Krieg in den Medien
57
Herausgegeben von
Gerd Labroisse Gerhard P. Knapp Anthonya Visser
Mit der Herausgabe dieses Bandes beendet Anthonya Visser ihre Tätigkeit als Reihenherausgeberin und Redaktion der ABnG
Wissenschaftlicher Beirat:
Lutz Danneberg (Humboldt-Universität zu Berlin) Martha B. Helfer (Rutgers University New Brunswick) Dieter Hensing (Universiteit Amsterdam) Lothar Köhn (Westf. Wilhelms-Universität Münster) Walter Schönau (Rijksuniversiteit Groningen) Ian Wallace (University of Bath)
2005
AMSTERDAMER BEITRÄGE ZUR NEUEREN GERMANISTIK
Krieg in den Medien
Herausgegeben von
Heinz-Peter Preußer
Amsterdam - New York, NY 2005
Die 1972 gegründete Reihe erscheint seit 1977 in zwangloser Folge in der Form von Thema-Bänden mit jeweils verantwortlichem Herausgeber. Reihen-Herausgeber: Prof. Dr. Gerd Labroisse Sylter Str. 13A, 14199 Berlin, Deutschland Tel./Fax: (49)30 89724235 E-Mail:
[email protected] Prof. Dr. Gerhard P. Knapp University of Utah Dept. of Languages and Literature, 255 S. Central Campus Dr. Rm. 1400 Salt Lake City, UT 84112, USA Tel.: (1)801 581 7561, Fax (1)801 581 7581 (dienstl.) bzw. Tel./Fax: (1)801 474 0869 (privat) E-Mail:
[email protected] Prof. Dr. Anthonya Visser Universiteit Leiden Redaktion: Prof. Dr. Anthonya Visser Technische Redaktion: Drs. Clarije Groffen
Titelbild: Anonym: Ramses II. erschlägt seine Feinde. 19. Dynastie. Relief auf der rechten Eingangswand des Großen Tempels von Abu Simbel. Fotografie des Herausgebers. All titles in the Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik (from 1999 onwards) are available online: See www.rodopi.nl Electronic access is included in print subscriptions. The paper on which this book is printed meets the requirements of “ISO 9706:1994, Information and documentation - Paper for documents Requirements for permanence”. ISBN: 90-420-1855-0 ©Editions Rodopi B.V., Amsterdam – New York, NY 2005 Printed in The Netherlands
Inhalt
I. VORSATZ
7
Heinz-Peter Preußer: Perzeption und Urteilsvermögen. Eine Einleitung zu “Krieg in den Medien”
9
Juli Zeh: “Ich bin auf Standby – Ich sehe alles und nichts.” Aus dem Tagebuch einer Reise durch Bosnien-Herzegowina
35
II. INTER- UND TRANSMEDIALE WANDLUNGEN
53
Manuel Köppen: Von Tolstoi bis Griffith. Krieg im Wandel der Mediendispositive
55
Jürgen Wilke: Krieg als Medienereignis. Zur Geschichte seiner Vermittlung in der Neuzeit
83
Niels Werber: Medien des Krieges. Zur Semantik des Weltverkehrs
105
Erhard Schütz: Wahn-Europa. Mediale Gas-Luftkrieg-Szenarien der Zwischenkriegszeit
127
Heinz-Peter Preußer: Tödliche Blicke. Filmische Typologien des Fotografen, des Reporters und des Regisseurs im Kriege. Spottiswoode – Born / Schlöndorff – Manchevski – Kusturica – Angelopoulos
149
III. GESCHICHTE DER EINZELMEDIEN, VERGLEICHE
173
Jochen Meißner: Das Prinzip Live – Krieg im Hörspiel
175
Mirjana Stanþiü: Der Balkankrieg in den deutschen Medien – Seine Wahrnehmung in der Süddeutschen Zeitung, bei Peter Handke und in den Übersetzungen der exjugoslawischen Frauenliteratur
203
Heinz-B. Heller: “Wir warten auf die Bilder...” Beobachtungen und Anmerkungen zur Irak-Kriegsberichterstattung 2003
227
6
Michael Kunczik: Public Relations in Kriegszeiten – Die Notwendigkeit von Lüge und Zensur
241
Ole Frahm: Zwischen den Linien. Zur Kriegsdarstellung in Comics von George Herriman, Harvey Kurtzman und Jacques Tardi
265
Klaus Kreimeier: Die Konfiguration des Bösen. Ikonographische Anmerkungen zum Bild Osama bin Ladens in den Massenmedien
281
IV. WERKANALYSEN, AUTOREN
291
Gregor Streim: Der Bombenkrieg als Sensation und als Dokumentation. Gert Ledigs Roman Vergeltung und die Debatte um W. G. Sebalds Luftkrieg und Literatur
293
Matteo Galli: Wirklichkeitsentzug – Krieg und Medien bei Alexander Kluge
313
Jürgen Kost: Mediale Inszenierung als Paradigma der entfremdeten Moderne: Friedrich Dürrenmatts Der Auftrag oder Vom Beobachten des Beobachters der Beobachter
329
Thomas F. Schneider: “Giving a Sense of War As It Really Was” – Präformation, Marketing und Rezeption von Steven Spielbergs Saving Private Ryan
351
Horst Domdey: Über die Darstellung kriegerischer Gewalt in Goethes Faust
391
Christian Jäger: Kriegsmaschinen. Zur politischen Theorie von Gilles Deleuze und Félix Guattari
423
V. ANHANG
437
Verzeichnis der Abbildungen
439
Zu den Autorinnen und Autoren
441
Personenregister
445
I VORSATZ
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Heinz-Peter Preußer
Perzeption und Urteilsvermögen Eine Einleitung zu Krieg in den Medien I. Ramses II. erschlägt seine Feinde Die Darstellung von Kriegen ist ein bevorzugter Gegenstand aller Medien seit den Anfängen der Zivilisation; das hat immer wieder die Zivilisation selbst in Verruf gebracht, als müsse das eine notwendig aus dem anderen hervorgehen. Wo die Religion abstrakt wird, wo Macht sich konzentriert und Staaten sich bilden, entstehen die Waffengänge zwischen den sich formierenden Reichen scheinbar naturgemäß. Und mit den großen Kriegen steigt der Bedarf an Legitimation, wächst der Wunsch, die Ereignisse im Sinne des jeweiligen Herrschers geschönt aufzuzeichnen. Die ersten Hochkulturen, in denen Schriftsysteme entstehen, sind deshalb bereits gekennzeichnet von gleichermaßen kunstvollen wie ideologischen Repräsentationen des Krieges. Zu den ältesten Funden aus dem Ägypten der Pharaonen, dem “Prototyp der früheren Hochkulturen”,1 zählt eine – bis auf die Namensnennung – noch schriftlose Grauwackepalette, die König Narmer zeigt, wie er einen Feind erschlägt. Auf der Rückseite sieht man, wie derselbe König Narmer Reihen enthaupteter Feinde abschreitet, deren Köpfe zuvor akkurat zwischen die Füße der Opfer gelegt wurden. Man datiert die Palette auf ein Alter von über 5000 Jahren, um 3100 vor Christus entstanden.2 Narmer zählt als der erste Pharao der 1. Dynastie, von dem man zudem annimmt, er sei zugleich der Reichseiniger von Ober- und Unterägypten, der das ganze Niltal – vom ersten Katarakt bis zum Mittelmeer – zu einem einzigen Königreich zusammenschloss. Außerdem gilt Narmer als der Gründer der Hauptstadt Memphis,3 ja er soll sogar identisch
1
Emma Brunner-Traut: Ägypten. Kunst- und Reiseführer mit Landeskunde. Mit Beitr. von Renate Jacobi (Islâm) und Victoria Meinecke-Berg (Islamische Kunst). Stuttgart u. a., 4., erw. u. verb. Aufl. 1982. S. 46. 2 Vgl. Neil Morris: Atlas Altes Ägypten. Übers. von Irmgard Krasser. Hamburg 2000. S. 10. Siehe auch Bob Tadema Sporry: Das Weltreich der Pharaonen [1975]. Übers. von Günter Schomaekers. Wels, München 1977. S. 40-43. Abb. dort auf S. 40. 3 Abweichend wird Narmer vordynastisch datiert (0. Dynastie). So in: Ägypten. Die Welt der Pharaonen. Hg. von Regine Schulz und Matthias Seidel. Köln 1997. S. 29. Die aktuelle ägyptische Ausstellung des Metroplitan Museum of Art, New York, bezeichnet dies als inzwischen etablierten Stand der Forschung. Vgl. allgemein:
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sein mit dem sagenumwobenen Menes, dem ersten Herrscher eines Staates Ägypten überhaupt.4 Im Alten Ägypten jedenfalls machte diese auf den ersten Pharao zurückgehende Art der Heldenfeier und -verehrung Schule. Sie ist Ursprung einer Typologie, die Herrschaft legitimiert und zugleich abschreckt. Ikonographisch gibt sie Nachricht von Siegen und verklärt den gottgleichen Regenten. Immer wenn auf Reliefdarstellungen von Kriegshandlungen zu berichten ist, sieht man fortan, im strengsten pars pro toto, den keulenschwingenden Pharao, wie er den oder die Unterworfenen, zumeist von Völkerschaften aus dem Osten, beim Schopfe ergreift, so in die Knie zwingt und zum tödlichen Schlag ausholt.5 Man erkennt bereits an der Prunkpalette des Narmer die emblematische Verfestigung, die “von Gewalt und Krieg als Ereignis und Tat hin zur durch sie erzwungenen politischen Ordnung” führt. “Und daher repräsentiert das Bild des Königs, der die Feinde niederschlägt, über Einzelmoment und Einzelfall hinaus den Herrschaftsanspruch des Staates überhaupt, sein ‘Gewaltmonopol’”.6 Von Ramses II., dem Pharao der 19. Dynastie aus dem Neuen Reich – also rund zweitausend Jahre nach Narmer –, sind zahllose solcher Embleme überliefert; nicht weniger als acht Großreliefs sollen konkret den König im Kampf gegen die Hethiter darstellen. Eines davon findet sich im Großen Tempel von Abu Simbel.7 Nun gilt Ramses II. gemeinhin zwar als der größte Bauherr des Alten Ägypten; doch die Vielzahl großformatiger Reliefs auf Tempelwänden ist umso verblüffender, als der Erfolg des Pharao gerade in diesem Krieg, dem einzigen umfänglichen seiner Herrschaftszeit, mehr als zweifelhaft ist. Denn über diesen Waffengang des Altertums sind wir Weltatlas der Archäologie. Hg. von Chris Scarre [1988]. Übers. von Susanne Lücke. München 1990. S. 128, siehe auch S. 136f. 4 Das Artefakt der Palette wird im Ägyptischen Museum in Kairo aufbewahrt. Vgl.: Guide du Musée Égyptienne du Caire. Description sommaire des principaux monuments. Imprimée par: L’Organisation Égyptienne Générale du Livre 1982. Édition revissée et augmentée. S. 123. Siehe im Katalog Abb. und Kommentar unter Exponatnummer 3055 (verso / recto). 5 Eine Auswahl durch die Zeitalter und Dynastien, die Darstellungsarten (Palette, Etikettentäfelchen, Tempelrelief, Pektoral und Unterarmmanschette) und in großformatigen Reproduktionen bietet der Band: Ägypten. Die Welt der Pharaonen. Hg. Schulz, Seidel (Anm. 3). S. 29, 40, 162, 198, 322, (335) sowie ein Stich aus der Description de l’Égypte (1809–22) auf dem Vorsatzpapier. Weitere Beispiele in Christian Delacampagne und Erich Lessing: Geheimnisvolles Ägypten. Übers. von Sven Becker. Erlangen 1990. S. 22, 39, 159. 6 Stephan Seidlmayer: Die Entstehung des Staats bis zur 2. Dynastie. In: Ägypten. Die Welt der Pharaonen. Hg. Schulz, Seidel (Anm. 3). S. 28f. 7 Vgl. die Beschreibung bei Brunner-Traut: Ägypten (Anm. 1). S. 756. Das Titelbild des vorliegenden Bandes Krieg in den Medien zeigt eine Fotografie der emblematischen Erschlagungsszene auf der rechten Eingangswand. Die detaillierteren Schlachtszenen bringt die nördliche Seitenwand.
11
außergewöhnlich gut unterrichtet: “ein einzigartiges Phänomen in der ägyptischen Literatur [...], vielleicht sogar in der Weltliteratur”.8 Neben den erwähnten Abbildungen ist ein Prosabericht ebenso erhalten geblieben wie ein Gedicht der Schlacht.9 Zudem überlieferten hethitische Quellen das Kampfgeschehen, was eine ausgewogene Beurteilung und eine genaue Rekonstruktion des Schlachtverlaufs erlaubt.10 Ramses habe sich demnach “in einer fast ausweglosen Situation” befunden, in der es ihm nurmehr gelungen sei, unverletzt zu fliehen. “Das Kadeschgedicht vermittelt aber einen anderen, für die ägyptische Nachwelt angenehmeren [...] Inhalt, daß der geschlagene [Hethiterkönig] Muwatallis vom siegreichen Ramses den Frieden erbeten habe.” Die objektive Niederlage wurde zum “grandiosen Sieg [...] verklärt”.11 Alles gegeneinander abwägend, hat man bei der Darstellung der Schlacht von Kadesch im Jahr 1274 v. Chr. von einer geradezu “[m]ärchenhaft[en] [...] Propagandaleistung”12 gesprochen, ja sogar vom “größten Propagandafeldzug, den das Land je über sich ergehen lassen mußte”.13 Zumindest handelt es sich um geschönte Nachricht “in detailgetreuen Bildern und poetischen Texten”;14 umso größer wäre demnach der Aufwand an Darstellung, um glaubhaft zu machen, was offensichtlich – und nicht allein durch die Hethiter selbst – bezweifelt wird. “In Theben, Abydos, im Ramesseum, in Medinet Habu und in Abu Simbel beschreiben bebilderte Texte aufbauschend und weitschweifig, was damals im Jahre 5 seiner Regierung geschah.”15 8 Vandenberg zitiert hier zustimmend Sir Alan Gardiner. Vgl. Philipp Vandenberg: Ramses der Große. Eine archäologische Biographie [1977]. Bern, München, 3. Aufl. 1979. S. 100-102, hier zit. S. 101. 9 Vgl. Hermann A. Schlögel: Ramses II. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt. Reinbek 1993. S. 68. Siehe ebenfalls mit zahlreichen Zitaten die ansonsten spekulative Darstellung von Immanuel Velikovsky: Ramses II. und seine Zeit [1978]. Übers. von Christoph Marx. Frankfurt/M. 1979. S. 22-51, insb. S. 3439. Abb. dort S. 24f., 31, 32f. Der Autor nennt die in Rede stehenden Texte die Annalen des Ramses II. und das Gedicht des Pentawer. Schlögel vermerkt hingegen, das Kadeschgedicht sei “von einem uns namentlich nicht bekannten Hofpoeten” verfasst. 10 Vgl. Schlögel: Ramses II. (Anm. 9). S. 68. Abb. des angeblich siegreichen Feldzuges ebd. auf S. 72, 73, 74, 79, 80. Den Staatsvertrag zwischen Ägyptern und Hethitern findet man eingemeißelt im Tempel von Karnak. Abb. ebd. S. 82. 11 Ebd. S. 72f., 74. 12 Ebd. S. 76. 13 Vandenberg: Ramses der Große (Anm. 8). S. 101. Dort nach S. 112 eine Farbtafel mit der Reproduktion eines Kalksteinreliefs aus dem Ägyptischen Museum in Kairo: Ramses II, seine hethitischen Feinde erschlagend. 14 Schlögel: Ramses II. (Anm. 9). S. 68. 15 Vandenberg: Ramses der Große (Anm. 8). S. 101.
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Ramses der Große zeigt sich als staatstragende Figur; ein anderes Bild wäre gar nicht denkbar. Es ist die offizielle Version, wie ein Krieg zu lesen sein soll, von dem nur die wenigsten anders als durch eben die staatliche Darstellung erfahren. Die Hethiter müssen für dieses Bild erniedrigt werden; eben dieselben, mit denen Ramses II. sechzehn Jahre nach Kadesch durch Verhandlungen zum Friedenschluss gelangt, zum “ewigen” Vertrag zwischen beiden Reichen.16 Es ist der älteste Friedensvertrag, der uns geschichtlich überliefert ist, ja sogar der “erste[..] uns bekannte[..] Staatsvertrag zweier Großmächte in der Geschichte der Menschheit”. Hattusilis III., der nun amtierende Herrscher der Hethiter, und Ramses II. werden als vertragschließende Könige gleichberechtigt genannt.17 Und doch sind die Hethiter der ägyptischen Abbildungen auf Knabengröße geschrumpft, die verängstigt um Gnade flehen. Die Titelabbildung des vorliegenden Bandes, fotografiert im Großen Tempel von Abu Simbel, zeigt das exemplarisch. Aber aller negativen Propaganda vonseiten der Ägypter gegen die Hethiter zum Trotz, hält der Friede länger als die Herrschaft der Regenten. Er schließt die Integrität der Territorien und wechselseitige Beistandspflicht – im Falle eines Angriffes von außen – ein und dauert sogar bis zum Untergang des Hethiterreiches.18 II. Saddam aus dem Erdloch versus Abu Ghraib Wenn man diesem Vorfall mehr als nur anekdotischen Charakter zubilligen will, zeigt sich darin, wider alle kulturhistorischen Relativierungen, eine Konstante in der Präsentation von Siegern und Unterlegenen der Geschichte. Der Triumph wird behauptet; und um ihn behaupten zu können, braucht es die Demütigung des Besiegten. Damit kommt die Ikonographie des Bösen an ihr naturgemäßes Ende. Indem das Übel besiegt wird, schrumpft es auf das Maß, das ihm zusteht. Dadurch wird die Welt handhabbar und der – siegreiche – Herrscher beglaubigt. Das taten bereits die alten Mythen. Auch sie erschlossen eine dem Menschen feindliche Natur, indem die Dämonen benannt und schließlich im Kampfe besiegt wurden. Mit der Siegergeste wird das Vertrauen in die Bewohnbarkeit des zivilisierten Staates untermauert. Die Weltöffentlichkeit hat das zuletzt anlässlich der Festnahme Saddam 16
Vgl. Sporry: Das Weltreich der Pharaonen (Anm. 2). S. 151-154. Ein weiteres schönes Beispiel bietet das Relief in Karnak, Tempel des Amun-Re, dort der 7. Pylon, auf dem Thutmosis III. seine asiatischen Feinde erschlägt. Vgl. die Abb. in dem Katalog der Hildesheimer Ausstellung: Ägyptens Aufstieg zur Weltmacht. Mainz 1987. S. 10. Siehe dort auch das Frontispiz, ebenfalls Thutmosis III., ebd., Wappenpfeiler. 17 Schlögel: Ramses II. (Anm. 9). S. 82. Der Text wurde im Tempel von Karnak aufgeschrieben. Abb. des Staatsvertrages ebenfalls bei Schlögel, ebd. 18 Ebd. S. 84.
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Husseins studieren können. Symbolisch antworten die Bilder der peinigenden Untersuchung, die vor allem die Hilflosigkeit und das Ausgeliefertsein des ‘Patienten’ herausstellen,19 der kollektiven Erschütterung vom 11. September 2001.20 Sie sollen Handlungsfähigkeit seitens der US-Eroberer im Irak signalisieren, wo die eigene Hilflosigkeit überhand zu nehmen droht. In einem Krieg, der lange schon beendet und immer noch nicht gewonnen wurde,21 wird Saddam wie jene anonymen Hethiter zur Synekdoche – zum Zeichen des Sieges, wo der Eine für das Gesamt steht. So funktionierte bereits der Sturz des Standbildes von Saddam Hussein am Stadtrand von Bagdad durch eine britische Panzerbesatzung, lange bevor man des Diktators selbst habhaft wurde.22 Wenn George W. Bush auf einem Flugzeugträger in der Montur eines Kampfpiloten landet, um die Kriegshandlungen gegen den Irak für beendet zu erklären, zeigt das nur die Gegenseite der Inszenierung: die Selbststilisierung zum großen Feldherren.23 Auch das verhält sich analog zu Ramses II. Dass die gewollten Symbole allesamt inkompatibel, asymmetrisch wie die Kriegsführung selbst sind,24 dass der 19
Vgl. die Abbildungen in der Süddeutschen Zeitung vom 15. 12. 2003, dort Titelseite und Seite 3. Siehe auch Die Zeit vom 17. 12. 2003, hier Titel und Dossier. 20 Auch hier waren es die Bilder, die wirkten. Selbst die FAZ, die ansonsten kein Foto auf ihrer Titelseite duldet, eröffnete mit der großformatigen schwarzweißen Reproduktion der brennenden Türme des World Trade Center. Und wie die Endlosschleifen des einstürzenden WTC hat man auch die Gefangennahme Saddams immer wieder gezeigt auf CNN und BBC World. Vgl. die Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12. 9. 2001. Überschrift: Angriff auf Amerika. 21 Dazu Heiko Flottau: Anspruch und Wirklichkeit. Anderthalb Jahre nach der Eroberung des Irak verlieren die USA immer mehr die Kontrolle. In: Süddeutsche Zeitung vom 9. 9. 2004. Zur Überschreitung der Tausender-Marke an Toten im Irakkrieg auf amerikanischer Seite vgl. James Dao: As Death Toll Rises, Will Americans Balk? In: The New York Times [wöchentliche Beilage der Süddeutschen Zeitung] vom 20. 9. 2004. 22 Vgl. Niklas Maak: Demontage des Öffentlichen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9. 4. 2003. 23 Vgl. die Fotografie in Die Zeit vom 11. 9. 2003, Dossier. Präsident Bush hielt im Mai 2003, nach der Landung, an Bord des Flugzeugträgers “Abraham Lincoln” eine Rede an die Nation. 24 Der Begriff der asymmetrischen Kriegsführung, von Münkler in die Debatte gebracht und viel diskutiert, bezeichnet die Ungleichgewichtigkeit der involvierten Parteien. Staaten sind nicht mehr Monopolisten der Gewaltanwendung, die bilateral erklärt und ausgefochten werden. Stattdessen nehmen die Partisanenkriege, marodierende Soldateska oder einzelne Gewaltakte terroristischen Zuschnitts überhand, die mit dem klassischen Staatenkrieg kaum noch etwas gemein haben. “Den vorläufigen Endpunkt dieser Asymmetrisierung bildet die am 11. September erfolgte Umwandlung von zivilen Passagierflugzeugen in Bomben und von Bürohochhäusern in Schlachtfelder.” Siehe Herfried Münkler: Die neuen Kriege. Reinbek 2002. S. 4857, zit. S. 54.
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Krieg gegen den Irak nicht auf die Zerstörung des World Trade Center antwortet und Präsident Bush höchstselbst nicht Saddam niedergerungen hat, ja nicht einmal in der Krisenregion zugegen war, – all dies tut der Logik der Bildwirkungen scheinbar keinen Abbruch. Bilder der Erniedrigung sind zuweilen sogar kriegsentscheidend. Wie Saddam Hussein gedemütigt werden sollte mit den Bildern aus seinem Erdloch, mit der antiseptischen medizinischen Behandlung anschließend, so haben umgekehrt die militärisch Unterlegenen mit Bildern die Übermacht zur Aufgabe genötigt. Der eklatanteste Fall jüngerer Zeit war die Schändung der Leiche eines US-Soldaten in Mogadischu. Wie Achill den Hektor des mythischen Troja, schleiften die Anhänger somalischer Warlords ihre Beute durch die Straßen der Hauptstadt, worauf die USA ihre Truppen aus dem UNO-Einsatz zurückzogen. Zynisch gesprochen, haben die Folterbilder des Gefängnisses Abu Ghraib den “Mogadischu-Effekt”25 wieder aufgewogen und die klassische Ikonografie erneut installiert. Wie Ramses inszenieren sich die (einfachen) Soldaten der Besatzungsmacht in Siegerpose: Gebieter über die armen Würmlinge, mit denen sie schlimmer als mit Leibeigenen verfahren können; und die genau das repräsentiert sehen wollen. “Der Ausdruck der Zufriedenheit angesichts der Folter, die hilflosen, gefesselten und nackten Opfern zugefügt wird, ist nur ein Teil der Story”, meint Susan Sontag. “Die Hauptbefriedigung gilt der Tatsache, dass die Kamera auf einen gerichtet ist.”26 Ulrich Raulff urteilt ganz ähnlich über die HardcoreWare aus der Strafanstalt, die er mit Pasolinis 120 Tage von Sodom vergleicht: Eins haben die Pornoproduzenten von Bagdad begriffen: Nicht die Körper sind geil, sondern die Bilder der Körper. Die Bilder der geschlagenen und erniedrigten, zu seltsamen Menschenbergen geschichteten und symbolisch verstümmelten und kopflos gemachten Körper. Der ultimative Kick liegt nicht in der Ausübung von Taten, die den anderen Menschen zum Tier, zum Paket, zum namenlosen Stück Materie machen, sondern im Bewusstsein, sich vor dem Auge der Kamera gemeinsam mit diesem Tier, diesem Stück Materie in ein Bild zu verwandeln.27
Die Macht über den Anderen, Erniedrigten, erweist sich erst in der Bildwirkung. Auch das galt bereits bei Ramses II. Und schon im Alten Ägypten war es ein gefrorenes, aus dem Zeitkontinuum gelöstes Einzelbild, das durch die Wiederholung wirken sollte. Bewegte Bilder in ihrem Verlauf, die unsere heutige mediale Umwelt prägen, affizieren weniger direkt und haften schlechter. “Das Gedächtnis arbeitet mit Standbildern, und die Grundeinheit 25
Ebd. S. 50f. Susan Sontag: Endloser Krieg, endloser Strom von Fotos. Übers. von Eva Christine Koppold. In: Süddeutsche Zeitung vom 24. 5. 2004. 27 Ulrich Raulff: Die 120 Tage von Bagdad. In: Süddeutsche Zeitung vom 4. 5. 2004. 26
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bleibt das einzelne Bild.” Wenn es also um Diskurse der Erinnerung geht, “hinterlassen Fotografien eine tiefere Wirkung” als das zeitabhängige Fernseh- oder Filmbild, sagt wiederum Susan Sontag in ihrem Essay Regarding the Pain of Others. Fotos sind “schnell zu erfassen und gut zu behalten”.28 Aber die Bilder des Abu-Ghraib-Gefängnisses, die dem kollektiven Gedächtnis bleiben werden als Stigmata eines verfehlten Krieges, schlagen um in das Gegenteil ihrer ursprünglichen Intention; sie diskreditieren die Sieger – so wie alle Bilder, die auf Schamverletzungen aus sind. Noch heute befremdet der vielfache Keulenschlag jeden Ägyptenreisenden, obgleich das Pharaonenreich nachrichtentechnisch noch relativ unterentwickelt war. Auch die Bilder Saddams lassen Zweifel aufkommen an der moralischen Qualität dieses jüngsten US-Sieges. Und die Folterfotografien von Abu Ghraib widerlegen den eignen Anspruch der Interventionsarmee, einen ‘gerechten Krieg’ geführt zu haben, wie weit auch immer in der Befehlshierarchie das Wissen um solche Praktiken gereicht haben mag.29 III. Die Wirklichkeit der Zeichen: Index, Ikon und Symbol Fotografien belasten, weil sie für Dokumente genommen werden. Das macht ihre ontologische Differenz aus zu den Propagandabildern des Ramses II., die man, mit Peirce, als Ikon klassifizieren müsste. Ein Ikon bietet eine Transformation des Wirklichen, die auf Ähnlichkeit beruht. Im Gemälde, in der Skulptur oder eben im Relief der Pharaonenzeit haben wir Annäherungen an Reales, auch wenn dieses allegorisch oder symbolisch überformt sein mag; in jedem Fall aber keine punktgenaue Übertragung. Ganz anders der Index, zu dessen Kategorie auch die Fotografie zählt: Hier existiert eine kausale Verbindung zwischen Objekt und Zeichen; und diese ist physisch legitimiert. Fotografien entsprechen Punkt für Punkt dem Original, das sie darstellen, nur gestaucht in die Zweidimensionalität. Ihr Verfahren zwingt sie zur Genauigkeit. Das Gezeigte ist Abbild eines Wirklichen. Ihre existenzielle Eins-zu-eins-Korrespondenz, so sagt Charles Sanders Peirce, verknüpft die Fotografie mit dem Gewesenen. Und über diese Beglaubigung, 28
Susan Sontag: Das Leiden anderer betrachten. Übers. von Reinhard Kaiser. München 2003. S. 29. 29 Dazu Nicolas Richter: Soldaten außer Kontrolle. Drastische Verhörmethoden ließen die Hemmschwelle für sadistische Übergriffe sinken. In: Süddeutsche Zeitung vom 27. 8. 2004. Ausführlich auch Andrian Kreye: Ziviler Widerstand zwecklos. Enthüllungen, Anklagen, Demonstrationen verhallen in Washington ungehört. In: Süddeutsche Zeitung vom 16. 9. 2004. Kreye referiert über Seymour Hersh, den Altmeister des investigativen Journalismus, der jene skandalösen Bilder in die Öffentlichkeit brachte, die dann zu Ikonen für die Grausamkeit und Arroganz des Irakkrieges wurden. Vorab präsentiert Kreye Hershs Buch Chain of Command – The Road from 9-11 to Abu Ghraib, das ab dem 20. September ausgeliefert wurde.
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die – nach Roland Barthes – Fotografien immer sein wollen, affizieren dann Schreckensbilder unmittelbar, denn sie sind Lichtreflex eines tatsächlich leidenden Körpers.30 Diese Direktheit – Spiegel und Archiv einer möglichen Perzeption zu sein – verschwindet interessanterweise nicht, obgleich sich das Paradigma der Fotografie genau an diesem Punkt der rein physikalischen Beglaubigung inzwischen selbst aufgelöst hat, das fotografische Zeitalter also durch die Digitalisierung selbst zu Ende zu gehen scheint.31 Man hat sogar von der Entropie der Fotografie gesprochen, von einem unhintergehbaren epistemologischen Bruch.32 Dennoch halten wir Fotografien zunächst, immer noch, für wahr. Der Sinngehalt des “Es-ist-so-gewesen”, der seit der Entdeckung der Lichtempfindlichkeit von Silbersalzen den Fotografien anhaftet,33 ist selbst vom “dubitativen” Digitalbild nicht völlig zerstört worden. Was immer man durch die Möglichkeiten der Bildbearbeitung in Zweifel ziehen mag: Es sind bewusste Verfälschungen, die den Wahrheitsanspruch unterminieren, nicht das Verfahren selbst. Im Gegenteil: “Durch die Ereignisse des 11. September 2001 erlebte das Foto eine Renaissance der Zeugenschaft.”34 Es bedarf also der absichtlichen Irreführung, um das Vertrauen in die indexikalische Abbildbarkeit zu erschüttern. Die Täuschung indes ist älter als die Digitalisierung, mit der Wirkliches vollkommen retouchiert werden kann. Opfer ‘wechseln’ die Fronten, je nachdem, wer sie interpretiert, wer die Bildunterschriften liefert. Das hat man exemplarisch im Disput über die Ausstellung Die Verbrechen der 30 Charles Sanders Peirce: Phänomen und Logik der Zeichen. Hg. und übers. von Helmut Pape. Frankfurt/M. 1983. S. 65. Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie [1980]. Übers. von Dietrich Leube. Frankfurt/M. 1989. S. 97; vgl. S. 92, 96, 99 u. ö. 31 Vgl. Peter Lunenfeld: Digitale Fotografie. Das dubitative Bild. In: Paradigma Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters. Hg. von Herta Wolf. Frankfurt/M. 2002. S. 158-172, hier insb. S. 166f. 32 So Wolfgang Hagen: Die Entropie der Fotografie. Skizzen zu einer Genealogie der digital-elektronischen Bildaufzeichnung. In: Paradigma Fotografie. Hg. Wolf (Anm. 31). S. 195-235, insb. S. 234f. 33 Die Formulierung von Barthes: Die helle Kammer (Anm. 30). S. 91 . Vgl. Hagen: Die Entropie der Fotografie (Anm. 32). S. 232f. 34 Gabriele Mackert: Historiker des Visuellen. Strategien der Repräsentationskritik. Künstlerische Einschreibungen in den Bilderdiskurs und die Möglichkeit eines Gegentextes. In: Attack. Kunst und Krieg in den Zeiten der Medien. Hg. von Gabriele Mackert, Gerald Matt und Thomas Mießgang. Göttingen 2003 [zugleich Ausstellungskatalog der Kunsthalle Wien 2003]. S. 27-39, hier S. 34. Die Autorin geht dennoch davon aus, das “Faszinosum der Reproduktion” sei der “Erkenntnis der Konstruiertheit des Dargestellten gewichen”. “Dieser Authentizitätsverlust wiegt schwer und macht das Medium bestenfalls zur ausschnitthaften Kopie, die auf ihre Interpretation wartet.” Ebd. S. 34, 36.
