertram Jens Tanja Simone
Michael GD6: Gemischt (echte Gruppe: Nach- Tracy Ingo barn) Eva Sandra Ludwig Babs Kristian
209
Beamtin (Verwaltung) Bürokauffrau Kurierfahrer nicht berufstätig nicht berufstätig Briefträgerin
Abitur Mittlere Reife Mittlere Reife k.A. Hauptschule Hauptschule
36 41 44 44 44 45
Servicetechniker Kinderpflegerin Bankkaufmann Arzthelferin Fabrikationsangestellte Gas- & Wasserinstallateur Medizinisch-Technische Assistentin Produktionsleiter
Abitur Hauptschule Mittlere Reife Hauptschule Abitur Hauptschule Abitur Mittlere Reife
26 26 35 40 40 47 49 69
3. Kernbereiche der Alltagsrelevanz von „Bild“ 3.1 Alltagspraxis: „Bild“ als Alltagsritual Die praktische Verankerung der Rezeption von Bild im Alltag ihrer LeserInnen, d.h. die alltäglichen Routinen des Kaufens und Lesens, steht in diesem Abschnitt im Vordergrund. Die Trennung der Rezeptionshandlung in zwei separate Aktionen (‚Kaufen‘ und ‚Lesen‘) wird dabei aus verschiedenen Gründen vollzogen. Zunächst geht dies auf ein wichtiges strukturelles Merkmal von Bild zurück: dem Doppel- bzw. Dreifachlesen eines einzelnen Zeitungsexemplars. Dies drückt sich im Verhältnis von verkauften Exemplaren und Reichweite aus. Jedes Exemplar von Bild wird durchschnittlich von drei Menschen und mehr gelesen – eine Mehrfachnutzung, die andere deutsche überregionale Zeitungen nicht auszeichnet (vgl. ma II/2008). Entsprechend sind also die LeserInnen von Bild nicht immer deckungsgleich mit den KäuferInnen. Die Trennung der beiden Rezeptionshandlungen gründet sich jedoch vor allem auf die Feststellung, dass die TeilnehmerInnen der Untersuchung sehr häufig von sich aus einen Unterschied machen zwischen Bild „kaufen“ und „irgendwo finden“ sowie zwischen „lesen“ und „durchblättern“. Hinsichtlich der Praktiken des Kaufens von Bild lässt sich die gängige Annahme, das Blatt müsse mittels überdimensionierter, sensationeller Titel-Schlagzeilen sein Publikum täglich neu zum Erwerb anregen (vgl. z.B. Büscher 1996), nicht bestätigen: Ein Blick auf die individuellen Praktiken der befragten Rezipierenden zeigt, dass vor allem die Gewohnheit eine Rolle spielt und der Kauf überwiegend in tägliche Routinen eingebettet ist. Der morgendliche Gang zum Bäcker, der Weg zur U-Bahn oder auch der tägliche Guten-Morgen-Gruß des Kiosk-Verkäufers sind Aspekte, die den Zeitungskauf einrahmen und ihn als Bestandteil eines Alltagsrituals relevant machen. Exemplarisch hierfür erzählt Franziska (GD5): „Immer, wenn ich morgens zur Arbeit fahre, kaufe ich mir die
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Mascha Brichta
Bild-Zeitung – am selben Kiosk, beim selben Typen, zur selben Zeit. Das gehört eben zu meinem Tag dazu. Es würde sich nicht richtig anfühlen, wenn ich das nicht so machen würde.“ Udo Röbel, von 1998 bis 2001 Chefredakteur des Blattes, hat für das Phänomen des gewohnheitsmäßigen Kaufens den Begriff des „inneren Abonnements“ geprägt4, der die emotionale Bindung der Leserinnen und Leser an das Blatt betont. Tatsächlich nimmt die Mehrzahl der Rezipierenden die Titel-Schlagzeile als irrelevant für ihren Kaufentscheid wahr. Max (GD3) konstatiert: „Der Titel ist mir egal. Ich kaufe mir die Zeitung auch dann, wenn auf der ersten Seite nur Mist steht.“ Die Bedeutung des Zeitungserwerbs speist sich also unter anderem aus der Einbettung dieser Handlung in andere alltägliche Abläufe, Routinen und Rituale. Auch in Bezug auf die Praktiken des Lesens fällt auf, dass sozial eingebettete Routinen und Rituale von Bedeutung sind. In der Regel findet die Lektüre an festgelegten Orten und zu festgelegten Zeiten statt, wird fast immer von anderen regelmäßigen Abläufen begleitet und ist häufig mit lieb gewonnenen Gewohnheiten verknüpft. Hannah (GD1) beschreibt es so: „Wenn ich zur Arbeit komme, koche ich als erstes Kaffee. Dann mache ich meinen PC an. Und dann setze ich mich an den Schreibtisch, setze meine Brille auf, trinke meinen Kaffee und lese erst einmal meine Bild.“ Ähnliche rituelle Abläufe beim Lesen wurden von vielen TeilnehmerInnen der Gruppendiskussionen berichtet. Dabei ist interessant, dass regelmäßige Rezeptionsgewohnheiten nicht nur bei den regelmäßigen NutzerInnen zu beobachten sind. Auch bei GelegenheitsleserInnen findet die Lektüre mehrheitlich in einem festgelegten Setting statt und wird von mehr oder weniger ausgeprägten Routinen begleitet. Der häufigste Ort, den diese Gruppe für die Rezeption nennt, ist der Arbeitsplatz, an den Kollegen ein Exemplar der Zeitung mitbringen. Maike (GD2) erzählt: „Ein Kollege kauft immer die Bild-Zeitung und legt sie dann in den Frühstücksraum. Und jeder, aber auch wirklich jeder, der dort seine Pause macht, schaut sie sich dann an.“ Die Rezeption findet aber auch an anderen Orten statt: Bertram (GD5) liest Bild immer, wenn er in seine Stammkneipe geht; eine andere Teilnehmerin, Eva (GD6), liest die Zeitung immer, wenn sie ihre Eltern besucht. Auch hier ist die Lektüre an bestimmte Aktivitäten und Orte gebunden (Arbeitsplatz, Kneipe, Verwandtenbesuch) und wird bewusst als Bestandteil eines bestimmten Handlungsablaufs verankert. Dass insbesondere die Rezeption von traditionellen Massenmedien wie Fernsehen, Radio und Zeitungen in hohem Maße mit alltäglichen Strukturen und Routinen verknüpft ist, wurde auch in anderen wissenschaftlichen Arbeiten mehrfach hervorgehoben. Shaun Moores (2005) fasst die Bedeutung von sich 4
Diese Äußerung stellt leider kein öffentlich publiziertes Gedankengut von Udo Röbel dar. Die Autorin hörte Röbel den Begriff aber benutzen, als er im Jahr 2000 als Gast in einem Seminar zur Bild-Zeitung an der Universität Hamburg über seine Arbeit sprach.
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wiederholenden Routinen und Traditionen bei der Rezeption im Hinblick auf die „Cyclicity“ von Massenmedien zusammen: Gerade für Tageszeitungen akzentuiert er deren tägliche Erscheinungsweise und betont die „ritual function and emotional significance in their [readers’] day-to-day cultures“ (ebd.: 17). Moores legt außerdem dar, dass Medienrezeption tägliche Routinen strukturiert und tägliche Routinen Medienrezeption strukturieren (vgl. ebd.: 9ff.). Auch die Aussagen der LeserInnen von Bild bezüglich ihrer praktischen Rezeptionshandlungen passen zu diesen Erwägungen, betonen sie doch das Zusammenspiel zwischen alltäglichen Strukturen und der Rezeption von Bild als miteinander verknüpfte und voneinander abhängende soziale Phänomene. 3.2 Alltagsnähe: „Bild“ als Dienstleister Dieser Abschnitt rückt die Beziehung zwischen Medientext und alltäglicher Lebenswirklichkeit der Rezipierenden in den Mittelpunkt, indem einige ausgewählte inhaltliche und stilistische Merkmale von Bild im Hinblick auf ihre Relevanz im Alltag der Leserinnen und Leser betrachtet werden. In allen Gruppendiskussionen wird mehr oder weniger explizit die hohe Verständlichkeit der Zeitung gelobt, speziell die geraffte Darstellung und plakative Aufbereitung der Geschehnisse. Bruck und Stocker (1996: 177) sehen im „adäquate[n] Komplexitätsniveau“ des österreichischen Boulevardblattes Neue Kronen Zeitung sogar die zentrale Lektüremotivation von Angehörigen der „Unterschicht“. Tatsächlich ermöglicht die verständliche Aufbereitung der Inhalte manchen Nutzerkreisen von Bild erst einen Zugang zu Nachrichten und Geschehnissen, und damit zu einer allgemeineren Funktion von Medien: dem Bereitstellen eines Orientierungspunktes zur eigenen Auseinandersetzung mit der Welt. Andere Zeitungen werden dabei im Vergleich als ausgrenzend wahrgenommen. Sarah (GD2) erklärt: „Man versteht eben alles in der Bild. Das müsste man in anderen Zeitungen mindestens zweimal lesen und hätte es trotzdem noch nicht verstanden.“5 Dies als alleinigen Beweggrund für die Lektüre zu sehen erscheint allerdings zu weit gegriffen. Mit der Unkompliziertheit des Textes geht auch ein für den Alltag nicht unerhebliches genrespezifisches Lektürevergnügen einher, in dem sich der Spaß an Stilelementen und Inhalten der Bild mit der situativen Dimension der Rezeption vermischt. Dieser Aspekt kann als ‚Leichtigkeit des Lesens‘ beschrieben werden. Die meisten Befragten betonen den Entspannungswert der Lektüre, was sich unter anderem an den Begriffen zeigt, die sie benutzen: „man 5
Im Kontext der „tabloidization“ Debatte der englischsprachigen Medienwissenschaft sehen beispielsweise Örnebring (2006) und Johansson (2006) den Wert von Boulevardzeitungen darin, dass sie als „alternative public sphere“ andere Zugänge zum Themenfeld Politik ermöglichen können.
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fliegt“ über den Text (Kathrin, GD2) oder „überfliegt“ ihn (Paul, GD3), „es geht ruck-zuck“ (Sofie, GD1), „man entspannt sich einfach“ (Reiner, GD4), „es ist wie eine Auszeit“ (Natascha, GD2). Auch die Tatsache, dass die Lektüre wenig Konzentration erfordert, wird oft betont: „man braucht sich nicht so anzustrengen“ (Franzsika, GD5) oder „man braucht nicht so viel zu denken“ (Ingo, GD6). Eine vergnügliche Entspannung beim Lesen kann sowohl auf stilistische Gesichtspunkte (wie die verständliche Aufbereitung) als auch auf inhaltliche Aspekte6 zurückgehen. Zusätzlich dazu ist die Lektüre insofern für den Alltag der Rezipierenden relevant, als das Lesen wie ein „kleiner Urlaub“ (Ilona, GD2) gesehen und als Pause von den Pflichten des Alltags empfunden wird (vgl. bezüglich Frauenzeitschriften: Müller i.d.B.). Die Pausenfunktion der Lektüre von Bild bestätigt sich auch im Hinblick auf situative Aspekte des Lesens, die im vorigen Abschnitt angesprochen wurden: Das Blatt wird besonders häufig während Arbeitspausen oder anderer Leerlaufzeiten des Tages rezipiert und entsprechend von den LeserInnen als idealer „Pausenfüller“ dargestellt, wobei dies eine teils abqualifizierende, teils positiv wertschätzende Beschreibung ist. Im Hinblick auf inhaltliche Bezüge der Texte zum Alltagsleben der LeserInnen wird deutlich, dass Bild in vielerlei Hinsicht durchaus ernst genommen wird. Dabei stehen vor allem alltagspraktische Service- und Ratgeber-Aspekte sowie die Rolle von Bild als Hilfsinstanz bei der Bewältigung des Alltags im Vordergrund. So erzählt zum Beispiel Vera (GD2): „Die CDU hatte doch vorgeschlagen, die Steuern zu senken. Und daraufhin stand in der BildZeitung, wie viel dann der Einzelne verdienen würde. (…) Da wurden zum Beispiel Tabellen abgedruckt, und alles wurde schön erklärt. So etwas finde ich wirklich gut, weil ich es sonst nicht verstehen würde.“
Ein weiteres Beispiel für die Wahrnehmung von Bild als konkrete alltagspraktische Hilfsinstanz ist die Rubrik des Reporters Heiko Brost, der in Bild Hamburg eine Stadtteil-Serie unterhält, in der er kleine und große Alltäglichkeiten des Hamburger Lebens beschreibt und kommentiert. In sämtlichen Hamburger Gruppendiskussionen wurde diese Serie von den TeilnehmerInnen als besonders positiv hervorgehoben. Typisch ist der folgende Ausschnitt aus GD3: DAVID: Also ich mag diese Rubrik mit dem, wie heißt er noch mal? Heiko Brost! Was der so über Hamburg schreibt (lacht), also das finde ich wirklich große Klasse. (…) Was er so auftut, an allen möglichen Ecken und Enden, und dann anprangert. Zum Beispiel dass da wieder irgendwo die Verkehrsschilder zugewachsen sind oder dass mal wieder einer seinen Kühlschrank 6
Ein inhaltliches Lesevergnügen kann zum Beispiel aus der Lektüre von Berichten aus dem Privatleben von Prominenten gezogen werden. Kathrin (GD2), 39-jährig und nicht berufstätig, sagt dazu: „Wenn ich die Bild-Zeitung in die Finger kriege, dann lese ich vor allem den Klatsch und Tratsch. Ich blättere immer ganz automatisch dort hin. Bei mir ist das immer das Erste: Ich nehme die Zeitung in die Hand, drehe sie rum, und lese erst einmal den Klatsch und Tratsch auf der Rückseite. Das ist einfach zu verlockend!“
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irgendwo abgestellt hat oder so etwas. Und dass dadurch im Grunde genommen auch immer wieder etwas passiert, das finde ich sehr gut. FELIX: Ja ja, ja ja, ja ja wirklich, das lese ich auch gern! (alle durcheinander) MAX: Gerade gestern zum Beispiel, da hat er das aufgegriffen mit den Spielplätzen: Wie viele Spielplätze sind einfach nur Schrott, so dass die Kinder da im Grunde gar nicht mehr hin dürften! Ja, und den einen haben sie dann auch gleich gesperrt, komplett gesperrt. Ich meine, so etwas finde ich echt gut, solche Aktionen. Das finde ich ganz toll. PAUL: Das bewegt halt wirklich etwas.
Wie die Wortbeiträge erkennen lassen, sind es konkrete Widrigkeiten im Alltag, um die Bild sich aus Sicht der Leserinnen und Leser kümmert und damit tatsächlich etwas ändert, was im eigenen Lebensalltag überprüfbar ist. Ein weiteres Beispiel ist die Aktion „Bild hilft“, die von vielen LeserInnen als positives Merkmal der Zeitung hervorgehoben wird. Die Selbstinszenierung des Blattes als Alltagshelfer der ‚ganz normalen Leser‘, als ‚Anwalt der kleinen Leute‘, ‚Stimme‘ und ‚Sprachrohr des Volkes‘ spiegelt sich in der Rezeptionshaltung der LeserInnen wider. Dabei ist die positive Bewertung der sozialen ‚Macht‘ von Bild insofern alltagsrelevant, als die Zeitung als hilfreicher Gegenpol zur Machtlosigkeit des Einzelnen in einer immer komplexer werdenden Welt erlebt wird, wodurch ein Gefühl der symbolischen Ermächtigung entsteht. Die typischen Boulevard-Erzählstrategien, wie Emotionalisierung, Personalisierung und Polarisierung der Texte (vgl. Bruck/Stocker 1996; Brichta 2006), spielen dabei eine zentrale Rolle. Vera (GD2) beispielsweise schätzt die zum Teil drastischen Darstellungen: „Man kann sich das ja sonst gar nicht vorstellen, wie schlimm das ist. Und dann ist es gut, wenn man das so ein bisschen gezeigt bekommt.“ Henrik Örnebring und Anna-Maria Jönsson (2004: 15) sehen gerade in der Ansprache von Emotionen das Potenzial zu politischer Partizipation. Sie konstatieren: „The often criticised appeal to emotion can actually stimulate political participation by speaking to the senses and feelings as well as the rational mind.“ Die Texte der Bild-Zeitung können also eine Form von gesellschaftlicher Teilhabe ermöglichen, da die emotionale Auseinandersetzung mit Nachrichten und Geschehnissen die Basis für die Aushandlung persönlicher und gesellschaftlicher Werte bildet (vgl. Dahlgren 2006). Darüber hinaus wird das Blatt gerade wegen seiner Polemik von vielen Rezipierenden als ‚Wachrüttler‘ geschätzt. Ingo (GD6) erwidert zum Beispiel auf die Kritik zweier Gruppenmitglieder an einem Bericht über eine Diätenerhöhung der Bundestagsabgeordneten: „Ja klar ist das polemisch, und bestimmt auch nicht so für bare Münze zu nehmen. Aber gerade durch diese Polemik ist Bild einfach die Zeitung, die das Volk auch mal ein bisschen wachrüttelt. (…) Insofern finde ich solche polemischen Berichte und Schlagzeilen schon ganz gut. Was jetzt dahinter steckt und ob das jetzt auch ganz genau recherchiert ist, das lassen wir mal außen vor. Ist auch egal in dem Moment. Es geht einfach nur darum, dass das mal gesagt wird: Das ist doch wirklich ungerecht und kann nicht im Interesse unseres Landes sein.“
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Wie dieses Zitat illustriert, scheint die Selbstinszenierung des Blattes als Interessensvertreter seiner Leserinnen und Leser zu funktionieren. Gerade durch die emotionalisierte und polarisierte Darstellungsweise können LeserInnen die Texte der Zeitung als symbolisches Aushandlungsfeld für gesellschaftliche Positionen und Diskurse nutzen. Damit dient Bild als eine Art ‚Gefühlsventilator‘, über den ‚Dampf abgelassen‘ werden kann. Die teils plakativen Positionen ermutigen, bestimmte Haltungen und Meinungen überhaupt zu artikulieren und zur Diskussion zu stellen. Die LeserInnen beziehen sich auf die Bild-Zeitung als publizistisch mächtige Instanz, die Gedanken und Gefühle des eigenen Alltags artikuliert. 3.3 Alltagstauglichkeit: „Bild“ als ‚Gemeinschaftsstifter‘ und als ‚soziales Problem‘ Die dritte Ebene der Alltagsrelevanz rückt die sozialen Kontexte der Rezeption in den Mittelpunkt. Gemeint sind hiermit zum einen positive soziale Funktionen der Lektüre für kommunikative und soziale Teilhabe; zum anderen werden in diesem Abschnitt aber auch problematische soziale Aspekte angesprochen, die sich auf die öffentliche Geringschätzung des Blattes zurückführen lassen und auf die Rezeption wirken. In den Gruppendiskussionen wird deutlich, dass die Lektüre von Bild wichtige soziale Funktionen erfüllen kann. Im alltäglichen Miteinander dient die Zeitung als Themengeber, Kontaktmittel und Gemeinschaftsstifter, wie Sofie (GD1) veranschaulicht: „Man wird gerade durch diese kurze, knappe Darstellungsweise so ‚an-informiert‘ über sehr viele verschiedene Dinge, die man sich sonst erst mühsam zusammensammeln müsste, wenn es die Zeitung nicht gäbe. (…) Wenn man morgens Bild liest, bekommt man einen Überblick über die wichtigsten Fakten und neuesten Nachrichten. Man kommt informiert an seinem Arbeitsplatz an, und hat gleich zwei oder drei Themen parat, über die man eigentlich mit jedem Kollegen ins Gespräch kommen kann. Mit dem einen vielleicht über irgendwas aus dem Sportbereich, mit dem anderen über die Flutopfer, mit dem nächsten über Dieter Bohlens neuestes Knutschabenteuer. Das macht vieles leichter.“
Die Konstruktion identitätsstiftender Zugehörigkeiten wird darüber hinaus durch die Boulevard-typischen semiotischen Konstrukte ‚wir‘ und ‚die anderen‘, welche die Texte des Blattes prägen, begünstigt. LeserInnen werden dabei implizit oder explizit als Teil der Bild-Lesergemeinde, als Teil einer Nation oder als Teil einer bestimmten sozialen Gruppe adressiert (vgl. Büscher 1996; Bruck/Stocker 1996; Conboy 2006). Dies findet sich auch in den Antworten der Leserinnen und Leser wieder. Reiner (GD4), auf die Frage, wer seiner Ansicht nach die Leser der Bild-Zeitung sind, ist sich beispielsweise sicher: „Na, Leute wie wir! Handwerker, Bauarbeiter. Das ist ein Blatt für das ganz normale Volk.“ Auf der anderen Seite kann das Lesen der Bild-Zeitung aber auch ein soziales Problem darstellen und erhebliche Abgrenzung hervorrufen. Viele Rezipierende
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machen die Erfahrung, dass Angehörige, Freunde oder Kollegen negative Urteile über die Zeitung und ihr Publikum fällen. Kathrin (GD2) beklagt: „Da wird schon häufig komisch reagiert. Wo Dir ganz schön heftig zumute wird zum Teil. Mein Mann zum Beispiel, der sagt öfter mal so etwas zu mir wie: ‚Warum gibst Du für so einen Scheißdreck schon wieder Geld aus?‘“ Ähnlich zitieren Matthias und Thorsten (GD4) ihre Kollegen: MATTHIAS: Die Kollegen sagen immer: ‚Was liest Du da bloß? Diese Scheiß Bild-Zeitung, das ist doch sooo ein Schundblatt!‘ THORSTEN: Ja, die sticheln und frotzeln, was das Zeug hält. Da kommen solche Sprüche wie ‚Bild macht dumm‘ oder ‚das ist doch sowieso alles gelogen‘, und ‚kannst Du nicht selber denken?‘
Eine solche Herabsetzung der Zeitung durch Personen des eigenen sozialen Umfeldes – eine Erfahrung, die von den TeilnehmerInnen der Studie kollektiv geteilt wird – steht in direktem Zusammenhang mit dem problematischen gesellschaftlichen Ansehen von Bild. Vor allem Frauen, Rezipierende mit höheren formalen Bildungsabschlüssen und Angehörige bestimmter Berufsgruppen nehmen ein erhebliches soziales Stigma rund um das Blatt wahr. Für diese Zusammenhänge hat Ilona (GD2) den Begriff der „Image-Falle“ geprägt: „Mit der Bild-Zeitung gesehen zu werden, ist immer ein bisschen peinlich. Deshalb, wenn Du bei mir auf der Arbeit fragen würdest, würdest Du garantiert niemanden finden, der zugibt, dass er die Bild-Zeitung liest. Ich persönlich würde auch niemals auf die Idee kommen, mich bei uns in den Aufenthaltsraum zu setzen und die zu lesen! Da tappt man in eine Image-Falle, wenn man das tut: Wenn Du Bild-Zeitung liest, wirst Du automatisch verurteilt und in eine ganz bestimmte Ecke gestellt. Ganz gleich, wer Du bist. Und manche Menschen möchten sich davon eben abgrenzen. Bei uns im Anwaltsbüro funktioniert es deswegen so: Den Spiegel trägt man unterm Arm und die Bild-Zeitung liest man – heimlich bei sich zu Hause!“
In den Haltungen der Rezipierenden lässt sich eine internalisierte Abwertung7 des Blattes erkennen. Auffällig ist zum Beispiel, dass routinemäßig Kritik an Bild geübt wird. Unabhängig von ihren sozio-demografischen Merkmalen produzieren LeserInnen dabei Argumente, die denen in akademischen und journalistischen Debatten sehr ähneln: In den Gruppendiskussionen werden die Fragwürdigkeit und Fehlerhaftigkeit der Inhalte, die „verkürzte“ Wiedergabe der Wirklichkeit, die politische Tendenz der Berichte, die Ethik und Moral des Blattes und seiner Macher und die vermutete manipulative Wirkung der Zeitung auf Dritte angesprochen und mit abwertenden Urteilen verbunden. Tatsächlich fällt es den TeilnehmerInnen offenbar grundsätzlich leichter, einem abschlägigen Urteil über Bild zuzustimmen als einem befürwortenden (vgl. Klingemann/Klingemann 1983). Als Folge relativieren sie zuvor benannte positive Aspekte und 7
Der Begriff ‚internalisierte Abwertung‘ wird hier in Anlehnung an Röser (2005: 28) verwendet, die bei LeserInnen von Frauenzeitschriften ein ähnliches Phänomen vermutet und dies „internalisierte Geringschätzung“ nennt (vgl. zu diesem Thema auch Hermes 1995).
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stimmen statt dessen einem kritischen Diskurs zu, wie es bei Phillip und Olaf (GD4) zu beobachten ist: PHILLIP : Wo wir gerade über Stärken von Bild sprechen: Ich muss sagen, ich finde es gut, dass das alles relativ leicht erklärt ist. Also, die Geschichten und Sachverhalte sind alle so erklärt, dass es wirklich jeder verstehen kann. OLAF: Meiner Meinung nach ist das eine Schwäche von Bild. Die Berichte werden einfach immer viel zu blutig gebracht, und wenn ich dann später im Fernsehen ein paar Hintergründe erfahre, dann merke ich doch, dass alles gar nicht ganz so schlimm war. Das kommt ziemlich oft vor. Da wird dann so ein ganz bestimmtes Bild abgegeben, und das ist oft nicht ganz richtig. PHILLIP : Klar, ich finde natürlich auch, dass gleichzeitig auch eine Gefahr darin liegt, in diesem leichten Erklären. Das ist schon so. Die Bild-Zeitung lügt vielleicht selten, aber sie schreibt eben überwiegend nur Teilinformationen. Die stimmen dann zwar, aber ergänzende Faktoren, die ein Bild verändern können, werden eben nicht mit rein geschrieben.
Die Dominanz kritischer Argumente kann als internalisierte Abwertung und damit als Antwort auf die gesellschaftliche Problematik von Boulevardzeitungen gedeutet werden: Wenn LeserInnen in sozialen Situationen kollektiv Kritik an der Zeitung üben (bzw. dieser zustimmen), setzen sie Bild herab und deuten ihr eigenes Lesen als aufgeklärt und kritisch. Auch in ironisch-distanzierten Haltungen zum Genre lassen sich Spuren internalisierter Abwertung erkennen. Ein Beispiel sind häufig auftretende klischeehafte und stereotype Redewendungen, die LeserInnen beim Sprechen über Bild verwenden. Phrasen wie „das Blut tropft aus der Zeitung“ oder „Bild sprach zuerst mit dem Toten“ kommen in allen Gruppen vor; ähnlich wie die Begriffe „Schmutzblatt“ und „Revolverblatt“ oder der Satz „ich kauf mir eine ‚Bildung‘“. Diese Bezeichnungen schaffen kollektiv geteilte ironisch-distanzierte Standpunkte, die wiederum verbindend wirken. Im folgenden Ausschnitt, ebenfalls aus GD4, symbolisiert das gemeinsam konstruierte Vergnügen an typischen BoulevardStilmerkmalen beispielsweise die Zugehörigkeit zum Kollegenkreis: PHILLIP : Wir Kollegen lesen uns ganz gern auch mal was aus der Bild-Zeitung vor {Reiner: oh ja, oh ja}, vor allem sensationalisierte, übertriebene Sachen, die teilweise schon wieder unglaubwürdig sind {Reiner: mhm}. Die Zeitung ist da ja manchmal so ein bisschen wie ein Groschenroman, was das angeht. CHRIS: Groschenroman, das ist das richtige Wort (lacht kurz). PHILLIP : Und dann lachen wir uns gemeinsam darüber schlapp, was die da wieder draus gemacht haben. OLAF: Ja, frei nach dem Motto: ‚Bild sprach zuerst mit dem Toten‘. REINER: Nee, Bild sprach zuerst mit dem Toten, der sich mit einem Strick erschossen hat! (alle lachen)
Die spöttischen Redewendungen platzieren Bild im Kontext von nicht ernstzunehmender, leichter Unterhaltung. Ebenso kann die Differenzierung der Rezeptionshandlungen seitens vieler LeserInnen in ‚kaufen‘ und ‚lesen‘ gedeutet werden: „Ich bin kein richtiger Bild-Leser“, ist eine häufige Aussage in den Gruppendiskussionen, die sich auf das Phänomen des Mitlesens von Ex-
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emplaren der Zeitung bezieht, die andere gekauft haben. Rezipierende benutzen außerdem unabhängig von ihren sozio-demografischen Merkmalen fast ausschließlich Vokabeln wie „reingucken“ oder „durchblättern“ zur Beschreibung der eigenen Rezeption – nicht aber „lesen“. Auch damit wird das Boulevardblatt als leichte Lektüre abklassifiziert und von der Aktivität eines ‚ernsthaften‘ Zeitunglesens entkoppelt. So wird eine Distanz hergestellt, mit der die eigene Lektüre gerechtfertigt wird.
4. Fazit Die Bild-Zeitung besitzt auf mehreren Ebenen Relevanz für den Alltag ihres Publikums. Im Hinblick auf die Rezeptionssituation hat sowohl der Kauf als auch die Lektüre des Blattes als Bestandteil eines ganzen Sets aus wiederkehrenden routinierten Handlungen im Alltag der Leserinnen und Leser eine wesentliche Bedeutung. Inhaltlich nutzen Rezipierende das Blatt zur Auseinandersetzung mit persönlich und gesellschaftlich relevanten Themen und Diskursen. Dies ermöglicht kommunikative und gesellschaftliche Teilhabe, unter anderem durch eine scheinbare Ermächtigung der LeserInnen. Darüber hinaus erweisen sich soziale Prozesse rund um die gesellschaftliche Bewertung von Bild und Boulevardjournalismus als relevant. Es hat sich gezeigt, dass die Geringschätzung von populären Medien nicht nur akademische und publizistische Debatten prägt, sondern auch die LeserInnen. Die Rezeption findet in einem Spannungsfeld statt: Auf der einen Seite stehen Nutzwert, Gratifikation und individueller Sinn, auf der anderen Seite steht die gesellschaftliche Problematik von Bild. Diese nimmt erheblichen Einfluss auf die Rezeption und prägt in Form einer internalisierten Abwertung auch die Positionen des Publikums. Als Folge sind die Rezeptionshaltungen in aller Regel geprägt von Widersprüchen und Ambivalenzen.
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Räumliche Arrangements zwischen Fragmentierung und Gemeinschaft: Internetnutzung im häuslichen Alltag Jutta Röser & Corinna Peil
Unser Beitrag analysiert Umgangsweisen mit dem Internet im häuslichen Alltag. Grundsätzlich möchten wir zeigen, wie Praktiken der Internetnutzung, räumliche Arrangements und häusliche Kommunikationsstrukturen interagieren. Speziell nehmen wir ein neues Spannungsfeld in den Blick: Im Zuge der fortschreitenden Integration des Internets in den häuslichen Alltag und in Verbindung mit der bislang in Deutschland üblichen Platzierung von Computer und Internet entfaltet das Medium eine fragmentierende Wirkung und stört die Kommunikation und Interaktion in der Paarbeziehung. Manche Paare reagieren darauf mit neuen Arrangements, die wiederum häusliche Alltagskulturen und auch die Funktionen anderer Medien, insbesondere die des Fernsehens, verändern. Unter Medienaneignung im Kontext von Alltag verstehen wir bezogen auf unser Thema das Zusammenspiel von medialem und nicht-medialem Handeln. Mediennutzung im engeren Sinn – fernsehen, im Internet surfen, Zeitung lesen – ist eingebettet in situative und kommunikative Kontexte, wie in Bezug auf den häuslichen Kontext als einer der ersten Hermann Bausinger (1983) veranschaulicht hat. Was die Nutzung eines Mediums konkret bedeutet, erschließt sich nicht allein auf der symbolischen Ebene, sondern immer auch auf der Ebene des situativen Handelns. So kann beispielsweise das Einschalten des Fernsehgeräts die Hinwendung zu einer bestimmten Sendung ebenso wie die Abwendung von einer Arbeitsaufgabe oder den Rückzug aus einer Gesprächssituation zum Ausdruck bringen. Die Mikropolitiken des häuslichen Alltags sind verbunden mit übergreifenden Diskursen, etwa um Geschlecht, Erziehung oder Technologien, die damit auch in das Medienhandeln eingeschrieben sein können (vgl. Morley 1999b; Silverstone 2006: 233). Diese Interaktionen von medialem und nicht-medialem Handeln wurden im Rahmen der ethnografisch orientierten Fernsehforschung sowie später des Domestizierungskonzepts der britischen Cultural Media Studies (vgl. Röser 2007a) vertiefend analysiert, eine größere Aufmerksamkeit erfahren sie derzeit auch innerhalb des Mediatisierungsansatzes (vgl. Krotz 2007). Bevor wir auf diese für unser Projekt zentrale Perspektive auf Medienhandeln im Alltag näher eingehen und anschließend die empirischen Befunde präsentieren, möchten wir einige systematisierende Anmerkungen über Alltag in der Rezeptionsforschung vorausschicken.
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1. Alltag in der Medienaneignungsforschung Was für die Medien- und Kommunikationsforschung insgesamt gilt, trifft auch auf die Rezeptionsforschung zu: Der Begriff des Alltags wird oft intuitiv und mit vielfältigen impliziten Bedeutungen versehen verwandt (vgl. die Einleitung zu diesem Band). Grundsätzlich lassen sich zwei Felder der Medienaneignungsforschung analytisch unterscheiden, in denen ein Bezug zum Alltag jeweils Unterschiedliches meint. Im ersten Feld geht es um die Rekonstruktion innerer Prozesse der Medienaneignung, also der Deutungen der Medientexte durch die Rezipierenden. Im zweiten Feld geht es um die Rekonstruktion von Situationen des Medienhandelns, um die raum-zeitlichen sowie sozialen Konstellationen als Kontext der Mediennutzung. David Morley (2007: 52) hat die beiden Felder in Bezug auf das Fernsehen schlagwortartig mit den Begriffen „questions of ideology and power“ und „questions of ritual“ unterschieden und an anderer Stelle vom „decoding“ gegenüber dem „viewing context“ gesprochen (Morley 1992: 133).1 Auf beiden Feldern haben insbesondere die britischen Cultural Studies die Frage nach Alltagsbezügen je spezifisch gestellt und ausgearbeitet. Medienaneignung als innerer Prozess des Dekodierens, das erste Feld, steht in den Cultural Studies in einem Zusammenhang mit Alltagserfahrungen. Medienbedeutungen werden nicht einfach übernommen, sondern im Kontext von Alltagserfahrungen, die an die Medientexte herangetragen werden, verhandelt und produktiv angeeignet. John Fiske hat die Potenziale gerade der Populärkultur für eine produktive Aneignung herausgearbeitet (vgl. Mikos 2009) und den Begriff der Relevanz im Kontext von Alltagserfahrungen zentral gemacht: „Popular culture is made at the interface between the cultural resources provided by capitalism and everyday life. This identifies relevance as a central criterion. If the cultural resource does not offer points of pertinence through which the experience of everyday life can be made resonate with it, then it will not be popular.“ (Fiske 1989: 129)
Populär können demnach nur solche Medieninhalte werden, in denen Rezipierende Bezüge zu ihren sozialen, alltagseingebundenen Erfahrungen identifizieren und denen sie deshalb Relevanz und Bedeutsamkeit zuerkennen. Relevanz ist somit eine Rezeptionskategorie: Texte ‚haben‘ nicht soziale Relevanz, sondern Rezipierende können ihnen Relevanz verleihen, indem sie Texte in Beziehung zu ihren sozialen Erfahrungen und ihrer Sicht von Welt lesen. Sie können Relevanz auch verweigern. Die Verhandlung von Macht- und Dominanzverhältnissen ist für die Cultural Studies dabei ein zentrales Moment der Medienaneignung, weil sowohl die Texte wie auch der Alltag ‚der Leute‘ (vgl. Fiske) Orte sozialer Auseinander1
Ben Bachmair (2005: 105) spricht von der subjektiven Innenwelt einerseits und den sozialen Räumen andererseits als Bezugspunkte der Rezeption; demnach „bieten Medien neben FantasieRäumen der subjektiven Innen-Welt auch soziale Räume, die z.B. durch die gemeinsamen Medien-Bilder entstehen“.