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deutschen Wehrmacht des Hamburger Instituts für Sozialforschung sehen können oder etwa an den Bildern der Krieggräuel, die der damalige deutsche Verteidigungsminister Rudolf Scharping zur Legitimation der Kriegshandlungen gegen Serbien im Kosovokonflikt eingesetzt hatte.35 Und die Ausschnitthaftigkeit, die Cadrierung des Gezeigten ist, wie die Konstruiertheit des Dargestellten, ein Topos der Theorie zur Fotografie, die keinen neuen Erkenntniswert darstellt und die Erwartungshaltung an die Fotografie nicht wesentlich irritiert. Bilder werden instrumentalisiert: ob als Ikon oder Index. Und sie entfalten Wirkungen, die kontrolliert werden sollen, um öffentliche Meinung zu beeinflussen oder erst zu bilden. Das gilt für den angeblich klinisch sauberen Krieg, wie er im Zweiten Golfkrieg 1991 inszeniert wurde (und dessen propagierte Ästhetik einem Computerspiel nachgebildet schien), wie für visuelle Überangebote an Schockeffekten oder gezielte Verschleierungen gleichermaßen.36 Im Irakkrieg ist sich die deutsche Medienlandschaft dieses Prozesses bewusst gewesen wie wohl nie zuvor. Immer wieder hörte man – in den Anmoderationen der (öffentlich-rechtlichen) Fernsehnachrichten, etwa bei Claus Kleber (ZDF) – Einschränkungen über die Aussagefähigkeit des verwendeten Materials. Und die Printmedien thematisierten die Selbstreferenz und Zirkularität der Bildproduktion für den Krieg von seinen ersten Tagen an.37 Fotografien des Krieges können umgekehrt aber auch intentional anklagen und werden deshalb – wie unliebsame Nachrichten – oft der Zensur unterworfen.38 Der Band von Ernst Friedrich, Krieg dem Kriege, verstand sich als Schocktherapie. Der Autor wollte militärische Operationen generell moralisch disqualifizieren, indem er deren Folgen mit einer Radikalität 35
Rudolf Scharping präsentierte sein persönliches Kriegsbuch denn auch unter dem sprechenden Titel: Wir dürfen nicht wegsehen. Berlin 1999. Vgl. dazu Gunter Hofmann: Der fast vergessene Krieg. In: Die Zeit vom 30. 9. 1999. Argumentativ und institutionell müssen die “neuen Kriege um die Menschenrechte” ohnedies anders abgesichert werden. Vgl. dazu Michael Ignatieff: Virtueller Krieg. Kosovo und die Folgen [2000]. Übers. von Angelika Hildebrandt. Hamburg 2001. S. 169174, zit. 169. Vgl. ebd. S. 183-189. 36 Vgl. Mackert: Historiker des Visuellen (Anm. 34). S. 38. 37 Vgl. über die Situation in den USA Francine Prose: Die Medien im Krieg. Patriotismus auf allen Kanälen. In: Die Zeit vom 20. 3. 2003. Über die “eingebetteten” Journalisten Holger Liebs: “Fahrt mal langsamer, Jungs”. In: Süddeutsche Zeitung vom 22./23. 3. 2003. Siehe ausführlich auch Peter Münch, Wolfgang Koydl und Heiko Flottau: Feuer frei für die Bataillone der Bilder. In: Süddeutsche Zeitung vom 24. 3. 2003. 38 Der investigierende Journalist beleuchtet stets die Gegenseite. Vgl. den programmatischen Titel von Heimo Schwilk: Was man uns verschwieg. Der Golfkrieg in der Zensur. Frankfurt/M. 1991. Viel diskutiert wurde der Band von Mira Beham: Kriegstrommeln. Medien, Krieg und Politik. München 1996.
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aufzeigte, die nur noch Abscheu und Ekel provozierte. 1924 publiziert, zeigte der Fotobildband die Entstellungen am Menschen, die der Erste Weltkrieg hinterließ: groteske Verstümmelungen insbesondere im Gesicht, an Opfern, die wie zum Hohn ihre Verwundungen überlebten und ohne Unterkiefer, ohne Nase weiterleben mussten, und die man vor der Öffentlichkeit versteckte.39 Robert Capa versammelte seine berühmt gewordenen Fotos40 mit einer ähnlichen Absicht wie Friedrich unter dem Titel This is War! James Nachtwey setzt diese Tradition der anklagenden Kriegsfotografie fort. Die Geschichte der bildenden Kunst ist reich an Schlachtengemälden, aber eben auch an Ikonen der Antikriegshaltung: Goyas, Böcklins oder Alfred Kubins personifizierte Kriege etwa, Ludwig Meidners Vision eines Schützengrabens, George Grosz’ Skizzen von der Front oder die großen Gemälde von Max Ernst, Europa nach dem Regen, und Pablo Picasso, Guernica.41 Im UNO-Sicherheitsrat in New York hängt ein Wandteppich nach Picassos Gemälde von 1937. Als Colin Powell, der Außenminister der USA, im Februar 2003 dort, direkt vor dem Teppich, wie sonst üblich, sein Pressestatement zum Krieg gegen den Irak abgeben sollte, wurde die Tapisserie kurzerhand mit einem blauen Vorhang verdeckt. Die Verbindung des – nach einem breiten, weltweiten Konsens – verwerflichen Angriffs der Legion Condor im Spanischen Bürgerkrieg mit der Invasion der USA in den Irak sollte nicht gezogen werden können. Auch Ikone wirken politisch – über lange Zeiträume hinweg. “Angesichts der allgemeinen Beschleunigung der Bilder ist diese Nachhaltigkeit beeindruckend”, schreibt Gabriele Mackert dazu.42 Gerhard Richter, der seit seinem Zyklus über die RAF als 39
Ernst Friedrich: Krieg dem Kriege [1924]. Erneut dass. Stuttgart 2004. Vgl. Sontag: Das Leiden anderer betrachten (Anm. 28). S. 41-43. Siehe auch www.pbs.org/wnet/americanmasters/database/capa. 41 Francisco de Goya: Der Riese. 1810–1818; Saturn verschlingt eines seiner Kinder. 1819–1823. Berühmt auch seine Radierungen Desastres de la guerra, 1810– 1815. Arnold Böcklin: Der Krieg. 2. Fassung. 1896 begonnen. Alfred Kubin: Der Krieg. Um 1900. Ludwig Meidner: Vision eines Schützengrabens. 1912. Pablo Picasso: Guernica. 1937. Max Ernst: Europa nach dem Regen. 1940–1942. Neben den Blättern aus dem Ersten Weltkrieg vgl. das Gemälde von George Grosz: Kain oder der Zweite Weltkrieg. 1944. Abbildungen bei Klaus Vondung: Die Apokalypse in Deutschland. München 1988. S. 356, 357, 375 (Böcklin, Kubin, Meidner); Kindlers Malerei Lexikon. Köln o. J. Bd. 6. S. 1585 (Goya); Bd. 6. S. 1639 (Grosz); Bd. 12. S. 3229-3231 (Picasso); Ian Turpin: Max Ernst. Oxford, New York 1979. Bildtafel 36. Weiterhin Münkler: Die neuen Kriege (Anm. 24). S. 147; Sontag: Das Leiden anderer betrachten (Anm. 28). Titelbild (beide Goya, Desastres de la guerra). Vgl. auch das Bildmaterial in dem Band Kriegsniederlagen. Erfahrungen und Erinnerungen. Hg. von Horst Carl, Hans-Henning Kortüm, Dieter Langewiesche und Friedrich Lenger. Berlin 2004. S. 391-399, 421-425 und S. 439-445 insb. 42 Mackert: Historiker des Visuellen (Anm. 34). S. 30. 40
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letzter Großmeister der politischen Malerei gilt, hat sich mit War Cut wieder in die Ambiguität begeben und so vielleicht schärfere Kritik am Irakkrieg geübt als jeder Medienbericht.43 Das Dilemma von Ästhetisierung des Schrecklichen und Anklage betrifft nicht nur die Malerei Richters, sondern auch die Kunstfotografie und die Installation. Gianni Motti verstört mit seiner Reihe Landscape (Collateral Damage), in der blühende, schöne Landschaften im ehemaligen Jugoslawien zu sehen sind: doch die Rauchschwaden im Bild resultieren von Bombardierungen (nicht etwa vom Abbrennen der Felder). Was fehlt ist der Aggressor; er bleibt außerhalb des Bildrahmens.44 Erasmus Schröter dagegen zeigt die militärische Intention, verwandelt sie aber. Er ließ aus den Bunkeranlagen am Atlantikwall “morbide Paläste des Imaginären” entstehen, indem er sie anders illuminierte, sie mit farbigen, teilweise komplementären Scheinwerfern in ein strahlendes, auftrumpfendes Licht tauchte, das gegen den Nachthimmel oder die späte Dämmerung umso prägnanter absticht.45 Wie das Bild, so steht auch das Wort zwischen Instrumentalisierung einerseits und Anklage andererseits. Texte, insbesondere die der meinungsführenden Zeitungen, beeinflussen Kriege, lassen diese zuweilen erst als Notwendigkeit erscheinen oder tragen zu ihrem (vorzeitigen) Ende bei.46 Hier liegt die Verantwortung der alten Medien. Der Journalismus ist nach wie vor der erste Meinungsbildner. Essay, Leitartikel und die Debattenkultur sind nachweisbar relevant für Kriegsentscheidungen. Geradezu spektakulär war die Entschuldigung der New York Times bei ihren Lesern (Ende Mai 2004), die Berichte über Massenvernichtungswaffen im Irak so vorbehaltlos für wahr genommen, diese vervielfältigt und damit die Stimmung im Lande für den Krieg der USA maßgeblich geprägt zu haben.47 Die Wahrheitsfähigkeit der Schrift (oder des gesprochenen Wortes) ist konstitutiv prekärer als die des Lichtbildes. Denn das sprachliche Zeichen, das sich auf Konvention gründet und von Peirce Symbol genannt wurde, stiftet willkürliche Beziehungen. Saussure spricht hier bekanntlich vom 43
Vgl. Jan Thorn-Prikker: Richter Cuts and Pastes A Statement on Iraq. In: The New York Times [wöchentliche Beilage der Süddeutschen Zeitung] vom 19. 7. 2004. 44 Motti verwendet bereits vorhandene Fotografien, die er in Bildagenturen findet, zum Kunstobjekt erklärt und ausstellt. 45 Vgl. die Abbildungen (und den einführenden Text) in Attack. Hg. Mackert, Matt, Mießgang (Anm. 34). S. 118-121, S. 144-147. 46 Vgl. Andreas Iten: Medien und Krieg – Krieg in den Medien. Die Sprache bereitet den Krieg vor. In: Medien und Krieg – Krieg in den Medien. Hg. von Kurt Imhof und Peter Schulz. Zürich 1995. S. 13-18. 47 Vgl. das Dossier der Neuen Zürcher Zeitung vom 13. 08. 2004. A. R.: Nach der New York Times auch Selbstkritik der Washington Post. Schwächen und falsche Gewichtungen bei der Irak-Berichterstattung eingeräumt. Abzurufen unter www. nzz.ch/dossiers/2002/irak/2004.08.13-al-article9SA4G.html.
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Arbitraritätsprinzip.48 Bezeichnendes und Bezeichnetes werden durch einen Akt der kollektiven Dressur aufeinander bezogen;49 sonst verbindet sie nichts. Der Begriff erzwingt zudem eine Identität, zu der es phänomenologisch keine Entsprechung gibt. Deshalb kann mit Sprache Realität per se nur vermittelt wiedergegeben, genauer gesagt: immer nur konstruiert werden. Sie musste sich – anders als die Fotografie und die bewegten fotografischen Bildmedien Film und Fernsehen – nie von ihrem epistemologischen Anspruch, Realität zu repräsentieren, lösen. Sprache war und ist immer schon Vermittlung und in der Vermittlung Sinngebungsversuch: Deutung von Wirklichkeit, die sich im Deutungsprozess neu zusammenfügt. Dieser fundamentale Einwand gilt für Fakten, für Fakes und Fiktionen gleichermaßen. Nachrichten vom Krieg wollen Wahrheitsaussagen sein; schlimmstenfalls spiegeln sie dies nur vor, um zu fälschen. Dichtungen vom Krieg, angefangen bei Homers Ilias hingegen wollen deuten, ohne für die Referenz zu einem tatsächlichen Geschehen haftbar gemacht werden zu können. Beide Positionen aber fließen osmotisch ineinander; die gemeinsame Übergangsstelle ist vielleicht nur der Fake. Verarbeitungen von Traumatisierungen durch Kriegserlebnisse, die fiktional verfahren, bereiten möglicherweise die neuen Einsätze einer künftigen Wirklichkeit vor, die dann wieder nachrichtentechnisch vermittelt und späterhin fiktional aufgearbeitet werden müssen. Auch fiktionale Bildmedien leisten diese Form der Aufarbeitung. Dass und wie sehr etwa die amerikanische Filmindustrie in die mentale Bewältigung des Scheiterns einerseits und in die Instrumentalisierung des Siegens andererseits verstrickt ist, gilt als ein Topos der Ideologiekritik.50 Die 48
Ferdinand de Saussure: Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft [19061911; 11916, 21922]. Hg. von Charles Bally und Albert Sechehaye. Unter Mitw. von Albert Riedlinger übers. von Herman Lommel. 2. Aufl., mit e. Nachw. von Peter von Polenz. Berlin 1967. S. 79-82. 49 Vgl. Roland Barthes: Elemente der Semiologie [1965]. Übers. von Eva Moldenhauer. Frankfurt/M. 1983, S. 13. Die langue “ist im Wesen ein kollektiver Vertrag, dem man sich [...] rückhaltlos unterwerfen muß”. 50 Die Literatur dazu ist kaum zu überblicken. Ich verweise stellvertretend auf Gilbert Adair: Hollywood’s Vietnam. From The Green Berets to Apocalypse Now. London, New York 1981; außerdem auf neuere Buchveröffentlichungen (und einzelne Aufsäze darin): Roland Schäfli: Hollywood führt Krieg. So verfilmt Hollywood den Zweiten Weltkrieg. Gau-Heppenheim 2003, z. B. das Kapitel: Fiktion mischt sich mit Realität. S. 54-60. – Herbert Mehrtens: Die filmische Konstruktion der kampfbereiten Nation. Deep Impact. – Gerhard Paul: Krieg und Film im 20. Jahrhundert. Historische Skizze und methodologische Überlegungen. Beide in: Krieg und Militär im Film des 20. Jahrhunderts. Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes hg. von Bernhard Chiari, Matthias Rogg und Wolfgang Schmidt. München 2003. Hier S. 179-198 und S. 3-76. – Peter Krause und Birgit Schwelling: “Filme als Orte kollektiver Erinnerung”. Aspekte der Auseinanderset-
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Prägekraft von Spielfilmhandlungen übersteigt den Gehalt der Nachrichten, die mit dem Tagesgeschäft verschwinden, um ein vielfaches. Für das kulturelle Gedächtnis scheinen sie unverzichtbar. Affirmation und Kritik sind hier nur Außenpositionen, die einzelne Werke nie (oder zumindest recht selten) in Reinkultur belegen können. Der Antikriegsfilm ist brutal wie jede Kriegsverherrlichung und im Verlangen, abzuschrecken und zu schockieren vielleicht sogar noch forcierter auf Gewalt ausgerichtet.51 Dass man in der Regel nur durch Medien Zugang zu Kriegsgeschehen erlange (deutend oder informativ), ist also noch keine Theorie, sondern eine Binsenweisheit. Immer wird ein Bild der Wirklichkeit konstruiert, wenngleich mit unterschiedlichen Aussageimpulsen. Selbst Augenzeugen können, wie man weiß, irren, vom Geschehen überwältigt oder einfach desorientiert sein, wie dies Pierre Besuchow, der tragikomische Held aus Tolstois Krieg und Frieden, so ernüchternd wie überzeugend in der Schlacht von Borodino vorführt.52 Das Unmittelbare – wenn es das denn gibt – ist nicht zugleich (oder immer) näher an der Wirklichkeit (oder der Wahrheit). IV. Massenmedien, Hyperinformation, Hypervisibilität Die meisten aber wissen, was sie über Kriege wissen, durch Medien, genauer – für die heutige Zeit – durch Massenmedien. Medienkanäle liefern die Neuigkeiten der Waffengänge und Zerstörungen, der Eroberungen und Verluste. Medienkanäle deuten in ihren fiktionalen Sparten, insbesondere in Spielfilm und Literatur, das über Medien Erlebte für die Gesellschaften und ihre Erinnerungskulturen aus. Mit und durch Medien nehmen die Bürger des globalen Dorfes 53 Kriege wahr und bilden Urteile über sie. Die lange Kette dieser Verflechtungen ließe sich, wie gezeigt, bis an den Anfang der Zivilisiertheit ausdehnen. zung mit der Erfahrung des Vietnamkrieges in Apokalypse Now. In: Film und Krieg. Die Inszenierung von Politik zwischen Apologetik und Apokalypse. Hg. von Michael Strübel. Opladen 2002. S. 93-108. – Ebenfalls neueren Datums ist der Beitrag von Drehli Robnik und Siegfried Mattl: “No-one else is gonna die!” Urban Warriors und andere Ausnahmefälle in neuen Kriegen und Blockbustern. In: Attack. Hg. Mackert, Matt, Mießgang (Anm. 34). S. 40-47. 51 Vgl. dazu Michael Strübel: Kriegsfilm und Antikriegsfilm. Ein filmgeschichtlicher Abriss aus der Sichtweise der internationalen Politik. In: Film und Krieg. Hg. Strübel (Anm. 50). S. 39-73. 52 Vgl. Leo N. Tolstoi: Krieg und Frieden. Roman [1865–69]. Übers. von Marianne Kegel. München 141993. Zehnter Teil. Kap. 21-25 und insb. Kap. 30-32. S. 10431066, insb. S. 1080-1094. Siehe auch Kap. 33. S. 1097. 53 Marshall McLuhan und Bruce R. Powers: The Global Village. Transformations in World Life and Media in the 21st Century. New York, Oxford 1989. Dt.: The Global Village. Der Weg der Mediengesellschaft in das 21. Jahrhundert. Übers. von ClausPeter Leonhardt. Paderborn 1995.
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Aber mit dem Zweiten Golfkrieg, seit den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, hat die mediale Repräsentation von Kriegshandlungen und deren analytische Reflexion eine Dichte und Breite erreicht, welche die Aufnahmefähigkeit des Einzelnen strukturell übersteigt. Hat sich seitdem – und mit den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien, in Afghanistan und im Irak – die Perzeption irrreduzibel verändert, wie vielfach behauptet wird? Wurde das Urteilsvermögen nachhaltig beeinträchtigt? Information gefährdet sich durch Anhäufung. Das war schon eine frühe These von Jean Baudrillard.54 “Unentscheidbarkeit, das Wahrnehmungsflirren im halbbewussten Bereich, ist die Signatur des osmotischen Krieges”, schreibt Thomas Mießgang heute dazu.55 Das betrifft die militärische Nachrichtenübermittlung ebenso wie die öffentliche Weitergabe, Auswertung und Kommentierung der zugänglichen Informationen in der Presse, im Fernsehen und im Internet. Der Erfolg von Nachrichtenkanälen wie CNN, die Dauerpräsenz in Echtzeit zu liefern vorgeben (und inzwischen selbst glorifiziert sind in einer Spielfilmhandlung56), geht unmittelbar auf den Zweiten Golfkrieg 1991 zurück. Die Debatten in den Printmedien, die Gesprächsrunden und Expertenbefragungen des Fernsehens sind ähnlich angestiegen wie die eigentliche Informationsübermittlung. Erst angesichts dieser Omnipräsenz sind die Thesen einer universalen Simulation des Wirklichen, bezogen auf Kriegsgeschehen, von Baudrillard und Virilio entworfen worden.57 54
Die Begriffe “Hyperinformation, Hypervisibilität” prägte Jean Baudrillard in seinem Buch: Die fatalen Strategien [1983]. Mit einem Anhang von Oswald Wiener. Übers. von Ulrike Bockskopf und Roland Voullié. München 1991. S. 85; vgl. S. 80, 84. 55 Thomas Mießgang: Pixelparade in der Feuerwüste. In: Attack. Hg. Mackert, Matt, Mießgang (Anm. 34). S. 12-26, hier S. 18. Mießgang zitiert zustimmend einen neueren Text von Jean Baudrillard: Hypothesen zum Terror. In: Lettre 56 (2002) H. 1. S. 17: “In unserem mediatisierten Universum steht gewöhnlich das Bild an der Stelle des Ereignisses, und der Bildkonsum ersetzt und verzehrt das Ereignis [...]. Diese Sichtbarkeit, diese forcierte Transparenz ist die eigentliche Strategie der Information.” 56 Filmdaten – Titel: Live aus Bagdad. USA 2002 (TV, HBO). – 110. Min. Drama. Regie: Mick Jackson. Buch: Nach den Erinnerungen von Robert Wiener. Darsteller: Michael Keaton (Robert Wiener), Helena Bonham Carter (Ingrid Formanek), Joshua Leonard (Mark Biello), Lili Taylor (Judy Parker), Bruce McGill (Peter Arnett), David Suchet (Naji Al-Nadithi) u. a. Dt. Fernseherstausstrahlung [100 Min.] ZDF am 24. 2. 2003. 22.15 Uhr. 57 Vgl. Jean Baudrillard: The Gulf War did not take place [1991]. Übers. von Paul Patton. Bloomington, Indianapolis 1995. Insb. S. 36 und S. 61-87. Paul Virilio: Krieg und Fernsehen [1991]. Übers. von Bernd Wilczek. München, Wien 1993. Siehe auch ders.: Krieg und Kino. Logistik der Wahrnehmung [1984]. Übers. von Frieda Grafe und Enno Patalas. München, Wien 1986.
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Die Kulturkritik hat nicht allein die Inszenierung von Nachrichten beschreiben, sondern vor allem deren Reduzierung auf Infotainment geißeln wollen. Schon Neil Postman bezweifelte in seinem oft verächtlich behandelten, aber umso wirkungsmächtigeren Essay Wir amüsieren uns zu Tode, dass Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie überhaupt möglich sei. Es ging ihm um den Zerfall der bürgerlichen Kategorie Öffentlichkeit.58 Sachverhalte würden nicht mehr erörtert, Kontexte nicht mehr vermittelt im Zeitalter des Showbusiness und seines Mediums, des Fernsehens.59 Das fröhliche “das Medium ist die Botschaft” von Marshall McLuhan, welches durch alle postmodernen Diskurse geistert,60 reduzierte Postman auf sinistren Kulturpessimismus. Früher schon hatte man die selbstreferenzielle Tendenz zur Dramatisierung der bewegten Bilder im Film und insbesondere im Fernsehen gesehen und kritisiert. Bernward Wember, der Entdecker der “Bild-Text-Schere”, geißelte die “Verseuchung der Denkwelt” und sah überall nur “Augenkitzel als optische Droge” am Werke; so lauteten seine ideologiekritischen Befunde, die heute eher Schmunzeln hervorrufen. Aber auch hier galt bereits die Sorge der demokratischen Urteilsbildung, die eben durch das Medium Fernsehen empfindlich gestört, wenn nicht gar unmöglich geworden sein sollte.61 Es fragt sich aber, ob dagegen die Printmedien in den letzten Jahren primär Instanzen des Einspruchs waren oder gar die Konflikte forcierten, eben weil sie Meinungen bilden – und das mehr als alle anderen Medien, nach wie vor.62
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Vgl. Neil Postman: Wir amüsieren uns zu Tode. Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie [1985]. Übers. von Reinhard Kaiser. Frankfurt/M. 111998. S. 190. Postman erklärt außerdem: “Problematisch am Fernsehen ist nicht, daß es uns unterhaltsame Themen präsentiert, problematisch ist, daß es jedes Thema als Unterhaltung präsentiert [...], die Nachrichtensendung ist ein Rahmen für Entertainment und nicht für Bildung, Nachdenken oder Besinnung”. Ebd. S. 110; siehe auch S. 124. 59 Ebd. S. 82f., 115, 154f. 60 Vgl. Marshall McLuhan, Quentin Fiore: The Medium is the Massage. An Inventory of Effects. Prod. by Jerome Agel. Harmondsworth, Middlesex 1967. Siehe auch Norbert Bolz: Am Ende der Gutenberg-Galaxis. Die neuen Kommunikationsverhältnisse. München 1995. 61 Bernward Wember: Wie informiert das Fernsehen? Ein Indizienbeweis [1976]. München, 3., erw. Aufl. 1983 [Buchausgaben nach der Fernsehsendung vom 11. 12. 1975, ZDF]. S. 63-65; 46-56, 15-33; siehe auch S. 38, 66, 179. Wember analysierte die Nordirland-Berichterstattung des ZDF aus den Jahren 1969–1973, insgesamt 50 Programmbeiträge mit einer Gesamtlänge von 310 Min. Ähnlich die spätere Kritik bei Postman: Wir amüsieren uns zu Tode (Anm. 58). S. 109, 115, 131. 62 Dazu wieder Iten: Medien und Krieg. Hg. Imhof, Schulz (Anm. 46). S. 13-18.
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V. Zum Band Krieg in den Medien Die vorliegende Sammelpublikation will, ohne kulturkritisches Ressentiment, die Stigmatisierungen einzelner Medien aus der Distanz prüfen. (Die Aufregungen um den Krieg gegen den Terror sind abgeklungen; von einer Befriedung der aktuellen Krisengebiete im Irak und in Afghanistan kann man bekanntlich aber nicht sprechen. Die zahlreichen anderen Kriege, die weniger mediale Aufmerksamkeit finden, machen zudem deutlich, dass alle 63 Zeiten Kriegszeiten sind. ) Vermittlung, der Zugang zu Kriegsgeschehen über Medien allein schließt Urteilsbildung noch nicht kategorisch aus. Aber Medien der Wahrheitsaussage wie solche der Fiktionalisierung müssen kritisch befragt werden, weil sie nur je verschiedene Inszenierungen, ihre je eigenen Konstruktionen von Wirklichkeiten bieten. Dem kulturkonservativen Medienverdikt ist eine vielschichtige und vergleichende Mediennutzung gewichen. Und in allen Medien finden sich Beispiele für kritische Urteilsbildung, gerade dann, wenn sie selbstbezüglich ihre eigenen epistemologischen Bedingtheiten hinterfragen. Umgekehrt ist kein Medium von militärisch-propagandistischer Vereinnahmung ausgeschlossen. Vielfach überschreitet der Band Krieg in den Medien die Grenzen der 64 Gattungen und Genres. Suchen die narrativ-fiktionalen Medien Literatur und Spielfilm, Comic oder Hörspiel nach einem anderen als rein konfrontativen Verhältnis gegenüber der elektronischen Informationstechnologie? Verändert die vermehrte elektronische Kriegführung, die Strategie der Netzwerkzerstörungen als militärische Angriffstechnik (information warfare)65 und das letztliche Scheitern der reinen, computerisierten Waffengänge, wie sie der Zweite Golfkrieg suggerierte, den Umgang mit Medien und die Beurteilung ihrer Techniken?66 Welche Medien sind zur Reflexion ihrer 63
Vgl. etwa den Beitrag von Armin Lehmann im Tagesspiegel : Welt unter Waffen, vom 19. 8. 2001, der eine Graphik der Kriege und ernsten Krisen für das Jahr 2000 enthält. Insgesamt wurden 144 Konflikte verzeichnet, 35 darunter fielen unter die obige Einordnung Kriege und ernste Konflikte. Siehe auch Münkler: Die neuen Kriege (Anm. 24). Passim, insbesondere die Kapitel 1 und 4. S. 13-57, 131-173. 64 Sein Untersuchungsfeld ist weiter als das seiner verschiedenen, thematisch eng verwandten Vorgänger. Vgl. etwa: Medien-Krieg. Zur Berichterstattung über die Golfkrise. Hg. von Jürgen Felix und Peter Zimmermann. Marburg 1991. HardWar, SoftWar. Krieg und Medien 1914 –1945. Hg. von Martin Stingelin und Wolfgang Scherer. München 1991. Medien im Krieg. Die zugespitzte Normalität. Hg. von der Österreichischen Gesellschaft für Kommunikationsfragen. Red.: Peter A. Bruck. Salzburg u. a. 1991. Medien und Krieg – Krieg in den Medien. Hg. von Kurt Imhof und Peter Schulz. Zürich 1995. Krieg, Nationalismus, Rassismus und die Medien. Hg. von Wilhelm Kempf u. a. Münster 1998. 65 Vgl. Ignatieff: Virtueller Krieg (Anm. 35). S. 156f. 66 Dazu Martin van Creveld: Die Zukunft des Krieges. München 1998. S. 59f., 309f. Auch das Fernsehen reflektierte frühzeitig das Scheitern der neuen Strategie. Vgl.:
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Fehlleistungen fähig oder prädestiniert, ohne ihrerseits nur ritualisierte Formen der nachholenden Selbstkritik zu perpetuieren? So lauten einige der Fragen, die der Band auf den folgenden Seiten behandeln möchte. Dabei gehen die Beiträge zum einen zurück auf anthropologische und zivilisatorische Grundmuster, die sich immer neu wiederholen (erinnert sei nochmals an unser Einleitungsbeispiel Ramses II. / Saddam und die Unausweichlichkeit von Beschämungsritualen und Propaganda), zum anderen aber prägen sich innerhalb dieser scheinbaren Konstante der Hochkulturen historische Verwerfungen aus, die ihrerseits Epochengrenzen etablieren. Vor allem der zweiten Frage, der nach den konkreten Zäsuren, geht der erste Hauptteil des Buches nach mit dem Titel Inter- und transmediale Wandlungen. Andere Aufsätze fragen gezielt nach den Grundbedingtheiten einzelner Medien und ihrer je eigenen Geschichte. Sie sind im Folgenden versammelt unter Geschichte der Einzelmedien, Vergleiche. Schließlich werden gesondert Werke und Personen behandelt unter der Überschrift Werkanalysen, Autoren. Den Vorsatz bilden der vorliegende Text und eine Erzählung von Juli Zeh: “Ich bin auf Standby. Ich sehe alles und nichts.” Aus dem Tagebuch einer Reise durch Bosnien-Herzegowina. Die Autorin fährt im Sommer 2001, nur in Begleitung ihres Hundes, durch Bosnien, sieht zerstörte Landschaften und endlose Mienenfelder, die aus der befriedeten Gegend immer noch eine der gefährlichsten Regionen in Europa machen. Sie notiert die Verletzungen, aber auch die verbliebene Schönheit der Städte, sucht und findet ihren persönlichen Zugang zum Kriegsschauplatz, der den gewöhnlichen Mediennutzern vertraut scheint, erfahrungswirklich aber sehr weit weggerückt ist. Juli Zeh hatte den literarisch überformten, semifiktionalen Text in dieser Fassung erstmals vorgestellt im Rahmen einer Tagung mit dem Titel: Krieg in den Medien und die ‘Neue Weltordnung’, die der Internationale Arbeitskreis Literatur und Politik in Deutschland in BonnBad Godesberg vom 30. November bis zum 2. Dezember 2001 durchführte. Er wird einerseits als Dokument ihres Arbeitsprozesses wiedergegeben,67 andererseits aber auch, weil hier paradigmatisch die Fragen nach Anschaulichkeit, eigenem Urteil und Vorurteil literarisch durchgespielt werden, die für alle Beurteilungen von Kriegsereignissen und ihrer Auswirkungen entscheidend sind. Auf das Datum der Tagung gehen auch einige Aufsätze zurück, die dort zunächst als Vorträge vorgestellt und dann überarbeitet wurden. Die meisten Der perfekte Krieg. Hightech, Pläne, Illusionen. Teil 1: Das digitale Schlachtfeld. ZDF. 23. 3. 2004. 22.15 Uhr (Teil 2 ebd. am 24. 3.). 67 Vgl. Juli Zeh: Die Stille ist ein Geräusch. Eine Fahrt durch Bosnien. Frankfurt/M. 2002. Nähere Angaben über die Art der Bearbeitung in einer Fußnote am Ende des Beitrages von Juli Zeh.
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der Beiträge aber sind spätere Fassungen verwandter Themen oder, noch häufiger, Neueinwerbungen konkret für diesen Band. Durch das Verfahren, gezielt einzelne Autoren zu gewinnen, hat die Sammelpublikation möglicherweise (so ist zu hoffen) an Kohärenz gewonnen. Von Nachteil ist freilich, dass dies nur um den Preis eines langen Entstehungszeitraums möglich war, worunter die Aktualität einzelner Beiträge gelitten haben mag. VI. Inter- und transmediale Wandlungen Doch zurück zum Inhalt. Epochengrenzen und Zäsuren nimmt insbesondere der erste Hauptteil über inter- und transmediale Wandlungen in Angriff. Vor allem die Veränderungen zwischen den Einzelmedien und über die Mediengrenzen hinaus interessieren hier. Manuel Köppen spannt den Bogen weit von Tolstoi bis Griffith, vom Roman über die Schlachtengemälde der Panoramen bis zum Stummfilm, um die Krise der Perzeption und Repräsentation in der zweiten Hälfe des 19. Jahrhunderts aufzuzeigen und den Wandel des Mediendispositivs, der dieser Krise folgte, zu beschreiben. Auch die Schlachtfelder der Moderne ändern den Status des beobachtenden Subjekts radikal – so wie dies Industrialisierung, Urbanisierung und Verkehrsentwicklung auf ihre Weise taten. Das Geschehen ist nicht mehr zu überblicken, seine Repräsentation ist an einen spezifischen Blickwinkel gebunden. Die Frage der Perspektivierung lösen Roman und Film auf je verschiedene Art. In beiden Fällen geht es aber um Bewegung, um die Überführung eines starren Panoramas in die Dynamik der Kriegshandlung, um sie so real als möglich darstellen zu können – als Krieg, wie er angeblich wirklich war. Jürgen Wilke zeigt die Gegenseite zu den Fiktionalisierungsformen (und dem Wandel der Subjektpositionen darin). Wenn er den Krieg als Medienereignis untersucht, so folgt er nicht radikalen Simulationstheorien und deren implizitem Zynismus, sondern er beschreibt, wie Kriege, seitdem Massenmedien mit den ersten Zeitungen im 16. Jahrhundert zur Verfügung standen, auf die Vermittlung und Verbreitung angewiesen waren und sind, und wie umgekehrt ein offenkundiges Leser- und Betrachter-Bedürfnis bestand nach Neuigkeiten von den Kriegen: gerade im 17. und 18. Jahrhundert. Dazu dienten auch frühe Illustrationen und im 19. Jahrhundert die farbigen Bilderbogen. Nach heutigem Verständnis musste das Neue in der frühen Neuzeit allerdings nicht unbedingt aktuell sein. Und ein anderer Befund besagt, dass im 17. Jahrhundert die Welt kriegerischer erschien als die gegenwärtige, wenn man die Zeitungen betrachtet. Wilke greift aus bis zu den Fernsehkriegen unserer Zeit, bis zum Cyberwar und den Instrumentalisierungen des 21. Jahrhunderts.
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“Medien des Krieges” lautet der doppelsinnige Titel von Niels Werber, der einen dritten Zugang zum gemeinsamen Phänomen präsentiert. In kritischer Distanz zu den systemtheoretischen oder postmodernistischen Relativierungen und Skeptizismen, die den Wahrheitsgehalt der Kriegsnachricht prinzipiell in Zweifel ziehen, geht es dem Autor um den Einsatz von Medien zur Kriegsführung. In einem weiteren Sinne fallen, seit Beginn des 20. Jahrhunderts, auch die Verkehrswege darunter. Die Geopolitik als Disziplin reflektiert das. Medien und Kommunikationswege generell – im Sinne von Austausch und Weltverkehr – tendieren nicht von sich aus zum Frieden, sondern lassen – ganz im Gegenteil – Konflikte erst entstehen und eskalieren. Oder Kriege werden gerade geführt, um eine Kontrolle über die Wege der Massenkommunikation zu etablieren und zu behaupten. Erhard Schütz beschäftigt sich mit phantasmagorischen Szenarien der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Militärtheoretiker und Romanschriftsteller bedienten beide eine verbreitete Erwartungsangst, indem sie gesichert scheinende Informationen mit Elementen des Fantastischen anreicherten. Gedacht wird an einen massenhaften Einsatz von Gas, das bei Luftangriffen ausgebracht werden sollte. Im einen wie im anderen Falle – im dokumentationsgestützten Militärszenario wie im fiktiven Roman (oder im Theaterstück) – spielt die Zivilbevölkerung und ihre nicht kalkulierbare massenpsychologische Reaktion eine entscheidende Rolle. Der tatsächliche Luftkrieg hat dann ganz anders (und ohne Gas) die apokalyptische Vision eingelöst. Propagandistisch zeigte man sich auf deutscher Seite sogar höchst zufrieden, das es zu diesem letzten, völkerrechtlich geächteten Mittel der Kriegsführung nicht gekommen sei – und konnte das noch ummünzen zu Argumenten für den Endsieg. Filmische Typologien von Fotografen, Reportern und Regisseuren im Kriege untersucht Heinz-Peter Preußer. Seit Kittler und Virilio ist es ein Gemeinplatz, auf die parallele Entwicklung der Medien zur Nachrichtenübermittlung einerseits und diejenige der Kriegstechnologien andererseits hinzuweisen. Avancierte Spielfilme (und ein Roman) aber belegen, dass die behauptete Identität von Krieg und Kino nur metaphorischer Art sein kann. Vielmehr sind es gerade die fiktionalen Medien, die Selbstreferenzialität inszenieren und ihre eigene Verantwortung in der Verstrickung mit dem Kriegsgeschehen sehen; die kritisieren, dass und wann ihre für die Medienkanäle bestimmten Blicke tödlich sein können. Sie verkaufen generierte Wirklichkeiten, leben von der Gewalt der Bilder, simulieren Geschichtsprozesse – und sind doch die einzige mögliche Quelle für Interventionen gegen die Wirklichkeit, wie sie sich – als Kontinuität der Opfer – ereignet.
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VII. Geschichte der Einzelmedien, Vergleiche Der zweite Hauptteil zeigt im Querschnitt die Geschichte einzelner Medien, greift Phasen heraus oder bringt Vergleiche. Den Anfang macht Jochen Meißner mit seinem Essay über das Prinzip Live. Krieg im Hörspiel lebt von der Suggestion der Echtzeit, mit welcher der Schrecken über große räumliche Distanzen verbreitet wird. Präsenz und Präsentation werden als gleichzeitig angesehen. Bereits Orson Welles machte sich diese falsche Annahme zunutzte und löste mit seinem War of the Worlds eine Massenhysterie aus. Im deutschen Radiodrama der letzten Jahre geht man hingegen kunstvoller um mit der Simulation des Jetzterlebnisses. Das Prinzip Live ist nur noch lose mit den Realitäten verkoppelt; es läuft sich leer (oder steigert sich, ästhetisch gesehen) in Wiederholungen, in Variationen und Wiederaufführungen. Wessen Sehnsucht hingegen nach wie vor auf das Authentische und Echte aus ist, so der pointierte Schluss, der weist eine bedenkliche Affinität auf zu jenen Terroristen, die “versuchten, [...] in einem fundamentalistischen Akt [...] die Einheit des Schreckens und seiner Abbilder wiederherzustellen”. Mirjana Stanþiü vergleicht den Balkankrieg in deutschen Medien, allen voran in der Süddeutschen Zeitung, und seine Wahrnehmung bei Peter Handke und der exjugoslawischen Frauenliteratur. Das Interesse an den sich neu bildenden Staaten war gerade in Deutschland und Österreich außergewöhnlich stark ausgeprägt, und so wuchs auch die Aufmerksamkeit für jene Literatur, die Frauen aus dem ehemaligen Jugoslawien verfassten. Vor allem auf dem Theater reüssierte eine junge Dramatikerinnengeneration, die den Protest perfekt vermarktet hat. Das Politische wird (vom Publikum) gewollt, aber am besten als soap-opera. Präzision und zersetzende Analyse, die zu klaren Dezisionen gelangen würden, scheinen hingegen weniger gefragt. Handke wiederum, so die Autorin, scheitere im Versuch, ein poetisches Korrektiv zur journalistischen Urteilsbildung aufzubauen, an der (von ihm nicht eingestandenen, aber offensichtlichen) politischen Belehrung. Heinz-B. Heller widmet sich ausschließlich der Irak-Kriegsberichterstattung 2003 im Fernsehen. In einem kritischen Protokoll der Ereignisse und ihrer Vermittlung vom 15. Februar bis zum 12. April zeigt er die Verflechtungen des Politischen und des Militärischen, die in den embedded correspondents ihre inzwischen schon sprichwörtliche Entsprechung gefunden haben. Journalisten erhalten in diesem Krieg, stärker noch als in den voraufgegangenen, ihre Bilder aus zweiter Hand; sie arbeiten mit Material, das von den involvierten Konfliktparteien stammt und also selbst schon interessegeleitet ist. Mit diesen Vorgaben konstruieren sie die Wirklichkeit ihrer Nachrichten. Aber Journalisten können die ihnen zugewiesenen Handlungsrollen auch unterlaufen, selber Opfer oder Unterhändler werden
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und schon dadurch die Perspektive ihrer Berichterstattung und diejenige ihrer Bilder verändern. Weiter in die Geschichte ausgreifend arbeitet Michael Kunczik, der zahlreiche Beispiele seit der Antike anführt, welche die “Notwendigkeit von Lüge und Zensur” in Zeiten des Krieges belegen sollen. Seit Clausewitz wissen wir, dass es im Krieg darum geht, dem Gegner den eigenen Willen aufzuzwingen. Entscheidend ist die Moral der Bevölkerung, nicht allein physische Stärke. Deshalb werden Mittel der Propaganda und gezielte Desinformation in der Moderne verstärkt eingesetzt. Die Öffentlichkeit scheint degradiert zum Spielball militärischer Interessen, von Heeresleitungen und Regierungen. Um den Gegner zu diskreditieren, wird systematisch ein Feindbild aufgebaut. Public Relations Agenturen wollen, der Tendenz nach, über gezielte Beeinflussung sogar die Kontrolle der Weltöffentlichkeit in Kriegszeiten herstellen, so die zugespitzte These. Das gilt bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts und wird fortgeführt in den Kriegen der USA gegen den Terrorismus. “Objektive und aktuelle Berichterstattung”, so der skeptisch-pessimistische Befund, ist “im Kriegsfall [...] nicht zu erwarten”. Ob gerade Comics ein fiktionales Korrektiv sein könnten zu den (unterdrückten, instrumentalisierten) Grässlichkeiten des Krieges fragt Ole Frahm. Entweder gelten Comics als affirmativ, also gewaltverherrlichend, oder aber man spricht ihnen die Fähigkeit ab, den Krieg überhaupt angemessen zu repräsentieren. Der Autor aber belegt, entgegen der allgemeinen Erwartung, dass Comics es sehr wohl mit ihren eigenen Mitteln verstehen, Krieg zu visualisieren. Die Aufteilung in Panels, die Gestaltung der Gesamtseite, das Nebeneinander von Wort und Bild sind die spezifischen ästhetischen Mittel, mit denen die Zerstörungsgewalt eingefangen, mit denen direkt oder ironisch gebrochen angeklagt wird. Frahm bietet einen Querschnitt durch das 20. Jahrhundert, aus drei Printquellen (Tageszeitung, Comic Book und graphische Erzählung) und von drei Autoren, um zu zeigen, wie der Krieg zwischen die Linien gerät. Klaus Kreimeier interessiert sich für andere Bilder, für die unauslöschlichen Zeichen, nach denen wir in all der Bilderflut meist vergeblich fahnden. Ein solches Zeichen war zweifellos mit den Echtzeitbildern des einstürzenden World Trade Center in New York etabliert worden, und als Antwort darauf fungierte das Sprachbild von der Achse des Bösen und sein ikonographisches Pendant, das Antlitz Osama bin Ladens. Der Beitrag beleuchtet, wie die Konfiguration des Bösen durch die elektronischen Massenmedien Fernsehen und Internet bewerkstelligt und verbreitet wurde, wie Archaik und Moderne in den Videobotschaften von al-Qaida eine eigenartige Symbiose eingingen, die ihrerseits den Bildgegenstand mythisierten und eine Anmutung von “Apokalypse, Räuberroman und Kolonialfotografie” gewannen. Schnell aber gefror “das Konterfei bin Ladens zum
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digitalen Ideogramm auf den Startseiten der Nachrichtendienste im Internet”; seine Depotenzierung zur Pop-Ikone ließ nicht lange auf sich warten. Und mit der Entscheidung fürs nächste Schlachtfeld Irak war der Personenwechsel bereits vorgegeben. VIII. Werkanalysen, Autoren Einzelnen Autoren, anschließenden Debatten oder nur einem Werk widmen sich die Aufsätze aus dem dritten Hauptteil. Er wird eröffnet mit Gregor Streims Beitrag über den Bombenkrieg als Sensation und als Dokumentation. Der Autor greift dabei auf Gert Ledigs Roman Vergeltung sowie auf die Feuilleton-Debatte um W. G. Sebalds Poetikvorlesung und spätere Publikation Luftkrieg und Literatur zurück. Die Frage war dort, warum die traumatische Erfahrung der Bombardierungen im Zweiten Weltkrieg, die zahlreiche deutsche Städte ausradierten und etwa eine halbe Million tote Zivilisten forderten, nicht angemessen literarisch repräsentiert worden sei. Sebald sprach von einem Tabu und von kollektiver Verdrängung; Ledigs Roman hielt man dagegen. 1956 erstveröffentlicht, fiel er bei der Kritik durch; 1999, bei der Neuauflage, verzeichnete Vergeltung einen großen Erfolg. Streim zeigt, dass es hier nicht um ein Tabu und seine Verletzung ging, sondern um Fragen des Stils und der erzählerischen Mittel. Was zuvor als überzogen sensationell abgewertet wurde, wird zur Jahrtausendwende als quasi dokumentarisch eingeschätzt und als authentisch gelobt. Einen Querschnitt zum Begriff des Krieges bei Alexander Kluge, bezogen auf seine mediale Repräsentation, gibt Matteo Galli unter dem Stichwort “Wirklichkeitsentzug”: Mit diesem Etikett hatte Kluge selbst versucht, die Verarbeitung des Zweiten Golfkrieges zu beschreiben; eine Gemengelage, die das praktische Urteil (angeblich) verwirrte. Das Modell, wie Krieg womöglich angemessener verstanden wird, hat der Autor offensichtlich mit seiner Schlachtbeschreibung aus dem Jahr 1964 geliefert, einem fiktionaldokumentarischen Versuch, den Untergang im Kessel von Stalingrad zu vergegenwärtigen. Gerade diesen Text baut Kluge nun wieder in seine Sammlung Chronik der Gefühle – aus dem Jahr 2000 – ein; der einzige alte unter den neuen Erzählungen des ersten Bandes. Zu den jüngeren Kriegen hat gerade ein Autor, der so oft über dieses Thema reflektiert hat, allem Anschein nach wenig zu sagen. Das einzige Rezept gegen den Wirklichkeitsentzug sei, mit dem Kopf des Gegners zu denken, sich in der Metanoia (in der Umkehr) zu üben – und praktisch zu werden: wie die Feuerwehrleute in Tschernobyl oder Manhattan, die neuen wahren Helden, so Kluge. Die Wirklichkeit (und ihre Abbildbarkeit) ist auch das Thema von Jürgen Kost. Er beschreibt die mediale Inszenierung als ein Paradigma der entfremdeten Moderne und nimmt sich zur Illustration seiner Thesen Friedrich
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Dürrenmatts späten Roman Der Auftrag oder Vom Beobachten des Beobachters der Beobachter vor. Wie der Titel schon nahe legt, bestreitet Dürrenmatt die Existenz einer Wirklichkeit an sich – nichts ist authentisch. Kriege werden speziell für Medienbeobachter inszeniert, was eine Unterscheidung zwischen wahr und falsch, korrektem Abbild und Täuschung, Objektivität und Propaganda naturgemäß unmöglich macht. Jede, insbesondere die mediale Beobachtung verändert den Gegenstand, der beobachtet wird. Werner Heisenbergs Unschärfe-Relation hatte das bereits – für einen ganz anderen Sektor – beschrieben; späterhin die Systemtheorie und der radikale Konstruktivismus mit gleichem Befund. So hängt menschliches Verhalten generell davon ab, ob es einen Beobachter gibt: und ob der Beobachtete weiß oder annimmt, dass er beobachtet wird. Medienbeobachter schließlich konstruieren in Massenmedien die Realität von Kriegen. “Wir ‘haben’ die Wirklichkeit nur als unser Bild von ihr.” Andere hingegen wollen den Krieg zeigen, wie er – angeblich – ‘wirklich war’. Thomas F. Schneider greift diesen (vermessenen) Anspruch auf anhand der Marketingstrategien zu Saving Private Ryan. Auch die Präformation des Films ist an den Vorgaben Spielbergs orientiert, den Krieg in seiner Tatsächlichkeit vorzuführen; und die Rezeption folgt dem nur allzu willig, wie eine Querschnittanalyse in englisch- und deutschsprachigen Publikationen, in Suchmaschinen und in Datenbanken zeigt. Das Selbstbild des Regisseurs, ein neues Maß an Echtheit und Authentizität im Genre Kriegsfilm eingeführt zu haben, wird mindestens für den ersten Teil, die Omaha-Beach-Sequenz, fast durchgängig reproduziert. “Die Rezeption [...] ist global, zirkulär und repetitiv.” Inzwischen, so Schneider, ist das selbstgesetzte Ziel des Regisseurs erreicht: Saving Private Ryan gilt zumindest in der amerikanischen Öffentlichkeit als Quelle zur Geschichte des D-day. Darüber hinaus ist der Film zum Mittel einer Urteilsprägung über den gerechten Zweiten Weltkrieg geworden und zugleich zu einem Instrument, die gefallenen Soldaten zu ehren: eine virtuelle Gedenkstätte für Helden. Die Geschichte des Theaters ist ebenfalls eine der Repräsentation kriegerischer Gewalt auf der Bühne; eine Geschichte der Theaterschlachten. Von Aischylos über Shakespeare und Kleist, Karl Kraus, Heiner Müller und Robert Wilson bis zu Tom Lanoye und Luk Perceval reicht die lange Kette der inszenierten, zur Anschauung gebrachten Kriege – und eben das ist bereits verwunderlich. Die Bühne ist zwar ein Medium der Darstellung; aber ihre Möglichkeiten sind begrenzt. Sicher hat Aischylos bereits den ersten Schritt getan, das Theater als Raum der Performanz und der Repräsentation zu öffnen, indem er die Zahl der Schauspieler von einem auf zwei erhöht
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und den Anteil des Chores verringert hatte;68 aber die Anzahl der Akteure ist selbst noch für das ‘Marstheater’ des Karl Kraus ein ernstes Problem. Auch über 200 Szenen und mehr als 500 Figuren geben nur eine Ausschnittwirklichkeit des Weltkriegsgrauens wieder.69 Da der Krieg ein Massenphänomen ist, müssen Massen entweder abgebildet oder substituiert werden.70 Im Film besteht dieses Problem fort, kann aber mit Erhöhung der Statistenanzahl deutlich verringert werden. So setzte Sergej Bondartschuk für seine nahezu achtstündige Spielfilmfassung von Krieg und Frieden 18.000 Komparsen ein.71 Eine Zahl, die heute (selbst von einem Steven Spielberg) nicht mehr zu finanzieren wäre, und die durch Rechnerkapazitäten gelöst wird. Massenheere generiert inzwischen der Computer; ob für Sciencefiction, Fantasy, alte Schlachten um Troja72 oder Kriegsfilme aus der Realgeschichte. Das zweite Problem, nach dem der großen Zahl, ist die Darstellung des Schrecklichen auf offener Bühne. Gewalttat und Mord, Gemetzel und strömendes Blut sind seit je anstößig, wenn auch nicht jedwede Poetik so rigide die bienséance reklamiert wie seinerzeit die französisch-klassische des Nicolas Boileau.73 Horst Domdey, der ausführlich und ausschließlich über Theater referiert, nimmt das zum Ausgangspunkt seiner Betrachtungen über die Darstellung kriegerischer Gewalt in Goethes Faust. Goethe kannte die Gräuel des Krieges aus eigener Anschauung und hat bekanntlich weder dem Militär, 68
Aristoteles: Poetik [nach 335 v. Chr.]. Gr. / dt. Übers. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1991. S. 15 [1449a]. 69 Die Bühnenfassung, von Kraus selbst erstellt, reduziert die fünf Akte auf insgesamt 87 Szenen. Die aktuelle Inszenierung von Johann Kresnik, aufgeführt im Bunker Valentin in Bremen-Farge seit der Spielzeit 1999/200 und immer wieder aufgenommen, bringt 39 Szenen, die teilweise parallel gespielt werden. Vgl. Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit [1915–1917 geschrieben, 1919 publiziert]. Bühnenfassung des Autors [1928]. Hg. von Eckart Früh. Mit Zeichnungen von Georg Eisler und einem Essay von Eric Hobsbawn. Frankfurt/M. 1994. Siehe zu den verschiedenen Fassungen dort S. 11. Zur Inszenierung vgl. die Materialen des Bremer Theaters unter dem Generalintendant Klaus Pierwoß, Dramaturgie Anja von Witzler und Joachim Lux. 70 Auch wenn der Roman personalisieren muss, um überhaupt zu Handlung zu gelangen, so kann er doch darüber hinaus Massen im Akt des Lesen vorstellen. Die Vorstellung auf der Bühne – durch Teichoskopie – ist dagegen ein Kunstgriff, dem man seine Unbeholfenheit anmerkt. 71 Krieg und Frieden. UdSSR 1965–67. Regie Sergej Bondartschuk. Jüngste Ausstrahlung im deutschen Fernsehen am 1., 8. und 15. 9. 2003 auf mdr. 72 Vgl. etwa die Armeen der Klone aus der Reihe Starwars, Episode II, Angriff der Klonkrieger (USA 2002. Regie George Lucas), sowie die Heere der Orks aus der Verfilmung des Tolkienromans Der Herr der Ringe, hier die Teile zwei, Die zwei Türme, und drei, Die Rückkehr des Königs (USA / NZ 2002, 2003. Regie Peter Jackson). Zudem: Troja. USA 2004. Regie Wolfgang Petersen. 73 Nicolas Boileau-Despréaux: L’art poétique. Paris 1674 (in: Œuvres diverses).
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noch den Kriegen etwas abgewinnen können. Im zweiten Teil des Faust, dort der vierte Akt, reduziert er seinen Helden auf nur ein Interesse: Erwerb von Herrschaft und Eigentum. Das Modell ist der substanzlose, aufreibende Bürgerkrieg, in dem sich Faust, mit Unterstürzung Mephistos, als Kriegsgewinnler profiliert. Hatte er im ersten Teil der Tragödie zum Mittel des Mordes (auf offener Bühne) gegriffen, so droht er jetzt mit einem Massaker. Faktische Gewalt wird zurückgenommen; allein die Drohung durch die drei Gewaltigen sichert schon Macht. Raufebold, Habebald und Eilebeute sind als kenntliche Personifikationen gewollte Allegorien des Kriegsgeschehens, welche die Massen substituieren; Faust engagiert sie, “den Abschaum, schickt sie ins Feld und macht seinen Schnitt”. Der moderne Bürger wird politisch extrem, greift zu Diktatur und Willkürherrschaft; Revolution und Reaktion gehen ineinander über. Goethes Kriegstheater, das hier ins Komische wechselt, wird nirgends mythisch oder tragisch überhöht und nobilitiert; aber es demontiert im Gegenzug seine Hauptfigur. “Im Blick auf die Totalitarismen des zwanzigsten Jahrhunderts”, schreibt Domdey, “entfaltet Goethes Faustmodell prognostische Kraft”. Den Abschluss des Bandes bildet der Aufsatz von Christian Jäger über die politische Theorie der französischen Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattari. Deren Konzept der Kriegsmaschinen entwickelt das Hauptwerk der Tausend Plateaus; der Beitrag erläutert dies und zeigt verschiedene Verwendungen und Funktionen des Begriffs. Gedacht werden Kriegsmaschinen zunächst als nomadische Entwicklungen, als anti-staatliche Organisationsformen und als anti-hierarchische Kraft, die aber später auf den Staat als Gewaltmonopolisten übergehen. Nomaden geraten jetzt auf die Seite der Minoritäten. Sie bilden das Außen, von dem der kapitalistische Staat als Monopolist der Kriegsführung, als Garant von Besitz und Ortsgebundenheit sich absetzt. Die bestehende Ordnung wird alternativlos. Das Denken, die Theorie, so die beiden Philosophen, müsse sich die Kriegsmaschine nun wieder aneignen und schöpferische Fluchtlinien entwerfen oder, mit einem Wort Heiner Müllers gesagt, “einen Krieg ohne Schlacht” führen:74 keinen Krieg der Gewalt also, sondern einen der spekulativen Gegenentwürfe zum bestehenden Schlechten. “Es meint lediglich die Möglichkeit, Konzepte zu entwickeln, Zweifel zu wecken und Fragen zu lancieren”. Mehr, könnte man resümieren, will auch der vorliegende Band Krieg in den Medien nicht erreichen.
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Heiner Müller: Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen [Autobiographie in Gesprächen mit Katja Lange-Müller, Helge Malchow und Renate Ziemer]. Köln 1992.
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IX. Danksagungen Mir bleibt zum Abschluss, all jenen zu danken, die an diesem Buch mitgewirkt haben: den Kolleginnen und Kollegen des Internationalen Arbeitskreises Literatur und Politik in Deutschland, den Tagungsteilnehmern und der Karl-Arnold-Stiftung in Bonn-Bad Godesberg (jetzt Königswinter), den Studierenden aus meinen beiden Seminaren zum Thema Krieg in den Medien, dem Verlag Rodopi und den Reihenherausgebern der Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, hier insbesondere Prof. Dr. Anthonya Visser (Universität Leiden), und vor allem den Autorinnen und Autoren selbst. Ich danke auch allen Rechteinhabern für die Genehmigung zum Abdruck der Bilder, die den Band illustrieren. Bei der Umsetzung der Korrekturen haben mich Frau Cirsten Strubbe (cand. phil. Universität Osnabrück) und Frau Wiebke Johanning (cand. phil. Universität Bremen) tatkräftig unterstützt; Frau Johanning hat zudem mit mir das Personenregister erstellt. Beiden sei ausdrücklich gedankt.
Bremen, Cuxhaven, Osnabrück im Spätsommer 2004 HPP
Juli Zeh
“Ich bin auf Standby – Ich sehe alles und nichts” Aus dem Tagebuch einer Reise durch Bosnien-Herzegowina Juli Zeh sets out alone for Bosnia in summer of 2001, with only her dog for company. She passes through a ravaged landscape, a theatre of war with its countless minefields, making it still the most dangerous terrain in Europe. The journey takes her to Jajce, Sarajevo, Mostar, Ravno, Trebinje, Sanski Most, Travnike, Tuzla, Srebrenica, Banja Luka, Bihac: war-torn places in a Bosnia now at peace, wounded landscapes, cities that still have a magical beauty, places teeming with history and personal stories. “I feel lost, detached from all memories. I am a child again; I’ve grown up in the space of just a few hours, astonished by what the world is like. Who would have thought this was possible. Everything always used to be so complete and whole. Tomorrow was Christmas, I think to myself: this journey is without a present, inside my head there is only an imperfect tense, a ‘used to be’, and even for myself there is no ‘I’, but the third person, my thoughts sound to me as if in some distant future someone else is talking about me and this first day in Mostar.”
Hinten auf der letzten Bank, wo bei Schulfahrten immer die Führungselite der Klasse saß, ist das Brummen des Motors von Halswirbel bis Unterschenkel im ganzen Körper zu spüren. Der Hund unter mir atmet flach, er hat keinen Platz, um tief Luft zu holen. Lange sitze ich vornüber zusammengekrümmt und halte ihm eine Pfote. Ich kenne ihn seit acht Jahren und bin immer wieder erstaunt, wie hart er im Nehmen ist, wenn es drauf ankommt. Ich würde auch für ihn acht Stunden unter der Sitzbank reisen, und die Vorstellung, er könnte das möglicherweise nicht wissen, schmerzt so sehr, dass ich mich frage, ob das eine Form von Heimweh ist. Unablässig flieht die Landschaft in die Richtung, aus der ich gekommen bin; in Leipzig muss sich schon ein ganzer Haufen vor meiner Haustür angesammelt haben. In der Nähe, die immer schnell ist, rasen Bäume und Häuser nur so vorbei, während die am Horizont beratend im Halbkreis zusammensitzenden Bergriesen dem Bus eine Weile das Geleit geben und sich dann, einen gediegenen Halbkreis beschreibend, langsam nach hinten abwenden. Sie werden sogleich abgelöst vom nächsten Massiv, für ununterbrochene Begleitung durch Bergwelt ist gesorgt. Schnell türmt das sogenannte Landesinnere sich auf. Oben verschwimmen die Gipfel im Hitzenebel, unten dehnen sich graugrüne Flächen, die nur hier und da Felder sind. Wenn die Felswände dicht an den Bus heranrücken, steht der nächste Tunnel bevor.
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Eine Weile freue ich mich daran, dass ganz Kroatien nach Waschpulver riecht, und betrachte glücklich die dazugehörende, weiß flatternde Wäsche in den Gärten am Straßenrand. Bis ich zwei Reihen weiter vorn zwischen den Füßen einer Frau die Familienpackung Ariel bemerke. Mein Plan hatte einen Fehler: Er sah keine Zeit zum Einkaufen von Proviant oder Aufsuchen der Toilette vor. Der Bus hält, ich will den Hund nicht allein lassen und bleibe als Einzige sitzen, ganz hinten in meiner Ecke. Mir ist völlig klar, dass ich so nicht durchhalten werde bis zum Ende der Fahrt. Meine Blase fühlt sich jetzt schon hart und rund an wie ein mit Haut bespannter Stein, und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis die ersten Buckelpisten beginnen. Vor mir liest einer “The Catcher in the Rye”; ich lasse das Polnische gleich beiseite und frage auf Englisch. Die Berechnungen ergeben, dass wir etwa ein Elftel der Strecke bewältigt haben. Er legt sein Buch zur Seite und setzt sich zwei Reihen weiter nach hinten in meine Nähe. Kaum hat er erfahren, wo ich herkomme, wechselt er ins Deutsche. Fließend. “Wieso quatschst du mich dann auf Englisch an?” Ja, wieso eigentlich. Als Deutsche bin ich gewöhnt, im Ausland leise zu sprechen. Oder Englisch. Und woher er so gut Deutsch könne? Er grinst, woher wohl, saudoofe Frage. Gut, dass ich sowieso schon rot bin von der Hitze. Renato hat seinen Namen vom italienischen Gewinner der Europameisterschaft im Kanufahren, die vor zweiundzwanzig Jahren in Jajce ausgetragen wurde. Damit ist er sogar noch jünger als mein kleiner Bruder, der für mich immer der jüngste Mensch der Welt gewesen ist. Von Jajce habe ich noch nie was gehört. Nicht weiter schlimm, war ja auch nur die Hauptstadt Bosniens bis zur Eroberung durch das Osmanische Reich. Vielleicht hätte ich es doch ausleihen sollen, das Buch über Bosnien im Mittelalter. Ich starre ihn an wie einen Außerirdischen – und das auch noch möglichst unauffällig. Mein erster Bosnier, mein erster echter Bosnier. Er sieht gut aus. Beim nächsten Halt kann ich nicht mehr und bitte Renato, kurz auf den Hund aufzupassen. Er bückt sich, um unter die Sitzbank zu sehen, und taucht lachend und kopfschüttelnd wieder auf. “Was wollt ihr eigentlich in Bosnien, zum Teufel?” Diese Frage wird mir seit einigen Tagen auffällig oft gestellt, unter anderem von mir selbst. Es ist höchste Zeit, sich eine kurze, prägnante Antwort darauf zurechtzulegen.
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Je weiter wir uns der Grenze nähern, desto unentschiedener wird das Gelände. Die struppigen Felder sind sich nicht im Klaren darüber, was auf ihnen wächst, und selbst die Sonnenblumen schauen in alle Himmelsrichtungen, als könnten sie nicht erkennen, wo das Licht herkommt. Die Autobahn endet, es beginnt zu ruckeln und zu schütteln wie in einem Pferdekarren, ohne dass es in der Abfolge von Stößen zu Wiederholungen käme. Straße und Bus sind erfinderisch wie die Zahl Pi persönlich. Eine epileptische Art des Reisens. “Mach einfach, was sie sagen.” Renato schubst mich vor sich her, kaum bleibt mir eine Sekunde, um den Hund anzuflehen, dass er ruhig liegen bleibt. Sie lassen uns das Gepäck ausladen und zu einem Campingtisch tragen. Der Bus entfernt sich, leer bis auf einen Fahrer. Und bis auf meinen Hund. Die Hitze hätte schon ausgereicht, um mich in Schweiß zu baden, ich spüre Renatos Hand glitschig an meinem Unterarm. Gerade als ich ihn abschütteln und dem Bus hinterher sprinten will, hält dieser an, noch in Sichtweite; zwei Uniformierte mit Taschenlampen steigen ein. Mein Herz hat zwei Fäuste bekommen und trommelt damit von innen gegen die Wand. Irgendjemand flüstert dauernd “Abwarten, erst mal abwarten” in mein Ohr. Die beiden Männer steigen wieder aus. Sie haben den Hund nicht gefunden. Oder sich nicht interessiert. Wäre ich eine Sonnenblume, ich hätte keine Ahnung, wo das Licht herkommt. Bei den ersten zerstörten Häusern, die als bloße Geröllhaufen hier und da in den Feldern sitzen, denke ich an einen großen Steinbeißer, der das Gebiet durchwandert und seinen Kot hinterlassen hat. Dann denke ich noch ein bisschen an den Zahn der Zeit und daran, dass alles mal kaputtgeht. Als wir an einer katholischen Kirche vorbeifahren, die mit ihren schrägstehenden, zerrissenen Betonwänden aussieht wie ein kaputter Karton und deren Turm, waagerecht abgeknickt, bis fast in die Straße ragt, höre ich auf mit dem Scheiß. In Folge sehe ich: Die Knubbeldächer einer orthodoxen Kirche, von Kunstlicht angestrahlt trotz der Nachmittagssonne. Leere Denkmalsockel. Sattelschlepper voller Melonen am Straßenrand, jede groß wie ein Globus und das Stück zu achtzig Pfennig. Das Hotel “Milka”, ganz lila und mit typischem Schriftzug. Daneben die dazu gehörende Milka-Tankstelle, deren Benzinpreise mit weißer Schnörkelschrift auf schokoladenkuhfarbenem Untergrund angegeben sind. Ich verstehe nicht ganz. Die anderen Ausländer außer mir sind aus Aachen, ich sehe es an den Autokennzeichen. Schilder mit Pfeilen bieten Dinge zum Verkauf, die kein vernünftiger Mensch geschenkt haben will. Eine junge,
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gut gekleidete Frau gibt einem schweißnassen Pferd mit Heuwagen etwas Gutes von der flachen Hand. Etwa hundert Fragen will ich Renato stellen und bringe nicht eine über die Lippen. Er erzählt von Berlin, wo er gerade zu Besuch war, und von seiner Entscheidung damals, mit den Eltern nach Jajce zurückzukehren, anstatt die Schule in Deutschland abzuschließen. Ich habe nicht richtig zugehört. “Der Krieg”, sagt er gerade, “raubt dir die Kindheit. Heute bin ich ein großes Baby. Das darf dich nicht stören.” Als er aufsteht, um etwas aus seiner Tasche zu holen, ist er plötzlich ein Meter neunzig groß. Melonen gibt es nicht nur auf Sattelschleppern, sondern auch in Kisten, auf Handkarren, in Autos oder einfach in statisch zweifelhaften Haufen auf dem Boden. Ich komme nicht drauf, wer die alle essen soll. Außerdem habe ich noch nie Melonen wachsen sehen. Ich will in die Felder spähen, aber da sind nur noch Straßendörfer, eins ins nächste übergehend, lauter frisch gebaute, unverputzte Ziegelwürfel, seltsame Gebilde, die manchmal Zwiebeltürme nachahmen oder die Form eines amerikanischen Motels. Manche sind groß wie Wohnkomplexe im Vorort einer Großstadt, da sollen dann wohl die Leute einziehen, welche die ganzen Melonen essen. Den meisten Häusern ist ein kleines, mit Werbung gepflastertes Geschäft angeschnallt wie ein greller Bauchladen. “Ich habe noch nie jemanden gesehen”, sagt Renato, “der so leuchtend blaue Augen hat wie du.” Überall Graffiti: Falls aus mir sonst nichts wird im Leben, könnte ich Kurse anbieten: “Hakenkreuze zeichnen – jetzt auch richtig rum”. Und die Fortgeschrittenen lernen noch, dass man “NATO” mit vier Großbuchstaben schreibt. Über mehrere hundert Meter erstreckt sich eine wilde Müllkippe, von Bebauung kann keine Rede mehr sein. “Das ist die Grenze”, sagt Renato, aber zwischen was und was? Gerade noch sehe ich das Schild vorbeiflitzen: Auf Wiedersehen in der Republika Srpska. Ein paar Minuten später gibt es auch wieder Felder, aber von Melonen immer noch keine Spur. “Also dann.” Plötzlich steht der Bus, das ist Jajce, ich verstehe überhaupt nichts, müssen wir nicht erst durch Banja Luka? Da waren wir vor anderthalb Stunden. Das habe ich nicht gemerkt. Renato zögert. Wie weit es noch bis Sarajevo ist, frage ich, sehr weit, sagt er, noch mal so weit. Sarajevo, da bin ich sicher, existiert sowieso nicht wirklich, aber Jajce sehe ich durchs Fenster. Spatz in der Hand, denke ich und stehe auf. Im ersten Moment kann der
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Hund nur taumeln, aber dann wird er wach und folgt mir durch den Mittelgang, die Fahrgäste raunen, wir springen raus, der Busfahrer ruft mir etwas hinterher, das ich nicht verstehe, und Renato hat meinen Rucksack schon ausgeladen. Meine Füße: tastend beim ersten Kontakt mit bosnischem Boden. Alles klar. Trägt. * Das Plätschern des türkisfarbenen Wassers da unten ist schon in meinen Ohren Sirenengesang – den Hund würde auf Dauer auch kein Mastbaum halten. Alle guten Vorsätze frisch im Kopf, scheine ich gleich bei der ersten Gelegenheit zu versagen. Von den gelben Plastikbändern, die mir beschrieben wurden und die aussehen sollen wie Absperrungen an einer Baustelle, habe ich zwar nichts gesehen; aber die sind nicht überall, wo sie sein sollten. Wie auch immer, die Straße darf jedenfalls nicht verlassen werden. Niemals. Ein seltsames Gefühl, diese ersten Schritte auf möglichem Minenfeld, die Beinmuskeln reagieren mit Verspätung. Als würde das im Zweifel irgendetwas helfen, taste ich mich mit den Fußspitzen vorwärts wie über dünnes Eis, bis mir endlich auffällt, dass das Gras gemäht ist. Eine Weile denke ich über die Bauweise von Rasenmähern nach, und ob sie beim Drüberrollen wirklich alles zum Detonieren brächten. Dann komme ich darauf, dass hier bestimmt mit der Sense gemäht wird. Langsam wird mir klar, dass ich nicht die gesamte Reise auf Asphalt unternehmen kann, das Land durchquerend wie auf Sicherheitsstegen über einem Sumpf. Wir sind hier, und es ist, wie es ist. Ich gebe den Hund frei, er startet durch und ist mit zehn Sätzen im Fluss. Schmetterlinge schwitzen nicht, sie sehen immer frisch aus und unbeschwert. Eine kleine himmelblaue Sorte mit pelzigen Leibern und orangefarbener Borte um jeden Flügel interessiert sich für meine ausgezogenen Stiefel, unzählige von ihnen bedecken die schweren Schließen und das Innere der Schäfte. Der Hund fischt Kiesel aus dem Fluss, taucht dazu prustend die Nase unter Wasser, quietscht und singt vor Vergnügen. Das hat er schon lange nicht mehr gemacht. Die Libellen sind leuchtend blau mit schwarzen Flügelunterseiten; erst glaubte ich, der Wind triebe Plastikfetzen vor sich her. Nur weht gar kein Wind. Das große Tier vor mir im Netz hat Kreuzspinnenformat und ist in Neonfarben gelb-schwarz gestreift. Ich würde gerne sehen, was passiert, wenn eine Libelle sich im Netz verfängt. Es gibt Welten, in denen geht der Krieg niemals zu Ende.