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setzungen sind. ‚Die Leute‘ können in der Bedeutungsproduktion ihre im Alltag verankerten Interessen gegen dominante Diskurse zur Geltung bringen und die Texte eigensinnig oder gar oppositionell lesen (vgl. Mikos 2009; Winter 2001: 163–170). Als prägend für so verstandene Alltagserfahrungen wurden in den Anfängen der Cultural Studies vor allem Klassenpositionen, bald auch Positionierungen qua Geschlecht, Ethnie und Generation analysiert (vgl. Röser 2009). Im Sinne Stuart Halls wird inzwischen flexibler von subkulturellen Positionierungen im Rahmen hybrider und variabler Identifikationen ausgegangen (vgl. Krotz 2009), die in der Aushandlung mit Medientexten zur Geltung gebracht werden. Alltag meint hier somit die Lebenswelt ‚der Leute‘ und bezieht sich auf deren Perspektive ‚von unten‘, die (mehr oder weniger) im Spannungsverhältnis zu Machtdiskursen und dominanten Werten in den Medientexten steht. Medienaneignung als situatives Medienhandeln, das zweite Feld, zielt auf die raum-zeitlichen und sozialen Konstellationen des Alltags, in denen Medien genutzt werden. Denn Medienhandeln ist erstens in Routinen und Zeitstrukturen des Alltags eingebunden sowie zweitens in weiten Teilen ein sozialer und kollektiver Prozess. Dies rückt die ethnografisch orientierte Rezeptionsforschung in den Blick, ein besonders im Rahmen der britischen Cultural Media Studies ausgearbeiteter Forschungsansatz, der die Medienrezeption in ihren ‚natürlichen‘ alltäglichen Kontexten analysiert anstatt künstliche Forschungssettings zu kreieren (vgl. Morley 1999a; auch Bausinger 1983). Einflussreich war hierbei David Morleys Studie „Family Television“ (1986). Dabei hatte Morley die für Rezeptionsstudien in künstlichen Forschungssituationen nicht untypische Situation erlebt, dass Probanden sagten, sie würden diese spezielle Sendung im ‚wahren Leben‘ gar nicht sehen. Es wurden somit teils Aneignungen erhoben, die im Alltag faktisch nicht bestanden, sondern durch die Forschenden künstlich erzeugt wurden. Ausgehend von diesen Überlegungen richtete Morley seine darauf folgende Studie zum Fernsehgebrauch auf den Ort aus, an dem Fernsehen stattfindet: auf den Kontext des Häuslichen und speziell der Familie. Im Ergebnis wurde insbesondere herausgearbeitet, wie Geschlechterpositionen in Bezug auf häusliche Alltagsaufgaben, geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und Macht den alltäglichen Umgang mit Fernsehen konstituieren (vgl. Röser 2009). Dieser Fokus auf die Kommunikationspraktiken im Alltag wird hier mit dem Begriff Medienhandeln zum Ausdruck gebracht. In einer ethnografisch orientierten Perspektive geht es darum, die Orte, Situationen und sozialen Konstellationen des Medienhandelns zu analysieren und die Bedeutung dieser Praktiken aus der Sicht der Subjekte zu rekonstruieren. Dabei rückt dann auch in den Blick, wie mediales und nicht-mediales Handeln im Alltag interagieren und mit übergreifenden Strukturen und Diskursen in Verbindung stehen. Für diese Perspektive steht ganz besonders das im nächsten Abschnitt vertiefte Domestizierungskonzept. Dieses Herangehen erweitert die Forschungsperspektiven beträchtlich hin
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zum „overlapping between research on audiences and wider studies of cultural consumption, technology and everyday life“ (Moores 1993: 54). Die beiden skizzierten Felder der Medienaneignungsforschung stehen in Bezug zur „double articulation“ von Medien, die Silverstone und Haddon (1996: 62) im Rahmen des Domestizierungskonzepts herausgearbeitet haben (vgl. auch Hartmann 2006; Röser 2007a; Silverstone 2006). Das Konzept fokussiert Medien in ihrer doppelten Bedeutung einerseits als Medium und andererseits als Medientechnologie: Als Medium sind sie Träger von Bedeutungen, hier wird die symbolische Ebene der Medieninhalte in den Blick genommen, und die Rezeption bezieht sich auf die Nutzung und Aneignung von Inhalten – dies ist die zentrale Perspektive des ersten Felds Medienaneignung als innerer Prozess des Dekodierens. Als Medientechnologie werden sie zum Gegenstand von Bedeutungszuschreibungen (z.B. modern oder männlich), hier geht es um die materielle Ebene, und die Rezeption bezieht sich auf die Nutzung und Aneignung des Objekts – dies ist die zentrale Perspektive des zweiten Felds Medienaneignung als situatives Medienhandeln. Auf beiden Ebenen zugleich entsteht Bedeutung, und zwar durch die Sinnproduktionen der Rezipierenden im Prozess der Aneignung. Mit den hier skizzierten zwei Feldern der Medienaneignungsforschung wird somit analytisch unterschieden, was faktisch eine Einheit bildet. Gleichwohl trägt diese Unterscheidung unserer Ansicht nach zu einem tieferen Verständnis bei, weil der Bezug auf Alltag auf jedem der Felder etwas je Spezifisches meint – nämlich einerseits die symbolische Verhandlung von Alltagserfahrung und andererseits das raum-zeitlich und sozial geprägte Alltagshandeln – und dies wiederum auf die beiden Medienperspektivierungen im Sinne der Double Articulation Bezug nimmt (Symbolträger und Objekt)2. Zudem konzentrieren sich die meisten Forschungen eher auf das eine oder das andere Feld. Auch der Domestizierungsansatz beansprucht zwar theoretisch, beide Ebenen gleichermaßen zu berücksichtigen und sowohl die materielle als auch die symbolische Dimension der Medienaneignung zusammenzuführen (vgl. ausführlich zu diesem Spannungsfeld: Livingstone 2007). Die empirische Praxis zeigt jedoch eine Konzentration auf die Ebene des situativen Medienhandelns und eine Vernachlässigung der symbolischen Ebene (vgl. Krotz/Thomas 2007; Hartmann 2006).3 Insofern ist der Domestizierungsansatz mit Blick auf seine empirische Anwendung stärker dem zweiten hier skizzierten Feld der Medienaneignungsforschung zuzurechnen. Er zielt darauf, speziell die Alltagskontextualisierung des Medienhandelns zu theoretisieren und zu analysieren und stellt somit im Spektrum kommunikations- und medienwissenschaftlicher Theorien eine Besonderheit dar. 2 3
In der deutschen Kommunikations- und Medienwissenschaft spielte ein Bezug zum Alltag auf beiden Feldern der Medienaneignung lange eine nur untergeordnete Rolle (vgl. dazu ausführlicher die Einleitung zu diesem Band). Einige Beispiele für Forschungsarbeiten, in denen sich beide Perspektiven verbinden, werden in der Einleitung zu diesem Band genannt, so etwa auch Müller i.d.B.
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2. Das Domestizierungskonzept: Medien- als Alltagshandeln Für den Alltag und speziell den häuslichen Alltag als situativen Kontext des Medienhandelns – und somit für das oben skizzierte zweite Feld – interessiert sich das Anfang der 1990er Jahre erarbeitete „Domestication of Information and Communication Technologies“-Konzept (Silverstone/Haddon 1996).4 Es entfaltet einen analytischen Zugriff, der sowohl historisch als auch bezogen auf aktuelle Entwicklungen wie die digitale Mediatisierung des Alltags (vgl. Krotz 2007) weiterführende Einsichten erbringen kann. Mit Domestizierung wird hier der Prozess bezeichnet, in dem Medien und Kommunikationstechnologien in die Wohnungen einziehen, ins Häusliche eingefügt werden und im Aneignungsprozess Teil häuslicher Alltagsroutinen sowie Mittel sozialen Handelns werden. Dieser Prozess geht mit einer verstärkten Teilhabe breiterer Bevölkerungskreise einher, den Morley (2000: 95) „democratisation“5 genannt hat: Die Technologie wandert von den Insidern und Experten zu den Laien, von spezialisierten Teilöffentlichkeiten zu breiten Nutzerkreisen und es vermindern sich zugleich soziale Differenzen in Zugang und Nutzung. Damit eröffnet der Domestizierungsansatz prinzipiell zwei Analyseperspektiven: Erstens fordert er dazu auf, die Situationen der Mediennutzung in die Analysen einzubeziehen und speziell den häuslichen Kontext als bedeutungsstiftende Sphäre des Medienhandelns in den Blick zu nehmen. Der Anspruch dieser ersten und im vorliegenden Aufsatz im Vordergrund stehenden Ebene von Domestizierung ist es, das Ineinandergreifen verschiedener häuslicher Praktiken zu beleuchten, die Interaktionen von Medienhandeln, sozialen Beziehungen und personaler Kommunikation sowie ihre Verbindung zu übergreifenden Diskursen und Strukturen näher zu untersuchen. Domestizierung ist zweitens ein Ansatz zur Beschreibung und Theoretisierung von Diffusionsprozessen neuer Medien und Kommunikationstechnologien, der eine spezifische, aneignungsorientierte Analyseperspektive auf die Verbreitung eines neuen Mediums bietet. Grundsätzlich perspektiviert der Domestizierungsansatz speziell das Zuhause als relevanten Kontext der Medienaneignung und öffnet den Blick für die häus4 5
Das Domestizierungskonzept und seine Potenziale für aktuelle Analysen wurden ausführlich eingeführt in Röser 2007a; der folgende Abschnitt präsentiert daraus ausgewählte, zentrale Aspekte. Vgl. auch Berker u.a. 2006; Hartmann 2009. Anstelle des weitreichenden Begriffs der Demokratisierung scheint es angemessener von Teilhabe zu sprechen. Davon unbesehen ist hier ein interessanter und relevanter Aspekt angesprochen: Es geht um die Frage, inwieweit über die häusliche Nutzung Impulse zu einer verstärkten Teilhabe an einem neuen Medium gegeben und zugleich soziale Ungleichheitsgrenzen nivelliert werden. Tatsächlich lässt sich diese These nicht nur anhand historischer Studien zum Radio (vgl. Moores 2007), sondern auch anhand der Verbreitung des Internets in Deutschland sehr gut stützen (vgl. Röser 2005, 2007b), dieser Aspekt wird von uns zurzeit im Rahmen des später vorgestellten Projekts empirisch untersucht, hier aber nicht näher behandelt.
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lichen Konstellationen rund um die Mediennutzung. Dieser Fokus ergab sich im Rahmen der ethnografischen Fernsehforschung quasi automatisch: Als in den 1980er Jahren erste Studien die Fernsehrezeption in ihrer situativen Einbettung untersuchten, rückten zwangsläufig der Haushalt und das Heim ins Zentrum. Trotz aktueller Tendenzen einer zunehmenden Mobilisierung von Medienkommunikation stellt das Häusliche auch heute noch einen zentralen Kontext des Medienhandelns dar, sodass die Domestizierungsperspektive produktive Ansätze bietet, um gegenwärtige Prozesse der Digitalisierung aus der Nutzerperspektive vertiefend zu analysieren (vgl. bzgl. des Internets: Röser 2007b). Das Domestizierungskonzept wurde im Rahmen des HICT-Projekts – The Household Uses of Information and Communication Technologies – entwickelt. An die ethnografische Fernsehforschung anknüpfend führten Silverstone, Hirsch, Morley (1992) und Livingstone (1992) dieses Projekt Ende der 1980er Jahre unter Einbeziehung der (damals) neuen Medientechnologien durch. Es zielte auf die Nutzung des gesamten Ensembles der Medien und Kommunikationstechnologien im Kontext der Haushalte, der Familien-, Generationen- und Geschlechterbeziehungen, wie es schon Bausinger nahe gelegt hatte. Anliegen des Projekts war es, die damals dominante Fernsehrezeptionsforschung bezogen auf den Medienverbund zu rekontextualisieren und das Feld der Medienforschung insgesamt in einem breiteren soziotechnischen und kulturellen Rahmen neu zu definieren, um eine Alternative zu technikdeterministischen Ansätzen zu entwickeln (vgl. Morley/Silverstone 1990; Silverstone/Hirsch 1992; ferner: Morley 1999a: 310ff.; Berker u.a. 2006). Das Projekt startete zu einem sehr frühen Zeitpunkt – der Einzug von Computern in die private häusliche Welt steckte in den Anfängen, ‚neue‘ Medien waren Satelliten-TV, Spielkonsolen u.ä. – und wurde zu einer Pionierstudie über die Frühphase der Digitalisierung der Haushalte. Auch wenn der Ansatz theoretisch, etwa bezogen auf die Konzeptionierung von Alltag (vgl. Krotz/Thomas 2007), und empirisch weiterzuentwickeln ist, hat der im HICT-Projekt entwickelte Domestizierungsansatz als Theorierahmen im Zuge der umfassenden Mediatisierung des Zuhauses an Aktualität noch gewonnen (vgl. Röser 2007a, 2007b). Der Prozess der Domestizierung von Medien wurde im HICT-Projekt in vier Phasen systematisiert (vgl. Silverstone u.a. 1992: 20–26): (1) „Appropriation“6 meint die Anschaffung und die Inbesitznahme der Technologie, ihre Überführung vom Außen ins Innen. (2) „Objectification“ bezeichnet die Platzierung der Technologie im Haushalt und mögliche Veränderungen der Räume. (3) „Incorporation“ zielt auf die Integration der Technologie in die zeitlichen und alltäglichen Routinen des Haushalts und seiner Mitglieder. (4) „Conversion“ schließlich bezeichnet 6
Silverstone (2006: 233) schlug später „Commodification“ als präziseren Begriff vor; vgl. auch Hartmann 2009.
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den (medieninduzierten) Wandel der Beziehung des Haushalts zur Außenwelt, zur näheren und weiteren Umgebung, zwischen öffentlicher und privater Sphäre. Die zweite und dritte Phase rücken die innerhäuslichen Prozesse in den Blick, wozu sowohl das Einpassen der Technologie in vorhandene Strukturen und Praktiken gehört als auch die Veränderung von Räumen, Routinen und Interaktionen durch Impulse des neuen Mediums und die Mikropolitiken der häuslichen Geschlechter- und Generationenbeziehungen. Die erste und vierte Phase beinhalten die Beziehung des Haushalts zu anderen gesellschaftlichen Sphären. So ist das Zuhause durch den Kauf einer neuen Medientechnologie mit den Politiken der Produktion und Technikentwicklung, des Konsums und Marketings verbunden; in umgekehrter Richtung wirken die medieninduzierten Wandlungen im Haushalt auf die Makroebene zurück (vgl. Silverstone 2006; vgl. auch Bakardjieva 2005; Röser 2005, 2007b, 2007c; Röser/Großmann 2008). Damit sollte deutlich geworden sein, dass die häuslichen Alltagspraxen nicht isoliert stehen, sondern mit ökonomischen, technologischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen interagieren (vgl. du Gay u.a. 1997). Das Zuhause ist ein Mikrokosmos des gesellschaftlichen und kulturellen Wandels durch Medien. Es ist in der Domestizierungsperspektive somit nicht Mikro- im Gegensatz zur Makroebene, vielmehr finden alle gesellschaftlichen und kulturellen Fragen der Medienkommunikation ihren Ausdruck (auch) im häuslichen Kontext und werden von hier aus beeinflusst. Morley (2000: 9) brachte diesen Zusammenhang auf den Punkt, indem er das Wohnzimmer als den Ort bezeichnete, „where the global meets the local“ (vgl. auch Morley 1999b). Dies lenkt den Blick auf den häuslichen Kontext als vielschichtigen Schnittpunkt. Hier vollziehen sich: die Verbindung von technologischen Innovationen, sozialen Beziehungen und kulturellen Identitäten; die Einbindung „der Texte und Technologien von Kommunikation und Information“ in das „Management von Zeit und Arbeitsteilung sowie in die Schaffung und Erhaltung sozialer Beziehungen und individueller Identitäten“; die Organisation sozialer Räume, in denen Individuen in Familie und Haushalt mittels Medien miteinander verbunden und voneinander getrennt sind; die medienvermittelte Beziehung zwischen der Familie/dem Haushalt und der sie umgebenden Welt (Morley 1999a: 313).
3. Häuslicher Alltag mit dem Internet: Ethnografisch orientierte Fallanalysen Der Alltagsbezug im Hinblick auf die häusliche Sphäre als Kontext des Medienhandelns ist somit konstituierend für den Domestizierungsansatz. Wie sich der Einzug eines neuen Mediums in das Zuhause konkret ausgestaltet, wird durch Formen der Integration in alltägliche Zusammenhänge sichtbar. Dabei
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spielen unter anderem die räumlichen Arrangements eine wesentliche Rolle, die rund um die neue Medientechnologie getroffen werden und die sich mit ihrer zunehmenden Einbettung in häusliche Alltagsstrukturen verändern können (vgl. van Rompaey/Roe 2001). Im Weiteren stellen wir dazu ausgewählte Befunde aus einer umfassenden Studie zur Domestizierung des Internets in Deutschland seit 1997 vor. Wir zeigen, dass räumliche Arrangements in Verbindung mit dem Internet zur Zeit in Bewegung geraten, weil sie im Spannungsfeld von tradierten Vorstellungen zur häuslichen Zimmeranordnung und dem damit oft konfligierenden Wunsch nach Gemeinschaft, Kommunikation und Nähe verhandelt werden. Im Folgenden werden Teilbefunde aus 24 qualitativen, ethnografisch orientierten Haushaltsstudien mit insgesamt 48 Personen vorgestellt, die wir 2008 durchgeführt haben. Das Gesamtprojekt basiert auf einem mehrstufigen Methodendesign, das eine Fragebogen-Befragung von insgesamt 130 Personen beinhaltet sowie themenzentrierte Interviews mit 24 heterosexuellen (Ehe-)Paaren inklusive der Sichtung aller Räume, in denen bei ihnen zuhause das Internet genutzt wird. Die Befragung von Paaren in einem gemeinsamen Interview diente der Rekonstruktion von sozialen Konstellationen und Kommunikationspraktiken und gab Aufschluss über geschlechtsgebundenes Verhalten und die Beziehungskultur des Paares. Unterstützt wird die qualitative Analyse der Internetaneignung im Kontext des Zuhauses und der Paarbeziehung durch eine Sekundäranalyse repräsentativer Daten zur Gesamtentwicklung der Internetverbreitung, die uns im Rahmen einer Kooperation mit der ARD/ZDF-Projektgruppe Multimedia aus den ARD/ZDF-Online-Studien zur Verfügung gestellt wurden. Das Sample wurde auf Basis klassischer soziodemografischer Variablen gebildet, quotiert nach Alter (28–65) und Schulbildung. Darüber hinaus fand eine Streuung hinsichtlich des Zeitpunkts der privaten Internet-Anschaffung statt, die fundierte Einblicke in die stark variierenden Zugänge und Motive sowie in die Dynamiken und Qualitäten des Domestizierungsprozesses im Zeitverlauf ermöglichte – und dies bei sowohl internet-affinen frühen als auch weniger affinen späteren Nutzerinnen und Nutzern. Die Befunde der Haushaltsstudien wurden entlang von vier zentralen Dimensionen strukturiert, die die von Silverstone u.a. (1992: 20–26) systematisierten Domestizierungsphasen projektspezifisch konkretisieren. Dadurch konnten vertiefte Einsichten in die häusliche Medienaneignung und speziell den Domestizierungsprozess des Internets gewonnen werden. Konkret handelte es sich um (1) Motive und Impulse bei der Anschaffung des Internets, (2) Formen der Integration in den häuslichen Kontext, (3) Medienfunktionen und Medienmenüs sowie (4) Geschlechterverhältnis und Doing Gender. In der zweiten Dimension zur Internetintegration in häusliche Praktiken fand aufgrund der thematischen Breite eine weitere Differenzierung statt: in zeitliche, räumliche, kommunika-
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tions- und organisationsbezogene Arrangements.7 Auch wenn diese Felder nicht voneinander zu trennen sind und eher einer analytischen Unterscheidung dienen, soll im Folgenden zunächst die räumliche Integration des Internets im Zentrum der Betrachtung stehen, die allerdings, wie noch zu sehen sein wird, eng mit den häuslichen Kommunikationsstrukturen, mit zeitlichen Aspekten der Internetnutzung, mit den gelebten Geschlechterverhältnissen sowie mit Bedeutungsverschiebungen im Medienmenü interagiert. Die Platzierung von Medien hängt in entscheidender Weise mit den kommunikativen Bedürfnissen und Interaktionsformen innerhalb der häuslichen Gemeinschaft zusammen. Räumliche Arrangements sind nicht nur Indikatoren für die Alltagsintegration eines Mediums, sie geben zugleich Aufschluss über die im Rahmen häuslicher Aneignungspraktiken verhandelten Akzente einer Technologie, deren Nutzung einerseits Rückzug signalisieren, andererseits aber auch eine gemeinschaftsfördernde Funktion erfüllen kann (vgl. Röser 2007c, 2007b). Das Potenzial, den Alltag nicht nur zeitlich zu rhythmisieren, sondern auch kommunikativ zu strukturieren, hat Bausinger (1987: 19) den Medien bereits Mitte der 1980er Jahre zugeschrieben: „Die Medien sind integrativ, sie können die Familie zusammenführen, sie können aber auch trennend sein, desintegrativ (…).“ Im Rahmen unserer Haushaltsstudien ließen sich zwei spezifische Umgangsweisen hinsichtlich der räumlichen Integration des Internets in den häuslichen Alltag identifizieren. Die eine Gruppe wies dem Internet einen separaten Platz innerhalb der Wohnung zu und entkoppelte es durch die Auslagerung aus dem gemeinsamen Wohnbereich von ihrem Alltagsleben. Dagegen versuchte die andere Gruppe, die sich aktuell neu herauszubilden beginnt, das Internet in die räumlichen Strukturen des Zuhauses stärker zu integrieren, um auf diese Weise einer fragmentierenden Tendenz des Mediums entgegen zu wirken. Die Entstehung neuer räumlicher Arrangements, wie sie bei der zweiten Gruppe festgestellt wurde, hing dabei fast immer mit dem Wunsch zusammen, die Kommunikation zwischen Partner und Partnerin zu verbessern und durch die räumliche Neuorientierung eine integrative Wirkung des Internets herzustellen.
4. Separierende Raumarrangements: Internetnutzung und Fragmentierung Die erste hier genannte Gruppe zeichnet sich dadurch aus, dass die Befragten zuhause eine traditionelle Raumaufteilung mit Wohnzimmer, Esszimmer, Küche 7
Höflich und Hartmann (2007) sprechen von „Momente[n] medienbezogener sozialer und kommunikativer Arrangements“ (ebd.: 211; Hervorh. im Orig.) bzw. von „Arrangiertheiten“ (ebd: 213), um den relationalen und situativen Praktiken in neuen Medienumgebungen besonderen Ausdruck zu verleihen.
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und – je nach Kapazitäten und Erfordernissen – Arbeits- und Kinderzimmer vorgenommen haben. In vielen Haushalten mit dieser Konstellation wurde dem Internet zunächst ein fester Platz im Arbeitszimmer zugewiesen, sofern ein solches vorhanden war. Diese Platzierung war insbesondere in Haushalten üblich, die bereits vor Anschaffung des Internets über einen PC verfügten und diesen als Arbeitsgerät in einem separaten Raum nutzten. Dabei herrschte oft Konsens darüber, dass das Internet als eine mit der Arbeitssphäre verbundene Technologie für eine Platzierung im Wohnzimmer ungeeignet sei. Anschaulich wurde diese Konnotation von dem Befragten Herrn Wulf erläutert, der sich durch eine Aufstellung von PC und Internet im Wohnzimmer gestört fühlen würde: „Ich trenne das richtig ab. Das ist für mich einfach arbeiten. Auch, wenn es in der Freizeit ist. Aber am PC sitzen ist für mich anstrengend und ist Arbeit teilweise. Obwohl es auch Momente gibt, wo ich es absolut gerne mache. Und deswegen so dieser Gedanke ‚Computer, PC: Arbeitszimmer‘. Ganz einfache Kiste so.“
Teilweise spielen für diese Haltung auch ästhetische Erwägungen eine Rolle. Ein häufig genannter Einwand war, dass der Computer als ‚großer grauer Kasten‘ nicht in das Gesamtbild des Wohnzimmers passe. Gerade bei den älteren Paaren in unserem Sample zeigte sich fast durchweg die Bevorzugung eines Extrazimmers für die Aufstellung von PC und Internet, häufig wurde ein ehemaliges Kinderzimmer entsprechend umfunktioniert. Wenn dem Haushalt nicht genügend Räume oder ausreichend Platz für diese Konstellation zur Verfügung standen, dienten alternativ auch Kellerräume oder andere Hilfskonstruktionen der Unterbringung des Internets. So fanden in einem Haushalt PC und Internet Platz in einem selbstgebauten Schlafzimmerschrank, der bei Nicht-Nutzung geschlossen wurde. Das Gerät unterliegt hier einem ebenso diskreten Ausschluss aus der häuslichen Inneneinrichtung wie das Fernsehen in den Anfangsjahren seiner privaten Nutzung, das im eigens für ihn vorgesehenen Mobiliar verschwand (vgl. O’Sullivan 2007). Bei Beibehaltung einer konventionellen Raumaufteilung kontrastiert das Gemeinschaftsmedium Fernsehen mit der Individualtechnologie Internet: Während sich um den traditionell im Wohnzimmer aufgestellten Fernseher routinierte Nutzungsweisen und gemeinschaftliche Freizeitrituale ausgebildet haben, wird das Internet als ein mit Arbeit und Rückzug assoziiertes Medium räumlich ausgegliedert. In Haushalten, in denen das Internet nur sporadisch genutzt wird, wurde diese Konstellation nicht in Frage gestellt und führte auch nicht zu Konflikten. Dies war beispielsweise bei Paaren der Fall, für die Julia Ahrens (2009) in ihrer Typologie zur Internet-Alltagsintegration den Begriff der „Additionalisten“ geprägt hat: Internetnutzerinnen und Internetnutzer, die gelegentlich vom Internet Gebrauch machen, dieses aber nur mäßig in alltägliche Routinen und Abläufe einbetten. Die Internetnutzung beansprucht bei den Additionalisten nur einen geringen Anteil des Medienzeitbudgets, was teils auch mit den in dieser
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Gruppe bevorzugten Anwendungen zusammenhängt: gezielte Informationssuche und Recherchen stehen hier im Vordergrund der Nutzung, während Unterhaltungs- und weitergehende Servicefunktionen des Internets eine eher untergeordnete Rolle spielen (vgl. ebd.). Die vereinzelten Internet-Zugriffe eines oder beider Partner gehen hier nicht mit einem merklichen Verlust von Qualitätszeit als Paar einher, sie beeinträchtigen weder den gemeinsamen Fernsehabend noch andere Arten der familiären Freizeitgestaltung. Diese herkömmliche Anordnung droht aber zu einem Problem zu werden, je stärker das Internet domestiziert ist, wobei insbesondere die damit einhergehende zeitliche Dimension der Nutzung und die dadurch beeinträchtigten Kommunikationsstrukturen innerhalb der Paarbeziehung zum Kristallisationspunkt häuslicher Spannungen werden. Denn verbringt ein Partner viel Zeit mit dem Internet und bindet es stärker in den Alltag ein, wird deutlich, dass dem neuen Medium ein fragmentierendes Moment innewohnt, das zu einem ungelösten Konflikt in der Partnerschaft führen kann. Anschaulich lässt sich dieser Konflikt am Beispiel des Ehepaars Mück nachvollziehen. Paar Mück: Computer versteckt im Schlafzimmer Die Mücks, die seit knapp 20 Jahren als Paar zusammenleben, wohnen mit ihrer 16-jährigen Tochter in einer kleinen Wohnung am Rande einer Großstadt. Der 43jährige Herr Mück ist als Verwaltungswirt voll berufstätig, während die 55-jährige Frau Mück als Hausfrau arbeitet und einmal pro Woche einer ehrenamtlichen Tätigkeit im Büro des Sportvereins nachgeht, in dem sie und ihr Mann Mitglieder sind. Einen häuslichen Internetanschluss hat das Paar seit 2001, die Anschaffung erfolgte allein durch Herrn Mück, der den Onlinezugang für private Zwecke wie E-Mail-Kommunikation und sein Hobby, den Sportverein, haben wollte. Seit 2005 muss er auch beruflich auf das Internet zugreifen und nutzt es täglich an seinem Arbeitsplatz. Frau Mück nutzt das Internet zuhause so gut wie gar nicht, lediglich während eines längeren Auslandsaufenthalts ihrer Tochter hat sie das Internet zum Schreiben und Empfangen von E-Mails gebraucht. Sie beschreibt sich selbst als technikkritisch und räumt ein, sich für die Nutzung weder zu interessieren noch sich besonders gut mit PC und Internet auszukennen. Neben ihrer distanzierten Einstellung zum Medium wird ihre häusliche Internetnutzung auch dadurch gehemmt, dass die beiden internetfähigen Computer ihrem Mann bzw. ihrer Tochter gehören und nicht als geteiltes Familieneigentum wahrgenommen werden. Beide schützen ihre Geräte mit einem Passwort, sodass Frau Mück zunächst einen von beiden fragen müsste, wenn sie zuhause online gehen will. Darüber hinaus empfindet sie ihren Mann oft als ungeduldig und kaum hilfreich, wenn er ihr gängige (Online-)Anwendungen am Computer erklären soll. Sie zieht es daher vor, PC und Internet einmal wöchentlich an ihrem Arbeitsplatz zu nutzen, wo ihr die Kolleginnen und Kollegen bei Fragen und Problemen zur Seite stehen.
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Ein weitaus größerer Konflikt ergibt sich allerdings durch die langen Zeiten, die Herr Mück regelmäßig zuhause online ist. Aus Mangel eines Arbeitszimmers steht sein Computer im Schlafzimmer (in der oben beschriebenen Schrankkonstruktion), wo er ihn täglich nach der Arbeit bis zu drei Stunden nutzt. Ihre abendliche Freizeit verbringen die Mücks nun meistens getrennt, und zwar sowohl in räumlicher Hinsicht als auch bezüglich ihrer Medienwahl: Herr Mück sitzt im Schlafzimmer vor dem Rechner, während Frau Mück im Wohnzimmer Fernsehen schaut oder ein Buch liest. Diese Trennung bedauert Frau Mück sehr, sie sieht das Internet als eine Technologie, die die Familie fragmentiert und wünscht sich wieder mehr Zeit für gemeinsame Abende mit ihrem Mann: „(…) Aber im Winter sitzt er jeden Abend vorm Computer und ist da am Rumrödeln. Und das finde ich nicht gut. Klipp und klar. (…) so von sieben bis zehn, elf, wenn man hier sonst zusammensitzen würde. Und das ist ja eben die Zeit. Man verbringt den Abend oder die Abende nicht mehr miteinander, sondern der eine guckt Fernsehen, der andere sitzt am Computer.“
Eine Platzierung des Internets im Wohnzimmer käme für sie aber trotzdem nicht in Frage, wie Herr Mück anmerkt: „Wir haben so einen abgetrennten Bereich im Schlafzimmer, weil das hier [im Wohnzimmer] nicht möglich ist oder meine Frau gesagt hat, das ist hier ein Wohnraum und kein Arbeitszimmer.“ Eine Lösung des Konflikts scheint derzeit nicht in Sicht, das Paar hat auch keine Vereinbarungen über eine zeitliche Begrenzung der Internetnutzung von Herrn Mück getroffen. Eine Chance auf mehr Zeit mit ihrem Partner sieht Frau Mück – etwas resignierend – nur dann gegeben, wenn sie sich zum Geburtstag den einmonatigen Verzicht ihres Mannes auf das häusliche Internet wünschen würde. Wie in diesem Haushalt sind es oft Frauen, die die zeitintensive Internetnutzung ihrer Ehemänner oder Lebenspartner beklagen (vgl. in Bezug auf junge Paare: Großmann 2007). Der Konflikt entsteht durch den innerhalb der Paarbeziehung asymmetrischen Verlauf der Internetintegration und diese Asymmetrie verläuft entlang geschlechtsspezifischer Kodierungen. Die Onlineaktivitäten ihrer Männer erleben die Frauen als massiven Konflikt, weil die früher gemeinsam verbrachte Freizeit erheblich eingeschränkt wird. Dies gilt insbesondere auch für zusammen verbrachte Fernsehabende, die von diesen Paaren im Gegensatz zur separierten Internetnutzung als Gemeinschaftszeit empfunden werden.
5. Integrierende Raumarrangements: Internetnutzung als Gemeinschaftszeit Von Spannungsfeldern zwischen medieninduzierter Fragmentierung und Gemeinschaft berichten rückblickend auch einige Paare aus Haushalten, in denen beide Partner oft online gehen und das Internet immer stärker in ihren Alltag integriert haben. Manche dieser Paare beginnen sich von traditionellen Raumvorstellungen
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zu lösen und greifen stattdessen auf neue und teils auch kreative Anordnungen des häuslichen Zusammenlebens zurück. Hier zeigen die Haushaltsstudien, dass aktuell ein Wandlungsprozess im Gang ist, im Zuge dessen räumliche Arrangements innerhalb des Zuhauses verändert werden. Paar Meckel: Ein gemeinsamer Raum mit zwei persönlichen Computern Ein neues Arrangement suchte sich das Ehepaar Meckel, das mit seinen zwei fast erwachsenen Kindern in einem kleinen Reihenhaus lebt. Herr Meckel (50) und Frau Meckel (48) sind als Verwaltungsangestellte beide in Vollzeit berufstätig. Als das Paar im Jahr 2000 aufgrund privater Interessen sein Zuhause an das Internet anschloss, teilten sich beide zunächst einen PC mit Online-Zugang. Frau Meckel war von Anfang an begeistert vom Internet, ihr Mann begann ein gutes Jahr später mit einer kontinuierlicheren Nutzung, verbrachte aber als Bastler auch unabhängig vom Internet und auch schon in früheren Jahren regelmäßig Zeit am PC – beide Technologien zusammen betrachtet entwickelte sich bei diesem Paar somit eine eher symmetrische Nutzung, wenn auch mit einer gewissen ‚Arbeitsteilung‘ im Rahmen eines geteilten Expertentums. Die wachsende Alltagsintegration von PC und Internet führte schnell zu Problemen im Zusammenleben, weil die Technologie nicht von beiden gleichzeitig genutzt werden konnte. Quasi im ‚Schichtbetrieb‘ praktizierten sie eine abwechselnde Nutzung und stellten bald fest, dass sie zuhause immer weniger Zeit zusammen verbrachten und ihre Kommunikation Schaden nahm. Ganz bewusst suchten sie nach einer Lösung für diese Situation, die Herr Meckel als „suboptimal“ charakterisiert. Sie entschieden sich, einen zweiten PC mit Internetzugang anzuschaffen und beide Geräte nebeneinander zu platzieren. Das Paar ist mit dieser Lösung bis heute außerordentlich zufrieden. Frau Meckel erklärt: „(…) am Anfang, als wir anfingen, waren da eben schon diese negativen Geschichten. Jeder so für sich und dann immer nacheinander, und so, dass ich das Gefühl habe, ‚Ja, jetzt sitzt er da schon und ich …‘ Aber das war eben am Anfang. Bis wir dann gemerkt haben, wir müssen eine andere Lösung für uns finden. Und die haben wir gefunden (…) eben, zu zweit, zwei Rechner zu haben. (…) Und eben auch in einem Raum zu haben. Und wir können da gut mit umgehen und das ist für uns ideal. Mag andere geben, die sagen, das wäre furchtbar. Aber für uns war das eine gute Lösung.“
Die Meckels verbringen in der Woche abends nach der Arbeit und den häuslichen Pflichten oft rund zwei Stunden parallel vor dem jeweiligen Rechner. Sie genießen einerseits die Autonomie durch den je eigenen PC, da Wartezeiten ebenso entfallen wie Konflikte um die Einstellungen, die es früher gegeben hatte, und beide ihre individuellen Interessen verfolgen können. Andererseits empfinden sie diese Situation als kommunikativer als zuvor, man sei sich „viel näher“, erläutert Frau Meckel: „Man spricht dann auch miteinander oder dann fällt einem irgendwas ein. Man hat einen viel schnelleren Kontakt, wenn man nebeneinan-
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der ist.“ Und Herr Meckel findet: „Kann man sich einfach leichter austauschen. Oder man kann schnell mal sagen, ‚Guck mal‘. Also, das geht gut.“ Die Gespräche, die während der gleichzeitigen Nutzung von PC und Internet entstehen, drehen sich sowohl um die Medienangebote als auch um medienunabhängige Themen. Das Internet ist in diesem Haushalt somit bezogen auf die situative Rahmung in hohem Maße zum Gemeinschaftsmedium geworden. Eine Konsequenz ist der starke Bedeutungsverlust des Fernsehens zugunsten des Internets. Vor Anschaffung des Internets und als die Kinder noch jünger waren, haben die Meckels abends routinemäßig gemeinsam ferngesehen, wie es viele andere Paare auch praktizieren. Inzwischen ist dies die absolute Ausnahme. Zudem hat das Fernsehen einen bemerkenswerten Bedeutungswandel erfahren: Es ist zum gelegentlich genutzten Individualmedium geworden und wird eingeschaltet, wenn einer der Partner sich zurückziehen und Zeit für sich haben will. Beide Meckels berichten, inzwischen so gut wie ausschließlich alleine Fernsehen zu schauen. Er sieht sich regelmäßig Sportberichte an; sie erwähnt gelegentliches (Liebes-)Filmgucken als Rückzug und Entspannung. Dadurch haben sich klassische (geschlechtsgebundene) Konflikte (vgl. Röser/Kroll 1995), die früher offenbar häufiger vorkamen, erübrigt, nämlich um die Fernbedienung, ums Zappen und um die Programmwahl zwischen „Sport“ und „Liebesfilm“, wie das Paar erzählt. Dieses Paar hat Internet und Fernsehen somit in ihren sonst üblichen kommunikativen Funktionen innerhalb der Paarbeziehung vertauscht: Das frühere Gemeinschaftsmedium Fernsehen ist zum sporadisch genutzten, personalisierten Individualmedium geworden, während das Internet bezüglich der situativen Rahmung (und manchmal auch in Form gemeinsam rezipierter Inhalte) in hohem Maße als Gemeinschaftsmedium empfunden wird. Mit dem Bedeutungswandel des Fernsehens hat sich in dem Haushalt auch die Funktion des Wohnzimmers verändert. Beide nutzen es zum je individuellen Rückzug: er zum Musikhören oder TV-Sport Schauen, sie zum Buchlesen oder Fernsehen sowie zum Bügeln. Das Wohnzimmer scheint somit als Gemeinschaftsraum einen gewissen medieninduzierten Funktionsverlust durchlaufen zu haben. Eine Platzierung der Computer im Wohnzimmer hat das Paar aber nie in Erwägung gezogen. Die beiden Computerplätze wurden aufgrund von Platzmangel im eigentlichen Esszimmer eingerichtet, dies mobil auf Rolltischen, um in dem kleinen Raum gegebenenfalls Platz für Besuch schaffen zu können. Meckels wollen sich aber nach dem Auszug eines der Kinder ein – weiterhin gemeinsames – Computerzimmer einrichten, das sie „Arbeitszimmer“ nennen, obwohl beide derzeit zuhause keine beruflichen Arbeiten am PC verrichten. Sie folgen also der oben geschilderten verbreiteten Vorstellung, wonach Computer und Internet in einem speziellen Raum unterzubringen sind, wollen diesen aber auf jeden Fall weiterhin als Gemeinschaftsraum gestalten, wie beide mit Nachdruck betonen.