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Die bemoosten Felsen kauern im Fluss wie Tiere, die ständig den Kopf unter Wasser haben. Eine Wolkenfamilie führt ihre Schatten gemächlich über Berghänge, deren Gestein an manchen Stellen durchschimmert durch das löchrige, hellgrüne Mischwaldgewand. Es ist friedlich, besonders im Maisfeld zur Rechten. Trotzdem sehe ich mich alle zwei Minuten um, ob mein Rucksack noch da ist, ob vielleicht doch noch etwas in die Luft fliegt oder ein Mörder sich nähert. Was ich auf den ersten Blick für garstige Brennnesseln halte, stellt sich als duftende Minze heraus. Ich entschuldige mich bei Gras und Pflanzenbüscheln und überhaupt bei allem: Es ist halt mein erster Tag. Renato kommt sorglos quer über die Wiese gestiefelt: “Schön hier, oder?” Auch wenn Jajce ansonsten natürlich ein Scheißnest ist. Allein der Name schon: “Jaje” heißt “Ei”. Ich soll raten. Ich murmele was von Neuanfang, von Keimzelle einer neuen Ära. Oder so. “Sie haben ihren Mörtel aus Eierschalen gestoßen”, sagt Renato. “Die ganze Stadt war weiß. Als es die alten Häuser noch gab.” Ansonsten alles in Butter: Die Eltern sind übers Wochenende an die Adria gefahren, andernfalls wäre ich mit dem Hund niemals in die Wohnung gekommen. Mir ist das alles unangenehm, aber vielleicht brauche ich auch erst mal einen Kaffee. Damit ich gleich was lerne über die bosnische Kultur: Schuhe aus und vor der Tür lassen, schnauzt er mich an. Die dicken Teppiche sind angenehm unter den Fußsohlen. Der Kaffee ist mit an die Adria gefahren, wir trinken das sauberste Wasser Europas gleich aus der Leitung. Seit die Fabriken kaputt sind, ist erst recht alles voller Forellen und trinken kann man direkt aus den Flüssen. Tut man auch, sobald man den Hahn aufdreht. Bis in den sechsten Stock sind wir geklettert, auf manchen Etagen sind die Wände frisch gestrichen, überall sonst fleckig und mit Holzkohlegraffitis beschmiert. Für Belüftung sorgen zerbrochene Fensterscheiben. Ich habe vergessen, Renatos Nachnamen an der Wohnungstür abzulesen. Während er duscht, nehme ich Trauben, Pflaumen und Nektarinen aus der Obstschale, immer von unten, und ordne den Rest so, dass es nicht auffällt. Mein leerer Magen zwickt sich selbst, vielleicht glaubt er zu träumen. Überall herrscht Ordnung, die Gardinen hängen in parallelen Falten, die Bücher im Regal sind nach Größe sortiert, die Kissen auf Couch und Sessel liegen perfekt, als wären sie festgenäht. Mein Rucksack, der Hund und ich stören erheblich. I say my darling, you look wonderful tonight: An meinem ersten Nachmittag in Bosnien-Herzegowina, in einer kleinen Stadt, von der ich noch nicht mehr gesehen habe, als dass sie auf seltsame Art zerfahren wirkt und außer winzi-
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gen Lebensmittelläden überhaupt keine Geschäfte besitzt, bringe ich die Sofakissen eines unbekannten, älteren bosnischen Ehepaars durcheinander und singe dazu Eric Clapton. Im Duett, mit Gitarrenbegleitung. Wenn man’s weiß, erkennt man die mittelalterliche Form des Marktplatzes, die inzwischen von kommunistischen Flachbauten nachgezeichnet wird. Wo kein Lebensmittelladen ist, befindet sich ein Café, und aus jedem dringt eine andere, zu laute Musik, bei der ich am liebsten den Sendersuchknopf bis zum Anschlag drehen und dem Pfeifen der leeren Wellen lauschen würde. Eine Katze mit einem Viertel Pizza im Maul rennt vorbei, ohne dass der Hund sie bemerkt. Er starrt die lebensgroßen Bronzeabbildungen junger Löwen an, die unmotiviert in einem Rasenstück sitzen. Wenn ich an Renatos Arm entlang irgendwohin gucken soll, muss ich mich auf eine kleine Mauer stellen, einen Stein oder umgedrehten Eimer, oder er muss in die Knie gehen. Da unten liegen die Reste des Hauses seiner Familie, mit bloßem Auge schwer auszumachen. Sie haben es nicht nur mit Granaten zerschossen, sondern später noch gesprengt. Von Hand. “So gründlich waren sie bei uns”, sagt Renato. Ansonsten hat Jajce eine verfallene Krönungsburg, darunter eine Gruppe in den Hang gekauerter, halb zerstörter Häuschen im türkischen Stil, ein Stück römischer Tempel, leerstehende habsburgische Finanzverwaltungsgebäude, Teile einer osmanischen Befestigungsmauer, eine Menge Höhlen, Titos Villa, einen vier Kilometer langen Aquädukt aus Österreich-Ungarn, kroatische Alltagsarchitektur, eine stillgelegte Fabrik, viele weiß schäumende Staustufen und einen dreißig Meter hohen Wasserfall mitten in der Stadt, von dem ein Showspringer sich einst zu Tode stürzte. Wild ist es zugegangen in Europa während der letzten zweitausend Jahre. Ich stehe mitten in einem Setzkasten der Geschichte, und nichts ist nicht kaputt. Sogar der Wasserfall war mal höher, bevor ein gigantischer Felsbrocken herausbrach und in den Fluss stürzte. Wir kommen nur mühsam voran, weil Renato alle zehn Meter einen Bekannten begrüßen muss. Außerdem gibt es zu jedem Kieselstein eine Geschichte. Irgendetwas hat er mit meinen Augen. Er sieht nicht hinein, sondern schaut sie an, betrachtet sie wie etwas Lebloses, wie Glasmurmeln oder zwei interessant geformte Steine, und dass es die schönsten Augen der Welt seien, hat er während des ganzen Nachmittags wiederholt. Nur am Anfang hielt ich es für Schleimerei. Inzwischen vermute ich eine Obsession. “Das sind schöne Augen”, sagt er. “Ich kann gar nicht glauben, wie sie lachen.” Mein Leben lang habe ich über meinen Gesichtsausdruck immer nur gehört, ich solle nicht so grimmig schauen, und das, wenn ich einfach nur
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dasaß und nachdachte. Ab und zu steht er auf, um mich von der Seite und von hinten anzuschauen. “Fühlst du dich wohl mit mir? Du siehst zufrieden aus.” Ich fühle mich tatsächlich wohl. Auch ich stehe ab und zu auf, um nach dem Hund zu sehen, der außerhalb des Holzgeländers auf der Wiese warten muss. Wenn hier jemand mit Hund ein Restaurant zu betreten versucht, sagt Renato, weiß man sofort: Das ist ein Deutscher. Oder wenn jemand davon ausgeht, es habe sich auf dem Balkan um einen Krieg aus Völkerhass gehandelt. Uns trennen vier Forellen, zwei Platten in Öl gebratener Kartoffelscheiben, ein Korb mit luftigem, nach türkischer Art gebackenem Brot und ein paar Schüsselchen mit verschiedenen Salaten, die ständig über den Rand des Tisches gedrängt zu werden drohen. Die Kerze setzt einen glühenden Lichtpunkt tief ins Innere der Weinflasche. Der Kellner ist wie jeder in Jajce außer den Bauern ein alter Freund von Renato. Er heißt “Svemir”, was “Universum” bedeutet, und behandelt uns so vorzüglich, als säßen wir in der Luxussuite eines Grand Hotels und nicht auf einer Terrasse am See. Der Mond beendet seinen Klimmzug am oberen Rand des Bergkessels, er ist vollkommen rund, ein in den Himmel gestanztes, mit Pergamentpapier bespanntes Loch, durch das rötlich die dahinterliegende Lichtmenge schimmert. Ich freue mich an ihm, er ist eine schöne Startleuchte. Tief im schwarzen Wasser, durch kleine Wellen verzerrt, liegt schon ein zweiter Vollmond bereit, der in genau einem Monat aufgehen wird, zum Ende der Reise. In Berlin hat sich seit fünf Jahren nichts verändert, und im Vergleich zu Bosnien mag das sogar stimmen. Renato hat seine alte Basketballmannschaft besucht, seine Ex-Freundin, die fast genauso heißt wie ich, und seinen ehemaligen Deutschlehrer. Ein Staffellauf der Wiedersehensfreude. “Es ist schwer zu verstehen”, sagt er, “dass Berlin und Jajce die ganze Zeit über auf dem selben Planeten nebeneinanderher existiert haben. Und nicht nur abwechselnd.” Das Problem kenne ich. Spätestens seit wir hier sitzen, kommt mir das Bestehen von etwas wie Leipzig fragwürdig vor. Wir essen mit einer Hand, mit der anderen schlagen wir die Mücken tot. Als ich etwas Nettes über Jajce sage, will Renato wissen, ob ich ihn verarsche. Von dem Geld, das er als Fahrer beim UNHCR verdient, leben auch seine Eltern, und so schafft er es, gleichzeitig seine Rückkehr nicht zu bereuen und viel lieber in Berlin leben zu wollen. Ich schlucke einen Satz herunter, der mit “Du könntest doch” anfängt, und verbiete meinem Kopf, für alles eine Lösung finden zu wollen. Ich höre zu, verschlinge mein Essen und sammele Fischhäute für den Hund.
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Leider, sagt Universum, ist das Boot des Restaurants voll Wasser, wir können nicht rausfahren. Ich lege mich auf die Spitze des Stegs, und weil es so kalt ist, bringt Renato die dritte Flasche Wein. “Deine Augen, sie lachen auch im Dunkeln. Du siehst so glücklich aus.” Um vom Thema abzulenken, frage ich, ob er Geschwister hat. “Gehabt”, sagt er. “Eine Schwester, sechs Jahre älter als ich. Wie du.” “Jahrgang vierundsiebzig”, sage ich, als ob das eine Rolle spielen würde. “Ja, ja”, sagt er. “Vierundsiebzig.” Wir lauschen eine Weile der Partymusik, die vom anderen Ufer herüberdringt. “Die haben keinen Stil”, sagt Renato. “Das sind die Bauern.” “Warst du hier”, frage ich, “als sie kamen?” “Sicher”, sagt er. “Jajce war schon ein halbes Jahr unter Belagerung. Ich saß im Treppenhaus, und durch die Einschusslöcher in der Wand hörte ich, wie sie sich draußen vor dem Haus unterhielten. Ich hörte ihre Stiefel und was sie planten. Es war ein schlechter Moment.” Wir schweigen lange, anfangs wegen der schlechten Momente, dann aber auch, weil der Anblick des schwarzen Wassers so schön ist, mit den noch schwärzeren Bergen gleich dahinter. “Mach doch mal die Augen auf. Du bist ja müde.” Und mir ist kalt. Der Hund schnarcht leise hinter uns und zittert im Schlaf auf den Planken. Renato flüstert in mein Ohr. “Weißt du, was ich mir am meisten wünsche?” Er sagt es mir, und ich gebe ohne Zögern mein Wort. Für die schlechten Momente, seine und meine und die der ganzen Welt. Schon wieder vergesse ich, die Schuhe auszuziehen. Dann entkleide ich mich, wie versprochen, bis auf die Unterhose und lasse mich in seinem Bett auf die Seite fallen. Mit zwei kräftigen Griffen formt er meinen Körper zur Kugel, bis ich kauernd liege wie ein Embryo. Als er sich hinter mich legt, scheinen seine Beine noch meterweit über das Bett hinauszuragen, lange nachdem ich längst zu Ende bin, und mit den Armen könnte er mich gleich zweimal umwickeln. Er packt mich mit sich selber ein, als wäre er eine Bettdecke. Ich will dich festhalten, hat er sich auf dem Steg gewünscht, wie ein Baby, ein ganz kleines Baby, die ganze Nacht. Und du sollst dich wohl fühlen dabei. So sicher, als ob dir nie im Leben was passieren könnte. Ich spüre seinen Atem in meinen Haaren. “Ist das schön”, sagt er wieder und wieder, “so schön ist das.” Ich glaube, er sagt es immer weiter, während ich längst eingeschlafen bin.
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* Meine Augen sitzen wie Fremdkörper im Gesicht: Wenn ich sie schließen will, spüre ich Sand unter den Lidern, also lasse ich sie offen und starre mit ihnen durch das Küchenfenster, unfähig zu entscheiden, ob der zellstoffdichte Nebel sich wirklich da draußen befindet oder nur in meinem Kopf. Der Kaffee, den ich bräuchte, um das herauszufinden, hält sich immer noch an der Adria auf. Renato ruft quer durch die Wohnung. Ich soll mich gefälligst beeilen, unter die Dusche gehen und mich anziehen, weil er zur Arbeit muss. Sofort gehorche ich und ärgere mich nicht einmal über seinen Tonfall. Das ist einer dieser Tage, an denen ich alles tue, was man mir sagt, und die ganze Zeit aufpassen muss, dass es keiner merkt. Ich bin so erschöpft, als wäre ich gestern den Weg von Zagreb nach Jajce zu Fuß gegangen. Ohne irgendwo anzukommen. Er trägt mir den Rucksack die Treppen hinunter. Zum Abschied sage ich “Bis heute Abend”. Weil das der einzige Satz ist, den er mir beigebracht hat auf Kroatisch. Gestern liegt, wie üblich, vierundzwanzig Stunden zurück. Eine lächerlich kurze Zeitspanne, auch angesichts der beiden leergerauchten Zigarettenpäckchen, die ich gerade erst am Busbahnhof in Zagreb erstanden hatte. Dringend müsste eine zweite Zeitrechnung eingeführt werden, die sich nach jedem Einzelnen richtet, in der Art, wie beim Wetter nach tatsächlicher und empfundener Hitze oder Kälte unterschieden wird. Dann wäre ich schon seit einer empfundenen Woche auf Reisen und hätte dabei täglich zehn empfundene Zigaretten geraucht. Nachschub kaufen muss ich so oder so. Weil Renato bis zur letzten Fischgräte alles für mich bezahlt hat, ziehe ich zum ersten Mal in diesem Land einen deutschen Geldschein aus dem Portemonnaie, ohne daran zu glauben, dass ich dafür etwas bekommen werde. Es funktioniert. Die Zigaretten kosten eins fünfzig, als Wechselgeld erhalte ich ein paar viel zu bunte, taschentuchweiche Lappen Konvertible Mark. Am besten gefällt mir der froschgrüne, konvertible Fünfzig-Pfennig-Schein. Meine deutschen Banknoten können sich glücklich schätzen: Hier im Exil werden sie als einzige den Euro überleben. Das Kunststück gelingt beim nächsten Bus, als beide Fahrer ausgestiegen sind. Der Hund macht sich so flach wie es geht und kriecht freiwillig unter die Sitzbank. Ich überlege, was er sich wohl am meisten wünscht im Leben, um es ihm zu schenken, sobald wir wieder zu Hause sind. Weil ich das Gefühl nicht loswerde, dass einer der Fahrer uns gesehen hat, verrechne ich
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mich vorsichtshalber zu seinen Gunsten beim Bezahlen des Tickets. Er verzieht keine Miene. Der Fluss Vrbas begleitete mich gestern schon bis Jajce, er ist wieder da, hat die Straßenseite gewechselt und glänzt wie aus Silberplatten zusammengesetzt unter der schlierigen Sonne. Der Straßenrand ist mit kleinen hellblauen Blumen gepudert, jetzt weiß ich auch, wo die Stiefel-Groupies von gestern sich Form und Farbe abgeguckt haben. Alle fünfhundert Meter dreht sich auf einem Kiesplatz ein langgestreckter Kadaver am Spieß. Lange tippe ich auf Schweine, bis ich an einer Haltestelle aus der Nähe das haarlose, gebratene und trotzdem unverwechselbare Gesicht eines Lamms erkenne. United-Nations-Konvois können ganz schön nerven auf den engen Serpentinenstraßen. Der Laubwald tauscht sich gegen Nadelwald aus, so langsam, als sollte es niemand bemerken. Von weitem entdecke ich einen See, dessen Oberfläche merkwürdig weiß zwischen den Bäumen leuchtet. Er ist zur Hälfte von Plastikflaschen bedeckt, die dicht an dicht auf dem Wasser schwimmen. Am Horizont lungert beschäftigungslos das nächste dunkel bewaldete Gebirge. Man kann Berge atmen sehen, wenn man lange genug hinschaut, bis sie sich unbeobachtet fühlen. Sie holen nicht so oft Luft wie ein Mensch. Vielleicht einmal in der Stunde. Melonen sehe ich keine. Stromleitungen steigen hochbeinig mit großen Schritten über alles hinweg. Weil sich draußen eine Zeitlang nichts ändert, lese ich zum Zeitvertreib die Aufschrift meines Fahrscheins, Rück- und Vorderseite. Serbokroatisch und Polnisch sind sich in der Tat ähnlich; besonders ein Wort ist in allen Sprachen gleich: Mostar. Ich beschließe, mich nicht aufzuregen, weil das immer eine gute Entscheidung ist. Man muss ja nicht als erstes nach Sarajevo fahren. Außer vielleicht, um den Mietwagen abzuholen, der dort wartet. Das war kein Störgeräusch im Motor; es ist das Geschrei der Zikaden, regelmäßig an- und abschwellend, als hielten die Wände der Schlucht das Echo eines vor langer Zeit erzeugten Geräuschs zwischen sich gefangen und überlieferten es auf diese Weise, den Schrei eines Flugsauriers zum Beispiel. Der Hund und ich stehen einen Moment wie betäubt in der offenen Tür, dann springen wir aus dem Bus und rennen, während alle anderen auf das farblose Restaurant zuströmen, die Treppe hinunter zum Fluss. Die Fahrer ignorieren uns, als hätten wir Tarnkappen auf. Das ist die Schwester des Vrbas, Neretva. Auch aus der Nähe verliert sie nichts von ihrer grünen Farbe. Schwärme von Fischen suchen das Licht. Ich teste mit den Händen und mache die Arme nass, sofort ist der Wind, der hier heftig bläst, nicht mehr so wüstenmäßig heiß: Das Wasser ist kalt, als hätte es mit dem Rest der Welt und seinen Temperaturen nicht das Geringste zu tun. Also nicht baden. Der Hund macht sein Kieselsteinspiel und wird mich
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im Fall eines Wadenkrampfes mit Sicherheit nicht retten. Während ich mich umschaue, fällt mir auf, wodurch dieser bezaubernde grüne Fluss sich von anderen bezaubernden grünen Flüssen unterscheidet: Keine Ferienhäuser säumen seinen Rand, es wird nicht Boot gefahren, es gibt keine Uferpromenade und keine Angler und keine Wanderwege. Es gibt nur Felsen, Wasser, ein paar Bäume und das Geschrei der Zikaden, das sich zunehmend in meinem eigenen Kopf abzuspielen scheint und nicht im Canyon um mich herum – das schon kein Geräusch mehr ist, sondern das Wesen der Stille selbst. Immerhin haben sie mir den Rucksack in die Mitte des Kiesplatzes gestellt. Wie auf einen Präsentierteller, wie zum Hohn, obwohl ich schon froh sein sollte, dass sie nicht mit meinem Gepäck davongefahren sind. Ich beschließe sofort, ein Taxi zu nehmen, und wenn ich es aus Sarajevo kommen lassen muss, schon allein um mich zu rächen, um den Bus auf dem Weg nach Mostar zu überholen und zu winken, einen Ellenbogen im offenen Fenster, während wir alle wissen, dass das Taxi mehr kostet, als sie im ganzen Monat verdienen mit ihrer Busfahrerei. Ein zweifelhafter Racheplan. Das Taxi kommt trotzdem, und der Fahrer streichelt den Hund und lacht so nett, dass ich aufhöre, mich ausgesetzt und verstoßen zu fühlen von einer ganzen Nation. Wie es sich in einer Unterhaltung gehört, sprechen wir abwechselnd. Ohne dass ich auch nur ein Wort der Fragen verstehe, gelingen meine ersten drei Antworten mit Bravour: “Aus Deutschland”, “keine Rasse, Mischling”, und “acht Jahre”. Von da an kann ich pro Satz ein wichtiges Wort erraten und mir deshalb einbilden zu wissen, worum es in etwa geht. Langsam und deutlich erwidere ich auf Polnisch irgendetwas, das ich schon immer mal sagen wollte. Wir freuen uns und nicken und lächeln die ganze Zeit wie Bekloppte. Was es wohl zu sagen hat, wenn ein Volk seine Wäschestücke auf der Leine nach Größe und Farben sortiert, meistens ansteigend von links nach rechts, manchmal auch andersrum? Ich drehe dem Taxifahrer eine Zigarette, Wäsche und Dörfer werden weniger, schließlich taucht am Ende einer weiten, irgendwie schmutzigen und zerwühlten Ebene ein Turm der Aluminiumwerke von Mostar auf. Fast verwischt die Hitze die Gestalten der Zigeuner; sie stehen über die Fläche verteilt, Bewohner einer Stadt aus Pfählen mit UNO-Lastwagenplanen darüber, aus Containern und steinalten, braungerosteten Daimlern, die mit dem Unterboden auf der Erde sitzen. Mütter von Kindern ohne Gesicht unter den fernsehverdächtig strähnigen Haaren. Gäste der Mülltonnen. Besitzer von Ziegen mit Hautkrankheit. Spaziergänger auf
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ausgedehnten muslimischen Friedhöfen, deren schlichte kantige Steine wie lauter weiße Radiergummis im hohen Gras stecken. Und dann sind wir mitten in der Stadt. * Ich sehe alles zugleich, die ganze Stadt auf einen Blick, als hätte ich rund um den Kopf einen Kranz von Augen, jedes zweite noch dazu mit Röntgenfunktion. Der Taxifahrer bietet mir eine Stadtrundfahrt an, ohne Bezahlung. “Da, da”, sage ich, was praktischerweise auch gleich “Ja” bedeutet. Türkische Seite, Altstadt: Wenn Menschen Wasser wären, das hier müsste der Amazonas sein, und ausgerechnet mit einem alten Opel Ascona versuchen wir hindurchzupflügen. Fußgänger keilen uns ein, überholen auf beiden Seiten und strömen uns entgegen. Einkaufstüten streifen raschelnd die Seiten des Wagens, ab und zu hört man das metallische “Dong” einer nicht rechtzeitig an den Körper gepressten Handtasche. Die Menge ist in Patchwork aus den Farben von Kleidung zusammengesetzt: Bunte Muster der in Tücher gehüllten Frauen neben dem Jeansblau junger Männer, schneeweiß die muslimischen Gewänder, dazwischen das Flecktarn der Soldaten und die gedämpften, beige-wollweiß-olivgrünen Töne an schlanken Benettonmädchen. Kinder werden an länger werdenden Armen beiseite gezogen, dabei bleiben die kleinen Gesichter mir zugewandt; mich anstarrend, drehen sich ihre Köpfe wie bei Eulen bis fast auf den Rücken. Links und rechts wechseln Cafés mit Friseurläden mit Lebensmittelgeschäften, darüber leere, ausgefranste Fensteröffnungen und verbrannte Dachstühle. Orientalischer Pop und Discomusik lagern in Schichten übereinander, gesprenkelt mit Hundegebell und dem Klopfen von Hämmern. Ich bin auf Standby, ich sehe alles und nichts; die Geräusche werden zu Dröhnen und Rauschen, und die Gerüche, welche mich anfallen von allen Seiten, vermischen sich zu Gestank. Autobrücke über der Wie-heißt-sie-noch: Das erste Detail, an dem meine Hirntätigkeit Halt findet, ist der Anblick eines Mädchens, nicht viel jünger als ich, das sich im Gehen Kartoffelchips auf die weit herausgestreckte Zunge legt und in den Mund flitzen lässt. Das hat etwas nicht-menschliches, amphibienhaftes, und ich weiß jetzt schon, dass ich mich daran immer erinnern werde, deutlicher als an die Verwüstung, an fußlose Frauen und armlose Männer, Sternenhimmel aus Einschusslöchern an Häuserfronten, an die fußballtorgroßen Granatenlöcher und weggesprengten Dächer. Der Schock macht mich hellsichtig, so dass ich sogar das Kroatisch des Taxifahrers verstehe; er hat gefragt, ob ich zum ersten Mal in Mostar bin, und
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obwohl es eine rhetorische Frage war, nicke ich mit dem Kopf. Ich brauche nicht in den Spiegel sehen, um zu wissen, wie blass ich bin. Alte Frontlinie: Die Fassaden gucken wie Totenschädel, hohle Augen, grinsend aufgesperrte Mäuler, der Kugelhagel hat ihnen die Gesichter abgeschmirgelt bis runter auf die porösen Knochen. Mit eingeschalteter Warnblinkanlage wartet der Taxifahrer im Wagen und raucht drei WalterWolf-Zigaretten, während ich dastehe, allein auf dem Bürgersteig dieser abgestorbenen Straße, Auge in Auge mit den Häusern, die mich anstarren wie ich sie. Genau wie beim Anblick eines Totenschädels frage ich mich, was es eigentlich zu grinsen gibt. Vielleicht ist es unser Kinderkampf gegen die Zeit, der die Sterblichkeitssymbole so belustigt, und in Mostar wurde der Witz in der Tat besonders gelungen zu Ende erzählt, die Pointe dauert an. Sagt die Menschheit zu sich selbst: Wir wollen nicht einfach nur zwischen Dach und Wänden leben, schließlich sind wir selbst auch nicht nur Fleisch und Knochen. Schönheit und Ordnung unserer Städte sollen den menschlichen Geist spiegeln und die menschliche Seele, so wie sie sind: In Ordnung und schön. Baut sich die Menschheit über Jahrhunderte hinweg Denkmäler und Symbole, um darin zu leben, bildet ihr Mensch-Sein und Denken-Können ab in Holz und Stein. Und schon an dieser Stelle fängt es an zu kichern im Innern der Häuser, dass es zwischen leeren Wohnzimmerwänden hallt. Schlägt die Menschheit nach fünfhundert Jahren mitten hinein in ihren mühsam errichteten Spiegel, dass alles splittert und bricht. Starrt fassungslos in die Scherben und sieht Fratzen, wo Gesichter waren, sieht sich selbst, wie sie wirklich ist. Sieben Jahre Unglück. Wenn das nicht witzig ist. Ich fliehe vor dem schallenden Gelächter, zurück ins Auto. Ruinen-Sightseeing: Stolz zeigt der Fahrer die Trümmer, als hätte er sie persönlich so arrangiert, ich mache “Ah” und “Au” und “Wow” zu falltürenartig ins Wasser hängenden Brückenteilen, zu Müllkippen unter durchgebrochenen Zimmerdecken. Wie viele Stockwerke hat ein elfstöckiges Hochhaus? Antwort: Jetzt noch eins. Diese Moschee hatte mal ein Minarett, jene Kirche ist überhaupt nicht mehr da. Dieser Schrottplatz war ein altes türkisches Bad, das Geröllfeld daneben ein elegantes Hotel. Für ein paar Sekunden spule ich die Zerstörung im Kopf rückwärts wie einen Videofilm; im Zeitraffer richten Wände sich auf, springen unzählige Steine wie Flöhe zurück an ihren angestammten Platz, falten Dächer sich zusammen in ihre ursprüngliche Form, saugen Fenster die Scheiben wieder ein, und ich sehe, wie schön die Stadt gewesen ist. Vor langer Zeit hörte ich einem Mann zu, der sich aufregte über die Wendung, eine Frau sei “früher einmal sehr schön gewesen”. Er sagte, dieser Satz zeige nur, dass diese Frau noch immer schön sei. Und das solle man gefälligst auch so ausdrücken.
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Zum Frühstück kaufe ich mir eine Postkarte, finde eine, die Mostar nach dem Krieg zeigt und nicht davor. Die Hitze wartet schon an der Tür, als hätte sie wie ein Hund die ganze Nacht dort gesessen. Gestern habe ich ihr nicht genug Beachtung geschenkt, sie beißt nach mir mit spitzen Zähnen, und das so früh am Tage. Ich lasse mich durch die bürgersteiglosen Gassen treiben und warte darauf, zufällig am Bahnhof vorbeizukommen. Mit Rucksack bin ich unbeweglich, sperrig, zu groß und schwer für jede Bewegung, auf meinem Rücken staut sich der Schweiß. An der Stelle, wo der Hund gestern gebadet hat, setze ich mich auf den Betonsockel und lege mir die Postkarte aufs Knie. Schließlich schreibe ich: “Bin in Mostar. Anders als sonst wo ist es hier auch nicht.” Ich brauche lange für diesen Satz, ziehe beim Nachdenken die Zigaretten gleich mit den Zähnen aus der Packung. In das Feld für die Adresse schreibe ich “Deutschland” und lasse es ansonsten frei. Der Hund beobachtet das Leben unter Wasser, reglos und konzentriert sitzt er wie vor einem Fernsehgerät, starrt auf wirbelnde Babyfische und eine Wasserschlange, die sich, lang wie ein Bein und dünn wie ein Finger, ohne anzustoßen am Grund zwischen Steinen hindurchwindet. Weil Briefkasten und Mülleimer gleich nebeneinander an die Wand geschraubt sind, überlege ich einen Moment, in welchen der beiden Blechkästen die Postkarte zu werfen sei. Die Wand gehört zum Bahnhof, der aussieht wie ein Flugzeugträger in klein, nur ohne Flugzeuge und ohne Wasser. Der Zug rollt ein um neunzehn Uhr dreißig, ich kann’s kaum glauben und steige trotzdem ein. Ob das jetzt wirklich Mostar war? * Die leere Plastiktüte am Boden ist rötlich und feucht, als habe sich etwas frisch Blutiges darin befunden. Meine Finger sind klebrig bis hoch zu den Handrücken, und sie riechen nach Erdbeeren. Abendessen. Drei Mal geht Thomas aus Sarajevo an der Tür vorbei, bevor er das Abteil betritt, seinen Schritten habe ich schon beim ersten Mal angehört, dass er reinkommen wird. Er fragt auf Kroatisch, ob ein Platz frei ist. Sieben Plätze sind frei, und noch mal siebenhundert im Rest des Zuges. Ich lasse ihn über meine ausgestreckten Beine steigen und räume die Tasche nicht zur Seite. Er lässt sich am Fenster nieder, dort, wo noch die feuchte Zeitungsseite liegt, von der eine Frau Fischstücke gegessen hat, bevor sie ausstieg in einem kleinen, von der Nacht eingekesselten Dorf. Er fragt mich, woher ich komme, und schon spricht er deutsch. Berlin, wie Renato. Nennt seinen Namen: Thomas. Das also, denke ich, ist Thomas aus Sarajevo. Als wäre er mir angekündigt worden.