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In einigen Haushalten lässt sich eine andere, mit dem Aushandeln neuer räumlicher Konstellationen verbundene Variante gegen dasselbe Problem der drohenden Fragmentierung durch das alltagsintegrierte Internet finden. Bei dieser eher von jüngeren Paaren gewählten Strategie wird insgesamt etwas stärker in die herkömmlichen Raumstrukturen des Zuhauses eingegriffen und auf eine konventionelle Raumaufteilung mit getrenntem Wohn- und Arbeitszimmer verzichtet. Dies ist in Haushalten der Fall, in denen das Internet seinen festen Platz im Wohnzimmer hat. Häufig verdankt sich diese Konstellation zunächst dem Zufall des Platzmangels. Viele Paare äußerten, dass sie Computer und Internet anfangs lieber in einem gesonderten Raum aufgestellt hätten, verfügten aber nicht über ein Extra-Zimmer. Durch die Einrichtung von Nischen oder den Einsatz von Raumteilern wie Vorhängen und Verkleidungen versuchten einige, das Internet zumindest ansatzweise vom übrigen Wohnraum zu separieren. Mit zunehmender Nutzungsintensität des Internets durch einen oder beide Partner wurde diese räumliche Anordnung dann als positiv empfunden. In anderen Haushalten entschied man sich ganz bewusst für ein solches Arrangement. Paar Markuse: Computer und Fernseher im Wohn-Esszimmer Bewusst entschieden sich die Markuses für die Platzierung von PC und Internet in einem an das Wohnzimmer angrenzenden, nur durch Vorhang abgetrennten Esszimmer und empfinden dies heute als optimal. Ihre häusliche Freizeit kann das Paar (beide 33 Jahre alt) trotz unterschiedlicher Mediennutzung gemeinsam verbringen: Während die eine vor dem Internet sitzt, schaut der andere Fernsehen, oder umgekehrt – jeder hat seinen eigenen „Spielraum“, wie Frau Markuse sich ausdrückt. Die beiden können sich gegenseitig hören und unterhalten, sind sich räumlich also nah, haben aber die Möglichkeit, jederzeit einen Vorhang zuzuziehen, wenn sie sich – so Frau Markuse – „auf die Nerven gehen“. Eine räumliche Aufteilung, bei der der internetfähige Computer durch Aufstellung im Keller oder in einem so genannten „Zwischenzimmer“ von den Gemeinschaftsräumen abgekoppelt ist, käme für die Markuses dagegen nicht in Frage: „Dann würde ich ihn gar nicht nutzen. Auch, wenn er oben im Zwischenzimmer stehen würde, würde ich ihn nicht nutzen“, erklärt Frau Markuse. Herr Markuse pflichtet ihr bei: „Würde mir wahrscheinlich genau so gehen. Wäre mir der Weg viel zu weit.“ Ergänzend fügt seine Frau hinzu: „Ja, dann ist man ja wieder alleine. So hast Du noch ein, zwei, drei Sachen zu reden, kannst nebenbei was machen (…).“ Ähnlich wie bei den Meckels lässt sich die Internetnutzung der Markuses als symmetrisch charakterisieren: beide Partner nutzen gleichermaßen das Internet, gebrauchen es vorwiegend als Freizeit- und Entspannungsmedium, aber auch für die Alltagsorganisation. Der durch das Internet drohenden Fragmentierung begegnen sie aber nicht dadurch, dass sie sich einen zweiten PC anschaffen – beide arbeiten im Schichtdienst und können sich aufgrund ihrer wechselnden
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und unterschiedlichen Arbeitszeiten mit nur einem Gerät arrangieren. Damit ihre Kommunikation durch das Internet nicht gestört wird, haben sie stattdessen die beiden für sie wichtigsten Medien, Fernsehen und Internet, so platziert, dass diese parallel konsumiert werden können, ohne dass die Partner sich hierfür räumlich trennen müssten.8 Paar Sarholz: Zwei persönliche Computer im Wohnbereich – und mobil Unkonventionelle und zum Teil auch kreative Anordnungen von PC und Internet innerhalb des Zuhauses zeigten sich auch bei anderen jüngeren Paaren, die ihre Onlinenutzung und ihre Gemeinschaftszeit als Paar miteinander verbinden wollen und dabei auch den Fernseher als Freizeit- und Unterhaltungsmedium nicht ganz außen vor lassen. Im Haushalt der Sarholz’ besitzen beide Partner einen eigenen Rechner mit Internetzugang, beide haben das Internet in hohem Maße und gleichermaßen kompetent in ihren Alltag integriert und zeigen ebenfalls eine symmetrische Nutzungsweise. Online gehen sie ihren individuellen Präferenzen und Gewohnheiten nach und sitzen nur in speziellen Situationen zu zweit vor einem Gerät. Es ist Ihnen aber dennoch wichtig, räumlich nicht voneinander getrennt zu sein, wie auch anhand ihrer aktuellen Raumkonstellation deutlich wird: Die beiden PCs sind im Wohn- und im Esszimmer untergebracht, die ohne Tür miteinander verbunden sind. Herr Sarholz (41) nutzt einen stationären Computer, der seit der Geburt ihres gemeinsamen Babys vor einem halben Jahr auf einem PC-Tisch in einer Ecke des Esszimmers steht. Frau Sarholz (32) gehört ein Laptop, der seinen festen Platz auf ihrem Schreibtisch im Wohnzimmer hat. Durch die Platzierung in zwei offenen Räumen können sich die beiden bei ihrer Internetnutzung zwar nicht sehen, aber hören und somit unterhalten. Herr Sarholz lässt zudem im Hintergrund auch gerne mal den Fernseher laufen, wenn er im Internet surft, obwohl er dessen Bildschirm von seinem Arbeitsplatz aus nicht im Blickfeld hat. Vor der Geburt des Babys stand der PC von Herrn Sarholz im Schlafzimmer, was Frau Sarholz begrüßte, da sie auf diese Weise räumlich mit ihm zusammen sein konnte, wenn sie ins Bett ging und er, wie für ihn zur damaligen Zeit üblich, abends noch länger am Rechner spielte. Das jetzige Arrangement, das zunächst aus Sachzwängen entstand, weil im Schlafzimmer Platz für die Wickelkommode des Babys geschaffen werden musste, finden beide aufgrund der räumlichen Verbindung sehr gut und inzwischen sogar „viel schöner“ als die Schlafzimmerlösung, „weil wir da zusammen sind“, wie Herr Sarholz sagt. Auch seine Frau bewertet die neue internetbezogene Raumsituation als positiv: „Und das finde 8
Ihrem Hobby, online Gesellschaftsspiele zu spielen, gehen sie manchmal auch zusammen am PC nach, in der Regel spielen sie aber getrennt. Insofern hat sich ihre Interaktion durch das Internet trotz der räumlichen Gemeinschaft fragmentiert: Früher haben sie stattdessen regelmäßig ‚live‘ Gesellschaftsspiele zusammen und mit Bekannten gespielt.
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ich jetzt eigentlich auch noch viel schöner, jetzt momentan, dass wir die Rechner so nebeneinander quasi haben. (…) weil wir dann eben gleichzeitig und hier auf Rufweite quasi surfen können.“ Durch diese Konstellation wird die Vielnutzung beider mit Gemeinschaftszeit in Einklang gebracht, wodurch auch das Konfliktpotenzial des Internets eingeschränkt wird, wie Frau Sarholz betont: „ (…) dadurch, dass wir parallel surfen können, es beide gerne machen und eben uns auch noch unterhalten können nebenher, ist eigentlich kein Konfliktpotenzial mehr da.“ Dem Paar stehen insgesamt mehr Möglichkeiten für unterschiedliche räumliche Arrangements mit Computer und Internet zur Verfügung, weil Frau Sarholz einen Laptop besitzt, den sie auch mobil nutzt, und zwar sowohl innerhalb der Wohnung (Küche, Schlafzimmer, Balkon) als auch außerhalb (z.B. im Urlaub). Ebenso wie in anderen Haushalten, in denen mobile Internettechnologien vorhanden sind, zeigt sich, dass der jeweilige Nutzungsort häufig mit einem konkreten Wunsch nach Ungestörtheit oder aber Gemeinschaft zusammenhängt. Offenbar lassen sich mit dem Laptop temporäre Interneträume schaffen, die mal dem Rückzug dienen (z.B. in der Küche) und mal gemeinschaftsstiftend wirken können (z.B. Nutzung des Internets beim gemeinsamen Fernsehen im Wohnzimmer). Die Möglichkeit, Nähe und Distanz mit dem Internet bewusst zu regulieren, wird dabei vor allem in den Haushalten wahrgenommen, in denen das Internet stark alltagsintegriert ist und als ein Medium wertgeschätzt wird, mit dem sich persönliche Interessen verfolgen sowie alltägliche Tätigkeiten und Aufgaben verrichten lassen.
6. Fazit Eine zunehmende Alltagsintegration des Internets verändert die Kommunikationsund Interaktionsbedingungen im häuslichen Zusammenleben. Dabei meinen wir mit Alltagsintegration eine sowohl zeitlich umfangreiche und rhythmisierte als auch inhaltlich vielfältige häusliche Nutzung des Internets, die private Interessen (z.B. Hobbys), tägliche Organisationsaufgaben im Haushalt (z.B. Onlinebanking, Fahrkartenkauf, Konsum/Produktrecherchen) sowie alltägliche Kommunikation (z.B. E-Mail, Chat) umfasst. Im Zuge der fortschreitenden Integration des Internets in den häuslichen Alltag entfaltet das Medium eine fragmentierende Wirkung und stört die Kommunikation und Interaktion in der Paarbeziehung, sofern an dem in Deutschland bislang üblichen Raumarrangement der separierten Platzierung von Computer und Internet festgehalten wird. So wie es in Deutschland im Verlauf der 1960er und 1970er Jahre selbstverständlich wurde, dass der (Haupt-)Fernseher im Wohnzimmer steht, wurde es seit den 1980er Jahren zur allgemein geteilten Zielvorstellung, den Computer und damit verbunden später auch das Internet in einem separaten ‚Arbeitszimmer‘ zu
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platzieren. Dass dieses Raumkonzept bis vor Kurzem unhinterfragt war, zeigen diverse Studien, die auf Interviews aus der Zeit zwischen 2004 und 2007 basieren (vgl. Ahrens 2007, 2009; Großmann 2007; Röser 2007b; Röser/Großmann 2008).9 Auch Haushalte, die aufgrund von Raum- bzw. Geldknappheit kein solches Extrazimmer zur Verfügung hatten, verfolgten in der Regel doch zumindest den Wunsch nach einer größeren Wohnung mit einem solchen zusätzlichen Zimmer.10 Dieser Raumentwurf war auch in unseren Haushaltsstudien aus dem Jahr 2008 dominant vertreten. Allerdings fanden wir daneben erstmals alternative Vorstellungen und Praktiken, die auf einen aktuell stattfindenden Prozess der Neuverhandlung von Raumarrangements hindeuten.11 Diese Neuverhandlung der häuslichen Raumarrangements fanden wir in solchen Haushalten, in denen der Partner und die Partnerin das Internet deutlich alltagsintegriert nutzen und die Erfahrung gemacht haben, dass in der traditionellen Raumkonstellation dadurch die Paarkommunikation leidet und sich das Beziehungsleben fragmentiert. Auffällig ist, dass dieses Problem eher selten ausdrücklich reflektiert wurde wie beim oben beschriebenen Paar Meckel, das bewusst nach neuen Wegen suchte. Häufiger führten medienunabhängige Anlässe, Raumknappheit und Zufälle zum Ausprobieren anderer räumlicher Anordnungen, wie etwa bei dem Paar Sarholz. Die positiven Auswirkungen für die alltägliche Kommunikation drangen in der Folge dann expliziter ins Bewusstsein und waren in den Interviews relativ leicht zugänglich. Auf Basis dieser im Alltag erlebten Vorteile findet zur Zeit bei einigen der untersuchten Paare eine grundsätzliche Infragestellung des Arbeitszimmer-Konzepts statt. Um ihre Kommunikation zu unterstützen und drohende Fragmentierungsprozesse abzuwehren, bedienen sie sich integrierender Raumarrangements, an denen sie auch in Zukunft festhalten wollen: Sie platzieren PC/Internet in den Wohnräumen oder 9
Ahrens (2009) fand in ihrer vergleichenden Studie vielfach integrierende Raumarrangements in Australien, in Deutschland jedoch noch weit überwiegend separierende – ihre Interviews fanden 2005/2006 statt. 10 Vgl. in Bezug auf junge Paare: Großmann 2007; Röser/Großmann 2008. Die einzige Ausnahme stellten zwei Frauen dar, die aufgrund der Befürchtung, der Partner würde seine Zeit exzessiv und abgetrennt am PC verbringen, einem Arbeitszimmer skeptisch gegenüber standen (vgl. ebd.). 11 Eine Untersuchung wie unsere auf Basis von 24 qualitativen Haushaltsstudien zielt auf die Typisierung von Praktiken rund um das Internet, zur quantitativen Verteilung kann sie, alleine betrachtet, nur Indizien liefern. Das häusliche Arrangement der Meckels, bei denen das parallel genutzte Internet den Fernseher als zuvor wichtigstes Gemeinschaftsmedium abgelöst hat, ist demnach (noch) als Einzelfall zu werten, während sich unterschiedlich ausgeprägte raumbezogene Strategien zur Abwehr von Fragmentierung bzw. Herstellung von Gemeinschaft im Kontext der Internetnutzung (schon jetzt) in mehreren Haushalten feststellen ließen. Vor dem Hintergrund einer zunehmenden Alltagsintegration des Internets sprechen diese Ergebnisse dafür, dass das bisher in Privathaushalten dominierende Raumkonzept mit separiertem Internet, das auch in unserem Sample noch überwog und zugleich in mehreren Haushalten mit Konflikten einher ging, künftig stärker zur Disposition stehen könnte.
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richten ein gemeinschaftliches Arbeitszimmer ein. Eine zusätzliche Flexibilität wird in einigen Haushalten durch mobile Technologien wie den Laptop geschaffen, mit dessen Hilfe sich temporäre Interneträume in verschiedenen Zimmern einrichten lassen. Insgesamt zeigt das traditionelle Raumkonzept, in dem PC/Internet ein separater Platz zugewiesen wird, allerdings eine (noch) hohe Bindekraft. Daran halten letztlich auch Meckels mit ihrem Gemeinschafts-Arbeitszimmer fest. Und besonders bei den vielen Paaren, die wie die Mücks unter anhaltenden Konflikten um die medieninduzierte Fragmentierung leiden, wird von den Frauen zugleich nachdrücklich das traditionelle Raumarrangement verfochten. Dies steht bei den betroffenen Paaren im Zusammenhang mit einer Asymmetrie in der Internetnutzung, die wiederum entlang geschlechtsgebundener Kodierungen verläuft. Da diese Frauen eine relativ große Distanz oder gar Skepsis gegenüber PC/Internet empfinden und sie als männliches Territorium erleben, ist eine Platzierung der ‚fremden Technologie‘ im Wohnraum für sie undenkbar, obwohl dies den Konflikt theoretisch mindern könnte. Umgekehrt entwickeln solche Paare neue räumlich-kommunikative Arrangements, bei denen die Alltagsintegration des Internets tendenziell symmetrisch verlaufen ist und beidseitig eine positive Haltung zum Medium besteht. Bei den meisten dieser Paare ist Internetnutzungskompetenz nicht oder wenig geschlechtsspezifisch kodiert und auch die Beziehung insgesamt wird eher egalitär gestaltet. Das Zusammenspiel der drei Dimensionen Alltagsintegration des Internets, Raumarrangements und Kommunikationspraktiken in der Paarbeziehung, wie es anhand der Haushaltsstudien gezeigt wurde, wird also wesentlich durch die Geschlechterdimension mitgeprägt. Von den beschriebenen Prozessen sind schließlich auch der häusliche Medienverbund und vor allem die Funktion des Fernsehens betroffen. Nur bei den Additionalisten, die dem Internet einen sehr begrenzten Stellenwert im Alltag geben, bleibt das Fernsehen unangefochten das klassische Gemeinschaftsmedium, das von den Paaren abends routiniert zusammen genutzt wird. Bei den konfliktbehafteten asymmetrischen Paaren ist das Fernsehen nach wie vor abendliche Praxis vor allem der Frau, während der Mann große Teile der Zeit räumlich getrennt im Internet surft. Bei den Paaren schließlich, die neue integrierende Raumarrangements wählen, wird nun auch das Internet zum Gemeinschaftsmedium und tritt in dieser Eigenschaft neben das Fernsehen. Dies kann zu einer Koexistenz beider Medien führen wie im Fall der Markuses. Es kann dabei aber auch zu einem Bedeutungsverlust des Fernsehens kommen in solchen Haushalten, in denen sowohl Mann wie Frau dem Internet einen hohen Stellenwert im Alltag beimessen und über je eigene Geräte verfügen. So ist bei den Sarholz’ das Fernsehen verstärkt zum Hintergrundmedium der Internetnutzung geworden. Noch extremer stellt sich die Verschiebung bei den Meckels dar: Die abendliche gemeinsame Internetnutzung hat das gemeinsame Fernsehen verdrängt; da das
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Paar für PC/Internet einen eigenen Raum eingerichtet hat, kommt eine parallele Nutzung mit dem Fernsehen nicht in Frage und wird von ihm auch nicht gewünscht. Das Wohnzimmer ist so zum individuellen Rückzugsort und der dort platzierte Fernseher zum selten genutzten Individualmedium geworden. Die Art von medieninduzierter Gemeinschaft, die eine gleichzeitige Nutzung des Internets an zwei Rechnern ermöglicht, bezieht sich allerdings hauptsächlich auf die situative Rahmung. Die räumliche Nähe ermöglicht Kommunikation neben der Internetnutzung, es werden in der Regel aber nicht die gleichen Onlineangebote rezipiert. Jeder folgt in erster Linie den eigenen inhaltlichen Interessen, wobei das gegenseitige Zeigen von Internetseiten, beispielsweise von speziellen YouTube-Videos, Bildergalerien oder Reiseseiten, bei den von uns befragten Paaren hin und wieder auch auf inhaltlicher Ebene Gemeinschaft stiftet. Beim gemeinsamen Fernsehen ist dieses Verhältnis potenziell anders gewichtet: Auf einfache Weise kann das Fernsehen zugleich situativ wie auch durch gemeinsam rezipierte Inhalte und Gespräche darüber Gemeinschaft herstellen. Auffallend ist nun, dass diese zweite Ebene von den interviewten Paaren kaum thematisiert und bezogen auf das Internet nicht als fehlend markiert wird; sie scheint ihnen nicht allzu wichtig zu sein. Betont wird dagegen die gemeinschaftliche Situation, die ‚Zwischendurch-Kommunikation‘ und ein Gefühl der Nähe zum anderen mit sich bringt. Dies legt die Vermutung nahe, dass es auch beim verbreiteten gemeinsamen Fernsehen in der Paarbeziehung vor allem um die situative Gemeinschaft und weniger als vermutet um die Programme geht (vgl. auch Röser/Großmann 2008). Das Paar Meckel jedenfalls betont den Vorteil, dass nebeneinander mit dem Internet endlich jeder den eigenen inhaltlichen Interessen nachgehen kann und die Konflikte bzw. Kompromisse um das Fernsehprogramm der Vergangenheit angehören. Somit stellen diese Paare Gemeinschaft bezogen auf den geteilten physischen Raum her, während sie im symbolischen Raum zumindest partiell getrennte Wege gehen.
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„Hello Kitty“ im japanischen Medienalltag. Zur Integration mobiler Kommunikationstechnologien in alltagskulturelle Praktiken der Verniedlichung Corinna Peil
1. Einleitung: Warum „Hello Kitty“ mehr als eine Botschafterin Japans ist Im Frühjahr 2008 ist Hello Kitty vom japanischen Minister für Verkehr, Tourismus und Infrastruktur zur offiziellen Botschafterin ihres Landes ernannt worden. Aufgrund ihrer großen Beliebtheit soll die Zeichenfigur – das runde weiße Katzengesicht mit der roten Schleife auf dem Kopf – vor allem in Hong Kong und China für Japan als Urlaubsland werben. Eine solch öffentlichkeitswirksame Aufgabe als amtliche Tourismusgesandte stellt für Hello Kitty, die 1974 in Japan erfunden wurde und 1976 ihren heutigen Namen erhielt, einen „Höhepunkt ihrer Karriere“ dar, wie ihr jüngst von der Süddeutschen Zeitung bescheinigt wurde (Ackermann 2008: 9). Bei einem Jahresumsatz von 1,5 Milliarden Dollar und angesichts der aktuell 22.000 Kitty-Produkte, die in mehr als 40 Ländern auf dem Markt sind, liest sich die Biographie der kleinen Katze wie eine einzige Erfolgsgeschichte. Dies ist umso erstaunlicher, als dass zu dem Charakter kein passendes Narrativ angeboten wird: Das Kätzchen bleibt stumm, denn kein Buch, kein Film und keine Fernsehserie lassen es eine Hauptrolle spielen. Die globale Faszination für diese Figur scheint allein durch ihr niedliches Äußeres hervorgerufen zu werden. Hello Kitty ist jedoch gerade in Japan nicht als Einzelphänomen zu verstehen, sondern muss im Kontext einer umfassenden ‚Verniedlichung‘ verschiedener Bereiche der japanischen Gesellschaft betrachtet werden. Dies wird bereits deutlich, wenn man den Blick in Tokios äußerst belebten Stadtvierteln Harajuku, Aoyama oder Shinjuku umherschweifen lässt. Das stereotype Bild von homogen in grauen Anzügen uniformierten Menschenmassen, die sich im Gleichklang durch die Straßen oder unterirdischen Gänge der U-Bahn-Stationen bewegen, bedarf inzwischen einer Überarbeitung. Denn immer häufiger prägen exzentrisch gekleidete und mädchenhaft zurechtgemachte Studentinnen und junge Frauen den geschäftigen Alltag in den japanischen Großstädten. Oft ‚trippeln‘ sie mit Kniestrümpfen, farbigen Pumps sowie an Handtaschen und Mobiltelefonen baumelnden Hello Kittyoder anderen Anhängern durch die urbane Szenerie. Ihre Mode und Gangart, aber
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auch eine hohe Piepsstimme, affektierte Gestik und verhaltenes Gekicher, rufen Assoziationen des Kindlichen hervor, die Bewunderern dieses Auftretens nicht selten ein anerkennendes „kawaii ne!“ entlocken. Kawaii bedeutet so viel wie süß oder liebevoll, in seinem breiten Anwendungsspektrum durchdringt der Begriff den japanischen Sprachgebrauch auf prägende und vielfältige Weise.1 Sichtbare Manifestationen der kawaii-Kultur – der Kultur des Niedlichen – finden sich nicht nur in der Erscheinung junger Frauen wieder, sondern an unterschiedlichen Orten und in vielfältigen Situationen des japanischen Alltags. Abbildung 1: Hello Kitty im Dienst der Diplomatie, hier mit Tetsuzo Fuyushiba, dem japanischen Minister für Verkehr, Tourismus und Infrastruktur
Alltag ist hier als Sphäre kreativer Aneignungspraktiken zu begreifen (vgl. de Certeau 1999), in der die durch Offenheit und Anschlussfähigkeit gekennzeichnete kawaii-Kultur für eine spezifische Taktik der Aneignung von Konsumgütern steht. In einem solchen Verständnis stellt sich Alltag als eine ‚Kunst des Ausnutzens von Gelegenheiten‘ dar, bei der den nivellierenden und repressiven Tendenzen der Ökonomie etwas entgegen gesetzt wird, indem die massenindustriell gefertigten Artefakte mit eigenen Bedeutungen aufgeladen werden. Aus dem Akt der Konsumtion erwächst somit ein Akt der Produktion, ein Moment der Ermächtigung unterdrückter Subjekte, das sich allerdings in die bestehenden Machtstrukturen einfügt. Diese mit de Certeau argumentierende positive Besetzung des Alltagsbegriffs betont die Eigen- und Widerständigkeit des Alltags als Raum unmittelbarer Erfahrungen, bei der Populärkultur eine zentrale Rolle spielt. Das keitai, das in Japan so bezeichnete internetfähige Mobiltelefon, nimmt einen zentralen Platz in der Kultur des Niedlichen ein, weil es als kompakter persönlicher 1
Bei der Aussprache von kawaii werden die Vokale einzeln prononciert, der Begriff spricht sich folglich kah-wa-ih. Bereits 1992 galt kawaii als das am häufigsten gebrauchte und beliebteste Wort im modernen Japanisch (vgl. Kinsella 1995: 220f.).
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Begleiter im Alltag eine Vielzahl von Möglichkeiten für individuelle Umgestaltungen und kreative Dekorationen bereithält: Kurznachrichten und von unterwegs versandte E-Mails werden mit Bildern und kleinen Symbolen versehen, selbst aufgenommene Fotos zieren Kontaktprofile und verleihen als Displayhintergrund den Geräten eine persönliche Note. Zusammen mit den die Außenschale schmückenden Figuren und Maskottchen lassen diese Formen kommerziell geprägter und zugleich individueller Anpassung das keitai zu einem idealen Träger identitätsstiftender Darstellungen werden. Darüber hinaus fügt sich die mobile Kommunikationstechnologie nahtlos in die japanische Tradition der tragbaren Unterhaltungselektronik ein, die mit der Popularität des Transistorradios begann und sich mit dem Erfolg von Walkman, Tamagotchi und Gameboy fortsetzte (vgl. Castells u.a. 2004: 108). Der darin zum Ausdruck kommende Hang zur Miniaturisierung und zu einer Idealisierung des Kleinen (vgl. Lee 1982) korrespondiert als wichtiges Kennzeichen der japanischen Kultur eng mit dem Aspekt einer allgegenwärtigen Niedlichkeit. In dem folgenden Beitrag geht es darum, vor dem Hintergrund eines tiefer gehenden Verständnisses der japanischen kawaii-Kultur darzulegen, wie die alltagskulturellen Praktiken der Verniedlichung zu einer Integration mobiler Kommunikationstechnologien in weibliche Lebenswelten beigetragen haben. Hierzu wird zunächst in die historischen und gesellschaftlichen Kontexte eingeführt, die ein solch übergreifendes Phänomen wie die kawaii-Kultur in Japan haben entstehen lassen. Im Anschluss daran werden die alltäglichen Praktiken der Aneignung mobiler Kommunikationstechnologien dargestellt, die von der Komplexität und Widersprüchlichkeit der Kultur der Niedlichkeit geprägt sind. Mit Strategien der Verniedlichung lassen sich in der Mobilkommunikation, wie die folgenden Ausführungen zeigen, einerseits die Möglichkeiten geschlechtsgebundenen Medienhandelns und weiblicher Identitätsbildung erweitern. Andererseits erweist sich die Praxis der kawaii-Kultur als flüchtiger Moment des Ausweichens und des Rückzugs in einem von Defiziten und sozialen Asymmetrien bestimmten japanischen Alltag.
2. Hintergrund: Zur Entstehung und Kontextualisierung der „kawaii“-Kultur in Japan Von Beginn an war das kreative Moment der Aneignung, das den Alltag prägt, für die kawaii-Kultur bestimmend. Die moderne Auslegung des Begriffs kawaii hat ihre Anfänge in den 1970er Jahren, als Jugendliche sich einen Schreibstil aneigneten, der in seiner Ausrichtung und Ästhetik an einen westlichen Schriftgebrauch anknüpfte.2 Mit der Erfindung und Anwendung einer alternativen Art zu schreiben, die 2
Zur Bezeichnung der neuen Schriftform war eine Vielzahl von Namen im Umlauf, wie Sharon Kinsella ausführt: „The new style of handwriting was described by a variety of names such as marui ji (round writing), koneko-ji (kitten writing), manga ji (comic writing) and burikko ji (fakechild writing).“ (Kinsella 1995: 222)
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sich durch kindliche Formen sowie kleine, in den Text eingefügte Bilder, Zeichnungen und englische Begriffe hervorhob, transformierten SchülerInnen die japanische Schrift in eine eigene, ihren Ansprüchen angepasste Gebrauchs- und Kommunikationsform. Diese später auf vielfältige Bereiche des alltäglichen Lebens übergreifende Strategie der Verniedlichung ist als der Beginn einer Jugendbewegung anzusehen, die nicht in der Nutzung bestimmter medialer Ressourcen oder Inhalte wurzelt, sondern ihren Ausgangspunkt in einer durch Jugendliche initiierten Modifizierung der japanischen Schrift und Sprache3 hat (vgl. Kinsella 1995: 222ff.). Das widerständige Potenzial dieser frühen Verniedlichungspraktiken führte dazu, dass die neue Schreibweise als Bedrohung der japanischen Nationalkultur angesehen und an Schulen zum Teil verboten wurde. Als kulturelles Phänomen ist sie als Teil eines umfassenden gesellschaftlichen Wandels in Japan zu verstehen, der sich seit den 1970er Jahren unter anderem in der zunehmenden Zurückdrängung traditioneller Künste zugunsten von zeitgenössischer Mode und Populärkultur ausdrückte (vgl. ebd.: 224). Entscheidende Impulse gingen dabei von der Verbreitung westlicher Werte und Waren in dem durch viele Jahre der Abschottung und Isolation gezeichneten Inselstaat aus. Der wirtschaftliche Aufschwung der 1980er Jahre und die internationale Anerkennung Japans als erstrangige Wirtschaftsmacht eröffneten und erforderten neue Möglichkeiten gesellschaftlicher Sinnstiftung und nationaler Identitätsbildung. Hierfür wurden, so Irmela Hijiya-Kirschnereit (2004), bevorzugt Motive und Versatzstücke aus ästhetischen Spielereien, postmodernen Stilisierungen und Attributen der Unbeschwertheit herangezogen: „Das Verkitschte und Verspielte der vom Konsumrausch geprägten Jahre sind in der Folge als spezifisch japanischer Infantilismus beschrieben worden.“ (ebd.: 85) Industrie und Medien wussten die kulturelle Praxis der Verniedlichung rasch für sich zu vereinnahmen. Die kindliche Schrift wurde sowohl in der Werbung eingesetzt als auch in Printerzeugnisse und Textverarbeitungsprogramme integriert. Gleichzeitig entwickelte sich die so genannte fancy goods Industrie zu einem erfolgreichen Wirtschaftszweig (vgl. Kinsella 1995: 225ff.). Zu den fancy goods zählen Schreibwaren, Geschenkartikel und alltägliche Gebrauchsgegenstände, die mit an der kawaii-Kultur orientierten Motiven und Gesichtern bedruckt sind: „Most fancy goods are (…) decorated with cartoon characters. The essential anatomy of a cute cartoon character consists in its being small, soft, infantile, mammalian, round, without bodily appendages (e.g. arms), without bodily orifices (e.g. mouths), non-sexual, mute, insecure, helpless or bewildered.“ (ebd.: 226)
Diese Beschreibung der als kawaii wahrgenommenen Charaktere verweist auf eine weitere Bedeutung des Begriffs, der nicht nur als süß, niedlich oder schüch3
Von den Schulen ausgehend zirkulierten im ganzen Land Slang-Wörter, die der Babysprache entstammten oder daran angelehnt waren und selbst Begriffen wie Sex eine kindliche Unschuld einzuhauchen versuchten: „‚Sex‘ became popularly referred to by the morbid term nyan nyan suru (to meow meow).” (Kinsella 1995: 225)
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tern übersetzt wird, sondern dem auch negative Konnotationen von Schwäche, Mitleid und Verletzlichkeit anhaften (vgl. ebd.: 221f.). Tatsächlich mutet die Physis vieler kawaii-Figuren auf den ersten Blick bemitleidenswert an: Gliedmaßen fehlen oder sind zu kurz geraten, Körper sind oft rund und ungelenk, die Sinnesorgane nicht selten auf ein großes Paar Kulleraugen beschränkt, die Mitgefühl erheischend aus einem überdimensionierten Gesicht blicken. Hello Kitty, die prominenteste Repräsentantin der kawaii-Kultur, ist mund- und geschlechtslos, aber mit rosa Outfit und Schleife im Haar deutlich weiblich konnotiert. Sie stammt aus dem Hause Sanrio, das neben Hello Kitty weitere kawaii-Charaktere wie den Pinguin Badtz-Maru oder das Kaninchen My Melody vermarktet und zu den erfolgreichsten Unternehmen im Bereich der fancy goods gehört. Als wichtige Bestandteile einer Ideologie des Konsumismus und der Marktakkumulation (vgl. McVeigh 2000: 242) lässt Sanrio seine erfundenen Geschöpfe in diversen Formen und Varianten für unterschiedliche Produktlinien und Veranstaltungen Pate stehen. Darüber hinaus finden sich in der von Manga (Comics) und Anime (Zeichentrickfilme) beeinflussten japanischen Medienkultur zahlreiche weitere Beispiele für niedliche, aber mit Eigenschaften wie Schwäche und Passivität assoziierte Figuren: Miffy, das minimalistisch gezeichnete Hasenmädchen mit den langen weißen Ohren, Doraemon, die blaue Roboterkatze, oder Totoro, der bullige, aber sanftmütige Waldbewohner aus dem von Studio Ghibli produzierten Miyazaki-Werk Mein Nachbar Totoro (1988).4 Abbildung 2: Totoro, Inbegriff einer kawaii-Gestalt
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In Gestalt der Makkuro Kurosuke zeigt dieser Film eine idealtypische Umsetzung der kawaiiVorstellung: Die kleinen schwarzen, haarigen Kugeln sind mit nichts als zwei riesigen Knopfaugen ausgestattet, kullern scheu durch leer stehende Häuser und geben unverständliche Laute von sich, erfüllen ansonsten aber keine wichtige handlungsbezogene Funktion in der Geschichte.
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Die Zwiespältigkeit, aber auch die Komplexität des Begriffs kawaii und der sich daran orientierenden Alltagskultur wird hier deutlich. Entstanden als eine Jugendbewegung glorifiziert kawaii-Kultur die Freiheit und Leichtigkeit des Kindseins und verweigert sich den gesellschaftlichen Zwängen und der Verantwortung des Erwachsenwerdens. Tatsächlich hat die frühe Kindheit in Japan einen besonderen Stellenwert und ist von einem signifikanten Gegensatz zur daran anschließenden Schulzeit bestimmt. Bevor japanische Kinder in das rigide und auf Leistung ausgerichtete Schulsystem eintreten, erleben sie eine mehrere Jahre andauernde Phase unbeschwerten Heranwachsens, in der sie unangefochten im Mittelpunkt des Familienlebens stehen (vgl. u.a. Neuss-Kaneko 1990). Durch die arbeitsbedingte Abwesenheit des Vaters und die Fürsorge der Mutter5 wird das Kind in dieser Zeit zum „heimliche[n] Herrscher“ der Familie (Manfé 2005: 27). Mit dem Eintritt in die Schule hören die kindlichen Privilegien schlagartig auf, denn aufgrund der ‚japanischen Bildungsbesessenheit‘ (vgl. ebd.: 32) sind die Schülerinnen und Schüler einem äußerst hohen Leistungsdruck und einer enormen Arbeitsbelastung ausgesetzt, die erst mit dem erfolgreichen Abschluss der Universitätszugangsprüfungen nachlassen. Im Festhalten an einer Kultur des Niedlichen wird also an neoromantische, mit Glück und Geborgenheit assoziierte Vorstellungen von früher Kindheit angeknüpft und damit die Freiheit beschworen, die in Japan für diese Lebensphase kennzeichnend ist. Nach einem vergleichsweise moderaten Studium, das meist weniger arbeitsintensiv als die Schulzeit ist, verbinden viele Japanerinnen und Japaner den Eintritt in die Berufstätigkeit mit dem Zurückstellen eigener Bedürfnisse und erheblichen Einschränkungen in der persönlichen Lebensgestaltung. Den Mythos einer japanischen „working bee society“ (Linhart 1998: 14) nähren vor allem die weit verbreitete hohe Arbeitsmoral, eine starke Bindung zwischen Angestellten und Unternehmen sowie die enge Verzahnung von Berufs- und Privatleben. Genau gegen diese Zwänge und Ansprüche versucht die kawaiiKultur zu opponieren, indem sie das Kindliche idealisiert und das Erwachsensein ablehnt. Die Attitüde der durch die Niedlichkeit inspirierten Jugendlichen interpretiert Sharon Kinsella in ihrem Aufsatz „Cuties in Japan“ (1995) als eine Form adoleszenter Rebellion: Anstatt ihren Protest durch Aggressivität oder lautstarkes Aufbegehren gegen traditionelle Werte, die individuelle Freiheiten und Lebensstile unterdrücken, offen zu zeigen, ziehen sich japanische Teenager und junge Erwachsene in eine imaginierte Kindheit zurück und versuchen sich auf diese Weise den an sie gestellten Erwartungen zu verwehren (vgl. ebd.: 243). 5
Eine Geschlechterrollenverteilung nach traditionellem Vorbild, bei der die Frau nach der Geburt des Kindes für mindestens fünf Jahre ihre Berufstätigkeit ruhen lässt und der Mann den familiären Unterhalt verdient, ist in Japan heute noch sehr weit verbreitet (vgl. u.a. Hendry 2003).