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“Was Sie machen hier?” “Willst du das wirklich wissen?” frage ich. Er nickt und schraubt eine Plastikflasche auf, die mit irgendetwas Alkoholischem aufgefüllt ist, das ursprünglich nicht hineingehörte. “Ich halte es in Deutschland nicht aus”, sage ich. An seinem Blick sehe ich, dass er das Wort “aushalten” nicht verstanden hat. “Ich wollte nicht in Deutschland sein.” Er bietet mir die Flasche an, ich lehne ab. “Warum? Hier will jeder in Deutschland sein.” Jetzt habe ich das Gefühl, mich schämen zu müssen, und versuche, etwas Ehrliches zu sagen. “In Deutschland schaue ich mir die Leute auf der Straße an und wundere mich ständig, was zum Teufel sie alle von morgens bis abends machen. Wovon sie leben. Womit sie ihre Zeit verbringen. Ich fühle mich dafür verantwortlich, ihnen allen eine Existenz zu erfinden, sie in einem Supermarkt hinter die Kasse zu setzen oder ans Steuer eines Lastwagens, ihnen ein Telephon ans Ohr zu pressen oder dafür zu sorgen, dass sie Rohre miteinander verbinden, Bücher aus einem Regal nehmen und zurückstellen. Aber ich sehe nicht genügend Supermärkte, Lastwagen und Buchhandlungen. Das macht mich krank. Nicht einmal mein eigenes Leben habe ich bisher erfunden. Deshalb muss ich das Land verlassen, von Zeit zu Zeit. Kapierst du?” Diese Erklärung für mein Hier-Sein ist mir selber neu. Thomas aus Sarajevo sieht aus, als hätte er kein Wort verstanden. Aber Irrtum. “Es klingt”, sagt er, “Sie sprechen über dieses Land. Über Bosnien. Nicht über Deutschland.” Wir stellen keine Fragen mehr. Er schaut mich an, unverhohlen, ohne Vorwand, erst von vorne, dann, nachdem er sich neben mich gesetzt hat, von der Seite, und alle zehn Minuten sagt er etwas Belangloses, gerade so, als führten wir ein entspanntes Gespräch und säßen nicht in einem See aus Schweigen. Er kann nicht älter sein als zweiundzwanzig. Vielleicht kennt er Renato aus seiner Zeit in Berlin. Ich werde auch über ihn nichts erfahren, genauso wenig wie über Renato, über den Taxifahrer oder die Frauen im Hotel. Meinem Blick weicht er nicht aus. Weil es keinen Grund gibt, ihn anzusehen, starre ich vor mich hin und spüre, wie mein Gesichtsausdruck dabei etwas übertrieben Nachdenkliches annimmt. Als ich mich der Länge nach ausstrecke, wechselt er die Sitzbank, ich lege den Kopf in die Arme und gebe meinen Atemzügen Regelmäßigkeit. Nach ein paar Minuten spüre ich seine Finger auf meiner über die Kante des Polsters hängenden Hand, ganz leicht, nur ein Kitzeln, als klebte dort ein
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einzelnes Haar. Ich reagiere nicht. Dann berührt er mein Knie, das angewinkelt vorsteht, ebenfalls über die Kante des Polsters hinaus, er verstärkt den Druck, bis ich mein Bein zucken lasse und mit den Augenlidern flattere. Dabei sehe ich im Dunkeln sein Gesicht, eine verschwommene weiße Scheibe, nur wenige Zentimeter vor meinen Augen, und rieche seinen Atem, der süßsauer ist von dem Zeug aus der Plastikflasche. Er schaut mich an, so dicht, dass unsere Nasen sich fast berühren. Bald kann ich nicht mehr unterscheiden, ob ich schlafe oder nicht. Ich träume, dass alle Gegenstände, die mir zufällig aus der Hand rutschen, spurlos verschwinden, sobald sie den Boden berühren. Etwas später verschwinden auch Dinge, die ich absetze, auf dem Boden oder einem Tisch, und schließlich verschwinden Menschen, denen ich zum Abschied die Hand gegeben habe. Ich denke gerade angestrengt darüber nach, wo das Verlorene wiederzufinden sei, als ich an der Schulter gerüttelt werde. Der Zug steht, draußen wird die Elektrolok gegen eine Dieselmaschine getauscht, und Thomas aus Sarajevo sagt, dass er jetzt aussteigt, weil er keinen Fahrschein hat und der Kontrolleur bald kommt, dass er auf diese Art durch ganz Kroatien und Bosnien gereist ist und Autobusse meidet, weil man sich dort schlecht verstecken kann. Offensichtlich fährt hier nur Bahn, wer etwas zu verbergen hat. Er hat nichts dabei außer den Kleidern, die er am Leib trägt. “Freunde besuchen”, sagt er, nach dem Zweck seiner Reise befragt, und ich versuche mir auszumalen, wie er an irgendeinem Morgen vor ein paar Wochen aufgebrochen ist, ohne jede Vorbereitung, aus der Haustür getreten, als wollte er nur in die Stadt, dann aber die Schritte zum Bahnhof lenkte und wegfuhr. Vielleicht auf einer Strecke, die er als Kind mit seinen Eltern ständig gefahren ist, so wie man von Bayern nach Baden-Württemberg fährt, und die heute von einer echten Landesgrenze unterbrochen wird. Jetzt kommt er zurück, wie er gegangen ist, und ich weiß nicht, ob er es Urlaub nennen würde, weil man für Urlaub etwas braucht, wovon man sich frei nehmen kann. Erst recht weiß ich nicht, wie sich das anfühlt. Falls es sich irgendwie anfühlt. Endlich setzt der Zug sich wieder in Bewegung, ich hänge im offenen Fenster, und Thomas ist plötzlich doch wieder neben mir. Wie Kinder vergraben wir das Kinn in den Armen, schlitzen die Augen, aus denen der Fahrtwind trotz geringer Geschwindigkeit seitlich die Tränen bis zum Haaransatz treibt, und draußen liegt Bodennebel in tümpelgroßen Tälern, die aussehen wie mit Milch gefüllt unter dem fast noch vollen Mond. Vor der nächsten Biegung lässt der Zug seine tiefe Stimme ertönen und wir lachen; der Zug legt sich mit Schwung in die Kurve, dass das elegante Band aus Lichtern sichtbar wird, von denen wir eines sind. Thomas aus Sarajevo kennt die ersten beiden Zeilen der Loreley auswendig und sagt sie auf, ansonsten wird
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sein Deutsch von Minute zu Minute schlechter. Er freut sich an meiner Freude, während ich mich für kahle Felsen begeistere mit ein bisschen borstigem Gestrüpp darauf, weil es wie dunkle Beinbehaarung aussieht auf weißer Haut. Mit langem Arm zeigt er auf die Überreste eines zerstörten Dorfs, dem anzusehen ist, dass man es erst beschossen und dann jedes einzelne Haus von Hand gesprengt hat. “Es wird wieder Krieg geben”, sagt er fröhlich. “Bald. Wenn es losgeht, werden Sie an mich denken. Weil ich das heute Nacht gesagt habe.” Ich bestätige das, ab jetzt werde ich gar nicht anders können, als im Kriegsfall an ihn zu denken. Er freut sich noch mehr. Im nächsten Dorf sind die erst beschossenen und dann von Hand gesprengten Häuser mit Benzin übergossen und abgebrannt worden.1
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Anmerkung des Herausgebers: Der Text bietet die erste Fassung des inzwischen veröffentlichten Buches von Juli Zeh Die Stille ist ein Geräusch. Eine Fahrt durch Bosnien. Frankfurt/M. 2002. Die Autorin trug diese Variante erstmals öffentlich vor anlässlich einer Tagung des Internationalen Arbeitskreises Literatur und Politik in Deutschland mit dem Titel Krieg in den Medien und die Neue Weltordnung vom 30. November bis 2. Dezember 2001 in Bonn-Bad Godesberg (Lesung: 1. Dezember, 20 Uhr), im Hause der Karl-Arnold-Akademie. Der Herausgeber dankt dem Verlag Schöffling & Co. in Frankfurt/M. sowie der Autorin Juli Zeh selbst für die freundliche Überlassung der Abdrucksrechte. Der wiedergegebene Text entspricht den Seiten 20 bis 58 der Buchausgabe, nach zum Teil umfangreichen Ergänzungen und Veränderungen, stilistischen Korrekturen sowie einigen Streichungen. Renato heißt in der Buchfassung durchgängig Dario.
II INTER- UND TRANSMEDIALE WANDLUNGEN
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Manuel Köppen
Von Tolstoi bis Griffith Krieg im Wandel der Mediendispositive The essay deals with the crisis of perception and representation in the second half of the 19 th century. The status of the observing subject was changed not only by the processes of industrialization, urbanization and the growth of traffic. The battlefields of modern warfare defined vision and visibility in a new way. Writing and painting war under the conditions of vast battlefields and new techniques of representation such as photography meant a new challenge for authors and artists. The point of view became the focus of efforts to set the representational scheme in motion – both in literature and visual arts – and led to specific contradictions within the respective media. Cinema did not only solve those problems insofar as disjunction and continuity fused to a new mode of representation, but promised to represent war and history as it really was.
I. Die Krise der Repräsentation Sicher wurde sie von den wenigsten Zeitgenossen als solche wahrgenommen, aber es gab sie: die Krise der Repräsentation in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, eine Krise, die Walter Benjamin “als integrierende[n] Teil einer Krise in der Wahrnehmung selbst” zu beschreiben versuchte.1 Sie ist nicht nur an der Malerei der frühen Moderne abzulesen, den Versuchen, den Bildraum ebenso wie den wahrgenommenen Augenblick neu zu formulieren. Die Krise der Wahrnehmung lässt sich ebenso gut, wie Jonathan Crary aufgezeigt hat, an optischen Experimenten, wahrnehmungsphysiologischen Forschungen und philosophischen Diskursen belegen.2 Zum Ende des 19. Jahrhunderts, soviel scheint gewiss, wurde die Frage nach dem Status des Beobachters unter den Bedingungen einer gewandelten visuellen und auditiven Kultur zu einem zentralen Anliegen unterschiedlichster Forschungsund Denkansätze wie ästhetischer Strategien. Industrialisierung, Großstadt, Mobilisierung durch Schiene und Dampfschiff, aber ebenso die neuen Medien von der Fotografie über die Massenpresse bis zur Telegraphie hatten die alltäglichen Wahrnehmungsbedingun-
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Walter Benjamin: Über einige Motive bei Baudelaire. In ders.: Charles Baudelaire: ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus. Frankfurt/M. 1990. S. 101-150, hier S. 141. 2 Jonathan Crary: Suspensions of Perception: Attention, Spectacle, and Modern Culture. Massachusetts 1999.
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gen verändert. Doch gerade dort, wo die industrialisierte Moderne für die unmittelbar Beteiligten am gewalttätigsten spürbar wurde, in den Kriegen jener Epoche von den Kämpfen auf der Krim-Halbinsel bis zu denen vor Paris im Jahre 1871 schien die Welt der Repräsentation noch in Ordnung. Das klassische Schlachtgemälde mit dem Feldherrn im Bildzentrum erlebte gerade in Deutschland nach dem Sieg über Frankreich seinen Höhepunkt. Und die zweite große Epoche der Schlachtpanoramen begann in Deutschland wie in Frankreich in den siebziger Jahren. Von der patriotischen Kriegsliteratur in Deutschland, die nicht müde wurde, die Siege bei Königgrätz, St. Privat oder Sedan zu feiern und vor allem immer wieder darzustellen, ganz zu schweigen. Die Standpunkte, von denen aus ein Schlachtgeschehen darzustellen war, schienen gewiss. Seismographisch nur lassen sich im Bereich der literarischen wie malerischen Kriegsrepräsentationen jene Erosionen eines über das Geschehen verfügenden Blicks nachweisen, die das Movens der ästhetischen Moderne wie der wahrnehmungstheoretischen Überlegungen der Zeit bildeten. Dabei hatten sich die Wahrnehmungsbedingungen der Schlacht im Laufe des 19. Jahrhunderts dramatisch gewandelt. Schon ein Schlachtfeld wie das von Waterloo war nicht mehr von den Augen des Feldherrn zu überblicken. Und der einfache Soldat hat außer Pulverdampf, dem Nacken seines Vordermanns und dem Pfeifen der Geschosse kaum mehr von der Schlacht wahrnehmen können.3 – Die Waterloo-Episode in Stendhals Kartause von Parma reagiert auf solche Wahrnehmungsbedingungen. Fabrizio bekommt alles Mögliche zu sehen, nur das Erwartete nicht: die Schlacht als glänzendes Schauspiel. – Doch die Schlachtfelder hatten seit Mitte des 19. Jahrhunderts noch ganz andere Ausmaße angenommen. Und selbst das Schlachtpanorama konnte nur einen Aspekt, einen Augenblick des Kampfgeschehens darstellen. Die Fachkundigen, die Stabsoffiziere und Kriegsberichterstatter, mochten sich zwar weiterhin auf Feldherrnhügel oder wie William Russel bei Königgrätz auf einen Kirchturm begeben: Was sie sehen konnten, war bestenfalls ein ornamentales Muster. Und die taktischen Maßnahmen in der Schlacht beruhten nicht auf dem, was die Oberkommandierenden sahen. Sie beruhten auf Vorstellungen von dem, was sich vollzog. Charles Baudelaires Diktum aus dem Jahre 1859: “Eine wahre Schlacht ist kein Gemälde” (“Une bataille vraie n’est pas un tableau”),4 gegen die additive Reihung von melodramatischen Ereignissen auf den Gemälden 3 Vgl. dazu das nach wie vor instruktive Waterloo-Kapitel in John Keegan: Die Schlacht. Düsseldorf, Wien 1981. S. 135-240. 4 Charles Baudelaire: Der Salon 1859. In ders.: Sämtliche Werke/Briefe. Hg. von Friedhelm Kemp und Claude Pichois. Bd. 5. München, Wien 1989. S. 127-212, hier S. 166.
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Horace Vernets formuliert, zielte auf diese Krise der Repräsentation angesichts der Größe der Schlachtfelder. Im Medium des Tafelbildes sei es unmöglich, die Komplexität einer Schlacht mit ihren “taktischen und topographischen” Verhältnissen auch nur entfernt wiederzugeben, es sei denn, der Maler beschränke sich auf “weiße, blaue oder schwarze Linien, welche die im Einsatz befindlichen Bataillone bezeichnen”. Bekanntlich favorisierte Baudelaire als Lösung eines solchen Darstellungsproblems die einfache Episode, die Skizze, das Flüchtige, dem er ausgerechnet in den Zeichnungen des Kriegsberichterstatters Constantin Guys begegnete. Die blauen und schwarzen Linien jedoch, die raumgreifend die Kartendarstellungen der Gefechte und Schlachten in der boomenden Kriegsliteratur wie in der Presse dynamisierten, wurden zum eigentlichen Kriterium, die Schönheit einer Schlacht zu beurteilen. Schon die Eleganz, mit der Helmuth von Moltke die preußischen Truppen zum Schlachtfeld von Königgrätz dirigiert hatte, wurde in der internationalen Presse bewundert. Aber erst Sedan: Für Theodor Fontane eben deshalb die “herrlichste Schlacht, die in neuerer Zeit geschlagen worden ist”, weil sich “selbst das Auge eines Laien […] an der Sicherheit der Bewegungen, an dem poetischen Schwunge der Linien” entzücken kann.5 Es gab ein Problem der Narration in Literatur wie Malerei: Wie konnte die Dynamik der Kartenskizze, wie das bestenfalls ornamentale Muster der Schlachtansicht in eine Erzählung überführt werden. Fontane, von dem Anblick der Schlacht in actu nicht sonderlich angetan,6 war bei seinen Besichtigungen vormaliger Schlachtfelder auf der Suche nach dem Poetischen, der kleinen Erzählung, der Kriegsanekdote. Nicht die großen Schlachtfelder reizten ihn, sondern etwa das Ensemble mit Kirchhof und Brücke bei Kissingen, wo sich die “einzelnen Situationen zu den malerischsten Schlachtenbildern” abrunden und die ganze Aktion “ein gewisses poetisches Kleid” erhält.7 Der Weg in die Anekdote, um die Schlacht vorstellbar und erzählbar zu machen, war der Königsweg. In den mittlerweile äußerst erfolgreichen illustrierten Familienblättern wurde der Krieg stets im Ausschnitt erfasst als rührendes, dramatisches, aber immer individuell bleibendes Geschehen. Eine szenisch-bildhafte Vergegenwärtigung dominierte. In der französi5
Theodor Fontane: Aus den Tagen der Okkupation. In ders.: Wanderungen durch Frankreich. Erlebtes 1870–71. Berlin 1970. S. 400. 6 “Für den Philantrophen traurig, für den Maler entzückend”, kommentiert Fontane die Ansicht eines Gefechtes zwischen Versailler Truppen und den Föderalen der Pariser Kommune, beobachtet von einer Aussichtsplattform mit Fernrohr. Fontane: Aus den Tagen der Okkupation (Anm. 5). S. 279. 7 Theodor Fontane: Der deutsche Krieg von 1866. 2 Bde., Bd. 1: Der Feldzug in West- und Mitteldeutschland. Berlin 1871. S. 153f.
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schen Malerei führte diese Tendenz zur kleinen, exemplarischen Erzählung immerhin zu einigen ästhetischen Innovationen. Das große Schlachtgemälde wurde durch kleinformatige Genre-Bilder ersetzt, die sich auf ein konfliktreiches Bildgefüge konzentrierten. Es ging darum, ein Bildgedächtnis aufzubauen, das in den kleinen Siegen die große Niederlage akzeptierbar machte. Resultat solcher Bemühungen war eine immer differenziertere Bewegungssemantik, die das traditionelle Schlachtgewoge ersetzte. Für die Kriegsrepräsentation ergab sich jedoch noch ein anderes Problem als die Größe der Schlachtfelder und die nur noch graphisch zu veranschaulichende Dynamik militärischer Massenbewegungen. Es war die Dominanz der Artillerie, die zum kriegsentscheidenden Faktor wurde und seit dem Krimkrieg das Wahrnehmungserlebnis der Schlacht entscheidend verändert hatte. Als erhabenes Schauspiel aus der Ferne zu betrachten, in der Nähe zum Geschehen aber nur noch ohrenbetäubendes Hörerlebnis, stellte die Maschinenschlacht ein darstellerisches Problem: Der vieldiskutierte ‘fruchtbare Augenblick’, der eine sinnfällige Moment der Schlacht, auf dem das kleinformatige Kriegsgenre wie das Schlachtenpanorama basierte, war angesichts der artilleristischen Dominanz eigentlich obsolet geworden. Friedrich Theodor Vischer hatte in seiner Ästhetik des Schönen für solche Phänomene zwar die Kategorie des “Kraft-Erhabenen” bereitgehalten, und Fontane sprach vom “Grausig-Poetischen”: Aber wie waren solche Wahrnehmungen noch darstellbar: in Literatur und Malerei? Ernst Jünger wird nach dem Ersten Weltkrieg die Metapher der “Stahlgewitter” prägen und gegen das Technisch-Erhabene das gefrorene Einzelbild, die Ästhetik des Plötzlichen, antreten lassen. Und die Maler werden sich zunehmend auf abstrahierende Bildformeln verlassen, um für das Wahrnehmungserlebnis der Maschinenschlacht ein Darstellungsäquivalent zu finden. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren solche Lösungen noch fern. Zudem existierte ein neues Darstellungsparadigma: die Fotografie. Im Falle der Schlacht gab sie zwar nicht das zu sehen, was Gegenstand der Augenzeugenberichte von Kriegsberichterstattern war: die Geschehensfülle militärischer Aktionen. Tatsächlich vermitteln die wenigen Kampfaufnahmen, die es aus dieser Zeit gibt, eher den Eindruck der Abwesenheit des Geschehens. Aber eben dadurch erzeugte die Fotografie Differenz: sowohl zu den Wahrnehmungskonventionen wie zu den Schemata, in denen Wahrnehmung bildlich und literarisch interpretiert wurde. Die demonstrative Leere auf einigen Bildern Roger Fentons (von dem Gefecht bei Baklava zeugt nur eine Landschaft mit Kanonenkugeln), aber auch die Leichenhaufen Alexander Gardners aus dem Sezessionskrieg machten die Ereignisse in einer neuen Weise sichtbar. Der gefrorene Moment der Fotografie geriet in Opposition zur literarischen oder malerischen Schlachterzählung, indem der
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vergangene Augenblick weder die Schlacht noch heroisches Sterben zu vergegenwärtigen vermochte.8 Ich werde Folgen und Chancen einer solchen Krise der Repräsentation an einigen literarischen und malerischen Beispielen aufzeigen, nicht zuletzt um noch einmal die Leistungen der Kinematographie als des neuen medientechnischen Darstellungsparadigmas am Anfang des 20. Jahrhunderts zu diskutieren. Der Distinktionsgewinn besteht, so hoffe ich, in dem Nachweis, dass das Kino weniger Defizite früherer Repräsentationsformen behob, sondern mit seinen mimetischen Qualitäten und aufgrund seiner dispositiven Struktur den zunehmend unsicher gewordenen Standort des Beobachters imaginär restaurierte – und dies gerade im Bereich des Kriegsgenres. Zwei meiner Beispiele aus der Literatur und der Malerei des 19. Jahrhunderts, Leo N. Tolstois Darstellung der Schlacht von Borodino in Krieg und Frieden und Ernest Meissoniers Gemälde Die Schlacht bei Friedland, haben beide auf den ersten Blick mit den zeitgenössischen Schlachtereignissen nur wenig zu tun. Sie handeln von den Napoleonischen Kriegen. II. Perspektivierungen der Schlacht In Krieg und Frieden bildet Borodino, die große Schlacht vor den Toren Moskaus und aus russischer Sicht das historische Pendant zu Waterloo, den Höhepunkt der Schlachtdarstellungen. Alle Kampfhandlungen in Krieg und Frieden kennzeichnet ein mehrfiguriges Narrationsverfahren mit wechselnden Perspektiven, über die der Erzähler gleich einem Regisseur verfügt. Und alle Schlachtdarstellungen werden durch einen Überblick über das Terrain eingeführt, meist aus der Perspektive eines der Protagonisten. Anlässlich von Borodino lässt sich Tolstoi jedoch etwas Besonderes einfallen. Dargestellt werden nicht nur die konzentrischen Blickpunkte der Feldherren: Napoleon, der nichts sehen kann, weil die Sonne ihn blendet, und Kutusov, der nichts sehen will, weil sich die Schlacht ohnehin nach eigenen (mechanischen) Gesetzen entwickelt. Dargestellt wird im Zentrum des Geschehens eine literarische Figur, die den Krieg bisher nur vom Hörensagen kannte. Pierre Besuchov ist ein ziviler Schlachtenbummler, den es zu dem erwarteten Kampf vor die Tore Moskaus treibt. Und was er zu Beginn der Schlacht von einer Anhöhe sehen darf, übertrifft alles, was seinen literarischen Vorgängern in diesem Roman beschieden war. Er sieht ein überwältigend schönes militärisches Panorama, über mehrere Seiten be8
Zu diesem Aspekt ausführlicher Manuel Köppen: Fotografie und Erzählung. Kriegsschauplätze in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Kulturwissenschaften. Cultural Studies. Beiträge zur Erprobung eines umstrittenen literaturwissenschaftlichen Paradigmas. Hg. von Peter U. Hohendahl und Rüdiger Steinlein. Berlin 2001. S. 161-183.
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schrieben: eine Rundumsicht, deren Grenze allein durch den geschlossenen Kreis des Horizonts definiert wird. Deutlich orientiert sich Tolstoi an dem zu seiner Zeit massenmedial effektvollsten Modell der Schlachtrepräsentation: der Sicht von einer erhabenen Plattform.9 Allerdings gelingt Tolstoi im Medium literarischer Darstellung, wovon die auf eine perfekte Illusion zielenden Panoramamaler nur träumen konnten: Tolstois Panorama-Ansicht gerät sukzessive in Bewegung. Wie in Betrachtung eines Dioramas ist zunächst das Spiel von Nebeln, Wolken und Sonne zu beobachten, bis der visuelle Wahrnehmungsraum durch die ersten Schüsse akustisch erweitert wird. Die mobilisierte Ansicht, das animierte Panorama, mit dem Tolstoi seine Schlachtdarstellung von Borodino einleitet, wird aus dem unbeteiligten Beobachter einen Mitagierenden machen. Pierre Besuchovs Erlebnisse bei Borodino lesen sich wie das Wahrnehmungsprotokoll eines durch das Geschehen überwältigten Zuschauers, der sich der Realitätssuggestion plötzlich nicht mehr zu entziehen vermag und vom Schlachtgetümmel im wahrsten Sinne des Wortes überwältigt wird. Bekanntlich zählt das Panorama zur Vorgeschichte des Kinos. Es trainierte die Bereitschaft des Zuschauers, sich einer kontinuierlichen optischen Illusion hinzugeben. Schreibweisen, die für einen heutigen Leser “vorfilmisch” wirken mögen, lassen sich bei Tolstoi allenthalben nachweisen. Sie beruhen darauf, dass der panoramatische, das Gesamtgeschehen fassende Blick in eine Folge von Blickpunkten zerlegt wird: ein Verfahren des Heranspringens an das Geschehen in wechselnden Einstellungsgrößen bis zu einem Blick, der nur noch Fragmente, Ausschnitte wahrnehmen kann. Aus der Fixierung der Beobachterposition erwächst der Eindruck einer Dynamisierung des Geschehens. Nicht der erzählerische Fluss, sondern der angehaltene Moment erzeugt den Effekt einer Dynamisierung. Entwickelt hat Tolstoi diese Darstellungstechniken während des Krimkrieges: ein, wie Tagebuchaufzeichnungen belegen, für Tolstoi faszinierendes und schriftstellerisch höchst produktives Wahrnehmungsereignis.10 Als Artillerieoffizier erlebte Tolstoi in vorderster Front den fast einjährigen
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Vgl. Leo N. Tolstoi: Krieg und Frieden. Übers. von Werner Bergengruen. Bd. 2. München 1990. S. 1049-1051. 10 “Noch immer auf der 4. Bastion, die mir allmählich sehr gefällt, ich schreibe ziemlich viel. Heute konnte ich Sewastopol bei Tage und bei Nacht abschließen und ein wenig an Jugendzeit schreiben. Der ständige Reiz der Gefahr und das Zusammenleben mit den Soldaten, der Kontakt mit den Seeleuten und überhaupt der Kriegsalltag gefallen mir so sehr, dass ich gar nicht von hier fort will, um so mehr, als ich dabei sein möchte, falls es zu einem Sturmangriff kommt.” Lew Tolstoi: Tagebücher. Bd. 1. 1847-1884. Aus dem Russischen übersetzt von Günter Dalitz. Berlin 1978. S. 187.
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Grabenkampf um Sewastopol, der einiges von den Bedingungen des Ersten Weltkriegs erahnen ließ. In den drei in dieser Zeit entstandenen Sewastopol-Erzählungen11 entwirft Tolstoi nicht nur die Technik der Schlachtdarstellung in wechselnden Blickpunkten und Figurenperspektiven, er experimentiert auch mit den denkbar konträrsten Blickwinkeln des Kampfgeschehens. Aus der Ferne betrachtet, ist die Schlacht, zumal in der Nacht, ein berauschend schönes Schauspiel. Im Graben, der Sicht beraubt, zählen nurmehr die auditiven Warnsignale. Unter den Bedingungen der “Zone”, des Niemandslands von Sewastopol, versagt der distanzschaffende Blick: Partialwahrnehmungen treten an seine Stelle. Das eine, möglicherweise nebensächliche Bild ist es, das sich in das Bewusstsein gräbt und Teil des literarischen Imaginationsprogramms wird. Aus der Nähe erlebt, wird der Krieg zu einer inneren Sensation: zum “Kampf als inneres Erlebnis”, wie später Jünger programmatisch formulieren wird. Zu den literarischen Innovationen der zweiten SewastopolErzählung gehört der Versuch, in einer ungewöhnlichen Dehnung der Erzählzeit, die eine Verlangsamung wie Intensivierung der Wahrnehmung des Protagonisten indiziert, die letzten Sekunden im Leben eines Offiziers zu schildern: von der Wahrnehmung der niedergehenden Granate, ihrem leuchtenden und sich drehenden Zünder in unmittelbarer Nähe, den Gefühlen, Gedanken, Hoffnungen und Erinnerungen des Todgeweihten, bis zur Explosion des Geschosses als vor seinen Augen zuckender Blitz und den letzten, den Tod nicht begreifenden Assoziationsketten des Sterbenden. Ähnliche Todeserfahrungen wird Fürst Andrej in Krieg und Frieden machen (die berühmte Austerlitz-Episode) und damit die Kette literarischer Introspektionen der letzten Lebenssekunden weiterführen, die bis zu Ambrose Bierce’ An Occurrence at Owl Creek Bridge oder Stephan Hermlins Der Leutnant Yorck von Wartenburg reicht, die den Moment vor dem sicher zu erwartenden Tod zu eigenständigen Erzählungen dehnen. Wenn Tolstois Technik der Schlachtdarstellung von Zeitgenossen als Innovation gefeiert wurde, oder genauer: als Darstellung des Krieges, wie er ‘wirklich’ ist, so Tolstois eigener, an Stendhal geschulter Anspruch, dann verdankten sich solche Reaktionen einem Verfahren, das auf die denkbar konträrsten Wahrnehmungspositionen setzte: dem Blick aus der Ferne und der Vergegenwärtigung einer Nähe, in der der Blick als kontrollierende Instanz versagt. Die Bindeglieder, die Zwischenstufen der Nähe-Distanz-
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Leo N. Tolstoj: Sewastopol im Mai 1854. Sewastopol im Dezember 1854. Sewastopol im August 1855. In ders.: Sämtliche Erzählungen. Bd. 1. Hg. von Gisela Drohla. Frankfurt/M. 1961.
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Relationen, werden in den Sewastopol-Erzählungen12 zuweilen noch ergänzt durch den Erzählerkommentar, der eingreift, um zu sagen, wie Krieg ‘wirklich’ erfahren wird: als Kette chaotischer Sensationen, innerhalb derer das Subjekt nur noch zu reagieren vermag. In Krieg und Frieden ist die Form einer literarischen Geschehensvergegenwärtigung, in der die Beobachterposition in einem fließenden Übergang jeweils genau einkalkuliert wird, bereits von Anfang an entwickelt. Und es gibt hier als Ort existentieller Erfahrung das Konzept der Zone: ein nicht eindeutig zu definierender Raum, der zwischen den feindlichen Truppen liegt und die Möglichkeit einer intensivierten Eigenerfahrung birgt. Die Nähe der Zone sorgt für ein gesteigertes Lebensgefühl: für Munterkeit, Kampflust, Aufregung. In der Zone zählen nurmehr unmittelbare Empfindungen des Schreckens, den es zu bändigen gilt, und Wahrnehmungsfragmente, die sich aus jedem sinnvollen Zusammenhang gelöst haben. Die Zone ist der Ort, an dem sich die Wahrnehmung der Protagonisten verlangsamt, um der Dynamik Herr zu werden. Die literarischen Verfahren einer Dynamisierung des Geschehens durch Verlangsamung der Wahrnehmung bzw. durch die Fixierung der Beobachterposition werden in anderen Kriegsromanen des 19. Jahrhunderts jeweils in deutlichem Bezug zu Tolstoi aufgegriffen. In Émile Zolas Bestseller La Débâcle, dem Sedan-Roman aus dem Rougon-Marquart-Zyklus, findet sich das Kriegstheater als ein Panorama inszeniert, das von Sichtachsen durchschnitten wird, die den Wahrnehmungsraum gliedern und gleichsam reflexiv aufeinander bezogen werden. Vom Rand des “großen Kuchens” Sedan, um ein Bild Fontanes zu benutzen, mit dem er die topographischen Verhältnisse und die Gefechtslage anschaulich machte, blickt der preußische König zu einem der Brennpunkte des Geschehens. Und von eben dort, aus einem Küchenfenster, beobachtet einer der französischen Protagonisten den feindlichen König. Der Handlungsraum wird vorstellbar gemacht, indem einzelne Beobachtungspunkte lokalisiert werden. Die Blicke, vom Rand in die Mitte des Geschehens oder umgekehrt vom Zentrum auf die Peripherie, definieren Vektoren, die auf die ausweglose Lage der eingeschlossenen Armee bei Sedan verweisen, als befinde sie sich auf einem Präsentierteller oder genauer: auf der Plattform eines Panoramas, auf der die Zuschauer zu Opfern geworden sind. Die “panoramatische Apperzeption” (Virilio), das Prinzip der Allsichtigkeit in der Sprengung der Rahmenschau und das Eintauchen in einen totalisierten Bildraum, werden bei Zola zum Gestaltungsprogramm der Schlacht. Konnte sich der Betrachter im Illusionsraum des Panoramas um 360 Grad drehen, um beliebig Brennpunkte des Geschehens zu fokussieren, so wird er 12
Vor allem in: Sewastopol im Mai 1854.
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bei Zola von einem Ort zum anderen geworfen und in die literarische Phantasmagorie der Schlacht hineingezogen. Legte das Panorama Schnitte in die Zeit, um im angehaltenen Augenblick gleichwohl Bewegung simulieren zu wollen, so definiert der literarische Text den Raum, um die Geschehensvergegenwärtigung zu dynamisieren. Zola schreibt Tolstoi fort, indem er die zeitlich-räumliche Organisation des Schlachtgeschehens präzisiert. Hatte Tolstoi die Schlacht von Borodino noch geschildert, als befinde sich der Beobachter in einem animierten Panorama, so wird bei Zola das Bemühen deutlich, eine literarische Form zu finden, welche die erstarrte Bewegung des Panoramas auflöst. Die andere Seite dessen, was von Tolstoi zu lernen war, die Introspektion der Figuren und das Wahrnehmungschaos, findet am Ende des 19. Jahrhunderts seine ‘modernste’ Formulierung bei Stephen Crane. Crane, 1871, sechs Jahre nach dem Ende der konföderierten Südstaaten geboren, machte sich daran, das Trauma des Bürgerkriegs zu bearbeiten: in einer Kriegsdarstellung, die sich endgültig davon verabschiedete, die eine große historische Schlacht rekonstruieren zu wollen oder überhaupt einen realistischen geschichtlichen Verweisungszusammenhang zu erstellen. Sein Held Henry Fleming in dem Kurzroman The Red Badge of Courage (1895) erlebt den Krieg nurmehr als chaotische Folge von Wahrnehmungsfragmenten und scheinbar nebensächlichen Ereignissen. Vom naiven Bauernjungen reift Henry Fleming zum Krieger, der dem sensorischen Schock technologischer Massenvernichtung mit irrationalen und instinktiven Handlungsweisen begegnet. Metaphorisch aufgeladen mit einer durchgängigen Farbsymbolik und Wortfügungen, die das Kriegsgeschehen in die Bereiche des Animalischen und Diabolischen rücken, wird die Darstellungsperspektive zugleich radikal subjektiviert. Sinnvolle Handlungszusammenhänge gehen ebenso verloren wie moralische Sinnstiftungen. “The actual truth about battle”, befand Harold Frederic, Kriegsteilnehmer und selbst Verfasser mehrerer Romane und Geschichten zum amerikanischen Bürgerkrieg: “It seems as if the actual sight of a battle has some dynamic quality in it which overwhelms und crushes the literary faculty of the observer.”13 An den Kriegserzählungen von Tolstoi, Zola oder Crane zeigt sich zumindest eine Tendenz. Das zunehmend unüberschaubar gewordene Territorium des Krieges erforderte Darstellungstechniken, die jene Orte fixierten, von denen Wahrnehmungen möglich waren. Bei Tolstoi wird der immobilisierte Beobachter in einer mobilisierten Landschaft zum Fokus der Sensationen. Bei Zola geraten die Protagonisten in ein Chaos, das gleichwohl durch Blicke strukturiert wird. Und bei Crane schließlich findet sich die Implosion 13
Frederic zit. nach Robert Wooster Stallmann: Stephen Crane. A Biography. New York 1968. S. 186.