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Eine wesentliche Differenz zu anderen Jugendkulturen besteht darin, dass in Japan junge Frauen an der Spitze der kawaii-Kultur stehen,6 während Männer sich erst gegen Ende der 1980er Jahre intensiver daran beteiligten und durch Auswahl ihrer Kleider und Accessoires eine androgyne und asexuelle Niedlichkeit stärker ins Zentrum rückten (vgl. ebd.: 243). In einer geschlechterzentrierten Perspektive könnte kawaii-Kultur somit auch als weiblicher Machtanspruch oder, wie Brian McVeigh (2000: 135f.) ausführt, als Ausdruck von Widerstand gegen männlich konnotierte Werte wie Produktivität, Rationalität, Ordnung und Kontrolle verstanden werden. Überschneidungen zeigen sich hier mit dem von Joan Riviere (1929) beschriebenen Konzept von Weiblichkeit als Maskerade, bei der die Frau ihre eigene Männlichkeit oder Souveränität unter einer Maske von Weiblichkeit zu verhüllen versucht. Das Konzept leitet sich psychoanalytisch von einer allgemein als defizitär verstandenen Weiblichkeit ab, die im Machtanspruch und der mit ihm einhergehenden Maskerade nur deutlicher hervortritt.7 Innerhalb der kawaii-Kultur besetzen Frauen durch das Vorspielen einer kindlich weiblichen Sexualität den öffentlichen Raum, verbinden ihren Machtanspruch also zugleich mit der Demonstration einer spezifischen Weiblichkeit. Ein Hintergrund für ihr mädchenhaftes Auftreten und Verhalten ist in der Stellung der unverheirateten Frau zu suchen, die in der japanischen Gesellschaft mehr als ihr männliches Pendant Vorstellungen von Autonomie repräsentiert.8 Kawaii-Kultur hängt auch mit dem Wunsch zusammen, eine kurze Phase der späten Jugend zu verlängern, in der gerade Frauen relativ frei sind von gesellschaftlichen Zwängen. Wenn Männer sich mit Hilfe einer entsprechenden Symbolik innerhalb dieser Kultur situieren, kann dies auch als ein Versuch gewertet werden, diesen spezifisch weiblichen Freiraum für sich anzueignen. Problematisch allerdings wird das Spiel mit Zuschreibungen und kindlichen Stilisierungen wegen seiner sexuellen Konnotationen. Für die als lolicon (Lolita6 7
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Kinsella (1995: 243) weist darauf hin, dass Jugendkulturen immer geschlechtlich kodiert und gerade in westlichen Industrienationen meist von männlichen Teenagern dominiert sind, so etwa die Punk-, Grunge- oder Popperbewegung. Fujimoto (2005) entwickelte die These, dass sich mit dem Aufkommen der „high school girls’ culture, anime culture, and character culture“ (ebd.: 87) ein Paradigmenwechsel im öffentlichen Raum vollzogen habe, der sich vor allem dadurch zeigt, dass junge, modebewusste und laut über ihr keitai kommunizierende Frauen die Straßen und Plätze okkupieren und so das traditionelle Bild von Männlichkeit, Familie und Altershierarchie herausfordern. „Young women – by virtue of the strength of their oppression and exclusion from most of the labour market and thus from active social roles – have come to represent in the media the freest, most un-hampered elements of society. Young women pushed outside mainstream Japanese society are associated with an exotic and longed-for world of individual fulfilment, decadence, consumption and play. Young men do not represent freedom in the same way. Nor, in their role as subservient company employees, do they embody any of the characteristics of the powerful, antagonistic, macho individualism of the male in western societies and their youth cultures. For many young men, cute fashion represents freedom and an escape of the pressure of social expectations and regulations.“ (Kinsella 1995: 244)
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Komplex) bezeichnete Neigung japanischer Männer, sich auf explizite Darstellungen halbwüchsiger Mädchen zu fixieren, scheinen die kawaii-Kultur und die ihre Schwäche und Schutzlosigkeit offen zur Schau stellenden Frauen eine ideale Folie zu liefern. Kawaii-Kultur stellt sich daher als Balanceakt dar. Die sich darin wiederfindenden Frauenbilder unterlaufen statische Vorstellungen von Geschlecht und oszillieren zwischen (Re-)Präsentationen von Freiheit, Unabhängigkeit und selbstbestimmter weiblicher Identität auf der einen sowie Subordination und Machtlosigkeit auf der anderen Seite. Diese widersprüchliche Form der kawaii-Kultur ist im japanischen Alltag allgegenwärtig und kann eine Art kulturelle Hegemonie für sich beanspruchen. Während auch in anderen Industrieländern Tendenzen eines als „Kid Attitude“ (Manfé 2005: 58; Herv. im Original) bezeichneten Phänomens wahrzunehmen sind, bei der sich Erwachsene einer kindlich-lustbetonten Verfassung hingeben und für kurze Momente den strengen Anforderungen der Alltagsrealität entfliehen,9 handelt es sich bei der japanischen kawaii-Kultur um einen übergreifenden nationalen Topos. Die Niedlichkeit ist in Japan von einer vornehmlich durch weibliche Jugendliche praktizierten Ausdrucksform zu einem festen Bestandteil vielfältiger Areale der japanischen Kultur avanciert. Dies zeigt sich in der Kleidungsindustrie mit ihrem verspielten Stil ebenso wie in der zeitgenössischen Kunst, die von Künstlern wie Yoshitomo Nara geprägt ist, dessen Objekte und Zeichnungen von grimmig schauenden Kinderfiguren das Nebeneinander von infantiler Unschuld und menschlichem Abgrund thematisieren.10 Auch Straßenschilder und Lehrmaterialien, mit niedlichen Charakteren versehen, sind von der kawaii-Kultur nicht ausgenommen. Und selbst bei der Selbstrepräsentation von Machtinstitutionen spielt Niedlichkeit eine beachtenswerte Rolle: Wenn eine im Gewand des offiziellen Polizeimaskottchen gekleidete kawaii-Figur durch die Straßen Tokios läuft und Flyer verteilt, auf denen Frauen vor sexuellen Belästigungen gewarnt werden (vgl. McVeigh 2000: 242), so findet sich hier ein zunächst widersprüchlich erscheinendes, strategisches Spiel mit gegenläufigen Bedeutun9
Die Glorifizierung der Kindheit ist keine rein japanische Erscheinung. Hierzulande sprechen zahlreiche Neuauflagen von Hörspielkassetten, Kinderserien und Soundtracks sowie die anhaltende Popularität von Fernsehshows, in der die Idole und Hits der 1970er, 1980er oder 1990er Jahren verehrt werden, für eine derartige Entwicklung. Indem sie nostalgisch auf ihre Jugend zurückblickt und die alte Zeit aufleben lässt, nimmt die Generation der um die 30jährigen eine temporäre Auszeit von den Anforderungen im Hier und Jetzt. Prekäre Arbeitsverhältnisse und finanzielle Abhängigkeit erschweren die Auseinandersetzung mit den Herausforderungen und der Verantwortung des Erwachsenseins und verwehren einen zuversichtlichen Blick in die Zukunft (vgl. Manfé 2005: 58). 10 Die Kunst von Yoshitomo Nara und anderen zeitgenössischen Künstlern wie Takashi Murakami galt ursprünglich als eine kritische Auseinandersetzung mit der kawaii-Industrie; sie ist inzwischen aber so stark von der Mainstream-Niedlichkeit absorbiert worden, dass sie ihren konsumund kulturkritischen Standpunkt weitgehend eingebüßt hat (vgl. Gomez 2004).
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gen von Macht und Entmachtung. Ähnlich verhält es sich bei japanischen Regierungsinstitutionen, Fluggesellschaften und Banken, die sich mit Hilfe eines niedlichen Maskottchens innerhalb der kawaii-Kultur positionieren und ihren Kunden auf diese Weise Werte wie Zugänglichkeit, Vertrauen und Menschlichkeit zu vermitteln versuchen.
3. Klein, kompakt und „kawaii“: Das „keitai“ zwischen Technik und weiblicher Lebenswelt Genau dieses Potenzial, eine Vermittlungsleistung zu erbringen, gegensätzliche Bedeutungen zusammenzuführen und sinnstiftende Akzente zu setzen, verweist auf eine Dimension der kawaii-Kultur, die im Zusammenhang mit Mobilkommunikation von Relevanz ist. Als kleine, tragbare Kommunikationstechnologie ist das keitai besonders empfänglich für Strategien der Verniedlichung. Geradezu idealtypisch scheint es sich für etwas zu eignen, das Andreas Bernard (2007: 46) im SZ-Magazin die „Personalisierung des Funktionalen“ genannt hat. Im Gegensatz zum häuslichen Telefon oder Computer ist das von nur einer Person genutzte Mobiltelefon äußerst anpassungsfähig, es lässt sich mit Aufklebern und niedlichen Anhängern in einen mit individuellen Bedeutungen aufgeladenen Gebrauchsgegenstand verwandeln. So transformieren kreative, von de Certeau (1999: 270) in anderem Zusammenhang als ‚mikrobenhaft‘ beschriebene Aneignungspraktiken ein massenindustriell gefertigtes Produkt in eine persönliche Habseligkeit: „Mobile phones are lightweight, portable, and easy to be customized as a wearable item to suit different lifestyles and fashions. As a result, keitai decorations and their associated cultural expressions have become the latest epitome of the culture of kawaii.“ (Castells u.a. 2004: 110) Seine Integration in alltagskulturelle Praktiken der Verniedlichung kann dem keitai eine vielen Technologien zugeschriebene Aura des Kalten und Leblosen nehmen. Es lässt sich, wie McVeigh (2002: 26) ausführt, daher als „techno-cute“ charakterisieren. Der Ausdruck vereint zwei gegensätzliche Begriffe und Bedeutungsebenen: „Techno-cute merges the two esthetics/ethics of cold, complicated contraptions, unfeeling objects, and serious effort and labor, with warm, understandable social relations, emotional connections, and playful times and leisure.“ (ebd.)
Larissa Hjorth spricht in diesem Zusammenhang von einer „form of ‘humanising’ the dehumanised technological spaces“ (Hjorth 2005: 39; Herv. im Original): Kawaii-Kultur vermag die häufig als unüberwindbar konstruierten Dualismen – zwischen Mensch und Maschine, zwischen Technik und Emotion – aufzubrechen, erleichtert damit den Zugang zu Technologien und ermöglicht alternative Aneignungsweisen.
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Abbildung 3: Situierung des keitai innerhalb der kawaii-Kultur
Die diese Gegensätze verbindende und ausgleichende Kraft der kawaii-Kultur hat dazu beigetragen, das keitai schon frühzeitig aus einer männlich definierten Deutungshoheit von Informations- und Kommunikationstechnologien zu lösen und in weibliche Lebenszusammenhänge einzubinden. Hjorth (2002) spricht der Affinität von Niedlichkeit und keitai-Kommunikation daher das Potenzial zu, traditionelle Rollenmuster und Dominanzverhältnisse zu entkräften: „(…) the colonization of high-tech spaces such as the Internet by the cute characters usually associated with the female realm in Japan is an important signifier of the power afforded women by this new technology“ (ebd.: 52). Während die Ausbreitung und Veralltäglichung neuer Medien und Kommunikationstechnologien in der Regel vor dem Hintergrund hegemonialer Auseinandersetzungen und männlicher Dominanz stattfindet (vgl. Klaus u.a. 1997: 803), haben die Deutungsund Handlungsmuster junger Frauen in Japan schon frühzeitig auf den Entwicklungsprozess mobiler Technologien eingewirkt (vgl. Peil 2007). Eine „Feminisierung“ im Sinne Morleys (2001: 25), die mit der massenhaften Verbreitung eines neuen Mediums einsetzt, nachdem es zunächst von einer technikaffinen, vorwiegend männlichen Minderheit adaptiert wurde (vgl. Röser 2007), war somit schon in der Frühphase kennzeichnend für die Entwicklung mobiler Technologien in Japan. Der kawaii-Kultur, der das Potenzial zukommt, die Technologie ‚vertraut‘ zu machen, kam innerhalb dieses Prozesses die Rolle sowohl eines Katalysators als auch einer vermittelnden Instanz zu. Sie stellt damit „ein wichtiges Begleitphänomen zum Aufstieg der medial vermittelten Kommunikation“ dar (Hjorth 2006: 62). Obwohl weibliche Teenager und junge Erwachsene zunächst nicht zur angepeilten Zielgruppe der Hersteller gehörten, machten sie sich die für die Geschäftswelt konzipierten Geräte für ihren Privatgebrauch zu Eigen und verwandelten sie von einer funktionalen Kommunikationstechnologie in kulturelle Artefakte, deren Bedeutung ihrer individuellen Deutungsmacht unterlag (vgl.
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Peil 2007). Pager wie keitai wurden damit zu einem geradezu mustergültigen Beispiel einer gegen die bevorzugte Lesart der Produzierenden gerichteten aktiven Aneignung durch die Alltags- und Kommunikationspraktiken junger Frauen.11 Beim Aufschwung aller drei mobilen Kommunikationstechnologien – Pager, PHS12 und keitai – waren weibliche Jugendliche somit die entscheidenden Impulsgeberinnen und Initiatorinnen für eine zunehmende Privatnutzung. Ihre Kommunikationsmuster untergruben nicht nur die Intentionen der Vertriebsunternehmen, sondern schufen auch die Basis für soziale Normen und Praktiken in der Mobilkommunikation, die sich inzwischen bei der großen Mehrheit durchgesetzt haben (vgl. ebd.). Diese von Kenichi Fujimoto (2005) als „the girls’ pager revolution“ bezeichnete Popularisierung mobiler Technologien durch weibliche Jugendliche und junge Frauen konterkariert die Logik technikdeterministischer Vorstellungen und untermauert im Sinne eines ‚social shaping of technology‘ die Relevanz menschlicher Entscheidungen und Aktionen im Prozess technologischen Wandels (vgl. Lievrouw 2006: 248). „Young girls’ communication cultures took up a technology in a unique way and piloted new social practices, which in turn informed the design of new technologies, which embodied these sociocultural innovations. In turn, these technologies (such as the text-enabled PHS and cellular phone) became ambassadors for new social and cultural practices in a broader cut of the Japanese public.“ (Ito 2004: 4)
Doch auch wenn hier die Rolle japanischer Frauen bei der Etablierung eines neuen Technologiestandards und damit zusammenhängender kultureller Praktiken herausgestellt wird, bleibt kritisch zu hinterfragen, als wie groß das Maß weiblicher Ermächtigung anzusehen ist, wenn sich die Rolle der Frau in der Verkörperung eines neuen Konsumentinnentyps erschöpft (vgl. Castells u.a. 2004: 110). Diesem Einwand kann man mit dem Hinweis begegnen, dass bei der Entstehung von mobilkommunikationsbezogenen Innovationen in Japan Frauen auch auf der Produktionsseite eine wesentliche Rolle gespielt haben. Deutlich wird dies an der erfolgreichen Karriere von Mari Matsunaga, einer der EntwicklerInnen von i-mode, dem ersten mobilen Internetdienst auf dem japanischen Mobilfunkmarkt, der den Erfolg des keitai massiv vorangetrieben hat. Matsunaga gelangte nach einer beruflichen Laufbahn als Herausgeberin und Geschäftsfrau an die 11 Mit John Fiske (2000), der sich in seinen Ausführungen an die Argumentation de Certeaus anlehnt, lässt sich hier nachvollziehen, dass Konsum nicht nur die Bestätigung einer herrschenden Ordnung bedeutet, sondern auch eine aktive Aneignung und eine Umdefinierung der Produkte erlaubt, die sich der ökonomischen Macht entziehen. 12 Mitte der 1990er Jahre, als die Reichweite des Pagers bereits ihren Zenit überschritten hatte, drängte mit PHS eine weitere mobile Kommunikationstechnologie auf den japanischen Mobilfunkmarkt. Es handelt sich dabei um einen alternativen Standard, der aufgrund vergleichsweise geringer Kosten und langer Akkulaufzeiten vor allem bei Schülerinnen sehr beliebt war, die den Geräten den Spitznamen picchi gaben (vgl. Kohiyama 2005: 64; Peil 2007).
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Spitze von NTT DoCoMo13 und galt damit per se als Herausforderung einer an Traditionen und Hierarchien festhaltenden patriarchalischen japanischen Gesellschaftsstruktur. Vehement trat sie für die Einfachheit und Zugänglichkeit des mobilen Onlineangebots ein und setzte dabei vor allem auf ein hohes Identifikationspotenzial der technologischen Innovation (vgl. Rohwer 2000; Stoker 2000). „For me, i-mode is a declaration of independence. It’s ‚I‘ mode, not company mode. That’s the message I wanted to deliver: this is me in individual mode. Japan’s system of lifetime employment, which always meant you had to live your life for the company, is crumbling. The ‚i‘ in i-mode is about the internet and information, but it’s also about identity.“ (Matsunaga, zit. nach Stoker 2000)
I-mode-fähige Mobiltelefone entpuppten sich bereits kurz nach ihrer Einführung im Jahr 1999 als riesige Verkaufsschlager bei den japanischen Kunden und machten NTT DoCoMo neben AOL zeitweise zum größten Online-Provider der Welt (vgl. Polatschek 2001; Stoker 2000).14 Mit i-mode und seinem kostengünstigen und anbieterübergreifenden E-Mail-Dienst konnten schriftliche Mitteilungen sowohl zwischen mobilen Geräten ausgetauscht als auch zu einem stationären Desktop-PC gesendet werden, was den Empfängerkreis mobiler Textnachrichten vervielfachte. Insgesamt wurden die multimedialen Möglichkeiten des keitai durch i-mode stark erweitert. Dies betraf nicht nur die mobile schriftliche Kommunikation, etwa durch in den Text integrierte Hyperlinks, sondern umfasste im weiteren Entwicklungsprozess auch Angebote wie Musikdownloads, mobiles Online-Shopping, Handyromane und Mobilfernsehen. In den strategischen Überlegungen bei der Konzeption des mobilen Internetdienstes spielte kawaii-Kultur eine wichtige Rolle. Ausgehend von der Beobachtung, dass sich in der Vergangenheit ein bestimmtes Pager-Modell besonders gut verkauft hatte, dessen Alleinstellungsmerkmal ein im Zeichenrepertoire enthaltenes Herzsymbol war, plädierte Matsunaga für den Zusatz von kleinen, stimmungsvollen emojis in das bestehende Schriftangebot (vgl. Matsunaga 2001: 147ff.). Emojis – der Begriff setzt sich aus den Wörtern emotion und kanji15 zusammen – sind eine japanische Version der deutschen Emoticons, durch die in der Internetkommunikation anhand kleiner Motive und Symbole Gefühle und 13 NTT DoCoMo ist eine Tochtergesellschaft des staatlichen Unternehmens Nippon Telegraph and Telephone (NTT), das in Japan bis Mitte der 1980er Jahre das Monopol für Telekommunikationsdienste innehatte (vgl. Kohiyama 2005: 61f.). Das Unternehmen ist heute der größte Mobilfunkanbieter Japans und hat sich vor allem durch seine Erfindung von i-mode einen weltweit bekannten Namen gemacht. 14 Dabei ist i-mode jedoch nicht identisch mit dem World Wide Web. Vielmehr handelt es sich um einen kostenpflichtigen mobilen Zusatzdienst, mit dem einfache, auf einer an HTML angelehnten Programmiersprache basierende Internetseiten aufgerufen werden können, die von Vertragspartnern und unabhängigen Anbietern bereitgestellt werden. Mit dem immensen Erfolg dieses Dienstes befassen sich bereits zahlreiche Beiträge und Publikationen (vgl. u.a. Blankenstein 2004; Matsuda 2005; Polatschek 2001). 15 Kanji ist die Bezeichnung für chinesische Schriftzeichen, die im Japanischen Verwendung finden.
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Stimmungen ausgedrückt werden. Sie sollten Nähe zu den Lebenswelten junger Frauen und Mädchen herstellen und die zunächst fremdartige Technologie mit vertrauten und leicht zugänglichen Attributen ausstatten.
4. Virtuelle Freiräume und häusliche Enge: Facetten der Niedlichkeit im japanischen Medienalltag Obwohl individuelle Aneignungen des keitai geschlechterübergreifend praktiziert werden, nehmen Frauen diese Möglichkeiten bewusster wahr, wie Hjorth in ihrer Studie zur Präsenz der kawaii-Kultur innerhalb der keitai-Kommunikation festgestellt hat (vgl. Hjorth 2002: 53). Auf Basis ihrer Befragung weist Hjorth auf ds Spiel mit den vielfältigen Bedeutungen der Niedlichkeit hin, beispielsweise wenn Frauen die Figur Hello Kitty als Ausdrucksmittel gebrauchen, sich aber dennoch kritisch auf deren Rolle als Symbol für die marginalisierte Stellung der Frau in der japanischen Gesellschaft beziehen. Durch die Integration in die technisierte Welt der Mobilkommunikation erfahren die niedlichen Charaktere eine Re-Interpretation; nicht selten werden sie in ironisierender, die dominante Lesart unterlaufender Weise gebraucht (vgl. ebd.: 55). Die Bedeutungsvielfalt von kawaii-Charakteren zeigt sich bereits mit Blick auf die unterschiedlichen Formen der Selbstdarstellung in verschiedenen Lebensphasen, wie McVeigh (2000) am Beispiel von Hello Kitty unter dem Begriff der „intra-subjective diversity“ erläutert: „Through its marketing of Hello Kitty, Sanrio has made a concentrated effort to tie together within a single individual different modes of self-presentation that chronologically correspond to girlhood, female adolescence, and womanhood: ‚cute‘, ‚cool‘, and ‚camp‘.“ (ebd.: 226f.)
Während Kinder Hello Kitty meist einfach nur niedlich finden, werden die Accessoires von erwachsenen Frauen aus nostalgischen Gründen gekauft oder als camp – als Übertreibung und ästhetische Spielerei – angeeignet (vgl. Sontag 1982). Auch in den Händen japanischer Männer sind Mobiltelefone mit Hello Kitty Anhängern zu finden, entweder um ihre Idealvorstellungen einer traditionellen Weiblichkeit zu symbolisieren oder um als männlicher Konsument auf ironische Weise mit den an sie herangetragenen Bedeutungen zu spielen (vgl. Hjorth 2002: 55). Mit dem Gebrauch niedlicher Symbole und Zeichen können – in dem für die kawaii-Kultur so spezifischen Balanceakt – Stereotype bekräftigt, aber auch untergraben werden. Gerade Hello Kitty bietet aufgrund ihres umstrittenen Wesens als passives Kätzchen eine Plattform für ambivalente Lesarten, die sich auf Genderaspekte und weibliche Identität beziehen. Hier lässt sich an die Arbeiten Judith Butlers anknüpfen, deren Auseinandersetzung mit der Performativität geschlechtlicher Identität die Möglichkeiten der Improvisation und des Spiels mit Vorstellungen und Ausdrucksformen von Identität betont. Diese
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finden ihre Schranken jedoch immer innerhalb gesellschaftlicher Normen und Machtstrukturen (vgl. Butler 1990, 2004). Ein besonderer Aspekt dieser Machtstrukturen, in denen sich die kawaiiKultur entfaltet, ist eine im Gegensatz zur westlichen Kultur stärkere Betonung von Werten wie Gruppenzugehörigkeit und Kollektivismus, die einer Orientierung an individuellen Bedürfnissen und Interessen häufig im Weg stehen.16 Das Leben vieler Japanerinnen und Japaner sei, so Manfé (2005: 35), zu einem Großteil fremdbestimmt, es werde von klein auf gelernt, Kollektiventscheidungen zu akzeptieren und nicht zu hinterfragen. Daneben tragen sicherlich auch der begrenzte Lebensraum17 und die beengten Wohnverhältnisse in den urbanen Ballungszentren dazu bei, dass selbst im privaten Bereich zunächst auf die Belange der familiären Gemeinschaft Rücksicht zu nehmen ist, bevor eigene Bedürfnisse geltend gemacht werden können. In Verbindung mit kawaii-Kultur bietet das keitai einen flüchtigen und weitgehend sanktionsfreien Raum, in dem mit verschiedenen, auch non-konformen, Bedeutungen gespielt werden kann. Figuren wie Hello Kitty dienen dabei als Projektionsfläche für die Darstellung persönlicher Einstellungen und Interessen. Durch die Integration der Figuren in einen eigenen ‚Look‘ (vgl. Fortunati 2005: 229) demonstrieren die Nutzerinnen und Nutzer individuellen Stil, geben zugleich aber dem Konformitätsdruck nach, der von der Dominanz dieses Konsumtrends ausgeht (vgl. McVeigh 2000: 227, 234f.). Auf der Software-Ebene des Mobiltelefons kann der Hang zur Niedlichkeit sogar noch offener, von der Außenwelt unbemerkter, ausgelebt werden, zumal es dank des mobilen Internets eine Flut spezialisierter Angebote für persönliche Modifikationen des keitai gibt. Dies betrifft nicht nur Display-Hintergründe und Klingeltöne, sondern auch Dating-Seiten und keitai-Netzwerke, auf die per Mobiltelefon zugegriffen wird. Sie stellen virtuelle (Frei-)Räume dar, in denen in Parallelwelten abgetaucht und mit der Bedeutungsvielfalt niedlicher Charaktere gespielt werden kann, ohne dass dabei soziale Sanktionen gefürchtet werden müssen. Die an die kawaii-Kultur angelehnten Aneignungspraktiken haben eine kulturelle Sphäre ‚feminisiert‘, die traditionell einer männlichen Definitionsmacht unterstellt ist. Diese Form weiblicher Ermächtigung findet jedoch vor dem problematischen Hintergrund einer wertkonservativen und hierarchischen Gesellschaft statt, in der an traditionellen Geschlechtervorstellungen festgehalten wird. Hier gibt es nur wenig Raum für die Entfaltung einer nicht-konformen Identität. 16 Ein einfacher Dualismus zwischen Japan und dem Westen wird jedoch zu Recht oft als kritisch bewertet (vgl. u.a. Hendry 2003). 17 Als Inselstaat, der aufgrund der aus Bergen, Wäldern und Vulkanen bestehenden Landschaft zu großen Teilen nicht besiedelbar ist, ist Japan von einer Knappheit des Raums geprägt, die als ein bedeutsames Motiv der japanischen Identität wahrgenommen wird. Vom ‚Volk ohne Raum‘ ist beispielsweise die Rede oder auch von Japan als „compact culture“ (Lee 1982).
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Abbildung 4: Keitai und kawaii-Kultur als persönliche Ausdrucksmittel
Mit dem keitai ist es zwar möglich, den virtuellen Raum im Alltag symbolisch zu verdichten (vgl. Fiske 1992: 156). Aber dieses Moment der Ermächtigung ordnet sich in Machtstrukturen ein, die noch immer die Möglichkeiten der (weiblichen) Selbstverwirklichung einschränken. Das kreative Potenzial des Alltags entfaltet sich, wie de Certeau (1999) darstellt, in Handlungen der Aneignung und nicht der Subversion.
5. Potenziale der Niedlichkeit für den Zugang zu digitalen Technologien Kawaii-Kultur hat viel dazu beigetragen, das mobile Internet in Japan für diejenigen Nutzergruppen attraktiver und zugänglicher zu machen, die zuvor von der Internetnutzung ausgeschlossen waren. Insbesondere bei jüngeren und einkommensschwachen Nutzergruppen ist es häufig das keitai, das den entscheidenden Impuls für den Erstkontakt zum Internet gibt (vgl. Kaigo 2003: 79). Aber auch viele weibliche Nutzerinnen, die aufgrund ihrer familiären Stellung als Hausfrau und Mutter keine berufsbedingten Berührungspunkte mit dem Internet haben, finden den Zugang zum Internet über ihr Mobiltelefon (vgl. Dobashi 2005). Durch die vermittelnde Funktion der kawaii-Kultur ist der mobile Netzanschluss häufig mit weniger Schwellenangst verbunden als die Onlinenutzung am heimischen PC zu Hause.18 18 Daneben spielen sicherlich auch die einfache Bedienbarkeit von i-mode und eine vergleichsweise unkomplizierte und günstige Bereitstellung des Zugangs eine maßgebende Rolle für die massenhafte Adaption des mobilen Internets (vgl. Matsuda 2005: 33).
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Dem Mobiltelefon wird daher ein großer Anteil daran zugesprochen, dass Japan Ende der 1990er Jahre seinen Rückstand in der Internetreichweite aufholte, die damals bei nur 21,4 Prozent lag (vgl. Matsuda 2005: 33). Zwei Jahre nach der Einführung von i-mode hatte sich diese Zahl bereits mehr als verdoppelt (vgl. ebd.) und im Jahr 2005 griffen erstmals sogar mehr Japanerinnen und Japaner per keitai auf das Internet zu als von einem stationären PC aus (vgl. MIC 2006). Dank der Popularität des mobilen Internets hat sich der ‚Digital Divide‘ in Japan in den letzten Jahren deutlich verringert – vor allem hinsichtlich der Kategorien Geschlecht, Einkommen und Wohnort. Heute bestehen in Japan nur noch zwischen den sehr alten und jungen Altersgruppen deutliche Unterschiede, was den Zugang zu digitalen Technologien angeht (vgl. ebd.; Peil 2007). Doch bezüglich seines emanzipatorischen Potenzials erfahren die an das internetfähige Mobiltelefon geknüpften Hoffnungen eine Einschränkung, wie Dobashi (2005) anhand seiner Studie über die keitai-Kommunikation japanischer Hausfrauen verdeutlicht. Demnach trage die Technologie im häuslichen Alltag nicht dazu bei, bestehende Geschlechterrollen in Frage zu stellen, sondern diese zu stabilisieren (vgl. ebd.: 220). Ähnlich wie Modleski (1987) in ihrer Arbeit über das Fernsehen und die Rhythmen der Hausarbeit veranschaulicht, korrespondiert auch die Nutzung des keitai mit der zeitlichen und organisatorischen Struktur häuslicher Pflichten und wird damit zum Komplizen der Reproduktion und Affirmation traditioneller Aufgaben- und Rollenverteilung. „In light of these advantages of keitai for housewives, it appears to be an empowering medium that supports their activities. However, there is a subtle undertone in these remarks; on the one hand, keitai assists housewives’ activities, but on the other hand, it reinforces and reproduces their roles. In other words, keitai enable housewives to use e-mail and the Internet while taking care of their existing responsibilities.“ (Dobashi 2005: 225)
Obwohl das keitai als Basistechnologie eine größere Nähe gerade zum weiblichen Lebensalltag aufweist und durch die Affinität zur kawaii-Kultur aneignungsfähiger ist als der PC, damit also den Zugang zum Internet mit seiner Vielfalt an Informationsofferten erleichtert, birgt es mehr als der PC das Risiko einer einseitigen und eingeschränkten Internetnutzung. Die das keitai und sein kostspieliges Unterhaltungsrepertoire nutzenden Frauen ordnen sich in eine neue Form des Konsumismus ein, die ihre traditionelle Rolle bestätigt und die Möglichkeiten eines Machtgewinns durch den differenzierten Gebrauch der Technologie kontrastiert.
6. Fazit: „kawaii“-Kultur, „keitai“ und die Ambivalenzen des Alltags Die Komplexität und Zwiespältigkeit der kawaii-Kultur erschweren ein abschließendes Urteil über ihre Bedeutung für die Aneignung mobiler Kommunikationstechnologien. Es bleibt festzuhalten, dass die im japanischen Alltag geschlechter-
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übergreifend praktizierte Einbindung des keitai in eine omnipräsente Kultur der Niedlichkeit als Indiz für einen allmählichen Wandel bestehender Geschlechterstrukturen und Dominanzverhältnisse anzusehen ist. Auch wenn Alltag im Sinne de Certeaus eher Anpassung als Subversion verheißt, so lässt sich gleichwohl damit ein strategisches Potenzial der Veränderung verknüpfen, das in der kawaiiKultur zum Tragen kommt. Das keitai eröffnet einen sanktionsfreien, flüchtigen Raum, der zur virtuellen Spielwiese für die ebenso flüchtigen Übertretungen der kawaii-Kultur wird, in denen geschlechtsspezifische Zuschreibungen und Identitätsvorstellungen zwar nicht überwunden, aber in Frage gestellt werden. Es wird aber nicht nur dieser (Frei-)Raum geschaffen, sondern kawaii-Kultur zeigt auch ihr Potenzial, Nutzungs- und Produktionsverhältnisse nachhaltig zu verändern. Indem mobile Technologien mit Attributen der Weiblichkeit und des Kindlichen versehen werden, wird ein vormals männlich definiertes Terrain vereinnahmt, auf dem Frauen nicht nur als Konsumentinnen, sondern auch auf Produzierendenseite in Erscheinung treten. Das Potenzial der kawaii-Kultur zeigt sich dabei vor allem in ihrer Vermittlungsleistung zwischen Alltag und Technik, wodurch gerade vielen technikfernen Menschen und somit vielen Frauen der Zugang zu dieser Domäne erleichtert wird: „It is this marriage of kawaii familiarity with new technologies that can offer insights into shifting gender, sexual and age dynamics within contemporary Japan.“ (Hjorth 2002: 51) All diese Praktiken finden ihre Grenzen jedoch innerhalb der immer noch vorherrschenden traditionellen Geschlechterund Gesellschaftsstrukturen in Japan, die nur eine allmähliche Veränderung der Verhältnisse zulassen. Daher kann den alltagskulturellen Praktiken der Verniedlichung auch vorgeworfen werden, dass sie vielfach nur dazu dienen, kontroverse und konfliktreiche Inhalte herunterzutönen, aber keinen tatsächlichen Wandel oder eine Verschiebung der Machtverhältnisse in Gang setzen. Zudem ist nicht zu übersehen, dass die Verbindung von Niedlichkeit und Mobilkommunikation als Teil einer ‚Ideologie des Konsumismus‘ verstanden werden kann (vgl. McVeigh 2000). Dass kawaii-Kultur in diese Ideologie und die damit verbundene Macht der Produzierenden verstrickt ist, gleichzeitig aber überaus produktive Möglichkeiten bietet, sich Technologien zu eigen zu machen, steht für eine Ambivalenz, die konstitutiv für den Alltag und „die Kunst des Handelns“ ist (de Certeau 1988).
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Die kommunikative Vernetzung in der Diaspora: Integrations- und Segregationspotenziale der Aneignung digitaler Medien in ethnischen Migrationsgemeinschaften Andreas Hepp & Caroline Düvel
1. Einleitung: Ethnische Migrationsgemeinschaften in der „Netzwerkgesellschaft“ Betrachtet man die bisherige kommunikations- und medienwissenschaftliche Forschung zu Medien und Migration, so befasst sich diese in der Tendenz entweder mit der Frage der Repräsentation in Fernsehen, Radio, Print und Film, mit dem Zugang zum Berufsfeld des Journalismus oder mit der Nutzung bzw. Aneignung von (Massen-)Medien. Im Kern geht es um die Frage, welchen Beitrag (Massen-)Medien als Organisationen, Inhaltsangebote bzw. Nutzungsressourcen für die gesellschaftliche Integration von ‚ethnischen Minderheiten‘ in Nationalkulturen bzw. Nationalstaaten leisten können. In diesem Artikel wollen wir die These vertreten, dass eine solche Perspektive nicht hinreichend ist, wenn man die Aneignung von digitalen Medien in ethnischen Migrationsgemeinschaften bzw. die damit verbundenen Integrations- und Segregationspotenziale fassen möchte. Mit ‚digitalen Medien‘ bezeichnen wir alle Formen einer im erweiterten Sinne zu verstehenden computervermittelten Netzkommunikation, wozu wir neben WWW, E-Mail, Social Software/Web 2.0 und anderen Kommunikationsformen des Internets auch das Mobiltelefon zählen. Trotz ihrer Unterschiedlichkeit teilen diese Medien die Charaktereigenschaft, dass sie einer wie auch immer gearteten kommunikativen Konnektivität bzw. Vernetzung dienen. Wie wir an anderer Stelle argumentiert haben (vgl. Hepp 2008b), macht es für eine Auseinandersetzung mit der Aneignung von digitalen Medien in DiasporaGemeinschaften Sinn, Überlegungen von Manuel Castells zur Kommunikation in der Netzwerkgesellschaft aufzugreifen. Über diese wird die Spezifik des Forschungsfelds digitale Medien und Migration deutlich und damit auch die Notwendigkeit, bestehende Ansätze und Paradigmen zu überdenken bzw. weiterzuentwickeln. Im Kern hebt das Konzept der Netzwerkgesellschaft von Manuel Castells darauf ab, dass sich egozentrierte – also personenbezogene – Netzwerke zunehmend
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als das zentrale soziokulturelle Organisationsprinzip von Kultur und Gesellschaft etablieren. Zwar ist das Netzwerk im Sinne einer auf eine spezifische Weise strukturierten Beziehung zwischen zwei oder mehreren Personen eine historisch sehr alte Form der Organisation sozialer Beziehungen. Die gesellschaftliche Reichweite dieses Organisationsprinzips war aber durch die Notwendigkeit von physischer Kopräsenz für (kommunikative) Vernetzung bzw. eine eingeschränkte kommunikative Erreichbarkeit unterschiedlicher Personen eines Netzwerks mittels traditioneller Medien deutlich begrenzt. Mit den digitalen Medien konnten diese „historischen Beschränkungen“ (Castells 2006: 4) aufgehoben werden. Kennzeichen einer in diesem Sinne verstandenen Netzwerkgesellschaft ist auf Ebene des bzw. der Einzelnen ein „vernetzter Individualismus“ (Castells 2005: 129). Dieser lässt sich anhand von drei Punkten umreißen. Erstens fasst Castells – ähnlich dem Konzept der Individualisierung von Ulrich Beck (1994) – damit nicht Vereinzelung o.ä., sondern ein spezifisches gesellschaftliches Soziabilitätsmuster. Im Kern hebt das Konzept des vernetzten Individualismus darauf ab, dass „posttraditionale“ (Hitzler/Pfadenhauer 1998), also auf individueller Wahl beruhende, egozentrierte Netzwerke das an Relevanz gewinnende Muster der Soziabilität werden, anstatt traditioneller Vergemeinschaftungsformen (beispielsweise Stände oder Kirchengemeinden).1 Zweitens handelt es sich hierbei um spezialisierte Vergemeinschaftungen, bei denen ein bestimmter thematischer ‚Spezialbereich‘ wie beispielsweise Freizeitinteressen oder Musikstile wichtiger identitätsstiftender Bezugspunkt wird. Und drittens fungiert bei diesem vernetzten Individualismus Technologie als materielle Stütze. Insbesondere mittels digitaler Medien ist es vergleichsweise einfach geworden, solche egozentrierten Netzwerke im Alltag zu ‚organisieren‘. Sicherlich ist das Konzept der Netzwerkgesellschaft, wie es Manuel Castells entwickelt, in verschiedener Hinsicht nicht unproblematisch, beispielsweise wenn er dazu tendiert, ‚Netzwerk‘ in dem Sinne zu essentialisieren, dass er dieses nicht als eine Analysekategorie betrachtet, sondern als ein Phänomen der Objektebene.2 Gleichwohl machen uns diese Überlegungen auf wichtige Punkte aufmerksam, die wir im Blick haben müssen, wenn wir uns mit der Aneignung von digitalen Medien in ethnischen Migrationsgemeinschaften befassen möchten: Erstens müssen wir uns Gedanken darüber machen, ob wir Integration und Segregation bei digitalen Medien so einfach in Bezug auf national(kulturell)e Integration und Segregation beziehen können, wenn das Leben durch eine Vielfalt unterschiedlicher, im Fall von Migranten und Migrantinnen gerade auch staatenübergreifender Netzwerke gekennzeichnet ist. Zweitens müssen wir uns Gedanken darüber machen, was die Bezugspunkte unserer Analyse sind, wenn der Nationalstaat als 1 2
Zur Diskussion um posttraditionale Vergemeinschaftung siehe die Beiträge in Hitzler u.a. 2008. Vgl. zu einer detaillierten Kritik dieser Fragen Hepp 2008a.
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alleiniger Referenzpunkt problematisch wird. Und drittens schließlich sehen wir uns damit konfrontiert, ein sinnvolles methodisches Vorgehen zu entwickeln, um ‚kommunikative Vernetzung‘ bzw. ‚kommunikative Konnektivität‘ zu analysieren. Solche Überlegungen wollen wir in diesem Artikel in drei Argumentationsschritten darlegen. Zuerst geht es darum, die bestehende kommunikations- und medienwissenschaftliche Forschung zu ethnischen Migrationsgemeinschaften im Hinblick auf deren Übertragbarkeit auf digitale Medien zu reflektieren. Auf dieser Basis werden wir drei Ansatzpunkte für eine Neukonzeptionalisierung von Forschung in diesem Feld formulieren. In einem zweiten Schritt soll dies durch eine qualitative empirische Fallanalyse weiter untermauert werden, die an dieser Stelle gleichwohl nicht den Status einer umfassenden empirischen Studie, sondern vielmehr den eines veranschaulichenden Beispiels hat.3 Abschließend folgen einige Anmerkungen für weitere Forschungsperspektiven. Bei unseren Darlegungen handelt es sich um theoretische Vorarbeiten bzw. eine als Dissertationsprojekt realisierte empirische Studie im Kontext eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanzierten Projekts zum Thema „Integrationsund Segregationspotenziale digitaler Medien am Beispiel der kommunikativen Vernetzung von ethnischen Migrationsgemeinschaften“.4
2. Neukonzeptionalisierungen: Von der ethnischen Minderheit zur Diaspora Wie wir bereits herausgestellt haben, ist die kommunikations- und medienwissenschaftliche Diskussion um Medien und ethnische Migrationsgemeinschaften klar durch Fragen der Integration geprägt. Im Fokus der Auseinandersetzung steht die Beschäftigung damit, welchen Beitrag (Massen-)Medien für die Integration von Migrantinnen und Migranten in Nationalgesellschaften bzw. Nationalkulturen leisten können. In dieser Diskussion lassen sich zwei Pole ausmachen (vgl. überblickend Geißler/Pöttker 2006b; Bonfadelli 2007): Der erste Pol ist der des Beitrags von (Massen-)Medien für eine umfassende kulturelle Integration im Sinne einer „Assimilation“ (Esser 2000). Der zweite Pol ist der des Postulats, dass insbesondere „Ethno-Medien“ (Weber-Menges 2006) eine fortschreitende Segregation von Gesellschaft vorantreiben. Die Forschung zu ethnischen Migrationsgemeinschaften ist in der deutschsprachigen Kommunikations- und Medienwissenschaft spätestens seit den 1970er Jahren eine feste Größe, wobei das zentrale Stichwort ‚ethnische Minderheiten3 4
Für weitere empirische Forschung zu dieser Thematik siehe beispielsweise Düvel 2006; Hepp 2007 und Hepp 2008b. Nähere Informationen zu diesem am IMKI, Universität Bremen realisierten Projekt finden sich auf der Website http://www.imki.uni-bremen.de/, Bereich Forschung.
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forschung‘ auf den Fokus der Diskussion verweist: Gemeinsam ist den verschiedenen Arbeiten eine Ausrichtung auf die Frage, welchen Beitrag Medien für die national(kulturell)e Integration von ethnischen Minderheiten leisten können (vgl. Bonfadelli/Moser 2007; Geißler/Pöttker 2006a). Eine Beschäftigung mit der Frage, welche Medien die Angehörigen von ethnischen Minderheiten wie nutzen, liegt bei einer Auseinandersetzung mit dem Integrationspotenzial von (Massen-)Medien insofern nahe, als sich erst durch eine Betrachtung der Mediennutzung von ethnischen Minderheitenangehörigen klären lässt, ob sich diese in einem ‚Medien-Getto‘ befinden oder aber in den Kommunikationsraum der ‚Mehrheitsmedien‘ integriert sind. Den Ausgangspunkt bildeten hier anfangs Studien zur Nutzung von speziellen Minderheitenangeboten des öffentlich-rechtlichen Hörfunks und Fernsehens (Bonfadelli/Moser 2007; Geißler/Pöttker 2006a). 1996 wurde vom Zentrum für Türkeistudien im Auftrag des Presse- und Informationsdienstes der Bundesrepublik eine Telefonbefragung zur Mediennutzung von türkischen Migranten und Migrantinnen durchgeführt, die deswegen auch in der öffentlichen Diskussion thematisiert wurde, weil sie die These einer einfachen Gettoisierung widerlegen und vielmehr die Tendenz zu einer Nutzung sowohl deutscher als auch türkischer Medienangebote aufzeigen konnte (vgl. Güntürk 1999; Güntürk 2000). Diese Ergebnisse wurden nochmals bestätigt durch eine Studie von Hans-Jürgen Weiß und Joachim Trebbe (Weiß/Trebbe 2001; Trebbe 2007), die ebenfalls im Auftrag des Presse- und Informationsdienstes der Bundesrepublik realisiert wurde, sowie jüngst von der Studie „Migranten und Medien 2007“ der ARD/ZDF Medienkommission (Simon 2007). Mit russischen Aussiedlern und deren Mediennutzung befasst sich ein von Barbara Pfetsch (1999) realisiertes Forschungsprojekt. Die Untersuchung weist wiederum darauf hin, dass die komplexe Identitätsartikulation der (russischen) Aussiedler mit ihrer formalen staatsbürgerlichen Gleichstellung im Spannungsfeld der Nutzung von deutschen, russischen und Minderheiten-Medien erfolgt. In einen solchen Fokus fügen sich auch weitere Studien bzw. Forschungsüberblicke ein,5 wobei die verschiedenen Arbeiten mit ähnlichen Interpretationsrahmen der Ergebnisse arbeiten: Während es bei einer Nutzung von ‚Heimat-Medien‘ eher um eine Orientierung über die Geschehnisse in der ‚Herkunfts-Kultur‘ geht und bei einer Nutzung ‚deutscher Medien‘ eher um eine Orientierung über die Geschehnisse in der ‚Gast-Kultur‘, so hat die Nutzung von ‚Minderheiten-Medien‘ einen vermittelnden Charakter (vgl. auch Müller 2005: 381f.). Wiederum fällt allerdings auf, in welchem Maße Fragen der national(kulturell)en Integration nach wie vor im Fokus der deutschsprachigen kommunikations- und medienwissenschaftlichen Auseinandersetzung sind. 5
Vgl. Becker/Calagan 2002; Caglar 2002; Dresbach 2002; Goldberg/Sauer 2003; Hafez 2002; Piga 2007; Schneider/Arnold 2004; Schulte 2002; Sen 2001; Venema/Grimm 2002.
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In Abgrenzung dazu hat in der internationalen Diskussion – und hier werden Forschungen zur Globalisierung der Medienkommunikation und transkulturellen Kommunikation breit aufgegriffen – ein anderer Blickwinkel der Betrachtung von Medien und ethnischen Minderheiten an Relevanz gewonnen (Gillespie 2002; Silverstone 2002; Kosnick 2008). Bei diesem geht es um die Stabilisierung von Vergemeinschaftungen der Diaspora durch eine Intensivierung von internen Kommunikationsprozessen. Das Konzept der Diaspora fasst dabei so viel wie das Netzwerk einer vorgestellten ethnischen Vergemeinschaftung von Personen, die dauerhaft außerhalb der Lokalitäten ihres geografischen Ursprungs über unterschiedliche Territorien unterschiedlicher (National)Staaten verteilt leben (Hepp 2006: 285). Gerade in Bezug auf Medien ist mit dem Konzept der Diaspora eine im Vergleich zur deutschen Forschung grundlegend andere Orientierung bzw. Umorientierung verbunden (vgl. überblickend Dayan 1999; Georgiou 2006: 39ff.): Es geht nicht (unproblematisiert) um die Frage, welchen Beitrag Medien zur Integration von Minderheiten in die jeweilige ‚Gast-Gesellschaft‘ leisten bzw. leisten können, sondern viel offener um die Frage, welche Rolle Medien bei der Konstitution von verschiedenen (transnational bestehenden) Diasporas spielen. Dabei ist auch die Frage nicht unumstritten, inwieweit Diasporas als Vergemeinschaftung zu fassen sind bzw. wird darauf hingewiesen, dass auch bei einer Theoretisierung von Diasporas als vorgestellter Gemeinschaft deren Diversität und Fragmentiertheit zu berücksichtigen ist. Insgesamt wird damit eine ‚klassische‘ Forderung von Philip Schlesinger (1987) in Bezug auf ethnische Migrationsgemeinschaften umgesetzt, nicht nach der Wirkung von Medien auf Identität zu fragen, sondern die Rolle von Medien bei der Identitätsartikulation zu untersuchen. In dieser Tradition wurden verschiedene, international einflussreiche Studien realisiert. Diese betreffen eine Auseinandersetzung mit traditionellen Massenmedien wie Film und Fernsehen für die Konstitution und Aufrechterhaltung von Gemeinschaften der Diaspora (vgl. beispielsweise Aksoy/Robins 2000), aber auch die Relevanz des Internets für die Diaspora-Bildung (u.a. Miller/Slater 2000). Mittlerweile findet das Konzept der Diaspora daneben Eingang in weitere Arbeiten zur Aneignung digitaler Medien wie beispielsweise des Mobiltelefons (Düvel 2006; Hepp 2007; Paragas 2005). Über die Differenz ihrer vielfältigen Einzelergebnisse hinweg treffen sich solche neueren, am Konzept der Diaspora statt an dem der ethnischen Minderheit ausgerichteten Untersuchungen in dem Punkt, dass sie mit fortschreitender Globalisierung der Medienkommunikation (und damit der Verfügbarkeit von ‚Heimat-Medien‘ und/oder ‚Ethno-Medien‘ in verschiedensten Regionen der Welt) bzw. mit fortschreitender Etablierung der digitalen Medien eine Tendenz zu einer zunehmenden Stabilisierung von ethnischen Gemeinschaften der Diaspora ausmachen. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist nach wie vor eine Studie von Miller und Slater (2000) zur Aneignung des Internets bei den
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Trinis sowohl in Trinidad als auch in der Diaspora. Die Studie kann zeigen, dass die Etablierung des Internets eher zu einer Präsentation eines ‚Trini-Nationalismus in der Fremde‘ führte und damit das zuvor verbreitete Alltagskonzept der verschiedene Nationen umfassenden ‚karibischen Diaspora‘ ablöste. ‚Integration‘ und ‚Segregation‘ werden in diesen Studien also nicht einfach in Bezug auf eine ‚aufnehmende Gesellschaft‘ diskutiert, sondern in dem wesentlich komplexeren Rahmen der Integration in bzw. Segregation von verschiedenen, sich überlappenden Netzwerkbildungen bzw. Vergemeinschaftungen (der Diaspora, der Nation etc.). In welchem Maße das Konzept der Diaspora neben einem allgemeinen Relevanzgewinn von ‚Ethno-Medien‘ auf eine fortschreitende Aneignung digitaler Medien in ethnischen Minderheitengemeinschaften verweist, machen auch bestehende Fallstudien im deutschsprachigen Raum deutlich. Hier wird in Bezug auf ethnische Minderheiten-Angebote im Internet explizit von „digitaler Diaspora“ (Grassmuck u.a. 2000) gesprochen oder es werden Fragen der „virtuellen Ethnizität“ (Zurawski 2000) bzw. des „Cyber-Muslims“ (Dette 2003) diskutiert. Dabei verweisen diese analytischen Konzepte darauf, dass mit den digitalen Medien eine Intensivierung von Kommunikationsbeziehungen in den ethnischen Vergemeinschaftungen verbunden ist bzw. dass damit neue Räume einer Identitätsartikulation bestehen. Ähnliches gilt für empirische Analysen zu verschiedenen Ethnoportalen im Internet, in denen aus kommunikations- und medienwissenschaftlicher Perspektive, aber auch aus anderen Fachperspektiven die Frage diskutiert wird, welchen Stellenwert diese Portale für die Aufrechterhaltung von spezifischen Migrationsgemeinschaften haben (vgl. u.a. Androutsopoulos 2005; 2006; Faßler 2001; Hinkelbein 2004; Hugger 2005; Schulte 2003; Senay 2003). Solche zuerst einmal qualitativen Falluntersuchungen werden jüngst von standardisierten Untersuchungen gestützt, wie die Befragung von Beate Schneider und Anne-Katrin Arnold (2006), die das Integrationspotenzial des Internets durch einen Vergleich von deutsch-türkischen Nutzerinnen und Nutzern erforschen. Dabei kommen sie zu dem Schluss, dass „Befragte, die ein Ethno-Portal frequentieren, (…) einen etwas niedrigeren Integrationsgrad auf[weisen] als Teilnehmer, die das Internet nicht nutzen“ (ebd.: 107). Die Frage von Nutzung/Nicht-Nutzung scheint also relevant für die Abschätzung von Integrations- und Segregationspotenzialen im Hinblick auf Beteiligungschancen. Dies verweist darauf, dass Ethnoportale für die Befragten primär dazu dienen, eine „Gemeinschaft Gleichgesinnter“ (ebd.: 111) zu finden und in dieser zu chatten: „Das Internet ist ein Medium für Migranten, die eine Verbindung zu ihrer kulturellen Heimat suchen und ihre eigene kulturelle Identität stärken wollen.“ (ebd.: 113)6 6
Ähnliches stellen Ingegerd Rydin und Ulrika Sjöberg (2007: 293) für Schweden fest.
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Auch hier wird nochmals deutlich, dass digitale Medien wie das WWW oder der Chat einer Intensivierung der kommunikativen Vernetzung von ethnischen Minderheitengemeinschaften (Diasporas) zu dienen scheinen, die dann – in Bezug auf die gesamtdeutsche Gesellschaft – sowohl integrativ als auch segregativ wirken kann. Gleichwohl handelt es sich bei solchen Studien um Einzelbefunde, die bisher keine abschließende Einschätzung des Integrations- und Segregationspotenzials von digitalen Medien für ethnische Migrationsgemeinschaften ermöglichen. Dies hängt u. E. nicht zuletzt damit zusammen, dass die bisherige Forschung entweder einzelfallanalytisch vorgegangen ist (Forschung zu Medien und Diasporabildung) oder aber für Massenmedien entwickelte Begriffe und Methoden eins zu eins auf die Erforschung von digitalen Medien übertragen hat (Forschung zu Medien und ethnischen Minderheiten). Ausgehend von diesen Darlegungen möchten wir argumentieren, dass eine dreifache Neuausrichtung der Forschung zu Medien und Migration notwendig erscheint, wenn man die Integrations- und Segregationspotenziale digitaler Medien für diese fassen möchte. Dabei handelt es sich erstens um eine Neuausrichtung des Integrationsbegriffs, zweitens eine Neuausrichtung des grundlegenden Analyseparadigmas und drittens eine Neuausrichtung des methodischen Vorgehens. 1. Integrationsbegriff: Wie unsere bisherigen Darlegungen deutlich gemacht haben, ist die kommunikations- und medienwissenschaftliche Forschung zu Medien und ethnischen Minderheiten fest verbunden mit einer Vorstellung von (Massen-)Medien als Vermittlungsinstanzen für eine gesamtgesellschaftliche Integration (vgl. Maletzke 1980; McQuail 2005; Jäckel 2005). Hierbei lassen sich in der Vielfalt der Argumentationen zumindest zwei Tendenzen erkennen, wie Medien und Integration begrifflich miteinander verknüpft werden: Erstens kann Integration als kommunikative Homogenisierung, zweitens als die Herstellung kommunikativer und damit auch sozialer Relationen verstanden werden. Bei einem Verständnis von Integration als kommunikativer Homogenisierung wird davon ausgegangen, dass eine Integration durch Massenmedien dann zustande kommt, wenn ein möglichst einheitliches Medienangebot möglichst einheitliche Themen verhandelt, möglichst einheitlich genutzt wird und so zur Herstellung eines geteilten Normen- und Wertesystems führt (vgl. bspw. Schulz 2007; Vlasic/Brosius 2002). Bei einem Verständnis von Integration als kommunikativer Relation wird davon ausgegangen, dass das Bestehen wechselseitiger kommunikativer Referenzen und damit von Kommunikationsfähigkeit (Krotz 1998) entscheidend für gesellschaftliche Beteiligung ist. Dies ist unabhängig davon, ob diese Beteiligung konfliktorientiert (vgl. Weßler 2002) zustande kommt oder sich in inter-systemischen Relationen (vgl. Sutter 2002) ausdrückt. Trotz solcher Differenzen treffen sich beide Grundverständnisse von Integration und darauf aufbauende Untersuchungen gerade in der kommunikations- und medienwissen-
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schaftlichen Forschung zu ethnischen Migrationsgemeinschaften in der Annahme, dass Massenmedien deshalb ein Integrationspotenzial besitzen, weil sie über eine gesamte Gesellschaft und Kultur hinweg Kommunikation eröffnen. Exakt diese Grundannahme ist für digitale Medien allerdings nicht haltbar:7 Beide Zugänge einer massenkommunikativ orientierten Kommunikations- und Medienwissenschaft zu Integration erscheinen für eine Auseinandersetzung mit den Integrations- und Segregationspotenzialen digitaler Medien für ethnische Migrationsgemeinschaften nicht hinreichend, da diese Medien prinzipiell nicht auf solche Formen gesamtgesellschaftlicher Kommunikation fokussiert sind. Wir gehen vielmehr davon aus, dass mit der Etablierung der digitalen Medien ein Prozess der Transformation von Formen der kommunikativen Integration und Segregation einhergeht. Um diesen Transformationsprozess angemessen zu fassen, erscheint uns ein Integrationsbegriff zielführend, der an der Spezifik digitaler Medien ansetzt. So sollte u. E. (kommunikative) Integration in der ‚Netzwerkgesellschaft‘ als kommunikative Vernetzung und darauf gründende Beteiligungschancen verstanden werden (vgl. Hepp 2008b). Als Kriterium verwenden wir die empirisch feststellbare Vernetzung der Individuen und deren subjektive und objektive Bewertung. Ein breites Maß von Integration ergibt sich dann, wenn subjektiv aus der Perspektive der Einzelnen positiv zu bewertende Beteiligungschancen zu verschiedenen und möglichst unterschiedlichen (kommunikativen) Netzwerken bestehen und die digitalen Medien in einer Art genutzt werden, die diese Einbettung erhält bzw. verbreitert. Im Umkehrschluss hierzu verstehen wir unter (kommunikativer) Segregation eine Nichtteilnahme an digitalen Vernetzungen, wie es das Konzept der „digitalen Spaltung“ (Arnold 2003; Bonfadelli 1994; Kubicek/Welling 2000; Norris 2001) implizit postuliert, oder aber eine Vernetzung mit nur einem oder wenigen und gleichartigen kommunikativen Netzwerken, die insbesondere durch negative Abgrenzung gegenüber anderen Netzwerken gekennzeichnet sind. Die Art von Vernetzung auf der Basis digitaler Medien ist – so unsere an die These der digitalen Spaltung anknüpfende Annahme – zunehmend relevant für die Beteiligungschancen der Menschen in den für sie wichtigen Lebensbereichen. 2. Analyseparadigma: Der hier vorgeschlagene netzwerktheoretisch orientierte Integrationsbegriff macht bereits deutlich, dass damit auch ein erweitertes Analyseparadigma verbunden ist. In der klassischen Forschung zu Medien und ethnischen Minderheiten steht ein – wie der Begriff der Minderheit schon sagt – klar nationales bzw. nationalkulturelles Analyseparadigma im Vordergrund. Das 7
Es gibt auch vielfältige Argumente, dass sie in dieser Reinform für Massenmedien ebenfalls nicht tragfähig ist. So hat Nick Couldry (2006) darauf hingewiesen, dass in solchen Argumentationen ein funktionalistisches Postulat eines „mediated centre“ greifbar wird, d.h. eine Konstruktion eines medial vermittelten Zentrums von Gesellschaft, die es erst einmal kritisch zu analysieren gilt.
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heißt, mehr oder weniger unproblematisierter Ausgangspunkt ist die Frage der Integration einer ‚Minderheit‘ in die Nationalgesellschaft resp. Nationalkultur oder deren Segregation von der ‚Mehrheit‘ derselben. In Abgrenzung dazu hat die Forschung gezeigt, dass mit aktueller Migration und bestehenden transkulturellen Kommunikationsmöglichkeiten bzw. deterritorialen Kommunikationsräumen ein solches einfaches Analyseparadigma in der Form ‚Minderheit – Mehrheit‘ nicht mehr hinreichend ist. Wie Ludger Pries (2008) jüngst herausgearbeitet hat, sind ethnische Migrationsgemeinschaften bzw. Diasporas zumindest partiell als „Sozialräume jenseits von Nationalgesellschaften“ zu fassen, d.h. ein Ansetzen beim binären Analyseparadigma der Relation von (nationaler) Mehrheit und (ethnischer) Minderheit wird der Komplexität nicht hinreichend gerecht. Vor diesem Hintergrund erscheint auch für die Auseinandersetzung mit Medien und ethnischen Migrationsgemeinschaften ein transkulturelles Analyseparadigma zielführend (vgl. Hepp 2006, Hepp/Couldry 2009, Hepp 2009). Während ein nationales bzw. internationales Analyseparadigma dadurch gekennzeichnet ist, dass der (National-)Staat als ein territorialer Container begriffen wird und als Referenzpunkt der Analyse fungiert, ist ein transkulturelles Analyseparadigma an dieser Stelle weit offener. Rücken hier Fragen von Kultur ins Zentrum der Betrachtung, so fällt auf, dass einzelne kulturelle Verdichtungen nach wie vor staatsbezogen sind (bspw. in Bezug auf staatenkonstruierte Nationalkulturen), andere – und für Zeiten der Globalisierung von Medienkommunikation besonders charakteristische – kulturelle Verdichtungen jedoch nur über Staatsgrenzen hinweg bestehen. Beispiele für solche deterritorialen kulturellen Verdichtungen sind gerade Diasporas bzw. ethnische Migrationsgemeinschaften. Eine solche Perspektive versucht damit die Binarität einer internationalen Vergleichssemantik zu überwinden, ohne den Staat als eine mögliche Referenzgröße vom Vergleich auszuschließen. Konkret bedeutet dies, dass eine transkulturelle Vergleichssemantik nicht mit der Vorstellung der in Bezug auf Staaten abgeschlossenen Medienkulturen, Medienmärkte und Mediensysteme operiert, sondern mit der Vorstellung der Verdichtung solcher Phänomene im Rahmen übergreifender kommunikativer Konnektivitäten. Dies erscheint gerade für eine kommunikationsund medienwissenschaftliche Forschung zu ethnischen Migrationsgemeinschaften notwendig, da durch eine strikte Fixierung auf nationalstaatliche Integration die Spezifik bestehender Integrations- und Segregationsprozesse, die zumindest zum Teil ‚quer‘ hierzu liegen, nicht in den Blick kommt. 3. Methodik: Wie mehrfach herausgestrichen, wird das Potenzial von digitalen Medien (Internet, Mobiltelefon etc.) für Segregations- und Integrationsprozesse dann greifbar, wenn deren Relevanz für Prozesse der kommunikativen Vernetzung in den Fokus der Auseinandersetzung rückt. Geht man von diesen Überlegungen aus, so erscheint es notwendig, neben den bestehenden Verfahren und Methoden der kommunikations- und medienwissenschaftlichen Forschung
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zur Mediennutzung und -aneignung auch Vorgehensweisen der Netzwerkanalyse ernster zu nehmen. Ansätze hierzu bestehen bereits im Bereich der Forschung zu virtuellen Gruppen und Vergemeinschaftungen (beispielsweise Stegbauer/Jäckel 2007; Stegbauer/Rausch 2006; Thiedeke 2003). Diese gilt es allerdings wesentlich breiter in die kommunikations- und medienwissenschaftliche Forschung zu digitalen Medien und ethnischen Migrationsgemeinschaften einzubeziehen. Eine solche methodische Ausrichtung ist deshalb notwendig, weil – wie wir gezeigt haben – die bisherige Forschung auf Potenziale von digitalen Medien für eine Intensivierung der kommunikativen Vernetzung von ethnischen Minderheiten hinweist, die eigentlichen Prozesse der kommunikativen Vernetzung selbst aber nicht untersucht. Insbesondere liegen keine hinreichenden kommunikationsund medienwissenschaftlichen Ergebnisse dahingehend vor, wie kommunikative Vernetzung mittels digitaler Medien im Detail im Alltag von ethnischen Minderheitengruppen bzw. Diasporas vonstattengeht, wie die dabei ablaufenden Prozesse kommunikativer Vernetzung medienübergreifend theoretisch angemessen zu fassen sind und vor allem auch welche spezifischen Segregations- und Integrationspotenziale in Bezug auf welche Kontexte bestehen. Inwieweit die übergreifende Forschung zu diesen Fragen der kommunikativen Konnektivität aber in hohem Maße notwendig ist, wird deutlich, wenn man einbezieht, dass es hierbei nicht mehr nur um eine Auseinandersetzung mit herkömmlichen WWWSeiten oder Chat geht, sondern für kommunikative Vernetzung zunehmend auch Anwendungen des so genannten Web 2.0 (Social Software-Anwendungen) bzw. Mobilkommunikation zentral sind (vgl. Düvel 2009; Hepp 2007). Ein kommunikations- und medienwissenschaftliches Ansetzen bei diesen Zusammenhängen sollte deshalb aktuelle soziologische Methoden und Verfahren, gerade auch qualitativer Netzwerkanalyse, einbeziehen (siehe beispielsweise Schütze 2006; Scheibelhofer 2006; Kesselring 2006).
3. Kommunikative Konnektivitäten: Russische Bildungsmigranten als Fallbeispiel Wie eine solche Neuausrichtung von Integrationsbegriff, Analyseparadigma und Methodik sich in empirischer Forschung konkretisieren kann, wollen wir im Weiteren anhand einer Fallstudie zur russischen Diaspora in Deutschland deutlich machen. Unsere exemplarische Argumentation stützt sich dabei auf die Freundesclique von Martina (25), Ulina (25) und Xandra (26).8 Mit jeder dieser Personen wurden 2006 qualitative Interviews von ca. 45–60 Minuten zu deren Aneignung digitaler Medien bzw. zu deren kultureller Zugehörigkeit geführt. 8
Bei den Namen handelt es sich um Pseudonyme.
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Daneben wurden sie gebeten, qualitative Netzwerkkarten (Visualisierungen ihrer kommunikativen Vernetzung) zu erstellen und zu kommentieren. Gemeinsam ist Martina, Ulina und Xandra zuerst einmal ihre Migrationsbiografie: Alle drei kamen im Alter von ca. 20 Jahren aus derselben sibirischen Stadt nach Bremen, um als Au Pair-Mädchen ihre Deutschkenntnisse zu verbessern. Sie hatten in Sibirien ein Studium als Lehrerin für Fremdsprachen absolviert und standen kurz vor ihrem Berufseinstieg. In allen Fällen wurde die vorübergehende ‚Bildungsmigration‘ allerdings zur dauerhaften ‚Liebesmigration‘, da sie in Bremen Männer kennen lernten und mittlerweile z.T. auch heirateten. Aus diesem Grund setzten sie auch ihre Ausbildung in Deutschland fort und begannen ein neues Studium bzw. gründeten teilweise eine Familie. Martina hatte zum Zeitpunkt des Interviews ihr Studium unterbrochen, da sie mit ihrem russlanddeutschen Mann ein Kind bekommen hatte. Ulina lebte mit ihrem ebenfalls russlanddeutschen Freund zusammen und wollte 2008 ihr Studium der Wirtschaftswissenschaften abschließen. Xandra stand im Scheidungsprozess von ihrem deutschen Mann, mit dem sie einen Sohn hat, den sie täglich in der Kinderbetreuungsstätte der Universität abgab, um ihr BWL-Studium fortsetzen zu können. Parallelen zwischen den drei Frauen bestehen auch bei ihren sozialen Beziehungen. So sind sie alle drei Mitglieder einer lokalen russischen Clique und untereinander eng befreundet. Gleichzeitig hat jede von ihnen einen translokalen russischen Freundeskreis, der auf Freundschaften in Russland, die aus der Zeit vor ihrer Migration datieren, beruht. Kontakte werden daneben zu ihren Eltern und Geschwistern in Russland gehalten. Durch die Analyse dieses Fallbeispiels einer Clique wollen wir zeigen, dass spezielle kommunikative Konnektivitäten und der Lebenskontext in der Diaspora eng miteinander verknüpft sind. Charakteristisch ist eine Mehrfachvernetzung von russischen Diasporaangehörigen mittels digitaler Medien. Wie sich dies konkretisiert, wollen wir auf dreifache Weise fokussieren: erstens im Hinblick auf die Umgebungen verschiedener Medien, zweitens im Hinblick auf die Diasporainterne kommunikative Vernetzung und drittens im Hinblick auf die Diasporaexterne kommunikative Vernetzung. 3.1 Medienumgebungen kommunikativer Vernetzung Anhand der Interviews und Netzwerkkarten wird deutlich, in welchem Maße die besondere Lebenssituation der drei russischen Diasporaangehörigen durch kommunikative Vernetzungen geprägt ist, die mit unterschiedlichen Medien erfolgen. Wir können davon sprechen, dass die Medienaneignung der drei auf je spezifische „Medienumgebungen“ (Krotz 2007: 85ff.) verweist, d.h. auf charakteristische Sets von Medien, mittels derer ihre kommunikative Vernetzung erfolgt. Visuell greifbar wird dies in den Netzwerkkarten:
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Abbildung 1: Netzwerkkarten von Martina, Ulina und Xandra
Betrachtet man Martinas Netzwerkzeichnung, so fallen zwei Dinge auf: Erstens wird deutlich, dass ausgehend von ihrer Selbst-Repräsentation kommunikative Vernetzungsprozesse nicht nur durch digitale Medien (Mobiltelefon und Internet) stattfinden, sondern das Festnetztelefon („Tel“) ebenso zentral ist. Dieses ist das Medium, über das Martina mit allen Kommunikationspartnern, egal welchen Beziehungstyps, Kontakt hält. Damit hat es eine Zentralstellung in ihrer Medienumgebung. An dieser Netzwerkkarte fällt darüber hinaus auf, dass eine Gruppierung der Kommunikationsbeziehungen je nach kulturellem Kontext erfolgt: Martina hat alle ihre lokalen deutschen Kontakte auf der rechten Seite der Zeichnung um sich, vor allem aber um ihren Mann gruppiert. Ihre translokalen Kontakte zu ihren Freundinnen und Freunden, Verwandten und der Familie in Russland sind links angesiedelt. Jedoch benennt sie diese nicht explizit als russische Kontakte, sondern streicht vielmehr den lokalen Kontext ihrer Freundschaften und der angeheirateten Familie des Mannes heraus. Ähnliches wird an der Netzwerkzeichnung von Ulina deutlich. Ebenso wie Martina ist sie in lokal unterschiedliche Netzwerke eingebunden. Auf der rechten Seite der Zeichnung stellt sie die kommunikativen Beziehungen zu ihren in Russland lebenden Eltern, Freundinnen und Freunden dar. Auffällig ist, dass sie zu diesen ‚russischgeprägten‘ Kontakten auch die Partnerbeziehung zu ihrem russlanddeutschen Freund ansiedelt, obwohl diese ja im lokalen Umfeld besteht. Da Ulina keinen Festnetzanschluss besitzt, unterhält sie alle telefonischen Kom-
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munikationskontakte per Mobiltelefon. Dies ist für sie das primäre Medium, um im lokalen Umfeld ihre Eltern in Sibirien, ihre Freundinnen und Freunde, Arbeitskolleginnen und -kollegen sowie ihren Partner zu kontaktieren, wobei Anrufe vor SMS als Kommunikationsform dominieren. An Freunde in Russland schreibt Ulina regelmäßig SMS von ihrer deutschen Handykarte. Ergänzend dazu nutzt sie intensiv das Internet für den E-Mail-Austausch mit ihnen. Während Ulina zusätzlich auch Anrufe von einem Callshop nach Russland tätigt, wie sie im Interview angibt, ist Xandra die einzige der drei Frauen, die nahezu alle Kommunikationen mit ihrem deutschen Mobiltelefon erledigt. Dies gibt sie in der Zeichnung durch zwei Strichmännchen wieder, von denen eines ein Mobiltelefon hält. Die Männchen illustrieren gleichzeitig ihre beiden wichtigsten sozialen Beziehungsnetzwerke. Das linke Männchen steht für ihre translokalen Kontakte zur Familie in Sibirien, die sie zwei- bis dreimal pro Woche von ihrer lokalen Homezone aus anruft. Das andere Männchen steht für ihre Freundeskreise, von denen es zwei gibt: einen translokalen in Russland und einen lokalen, aber ebenfalls russisch dominierten in ihrem Wohnort. Diese Analysen weisen auf einen zentralen Punkt hin, der sich auch in dem weiteren von uns bisher untersuchten Material zeigt, nämlich die „Transmedialität“ (Hepp 2007: 41) kommunikativer Konnektivität. Das Schaffen und Aufrechterhalten von Kommunikationsnetzwerken geschieht über eine Vielfalt unterschiedlicher Medien hinweg, wobei sich digitale Medien mit anderen Medien zu einer für die Person je spezifischen Medienumgebung fügen. Während diese Transmedialität aller Wahrscheinlichkeit nach für die Aneignung digitaler Medien im Allgemeinen kennzeichnend ist, fällt darüber hinaus deutlich eine Besonderheit in der Diaspora auf: In diesen Medienumgebungen wird eine Mehrfachvernetzung gemanagt, die das lokale Kommunikations- und Beziehungsnetzwerk in Bremen und ein translokales Kommunikations- und Beziehungsnetzwerk in Russland bzw. zu weiteren Angehörigen der russischen Diaspora einbezieht. Dies macht ein doppeltes Vernetzungspotenzial digitaler Medien greifbar, nämlich sowohl in Bezug auf das Diaspora-Netzwerk (Diaspora-interne kommunikative Vernetzung) als auch in Bezug auf darüber hinausgehende Beziehungen (Diaspora-externe kommunikative Vernetzung). 3.2 Diaspora-interne kommunikative Vernetzung Diaspora-interne Vernetzungen verweisen neben der russisch geprägten Freundeskommunikation vor allem auf Familienkommunikation.9 Gemeinsam für alle 9
Man kann die Familienkommunikation insofern als Diaspora-interne Kommunikation charakterisieren, als auch da, wo die Familienangehörigen in Russland leben sich diese Kommunikation und ihre Themen auf den Sinnhorizont der Diaspora beziehen.
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drei Fälle ist die große Bedeutung der Familie. Um auch von Bremen aus am russischen Alltag der Familie in Sibirien teilhaben zu können, haben die drei Russinnen in ihrer Medienaneignung bestimmte Kommunikationsformen entwickelt, durch die sie räumliche Trennung überwinden und das translokale Netzwerk der russischen Familie in ihren deutschen Alltag einbeziehen. Xandra nutzt beispielsweise die Homezone ihres Mobiltelefons für Gespräche mit ihren Eltern in Russland, die mehrmals wöchentlich stattfinden: „Ich kann mir jetzt z.B. nicht vorstellen, dass ich kein Handy habe; weil ich habe meine Homezone so gewählt, dass ich fast überall in Bremen in der Homezone bin; und ich kann egal wo ich gerade bin nach Hause anrufen; ich telefoniere mit dem Handy nach Russland.“ (Xandra)
Auch für Martinas Aneignung des Mobiltelefons ist die Familienkommunikation prägend, jedoch bevorzugt sie einen kontinuierlichen SMS-Austausch mit ihrer Schwester, die nach wie vor in Sibirien bei ihren Eltern lebt, wobei letztere keinen Festnetztelefonanschluss haben. Die fortlaufende kommunikative Vernetzung mittels SMS findet teilweise ritualisiert statt, indem sie mit ihrer Schwester und ihren Eltern „einmal pro Tag“ SMS austauscht, um „einfach zum Beispiel schönen Tag [zu] wünschen oder [zu] sagen, dass ich eine Prüfung bestanden habe“ (Martina). Ulina wiederum kauft in Callshops regelmäßig Telefonkarten für Gespräche nach Russland und ruft so einmal wöchentlich ihre Eltern an. Zudem ist ihr die permanente Erreichbarkeit per Mobiltelefon für ihre Eltern extrem wichtig. Solche Interviewausschnitte belegen, dass das Mobiltelefon es trotz großer lokaler Distanz gestattet, durch eine fortlaufende kommunikative Vernetzung en passant in der Familie das Alltagsleben zumindest partiell zu synchronisieren. Eine solche translokal integrierende Familienkommunikation hat für die DiasporaAngehörigen einen erheblichen, das eigene Leben stabilisierenden Stellenwert. Ähnliches wird bei der russischen Freundeskommunikation greifbar. Lokal hat für die drei Diasporaangehörigen ihre Clique einen herausragenden Stellenwert. Da sie z.T. auch gemeinsam studieren, ist ein Großteil ihres sozialen Umfelds überwiegend russisch geprägt. Während der lokale Kontakt von Martina, Ulina und Xandra untereinander häufig via Mobiltelefonaten, SMS und auch per Kommunikation vom Festnetz erfolgt, wird gleichwohl auch der translokale Freundeskreis in Russland oftmals per SMS von demselben deutschen Handy kontaktiert. In den Worten Ulinas: „Ich kaufe die [Mobiltelefon-]Karte und dann melde ich mich sofort; ja z.B. meine Freundin […] sie hatte Probleme gehabt ne, da war alles irgendwie ganz komisch auf der Arbeit und ich hab SMS geschickt und sie hat geantwortet und dann haben wir den ganzen Tag gesimst.“ (Ulina)
In der translokalen russischen Freundeskommunikation hat neben dem Mobiltelefon das Internet eine hohe Relevanz. Beispielsweise wird von Ulina der Internettelefonanbieter ‚Skype‘ zur kostenfreien Telefonie nach Russland genutzt
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bzw. schreiben Martina, Ulina und Xandra regelmäßig mindestens einmal pro Monat ihren Freundinnen in Sibirien E-Mails. Dabei berichten sie über ihr Leben in Deutschland und tauschen Fotos aus. Wir sehen also auch über die Familienkommunikation hinaus Diaspora-integrierende Momente digitaler Medien. Sie haben ein Potenzial zur Konstitution von translokalen Netzwerken derselben kulturellen Zugehörigkeit. Digitale Medien tragen zu einer Stabilisierung bzw. einem Fortbestehen von Diasporagemeinschaften bei, indem sie die fortlaufende kommunikative Vernetzung mit ihresgleichen ermöglichen. 3.3 Diaspora-externe kommunikative Vernetzung Die dargestellte Diaspora-interne Integration durch digitale Medien bedeutet jedoch nicht zwangsläufig eine kommunikative Abschottung, wie sie mit dem Begriff der Segregation verbunden ist. Gleichzeitig erleichtern digitale Medien eine Diaspora-externe kommunikative Vernetzung. Dazu gehören im Fall der drei Russinnen weitere, im weitesten Sinne freundschaftliche Beziehungen zu Nicht-Diasporaangehörigen sowie kollegiale Beziehungen zu Kommilitoninnen und Kommilitonen im universitären Kontext (Arbeitsbeziehungen). Im Hinblick auf die Freundeskommunikation fällt auf, dass alle drei zwischen ihren russischen und weiteren, insbesondere deutschen Freundschaftsbeziehungen unterscheiden. Während zu anderen Russen lokal eine tiefe Verbindung besteht, beschreiben Ulina, Xandra und Martina ihre Kontakte zu deutschen Freunden als „oberflächlicher“. Insbesondere bei Xandra und Ulina haben sich diese freundschaftlichen Beziehungen aus dem Kontext ihrer (Neben-)Jobs entwickelt und sind in erster Linie durch die Hilfe und Unterstützung gekennzeichnet, die diese Personen den Diasporaangehörigen beim Sprachenlernen anbieten. Exemplarisch greifbar wird dieser eher distanzierte Charakter der Beziehungen an folgendem Zitat: „Ich kann sagen, dass die[s] Freunde für mich sind; aber die sind alle älter als ich, viel älter; das ist erstens meine Gastmutter – seit ich von ihr ausgezogen bin nach einem Jahr bis jetzt sind wir in Kontakt und wir waren zum Beispiel am Freitag zusammen im Theater ne und wir treffen uns, gehen manchmal zusammen essen.“ (Ulina)
Einer solchen distanzierten Haltung entspricht auch, dass die Kommunikationsbeziehungen nicht fortlaufend beispielsweise per SMS aufrecht erhalten werden, sondern ausschließlich (und wesentlich seltener) durch Anrufe und persönliche Treffen. Die kommunikative Vernetzung jenseits der Diaspora hat im Hinblick auf Freundschaften also eine sowohl bezogen auf Häufigkeit als auch bezogen auf Intensität geringere Qualität. Etwas anders sieht es bei der Arbeitskommunikation aus, d.h. im Falle der Studentinnen bei der Kommunikation mit weiteren Studierenden. Ulina, Martina
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und Xandra ziehen zwar auch hier eine klare Differenz zu ihren privaten Freundschaften, wenn sie beispielsweise wie Martina von „Bekannte[n] aus der Uni“ sprechen. Die Kommunikationsbeziehung zu den Mitstudierenden fasst sie wie folgt: „Ich kann nicht sagen, dass sie meine Freunde sind, aber wir kommunizieren ziemlich oft.“ (Martina) Betrachtet man die Spezifik dieser Arbeitskontakte genauer, so fällt Folgendes auf: An der Universität sind die drei Diasporaangehörigen einbezogen in ein multikulturelles Netzwerk. Neben deutschen Kommilitoninnen und Kommilitonen gehören beispielsweise sowohl Bulgaren als auch Türken dazu. Anders als die Freundes- oder gar Familienkommunikation hat der Kontakt zu Studierenden jedoch einen instrumentellen Charakter. Man trifft sich ausschließlich an der Universität, nie privat in der Freizeit, und bespricht Themen, die mit dem Studium verbunden sind, beispielsweise zur Vorbereitung von Referaten. Die hierzu notwendige Abstimmung findet per E-Mail statt, was an folgender Äußerung von Martina deutlich wird: „Besonders, wenn wir ein gemeinsames Projekt haben, dann schicke ich E-Mail.“ Oder in den Worten von Ulina: „Wenn es um Gruppenarbeit geht, […] wenn ich was geschrieben habe, dann schicke ich [per Mail] und dann bekomme ich zurück und dann bearbeiten und immer wieder hin und her.“ Es fällt also auf, dass digitale Medien auch für Diaspora-externe Kommunikation verwendet werden, hier aber vor allem in einer instrumentellen Modalität im Arbeitsumfeld. Damit zeigen sich unterschiedliche Qualitäten der kommunikativen Vernetzung in und jenseits der Diaspora: Diaspora-intern findet diese in einer hohen Intensität und fortlaufenden Häufigkeit statt, was gerade die Integration in dieser Vergemeinschaftung sichert. Diaspora-extern haben wir eher instrumentelle Vernetzungen bzw. einzelne Freundschaftsbeziehungen, die häufig aus eher funktionalen Kontakten (beispielsweise dem Sprachenlernen) erwachsen sind. Sicherlich eröffnet eine solche instrumentelle kommunikative Vernetzung Beteiligungschancen, wenn sie wie im Fall der Studentinnen konkret der eigenen Bildung dient. Gleichwohl hat sie damit im Hinblick auf Fragen der Identität und Zugehörigkeit einen untergeordneten Rang.