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des Orientierungssinns: der reine miterlebend-reagierende Zuschauer. Selbstverständlich ist solche Arbeit an dem literarischen Repräsentationsschema nicht allein den veränderten Wahrnehmungsbedingungen während kriegerischer Auseinandersetzungen geschuldet. Sie ist ebenso auf das Gesamt der durch Großstadt, Verkehr, Medien veränderten Perzeptionsvoraussetzungen zurückzuführen, so wie gleichzeitig ein innerliterarischer Prozess von Schema und Korrektur wirksam wird. Zola hatte seine Feldstudien mit Zeugenbefragungen und durch die Lektüre von Militärberichten und Karten unternommen. Crane sollte seine Kriegsimaginationen erst nachträglich überprüfen können: als Berichterstatter in Kuba während des spanisch-amerikanischen Kriegs – in vorderster Linie, wie es heißt. Zu konstatieren bleibt, dass die Sensationen des Krieges, sollten sie denn den modernen Bedingungen angemessen repräsentiert werden, nurmehr unter fortschreitendem Verzicht auf eine souveräne Sicht und Überschau darstellbar schienen. Bei Tolstoi ist solche Sicht noch durch die Erzählinstanz garantiert, bei Zola wird sie durch Blickachsen rekonstruiert, bei Crane zerfällt sie. Die Position selbst wird unsicher. III. Der gefrorene Augenblick Für die Maler, wir wissen es spätestens seit Lessings Laokoon, stellte sich das Problem, ein dynamisches Geschehen zu vergegenwärtigen, in völlig anderer Weise. Sie waren mit ihrem Blick von außen auf die Fixierung des einen Moments aus dem Zeitkontinuum angewiesen. Aber auch ihnen ging es nun darum, den Krieg darzustellen, wie er ‘wirklich’ ist: ‘Naturwahr’ zu sein, in höchster Genauigkeit das abzubilden, was die Fotografie nicht darzustellen vermochte, war das Ziel vieler Schlachtenmaler dieser Epoche. Meissonier ist ein prominentes Beispiel. Als führendem Maler der naturalistischen Schule Frankreichs, ging es ihm um eine Wiedergewinnung des ‘reinen’ Sehens: um eine Malerei, die sich gleichermaßen von den Einschreibungen der Kunstgeschichte befreite wie von dem Medium der Fotografie unabhängig blieb. Sein Credo war der von jeder vorgängigen Reproduktion befreite, aber gleichwohl gerahmte Blick: “Look through a picture frame – the human figure seems to be naturally squared for reduction. All objects, in fact, are reduced, directly we look at them from distance.”14 Meissoniers Axiom malerischer Wahrhaftigkeit, der gerahmte Blick, begründet nicht nur die Kleinheit seiner Bilder, sondern beschwört ebenso das Paradigma der Camera obscura. In der Rückwendung auf ein Wahrnehmungsmodell des 18. Jahrhunderts soll die reine, nur dem tatsächlich Gese14
Hier zitiert nach der englischen Ausgabe der von Gréard edierten Aufzeichnungen und Erinnerungen Meissoniers. Valery C. O. Gréard: Meissonier. His Life and His Art. New York 1897. S. 192 [original: Paris 1897].
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henen verpflichtete Malerei restauriert werden. Von zeitgenössischen Kritikern wurde Meissonier vorgeworfen, es handele sich bei seinen Kriegsgemälden um ‘kolorierte Fotografien’. Andere, etwa Théophile Gautier, bewunderten seine Historienbilder als ungeahnte Neuerungen visueller Repräsentation. Tatsächlich führten Meissoniers Bemühungen um äußerste Naturwahrheit zu paradoxen Resultaten. Für das Gemälde Die Schlacht bei Friedland, mit 137 x 242,5 cm sein bei weitem größtes Bild, benötigte Meissonier fast zehn Jahre (1875; vgl. Abb. 3.1). Die Studien und Ölskizzen zu diesem Bild füllen allein eine mittlere Ausstellung. Das Auge des Malers musste sich jedes Details – sei es die Geste einer Figur, sei es ein Uniformknopf – zunächst vergewissern. Während andere Maler Fotografien als Vorlage benutzten, insistierte Meissonier auf der äußersten Anstrengung des unbewaffneten Auges und arbeitete bei Figuren-Darstellungen grundsätzlich nach dem lebenden Modell. Thema des Bildes ist der schlachtentscheidene Einsatz der Kürassiere bei Friedland und ihre Begeisterung angesichts des Feldherrn: also ein stürmischer Galopp einer Kürassiereinheit, der die Begeisterung in Form einer raumgreifenden Dynamik der Pferde- und Menschenleiber veranschaulichen will. Für dieses Vorhaben ist das gewählte Format, gemessen an zeitgenössischen Schlachtenbildern, außerordentlich klein. Angesichts der Detailgenauigkeit, mit der Meissonier gearbeitet hat, ist das Format wiederum irritierend groß. Es fordert vom Betrachter einen wiederholten Wechsel der Position. Aus einer normalen, mittleren Betrachterdistanz erschließt sich sofort das einfache, einer klassischen Bewegungssemantik folgende Kompositionsschema: Im Zentrum des Bildes, auf einem Hügel, findet sich der Heros Napoleon mit seinen Offizieren. Von rechts aus der Raumtiefe galoppieren Husaren in den Bildvordergrund. Vier Gardeoffiziere auf trabenden Pferden fangen die Dynamik des Kavallerieregiments in der linken Bildhälfte wieder auf. Der Blick wird jedoch immer wieder angezogen von Einzelheiten, die sich erst in unmittelbarer Nähe zur Leinwand identifizieren lassen: einzelne Grashalme oder minutiös nachgebildete Uniformknöpfe. Dass Komposition und Details dennoch nicht auseinanderfallen, verdankt sich unterschiedlichen Fokussierungen, einer inszenatorischen Ausspielung von Schärfe/Unschärfe-Relationen. Napoleon im Zentrum, aber gleichwohl im Mittelgrund des Bildes, ist in äußerster Detailschärfe herausgearbeitet, während die Konturen der ihn umgebenden Offiziere fast unmerklich verschwimmen. Der Bewuchs des Hügels, auf dem Napoleons Pferd steht, ist atmosphärisch aufgelöst, während sich im Vordergrund einzelne Grashalme identifizieren lassen. Die heranstürmende Kavallerie wird wiederum mit einer Tiefenschärfe wiedergegeben, die mit den Farbimpressionen der Gräser im rechten Bildvordergrund kontrastiert. Meissonier benutzt Effekte des Fotografischen. Aber sie führen nicht zu einer Simulation der Fotografie
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mit ihren monokularen Fokussierungsmöglichkeiten, sondern sie zielen darauf, das apparative Konkurrenzmedium zu übertreffen. Das Resultat dieser Anstrengung ist entsprechend irritierend. Der mit soviel Mühe im Detail und nach klassischen Kompositionsregeln hergestellte Eindruck von Bewegung ist der einer erstarrten, wie gefroren wirkenden Momentaufnahme. Das Transitorische, durch das sich jede Bewegung in der Normalwahrnehmung auszeichnet, wird durch die Detailschärfe und die wechselnden Fokussierungen konterkariert. Die persönliche Katastrophe, das Scheitern seines Projekts einer Reformierung der französischen Malerei durch ein reines, konzentriertes Sehen, wurde manifest durch die Möglichkeit, fotografisch Bewegungsabläufe zu zerlegen. Meissonier, der nicht zuletzt aus Studienzwecken ein Gestüt mit acht Pferden unterhielt und aufwendige Versuchsanordnungen betrieb, um die Bewegungen eines Pferdes studieren zu können, musste sich durch Eadweard Muybridges fotografische Bewegungsstudien eines galoppierenden Pferdes überzeugen lassen, dass in drei Jahrzehnten konzentrierter Arbeit, die der malerisch-wissenschaftlichen Erforschung der Bewegung galt, seine Augen nicht fähig gewesen waren, das zu sehen, was sich vor ihnen vollzogen hatte.15 1889 fertigte Meissonier eine Aquarell-Kopie seines Friedland-Gemäldes an, auf dem er die Beinstellung der im Vordergrund an Napoleon vorbeigaloppierenden Pferde modifizierte, ohne jedoch vom fliegenden Galopp ganz Abschied nehmen zu können.16 Am anderen Ende der Skala zeitgenössischer Schlachtrepräsentation, nicht dem kleinen gerahmten Bild, sondern den mittlerweile 2000 qm großen Panoramen, führte das Bemühen um äußerste Genauigkeit und 15
Meissonier war der erste Maler, der die beiden verschiedenen, aufeinander folgenden Phasen der Bewegung eines im Schritt gehenden Pferdes darzustellen vermochte: den appui diagonale und den appui latérale. In den 1870er Jahren galt Meissonier unbestritten als der größte Pferdemaler seiner Zeit, der die ehrgeizigen Anstrengungen, ein sich bewegendes Pferd naturwahr wiederzugeben, die Darstellungen eines Gros’, Géricaults oder Horace Vernets, nicht nur weit übertroffen, sondern entwertet hatte. Meissonier musste sich im Jahre 1881 durch Leland Stanford, den Auftraggeber jener Bewegungsstudien aus dem Jahre 1872, schließlich davon überzeugen lassen, dass Muybridge als erster den tatsächlichen Bewegungsablauf eines galoppierenden Pferdes dargestellt hatte. Vgl. Marc J. Gotlieb: The Plight of Emulation. Ernest Meissonier and French Salon Painting. Princeton 1996. S. 155185. 16 Dies verbot sich wahrscheinlich schon aus kompositionellen Gründen. Meissonier korrigierte die Beinstellung so, dass die Hufe näher an den Körper herangezogen wurden. Eine grundsätzliche Korrektur im Sinne der Ergebnisse Muybridges vollzog er jedoch nur am rechten Vorderlauf der zentralen Pferdefigur. Auf dem Gemälde Der Morgen bei Castiglione, das bei Meissoniers Tod noch unvollendet war, versuchte er die Hauptfigur, Generals Duroc auf einem galoppierenden Pferd, allerdings bereits nach den neuesten Erkenntnissen darzustellen.
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Naturwahrhaftigkeit zu ähnlich widersprüchlichen Resultaten. Grundsätzlich ermöglichte es der Illusionsraum des Panoramas, die Darstellung der Schlacht mit der Episode zu verbinden: also lauter kleine erzählerische Aufhänger für ein sonst anonym bleibendes Schlachtgewoge zu finden. Dieser Typus des Schlachtpanoramas bildete in Deutschland wie Frankreich den Mainstream. Allerdings gibt es auch Versuche, auf die veränderten Wahrnehmungsbedingungen der Schlacht zu reagieren. In Édouard Détailles und Alphonse de Neuvilles Panorama Bataille de Champigny (1882) wird die figürliche Syntax durch die Topographie ersetzt. Im Raum der Kriegslandschaft verflüchtigt sich die Erzählung. Die militärischen Aktionen wirken unbedeutend. Ähnlich schon Félix Emmanuel Henry Philippoteaux’ Panorama La Défense de Paris (1871; Abb. 3.3), entstanden nach Fotografien von François Robichon: eine Landschaft aus Gräben und Befestigungsanlagen, mit Pulverwolken, einigen Granateinschlägen und winzigen Figuren, die in dieser Landschaft unbedeutend und am Geschehen kaum beteiligt wirken. Vom Feind ist weit und breit nichts zu sehen, von dem fruchtbaren Augenblick des Historienbildes keine Spur. Eine Kriegslandschaft, die nicht nur statisch, sondern auch merkwürdig leer erscheint. Das Kontrastbeispiel bietet Anton von Werners Sedan-Panorama (1883), das sich auf seine Art um naturalistische Wahrhaftigkeit bemühte (vgl. Abb. 3.4). Es wurden vor Ort genaue topographische Studien angefertigt und die Ereignisse um 13.30 Uhr exakt recherchiert, als die Kavallerieattacke französischer Einheiten an der deutschen Schützenlinie scheiterte. Gewählt wurde dieser Augenblick, um Masse in Bewegung zeigen zu können. In einem riesigen Keil, fast die Hälfte des Panoramas einnehmend, stürmen von einem Hügel herab französische Kürassiere auf eine Gruppe preußischer Infanteristen und damit auf den Zuschauer, der, wenn er sich umdrehte, gewiss sein konnte, dass Reiter, denen es gelungen war, die Feuerzone zu überwinden, von den rückwärtigen Linien niedergemacht wurden. Zudem wachte auf einem fernen Hügel das Auge des Kaisers mit seinem Generalstab. Militärische Kraftentfaltung pur: zumal am Beispiel der Kavallerieattacke, die nicht nur bis zum Ersten Weltkrieg das Grundmuster heroischer Bewährung abgab, sondern vor allem den Vorteil hatte, dass sie effektvoll zu visualisieren war. Masse und Bewegung werden zum Thema in einer bis dahin ungewohnten medialen Gewalttätigkeit. Der Kunstgriff Werners bestand darin, den Standpunkt des Beobachters auf die Mitte eines Abhangs zu versetzen und ihn damit die Schlacht Seite an Seite mit den tapferen deutschen Infanteristen erleben zu lassen: ein Versuch, die Abgeschlossenheit des Handlungsraums gegenüber dem Raum des Zuschauers zu durchbrechen.
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Doch Kritiker merkten an, dass es sich hier um “buchstäblich farbige Momentphotographie” handele.17 Führte das Bemühen, einen dynamischen Bewegungsablauf zu veranschaulichen, schon bei mittleren Gemäldeformaten zu einem Eindruck der Erstarrung, wurde dies im Panorama zu einem nicht mehr zu übersehenden Problem. Insgesamt ist die Schlachtenmalerei durch die Versuche gekennzeichnet, eine neue räumliche Lösung zu finden: entweder durch eine figürliche Syntax, die den Handlungsraum zum Schauplatz divergierender Bewegungsrichtungen macht, oder – das andere Extrem – durch fotografisch inspirierte Konzeptionalisierungen von Leere. Die Leichenhaufen, also das, was die Kriegsfotografie neben der Leere der Schlachtfelder tatsächlich in neuer Weise zu zeigen vermochte, blieben für die Malerei und Grafik als Bildgegenstand weitgehend tabuisiert.18 Dennoch musste sich gerade das Panorama an der ‘Wahrheitstreue’ fotografischer Abbildung messen lassen. Der reine, unverstellte Blick spielte hier keine Rolle mehr. Es ging darum, möglichst effektiv zu beeindrucken. Als sich die Bilder im Kino zu bewegen begannen, war die Zeit der Panoramen zu Ende. IV. Exkurs: Das Bewegungsbild Raum und Zeit waren zum Problem der Schlachtrepräsentation geworden: in der Literatur als Frage der Gliederung des Raums, der Erzählstandpunkte und damit zugleich der zeiträumlichen Diegese; in der Malerei als Frage der Abbildbarkeit von Bewegungen im Raum unter Maßstäben, die durch die Fotografie vom Standfoto bis zur Chronofotografie gesetzt wurden. Hinter den Problemen der Repräsentation lauerten jene der Wahrnehmung. Was die literarischen Helden von Tolstois Schlachtteilnehmern bis zu Cranes desorientierten Infanteristen exemplifizierten, war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts längst zum Gegenstand naturwissenschaftlicher Forschung geworden. Seit Hermann von Helmholtz’ Messungen der Fortpflanzungsgeschwindigkeit eines Nervenreizes und Gustav Theodor Fechners Untersuchungen menschlicher Reaktionszeiten in den 1850er Jahren, standen die Apperzeptionsfähigkeiten auf dem Prüfstand. Ob es Emil Javal auf der 17 Zit. nach Anton von Werner. Geschichte in Bildern. Hg. von Dominik Bartmann. Berlin, München 1993. S. 271. Vgl. Abb. 3.1–3.4 im vorliegenden Band; Werke von Meissonier, Neuville, Philippoteaux und Anton von Werners Sedan-Panorama. 18 Einige der wenigen Ausnahmen bildet Édouard Détailles Lithographie Un coup de mitrailleuse, 1871, im November 1886 in Les Lettres et les Arts erschienen: eine Reihe erschossener deutscher Infanteristen am Rande eines Grabens, die in der Abwesenheit jeglichen dramatischen Ausdrucks und auch jeglicher Individualität das mechanisierte Töten als Grundkondition der modernen Kriege sinnfällig macht. Doch das anatomische Museum des modernen Krieges, der artilleristisch zerfetzte Körper, blieb weiterhin – selbst in der Grafik – nicht darstellungsfähig.
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Grundlage von Helmholtz’ optischer Theorie 1878 gelang, die Augenbewegungen zu vermessen, oder Wilhelm Wundt fast gleichzeitig die Differenz zwischen dem Blickpunkt als dem Ort bewusster Wahrnehmung und dem Blickfeld als dem Ort peripherer Wahrnehmung beschrieb, die Forschungen schienen immer wieder nur das Eine zu bestätigen: Das Modell des souverän über seine Sicht und seine Sinne verfügenden Beobachters konnte mit Gewissheit verabschiedet werden. Im Kontext solcher Forschungen entstanden jene Apparaturen, die zur technischen Vorgeschichte des Kinos gehören. Doch von Étienne Jules Mareys “fotografischer Flinte” und Muybridges “Zoopraxiscope” führt der Weg nicht nur zum Kino, sondern auch wiederum zu den Geräten, mit denen menschliche Wahrnehmungsfähigkeiten taxiert wurden. Das “Tachistoscope” illusionierte keinen Bewegungsablauf wie Muybridges Erfindung. Es erzeugte den gegenteiligen Effekt: die Unterbrechung der Sicht des Probanden, um seine Apperzeptionsfähigkeiten messen zu können.19 Je mehr das Subjekt zum Objekt externer Techniken der Kontrolle bis zur Erforschung des konditionierten Reflexes wurde, um so mehr ergab sich ein epistemologisches Problem. Was einen Maler wie Meissonier beschäftigt hatte, die Wiedergewinnung eines reinen Sehens, das bewegte am Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend auch die Philosophen. Edmund Husserls Logische Untersuchungen (1899/1901) zielten darauf, eine reine Form des Bewusstseins und der Erkenntnis zu isolieren: eine “transzendentale Erfahrung”. Das war dezidiert gegen das Modell eines von äußeren Sensationen bestimmten empirischen Beobachters gerichtet, wie es die wahrnehmungspsychologischen Experimente nahe legten. Aber gleichzeitig verblieb Husserls Phänomenologie mit ihrer Emphase für die “natürliche Wahrnehmung”, wie Gilles Deleuze anmerkt, bei “vor-filmischen Bedingungen”. Die Bewegung habe sich hier noch auf “Posen” bezogen.20 Anders bei Henri Bergson, der in Matière et mémoire (1896) Bewegungsund Zeitbilder als Bewusstseinsbilder beschrieb: Auch Bergson ging es um die Wiedergewinnung eines selbstgewissen, autonomen Beobachterstandpunkts, aber nicht mehr im Sinne der Begründung einer “natürlichen Wahrnehmung”. Bergsons Bewusstseinsbilder sind immer schon vermischt und zusammengesetzt. Implizit gegen Helmholtz’ Annahme des “unbewussten Schlusses” im Prozess von Sinnesempfindung, Gedächtnis und Wahrnehmung gerichtet, geht es Bergson um ein Wahrnehmungskonzept, in dem jede Form der automatischen, unwillentlichen Reaktion ausgeschlossen
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Zum Tachistoscope, aber auch zur Diskussion von Husserl und Bergson vgl. Jonathan Crary: Suspensions of Perception (Anm. 2). S. 281-359. 20 Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild. Kino I. Übers. von Ulrich Christians und Ulrike Bokelmann. Frankfurt/M. 1989. S. 85.
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bleibt. In Bergsons Zweiachsenmodell folgt der Beobachter dem Fluss der externen Sensationen und Ereignisse und wird zugleich gewahr, wie seine Erinnerung mit der gegenwärtigen Wahrnehmung übereinstimmt oder von ihr abweicht. Das Maß der bewussten Kontrolle dieses ständigen Prozesses eines Interferierens der Erinnerung entscheidet über die vitale Autonomie des Individuums. Sein Beobachtermodell ist ein Gegenentwurf zu allen Formen automatisierter, gesteuerter Wahrnehmung, wie sie als neues Medium vor allem der Film bieten konnte. Dennoch erkennt Deleuze in Bergsons Reflexionen über Zeit und Bewegung ein dem Film analoges Modell, insofern Bergson vor der Entwicklung von Montage und zugleich “jenseits der Voraussetzungen der natürlichen Wahrnehmung” die “Existenz von beweglichen Schnitten und Bewegungsbildern” entdeckt habe.21 Bergson habe gleichsam “das Universum als Film an sich, als Meta-Film” gesehen.22 Die Taxinomie des Kinos, die Deleuze auf der Basis von Bergsons Begrifflichkeit und in Auseinandersetzung mit Charles S. Peirce’ Zeichentheorie entwirft, verabschiedet allerdings den vital sich selbst gewissen Beobachter Bergsonscher Prägung und ersetzt ihn durch ein radikal dezentriertes Subjekt: “Denn das Bewegungs-Bild reproduziert keine Welt, sondern konstituiert eine autonome, mittelpunktlose Welt, erzeugt Brüche und Disproportionen und richtet sich an einen Zuschauer, der selbst nicht mehr Zentrum seiner eigenen Wahrnehmung ist. Percipiens und percipi haben ihren Schwerpunkt verloren.”23 Film wird gedacht als serielle Rekonfiguration sich bewegender Kräfte, die eine eigene Zeit generieren und einen Raum erzeugen, in dem die Idee einer kohärenten Subjektposition völlig irrelevant geworden ist. Zudem setzt der Film, und hier knüpft Deleuze an Maurice Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung an, die Bedingungen “natürlicher Wahrnehmung” außer Kraft: “[A]uf jeden Fall befreit er das Subjekt aus seiner Verankerung ebenso wie von der Horizontgebundenheit seiner Sicht der Welt, indem er die Bedingungen der natürlichen Wahrnehmung durch ein implizites Wissen und eine zweite Intentionalität ersetzt.”24 Deleuze’ Kinotheorie setzt auf die Autonomie des Mediums Film, der sich nicht einfach als eine neue Form zentralperspektivischer 21
Deleuze: Das Bewegungs-Bild (Anm. 20). S. 15. Ebd. S. 88. 23 Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino II. Übers. von Klaus Englert. Frankfurt/M. 1991. S. 55f. 24 Deleuze: Das Bewegungs-Bild (Anm. 20). S. 85. Um den “Innenhorizont” eines Gegenstandes zu erfassen, müssen die ihn umgebenden Gegenstände zum Horizont werden. Durch die Blicklenkung im Film entfällt der Horizont (“die Leinwand hat keinen Horizont”), so dass auch keine “wirkliche Identifikation” des Gegenstandes stattfindet: Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung. Übers. von Rudolf Boehm. Berlin 1966. S. 92. 22
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Repräsentationstechnik erklären lässt, deren Wurzeln bis in die Renaissance zurückzuverfolgen wären: “mit dem Film wird die Welt ihr eigenes Bild und nicht ein Bild, das zur Welt wird.”25 Der Film mag einen historischen Bruch in den Techniken der Simulation markieren. Und Deleuze’ Kinotheorie macht durch ihre Verankerung in Denkansätzen Bergsons auch deutlich, dass Kino nicht nur ein neues Paradigma der Wahrnehmung erzeugte, sondern abbildete. Doch gleichzeitig knüpfte der Film an ältere Darstellungstechniken an. Er beerbte durchaus Literatur und Malerei und galt vielen Zeitgenossen in der Frühzeit des Kinos nicht als das Andere natürlicher Wahrnehmung, sondern als deren Verbündeter: als Erweiterung der Sinne. Zudem wiederholte sich in der Anfangszeit des Kinos jener Effekt, den einst die Fotografie im 19. Jahrhundert ausgelöst hatte. Es war die filmische Repräsentation, die nun als unterhintergehbar wahr erschien. Wie der Film den Beobachter repositionierte und wie er ‘Defizite’ früherer Repräsentationstechniken behob, lässt sich am Beispiel früher Kriegsfilme bestens nachvollziehen. V. Krieg und Kino Sobald die Kamera nur einigermaßen mobil war, lockte neben den Aufnahmen aus fernen Ländern auch der Krieg als exotischer Reiz; ja letzterer schien sogar jene Bilder der tanzenden Borneo-Mädchen oder Bäuerinnen auf den Reisfeldern Chinas bei weitem übertreffen zu wollen. Doch konnten die Schlachtfelder dieses Versprechen kaum einlösen. In der Regel waren die frühen Ereignisfilme nachgedreht. Georges Méliès produzierte in seinem Studio bereits 1897 aktuelle Szenen aus dem griechisch-türkischen Krieg. Als erster verfilmter Krieg gilt der amerikanisch-spanische Konflikt um Kuba. Die Edison-Company sandte mehrere Kameramänner aus. Im Einzelfall ist die Authentizität der überlieferten Bilder jedoch kaum zu verifizieren.26 Das Gros der Aufnahmen und vor allem alle Kampfszenen waren nachgedreht. Dass die Maine in der Badewanne unterging oder die Schützengräben im heimischen Vorgarten ausgehoben wurden, minderte den Authentizitäts-Effekt in der Frühzeit des Kinos kaum. Die Überzeugungskraft der “re-constituted newsreels” beruhte auf der Wahrung vertrauter narrativer Schemata.27 Das Wahrscheinliche sicherte den Wahrheitsanspruch und beglaubigte die Realität der Bilder. 25
Deleuze: Das Bewegungs-Bild (Anm. 20). S. 85. Vgl. Raymond Fielding: The American Newsreel 1911–1967. Norman, Oklahoma 1972. 27 Vgl. David Levy: Re-Constituted Newsreels. Re-Enactments and the American Narrative Film. In: Cinema 1900–1906. An analytic study by the National Film Archive (London) and the International Federation of Film Archives. Hg. von Roger 26
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Dabei war die frühe Kriegsfilmreportage durchaus bemüht, authentische Bilder zu liefern. Auch im Burenkrieg (1899í1902) oder während des Russisch-Japanischen Krieges (1904–05) waren mehrere Filmteams unterwegs. William Kennedy Laurie Dickson durchstreifte mit seinem Produktionswagen die Landschaften Südafrikas wie einst Roger Fenton die Krimhalbinsel. Doch das Dilemma der Kriegsfotografie, letztlich nur die Leere der Schlachtfelder zeigen zu können, wiederholte sich: potenziert durch Zeit und Raum. Zum einen verschwand die Schlacht tatsächlich in den Weiten Transvaals, insofern sich die Buren nach anfänglichen Hurra-Attacken gegen britisches Artilleriefeuer schon bald auf eine Guerillataktik verlegten. Zum anderen basierte die Faszination des Kinos darauf, Bewegung darstellen zu können und damit zugleich eine Raumillusion zu schaffen, die kein Standbild zu erreichen vermochte. Da gibt es unter Dicksons Aufnahmen zwar auch die gebannt in ihrem Schützengraben hockenden Soldaten mit einem aufrecht stehenden, dem imaginären Feind zugewandten Colonel Kitchener, während ein Soldat fahnenschwingend die drohende Gefahr an das rückwärtige Lager signalisiert.28 Doch meist zeigen die frühen Kriegsaufnahmen marschierende Regimenter bei ihrer Ankunft in Cape Town oder auf irgendeinem Manöverfeld: möglichst von einer Anhöhe herab in spitzem Winkel an der Kamera vorbei, um die Bewegung aus der Raumtiefe zu dramatisieren.29 Doch als eine Bewegung im Raum war gerade das Gefecht nicht zu visualisieren, außer in der Reinszenierung. Das sollte der Erste Weltkrieg bestätigen. Der Grabenkrieg entzog sich der filmischen Abbildbarkeit. Das authentische Bild der Schlacht beschränkte sich auf Vorbereitungen zu einem Angriff. Und die wenigen Aufnahmen, die es überhaupt aus der ersten Linie gibt, zeigen bewegungslos der Dinge harrende Soldaten unter schlechten Lichtverhältnissen.30 David Wark Griffith, der im Mai 1917 im Auftrag des britischen War Office Cinematographic Committee an die Front reiste, um vor Ort einen Kriegsfilm zu drehen (Hearts of the World, 1918), fasste das Problem in ein
Holman. Brussels 1982. S. 243-258. 28 William Dickson: Colonel Kitchener signaling from rifle hill back to camp. British Mutoscope & Biograph Company (Filmmuseum Amsterdam: D6717–XII). 29 Diese Boachtung gilt natürlich in gleichem Maße für marschierende Regimenter wie für Fahrradfahrer oder Lokomotiven. Das Spiel mit der Größenkonstanz der Normalwahrnehmung, die im Kino außer Kraft gesetzt wurde, faszinierte. 30 Vgl. Wolfgang Mühl-Benninghaus: Exemplifikationen des Militärischen zwischen 1914 und 1918. Die Darstellung des Ersten Weltkriegs im Nonfiction-Film. In: Die Modellierung des Kinofilms. Zur Geschichte des Kinoprogramms zwischen Kurzfilm und Langfilm 1905/6–1918. Hg. von Corinna Müller und Harro Segeberg. München 1998. S. 273-300.
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einsichtiges Statement: “Viewed as a drama, the war is in some way disappointing.”31 Der Film als ein nicht nur dokumentierendes, sondern potenziell erzählendes Medium war gegenüber der Fotografie in ungleich stärkerem Maße auf die Inszenierung verwiesen. Reichte es Alexander Gardner noch, eine Leiche erzählungsgerecht zurechtzurücken, so verlangte Griffith 20.000 – 40.000 Infanteristen für 30 Tage in voller Ausrüstung, mit französischen und deutschen Uniformen versehen, Artillerie, Pferde und ein halbes Dutzend Flugzeuge.32 Und Griffith hatte Erfahrungen mit der filmischen Erzählbarkeit einer Schlacht! Jene sechzehn Minuten aus dem ersten Teil seines Bürgerkriegsepos’ Birth of a Nation (1914/15),33 in denen Griffith die Beschießung Atlantas und einen der letzten, verzweifelten Angriffe von Lees Truppen bei Petersburg in Szene setzte,34 markierten einen neuen Abschnitt in der Geschichte der Schlachtrepräsentation. Zum ersten Mal in der Medien- und Filmgeschichte war der Beobachter eingeladen, den Krieg nicht mehr von dem sicheren Standpunkt einer Panoramaplattform und nicht mehr aus der distanzierten Sicht einer Proszeniumseinstellung, also gleichsam von einem kinematographischen Theatersessel aus zu erleben, sondern er wurde involviert, in den imaginären Raum der Schlacht einbezogen. Das von Flammen verzehrte Atlanta, von nächtlichen Explosionen illuminiert, erlebt inmitten des Chaos’ fliehender Zivilisten und Truppenteile, die Szenerie in ein infernalisches Rot getaucht; das Feuerspektakel der Artillerie bei Petersburg im Morgengrauen und vor allem jener von dem “kleinen Oberst” geführte Angriff auf die Linien der Nordstaatler, erlebt aus der Perspektive des Feldherrnhügels, aber ebenso in unmittelbarer Nähe zum Graben, zum Gemetzel in den feindlichen Linien; oder – als Höhepunkt identifikatorischer Nähe zum Helden – sein begeistertes Gesicht vor Augen, während er die Todeszone zwischen den Gräben durchquert (Abb. 3.5) und die Kamera 31
Der moderne Krieg sei weder romantisch noch malerisch: “Everyone is hidden away in ditches. As you look out across No Man’s Land there is literally nothing that meets the eye but an aching desolation of nothingness.” Zit. nach Richard Schickel: D. W. Griffith: An American Life. New York 1984. S. 354f. 32 Der Plan wurde allerdings abgelehnt und Griffith musste seine Szenen zum Teil auf dem alten Set von Intolerance drehen. Die Gräben wurden nun vor dem Babylonischen Tempel ausgehoben. Vgl. Nicholas Reeves: Official British Film Propaganda during the First World War. London, Sydney 1986. S. 121 und S. 124. 33 Ich beziehe mich bei Längen- und Zeitangaben auf die 1995 vom Bayerischen Rundfunk bearbeitete deutsche Fassung. 34 Damit waren – aus Sicht der Südstaaten – zwei der “atrocities” unionistischer Kriegsführung angesprochen: die Beschießung von Zivilisten und die Vertreibung der Bevölkerung von Atlanta auf Shermans “Marsch zum Meer” (September 1864) und das systematische Aushungern der Verteidiger von Petersburg (September 1864 bis April 1865).
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im gleichen Tempo zurückweicht: all das erfuhr der Zuschauer nun aus wechselnden Perspektiven, die ihn in den Handlungsraum einbezogen. Bekanntlich perfektionierte Griffith mit Birth of a Nation die Kameraund Schnitttechniken der frühen Stummfilmzeit und standardisierte so eine ganze Reihe filmischer Erzähltechniken. Bei den Schlachtszenen ist es vor allem die extensive Montage von Totalen, Halbtotalen und Nahaufnahmen, die die Aktion beschleunigte, den Blick lenkte, die filmische Identifikation mit Situationen und Personen in einem bisher nicht gekannten Maß intensivierte und vor allem auch den Standpunkt der Kamera im Wechsel der Einstellungen unsichtbar machte. Sicher waren die Totalen auf das Schlachtfeld am Vorbild des traditionellen Schlachtgemäldes orientiert. Schwenks sind rar, und die Überblicksaufnahmen bieten eine vor allem durch gewaltige Pulverwolken dramatisierte Ansicht, in der sich das Heer der Statisten wie ein durch Fahnen markiertes Ameisenvolk ausnimmt. Die differenzierte Bewegungssyntax, die das Schlachtgemälde entwickelt hatte, wirkt bei Griffith’ Bildern sogar reduziert auf das Bewegungs- und Richtungspotential einer Feldsportveranstaltung. In den fast sechs Minuten, die allein auf die Darstellung des Durchbruchversuchs der Föderierten verwandt werden, wird das räumliche Vorstellungsvermögen des Zuschauers, gemessen an späteren filmischen Darstellungskonventionen, wahrlich nicht überfordert.35 Links die Gräben der Föderierten, rechts die der Unionstruppen, die räumliche Orientierung immer wieder durch Übersichtseinstellungen gesichert, vollziehen sich die Angriffsbewegungen im 90-Grad-Winkel zur Kamera. Nicht zuletzt deshalb ist jene legendäre Nahaufnahme des stürmenden “kleinen Obersts” bei zurückweichender Kamerafahrt, also direkt in der Handlungsachse, noch für den heutigen Betrachter ein filmischer Höhepunkt. Aber all diese, an einer entwickelten Filmsprache geschulten Beobachtungen zeigen vor allem, wie lernfähig die Kinematographie war: in Adaption und Weiterentwicklung der Bewegungssyntax des Tafelbildes, in der immer stärkeren Aufsplittung der Szene, die den Betrachter zwang, die räumliche Diegese aus disparaten Elementen zu synthetisieren und zum eigenen Vorstellungsbild zu machen, und schließlich in der Übernahme literarischer Erzähltechniken. Letzteres vor allem wird Griffith’ Birth of a Nation gutgeschrieben. Griffith selbst hatte bekannt, er habe die Montagetechniken des “switch-back” 35
Tatsächlich bleibt der große Neuerer des Erzählkinos auch in seinen späteren Werken eher ein Traditionalist. Aufnahmen im 90-Grad-Winkel zur Handlungsachse, selten extreme Nahaufnahmen, eine eher geringe Zergliederung der Szene und nur eine spärliche Verwendung von Point-of-View-Aufnahmen kennzeichnen seine Filme. Vgl. Thomas Elsaesser und Adam Barker: Griffith and Film Form. In: Early Cinema: Space – Frame – Narrative. Hg. von Thomas Elsaesser. Worcester 1990. S. 293-317. Vgl. das Standbild Abb. 3.5 in vorliegendem Band.