4. Fazit: Forschungsperspektiven Der aus der bestehenden Forschung hergeleitete Kernpunkt unserer Argumentation war, dass im Hinblick auf digitale Medien eine dreifache Neuausrichtung der kommunikations- und medienwissenschaftlichen Migrationsforschung notwendig ist: Erstens erscheint es zielführend, Integration neu zu konzeptionalisieren, nämlich als kommunikative Vernetzung und darauf gründende Beteiligungschancen. Zweitens ist ein transkulturelles Analyseparadigma notwendig, das
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nicht auf Einzelstaaten als ‚Container‘ fokussiert ist, sondern quer liegende Pluralitäten von Kommunikationsbeziehungen in der Diaspora und darüber hinaus zu fassen sucht. Und drittens sollten wesentlich stärker als bisher netzwerkanalytische Methoden in die Forschung integriert werden. Die Betrachtung unseres Fallsbeispiels hat darauf abgezielt, das Potenzial einer solchen Herangehensweise aufzuzeigen. Auf der Basis von qualitativen Netzwerkkarten und Interviews haben wir gezeigt, dass digitale Medien auch in Bezug auf die kommunikative Vernetzung von Diasporas nicht isoliert zu sehen, sondern transmedial eingebettet sind in für die Personen je spezifischen Medienumgebungen. Gleichzeitig kommt in diesen Medienumgebungen digitalen Medien ein wichtiger Stellenwert bei der staatenübergreifenden Aufrechterhaltung der untersuchten Diaspora-Gruppe zu. Digitale Medien gestatten eine intensive und qualitativ positiv bewertete interne kommunikative Vernetzung. Sie unterstützen gleichzeitig aber auch instrumentelle und untergeordnete, externe Beteiligungschancen. Sicherlich darf man die Ergebnisse dieses Fallbeispiels nicht überbewerten. So handelt es sich um eine Einzelgruppe mit vergleichsweise hohem Bildungsniveau. In diesem Sinne fügt sich das Fallbeispiel in die Vielzahl anderer Fallstudien ein, die bisher zu keiner hinreichend zusammenführenden Theoriebildung beigetragen haben. Entsprechend erscheint im Themenfeld der digitalen Medien und Migration eine breitere Forschung notwendig, um zu einer übergreifenden Theoriebildung zu gelangen, die das Integrations- und Segregationspotenzial digitaler Medien kritisch zu bewerten hilft. Dieses Unterfangen im Blick zeigt unser Fallbeispiel allerdings sehr deutlich, wie zielführend hierbei die geforderte dreifache Neuausrichtung der Forschung ist.
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„Man ist einfach rund um die Uhr Führungskraft“. Eine qualitative Studie zur Mediennutzung von Frauen in Führungspositionen Nathalie Huber
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Eine qualitative Studie zur Mediennutzung von Frauen in Führungspositionen
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mit spezifischen Mediennutzungsmustern interagiert. Irene Neverla (1992: 39) hat darauf hingewiesen, dass Frauen immer auch Hausfrauen seien und dies Medienzeithandeln beeinflusst. Qua Geschlechtszugehörigkeit hätten sie nicht die Möglichkeit, Hausarbeit zu delegieren – am wenigsten an Männer und am ehesten noch in Form von Lohnarbeit an andere Frauen. Zahlen des Statistischen Bundesamts (2003: 15) weisen darauf hin, dass die Familienarbeit (Haushalt und Kinder) nach wie vor eher von Frauen erledigt wird. Aus der Mediennutzungsforschung ist wiederum bekannt, dass die geschlechtsspezifische häusliche Arbeitsteilung zu unterschiedlichen Mediennutzungsmustern führt (vgl. Cornelißen 1998: 87ff.). Folgt man diesen Annahmen, dann ist die Mediennutzung von weiblichen Führungskräften potenziell in einem Spannungsfeld angesiedelt zwischen den zeitlichen Anforderungen und den gesellschaftlichen Rollenerwartungen an eine Führungsposition einerseits und der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in den heimischen vier Wänden andererseits. Dieses Spannungsfeld wurde durch eine explorative Studie näher analysiert. Durch insgesamt 16 Leitfadeninterviews konnten der Alltag, die Mediennutzungsmuster sowie die Nutzungsmotive von Frauen in Führungspositionen beleuchtet und Einflussfaktoren auf die gruppenspezifische Mediennutzung herausgearbeitet werden. Im vorliegenden Aufsatz werden in Abschnitt 2 zunächst aktuelle Daten zur Erwerbstätigkeit von Frauen und die untersuchungsleitenden theoretischen Annahmen vorgestellt. Abschnitt 3 legt das methodische Vorgehen offen. Die Abschnitte 4 und 5 sind der Ergebnispräsentation gewidmet.
2. Theoretischer Rahmen 2.1 Frauen in Führungspositionen: eine quantité négligeable? Frauen sind nach wie vor seltener berufstätig als Männer. Im Jahr 2006 lag die Erwerbsquote der Frauen bei knapp 67 Prozent, die der Männer bei etwas über 80 Prozent (vgl. Bundesagentur für Arbeit 2007: 28). Geschlechtsspezifische Unterschiede lassen sich auch hinsichtlich der Stellung im Erwerbsleben feststellen: Weibliche Beschäftigte sind seltener als ihre männlichen Kollegen im Zentrum des Arbeitsmarkts tätig, da die Berufstätigkeit von Frauen vielfach auf dem so genannten Doppelverdienermodell basiert, d.h. das Gehalt der Frau dient lediglich als finanzielles ‚Zubrot‘, und Frauen weit häufiger als Männer teilzeitbeschäftigt sind. Hinzu kommt, dass ein Großteil der berufstätigen Frauen durch die geschlechtsspezifische Sozialisation (vgl. hierzu exemplarisch HagemannWhite 1984) und durch die vorherrschenden geschlechtsspezifischen Tätigkeitsbereiche in ,typischen‘ Frauenberufen wie etwa Arzthelferin, Kindergärtnerin oder Bürokauffrau tätig ist (vgl. Statistisches Bundesamt 2007: 89). Nach wie vor steigt der Männeranteil in Berufsgruppen mit hohem Gehalt sprunghaft an und
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Nathalie Huber
selbst in der gleichen Position verdienen Frauen für gewöhnlich weniger als ihre männlichen Kollegen (vgl. Bischoff 2005: 30ff.). Im Jahr 2004 betrug der Frauenanteil unter den abhängig erwerbstätigen Führungskräften nur etwa ein Drittel. Wirft man einen Blick auf die „Top-Führungskräfte“ (beispielsweise Direktoren oder Geschäftsführer), spitzt sich diese Lage weiter zu: hier beträgt die Frauenquote lediglich 13 Prozent (vgl. ebd.: 35).1 Die Familienverhältnisse weiblicher Führungskräfte unterscheiden sich von denen ihrer männlichen Kollegen: Frauen in Führungspositionen leben häufiger alleine, sind häufiger kinderlos, haben seltener zwei oder mehr Kinder und sind häufiger allein erziehend als ihre Kollegen in der gleichen Position. Sie leben zum Großteil mit Partnern zusammen, die selbst großes Gewicht auf ihre eigene Karriere legen. Die Partnerinnen von Männern in Führungspositionen sind hingegen meist teilzeitbeschäftigt oder gar nicht erwerbstätig (vgl. Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 2006). 2.2 Mediennutzungsmotive, weiblicher Habitus und kulturelles Kapital Als theoretische Grundlage zur Exploration von Mediennutzungsmotiven diente der Uses-and-Gratifications-Approach (vgl. Katz u.a. 1974; Rubin 2002 sowie Schenk 2007: 681ff.). Ausgangspunkt ist das Konzept aktiver RezipientInnen, die das Medienangebot zweckorientiert und zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse nutzen. Allerdings vernachlässigt die ausschließliche Orientierung an den individuellen Bedürfnissen gruppenspezifische Einflüsse und die Topographie des Alltags. Die Analyse des alltagsstrukturellen Gefüges bietet hier die Chance, soziale Hintergründe der Rezipientengratifikation herauszuarbeiten. Hans-Bernd Brosius u.a. haben die Auswirkung der Alltagsbelastung auf das Fernsehverhalten analysiert und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass die zunehmende Belastung durch Arbeit zu einer verstärkten Hinwendung zum Fernsehen im Allgemeinen und zu einer verstärkten Unterhaltungsnutzung im Besondern führt. Umgekehrt nutzen RezipientInnen, wenn sie weniger belastet sind, stärker informationsorientierte Fernsehprogramme (vgl. Brosius u.a. 1999: 183; zur Auswirkung des Berufs auf die Mediennutzung vgl. auch Neverla 1992; Huber 2006a). Für die Mediennutzung von Menschen in Führungspositionen scheinen diese Befunde vor allem deshalb interessant, weil Führungskräfte überdurchschnittlich lange Arbeitszeiten haben, was einerseits eine Unterhaltungsorientierung erwarten lässt. Andererseits stehen sie durch ihre berufliche Position in der gesellschaftlichen 1
Die Angaben zu Frauen in Führungspositionen schwanken je nach Quelle mitunter erheblich. Nach Angaben des Statistischen Bundesamts betrug im Jahr 2004 die Frauenquote unter den Top-Führungskräften 21 Prozent (vgl. Statistisches Bundesamt 2006) Der vom Statistischen Bundesamt ermittelte verhältnismäßig höhere Anteil weiblicher Führungskräfte wird Sonja Bischoff zufolge aber durch die Einbeziehung von Wirtschaftsprüferinnen und Steuerberaterinnen „hochgetrieben“ (2005: 35).
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Hierarchie so weit oben, dass die gesellschaftlichen Erwartungen an eine solche Position eine informationsorientierte Mediennutzung nahe legt. Wenn man wie der französische Soziologe Pierre Bourdieu davon ausgeht, dass Menschen vor allem deshalb handeln, um ihre Position aufrechtzuerhalten oder zu verbessern, dann lässt sich hier eine Brücke zur Mediennutzung schlagen. Michael Meyen (2006; 2007) hat das Habitus-Konzept und die Kapital-Theorie Bourdieus als Heuristik für die Mediennutzungsforschung angewendet und den Habitus als „Schlüssel zu den Mediengewohnheiten und zu den Themen, für die sich ein Mensch interessiert“ betrachtet (Meyen 2007: 339). Der Habitus meint ein habituelles Dispositionssystem von Denk-, Handlungs- und Wahrnehmungsschemata, das zur Orientierung in der sozialen Welt und zur Hervorbringungen von Praktiken dient (vgl. Schwingel 2003: 62f.). Da der Habitus von frühester Kindheit an geformt und ein Leben lang modifiziert wird, gehen in den Habitus die „Prinzipien des Urteilens und Wertens“ ein, die in einer Gesellschaft vorherrschen (Krais 2004: 91). Als „grundlegendes Strukturierungsprinzip“, das ein „Herrschaftsverhältnis impliziert“, wird dabei die Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau betrachtet (Krais/Gebauer 2002: 48). Dabei inkorporiert der weibliche Habitus „weibliche Unterwerfung“ und Passivität; beim „Wettkampf der Männer“ schreibt der französische Soziologe Frauen die Rolle von „Zuschauerinnen“ zu (Bourdieu 1997: 203). Frauen in Führungspositionen sind nun keine Zuschauerinnen im Wettbewerb der Männer, sondern Mitkämpferinnen im Spiel um Anerkennung und Macht. Dadurch nehmen sie eine Position im sozialen Raum ein, die klassischerweise von Männern besetzt wird. Nach Bourdieu wird der individuelle Handlungsspielraum eines Akteurs durch das ihm zur Verfügung stehende Kapital festgelegt. Bourdieu (1983) differenziert zwischen vier verschiedenen Kapitalformen: ökonomisches Kapital (materieller Reichtum), kulturelles Kapital (Fähigkeiten und Fertigkeiten), soziales Kapital (Netzwerke) und symbolisches Kapital (Prestige). Die Wertigkeit einer Kapitalform unterscheidet sich je nach sozialem Feld; so herrscht beispielsweise im wissenschaftlichen Feld eine andere Währung als im ökonomischen oder kulturellen Feld. Meyen (2006: 144) hat die These aufgestellt, dass Medienwissen eine Form kulturellen Kapitals ist, das andere Formen kulturellen Kapitals kompensieren kann und dazu dient, die Position im sozialen Raum zu erhalten oder zu verbessern. Folgt man dieser Annahme, dann spiegelt das Medienmenü von RezipientInnen auch Statusansprüche wider und wird dadurch zum Distinktionsmerkmal (vgl. ebd.: 161ff.). Bourdieu (1983: 186) hat darauf hingewiesen, dass die Anhäufung von Kapital und die daraus resultierende Verbesserung der Position im sozialen Raum „nur um den Preis von Arbeit, Anstrengung und vor allem Zeit zu haben sind“. Wendet man diese Prämissen nun auf die Mediennutzung an, dann ist in Anlehnung an Meyen der Gegensatz von Unterhaltung Arbeit – Arbeit, die aufgewendet werden muss, um kulturelles Kapital anzuhäufen
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und dadurch die eigene Position aufrechtzuerhalten oder zu verbessern. Die arbeitsorientierte Mediennutzung kostet Zeit und Energie, sie ist fremdbestimmt und fördert die soziale Anerkennung und persönliche Identität. Im Gegensatz dazu meint die unterhaltungsorientierte Mediennutzung die „Reproduktion der Arbeitskraft“, worunter zum Beispiel das ,Berieseln-Lassen‘ durch den Fernseher nach getaner Arbeit fällt (Meyen 2007: 340f.) Die arbeits- oder unterhaltungsorientierte Mediennutzung ist somit immer auch als strategische Entscheidung eines Rezipienten oder einer Rezipientin zu betrachten.2 Basierend auf dem Habitus-Kapital-Konzept nach Bourdieu lagen der Untersuchung zur Mediennutzung von Frauen in Führungspositionen zwei Annahmen zugrunde: Erstens wurde vermutet, dass weiblichen Führungskräften durch ihre hohe berufliche Position gesellschaftliche Anerkennung gezollt wird (symbolisches Kapital) und sie zudem über so viel ökonomisches Kapital verfügen, dass sie nicht zwingend auf die Akkumulation von kulturellem Kapital angewiesen sind. Zweitens wurde angenommen, dass die arbeitsorientierte Mediennutzung auch von den sozialen Feldern abhängt, in denen sich die Frauen in Führungspositionen bewegen.
3. Methodisches Vorgehen Um die Mediennutzungsmuster und -motive von weiblichen Führungskräften zu explorieren und einen möglichst umfassenden Einblick in deren Alltag zu erhalten, erschien ein qualitatives Verfahren angemessen (vgl. hierzu ausführlich Huber 2006b). In Leitfadeninterviews konnten die Führungskräfte frei über ihren Lebenslauf, ihr Arbeitsumfeld und ihre Arbeitsbelastung, ihre Familienverhältnisse, ihr persönliches Umfeld und ihre Bedürfnisse sprechen. Bei den Leitfadeninterviews mit Frauen in Führungspositionen handelt es sich um Interviews, die von Magistranden und Diplomanden für ihre Abschlussarbeit am Institut für Kommunikationswissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität im Rahmen des Projekts „Medien im Alltag“ geführt wurden (vgl. Huber/Meyen 2006; Meyen 2006; Pfaff-Rüdiger/Meyen 2007). Aus dem Materialfundus dieses Projekts mit insgesamt rund 400 Leitfadeninterviews wurden für die vorliegende Fragestellung 16 Interviews ausgewertet. Die Auswahl von Interviews mit Frauen in Führungspositionen stützte sich dabei auf eine weit gefasste Definition von Führungskraft: Darunter fällt eine Person innerhalb einer hierarchisch geordneten Organisation, die über Dispositions- bzw. Entscheidungsbefugnis über Personen sowie über Dispositions- bzw. Entscheidungsbefugnis über Sachmittel verfügt (vgl. Friedel-Howe 1993: 414). Da aus der 2
Im Unterschied zu handlungstheoretischen Konzepten meint der habitusfundierte Strategie-Begriff nach Bourdieu nicht die „intentional angeführte“ Handlung eines Akteurs, sondern die „vom praktischen Sinn des Habitus generierte strategische Praxis“ (Schwingel 2003: 96f.). Der Habitus generiert Handlungen, die zwar strategisch aussehen, denen aber keine strategische Absicht zugrunde liegt (vgl. hierzu Bourdieu, 1987: 116).
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Literatur bekannt ist, dass die Mediennutzung von der Haushaltskonstellation, von der Zahl der Haushaltsmitglieder und der Beziehung zwischen den Partnern beeinflusst wird (vgl. Neverla 2007: 47), fungierten die Haushaltsgröße und die Anzahl der Kinder als weitere Auswahlkriterien. Der Argumentation Bourdieus folgend, dass in jedem Feld eine spezifische Kapitalform vorherrscht, wurden zudem Führungskräfte aus unterschiedlichen sozialen Feldern einbezogen. Schließlich haben folgende Kriterien die Auswahl der Interviewpartnerinnen mit dem Ziel einer möglichst breiten Streuung geleitet: 1) Alter, 2) Vorhandensein von Kindern und Haushaltsgröße, 3) soziales Feld sowie 4) Beschäftigungsverhältnis (abhängig beschäftigt/selbständig). Tabelle 1 bietet einen Überblick über die soziodemografischen Merkmale der befragten Frauen in Führungspositionen. Tabelle: Soziodemografische Merkmale der Interviewpartnerinnen Nr.
Alter
Haushaltsgröße
Kinder
Berufliche Position
PR-Agenturleiterin** – 1 35 1 Abteilungsleiterin Personal in einem Konzern 1* 2 52 2 Fraktionsvorsitzende im Landtag – 2 50 3 Abteilungsleiterin Controlling in einem Konzern – 1 34 4 Chefin vom Dienst bei TV-Nachrichtensendung – 1 39 5 Leitende Wissenschaftlerin in Forschungszentrum – 2 43 6 Regionalleiterin Controlling in einem Konzern 2 4° 45 7 Geschäftsführerin eines Autohauses** 1 3 31 8 Abteilungsleiterin Handel in einem Konzern – 2 50 9 Handelsleiterin in einem Konzern – 2 36 10 Inhaberin eines Kosmetikstudios** – 2 48 11 Leiterin eines Technikmuseums – 2 48 12 Rektorin einer Hauptschule 2 4 55 13 Projektleiterin Vertrieb in einem Konzern 1 3 41 14 Dritte Bürgermeisterin 2* 1 57 15 Verkaufsleiterin Controlling in einem Konzern 1* 2 55 16 *außer Haus; °werktags alleinlebend; **selbständig
Die Interviews wurden mit Hilfe eines Leitfadens strukturiert, untergliedert in die vier Themenblöcke Lebenssituation, Medienausstattung, Mediennutzung sowie Medienbewertung und nach einem interpretativ-reduktiven Verfahren ausgewertet (für Details vgl. Pfaff-Rüdiger 2007: 35ff.).
4. Alltag, Mediennutzungsmuster und Nutzungsmotive 4.1 Zeit als kostbarstes Gut: Zum Alltag weiblicher Führungskräfte Egal, ob Abteilungsleiterin in einem Konzern, Fraktionsvorsitzende im Landtag oder Chefin vom Dienst einer Nachrichtensendung: Die befragten Frauen stellen
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hohe Ansprüche an sich selbst und betonen den Spaß an ihrer Arbeit. Viele Interviewpartnerinnen haben genau das beschrieben, was Ulrich Beck (2000: 27) mit dem Schlagwort „Sinnmonopol der Erwerbstätigkeit“ zusammengefasst hat. Der Beruf hat weit reichende Auswirkungen auf die persönlichen Einstellungen und Werthaltungen; einige Befragte definieren sich zum Großteil über ihre beruflichen Leistungen und legen damit ein (stereo)typisch männliches Selbstverständnis an den Tag (vgl. King/Bosse 2000). So sagte beispielsweise eine Hauptschulrektorin (55 Jahre): „Ich habe jetzt schon Angst, in den Ruhestand zu treten, weil mein Selbstwertgefühl sehr stark mit dem Beruf zusammen hängt. Mir ist die Arbeit unheimlich wichtig, ich spreche auch immer von ,meiner‘ Schule.“ Weibliche Führungskräfte verbringen die meiste Zeit des Tages am Arbeitsplatz; ein Arbeitstag von zwölf Stunden ist keine Ausnahme. Aber auch wenn es die Befragten schaffen, zeitig nach Hause zu gehen: Die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit verschwimmen. „Man ist einfach rund um die Uhr Führungskraft, man kann das auch nach Feierabend nicht ablegen wie ein Kleidungsstück“, meinte eine 55-jährige Verkaufsleiterin. In Abhängigkeit davon, inwieweit sich die Befragten über ihren Beruf definieren, unterscheidet sich die Einstellung zur Freizeit. Einige Befragte berichteten von einem „Lernprozess“, in dem sie ein Freizeitbewusstsein entwickelt haben. Beispielsweise hat eine 31-jährige Autohausleiterin, die zwölf Mitarbeiter führt und Mutter eines siebenjährigen Sohnes ist, ihr Arbeitspensum heruntergeschraubt, nachdem ihre Beziehung beinahe in die Brüche gegangen ist und ihr Sohn zu ihr „Oma“ gesagt hat. Im Alltag ist die arbeitsfreie Zeit nicht gleichzusetzen mit Freizeit. Neben notwendigen Verrichtungen wie Schlafen, Essen und Körperpflege fallen weitere Tätigkeiten wie etwa Hausarbeit, Behördengänge oder Arztbesuche an. Nach Horst W. Opaschowski (1976: 107) ist Freizeit Dispositionszeit, die vorliegt, „wenn das Individuum über wahlfreie, selbst- und mitbestimmte Zeitabschnitte verfügt“. Vor diesem Hintergrund fällt auf, dass viele Interviewpartnerinnen eine Putzfrau eingestellt haben („die Lebensqualität ist dahin, wenn man am Wochenende nur noch gemeinsam putzt“, verheiratete Abteilungsleiterin, 34 Jahre) – ein Privileg, das sich Führungskräfte aufgrund ihres ökonomischen Kapitals leisten können. Die Partner der Befragten sind beruflich meist ähnlich erfolgreich und arbeiten mindestens genau so lange und intensiv. Das führt häufig dazu, dass die (wenige) freie Zeit unter der Woche größtenteils alleine gestaltet wird. Die Befragten scheinen darüber allerdings nicht unglücklich zu sein, ganz im Gegenteil. Sie sehen sich durch diesen Umstand nämlich nicht dem Druck ausgesetzt, abends nach Hause zu „müssen“ (verheiratete Handelsleiterin, 36 Jahre). Auch wenn Tisch und Bett geteilt werden, ähnelt die Ehe oder Partnerschaft häufig einer Art Wochenendbeziehung. Diesbezüglich unterscheidet sich der Alltag von kinderlosen Interviewpartnerinnen allerdings stark von denjenigen mit Kindern. So können Mütter von Kindern im Vorschulalter nicht wie ihre kinderlosen Kolle-
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ginnen ,open-end‘ arbeiten, sondern ihr Arbeitstag endet dann, wenn ihr Kind aus dem Kindergarten oder von der Tagesmutter abgeholt werden muss. Die Zeit im Büro ist für eine Projektleiterin (41 Jahre), die Mutter eines 7-jährigen Sohnes ist, deshalb en détail organisiert. Zu diesem „straffen Programm“ gehört beispielsweise, dass sie seit sieben Jahren nicht mehr mit Kollegen in der Kantine essen war und sich auch sonst verbietet, mit Kollegen zu „klönen“. 4.2 Mediennutzungsmuster Neben das immense Arbeitspensum tritt bei Frauen in Führungspositionen ein beachtlicher psychischer Entscheidungsdruck. Aufgrund der hohen Verantwortung und Entscheidungskompetenz wird von ihnen erwartet, dass sie über eine umfassende Fach- und Allgemeinbildung verfügen, neue Entwicklungen und Erkenntnisse berücksichtigen, Zusammenhänge überblicken und Auswirkungen von Entscheidungen voraussehen. Expertenwissen in eingeschränkten Themenbereichen wird vorausgesetzt. Um diesen Anforderungen gerecht zu werden, nutzen Führungskräfte die Medien am Arbeitsplatz aufgabenorientiert und selektiv; vor allem branchenspezifische Publikationen, Newsletter oder das Intranet bieten die gesuchten Spezialinformationen. Zudem sind häufig Zeitungs- und Zeitschriften-Clippings im Umlauf, die den Führungskräften entsprechendes Fachwissen vermitteln. Die klassischen Massenmedien sind kaum in der Lage, die gesuchten Spezialinformationen zu liefern. Der Tagesablauf der befragten Frauen ist durch Zeitdruck gekennzeichnet und der Arbeitsrhythmus gestattet es nur bedingt, die Freizeit langfristig zu planen. Eine habituelle Mediennutzung lässt sich am ehesten noch beim Radiohören erkennen. Die Führungskräfte haben von dem „Zwang“ berichtet, jeden Tag die Tageszeitung lesen zu „müssen“. Die private Zeitungsnutzung ist bei vielen Interviewpartnerinnen allerdings vorrangig auf das Wochenende beschränkt. Eine 52-jährige Abteilungsleiterin hat den Samstag als „Medientag“ beschrieben: „Da geht es schon früh los. Ich schalte das Radio ein und nach dem Frühstück lese ich die Zeitung durch – mindestens eine Stunde oder sogar länger. Herrlich – da lasse ich mich auch durch nichts stören.“ Andere Befragte haben aus Zeitmangel Zeitungs- und auch Zeitschriftenabonnements gekündigt. In Anlehnung an den Uses-and-Gratifications-Approach ist die Mediennutzung einer bestimmten Rezipientengruppe nur dann zu verstehen, wenn die funktionalen Äquivalenzen zur Mediennutzung berücksichtigt werden (vgl. Katz u.a. 1974). Das zur Verfügung stehende ökonomische Kapital bietet den Führungskräften vielfältige Möglichkeiten der exklusiven Freizeitgestaltung: Abendessen in Restaurants, Wochenenden in Wellness-Hotels, Kosmetik-, Friseur- oder Massagebesuche. Einigkeit besteht bei den Interviewten darin, die knappe Freizeit bewusst zu genießen und „sich etwas zu gönnen“ (Projektleiterin, 41 Jahre).
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Allerdings bedürfen die Tätigkeiten außer Haus einer Planung und erfordern vor allem Aktivität – und gerade die wollen Frauen in Führungspositionen nach Feierabend im Zweifelsfall vermeiden. Die Befragten berichteten, unter der Woche keine Kraft mehr für außerhäusliche Tätigkeiten zu haben, wodurch das Fernsehen allzu oft zum Kino-Ersatz würde. Hinzu kommt, dass sich die gestressten Führungskräfte in ihrer Freizeit nicht auch noch auf fixe Termine festlegen wollen. Eine 34-jährige Abteilungsleiterin meinte, dass sie „keine Lust“ habe, auch noch ihr „Privatleben festzuzurren“, wo sie doch schon den ganzen Tag im Berufsleben „getaktet“ sei. Die wenigen Verabredungen mit Freunden müssen allzu oft doch abgesagt werden, der Fernseher hingegen „wartet“. Da Führungspersönlichkeiten keine Möglichkeit haben, ihren Arbeitsrhythmus den Freizeitbeschäftigungen anzupassen, schalten sie den Fernseher abends nicht zur Bekämpfung von Langeweile ein, sondern um die durch die Unplanbarkeit der Freizeit entstehenden Zeitlücken zu füllen – Zeitlücken, die zu kurz(fristig) sind, um sich zu verabreden oder außerhäuslichen Aktivitäten nachzugehen. Frauen in Führungspositionen fehlen folglich nicht wie vielen anderen Frauen die Alternativen zur Mediennutzung (vgl. hierzu Holtz-Bacha 1990: 166), sondern häufig schlicht und einfach die Zeitressourcen. Die unregelmäßige Fernsehnutzung führt dazu, dass serielle Fernsehprogramme, allen voran Seifenopern, keine große Beliebtheit unter den Befragten genießen. Eine 55-jährige Verkaufsleiterin meinte, „wenn der Faden einmal weg“ sei, habe man einfach „keinen Bezug“ mehr zu einer Serie. Wenn man in Anlehnung an Identitätstheorien davon ausgeht, dass es von den Bezügen zum eigenen Leben abhängt, was den einzelnen Menschen an- und erregt (vgl. Meyen 2004: 26), dann scheinen Seifenopern auch aus einem weiteren Grund nicht sonderlich gefragt zu sein: Sie spiegeln nur bedingt die Lebenswelt von Frauen in Führungspositionen wider. Elisabeth Klaus und Jutta Röser (1996) haben herausgearbeitet, dass bei Frauen die Beziehungsorientierung und bei Männern der Leistungsgedanke das spezifische Medieninteresse leitet. Vor diesem Hintergrund erscheinen das ausgeprägte Interesse für Sport im Fernsehen und der dahinter liegende Wettbewerbs-Gedanke bei einigen befragten weiblichen Führungskräften interessant. Beispielsweise berichtete eine kinderlose Abteilungsleiterin (34 Jahre): „Biathlon finde ich super spannend, da kann ich mitfiebern. Das liegt sicherlich auch daran, dass wir so gut sind – sonst würde mich das nicht so stark interessieren.“ Der Bezug zwischen Sport und Berufswelt ist wohl ebenso plausibel wie der zwischen Seifenopern und Familienalltag (vgl. Meyen 2006: 140). 4.3 Nutzungsmotive Sowohl MitarbeiterInnen als auch das gesamte soziale Umfeld erwarten von einer Führungskraft, dass sie umfassend über aktuelle Belange aus den Berei-
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chen Politik und Wirtschaft informiert ist. Um diesen Erwartungen gerecht zu werden, nutzen Frauen in Führungspositionen die Medien in hohem Maße pflichtbewusst. Die Befragten haben Strategien entwickelt, um ohne großen Aufwand möglichst viele Informationen zu bekommen: Sie scannen die Überschriften von Tageszeitungen, zappen durch die Nachrichten oder schauen Sabine Christiansen, um sich ein Update für den Montagmorgen zu holen. Das Im-Bilde-Sein macht auch vor Themen nicht halt, für die sich die Frauen nicht sonderlich interessieren. So erzählte etwa eine 48-jährige Museumsleiterin, dass sie auch bei Fußball mitreden müsse: „Ich versuche, nicht ganz unbefleckt zu sein. Das wäre ja auch komisch, wenn man dieses Bild von einer Frau darstellt, die keine Ahnung von Fußball hat.“ Neben das Nutzungsmotiv Im-Bilde-Sein tritt das Motiv Kontraste und Ausgleich schaffen. Diese beiden Motive werden hier auch deshalb zuerst genannt, weil sie auf die beiden Mediennutzungspole Arbeitsorientierung versus Unterhaltung verweisen. Viele Befragte legen Wert darauf, privat nicht mit beruflichen Themen in Berührung zu kommen. Zwar engagieren sich die befragten Frauen allesamt überdurchschnittlich für berufliche Belange und sind sich des Anspruchs bewusst, umfassend informiert zu sein. Doch irgendwann ist auch bei manchen Karrierefrauen das „Maximum erreicht“ (Fraktionsvorsitzende, 50 Jahre), oder, wie es eine Personalchefin (52 Jahre) ausdrückte: „Das Aufnahmevermögen ist ja auch irgendwo begrenzt. Wahrscheinlich blockiert der Körper irgendwann, wenn man den ganzen Tag Informationen aufsaugt.“ Die Interviewpartnerinnen berichteten davon, dass sie in ihrer knappen Freizeit auch Informationen mit „Alltagswert“ bräuchten, damit sie die Alltagstauglichkeit nicht verlieren. So formulierte etwa eine 36-jährige Abteilungsleiterin den Anspruch, „auch mal über den Tellerrand zu schauen“. Unter der Woche sei sie so fokussiert auf den Job, dass sie vieles „aus den Augen“ verliere. Radio und Zeitschriften würden da die Möglichkeit bieten, „noch ein paar Informationen on top zu bekommen“. Und eine Projektleiterin greift gelegentlich zu Modezeitschriften, um zu wissen, „ob die Schuhe spitz oder flach sein müssen oder wie man die Hose trägt“. Durch die langen Arbeitszeiten schaffen es die Führungskräfte allerdings kaum, Geschäfte zu erreichen. Fast alle Befragten nutzen das Internet für Bestellungen und Homebanking; nach Feierabend kann so per Mausklick mühelos alles erledigt werden (Motiv Alltagserleichterung). Eine 55jährige Hauptschulrektorin ist die einzige Befragte, die Berührungsängste mit dem Internet hat. Um die Unsicherheit im Umgang mit dem neuen Medium zu überwinden, hat sie ihrer Familie allerdings den „Auftrag“ erteilt, sie zum Umgang mit dem Internet zu „zwingen“. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Mediennutzung von Frauen in Führungspositionen zwischen einer arbeitsorientierten Mediennutzung zur Akkumulation von kulturellem Kapital, dem Entspannungsbedürfnis nach Feierabend und der notwendigen Alltagsorganisation oszilliert. Hier lässt sich nun
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fragen, von welchen Faktoren es abhängt, ob weibliche Führungskräfte dem Anspruch, umfassend informiert zu sein, tatsächlich gerecht werden oder letztlich ihr Bedürfnis nach Entspannung befriedigen. Der folgende Abschnitt wird Antworten auf diese Frage liefern.