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oder des “cross-cutting” letztlich von Charles Dickens übernommen. Und Sergej M. Eisenstein bezieht sich in seinem Aufsatz Dickens, Griffith und wir auf diese Aussage.36 Entscheidend ist jedoch weniger, dass Griffith mit der Parallelmontage, die er im übrigen schon in The Lonedale Operator (1911) angewandt hatte und die auch bei anderen Regisseuren von Biograph nachzuweisen ist,37 Erzähltechniken des 19. Jahrhunderts adaptierte, um so in der Phase der “Literarisierung” des Films das neue Medium für ein mittelständisches und bildungsbürgerliches Publikum akzeptierbar zu machen.38 Folgenreich für den Film als Erzählmedium war vor allem, dass sich mit der Parallelmontage auf der Ebene der Handlungsstrukturen vollzog, was sich andererseits schon in dem Wechsel von Kamerastandpunkten und Einstellungsgrößen innerhalb der Szene artikulierte: die imaginäre Herrschaft über Zeit und Raum, die dem Betrachter im Kinosessel zugewiesen wurde. Birth of a Nation erzählt nicht nur einen Zeitraum von mehr als sechs Jahren: die heile Welt vor dem Bürgerkrieg, den Verlauf des Krieges von Bull Run bis zu seinem Endstadium, dem Anschlag auf Lincoln, den Unruhen und der Phase der Reconstruction. Der Zuschauer kann in der parallelen Montage verfolgen, was sich sowohl in den Süd- wie in den Nordstaaten ereignet; er verfügt selbst während der Schlacht über die Bilder der betenden Angehörigen daheim; und das dramatische Rettungsfinale im zweiten Teil von Birth of a Nation wird in der parallelen Montage von gleich vier Handlungssträngen und zwei Orten geliefert, an denen sich das Schicksal der Helden und mit ihnen das der Nation entscheiden muss. Seit Birth of a Nation teilt der Film mit der Literatur nicht nur die imaginäre Herrschaft über den Raum in der Zeit, er geht über die Vergegenwärtigungseffekte des literarisch Imaginären weit hinaus: indem das tatsächlich Gesehene zur Grundlage der Vorstellung wird. Hugo Münsterberg war dies aufgefallen, nachdem er Birth of a Nation wiederholt angeschaut hatte. 1916 veröffentlichte er jene wahrnehmungs-psychologische Filmstudie, in der er 36
Sergej M. Eisenstein: Dickens, Griffith und wir (1944). In ders.: Gesammelte Aufsätze I. Zürich 1961. Eisenstein geht es um den Nachweis, dass etwa die parallelen Handlungsstränge bei Dickens, die Griffith zum Vorbild der filmischen Parallelmontage nimmt, einiges mit den antagonistischen Strukturen der kapitalistischen Gesellschaft gemein haben. 37 Zum erstenmal wurde das “crosscutting” in Edwin S. Porters The Life of an American Fireman (1902) verwandt. Porter kombinierte die Aufnahmen der herbeieilenden Feuerwehr und der Menschen in einem brennenden Haus. Allerdings wird hier die Rettung von Mutter und Kind noch zweimal gezeigt: nacheinander einmal von innen und einmal von außen. 38 Diese inzwischen kanonisierte These wurde zuerst vertreten von Tom Gunning: Weaving a Narrative. Style and Economic Background in Griffith’s Biograph Films. In: Quarterly Review of Film Studies. Winter 1981. S. 11-25. Wieder abgedruckt in: Early Cinema. Hg. Elsaesser (Anm. 35). S. 336-347.
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darauf insistierte, dass die filmischen Ereignisse vollständig den “inneren Bewegungen” des menschlichen Geistes nachgebildet seien: “We do not see the objective reality, but a product of our mind which binds the pictures together.”39 Schon bei Münsterberg findet sich, wovon noch die ApparatusTheorien profitieren sollten. Er konstatiert einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen filmischen Techniken und menschlicher Wahrnehmung: Nahaufnahmen, Kamerawinkel, Bildkomposition, Einstellungsgrößen und Beleuchtung würden letztlich nur das mechanisch reproduzieren, was ohnehin die Aufmerksamkeit in einer Welt der Sensationen und Bewegungen steuere. Und mehr noch: Die filmische Montage entspricht dem Gedächtnis und der Vorstellungskraft in ihren Fähigkeiten, Zeit und Raum sowohl zu komprimieren wie zu entfalten, Bilder zu rhythmisieren, Erinnerungen und Träume zu beschwören. Das “Lichtspiel” könne genauso agieren wie unsere Vorstellungskraft: “It has the mobility of our ideas which are not controlled by the physical necessity of outer events but by the psychological laws for the association of ideas. […] The photoplay obeys the laws of the mind rather than those of the outer world.”40 Seit Münsterberg gilt das Kino als Illusionsapparat, der Vorstellungen und Träume in Wahrnehmungsbilder übersetzt. Die Fähigkeit des Kinos, im gleichen Maße Traumwelten schaffen zu können wie Realität zu illusionieren, ist in der Folgezeit immer wieder Anlass zu Diskussionen und Theoretisierungen gewesen. Seit den siebziger Jahren wird, einen Begriff Foucaults aufnehmend, die Illusionsmacht des Mediums in Anschluss an die Arbeiten von Jean-Louis Baudry 41 und JeanLouis Comolli 42 vor allem aus dem Wahrnehmungsdispositiv erklärt, jener Sehanordnung, in der der Zuschauer im abgedunkelten Saal des Kinos den auf die Leinwand projizierten Blick der Kamera zu seinem eigenen macht und so imaginär Herr über die vermittelten Erzählpositionen wird. In diesem Zusammenhang lenkte vor allem Christian Metz’ Le Signifiant imaginaire 43 die Aufmerksamkeit auf die Fähigkeit filmischer Signifikationen, eine diskursive Form der Wahrnehmung zu erzeugen, die den Zuschauer als 39
Hugo Münsterberg: The Film: A Psychological Study. The Silent Photoplay in 1916. Hg. von Richard Griffith. New York 1970. S. 171f. 40 Hugo Münsterberg: The Film: A Psychological Study. S. 97. 41 Jean-Louis Baudry: Das Dispositiv: Metapsychologische Betrachtungen des Realitätseindrucks. In: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen. Hg. von Margarete Mitscherlich. 48. Jg. (1994). H. 11. S. 1047-1074. Der Aufsatz erschien erstmals 1975 auf Französisch. 42 Jean-Louis Comolli: Machines of the Visible. In: The Cinematic Apparatus. Hg. von Theresa de Lauritis und Stephen Heath. London 1980. 43 Christian Metz: Le Signifiant imaginaire (1977). Engl. Übersetzung von Celia Britton, Annwyl Williams, Ben Brewster und Alfred Guzzetti: The Imaginary Signifier. Psychoanalysis and the Cinema. Bloomington 1982.
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Subjekt produziert. Aufgrund solcher Überlegungen wird das Kino nicht mehr nur als Illusionsmaschine verstanden, sondern in Rekurs auf Jacques Lacans Theorie einer imaginären Subjektkonstitution als “Identitätsmaschine”.44 Wieweit die Illusionsmacht des Kinos reicht, bleibt umstritten. Ob im Prozess der filmischen Wahrnehmung tatsächlich das Bewusstsein illusionierter Realität weitgehend außer Kraft gesetzt wird, wie es Baudry und Metz annehmen, ist eher fraglich.45 Zumindest sind erhebliche historische Differenzen anzunehmen in der Entwicklung filmischer Apperzeptionsfähigkeiten und Wahrnehmungskonventionen, die wiederum in einem engen Zusammenhang mit der Entwicklung filmischer Erzähltechniken stehen. In dem Maße, wie der Film seine Rhetorik entwickelte, wurde sie als solche sichtbar. Und die Wahrnehmungserlebnisse, die das frühe Kino noch in Form von ‘Realitätschocs’ zu bereiten wusste, sind dem Bewusstsein gewichen, im Raum des Kinos einer perfekt inszenierten Illusion begegnen zu können.46 Die vielzitierte Medienrealität als zugleich hyperreales wie nichtreferentielles System verweist auf die Zeichenhaftigkeit der Realität, die sie produziert. Das jedoch setzt keineswegs die Effekte des Realen oder auch die des Identischen außer Kraft. Der Eindruck von Wirklichkeit, den das Kino zu vermitteln vermag, seine Fähigkeit, eine imaginäre Beziehung zwischen dem Betrachter und dem Repräsentierten aufzubauen, gründet eben nicht nur auf der filmischen Diegese, in der die imaginäre Verfügung über Raum und Zeit zum Effekt des Diskurses wird, sondern ebenso darauf, dass die repräsentierten Räume, Menschen und Objekte als Zeichen wahrgenommen werden, die ihre Bedeutung im filmischen Kontext und in der spezifischen Sehanordnung des Kinos erhalten. Die Fotokamera beglaubigte die sichtbare Realität und entkontextualisierte sie zugleich. Nicht anders die Filmkamera, selbst wenn sie Abläufe 44
“Die Fähigkeit des Schauens an sich macht den Zuschauer zum Autor und zum Protagonisten. Derart verdoppelt, erlebt er sich im imaginären Diskurs des Films als identisch mit sich selbst, als ‘wirklich’.” Thomas Elsaesser: American Graffiti und Neuer Deutscher Film – Filmemacher zwischen Avantgarde und Postmoderne. In: Andreas Huyssen und Klaus R. Scherpe: Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels. Reinbek bei Hamburg 1986. S. 302-328, hier S. 307. 45 Vgl. u. a. Richard Allen, der mit seinem Konzept “projektiver Illusionierung” an Baudrys und Metz’ Parallelisierung des Wahrnehmungserlebnisses Kino mit Traumbzw. Tagtraumzuständen festhält, aber darauf insistiert, dass das Imaginierte nicht als real wahrgenommen wird. Richard Allen: Projecting Illusion. Film Spectatorship and the Impression of Reality. Cambridge, New York 1995. 46 Heute findet der Kinobesuch gerade in der Erwartung statt, im Kontrast zur alltäglichen Fernseh- und Computerwelt dem ‘Artefakt’ des Films begegnen zu können.
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darzustellen vermochte. Erst die narrative Verbindung der Einstellungen erzeugte einen logischen Zusammenhang und schuf den Kontext, in dem das Repräsentierte Sinn erhielt. Wenn die Fotografie die Erzählung ‘beschädigte’, so heilte die Kette filmischer Signifikationen solche ‘Defizite’ nicht nur, sie schuf darüber hinaus ihr eigenes Sinn- und Ausdrucksuniversum, indem jedes Glied dieser Kette auf ein anderes verwies. Die Effekte des Identischen begründen sich in dieser Kette, indem der Zuschauer in der Blickstruktur des Kinodispositivs als Subjekt in die Signifikationen einbezogen wird, ebenso wie sich aus dieser Kette die Effekte des Realen begründen. Es ist der altbekannte Mechanismus von Metonymie und Metapher (welcher nach Roman Jakobson jeder Sinn-Konstitution eines poetischen oder literarischen Textes zugrunde liegt und nach Lacan der symbolischen Ordnung überhaupt), der nun im Erzählkino mit ‘wirklichen’ Bildern aufgeladen wird und ein Sinn- und Bedeutungskontinuum schafft, das in sich unhintergehbar ‘wahr’ ist.47 Insofern macht es Sinn, wenn Jacques Aumont in Bezug auf die Verwendung von close-ups in Griffith’ Filmen nicht nur von einem “Exzess” der “Repräsentation”, sondern auch des “Schreibens” spricht. Im Kontext der zeitgenössischen filmischen Wahrnehmungskonventionen lenkten die Nahaufnahmen die Aufmerksamkeit des Zuschauers in einer geradezu brutalen, “obszönen” Weise, und zudem führten sie eine rhetorische Figur der Montage ein, die außerhalb der gewohnten kausalen Kette lag.48 Es macht Sinn, – wie Thomas Elsaesser und Adam Barker – in Bezug auf die Montagetechnik Griffith von einer “Orgie des Metaphorischen” zu sprechen.49 Denn in der Parallelmontage und mit der inszenatorischen Macht über den Raum in der Zeit war alles miteinander zu verbinden: Gefängnismauern wandeln sich zu blühenden Wiesen, auf vormaligen Schlachtfeldern spielen Kinder, dem Blick auf das Elend der Daheimgebliebenen folgt das 47
Der Realitätseindruck des Kinos ist in verschiedenster Weise begründet worden. Zeichentheoretisch etwa durch Ecos Vorschlag, einen dreigliedrigen kinematographischen Code anzunehmen, psychologisch als double-knowlegde-Struktur. Für den Realitätseindruck wie die Kinolust ist jedoch immer grundlegend, dass die eingesetzte Technik für den Zuschauer ‘unsichtbar’ bleibt. So setzt das Wissen, im Kino zu sitzen, nicht den Effekt außer Kraft, dem illusionierten Geschehen gleichsam unvermittelt zu begegnen. Vgl. Umberto Eco: Einige Proben: Der Film und das Problem der zeitgenössischen Malerei. (1968) In: Texte zur Theorie des Films. Hg. von Franz-Josef Albersmeier. Stuttgart 1979. S. 308-323. 48 Jacques Aumont: Griffith, the Frame, the Figure. In: Early Cinema. Hg. von Thomas Elsaesser. S. 348-359, hier S. 356. 49 Thomas Elsaesser, Adam Barker: The Continuity System. Griffith and Beyond. Introduction. In: Early Cinema. Hg. von Thomas Elsaesser. S. 293-317, hier S. 302: “Griffith’s cinema is a kind of orgy of metaphor: everything can be combined with everything else, stand for everything else, rhyme with everything else.”
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Bild marschierender Soldaten. Die Kette metaphorischer Substitutionen, die Griffith’ Film eröffnete, ist nicht mehr abschließbar. In der Geschichte der Medien wird der narrative Film inzwischen als eine Art Übergangsmedium gesehen: zwischen der Mimesis des Theaters und der Simulation der sogenannten Neuen Medien.50 Film knüpft immer noch an das Vermögen an, nachzuahmen, ohne jedoch auf der Differenz von Modell und Wirklichkeit zu insistieren. Er zielt vielmehr durch sein Dispositiv, wie in rudimentärer Form schon das Panorama, auf eine Aufhebung der Grenze zwischen Nachahmung und Nachgeahmten, auf das, was etwa Jean Baudrillard “Simulation” oder “Verdoppelung” von Wirklichkeit genannt hat.51 Für Griffith war das technische Vermögen des Films keine Frage von Simulation in einem heutigen Verständnis. Der Film verdoppelte nicht Wirklichkeit oder konstituierte im Sinne Deleuze’ eine eigene Welt; er war das Reale. “The Biograph camera doesn’t lie”, insistierte Griffith. “The motion picture is what technique really means, a faithful picture of life.”52 Dieses Pathos des Wirklichen richtete sich dabei gleichermaßen auf das Medium wie im Fall von Birth of a Nation auf die Geschichte, die erzählt wurde: die Wiedergeburt der Nation aus ihrer Vereinigung gegen das bedrohlich Andere, die Schwarzen. Solche Geschichtskonstruktion war zweifach abgesichert: durch die literarische Vorlage, Thomas Dixons The Clansman, und durch Thomas Woodrow Wilsons History of the American People, auf die legitimierend in Zwischentiteln des Films hingewiesen wird. Und sie hatte einen durchaus aktuellen Anlass. Durch die verstärkte Immigration aus Süd- und Osteuropa stand für viele Konservative die Einheit der Nation auf dem Spiel, sodass eine Geschichtskonstruktion, die sich auf die Reinheit und den Führungsanspruch der angelsächsischen Rasse, der Arier, in Gestalt der Clansmen berief, tatsächlich eine übergreifende Einigungsformel bot, sofern nur das rassisch grundlegend Andere als bedrohlicher Störenfried auszumachen war. Birth of Nation zeigte, wie der zivilisatorische Anspruch zu retten war. Es war ein Antikriegsfilm, der auch in seinen Zwischentiteln die Schrecken des Krieges immer wieder anklagte (“Dare we dream of a day when bestial war shall rule no more?”), und zugleich setzte er mit den Befreiungstaten der Clansmen jenen “world crusade to end all war” in Szene, den Woodrow Wilson bald darauf propagieren sollte.53 50
Vgl. Götz Großklaus: Medien-Zeit. Medien-Raum. Zum Wandel der raumzeitlichen Wahrnehmung in der Moderne. Frankfurt/M. 1995. S. 123ff. 51 Jean Baudrillard: Agonie des Realen. Berlin 1978. 52 David Wark Griffith zit. nach Michael Rogin: “The Sword Became a Flashing Vision”: D.W. Griffith’s The Birth of a Nation. In: Representations. Volume 0. Issue 9. Winter 1985. S. 150-195, hier S. 157f. 53 Nach Aussage von Thomas Dixon soll Woodrow Wilson, nachdem er den Film 1915 im Weißen Haus gesehen hatte, begeistert gewesen sein: “It is like writing
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Der Wahrheitsanspruch begründete sich durch die eschatologische Gewissheit, aber er wurde auch in einem Zirkelschluss an die Möglichkeiten des neuen Mediums rückgebunden. Der Film war deshalb die Wirklichkeit, weil er eine unverbrüchliche geschichtliche Wahrheit darstellte und weil er diese Wahrheit als wirkliches Geschehen zeigte. Griffith’ Bemühen um Authentizität in der Wahl der Handlungsorte54 war nicht nur eine Beglaubigungsstrategie, sondern es war an die Überzeugung gebunden, die historische Wirklichkeit ‘realer’ als jedes Buch oder Bühnenstück zeigen zu können. “We’ve gone beyond Babel, beyond words”, sagte er 1914. “We’ve found a universal language – a power that can make men brothers and end war forever.”55 Der Film substituierte für Griffith die Wirklichkeit in einem emphatischen Sinne: als Simulation mit unbedingtem Wahrheitsanspruch und universeller Geltung. Die Parallelmontage sicherte dabei nicht nur die imaginäre Herrschaft über den Raum in der Zeit, sie war auch an eine Raumkonstruktion gebunden, die in ihrer Semantik vom Sieg der Wahrheit kündete. Sind bei den Kampfszenen im ersten Teil des Films Nord- und Südstaatler in ihren blauen bzw. grauen Uniformen kaum voneinander zu unterscheiden und ist hier das Schlachtfeld ein gemeinsamer Ort der Bewährung und des Opfers, so wird die Differenz der Gegner im zweiten Teil umso deutlicher herausgearbeitet. Das Chaos des schwarzen Mobs kontrastiert mit den weißgewandeten Rittern auf ihren Pferden, die in dynamischer Bewegung den Raum durchqueren. Die Orte, an denen die Schwarzen ihr Unwesen treiben, und die Landschaften, die die Clansmen durcheilen, bleiben bis zur finalen Rettung distinkt. Statt des Schlachtgetümmels aus Bürgerkriegszeiten, gibt es nun die Herrschafts- und Distanzgeste des Schwertes. Und die Nahaufnahmen zeigen keine Leidensszenen mehr, sondern unterstützen den Eindruck von Dynamik und Stärke. Differenz wird hergestellt: dynamisch durchquerter Raum vs. chaotisch gefüllter Raum, weiß vs. schwarz, das Schwert vs. animalische Instinkte. Und dann ertönt auch noch Wagners Walkürenritt aus dem Orchestergraben, wenn die weißen Retter zur endlichen Befreiung antreten!56
history with lightning and my only regret is that is all so terribly true.” Zit. nach Rogin: “The Sword Became a Flashing Vision” (Anm. 52). S. 151. 54 Das Bemühen um historische Genauigkeit bezog sich nicht nur auf das Aussehen Lincolns oder das historische Arbeitszimmer des Präsidenten als Aufnahmeort. Bei der Attentatsszene wird im Ford-Theater auf der Bühne das gleiche Stück gespielt wie in der historischen Mordnacht und genau die Szene gewählt, in der Booth tatsächlich Lincoln erschossen hatte. 55 Zit. nach Rogin: The Sword Became a Flashing Vision (Anm. 52). S. 185. 56 Die Orchesterpartitur für Birth of a Nation von Joseph Carl Breil ist überliefert. Sie enthält mehr als ein Dutzend Leitmotive und gilt als früher Höhepunkt der
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Es war ein mitreißendes emotionales Muster, das Griffith mit der Parallelmontage im zweiten Teil von Birth of a Nation verwirklichte. Die Rettung als Höhepunkt der Handlungsstränge stellte Eindeutigkeit wieder her. Das Gute siegte über das Böse in Gestalt einer Erlösungsvision, die von Klarheit und Reinheit kündete. Keine die Kombattanten nivellierende Feldschlacht modernen Musters mehr, sondern das Schwert, das die Differenz wieder herstellte, indem es in einer allerdings zensierten Sequenz das bedrohlich Andere von seinem bevorzugten Signifikanten trennte.57 Die Parallelmontage zielte auf das Finale. Und es ist vielleicht kein Zufall, dass gerade jener Film, der das continuity-editing perfektionierte und die kinematographische Diegese wesentlich mitbegründete, die Finalkonstruktion zu einer verheißungsvollen Gründungs- wie Endzeitvision nutzte. Geschichte, wie sie ‘wirklich’ war, wurde herstellbar. V. Ausblick Birth of a Nation reiht sich in die apokalyptischen Erzählungen und Erwartungen im Vorfeld des Ersten Weltkrieges ein. Zudem bot der Film ein Muster, das neu zu besetzen war. Die weibliche Unschuld als Inkarnation der Reinheit bedrohten immer schon Barbaren. Und was als das jeweils Andere zu definieren ist, hängt auch von der zeitgeschichtlichen Konstellation ab. “What we film tomorrow will strike the hearts of the world and end war forever”: Das war noch während der Arbeit an Birth of a Nation gesprochen.58 Der Film, der den Titel Hearts of the World (1918) erhielt, wurde in der relativ kurzen Phase des amerikanischen Engagements zum erfolgreichsten Kriegsfilm seiner Zeit.59 Doch das eschatologische Erlö-
Stummfilmmusik. Der Film wurde mit der Partitur für ein vierzigköpfiges Orchester ausgeliehen. 57 Obwohl sie zu dem zensierten Material gehörte, gibt es genaue Beschreibungen dieser Schlüsselszene aus frühen Filmbetrachtungen. Der schwarze Hausbediente Gus, der mit seinen sexuellen Avancen die “kleine Schwester”, Flora Cameron, in den Tod treibt, wird von den Clansmen gestellt und zu dem Donnerkrachen aus dem vierten Satz von Beethovens Pastorale durch das Schwert kastriert: Alternierend ist das immer wieder niederfahrende Schwert und Gus’ entsetztes Gesicht zu sehen. Zensiert wurden ferner einige allzu deutliche sexuelle Attacken auf weiße Frauen, der Zwischentitel mit einem Lincoln-Zitat, in dem er sich gegen die Rassengleichheit ausspricht, und selbstverständlich die berüchtigte Lösung der Rassenfrage: die Verschiffung der Schwarzen nach Afrika am Ende des Films. 58 Zit. nach Rogin: The Sword Became a Flashing Vision (Anm. 52). S. 187. 59 Obwohl ebenfalls 1918 fertiggestellt, hatte Shoulder Arms, Charlie Chaplins Satire auf den Grabenkrieg, erst nach dem Ende des Krieges seine größten Zuschauerzahlen.
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sungsmuster, den Krieg, der alle Kriege beendete, noch einmal in Szene zu setzen, gelang nicht.60 Dennoch markieren Filme wie Birth of a Nation, Intolerance oder Hearts of the World, dass fortan Wirklichkeit in einer neuen Weise herstellbar war. Mit der Entwicklung des continuity-editing war ein Schema etabliert, das dem Zuschauer nicht nur eine zuvor unbekannte Illusion lieferte, sondern ihn reorientierte. Die Dezentrierung der Wahrnehmung im Kino wurde kompensiert durch eine imaginäre Subjektposition. Daran sollten auch jene Montageformen nichts ändern, die – wie die des russischen AvantgardeKinos – mit den ‘organischen’ Prinzipien Griffith’ konkurrierten. Die Schemata wurden elaborierter, die Formen der Repräsentation nach und nach perfekter. Der Erste Weltkrieg beschleunigte die Industrialisierung des Films, der sich als neues Leitmedium durchsetzte. Zugleich vollzog sich auf den Schlachtfeldern die Medialisierung der Sinne in einem bis dahin nicht bekannten Maß. Auge, Fernglas und Gedächtnis wurden durch Teleobjektiv und Filmkamera funktional erweitert. Licht- und Schallmessverfahren substituierten Auge und Ohr, während letzteres bei der Befehlsübermittlung an den Telefonhörer gebunden wurde.61 Mit dem Ersten Weltkrieg war die Krise der Repräsentation überwunden. Der Beobachter war endgültig in der Moderne angekommen. Fortan werden Re-Inszenierungen und RealInszenierungen von Schlachtfeldern unter verwandten Bedingungen stattfinden. Wenn in den zwanziger Jahren Walter Benjamin oder Ernst Jünger das Kino als angemessener Ort für ein Apperzeptionstraining unter den Bedingungen der Gegenwart erscheinen wird, so markiert auch dies nur ein Durchgangsstadium. Die Arbeit an den Sinnen war längst nicht abgeschlossen. 60
Hearts of the World ist in vieler Hinsicht ein Remake von Birth of a Nation. Statt der Schwarzen bedrohen nun die Deutschen die Zivilisation, indem sie französische Mädchen vergewaltigen – Szenen, die den zensierten Vorbildern aus Birth of a Nation folgten und nach dem Waffenstillstand auch aus Hearts of the World entfernt wurden. Der Plot basiert auf einem vergleichbaren Familienschema und selbst die Schauspieler aus Birth of a Nation tauchen nun in verwandten Rollenkonzepten wieder auf. Aber die amerikanischen Freiwilligen, die zur Rettung Europas eilen und das Schlusstableau des Films bevölkern, vermögen nicht mehr wie einst der Ritt des Ku-Klux-Klans von einer transzendenten Ordnung zu künden. Für dieses merkwürdige Unvermögen, noch einmal Differenz und Eindeutigkeit herzustellen und die Rettungsbotschaft plausibel zu machen, sind die verschiedensten Gründe angeführt worden. Es mag an den Plotstrukturen liegen oder auch an einer angesichts der Realität an der Westfront gewachsenen Skepsis gegenüber der Heilsbotschaft euro-amerikanischer Werte geschuldet sein. 61 Vgl. Stefan Kaufmann: Kommunikationstechnik und Kriegsführung 1815–1945. Stufen telemedialer Rüstung. München 1996. S. 170-261.
Jürgen Wilke
Krieg als Medienereignis Zur Geschichte seiner Vermittlung in der Neuzeit Wars are much older than the mass media of modern times. However, since mass media have emerged, military conflicts have become an important topic so that wars occuring in reality became media events, too. The coverage and means of presenting warfare in the media have changed in the course of history. This is what this article describes, starting with the non-periodical information sheets in the 16 th century. The newspapers in the 17 th and 18 th century were full of war news and they dominated the news then even more than later. All the new media that followed did contribute to shape wars as media events: photography from the 19 th century, radio and television in the 20 th century and the internet which has created “cyberwars”.
I. Vorbemerkungen Für die Menschen in Mitteleuropa liegen eigene Kriegserfahrungen inzwischen glücklicherweise mehr als ein halbes Jahrhundert zurück; ja der größte Teil von ihnen, jene, denen – wie man so schön sagt – die ‘Gnade der späten Geburt’ zuteil wurde, haben dergleichen nie am eigenen Leibe erlebt. Im ‘Kalten Krieg’ blieb der ‘heiße’ Krieg lediglich eine (Be-)Drohung. Allerdings hat es anderswo in der Welt auch in den letzten Jahrzehnten Kriege gegeben, und diese sind Europa wieder näher gerückt, vom fernen Vietnam über den Nahen Osten bis zum Balkan, wo das ehemalige Jugoslawien in heftigen bewaffneten Konflikten zerfiel.1 Was man darüber weiß, hat man in aller Regel jedoch nicht selbst beobachtet, sondern durch die Medien der Massenkommunikation erfahren. Für die weitaus meisten Menschen zumindest hierzulande ist der Krieg mithin ein “Medienereignis” geblieben. Das ist nicht so misszuverstehen, als ob der Krieg kein reales Ereignis darstellte, was angesichts moderner militärischer Zerstörungspotenziale ein unerhörter Zynismus wäre. Aber die Rede vom “Medienereignis” unterstellt, dass der durch Presse, durch Hörfunk und insbesondere Fernsehen vermittelte Krieg etwas anderes ist als der reale Krieg. Und doch sind beide gerade heute nicht (mehr) getrennt voneinander zu sehen.2 1
Vgl. Mira Beham: Kriegstrommeln. Medien, Krieg und Politik. München 1996. Vgl. dazu generell Martin Löffelholz: Krieg als Medienereignis. Grundlagen und Perspektiven der Krisenkommunikation. Opladen 1993; Jürgen Wilke: Krieg als Medienereignis – Konstanten und Wandel eines endlosen Themas. In: Medien und Krieg – Krieg in den Medien. Hg. von Kurt Imhof und Peter Schulz. Zürich 1995. 2
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Zwar ist der erstere eine Folge des letzteren und setzt diesen voraus, doch greift er durch die mediale Präsentation auch in diesen ein und wird ein Teil desselben. Dies erklärt, warum Waffengänge heute mit einem aufwändigen Informationsmanagement begleitet werden. Von dem israelischen Politiker und Friedensnobelpreisträger Shimon Peres wird sogar der Satz überliefert: “Heute gewinnt oder verliert man einen Krieg im Fernsehen und nicht mehr auf dem Schlachtfeld. Die Stärke der Armee ist heute nicht mehr der entscheidende Faktor”.3 Mag man hiervon auch einiges an pointierter Übertreibung abziehen, so ist diesem Satz, in Anbetracht der heutigen medialen Aufmachung von Kriegen, eine gewisse Plausibilität nicht zu bestreiten. Dabei sind wir geneigt, darin etwas spezifisch Neues der Mediengesellschaft(en) in der Gegenwart zu sehen. Wohl ist (sind) diese durch eine historisch einzigartige Omnipräsenz der Kommunikationsmedien ausgezeichnet, die sich auch auf die Wahrnehmung von Kriegen auswirkt. Aber bevor man diese Einzigartigkeit als selbstverständlich nimmt, sollte ein Rückblick in die Mediengeschichte zeigen, wie es sich denn früher mit der Darstellung von Kriegen als Medienereignissen verhielt. Dies wird im folgenden Beitrag geschehen. II. Frühe Druckmedien Kriege sind älter als die neuzeitlichen Massenmedien. Mithin wurden Nachrichten über sie schon übermittelt, bevor es die letzteren gab. Zum Mythos wurde in der Antike der Läufer, der 490 v. Chr. die Meldung vom Sieg über die Perser in der Schlacht von Marathon nach Athen überbrachte und dies (der Überlieferung nach) mit dem Leben bezahlte. Erst mit der Erfindung der Drucktechnik durch Johannes Gutenberg Mitte des 15. Jahrhunderts bot sich jedoch die Möglichkeit, Informationen auch einer größeren Zahl von zumal räumlich verstreuten Empfängern, also einem dispersen Publikum, zugänglich zu machen. Seitdem es derartige Informationsmedien gibt, bildeten Kriege tatsächlich immer eines ihrer vorrangigen Themen. Und dies lag aufgrund des Nachrichtenwerts solcher Ereignisse für die Menschen auch nahe. Bereits das erste Druckwerk, in dem wir 1502 dem Begriff “Zeitung” begegnen, die Newe Zeytung von orient und auff gange, schilderte die (allerdings bereits zwei Jahre vorher erfolgte)
S. 21-35; The Media and the Military. From the Crimea to Desert Strike. Hg. von Peter Young und Peter Jesser. Houndsmills u. a. 1997. 3 Vgl. Dietmar Schulz: Bilder als Waffe. In: ZDF-Jahrbuch 2000. Mainz 2001. S. 88-91, hier S. 88.