5. Einflussfaktoren auf die gruppenspezifische Mediennutzung Obwohl alle Interviewpartnerinnen von dem empfundenen Zwang berichteten, umfassend informiert zu sein, geben nicht alle diesem Druck gleichermaßen nach. Die spezifische Mediennutzung von Frauen in Führungspositionen lässt sich in zwei Gruppen unterteilen: in die pflichtbewussten Medienvielnutzerinnen und die souveränen Medienwenignutzerinnen. Für die pflichtbewussten Medienvielnutzerinnen ist ein Tag ohne Medien nicht vorstellbar. Im Medienmenü dominieren überregionale Abonnementzeitungen, öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten und Nachrichtensender, Polittalks, Nachrichtenmagazine und Special-Interest-Zeitschriften. Die pflichtbewussten Medienvielnutzerinnen wollen den gesellschaftlichen Anforderungen an eine Führungspersönlichkeit unbedingt gerecht werden, sie grenzen sich nach unten ab und wollen ihre Position auch durch Medienwissen absichern. Wenn den Pflichtbewussten nach Feierabend die Energie für die Nutzung ,anstrengender‘ Medienangebote fehlt, haben sie ein schlechtes Gewissen. Die Analyse des Interviewmaterials hat gezeigt, dass ein solches Mediennutzungsverhalten von denjenigen Führungskräften an den Tag gelegt wird, die mit ihrer beruflichen Position (noch) nicht die erstrebte Position erreicht haben oder deren Position (noch) nicht gesichert ist. Darüber hinaus zeichnet sich ab, dass alle Befragten aus Medienberufen arbeitsorientiert die Medien nutzen (Museumsleiterin, leitende Nachrichtenredakteurin, PR-Agenturleiterin). Aber auch die beiden Politikerinnen, für die es darauf ankommt, wie sie selbst in der öffentlichen Kommunikation dargestellt werden, legen eine arbeitsorientierte Mediennutzung an den Tag. Besonders interessant ist das Nutzungsverhalten einer Regionalleiterin (45 Jahre), die in einem Konzern 45 Mitarbeiter führt. Diese Interviewpartnerin „muss“ ihrer Ansicht nach ein straffes Mediennutzungsprogramm durchlaufen: Morgens läuft das Frühstücksfernsehen, im Auto hört sie einen Nachrichtensender und sie liest regelmäßig den Spiegel, die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), die Financial Times Deutschland und das Time Magazin. Die Regionalleiterin berichtete davon, dass sie jahrelang das Feuilleton der FAZ weggeworfen habe, weil das „sehr anspruchsvoll und gewöhnungsbedürftig“ sei. Dann habe sie sich dazu „gezwungen“, täglich mindestens einen Feuilleton-Artikel zu lesen und mittlerweile lese sie diesen Teil sogar gerne. Dieses selbst auferlegte „Pflichtprogramm“ ist nur dann zu verstehen, wenn man berücksichtigt, dass diese Führungskraft nicht studiert hat („die Leute gucken schon verwundert, wenn ich denen sage, dass ich nicht studiert habe“). Der Befragten fehlt dadurch eine Form von kulturellem
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Kapital (institutionalisiertes kulturelles Kapital), die in ihrer beruflichen Position eigentlich Voraussetzung ist. Ihre Konzentration auf Medienwissen kann somit auch als Weiterbildungsmaßnahme und als Signal an die Umwelt verstanden werden, dass sie es ,wert‘ ist, die ihr zugeschriebene Position zu besetzen. Wie die pflichtbewussten Medienvielnutzerinnen wissen auch die souveränen Medienwenignutzerinnen um die gesellschaftliche Norm, als Führungskraft umfassend informiert zu sein. Im Unterschied zur erstgenannten Gruppe empfinden sie ihr Leben allerdings nicht ganz so stressig und sie sind aufgeschlossener für Aktivitäten außer Haus. Die souveränen Medienwenignutzerinnen setzen sich nicht so leicht unter Druck und nutzen die Medien insgesamt weniger und in diesem Rahmen stärker unterhaltungsorientiert. Die Führungsfrauen, die dieser Gruppe zugeordnet wurden, legen auch Wert darauf, privat nicht mit beruflichen Themen in Berührung zu kommen. „Man hat sicherlich den Wunsch nach ,leichter Kost‘, zumindest an manchen Tagen, wenn es tagsüber mal wieder stressig war“, meinte zum Beispiel eine 55-jährige Verkaufsleiterin. Sie wolle dann „von der Welt nichts mehr Problematisches sehen und hören“ und brauche dementsprechend „eher ein ruhiges Programm mit Unterhaltungswert“. Betrachtet man die souveränen Medienwenignutzerinnen näher, so wird recht schnell deutlich, warum sie im Vergleich zur ersten Gruppe weniger auf die Akkumulation von kulturellem Kapital angewiesen sind: Sie scheinen ihren Platz in der Gesellschaft gefunden zu haben und mit ihrer beruflichen Position zufrieden zu sein. Sie verfügen über Berufserfahrung, haben ihre Karrierelaufbahn oft abgeschlossen und messen dem Privatleben einen höheren Stellenwert zu als die Pflichtbewussten. Und so dürfte es kein Zufall sein, dass es vor allem die älteren, erfahrenen befragten Führungsfrauen waren, die die Medien tendenziell weniger und souveräner nutzen. Auch die Führungskräfte mit Kindern im betreuungsintensiven Alter lassen sich dieser Gruppe zuordnen. Diese Befragten haben zum einen neben dem Beruf und der Familienarbeit kaum Zeit, sich mit Medienangeboten zu beschäftigen. Zum anderen haben die Interviews mit Müttern in Führungspositionen aber auch nahe gelegt, dass bei diesen Befragten im Laufe ihrer Karriere eine Prioritätenverschiebung zugunsten der Familie stattgefunden hat – und eben hieraus erwächst ihre Souveränität, den Druck der Arbeitswelt zu relativieren. Darüber hinaus gibt es weitere Spezifika dieser Mediennutzergruppe: Während die pflichtbewussten Medienvielnutzerinnen die Karriereleiter noch weiter emporklettern wollen oder sich ihrer Position nicht sicher sind, ziehen die Medienwenignutzerinnen Souveränität aus ihrer Position. Dies trifft auf eine Autohausleiterin und eine Kosmetikstudiobesitzerin zu. Diese Interviewpartnerinnen verfügen über einen großen Handlungsspielraum, nicht zuletzt durch ihr ökonomisches Kapital, und müssen sich weniger stark als Frauen in anderen Führungspositionen durch Medienwissen gegenüber ihren Kollegen oder Vorgesetzten profilieren. Auch die leitende Naturwissenschaftlerin nutzt die Medien
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souverän wenig, was wohl in erster Linie auf ihre überdurchschnittlich hohen Ressourcen an symbolischem Kapital in Form von inkorporiertem und institutionellem kulturellen Kapital zurückzuführen ist. Im Gegensatz zu Führungskräften aus dem kulturellen oder politischen Feld ist sie weniger auf die Akkumulation von kulturellem Kapital in Form von Medienwissen angewiesen. Bei der Naturwissenschaftlerin kommt hinzu, dass ihr Beruf sie vollends ausfüllt und sie nach Feierabend kein ausgeprägtes Bedürfnis nach Rekreation hat. Es bleibt festzuhalten: Alle befragten Frauen in Führungspositionen sind sich der Norm bewusst, umfassend informiert zu sein. Dieser Norm können sich vor allem diejenigen Führungskräfte nicht entziehen, die um die Aufrechterhaltung ihrer Position kämpfen oder die in der Hierarchie weiter aufsteigen wollen. Je mehr die erreichte Position auch der angestrebten Position entspricht und/oder diese Position gesichert ist, desto eher ,leisten‘ es sich Führungsfrauen, unterhaltungsorientiert die Medien zu nutzen. Eine Ausnahme bilden hier die Führungskräfte aus dem kulturellen und politischen Feld, die auch nach Feierabend kulturelles Kapital durch Medieninhalte anhäufen. Die Bewertung der eigenen Position und die damit eng verbundene Karriereorientierung scheinen wiederum von den intellektuellen Voraussetzungen, der Lebensphase und der Alltagsbelastung in Form von Familienarbeit abzuhängen. Die arbeits- oder unterhaltungsorientierte Mediennutzung wird zu einer strategischen Entscheidung von Führungskräften, die immer auch von der wahrgenommenen Position im Feld, von der Distribution des spezifischen Kapitals und damit letztlich von der Sicht auf das Feld, die sie von einem bestimmten Standpunkt im Feld aus haben, abhängt (vgl. Bourdieu/ Wacquant 1996: 132). Der Bourdieu’schen Logik des Kapital-Konzepts folgend geht es bei der Akkumulation von kulturellem Kapital immer um dessen Transformierbarkeit in symbolisches Kapital. Ob sich die Führungskräfte also „zwingen“, den Wirtschaftsteil einer Tageszeitung zu lesen oder Fußballübertragungen zu schauen, hängt neben den genannten Einflussfaktoren auch von dem sozialen Feld ab, in dem sie sich bewegen. Nur unter Berücksichtigung der in einem spezifischen Praxisfeld vorherrschenden Ökonomie wird nachvollziehbar, ob sich kulturelles Kapital in Form von Medienwissen in symbolisches Kapital transformieren lässt. Die Analyse der Interviews hat gezeigt, dass sich Medienwissen im kulturellen und politischen Feld eher als im ökonomischen oder (natur)wissenschaftlichen Feld ,auszahlt‘.
6. Fazit Die explorative Studie zur Mediennutzung von weiblichen Führungskräften konnte erste Antworten auf die Frage liefern, inwiefern eine statushohe berufliche Position den Medienumgang von Frauen prägt. Die Mediennutzung von Frauen in Füh-
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rungspositionen ist im Spannungsfeld zwischen dem gesellschaftlichen Anspruch, umfassend informiert zu sein, dem Rekreationsbedürfnis nach einem stressigen Arbeitstag und der Alltagsorganisation angesiedelt. Nun könnte eingewendet werden, dass dieses Mediennutzungsverhalten nicht gruppenspezifisch ist für Führungsfrauen im Vergleich zu Frauen in statusniedrigeren Berufen oder Hausfrauen, denn schließlich bewegt sich jede mündige und müde Bürgerin in diesem Spannungsfeld. Doch gehört der Zwang, umfassend über gesellschaftliche Belange informiert zu sein, zum Habitus von Führungskräften und eben dies ist der Unterschied zu Rezipientinnen in einer niedrigeren sozialen Position. Die Interviewpartnerinnen berichteten von einem „hohen Anspruch an sich selbst“ (55-jährige Verkaufsleiterin), den gesellschaftlichen Erwartungen auch tatsächlich entsprechen zu können. Sie waren sich einig, dass sie sich der Norm, umfassend über tagespolitische und wirtschaftliche Belange informiert zu sein, nicht vollends entziehen können. Eben dieses als „Muss“ empfundene Im-Bilde-Sein stellt einen Unterschied zur Mediennutzung von Hausfrauen und Müttern mit Kleinkindern dar (vgl. hierzu Hattke 2006; Meyen 2006: 133ff.). Meyen (2006: 139) hat darauf hingewiesen, dass Mütter mit Kleinkindern in der gesellschaftlichen Hierarchie relativ weit unten stehen und gesellschaftliche Anerkennung in erster Linie aus der Mutterrolle beziehen können. Wenn man darüber hinaus bedenkt, dass Hausfrauen zu „Randexistenzen“ degradiert werden (Raumer-Mandel 1990: 24), dass viele Frauen nur geringfügig beschäftigt sind oder Teilzeit arbeiten, dann können die vorliegenden Ergebnisse auch als Untermauerung der These vom Einfluss der Lebenswelt und der gesellschaftlichen Erwartungen auf die Mediennutzung gelesen werden, die sich je nach lebensweltlichem Kontext mehr oder weniger „geschlechtsspezifisch“ darstellt. Die Lebenswelt von weiblichen Führungskräften entspricht in der Regel nur dann derjenigen von Männern in Führungspositionen, wenn sie keine Kinder haben, wenn die Kinder aus dem Haus sind oder wenn sie einen Partner haben, der ihnen den Rücken frei hält. Da Familienarbeit heute nach wie vor Frauenarbeit ist, sind Mütter in Führungspositionen einem Mehr an Verpflichtungen ausgesetzt. Ob gerade diese Frauen nach einem stressigen Arbeitstag und getaner Familienarbeit noch die Energie aufbringen, arbeitsorientiert Medien zu nutzen, scheint – wie bei ihren kinderlosen Kolleginnen – von der Bewertung der beruflichen Position und dem sozialen Feld, in dem sie sich beruflich bewegen, abzuhängen. Mediennutzung als Arbeit ist somit auch als Preis zu betrachten, der für sozialen Aufstieg zu zahlen ist (vgl. Meyen 2007: 342).
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Arbeitslose und Mediennutzung – Genderspezifische Betrachtung einer besonderen Nutzergruppe Nicole Gonser & Wiebke Möhring
1. Einleitung: Arbeitslose als spezifische Mediennutzungsgruppe Das Phänomen der Massenarbeitslosigkeit ist in Deutschland seit Jahrzehnten zu beobachten. Auch wenn 2008 seit Langem einmal wieder eine positive Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt stattgefunden hat, ist Arbeitslosigkeit in unserer Gesellschaft längst zu einer Art Normalzustand geworden und nicht nur Ausdruck einer momentan schlechten Wirtschaftslage. Darüber hinaus zeigt die soziodemografische Zusammensetzung der insgesamt 3,4 Millionen Arbeitslosen (Stand Dezember 2007; vgl. Bundesagentur für Arbeit 2008), dass ungewollte Erwerbslosigkeit inzwischen ein Schicksal ist, das jeden treffen kann und nicht allein bestimmte gesellschaftliche (Rand-)Gruppen anbelangt. Gleichzeitig ist sie für einen Teil der Gesellschaft zu einer Art Dauerzustand geworden, längst schon hat sich eine neue soziale „Schicht der Dauerarbeitslosen“ herausgebildet (Kronauer u.a. 1993: 229ff.). Wir wollen uns im vorliegenden Beitrag dieser gesellschaftlichen Gruppe, definiert über einen gemeinsamen Status der Arbeitssuche und Arbeitslosigkeit, unter der Perspektive nähern, wie sich ihr Alltag strukturiert.1 Dieser so genannte Alltag wird als begriffliches Konstrukt vielschichtig verwendet. Im Sinne einer ersten Annäherung an den Begriff des Alltags können wiederkehrende tägliche Abläufe thematisiert werden, so etwa Routinen der Versorgung und Beschäftigung. Ein wichtiges Merkmal des Alltags ist die gelebte Erwerbstätigkeit. Sie unterteilt den Alltag in Arbeits- und Freizeit, trennt den Feierabend vom Tag, das Wochenende und den Urlaub vom Arbeitsalltag. Der Wegfall der Erwerbstätigkeit durchbricht diese Strukturierungsmuster. Neben finanziellen Aspekten führt eine Vielzahl sozialer und individueller Konsequenzen zu neuen Mustern der Alltagsbewältigung. Eine gerade für die Frage der Mediennutzung relevante 1
Es sind also explizit nicht Erwerbslose gemeint, sondern Arbeitslose. Damit sind alle Studierenden, Hausmänner und -frauen, RentnerInnen und freiwillig Nicht-Arbeitende ausgeschlossen. Gemeint sind Menschen, die in der Regel unfreiwillig nicht arbeiten, arbeitslos gemeldet sind, Unterstützung vom Staat beziehen und prinzipiell jederzeit dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen.
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Folge ist, dass Arbeitslose prinzipiell mehr Zeit bzw. unstrukturierte Zeitpotentiale zur Verfügung haben. Dieses Mehr an Zeit kann sich als eine Art „tragisches Geschenk“ herausstellen, wie Marie Jahoda und Kollegen bereits in den 1930er Jahren in ihrer Marienthalstudie feststellten und auch nachfolgende Studien bestätigten (Jahoda u.a. 1975: 83; Brinkmann/Schober 2002: 32ff.). Denn die Zeit muss plötzlich sinnvoll gefüllt werden. Medien können hier als soziale Zeitgeber fungieren, indem sie Alltagsabläufe strukturieren und füllen (vgl. Neverla 1992: 35). In diesem Zusammenhang interessiert uns die Mediennutzung von Arbeitslosen. Wichtig ist hierbei auch eine Geschlechterdifferenzierung: Allgemein bestehen zwischen der Mediennutzung von Frauen und Männern partiell Unterschiede im Hinblick auf Nutzungszeiten und Vorlieben; dies ist vielfach über sozialisierte Geschlechterrollen erklärbar, die Einfluss auf Arbeit und Arbeitsteilung, Zeitstrukturen, Familienrollen (vgl. Schweiger 2007: 271) und somit auf den Alltag haben. Vor diesem Hintergrund stellen wir die Frage, wie arbeitslose Frauen und arbeitslose Männer Medien nutzen und wie sie diese in ihren Alltag integrieren.
2. Mediennutzung Arbeitsloser und moderierende Einflüsse Kommunikationswissenschaftliche Arbeiten, die sich gezielt mit der Nutzungsgruppe der Arbeitslosen auseinandersetzen, findet man bisher so gut wie gar nicht. Von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen (vgl. z.B. Prott 1986) werden Arbeitslose, wenn überhaupt, als eine Art Restkategorie betrachtet, um etwa bestimmte Verhaltensweisen der durchschnittlichen erwerbstätigen Bevölkerung zu kontrastieren. Dabei ist davon auszugehen, dass Medien – zumindest die weitgehend kostenfreien – im Alltag der Arbeitslosen einen relativ hohen Stellenwert eingeräumt bekommen. Arbeitslose gehören in aller Regel zu den Bevölkerungsgruppen, die über verhältnismäßig viel freie Zeit verfügen, gleichzeitig aber über geringere finanzielle Mittel. Bestimmte Formen der konsum- und erlebnisorientierten Freizeitgestaltung stehen ihnen also nur eingeschränkt offen, Medien können hier günstige Alternativen darstellen (vgl. Jäckel 1992). Ob diese auch entsprechend genutzt werden, steht im Fokus dieser Untersuchung. Forschungsaktivitäten zum Gegenstand der Arbeitslosigkeit sind hingegen kaum zu überschauen. Neben zahlreichen ökonomischen und juristischen Auseinandersetzungen ließen sich bereits vor Jahren unter sozialwissenschaftlicher Perspektive etwa 5.000 einschlägige Arbeiten finden. Eine Vielzahl davon beschäftigt sich vor allem mit gesundheitspsychologischen und sozialmedizinischen Fragestellungen (vgl. Wacker 2001: 411). Grob zusammengefasst stellt Arbeitslosigkeit für die Betroffenen eine eindeutig negativ erlebte Situation dar. In vielen Fällen wird Arbeitslosigkeit als kausaler Faktor zur Erklärung psychischer Be-
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lastungen angenommen, z.B. sinkendes Selbstwertgefühl, Selbstisolierung, soziale Desintegration, Orientierungslosigkeit, Resignation, Ängstlichkeit, Depressivität (vgl. Paul/Moser 2001; Fryer 1995; Kieselbach 1994). Darüber hinaus ist in Studien festgestellt worden, dass mit zunehmender Länge der Arbeitslosigkeit der Aktivitätsgrad nachlässt, sich eine Veränderung des Zeitbewusstseins einstellt und die sozialen Kontakte außerhalb der Familie eingeschränkt werden (vgl. NoelleNeumann/Gillies 1987; Brinkmann/Schober 2002: 32ff.). Freizeit wird so, verstärkt mit steigender Dauer der Arbeitslosigkeit, für einige zur Belastung, wenige hingegen schaffen es, die Zeit positiv für sich zu nutzen (vgl. Luedtke 1998: 166ff.). Völlig offen ist bisher, wie sich diese psychosozialen Faktoren im Kontext von Arbeitslosigkeit auf die Mediennutzung als einem Teil von Freizeit- und Alltagshandeln auswirken. In dieser Arbeit werden zwei der aus der Arbeitslosenforschung zentralen psychosozialen Merkmale herausgegriffen und in ihrer moderierenden Bedeutung für die Mediennutzung untersucht. Dies sind zum einen die selbst empfundene soziale Isolation und zum anderen das Selbstwertgefühl. Diese beiden Faktoren spielen, wie oben gezeigt, in der Reaktion auf die eigene Arbeitslosigkeit eine wichtige Rolle. Arbeitslose weisen eine Tendenz zur sozialen Isolation auf (vgl. Eggert-Schmid Noerr 1991: 46) und erleben den Verlust der Arbeit oftmals zugleich als Verlust an sozialem Status und Ansehen, was zu einem Gefühl von Wertlosigkeit und zu Selbstwertproblemen führt (vgl. z.B. Mohr 1993). Wir möchten nun der Frage nachgehen, ob damit auch eine Veränderung der Mediennutzung einhergeht. Ergebnisse kommunikationswissenschaftlicher Arbeiten lassen dies annehmen, denn sich verändernde psychosoziale Merkmale, die in Zusammenhang mit sozialer Isolation auftreten, wie etwa Angst bzw. Ängstlichkeit und Einsamkeit, haben durchaus Auswirkungen auf das Mediennutzungsverhalten (vgl. z.B. Fabian 1993; Morgan/Shanahan 1997). So ist zu vermuten, dass der physische und psychische Rückzug aus der Gesellschaft sich in einem verstärkten Medienkonsum niederschlägt, da Medien erstens im eigenen Zuhause und zweitens als kostengünstige Freizeitbeschäftigung zur Wahl stehen. Für einen Zusammenhang zwischen Selbstwert und Mediennutzung liegen indirekt Annahmen zugrunde. Denn auch für verwandte Konstrukte, wie z.B. Selbstwirksamkeit, liegen Ergebnisse vor, die zeigen, dass dieser Glaube an eigene Kompetenzen durchaus das Informationsverhalten beeinflusst (vgl. Knobloch-Westerwick u.a. 2005). Auch aus Arbeiten, die sich mit der Entstehung und Auswirkung von Meinungsführerschaft beschäftigen, lässt sich ableiten, dass der Selbstwert als potentielle moderierende Variable zu berücksichtigen ist. Mit unterschiedlich stark ausgeprägtem Selbstwert kann auch eine unterschiedlich intensive oder aktive Mediennutzung zusammenhängen. Ergebnisse der Arbeitslosenforschung und der Kommunikationswissenschaft legen nahe, zusätzlich die Kategorie Geschlecht zu berücksichtigen. Bereits
Arbeitslose und Mediennutzung
301
Jahoda wies darauf hin, dass der Umgang mit der familiären (also nicht der individuellen) Arbeitslosigkeit bei Frauen anders als bei Männern war (vgl. Jahoda u.a. 1975: 89ff.). Bis heute zeigt sich ein geschlechtsspezifischer Umgang mit Arbeitslosigkeit. Dies gilt nicht nur für familiäre, sondern auch für die eigene Arbeitslosigkeit, wobei sich geschlechtsspezifische Effekte in Abhängigkeit von Alter und Haushaltstypen ausmachen lassen (vgl. Warr 1984: 273ff.; SchultzGambard u.a. 1987: 197ff.). Frauen sind, so können diese Ergebnisse interpretiert werden, unabhängig von ihrer Erwerbstätigkeit immer noch stärker in häusliche Aufgaben eingebunden, so dass Alltagsstrukturen trotz Arbeitslosigkeit zunächst erhalten bleiben. Dies kann sogar dazu führen, dass der Wegfall der Erwerbstätigkeit eher als Zugewinn verfügbarer Zeit gesehen wird und somit Freizeitgestaltung einen anderen Stellenwert einnehmen kann. Vorstellbar ist also, dass sich arbeitslose Frauen und Männer innerhalb ihres Alltags Medien anders zuwenden. Dies ist zudem vor dem Hintergrund zu erwarten, dass sich Geschlechterdifferenzen im Medienverhalten auch generell zeigen (vgl. Klaus 2005: 271ff.). Interessant ist daher zu prüfen, ob sich in der Situation der Arbeitslosigkeit bestimmte geschlechtsabhängige Muster der Medienzuwendung und -nutzung zeigen und ob dies in Abhängigkeit von den oben erwähnten psychosozialen Merkmalen geschieht.
3. Methodische Vorbemerkungen zur Studie Unsere Daten erhoben wir mittels einer standardisierten Face-to-face-Befragung in den ARGE-Jobcentern bzw. Arbeitsmarkt Service Centern der Stadt Hannover in der Zeit von Mitte Januar bis Mitte Februar 2006.2 Die Entscheidung, persönliche Interviews zu führen, begründete sich in erster Linie durch die erwartete höhere Ausschöpfungsquote im Vergleich zu einer schriftlichen Befragung. Darüber hinaus ist bei schriftlichen Befragungen die Interviewsituation nicht kontrollierbar, und es ist nicht sichergestellt, dass der Befragte den Fragebogen alleine ausfüllt; die Anwesenheit Dritter kann aber die Aussagen verfälschen. Telefonische Interviews als Alternative zur Face-to-face-Befragung wurden aufgrund des hohen Aufwandes verworfen, Probanden zu erreichen, die den Status „bin arbeitslos“ erfüllen. Die Bedenken, dass in der persönlichen Interviewsituation mit Arbeitssuchenden in den Jobcentern Schamgefühle eine Rolle spielen, konnten durch die Praxis zerstreut werden: Die Bereitschaft, an den Interviews teilzunehmen, war stets positiv. Nicht zu beurteilen ist, inwieweit das Phänomen der sozialen Er2
Die Face-to-face-Interviews führten Studierende zweier Methoden-Seminare nach einer intensiven Interviewerschulung. Aufgrund der Kooperation mit den ARGE-Jobcentern konnte die Befragung in den Räumlichkeiten der Jobcenter selbst stattfinden.
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Tabelle 1: Soziodemografie der befragten Arbeitslosen Frauen n = 160 in %
Männer n = 193 in %
Gesamt N = 353 in %
Alter
18 bis 29 Jahre 30 bis 39 Jahre 40 bis 49 Jahre 50 bis 59 Jahre 60 Jahre und älter Gesamt
41 28 21 9 1 100
45 24 24 7 0 100
43 26 23 8 x 100
Bildung
ohne Schulabschluss Hauptschulabschluss Realschulabschluss (Fach-)Abitur Studium Gesamt
3 23 39 21 15 100
4 30 35 18 12 100
3 27 37 19 14 100
HH-Einkommen pro Monat, bis 500 € netto 501 bis 1.000 € 1.001 bis 1.500 € 1.501 bis 2.000 € 2.001 bis 2.500 € 2.501 bis 3.000 € 3.001 bis 3.500 € mehr als 3.500 € keine Angabe Gesamt
23 39 16 4 3 4 1 0 9 100
20 41 14 8 3 2 0 2 12 100
21 40 15 6 3 3 1 1 11 100
Größe des Haushalts
Single-Haushalt Mehr-Personen-Haushalt Gesamt
31 69 100
45 55 100
39 61 100
Haushalt
ohne Kinder mit Kindern Gesamt
65 35 100
78 22 100
72 28 100
Zeit der Arbeitslosigkeit
bis zu einem Jahr über 1 Jahr bis zu 3 Jahren länger als drei Jahre noch nie gearbeitet Gesamt
41 32 19 8 100
48 30 14 8 100
45 31 16 8 100
x ≤ 0,5
wünschtheit bei der Befragung zum Tragen kam, also das Phänomen eintrat, weniger die persönlich zutreffende Auskunft zu geben, sondern eher erwarteten sozialen Normen entsprechend zu antworten. Anzumerken ist aber, dass zu einigen Abfragen, die sensible Bereiche zum Thema Arbeitslosigkeit und zur Einschätzung des Selbstwertgefühls berührten, die Eigenbeurteilungen durchaus kritisch ausfielen, wie die Auswertungen zeigen. Insgesamt wurden im Untersuchungszeitraum 353 Probanden mit dem kompletten Fragebogen interviewt: Mit der ersten Frage wurde der Status „arbeits-
Arbeitslose und Mediennutzung
303
suchend“ abgefragt und bei Bejahung das Interview fortgesetzt. Unter den Befragten sind anteilsmäßig etwas weniger Frauen (45 Prozent) als Männer (55 Prozent) (vgl. Tabelle 1). Das mittlere Alter der Probanden liegt bei 35 Jahren (w: 36 Jahre, m: 34 Jahre), sie haben ein mittleres Bildungsniveau (die Frauen tendenziell höhere Abschlüsse als die Männer) und im Mittel eher geringe Haushaltsnettoeinkommen. Etwa 40 Prozent der Befragten leben in einem Ein-PersonenHaushalt, bei knapp 30 Prozent der Befragten leben Kinder im Haushalt (w: 35 Prozent, m: 22 Prozent). Durchschnittlich sind die Befragten seit 23 Monaten arbeitslos, die Mehrzahl ist zum Zeitpunkt der Interviews unter einem Jahr arbeitssuchend gemeldet.
4. Ergebnisse der Befragung Im Folgenden werden wir nun die Mediennutzung der befragten arbeitslosen Frauen und Männer genauer betrachten, indem wir einleitend allgemeine Medienkennwerte untersuchen, hiernach die Befunde der psychosozialen Abfragen erläutern und schließlich beide Stränge gemeinsam in einer zusammenführenden Analyse auswerten. Bei allen präsentierten Daten ist zu berücksichtigen, dass ein direkter Vergleich mit Ergebnissen etwa aus repräsentativen Bevölkerungsumfragen nur schwer möglich ist. Wir haben Arbeitslose befragt, die a) in Hannover leben, b) sich zum Zeitpunkt der Befragung in Arbeitsämtern oder Jobcentern befanden und c) keine Scheu hatten, sich von jungen Akademikern ansprechen zu lassen. Somit stehen die Befunde für diese spezielle Gruppe Arbeitsloser. Dennoch lassen sich Tendenzen allgemeinerer Art ablesen sowie stichprobeninterne Gruppenvergleiche durchführen. 4.1 Medienausstattung und Mediennutzung Arbeitsloser Da wir uns für die spezifische Mediennutzung arbeitsloser Frauen und Männer interessieren, richten wir den Blick zunächst auf die elektronische Medienausstattung (vgl. Tabelle 2). Insgesamt ist diese recht umfangreich und unterscheidet sich nicht wesentlich von den Haushalten der Gesamtbevölkerung (vgl. Media Perspektiven Basisdaten 2007: 67). Die klassischen Medien wie Fernsehen (95 Prozent) und Radio (82 Prozent) sind bei den Befragten überwiegend im Haushalt verfügbar. Ebenfalls fast in jedem Haushalt vorhanden ist ein Handy (86 Prozent). Geschlechtsspezifische Unterschiede treten vor allem beim neuen Medium Internet und dem dafür erforderlichen PC-Besitz sowie bei Unterhaltungsmedien wie Spielekonsole, DVD-Player und Stereoanlage auf: Hier sind es stets anteilig mehr Männer, die über diesbezügliche Geräte verfügen; statistisch signifikant ist der Unterschied insbesondere bei der Spielekonsole (w: 14 Prozent, m: 32 Prozent).
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Tabelle 2: Medienausstattung Arbeitsloser nach Geschlecht
Fernseher vorhanden Handy vorhanden Radio vorhanden Computer/Laptop vorhanden DVD-Player vorhanden Stereoanlage vorhanden Videorecorder vorhanden Internetzugang vorhanden mp3-Player vorhanden Spielekonsole vorhanden
Frauen n = 160 in %
Männer n = 193 in %
Gesamt N = 353 in %
95 86 83 68 63 63 57 48 25 14
94 87 82 72 75 73 56 55 33 32
95 86 82 70 69 68 56 52 30 25
Der umfangreiche Besitz spiegelt sich entsprechend auch im täglichen Gebrauch wider. Betrachten wir gemeinsam mediale und nicht-mediale Freizeitaktivitäten, die täglich ausgeübt werden, erkennen wir folgende Ranglisten (vgl. Tabelle 3)3: Fernsehen, Radio und Internet stehen an oberer Stelle auf der Liste der Zeitvertreibe. Als häufigste nicht-mediale tägliche Freizeitbeschäftigungen folgen mit Faulenzen und Spazierengehen zwei Low-Cost-Beschäftigungen. Zwischen den Geschlechtern gibt es Differenzen: Während anteilig mehr Frauen als Männer Radio hören (m: 49 Prozent, w: 58 Prozent), nutzen anteilig mehr Männer als Frauen täglich das Internet (m: 38 Prozent, w: 23 Prozent). Weitere Unterschiede zwischen Frauen und Männern bestehen speziell bei den Lesemedien: Während mehr Männer täglich die Tageszeitung lesen (m: 29 Prozent, w: 20 Prozent), greifen Frauen häufiger zum Buch (w: 24 Prozent, m: 14 Prozent). Die starke Präsenz der Medien innerhalb der Freizeitbeschäftigungen drückt sich wiederum auch in den Angaben zur täglichen mittleren Mediennutzungsdauer aus (vgl. Tabelle 4). Wenn die entsprechenden Medien genutzt werden (als Verweildauer ausgewiesen), geben Frauen wie Männer an, Fernsehen mit knapp drei Stunden und Radio mit annähernd so vielen Stunden täglich am längsten zu nutzen. Deutliche Geschlechterungleichheiten fallen für die Nutzungsdauer des Internets auf, das an dritter Stelle platziert ist: Männer, die dieses Medium nutzen, geben an, dies im Mittel etwas mehr als zwei Stunden täglich zu tun, internetnutzende Frauen surfen nur knapp eineinhalb Stunden am Tag. Auch beim Lesen zeigen sich Unterschiede: Frauen lesen im Mittel deutlich länger in Büchern und auch Zeitschriften als Männer, Männer lesen umgekehrt etwas länger die Tageszeitung als Frauen. 3
Durch die Fokussierung auf die tägliche Nutzung ist bei der Interpretation dieser Rangliste zu beachten, dass einige der abgefragten Freizeitbeschäftigungen, wie etwa der Kinobesuch oder die Ausübung eines Ehrenamtes, in der Regel nicht täglich ausgeführt werden und somit innerhalb der Liste auch dadurch weiter unten rangieren.
Arbeitslose und Mediennutzung
305
Tabelle 3: Mediale und nicht-mediale Freizeitbeschäftigungen* Arbeitsloser nach Geschlecht Frauen n = 160 in %
Männer n = 193 in %
Gesamt N = 353 in %
69 58 23 23 25 20 28 19 19 24 13 9 6 4 3 2 3 3 1 1
71 49 38 32 28 29 22 26 21 14 17 6 8 8 4 3 4 1 2 2
70 53 31 28 26 25 25 23 20 19 15 8 7 6 3 3 3 2 1 1
Fernsehen schauen Radio hören Internet nutzen Faulenzen Spazierengehen Tageszeitung lesen Einkaufen Besuche machen/bekommen Private Weiterbildung Buch lesen Sport Anzeigenblatt lesen Zeitschrift lesen Heimwerken Ehrenamtliche Tätigkeit Kinobesuch Schaufensterbummel Handarbeiten Ausgehen Besuch öffentl. Veranstaltungen *Angabe „mache ich täglich“
Tabelle 4: Dauer der täglichen Mediennutzung* Arbeitsloser nach Geschlecht Frauen
Männer
Nutzung alle Verweil- Nutzung alle Verweildauer n = 193 dauer n = 160 in Min. in Min. in Min. in Min. 166 173 164 Fernsehen schauen 128 174 136 Radio hören 98 89 54 Internet nutzen 39 97 66 Buch lesen 23 53 26 Zeitschrift lesen 34 41 28 Tageszeitung lesen 16 25 17 Anzeigenblatt lesen 504 652 491 Medien summiert * Nutzungsdauer: Mittelwerte über alle Befragte; Verweildauer: Nutzer
Gesamt Nutzung alle Verweildauer N = 353 in Min. in Min.
176 165 179 167 132 162 117 79 137 88 51 78 49 24 45 44 32 46 25 17 25 666 498 672 Mittelwert über alle tatsächlichen
Zusätzlich nach dem Medium gefragt, das die Probanden wählen würden, wenn sie sich für ausschließlich eines entscheiden müssten, führt das Fernsehen (42 Prozent), gefolgt vom Internet (34 Prozent; m: 45 Prozent, w: 21 Prozent) – hier
306
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schlägt sich wohl nieder, dass es sich um eher jüngere Befragte handelt, die dem Internet gegenüber besonders aufgeschlossen sind – und überraschenderweise dem Buch, für das sich fast jede fünfte arbeitslose Frau entscheidet (10 Prozent; m: 4 Prozent, w: 18 Prozent) (ohne Tabelle). 4.2 Psychosoziale Einflussfaktoren Neben gängigen Mediennutzungsabfragen haben wir in die vorliegende Untersuchung auch Konstrukte zur Erfassung psychosozialer Einflussfaktoren eingebunden, von denen wir annehmen, dass sie auch bei der Mediennutzung Arbeitsloser zum Tragen kommen (vgl. Kapitel 2). Entsprechend wurden das Selbstwertgefühl der Probanden (Items und 4er-Skala von Rosenberg in der modifizierten Fassung nach von Collani/Herzberg 2003) und ihre Gefühlslage zur sozialen Isolation (Items und dichotome Zustimmung ja/nein nach Fischer/Kohr 2003) im Fragebogen abgefragt. Dabei zeigen sich in einer ersten Auswertung keine nennenswerten Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Mittelwertvergleiche für die Konstrukte weisen für Frauen und Männer einen ähnlichen Selbstwert-Index aus, der deutlich im positiven Bereich liegt (w: 32,8, m: 32,9; 40 entspricht dem maximalen Wert/hoher Selbstwert). Auch das Gefühl der sozialen Isolation ist im Durchschnitt gering; der Mittelwert der Frauen drückt in der Tendenz ein noch geringeres Gefühl der sozialen Isolation aus als der der Männer (w: 6,1, m: 6,6; 18 entspricht dem maximalen Wert/hohe soziale Isolation). Ein zweiter Schritt der Auswertung greift den Ansatz auf, zwischen verschiedenen Gruppen von Arbeitslosen zu differenzieren. Eine Faktorenanalyse zu den Variablen für das Selbstwertgefühl ergibt eine plausible Lösung mit den Faktoren „sich minderwertig fühlen“ (im Weiteren: „Minderwert“) und „sich anderen gegenüber gleichwertig fühlen“ (im Weiteren: „Gleichwert“). Diese beiden Faktoren wurden im Weiteren als Basis für eine weiterführende Clusteranalyse verwendet, als dritte clusterbildende Variable wurde ein Summenindex der Items zur sozialen Isolation hinzugenommen. So können Gruppen identifiziert werden, die sich hinsichtlich der in dieser Arbeit zentralen psychosozialen Merkmale des Selbstwerts und der sozialen Isolation ähneln. Unsere Stichprobe4 setzt sich hiernach aus folgenden fünf unterscheidbaren Typen5 zusammen (vgl. Diagramm 1). Etwa 40 Prozent umfasst die Gruppe der „Positiven Philantropen“, die sich als Menschenfreunde weder minderwertig 4
5
Das Clusterverfahren zog den Ausschluss der Fälle nach sich, die in einer der einbezogenen Item-Abfragen für die Konstrukte Minderwert, Gleichwert und soziale Isolation keinen Wert enthielten (da die Probanden hier nicht antworten wollten oder konnten). Die Stichprobengröße verringerte sich entsprechend auf n = 314. Die nachfolgenden Clusterbezeichnungen sind als zuspitzende, plakative Benennungen auf der Basis der Iteminhalte zu verstehen.
Arbeitslose und Mediennutzung
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noch isoliert, sondern anderen gegenüber gleichwertig fühlen. Fast die Hälfte der Frauen (46 Prozent) und 40 Prozent der Männer entfallen auf diese Gruppe, die mehrheitlich mittlere und höhere Bildungsabschlüsse besitzt. Das nächstfolgende Cluster (etwa ein Viertel der Gesamtstichprobe) kann als die „Frustriert Zurückgezogenen“ beschrieben werden; sie zeigen höhere Werte für Minderwert und soziale Isolation und einen kleineren Gleichwert. Ein Drittel der Männer und ein Fünftel der Frauen gehören diesem Cluster an, dessen Mehrheit eher über niedrige Bildungsabschlüsse verfügt. Knapp ein Fünftel umfasst die Gruppe der „Unsicher Agierenden“, die eher indifferent weniger Minderwertigkeit und soziale Isolation, aber auch deutlich wenig Gleichwertigkeit empfinden. Etwa 18 Prozent der Frauen wie Männer zählen zu dieser Gruppe, deren Zugehörige tendenziell eher mittlere oder höhere Schulabschlüsse haben. Das vorletzte Cluster ist das der „Selbstbewussten Eigenbrötler“ (11 Prozent), die sich nicht minderwertig, sondern deutlich gleichwertig (höchster Wert über alle Cluster gesehen), dabei jedoch sozial isoliert fühlen. Zehn Prozent der Frauen und zwölf Prozent der Männer gehören dieser Gruppe an, die sich in Bezug auf die Bildung über alle Abschlussarten etwa gleich verteilt. Schließlich entfallen Diagramm 1: Arbeitslose nach Typen des Selbstwertes und der sozialen Isolation 2
n = 18 1,5
n = 74
n = 35
1
n = 131 0,5 Minderwert
n = 56 0
Gleichwert
Frustriert Zurückgezogene
Soziale Isolation
-0,5
-1
Selbstbewusste Eigenbrötler
Positive Philantropen
-1,5
-2
Unsicher Agierende Komplexbehaftet Isolierte
Indexwerte, n = 3146 6
Lesebeispiel: Die Gruppe der „Positiven Philantropen“ weist mit negativen Werten für die Konstrukte „Minderwert“ und „Soziale Isolation“ dahingehende unterdurchschnittliche Einschätzungen aus: Sie fühlen sich also keineswegs minderwertig oder sozial isoliert, sondern deutlich gleichwertig (positiver Wert).
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sechs Prozent der Gesamtstichprobe auf die Gruppe der „Komplexbehaftet Isolierten“, die als eine extremere Ausgabe des Clusters 2 anmuten und sich deutlich minderwertig, stark nicht-gleichwertig und stark sozial isoliert fühlen. Ihnen gehören etwa gleich viele Frauen wie Männer an, die mehrheitlich niedrige Bildungsabschlüsse haben. 4.3 Muster der Mediennutzung Nach Klassifizierung der Stichprobe in fünf Typen der Selbstwerteinschätzung und gesellschaftlichen Einbindung im Zusammenhang mit der Arbeitslosigkeit gilt unser Interesse nun der Mediennutzung dieser Typen. Betrachtet werden soll, inwiefern hier spezifische Mediennutzungsmuster auftreten und ob sich Männer und Frauen innerhalb der Typen unterscheiden (vgl. Tabelle 5). Tabelle 5: Typen von Arbeitslosen – Beschreibung der Cluster nach Geschlecht im Cluster N = 314
Anteil Frauen/Männer in % Ø-Alter in Jahren Ø-Mediensumme Min./Tag Ø-Fernsehzeit Min./Tag Ø-Radiozeit Min./Tag Ø-Zeitungszeit Min./Tag Ø-Anzeigenblattzeit Min./Tag Ø-Zeitschriftenzeit Min./Tag Ø-Buchzeit Min./Tag Ø-Internetzeit Min./Tag Entscheidungsmedium
Positive Philantropen n = 131
Frustriert Zurückgezogene n = 74
w.
m.
w.
50 33 446 161 105 29 17 19 56 58 TV
50 32 517 166 130 41 17 27 41 96 Internet
38 39 557 139 204 33 25 29 79 47 TV/ Buch
m.
Unsicher Selbstbe- Komplex- Gesamte Agierende wusste Ei- behaftet Stichprobe* n = 56 genbrötler Isolierte N = 353 n = 35 n = 18 w.
m.
w.
62 50 50 40 35 33 32 41 509 507 462 449 209 192 154 126 104 140 121 109 33 26 27 38 19 16 20 10 21 28 25 25 40 62 33 88 85 44 80 53 TV TV Inter- Buch net
m.
w.
m.
w.
m.
60 50 50 45 55 35 30 33 36 34 488 523 500 491 504 126 227 120 164 166 167 75 114 136 128 35 20 28 28 34 7 17 16 12 15 18 17 28 26 23 31 40 54 66 39 98 130 148 54 98 TV TV TV TV TV
Bei der Interpretation der Tabelle ist zu beachten: In der Gesamtstichprobe liegt der Anteil der Frauen bei 45 %, Männer 55 %. Wenn ein Cluster 50 % Frauen ausweist, bedeutet dies, dass es überproportional mehr Frauen enthält. * Die Gesamtstichprobe unterscheidet sich von der Anzahl der Fälle, die der Clusterbildung zugrunde liegen, aus statistischen Gründen (siehe Fußnote 4).
Mediennutzung spielt bei allen untersuchten Clustern eine große Rolle, zumal im Minimum 446 Minuten für die Gesamtmediennutzung pro Tag veranschlagt werden.7 Im Mediennutzungsvergleich verhalten sich die Gruppen sehr unter7
Durch die teilweise unterschiedlichen Abfragen der Mediennutzung und der hier vorliegenden nicht-repräsentativen Stichprobe kann dieses Ergebnis nur bedingt mit anderen Bevölkerungsumfragen verglichen werden. Hier sind in erster Linie die gruppeninternen Unterschiede von Bedeutung, die den Einfluss von Geschlecht und psychosozialen Merkmalen zeigen.
Arbeitslose und Mediennutzung
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schiedlich: Die „Frustriert Zurückgezogenen“ weisen zum Beispiel in der Summe aller täglichen Medienaufwendungen deutlich höhere Werte auf als die anderen Gruppen. Differenziert nach den Geschlechtern erkennen wir aber, dass dies vor allem bei den Frauen dieses Clusters der Fall ist, die insbesondere überdurchschnittlich länger Radio hören (204 Min./Tag) und länger Lesemedien nutzen (166 Min./Tag). Die Männer dieses Clusters leben ihre Zurückgezogenheit dagegen überwiegend vor dem Fernseher aus (209 Min./Tag). Beide Befunde spiegeln sich auch in der Wahl des Mediums wider, das gewählt werden würde, wenn man sich für eins entscheiden müsste. Insgesamt eher zu den Wenignutzern der Befragten gehört das größte Cluster der Untersuchung, nämlich die „Positiven Philantropen“. Nach Geschlechtern betrachtet zeigt sich jedoch, dass es umgekehrt zum Cluster davor die Männer sind, die hier deutlich mehr Zeit für alle Medien aufwenden (517 Min./Tag) als die Frauen ihrer Gruppe (446 Min./Tag). Bei der drittgrößten Gruppe, den „Unsicher Agierenden“, verhält es sich wieder umgekehrt, indem die Frauen angeben, mehr Zeit am Tag für die Mediennutzung aufzuwenden (dies gilt mit Ausnahme des Internets für jedes Medium) als die männlichen Cluster-Mitglieder (507 zu 462 Min./Tag). Offenbar verfolgen die Geschlechter im Zusammenhang mit ihrer psychosozialen Lage in Bezug auf ihre Arbeitslosigkeit, die wir vorliegend in fünf Gruppen typologisiert haben, unterschiedliche Strategien bei der Medienzuwendung. Weitere Belege hierfür finden wir auch in den Bewertungs-Items, die für das Entscheidungsmedium abgefragt wurden. Motive wie „ich mich dann nicht alleine fühle“ (von Frauen wie Männern benannt) oder „ich den Alltag damit vergessen kann“ (nur Frauen) werden gerade von den „Frustriert Zurückgezogenen“ und den „Komplexbehaftet Isolierten“ für ihr Entscheidungsmedium, in der Regel das Fernsehen, genannt. Auffallend ist, dass sich die Einflüsse der untersuchten Dimensionen soziale Isolation und Selbstwert in Form von Interaktionseffekten zeigen. D.h., dass sich eine unterschiedliche Mediennutzung besonders dann zeigt, wenn bestimmte Ausprägungen der beiden Dimensionen zusammentreffen. Generell gilt, dass die Mediennutzung tendenziell zeitlich ausgedehnter ist, wenn die soziale Isolation als hoch empfunden und gleichzeitig ein geringeres Selbstwertgefühl, ausgedrückt in Form von Minderwertigkeitsgefühlen, angegeben wird. Menschen hingegen, die sich sozial isoliert fühlen, sich aber als gleichwertig gegenüber anderen einschätzen, nutzen Medien tendenziell weniger. Insgesamt spielen Medien damit für die Arbeitslosengruppen eine unterschiedliche Rolle. Zwischen Frauen und Männern gibt es generell und auch innerhalb dieser Gruppen Unterschiede hinsichtlich der Medienauswahl und des zeitlichen Mediennutzungsaufwandes, was bereits die hier betrachteten Variablen betrifft. Sicherlich sind weitere Kontextvariablen zu berücksichtigen. Betrachtet man etwa den Familienstand oder ob Kinder im eigenen Haushalt leben, so zeigen
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sich weitere plausible Tendenzen: Die Cluster, die einen geringeren zeitlichen Aufwand für Medien aufbringen, sind diejenigen, die eher in einer Lebenspartnerschaft bzw. zusammen mit Kindern leben, was für Frauen wie Männer gleichermaßen gilt (ohne Tabelle).
5. Zusammenfassender Ausblick Welchen Stellenwert haben Medien im Alltag von Arbeitslosen? Die Ergebnisse sprechen dafür, dass Medien zumindest auf der quantitativen Ebene eine zentrale Option sind, seinen Tag zu gestalten und seine Zeit zu verbringen. Im Fokus stehen hier nicht der Vergleich zu den Erwerbstätigen, sondern die Muster, die sich innerhalb der Gruppe der hier untersuchten Arbeitslosen zeigen. Im Kanon der möglichen täglichen Alltags- und Freizeitaktivitäten wird den Medien eine hohe Bedeutung zugesprochen. Mediennutzung rangiert in der Liste noch vor allen anderen denkbaren Beschäftigungen, gleichzeitig wenden Arbeitslose für Medien eine beachtliche Dauer auf. Dies unterscheidet die Arbeitslosen also nicht unmittelbar von der Gesamtbevölkerung. Dennoch scheint sich der Befund gut in bisherige Erklärungsmuster der Bewältigung der Arbeitslosensituation einzufügen und lässt eine qualitative Interpretation zu: Vorhandene Beschäftigungsmöglichkeiten werden langsamer und gründlicher ausgeführt, vor allem, wenn dadurch keine erhöhten Kosten und kein physischer Mehraufwand entstehen. Ersteres könnte etwa auf die Nutzung von Printmedien zutreffen, indem diese zeitlich intensiv gelesen werden, während Letzteres den Umgang mit auditiven und audiovisuellen Medien kennzeichnet. Auffallend sind die Unterschiede zwischen Frauen und Männern, die man bereits aus der genderspezifischen Rezeptionsforschung kennt: Während viele der befragten arbeitslosen Frauen sich intensiv den Lesemedien zuwenden, zeigen viele Männer eine ausgeprägte Affinität zum Internet, unabhängig vom Alter. Das zentrale Medium für die tägliche Nutzung aber ist das Fernsehen. Dieses Ergebnis ist nicht überraschend, denn auch für die Gesamtbevölkerung ist das Fernsehen das Lieblingsmedium (vgl. z.B. Fritz/Klingler 2003: 15; van Eimeren/Ridder 2005: 493). Das Fernsehen ist durch seine eher passive Rezeptionssituation wie kaum ein anderes Medium in der Lage, Zeitspannen auszufüllen und durch die Bandbreite der Angebote für verschiedene Stimmungen und Bedürfnisse etwas anbieten zu können. Auffällig aber ist die Rolle, die das Internet im Alltag der hier befragten Arbeitslosen spielt. Dies gilt sowohl für Frauen wie für Männer, wenn auch für Männer in noch deutlicherem Umfang. Zwar hat das Internet auch in der Gesamtbevölkerung in den letzten Jahren aufgeholt, was Nutzung und Vorliebe betrifft. Die Angabe der Befragten, die vor die Entscheidung nach einem einzigen Wahlmedium gestellt wur-
Arbeitslose und Mediennutzung
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den und das Internet nannten, ist jedoch höher als im Bevölkerungsschnitt zum Befragungszeitpunkt (34 zu 16 Prozent: Eimeren/Ridder 2005: 493). Dies könnte erstens an den inzwischen relativ niedrigen Zugangskosten wie z.B. Flatrates liegen, zweitens an der gleichzeitig damit zur Verfügung stehenden Bandbreite an Angeboten, die dem hohen Zeitkontingent der Arbeitslosen entgegenkommt, drittens könnte das Internet im Rahmen der Arbeitsplatzsuche einen spezifischen Stellenwert haben, und viertens – dies muss bei der Interpretation berücksichtigt werden – sind in der Stichprobe eher jüngere und damit internetaffine Altersgruppen repräsentiert. Es ist somit wohl das Medium, welches die unterschiedlichen Bedürfnisse der heterogenen Gruppe der Arbeitslosen letztlich am stärksten bedient. Arbeitslosigkeit kann Auswirkungen haben auf die wahrgenommene soziale Isolation und das Selbstwertgefühl. Im Vorfeld der Untersuchung waren die Annahmen, in welcher Form sich dies in der Mediennutzung niederschlagen kann, eher vage. Die clusteranalytisch gebildeten Typen haben jedoch zweierlei deutlich gemacht: Erstens fällt die Mediennutzung je nach Ausprägung der untersuchten Dimensionen unterschiedlich aus. Medienzuwendung unterliegt demnach in der Arbeitslosigkeit psychosozialen Einflussfaktoren. Zwischen sozialer Isolation, Selbstwertgefühlen und Mediennutzung lassen sich dabei keine linearen Zusammenhänge entdecken, wohl aber Interaktionseffekte. Zweitens geben Frauen und Männer innerhalb der einzelnen Typen den unterschiedlichen Medien vielfach ein unterschiedliches zeitliches Gewicht; dies ist ein bestätigendes Indiz dafür, dass sie die Zeit der Arbeitslosigkeit bei vergleichbarem psychosozialem Erleben doch unterschiedlich im Alltag gestalten. Von Interesse wäre hier sicherlich, in Folgeuntersuchungen noch weitere Kontextvariablen, wie u.a. die Familien- und Wohnkonstellation, einzubeziehen. Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass die Gruppe der Arbeitslosen für eine kommunikationswissenschaftliche Zuwendung interessant ist und bleibt. Zur Einordnung der Aussagekraft der Ergebnisse muss jedoch selbstverständlich berücksichtigt werden, dass es sich bei der Anlage der vorliegenden Untersuchung nicht um eine repräsentative Stichprobe handelt. Die hier quantitativ gewonnenen Ergebnisse sollten nun in folgenden Schritten vertieft und um qualitative Forschung ergänzt werden. Hier müssten dann auch Fragen nach den spezifisch genutzten Medieninhalten, nach den jeweils zugrunde liegenden Nutzungsmotiven und daraus resultierenden Mediengratifikationen gestellt werden. Angesichts der sich wandelnden Medienlandschaft und Mediennutzungsgewohnheiten, insbesondere bezogen auf die digitalen Medienangebote, ist es zudem erforderlich, die weiteren Entwicklungen im Zeitverlauf zu beobachten.
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Literatur Brinkmann, Christian/Schober, Karen (2002): Verlaufsuntersuchungen bei Arbeitslosen 1974/75 und 1981/83. In: Vonderach, Gerd (Hg.): Arbeitslose im Blick der Sozialforschung. Ausgewählte Studien aus der Geschichte der empirischen Arbeitslosenforschung im deutschsprachigen Raum. Münster: LIT, 91–101. Bundesagentur für Arbeit (2008): Der Arbeitsmarkt in Deutschland: Monatsbericht Dezember und das Jahr 2007. Nürnberg: BA. Eggert-Schmid Noerr, Annelinde (1991): Geschlechterrollen und Arbeitslosigkeit. Eine gruppenanalytische Studie. Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag. Fabian, Thomas (1993): Fernsehen und Einsamkeit im Alter: eine empirische Untersuchung zu parasozialer Interaktion. Münster: LIT. Fischer, Arthur/Kohr, Hans-Ulrich (2003): Soziale Isolation. In: Glöckner-Rist, Angelika (Hg.): ZUMA-Informationssysteme. Elektronisches Handbuch sozialwissenschaftlicher Erhebungsinstrumente. Version 7.00. Mannheim: ZUMA. Fritz, Irina/Klingler, Walter (2003): Zeitbudgets und Tageszeitablaufverhalten in Deutschland: Die Position der Massenmedien. In: Media Perspektiven, Nr. 1, 12–23. Fryer, David (1995): Podiumsbeitrag zu Panel 4. Massenarbeitslosigkeit in Westeuropa: Die Entstehung einer neuen „Underclass“? In: Soziologisches Forschungsinstitut Göttingen SOFI (Hg.): Im Zeichen des Umbruchs. Beiträge zu einer anderen Standortdebatte. Opladen: Leske + Budrich, 240–245. Jäckel, Michael (1992): Mediennutzung als Niedrigkostensituation. Anmerkungen zum Nutzen- und Belohnungsansatz. In: Medienpsychologie 4, Nr. 4, 246–265. Jahoda, Marie/Lazarsfeld, Paul F./Zeisel, Hans (1975): Die Arbeitslosen von Marienthal. Frankfurt/ Main: Suhrkamp. Kieselbach, Thomas (1994): Arbeitslosigkeit als psychologisches Problem – auf individueller und gesellschaftlicher Ebene. In: Montada, Leo (Hg.): Arbeitslosigkeit und soziale Gerechtigkeit. Frankfurt/Main: Campus, 233–263. Klaus, Elisabeth (2005): Kommunikationswissenschaftliche Geschlechterforschung. Zur Bedeutung der Frauen in den Massenmedien und im Journalismus (2. korr. und aktual. Aufl.). Münster: LIT. Knobloch-Westerwick, Silvia/Hastall, Matthias R./Grimmer, Daniela/Brück, Julia (2005): „Informational Utility“. Der Einfluss der Selbstwirksamkeit auf die selektive Zuwendung zu Nachrichten. In: Publizistik 50, 462–474. Kronauer, Martin/Vogel, Berthold/Gerlach, Frank (1993): Im Schatten der Arbeitsgesellschaft. Arbeitslose und die Dynamik sozialer Ausgrenzung. Frankfurt/Main: Campus. Luedtke, Jens (1998): Lebensführung in der Arbeitslosigkeit: differentielle Problemlagen und Bewältigungsmuster. Pfaffenweiler: Centaurus. Media Perspektiven Basisdaten (2007): Daten zur Mediensituation in Deutschland. Frankfurt/Main: Media Perspektiven. Mohr, Gisela (Hg.) (1993): Ausgezählt. Theoretische und empirische Beiträge zur Psychologie der Frauenerwerbslosigkeit. Weinheim: Deutscher Studienverlag. Morgan, Michael/Shanahan, James (1997): Two Decades of Cultivation Research. An Appraisal and Meta-Analysis. In: Burleson, Brant R./Kunkel, Adrianne (Hg.): Communication Yearbook, 20. Mahwah, New Jersey: Lawrence Erlbaum, 1–45. Neverla, Irene (1992): Fernseh-Zeit. Zuschauer zwischen Zeitkalkül und Zeitvertreib. Eine Untersuchung zur Fernsehnutzung. München: Ölschläger. Noelle-Neumann, Elisabeth/Gillies, Peter (1987): Arbeitslos. Report aus einer Tabuzone. Berlin: Ullstein. Paul, Karsten/Moser, Klaus (2001): Negatives psychisches Befinden als Wirkung und als Ursache von Arbeitslosigkeit: Ergebnisse einer Metaanalyse. In: Zempel, Jeanette/Bacher, Johann/Moser, Klaus (Hg.): Erwerbslosigkeit. Ursachen, Auswirkungen und Interventionen. Opladen: Leske + Budrich, 83–110.
Arbeitslose und Mediennutzung
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Prott, Jürgen (1986): Die Bedeutung des Fernsehens im Alltag von Arbeitslosen. In: Media Perspektiven, Nr. 6, 403–411. Schweiger, Wolfgang (2007): Theorien der Mediennutzung. Eine Einführung. Wiesbaden: VS. Schultz-Gambard, Jürgen/Balz, Hans-Jürgen/Winter, Gerhard (1987): Arbeitslosigkeit: Folgen und Einflussfaktoren. In: Schultz-Gambard, Jürgen (Hg.): Angewandte Sozialpsychologie. München: Psychologie Verlags Union, 189–214. van Eimeren, Birgit/Ridder, Christa-Maria (2005): Ergebnisse der ARD/ZDF-Langzeitstudie Massenkommunikation. Trends in der Nutzung und Bewertung der Medien 1970 bis 2005. In: Media Perspektiven, Nr. 10, 490–504. von Collani, Gernot/Herzberg, Philipp Yorck (2003): Eine revidierte Fassung der deutschsprachigen Skala zum Selbstwertgefühl von Rosenberg. In: Zeitschrift für Differentielle und Diagnostische Psychologie 24, Nr. 1, 3–7. Wacker, Alois (2001): Marienthal und die sozialwissenschaftliche Arbeitslosenforschung – ein historischer Rück- und Ausblick. In: Zempel, Jeanette/Bacher, Johann/Moser, Klaus (Hg.): Erwerbslosigkeit. Ursachen, Auswirkungen und Interventionen. Opladen: Leske + Budrich, 397– 414. Warr, Peter (1984): Job Loss, Unemployment and Psychological Well Beeing. In: Allen, Vernon L./ van der Vliert, Evert (Hg.): Role Transitions. New York: Plenum Press, 263–285.
Autorinnen und Autoren Mascha Brichta, M.A. (1971). Doktorandin am Communication and Media Research Institute (CAMRI) der University of Westminster und an der Leuphana Universität Lüneburg, war dort Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienkultur (IfKM). Forschungsschwerpunkte: Publikums- und Rezeptionsforschung, Cultural Studies, Populäre Medien und Populärkultur, Citizen Journalism, qualitative Forschungsmethoden. Publikationen u.a.: Themenheft „News Journalism in Transition“, Westminster Papers in Communication and Culture (WPCC) 5, 2/2008 (Hg. mit S. Johansson); Wer krank ist, geht ins Netz: Eine empirische Untersuchung zur Medien- und Internetnutzung im Krankheitsverlauf (mit I. Neverla u.a., München 2007); Boulevardberichterstattung. In: Medien von A bis Z, hg. vom Hans-Bredow-Institut (Wiesbaden 2006, S. 59–62). Kontakt:
[email protected]. Caroline Düvel, Dipl.-Medienwiss. (1979). Doktorandin und Stipendiatin am Institut für Medien, Kommunikation und Information (IMKI) der Universität Bremen. Forschungsschwerpunkte: Mobilkommunikation und digitale Medien, transkulturelle Kommunikation und Medienaneignung in Diasporagemeinschaften, Cultural Studies und qualitative Methoden der Medienkulturforschung. Publikationen u.a.: Lokal – translokal – digital: Kommunikative Mehrfachvernetzung und die Aneignung digitaler Medienumgebungen in der russischen Diaspora. In: U. Hunger & K. Kissau (Hg.): Migration und Internet (Wiesbaden 2009, im Erscheinen); Paul Gilroy: Schwarzer Atlantik und Diaspora. In: A. Hepp, F. Krotz & T. Thomas (Hg.): Schlüsselwerke der Cultural Studies (Wiesbaden 2009, S. 176–188); Kommunikative Mobilität – mobile Lebensstile? Die Bedeutung der Handyaneignung von Jugendlichen für die Artikulation ihrer Lebensstile. In: A. Hepp & R. Winter (Hg.): Kultur – Medien – Macht. Cultural Studies and Medienanalyse (3., überarb. Aufl., Wiesbaden 2006, S. 399–423). Kontakt:
[email protected]. Nicole Gonser, Dipl.-Sozialwiss., Dipl.-Medienwiss. (1971). Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Journalistik und Kommunikationsforschung an der Hochschule für Musik und Theater Hannover. Forschungsschwerpunkte: Ältere Menschen und Medien, Kinder und Medien, Mediengeschichte. Publikationen u.a.: „Generation Volksempfänger“ – Die Radionutzung älterer Hörer längsschnittlich betrachtet. In: J. Hagenah & H. Meulemann (Hg.): Alte und neue Medien. Zum Wandel der Medienpublika in Deutschland seit den 1950er Jahren (mit T. Schroll & H. Scherer, Berlin 2008, S. 181–200); Das Medienverhalten älterer Menschen. Eine Sekundäranalyse anhand der Studie „Massenkommunikation 2000“. In: R. Rosenstock, C. Schubert & K. Beck (Hg.): Medien im Lebenslauf. Demographischer Wandel und Mediennutzung (mit M. Doh, München 2007, S. 39– 64). Kontakt:
[email protected]. Andreas Hepp, Prof. Dr. (1970). Professor für Kommunikationswissenschaft am Institut für Medien, Kommunikation und Information (IMKI) der Universität Bremen. Forschungsschwerpunkte: Medien- und Kommunikationstheorie, Mediensoziologie, transnationale und transkulturelle Kommunikation, Cultural Studies, Medienwandel, Medien und Religionswandel, digitale Medien, Methoden der Medienkulturforschung, Medienrezeption/-aneignung und Diskursanalyse. Publikationen u.a.: Medien – Event – Religion. Die Mediatisierung des Religiösen (mit V. Krönert, Wiesbaden 2009); Transkulturelle Kommunikation (Konstanz 2006); Netzwerke der Medien. Medienkulturen und Globalisierung (Wiesbaden 2004). Kontakt:
[email protected]. Friederike Herrmann, Prof. Dr. (1960). Professorin für Medienwissenschaft mit dem Schwerpunkt Textproduktion im Studiengang Online-Journalismus der Hochschule Darmstadt. Forschungsschwerpunkte: Journalistisches Texten, Schreibprozesse, Storytelling, Öffentlichkeit und Privatheit, Gender
Autorinnen und Autoren
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und Medien, Medienethik, Cultural Studies. Publikationen u.a.: Unter Druck. Die journalistische Textwerkstatt (Hg., Wiesbaden 2006); Technical Writing. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik (Bd. 9, Tübingen, im Druck,); Verständlichkeit. In: ebd. Kontakt:
[email protected]. Brigitte Hipfl, Dr. phil. habil. (1954). Professorin am Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaft der Universität Klagenfurt (Österreich). Forschungsschwerpunkte: Medien- und Rezeptionsforschung, Medienpädagogik, theoretische und forschungspraktische Fragen zu Identitätsformationen, Cultural Studies, Gender Studies, postkoloniales Europa und Medien. Publikationen u.a.: Media Communities (Hg. mit T. Hug, Münster 2006); Identitätsräume (Hg. mit E. Klaus & U. Scheer, Bielefeld 2004); Bewegte Identitäten. Medien in transkulturellen Kontexten (Hg. mit B. Busch & K. Robins, Klagenfurt 2001). Kontakt:
[email protected]. Nathalie Huber, M.A. (1977). Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung (IfKW) an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Studium der Kommunikationswissenschaft, Psychologie, Soziologie und Recht an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz und an der LMU München. Auslandsstudium mit DiplomAbschluss am Institut Français de Presse, Paris II. Forschungsschwerpunkte: Theorie- und Fachgeschichte der Kommunikationswissenschaft, Wissenschaftssoziologie, Berufsfeldforschung, Mediennutzungsforschung. Publikationen u.a.: Medien im Alltag. Qualitative Studien zu Nutzungsmotiven und zur Bedeutung von Medienangeboten (Hg. mit M. Meyen, Münster 2006); Ohne Bilder im Bilde. Eine qualitative Studie zur Mediennutzung und Medienbewertung blinder Menschen in Deutschland (Münster 2004). Kontakt:
[email protected]. Elisabeth Klaus, Univ.Prof. Dr. (1955). Leiterin des Fachbereichs Kommunikationswissenschaft an der Paris-Lodron-Universität Salzburg. Forschungsschwerpunkte: Cultural Studies/Populärkultur, Kommunikationswissenschaftliche Geschlechterforschung, Theorien der Öffentlichkeit. Publikationen u.a.: Media Industry, Journalism Culture and Communication Policies in Europe (Hg. mit H. Bohrmann & M. Machill, Köln 2007); Kommunikationswissenschaftliche Geschlechterforschung. Zur Bedeutung der Frauen in den Massenmedien und im Journalismus (2. Aufl., Wien 2005); Identitätsräume. Nation, Körper und Geschlecht in den Medien (Hg. mit B. Hipfl & U. Scheer, Bielefeld 2004). Kontakt:
[email protected]. Karin Knop, Dr. phil. (1974). Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung (IfKW) der Ludwig-Maximilians-Universität München. Forschungsschwerpunkte: Medieninhalts- und Nutzungsforschung, historische Werbeforschung, Fernsehformate und Populärkultur, Medien und gesellschaftlicher Wandel. Publikationen u.a.: Comedy in Serie: Medienwissenschaftliche Perspektiven auf ein TV-Format (Bielefeld 2007); Unterhaltungskultur (Hg. mit W. Faulstich, München 2006); Veralltäglichung – Versachlichung – Verwissenschaftlichung. Werbung und Werbemedien der 1920er Jahre. In: W. Faulstich (Hg.): Die Kultur der 1920er Jahre (München 2008, S. 137–149). Kontakt:
[email protected]. Margreth Lünenborg, Prof. Dr. phil. (1963). Seit 2009 Professorin für Journalistik am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der FU Berlin und Direktorin des dortigen Journalisten-Kollegs, zuvor Professur für Medien und Kommunikation an der Universität Siegen sowie Lehrund Forschungstätigkeiten an Universitäten u.a. in Berlin, Wien, Salzburg und Leipzig. Vor der wissenschaftlichen Arbeit als Journalistin und in der politischen Kommunikation tätig. Forschungsschwerpunkte: Journalismusforschung – auch international vergleichend; kommunikationswissenschaftliche Geschlechterforschung, kulturorientierte Medienforschung. Publikationen u.a.: Politik auf dem Boulevard? Die Neuordnung der Geschlechter in der Politik der Mediengesellschaft (Hg., Bielefeld 2009); Journalismus als kultureller Prozess. Zur Bedeutung von Journalismus in der Mediengesellschaft (Wiesbaden 2005); Krieg in der Mediengesellschaft – Herausforderung für die Kommunikationswissenschaft. Kontinuitäten und Diskontinuitäten der Kommunikationsforschung. In: Medien Journal 28, 3/2004, S. 34–47; Tabubruch als Programm. Privates und Intimes in den Medien (Hg. mit F. Herrmann, Opladen 2001). Kontakt:
[email protected].
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Autorinnen und Autoren
Tanja Maier, Dr. phil. (1972). Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft (AS Journalistik) der Freien Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte: Medientheorie, Geschlechtertheorie, Cultural Studies, Popularisierung von Wissen, Diskursanalyse als Methode der Medienforschung. Publikationen u.a.: Gender und Fernsehen. Perspektiven einer kritischen Medienwissenschaft (Bielefeld 2007); Was kann Medienkultur heute sein? Akzentuierung eines viel genutzten Begriffes. In: Medien Journal, Themenheft Medienkulturforschung, 3/2008, S. 8–18; Wahrheit, Wissen, Wirklichkeit: Popularisierungsprozesse in Wissensmagazinen. In: R. Stöber u.a. (Hg.): Medien und Kommunikation in der Wissensgesellschaft (Konstanz 2008, S. 128–140). Kontakt:
[email protected]. Michael Meyen, Prof. Dr. (1967). Seit 2002 Professor für Allgemeine und Systematische Kommunikationswissenschaft an der Universität München. Forschungsschwerpunkte: Kommunikationsgeschichte, Mediennutzung, Wissenschaftsentwicklung. Publikationen u.a.: Diktatur des Publikums. Journalisten in Deutschland (mit C. Riesmeyer, Konstanz 2009); Journalistenausbildung, Empirie und Auftragsforschung. Neue Bausteine zu einer Geschichte des Münchener Instituts für Kommunikationswissenschaft (Hg. mit M. Wendelin, Köln 2008); Medialisierung. In: Medien & Kommunikationswissenschaft 57, 1/2009, S. 23–38. Kontakt:
[email protected]. Wiebke Möhring, Prof. Dr. (1970). Professorin für Öffentliche Kommunikation an der Fachhochschule Hannover. Forschungsschwerpunkte: Empirische Erhebungsmethoden, Lokalkommunikation, Öffentliche Kommunikation in der Gesellschaft. Publikationen u.a.: Lokaljournalismus (mit S. Kretzschmar & L. Timmermann, Wiesbaden 2008); Zur Validität postrezeptiver Befragungen. In: J. Matthes u.a. (Hg.): Die Brücke zwischen Theorie und Empirie: Operationalisierung, Messung und Validierung in der Kommunikationswissenschaft (mit T. Hartmann, Köln 2008, S. 271–295); Die Befragung in der Medien- und Kommunikationswissenschaft. Eine praxisorientierte Einführung (mit D. Schlütz, Wiesbaden 2003). Kontakt:
[email protected]. Kathrin Friederike Müller, Dr. phil. (1978). Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Verbundprojekt „Spitzenfrauen im Fokus der Medien. Die mediale Repräsentation von weiblichen und männlichen Führungskräften in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft“ am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienkultur (IfKM) der Leuphana Universität Lüneburg. Forschungsschwerpunkte: Frauenzeitschriftenforschung, Gender Studies, Rezeptionsforschung, Cultural Studies, Grounded Theory, medienbiografische Forschung. Publikationen u.a.: Frauenzeitschriften aus der Sicht ihrer Leserinnen. Die Rezeption von Brigitte im Kontext von Alltag, Biografie und Doing Gender (Bielefeld 2009, im Erscheinen); Merkels Dekolleté als Mediendiskurs. Eine Bild-, Text- und Rezeptionsanalyse zur Vergeschlechtlichung einer Kanzlerin. In: M. Lünenborg (Hg.): Politik auf dem Boulevard? Die Neuordnung der Geschlechter in der Politik der Mediengesellschaft (mit M. Lünenborg, J. Röser, T. Maier & E. Grittmann, Bielefeld 2009, S. 73–101). Kontakt:
[email protected]. Barbara O’Connor, Dr. (1951). Senior Lecturer an der School of Communications, Dublin City University. Forschungsschwerpunkte: Medienaneignungs- und Publikumsforschung, Medien und (geschlechtliche, ethnische, nationale & transnationale) Identitäten in aktuellen wie historischen Kontexten, mediale Repräsentationen sowie populärkulturelle Praxen wie Tourismus und Tanz. Publikationen u.a.: Mapping Irish Media: Critical Explorations (Hg. mit J. Horgan & H. Sheehan, Dublin 2007); Irish Tourism: Image, Culture and Identity (Hg. mit M. Cronin, Clevedon 2003); Media Audiences in Ireland: Power, and Cultural Identity (Hg. mit M. J. Kelly, Dublin 1997). Kontakt:
[email protected]. Corinna Peil, M.A. (1975). Wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt „Die Domestizierung des Internets. Rekonstruktion häuslicher Aneignungsprozesse eines neuen Mediums (1997–2007)“ am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienkultur der Leuphana Universität Lüneburg. Forschungsschwerpunkte: Mobilkommunikation und digitale Medien in Alltagskontexten, Cultural Studies, Fernsehen im gesellschaftlichen und medialen Wandel. Publikationen u.a.: Mobile Communications in Japan: On the Potential of Enhancing Ethnographic Oriented Research Methods with a Cultural Studies
Autorinnen und Autoren
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Approach. In: E. Maxl, A. Ließ & N. Döring (Hg.): Mobile Market Research. Neue Schriften zur Online-Forschung (Köln 2009, im Erscheinen); Weibliche Information und männliche Unterhaltung? Die Tagesthemen und deren Moderation aus Sicht der Zuschauerinnen und Zuschauer. In: M. Lünenborg (Hg.): Politik auf dem Boulevard? (Bielefeld 2009, S. 232–255); Keitai-Kommunikation: Mobiler Medienalltag in Japan. In: J. Röser (Hg.): MedienAlltag. Domestizierungsprozesse alter und neuer Medien (Wiesbaden 2007, S. 223–233). Kontakt:
[email protected]. Tanja Petsch, M.A. (1974). Doktorandin am Institut für Medienwissenschaften, Universität Paderborn; Studium der Angewandten Kulturwissenschaften mit Schwerpunkt Sprache und Kommunikation, Kunst und Bildwissenschaften sowie Medien und Öffentlichkeitsarbeit an der Universität Lüneburg. Forschungsinteressen: Gender Media Studies, historisch und gesellschaftlich fundierte Filmanalyse (insbesondere der Film der Weimarer Republik, Film im Nationalsozialismus), Identitätskonstruktion und Film, filmische Alteritätsdiskurse, filmtheoretische Positionen und bildästhetische Konzepte. Kontakt:
[email protected]. Senta Pfaff-Rüdiger, M.A. (1978). Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung (IfKW) der Ludwig-Maximilians-Universität München. Forschungsschwerpunkte: Mediennutzungsforschung, Kinder und Medien, qualitative Methoden, Medien und Erinnerung. Publikationen u.a.: Alltag, Lebenswelt und Medien. Qualitative Studien zum subjektiven Sinn von Medienangeboten (Hg. mit M. Meyen, Münster 2007); Medien im Alltag. Methodenprobleme qualitativer Nutzungsforschung. In: ebd. (S. 9–45). Kontakt: senta.pfaff@ifkw. lmu.de. Jan Pinseler, Dr. (1969). Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienkultur (IfKM) der Leuphana Universität Lüneburg. Forschungsschwerpunkte: Mediale Darstellungen von Abweichung, Hörfunk und auditive Formen im Internet, mediale Geschlechterkonstruktionen, Queer Theory. Publikationen u.a.: Fahndungssendungen im deutschsprachigen Fernsehen (Köln 2006); Punitive Reality TV. Televising Punishment and the Production of Law and Order. In: N. Carpentier & S. Van Bauwel (Hg.): Trans-Reality Peeping Around the Corner: Meta Perspectives on Reality TV (Lexington 2009, im Erscheinen); The Politics of Talk on German Free Radio Stations. In: Westminster Papers in Communication and Culture (WPCC) 5, 1/2008, S. 67–85; Normalisierung und Ausschluss. Darstellungen nicht-heterosexuellen Verhaltens in Fahndungssendungen. In: J. Hartmann u.a. (Hg.): Heteronormativität. Empirische Studien zu Geschlecht, Sexualität und Macht (Wiesbaden 2007, S. 219–235). Kontakt:
[email protected]. Jutta Röser, Prof. Dr. (1959). Professorin für Kommunikationswissenschaft und Direktorin des Instituts für Kommunikationswissenschaft und Medienkultur (IfKM) der Leuphana Universität Lüneburg. Forschungsschwerpunkte: Publikums- und Rezeptionsforschung, Cultural Media Studies und Gender Studies, (Digitale) Medien und Kommunikationstechnologien in Alltagskontexten, Populäre Medien, Mediengewalt. Publikationen u.a.: MedienAlltag. Domestizierungsprozesse alter und neuer Medien (Hg., Wiesbaden 2007); Frauen und Geschlechterforschung: Zum Gesellschaftsbezug der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft. In: Publizistik Sonderheft 5 2005/2006, hg. von C. Holtz-Bacha u.a. (mit E. Klaus & U. Wischermann, S. 354–369); Das Zuhause als Ort der Aneignung digitaler Medien. In: merzWissenschaft 49, 6/2005, S. 86–96. Kontakt: roeser@uni. leuphana.de. Tanja Thomas, Prof. Dr. phil. (1968). Juniorprofessorin für Kommunikationswissenschaft und Medienkultur am IfKM der Leuphana Universität Lüneburg. Forschungsschwerpunkte: Kritische Medientheorien, Cultural Studies, Gender Studies, Mediensoziologie. Publikationen u.a.: Schlüsselwerke der Cultural Studies (Hg. mit A. Hepp & F. Krotz, Wiesbaden 2009); War Isn’t Hell, It’s Entertainment: Essays on Visual Media and the Representation of Conflict (Hg. mit R. Schubart, F. Virchow & D. White-Stanley, Jefferson 2009); Medienkultur und soziales Handeln (Hg., Wiesbaden 2008); Medien – Diversität – Ungleichheit. Zur medialen Konstruktion sozialer Differenz (Hg. mit U. Wischermann, Wiesbaden 2008). Kontakt:
[email protected].