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Eroberung der Insel Lesbos durch Venezianer und Franzosen.4 Aber schon davor gab es Nachrichtendrucke, die von dem italienischen Feldzug des französischen Königs Karls VIII. kündeten, durch den dieser 1494/95 den Anspruch des Hauses Anjou auf Neapel durchzufechten suchte.5 In der Gattung der noch unregelmäßig erscheinenden, ereignisbedingt hergestellten “Newen Zeytungen” war das Thema Krieg vorherrschend. Eine Auswertung von 1254 Exemplaren aus den Jahren 1515 bis 1662 zeigt Folgendes:6 In 911 von ihnen (= 73 %) ging es um Politik und Militär. Vier Fünftel der politischen Nachrichten bezogen sich auf kriegerische Auseinandersetzungen, militärische Vorhaben und Truppenbewegungen. Schwerpunkte bildeten der Schmalkaldische Krieg (1546/47), insbesondere die Schlacht bei Mühlberg an der Elbe (24. 4. 1547), in welcher der Kaiser den protestantischen Kurfürsten von Sachsen besiegte; ferner der Krieg um Livland zwischen Russen und Polen sowie Schweden (1558–1582), die Hugenottenkriege in Frankreich (1562–1598) und die militärische Konfrontation mit dem Expansionsdrang des Osmanenreichs nach Europa im 16. Jahrhundert. Die Vielzahl der “Turcica” bildete gleichsam eine eigene Teilgattung.7 Die Mehrzahl dieser ein- bis mehrseitigen Druckwerke schilderte die jeweiligen Ereignisse in Worten, doch gab es auch solche, die bebildert waren. Hierdurch wurden gewissermaßen optische Eindrücke von Kriegsereignissen vermittelt. Ein schönes Beispiel dafür ist die 1576 in Nürnberg gedruckte “Warhafftige und erschreckliche Newe Zeytung”.8 Sie vermeldete in Text und Bild die im Februar des Jahres in Temesvar in Ungarn vorgefallene Sprengung einer Festung, die sich seit 1552 in türkischer Hand befand. Angeblich hatte ein dort eingekerkerter Christ Zentner von Pulver entdeckt, worauf er dieses anzündete und damit sich selbst sowie seine Mitgefangenen und Besatzer in die Luft jagte. Weder die Einzelheiten der Geschichte noch 4
Vgl. Hans H. Bockwitz: Newe zeytung von orient und auff gange. Faksimiledruck eines zeitgeschichtlichen Dokuments aus dem Jahre 1502 mit Begleitwort. Leipzig 1920. 5 Vgl. Walter Hagemann: Nachrichtendrucke der Inkunabelnzeit. Der italienische Feldzug Karls VIII. 1494/95. In: Publizistik 4 (1959). S. 67-78. 6 Vgl. Kristina Pfarr: Die Neue Zeitung. Empirische Untersuchung eines Informationsmediums der frühen Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung von Gewaltdarstellungen. Diss. Mainz 1994. S. 124ff. 7 Vgl. Carl Göllner: Turcica. Die europäischen Türkendrucke des XVI. Jahrhunderts. 2 Bde. Bucuresti, Baden-Baden 1961-1968. Bd. 3: Die Türkenfrage in der öffentlichen Meinung Europas im 16. Jahrhundert. Bucuresti, Baden-Baden 1978. 8 Vgl. Wunderzeichen und Winkeldrucker 1543–1586. Einblattdrucke aus der Sammlung Wikiana in der Zentralbibliothek Zürich. Hg. von Bruno Weber. Dietikon-Zürich 1972. S. 110ff. Vgl. auch in vorliegendem Band die Abb. 4.1, Newe Zeytung aus dem Türkenkrieg 1576.
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die Illustration darf man aber für authentisch halten. Der Schreiber und der Buchmaler waren gewiss nicht selbst Zeuge des Ereignisses gewesen. Darauf kam es hier nicht unbedingt an. Der Holzschnitt hält gleichwohl auf prägnante Weise den entscheidenden Moment fest, in dem die Festung explodierte. Solchermaßen wurden – wenngleich fiktive – visuelle Vorstellungen vom Krieg erzeugt und “massenhaft” verbreitet. In der herkömmlichen Genealogie neuzeitlicher Druckmedien wird an den Messrelationen, die seit 1583 nachgewiesen sind, der Übergang zur Periodizität festgemacht. Sie kamen (halb)jährlich zu den Messen in einer ganzen Reihe von Handelsstädten heraus (Köln, Frankfurt, Leipzig u. a.) und fassten wichtige Neuigkeiten, die sich mittlerweile ereignet hatten, zusammen. Ihr Umfang belief sich im Durchschnitt auf hundert Seiten. Kaum überraschend ist, dass auch in den Messrelationen Kriegsnachrichten einen beträchtlichen Teil ausmachten. Von 111 Berichten in Thobias Stegers “Unpostreuterischen Geschicht-Schrifften” (Straßburg 1590) handeln allein 62 von Truppenaufmärschen und Kriegshandlungen.9 Und in der ältesten (erhaltenen) Monatszeitung, die aus dem Jahr 1597 überliefert ist (“Annus Christi”, auch sog. Rorschacher Monatsschrift), war viel von dem gegenreformatorischen Kriegszug Philipps II. von Spanien und von den Türkenkriegen zu lesen.10 Immer wieder ist von Belagerungen, Scharmützeln, von Angriffen und Verteidigung, von Plünderungen und Einnahmen die Rede. Auch die Aufrüstung für den Seekrieg – Briten und Spanier bestückten ihre Armadas – ist ein Gegenstand. Typisch ist (und bleibt lange Zeit) die nüchterne, protokollartige Wiedergabe des Geschehens. Dafür ein Beispiel: Was nun die Statt Amiens betreffen thut / ist dieselbig in diesem Monat / hart Belaegert / beschossen / gestürmet / und ein guter theil der Vöstung eingenommen worden / in welchem stürmen der Governator zu Amiens Don Ernando de Pont Carrera, einen Schuß empfangen darvon er gestorben / und sein stell mit einem Italianer ersetzt worden. (Sept. 1597)
III. Zeitungen im 17. Jahrhundert Der sich schon am Ende des 16. Jahrhunderts abzeichnende Übergang zu immer kürzeren Erscheinungsintervallen setzte sich fort und mündete nach der Jahrhundertwende in den ersten Wochenzeitungen. Von zweien sind die Jahrgänge 1609 erhalten: dem “Aviso” (aus Wolfenbüttel) und der “Relation” (aus Straßburg), die jedoch bereits 1605 erschienen sein muss. Durch diese Organe erhielt die (Kriegs-)Berichterstattung eine zuvor nicht vorhandene Kontinuität, d. h. jetzt konnte ein entsprechendes Geschehen fortlau9
Vgl. Klaus Bender: Eine unbekannte Messrelation. In: Wolfenbütteler Notizen zur Buchgeschichte IV (1979). S. 346-365, hier S. 349. 10 Vgl. Annus Christi. Neudruck Walluf, Nendeln 1977.
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fend berichtet und verfolgt werden. Jeweils knapp ein Fünftel des Inhalts beider Zeitungen war 1609 militärischer Natur.11 Darunter handelten wiederum knapp ein Viertel von militärischen Zusammenstößen, rund die Hälfte von Vorbereitungen hierzu. Neben den Waffenstillstandsverhandlungen im Unabhängigkeitskampf der Niederlande bildete 1609 der JülichKlevische Erbfolgestreit einen der vier Ereignisschwerpunkte der Zeitungsberichterstattung. Aber auch die Türkengefahr im Südosten des Reiches war weiterhin ein Thema. Dass sich das Zeitungswesen in Deutschland seit den zwanziger Jahren des 17. Jahrhunderts rasch ausbreitete, ist vor allem durch den Dreißigjährigen Krieg zu erklären. Durch ihn manifestierte sich auf breiter Front, dass Kriege einen großen Informationsbedarf erzeugen und das Rezeptionsverhalten der Menschen stimulieren. Das gilt bis in die jüngste Gegenwart, und zwar umso mehr, je stärker man selbst durch einen Krieg bedroht und betroffen ist.12 Allerdings ist diese Wirkung ambivalent, denn wirtschaftliche Not, die Kriegen in den davon betroffenen Ländern häufig auf dem Fuße folgt, schmälert die Herstellung und den Absatz von Informationsmedien. Deshalb nahm die Zahl der Zeitungen mit der Kriegsdauer in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts zeitweise wieder ab. Nichtsdestotrotz blieb der sich im Reichsgebiet konzentrierende Krieg, der später der Dreißigjährige genannt wurde, das bevorzugte Thema der gedruckten Zeitungen. Darin schlug sich zwangsläufig die Art der damaligen Kriegsführung nieder. Diese stützte sich noch auf zahlenmäßig begrenzte (Söldner-)Heere. Die Einführung von Feuerwaffen führte zu neuen Befestigungs- und Belagerungsstrategien, Schlachten (zumal entscheidende) kamen selten vor, und auch die Verluste blieben, von spektakulären Fällen abgesehen, noch in Grenzen.13 Damit hing die oft lange Kriegsdauer zusammen. Infolge dessen brachten die Zeitungen Meldungen über ein endloses Hin und Her von Truppenbewegungen und Militäraktionen. Jahreszeitlich bedingt, wurde nur von Frühjahr bis Herbst gekämpft, danach zogen sich die Armeen in die Winterlager zurück. So entstand in der Berichterstattung ein ‘Winterloch’, weil durch die monatelange Einquartierung der Anfall von Kriegsnachrichten nachließ. Nicht unerwähnt lassen darf man, dass im Dreißigjährigen
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Vgl. Thomas Schröder: Die ersten Zeitungen. Textgestaltung und Nachrichtenauswahl. Tübingen 1995. S. 121ff. 12 Vgl. Christiane Imhof: Fernseh- und Radionutzung in politischen Krisenzeiten. In: Radioperspektiven. Strukturen und Programme. Hg. von Christof Barth und Christian Schröter. Baden-Baden 1997. S. 231-238. 13 Vgl. Geoffrey Parker: Die militärische Revolution. Die Kriegskunst und der Aufstieg des Westens 1500-1800. Frankfurt/M., New York 1990.
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Krieg Nachrichten auch schon propagandistisch eingesetzt wurden.14 Dadurch wurden Feindbilder kreiert. Nicht grundlos haben Historiker diesen daher neuerdings zum “Medienereignis” deklariert.15 Mit dem Westfälischen Frieden von 1648, der die politische Ordnung in Europa neu festlegte und ein erschöpftes Deutsches Reich hinterließ, endeten die militärischen Konflikte in Europa keineswegs. Diese lieferten auch weiterhin den wesentlichen Stoff für die Zeitungen. 1652–1654 kam es zum ersten, 1665–1667 zum zweiten englisch-holländischen Krieg, in denen die Kontrahenten mit ihren Verbündeten um die Vormacht im Seeverkehr stritten. 1667 marschierte Ludwig XIV. mit seinen Truppen in den Spanischen Niederlanden ein und eröffnete den so genannten Devolutionskrieg. Im Frieden von Aachen 1668 dort zunächst nur mit Grenzbefestigungen versehen, unternahm Ludwig XIV. 1672 einen neuerlichen Anlauf und löste den Holländischen Krieg aus, der sich bis 1678/79 hinzog. Wieder waren auch die anderen europäischen (Groß-)Mächte involviert, unter anderem Brandenburg, das 1675 in der Schlacht bei Fehrbellin die schwedische Armee schlug, was den Nordischen Krieg nach sich zog. Weitere Materie lieferte der (zweite) Türkenkrieg, in dem die Osmanen bis vor Wien gelangten und erst nach der Schlacht von Kahlenberg 1683 zurückgedrängt wurden. 1688 machte Ludwig XIV. Erbansprüche auf die Pfalz geltend und ließ seine Soldaten dort einmarschieren. Der Pfälzische Krieg wurde nach fast einem Jahrzehnt 1697 im Frieden von Rijswijk beendet. Nach dem Tod des spanischen Königs Karl II. 1700 begann auch das neue Jahrhundert kriegerisch: Von 1701–1714 dauerte der Spanische Erbfolgekrieg. Vor diesem Hintergrund kann es kaum verwundern, wenn der Nürnberger Drucker Felsecker 1673 der neuen Zeitung, die er herausbrachte, den Titel “Teutscher Kriegs Currier” gab (der freilich 1680 in “Wochentlicher Friedens- und Kriegs-Curier” abgeändert wurde). Bei der Dominanz der politisch-militärischen Berichterstattung blieb es jedenfalls.16 Und so ist es nicht überraschend, dass Kaspar Stieler in seinem Buch Zeitungs Lust und Nutz (1695), dem Hauptwerk der ersten Welle zeitungskundlicher Literatur in Deutschland, ein ganzes Kapitel überschrieb mit “Von der Zeitungen Notwendigkeit- und Nutzbarkeit im Kriege”.17 “Dieses ist jetzigen Zeiten”, so 14
Vgl. Göran Rystad: Kriegsnachrichten und Propaganda während des Dreißigjährigen Krieges. Lund 1960. 15 Vgl. Johannes Burkhardt: Der Dreißigjährige Krieg. Frankfurt/M. 1992. S. 225ff: Krieg und Frieden als Medienereignis. 16 Vgl. Jürgen Wilke: Nachrichtenauswahl und Medienrealität in vier Jahrhunderten. Eine Modellstudie zur Verbindung von historischer und empirischer Publizistikwissenschaft. Berlin, New York 1984. S. 124ff. 17 Kaspar Stieler: Zeitungs Lust und Nutz. Vollständiger Neudruck der Originalausgabe von 1695. Hg. von Gert Hagelweide. Bremen 1969. S. 80-93.
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hob er an, “wol vornemlich die gröste Materie der Zeitungen: also / dass klein und groß / jung and alt darinnen zu vernemen verlanget / was zwischen kriegenden Parteyen am Reinstrom / in Flandern / in Piemont / und in Ungarn vorgehe.”18 Stieler bestimmte die Rolle der Zeitung aber weniger hinsichtlich einer allgemeinen Leserschaft als in ihrer Funktion für “mancherley Aemter”: Der “Kriegführende Herr” sollte aus Zeitungen Nachrichten über sein Heer erhalten und damit zur Erteilung von Befehlen instand gesetzt werden! Der General dürfe sich damit jedoch nicht begnügen, er benötige überdies Parteigänger und Spione. Am Hofe hätten Zeitungen der Beratung von Kriegssachen zu dienen. Dagegen benötigten nachrangige Chargen die Zeitungen eigentlich nicht, denn sie müssten Befehlen gehorchen. “Gleichwohl”, so Stieler, “giebt eine Zeitung […] ihnen einen großen Mut und Macht sie beherzt und begierig dergleichen zu erlangen.”19 Ferner argumentiert er, aus Zeitungen könne man Kriegslisten erfahren, ja die Kriegskunst erlernen. Solcherart schreibt Kaspar Stieler der Zeitung bezüglich von Kriegen ausschließlich positive Wirkungen zu. Das gilt sogar für Falschmeldungen, weil “durch erdichtete Zeitungen oft grosse Kriege verhütet / und des andern Schwert in der Scheide gehalten werde”.20 Hier dürfte wie bei vielem anderen eher der Wunsch der Vater des Gedankens gewesen sein. Schließlich vergisst Stieler nicht zu versichern, “dass die Zeitungen bey FriedensTractaten ein grosses beytragen können.”21 Neue Nachrichten von der Front könnten den Verhandlungen eine andere Richtung geben, “also / dass derjenige stärker redet, der den Degen in der Hand hat”.22 Wer im 17. Jahrhundert Zeitung las, der begegnete einer überwiegend kriegerischen Welt. Freilich war dazu nur ein Bruchteil der damals lebenden Bevölkerung überhaupt in der Lage, und zwar jener, der die erforderliche Bildung besaß. Sofern jemand darüber nicht verfügte, konnte er indessen mittels Vorlesen erfahren, was in der Zeitung stand. Gleichwohl blieb die Reichweite dieses Mediums begrenzt. Die für die dreißiger Jahre des 17. Jahrhunderts nachweisbaren 60 deutschsprachigen Zeitungen dürften – bei durchschnittlich angenommenen 400 Exemplaren – eine Gesamtauflage von 24.000 erzielt haben. Geht man von etwa 10 Rezipienten pro Exemplar aus, so summierte sich das Publikum auf eine Viertelmillion. Das war weit mehr, als andere Druckwerke, Bibel und Kalender einmal ausgenommen, erreichen konnten. Doch blieben aktuelle Informationen für große Teile der Bevölkerung, zumal der auf dem Land lebenden, unzugänglich. Das eigene Miterle18
Ebd. S. 80. Ebd. S. 81. 20 Ebd. S. 85. 21 Ebd. 22 Ebd. 19
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ben von Krieg und Kriegsfolgen übertraf vermutlich bei vielen noch die mediale Sekundärerfahrung. Diese gewann die Oberhand, als sich die Kriegsschauplätze in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts nach außerhalb des Reichsgebiets verlagerten (wohin sie aber in den siebziger und achtziger Jahren wieder zurückkehrten). IV. Zeitungen im 18. Jahrhundert – und danach Im 18. Jahrhundert breitete sich das Zeitungswesen in Deutschland weiter aus. Die Zahl der Titel und der Orte, in denen sie erschienen, nahm zu. Um 1800 gab es dann gut 200 verschiedene Zeitungen. Auch die Durchschnittsauflage wuchs, sodass mit einem Anstieg der Gesamtauflage auf 300.000 Exemplare und der Reichweite auf drei Millionen Menschen gerechnet wird.23 Folglich müsste seinerzeit ein Fünftel der geschätzten Bevölkerung schon zu den Konsumenten der Zeitungen gehört haben. Was diese berichteten, davon erfuhren im 18. Jahrhundert folglich immer mehr Menschen. Doch war das, obwohl sich die historischen Umstände veränderten, nicht viel anderes als zuvor. Vorrangig blieb die politischmilitärische Berichterstattung. Anlässe dafür gab es genug. Im 18. Jahrhundert herrschte auf dem Kontinent nur 16 Jahre lang Frieden (immerhin etwas mehr als im vorherigen Jahrhundert). Bedeutende militärische Konflikte waren nach dem Spanischen Erbfolgekrieg (1701–1714) die beiden Schlesischen Kriege 1740–1742 und 1744 sowie der Siebenjährige Krieg 1756– 1763, in denen sich Preußen und Österreich bekämpften. Bemerkenswert ist, dass Friedrich der Große die Berliner Zeitungen (und später diejenigen in den eroberten Gebieten) gezielt zur eigenen Nachrichtenpolitik nutzte. So ließ er nach dem Sieg bei Mollwitz am 10. 4. 1741 das von ihm selbst stammende “Schreiben eines Vornehmen Königl. Preußischen Officirs”, das als Augenzeugenbericht verfasst war, verbreiten: “Friedrichs Darstellungen hoben sich gegen die übrige, grob zeichnende preußische Kriegsberichterstattung, die von journalistisch nicht versierten Militärs getragen wurde, durch ihre Prägnanz und Courtoisie gegenüber dem unterlegenen Gegner ab.”24 Zum eigenen Vorteil und zum Nachteil der Gegner ließ Friedrich auch späterhin selbst Gerüchte in die Zeitungen einrücken.25 23
Vgl. Martin Welke: Zeitung und Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert. Betrachtungen zur Reichweite und Funktion der periodischen deutschen Tagespublizistik. In: Presse und Geschichte. Beiträge zur historischen Kommunikationsforschung. München 1977. S. 71-99. 24 Vgl. Martin Welke: Das Pressewesen. In: Panorama der friedericianischen Zeit. Friedrich der Große und seine Epoche. Ein Handbuch. Hg. von Jürgen Ziechmann. Bremen 1985. S. 424-436, hier S. 429. 25 Vgl. Hans Jessen: Die Nachrichtenpolitik Friedrichs des Großen im 7jährigen Krieg. In: Zeitungswissenschaft 15 (1940). S. 632-664.
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Nicht nur die europäischen Kriege waren weiter bevorzugter Gegenstand der Berichterstattung, auch einer außerhalb Europas trat in ihr Blickfeld. Der Konflikt zwischen Großbritannien und seinen Kolonien jenseits des Atlantiks wurde mit großem Interesse registriert. Die daraus entspringende Amerikanische Revolution war für den Hamburgischen Unpartheyischen Correspondenten, die auflagenstärkste deutsche Zeitung des 18. Jahrhunderts, über Jahre hinweg das wichtigste Thema. Das Blatt widmete ihm zwischen 1773 und 1783 insgesamt nahezu 120.000 Zeilen.26 Die 1775 einsetzenden militärischen Kampfhandlungen im Unabhängigkeitskrieg der Kolonisten, die sich bis 1781 hinzogen, machten einen wesentlichen Teil des Inhalts der Zeitung aus. Mit einem durch die weite Entfernung bedingten Zeitverzug erfuhren die Leser des HUC von den Truppenbewegungen und dem Stellungskrieg zunächst im Norden und dann im Süden der Kolonien, von den Schlachten bei Lexington, Saratoga, Monmouth und anderswo, sowie von den Begleiterscheinungen, die damit verbunden waren. Erstaunlich ist, wie die Zeitung, gestützt auf verschiedene Quellen, vornehmlich die britische und amerikanische Presse, permanent über den Kriegsverlauf unterrichtete. Dies geschah in dem üblichen nüchternen, protokollartigen Duktus, an dem sich seit dem 17. Jahrhundert nichts geändert hatte. Nur waren die Darstellungen jetzt streckenweise noch detaillierter. Ein kleiner Ausschnitt aus einem längeren Bericht aus britischer Sicht mag dies belegen: Nachdem die Feld-Artillerie und die Batterien gehörig gegen die Plätze aufgestellt worden, wo die 3 Attaquen an der Seite von Kings-Bridge und HarlemCreek geschehen mussten, rückte General-Lieutenant Kniphausen gegen Mittag vor. Er musste ein dickes Gebüsch paßiren, in welchem der Feind sehr vortheilhaft postirt war. Es dauerte einige Zeit, ehe er durchdringen konnte, und sein Corps war lange Zeit dem Feuer von 3 Kanonen ausgesetzt. Sobald dieser Angriff angefangen hatte, kam die leichte Infanterie in Bewegung, und landete unter einem heftigen Feuer von einem Corps Rebellen, das hinter den Büschen postirt lag. Da aber die Unsrigen mit ihrem gewöhnlichen Feuer einen sehr unebenen Berg hinangestiegen waren, ward der Feind bald vertrieben, und die Garde, nebst den Grenadiers und dem 33sten Regimente, landete ohne Gegenwehr. In diesem Augenblick erhielt man Nachricht, dass Lord Percy ein feindliches Außenwerk weggenommen hätte, worauf sogleich dem Oberst-Lieutenant Sterling Befehl gegeben ward, zu landen, und zweyen Bataillons von der 2ten Brigade, ihn zu unterstützen. Dieser fuhr also sogleich mit seinen Boten unter einem heftigen Feuer mit großer Standhaftigkeit fort, und erreichte eine Höhe, die durch einen Trupp Rebellen sehr wohl verteidigt wurde; so bald er aber selbige bestie26
Vgl. Jürgen Wilke: Die Berichterstattung über die Amerikanische Revolution in der deutschen Presse. Untersucht am Hamburgischen Unpartheyischen Correspondenten (1773–1783). In: La Révolution Américaine vue par les périodiques de langue allemande 1773–1783. Actes du colloque tenue à Metz (octobre 1991). Publiés sous la direction de Roland Krebs et de Jean Moes et avec la collaboration de Pierre Grappin. Metz 1992. S. 69-109.
92 gen hatte, machte er 170 Gefangene. Er zog hierauf durch das Eiland, und begünstige Lord Percys Unternehmung auf die feindlichen Linien gegen ihm über.
Eine neuerliche Phase intensiver Kriegsberichterstattung folgte nochmals in den 1790er Jahren wegen der Waffengänge, die im Gefolge der Französischen Revolution stattfanden. Der Hamburgische Unpartheyische Correspondent war wieder voll von solchen Nachrichten von verschiedenen Kriegsschauplätzen, aus den österreichischen Niederlanden und den Generalstaaten, aus dem Breisgau, dem Rheinland, der Pfalz und dem Lothringischen.27 Das wechselnde Kriegsglück bot über Jahre hinweg reichlich Stoff für die Zeitung. Die sogenannten Koalitionskriege, die gegen Frankreich geführt wurden, gingen unmittelbar über in die Kriegszüge, mit denen Napoleon Bonaparte zu Beginn des neuen Jahrhunderts ganz Europa überzog. Nicht nur militärisch, sondern auch publizistisch hatte dieser seine eigenen Maximen. Wie kein Herrscher vor ihm war er von der Notwendigkeit überzeugt, das eigene Agieren und das seiner Armeen durch Einflussnahme auf die Öffentlichkeit zu begleiten. Dies geschah einerseits durch aktive ‘Pressearbeit’. Der General und französische Kaiser verfasste zum Teil selbst “Bulletins”, um seine rühmlichen militärischen Siege sogleich publik machen zu können. Zum anderen restituierte er – zunächst in Frankreich – wieder ein strenges Zensursystem, das auch auf Deutschland ausstrahlte, gestaffelt je nach der bestehenden Abhängigkeit. Erschwert war dadurch eine unabhängige Kriegsberichterstattung in der deutschen Presse. Und erst als und wo sich der napoleonische Druck lockerte, in den Befreiungskriegen 1813/15, konnte zum Ausdruck kommen, welcher Wandel sich im Kriegswesen vollzog: Statt eines Kabinettskriegs, wie im 18. Jahrhundert, wurde jetzt ein Volkskrieg geführt, zu dem der preußische König Friedrich Wilhelm III. seine Untertanen aufgerufen hatte. Sich am Unabhängigkeitskampf gegen die Fremdherrschaft zu beteiligen, wurde zur patriotischen Pflicht, und dies veränderte den Ton auch in der Publizistik. Eigene deutsche Feldzeitungen fanden in ihr ihren Platz. Die erste wurde am 6. 10. 1813 für die preußische Armee gedruckt. V. Auftakt zum modernen Medienereignis im 19. Jahrhundert Was hier bisher dargestellt worden ist – eine intensive Kriegsberichterstattung seit Anbeginn der Presse –, bleibt in ihrer Geschichtsschreibung häufig ausgeblendet. Denn diese datiert deren Anfänge nicht selten erst ins 19. 27
Vgl. Jürgen Wilke: Die Thematisierung der Französischen Revolution in der deutschen Presse. Untersucht am Hamburgischen Unpartheyischen Correspondenten. In: Francia 22/2 (1995). S. 61-99.
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Jahrhundert. Man erfasst damit aber nur den Auftakt zu Kriegen als ‘modernen’ Medienereignissen. Beigetragen hat hierzu vor allem der Wandel der medialen Präsentationsweisen. Doch zur selben Zeit veränderten sich auch Kriegsführung und Kriegswirklichkeit nachhaltig. Zudem breitete sich die Presse immer weiter aus, durchsättigte die Gesellschaft(en), ja stieg zu einer öffentlichen ‘Macht’ auf. Vorbedingung war hierfür die Erhöhung der Zeitungsauflagen (in Deutschland auf ca. 12 Millionen Exemplare am Ende des Jahrhunderts), aber auch die Durchsetzung der Pressefreiheit, die in Deutschland erst relativ spät, nämlich nach der Reichsgründung, 1874, gewährleistet wurde. Der erste zum Medienereignis gemachte Krieg der neueren Geschichte war der auf der Krim 1853–1856, wo Engländer und Franzosen an der Seite der Türkei dem Expansionsstreben des Zarenreichs entgegentraten. Ein von der Londoner Times dorthin entsandter Sonderkorrespondent, William Howard Russell mit Namen, gilt seitdem als der erste moderne Kriegsreporter und als Schöpfer einer eigentlich journalistischen Kriegsberichterstattung.28 In der Tat lieferte er nicht mehr dergleichen wie die bis dahin üblichen registerartigen Militärprotokolle, sondern aus eigener Anschauung wirklichkeitsnahe und temperamentvolle Schilderungen des Kriegsgeschehens. Russell suchte seinen eigenen Platz an der Front, mischte sich unter die Generäle und Soldaten der Armee, verfolgte die großen Schlachten, beobachtete aber auch das Leben unterwegs und in den Lagern. Nicht nur diese Präsenz und die subjektive Erlebnisperspektive des Reporters waren neu. Russell entdeckte vielmehr auch die Schattenseiten des Krieges und schilderte diese mit einer bis dahin nicht gekannten Drastik. Er nahm kein Blatt vor den Mund, wenn es darum ging, auch das Elend und Leid des Krieges zur Sprache zu bringen. Zwei kurze Auszüge aus Russells Kriegsreportagen sollen hier (in deutscher Übersetzung) zitiert werden: der eine zum Beleg seiner persönlichen Erzählweise, der andere, weil darin die Grausamkeit des Krieges beschrieben wird: Meine Lage wurde immer misslicher. Ganz hinten standen die Bagagewagen, aus deren Position man nichts sehen konnte, doch in meiner gegenwärtigen Lage war ich äußerst exponiert. Über meinem Kopf explodierte eine Granate, und mit wütenden Zischen flog ein Splitter an meinem Gesicht vorbei, meinem armen Pony direkt vor die Füße, dass die Erde aufspritzte. In der Nähe sah ich ein leidlich erhaltenes, eingeschossiges Steinhaus mit einem großen Hof, in dem mehrere Heuschober standen, die noch nicht Feuer gefangen hatten. Ich ritt dorthin, band mein Pony fest und betrat das Haus, das übersät war mit zertrümmerten Möbeln, 28
Vgl. Phillip Knightley: The First Casualty. From the Crimea to Vietnam: The War Correspondent as Hero, Propagandist and Myth Maker. New York, London 1975. S. 4ff; Michael Haller: Alles schreiben oder den Mund halten? William Howard Russell, der erste Frontreporter. In: Die Zeit vom 8. 3. 1991. S. 45-47.
94 zerrissenen Papieren, Büchern und Federn und Kissenfüllung und setzte mich ans Fenster. Von dort aus konnte ich die russischen Geschütze sehen und deren Bedienungsmannschaften, deren Gestalten sich deutlich vor dem Hügel abzeichneten und dann wieder in einem aufsteigenden Rauchwirbel verschwanden. Während ich noch dachte, welch furchtbarer Tag dies war, und eine vage Sehnsucht nach der Front niederrang, entlud sich genau über mir ein gewaltiger Donnerschlag, und im selben Moment ging ein Schauer aus zerbrochenen Dachziegeln, Mörtel und Steinen über mir nieder, und das Fenster, an dem ich saß zersplitterte, Teile des Daches fielen herunter, und das Zimmer füllte sich mit Rauch. […] Für die russischen Gefallenen wurden Gemeinschaftsgruben ausgehoben. Unsere Bestattungstrupps beerdigten 1200 Mann. Die gefallenen britischen Soldaten wurden in gleicher Weise begraben. Ihre Musketen und die brauchbaren Teile ihrer Ausrüstung wurden eingesammelt. Es stimmte traurig, zu sehen, wie die Toten von überall herangeschafft wurden, wie die Leute ausschwärmten und die Decken anhoben, die über die Verwundeten gebreitet worden, um zu prüfen, ob die Männer noch lebten oder schon Futter für die Würmer waren, und immer wieder einen Toten in die Löcher warfen, die mit gierig aufgerissenem Mund am Hang lagen, oder aber die armen Geschöpfe bedeckten, denen eine weitere Nacht unbeschreiblicher Qual bevorstand. Der Durst der Verwundeten schien unerträglich, und unsere Männer, Ehre diesen noblen Burschen, gingen herum, um das Leid dieser elenden Kreaturen ein wenig zu lindern, soweit das überhaupt möglich war.29
Derart persönlich gefärbte, ungeschminkte Berichte, die die zerstörerischen Auswirkungen der eingesetzten Artillerie-Waffen schilderten, waren seinerzeit ungewohnt, für die Zeitungsleser ebenso wie für die Militärs und die Politiker, die zuhause für die Kriegsentscheidung verantwortlich waren. Welche Konsequenzen die Anwesenheit des Frontreporters hatte, daran hatten sie anscheinend kaum gedacht, zumal Russell auch die militärische Inkompetenz, das Versagen und die Verantwortungslosigkeit der Armeeführung offen anprangerte. Der Oberbefehlshaber Lord Raglan sah seinen Ruf durch Russell geschädigt, ja dessen Schilderungen der Zustände in der Armee vor Sewastopol waren angeblich der Grund für den Sturz des Kabinetts Aberdeen 1855 in London. Der Krimkrieg stand auch deshalb am Anfang einer neuen Epoche, weil er der erste war, der durch die damals noch junge Fotografie dokumentiert ist. Nach den oben erwähnten illustrierten “Newen Zeytungen” hatte es kaum mehr Bildberichterstattung von Kriegen gegeben. Die Druckgraphik behandelte das Sujet nur selten, bis der Maler Francisco Goya es in seinem Zyklus der Desastres de la Guerra aufgriff. Er klagte darin das Schreckensregiment der französischen Besatzer über die Spanier an, die sich 1808 gegen Napoleon erhoben hatten, tat dies allerdings auf eine künstlerischzeitlose Weise. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konnten dann 29 William Howard Russell: Meine sieben Kriege. Die ersten Reportagen von den Schlachtfeldern des neunzehnten Jahrhunderts. Frankfurt/M. 2000. S. 38, 43.
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aber auch fotografische Aufnahmen von Kriegen hergestellt und veröffentlicht werden.30 Roger Fenton machte solche berühmt gewordenen Aufnahmen von den ‘Helden’ des Krimkriegs, aber er war dort nicht der einzige. Von Beginn an zeigte sich sogleich die Ambivalenz dieses neuen ‘Mediums’: Denn Fenton gab nicht das Grauen des Krieges wieder, sondern die fröhliche Kameradschaft; ihm war bereits ein Hang zur Ästhetisierung eigen. Durch andere Fotografen sind auch Bilder des Schreckens festgehalten worden, Zeugnisse einer ‘Ästhetik der Gewalt’. Bereits tausende von Fotos, in denen diese beiden Tendenzen zutage treten, sind vom Amerikanischen Sezessionskrieg (1861–1865) gemacht worden.31 Obzwar es sich um einen Konflikt zwischen Bürgern desselben Bundesstaats handelte, wurde dieser mit außerordentlicher Erbitterung und hohem militärischen Einsatz ausgetragen. Verlustreiche Schlachten wurden zwischen den Armeen der Nord- und Südstaaten geschlagen, die vielleicht berüchtigste in Gettysburg 1863. Mathew B. Brady baute eine regelrechte Organisation von Photographen auf, denen bestimmte Zonen und Standpunkte zugeteilt wurden. Sie haben mit ihren Kameras Bilder überliefert, die im visuellen Gedächtnis der Vereinigten Staaten gespeichert sind. Neben solchen, die den Krieg fast wie eine Pfadfinder-Expedition erscheinen lassen, stehen solche von den leichenübersähten Schlachtfeldern, die möglicherweise für die Fotos schon arrangiert wurden. Auffallend sind geradezu ikonologische Ähnlichkeiten zu Goyas Kriegsgraphik. Die neuen Mittel, aus Kriegen Medienereignisse zu machen, müssen zuerst an Beispielen außerhalb Deutschlands exemplifiziert werden. Hier bildete man nämlich – um eine militärische Terminologie zu gebrauchen – diesbezüglich eine Nachhut. Zwar nahmen Fotografen 1864 auch schon an den Kämpfen um die Düppeler Schanzen (in Schleswig-Holstein) teil. Doch das waren Einzelfälle mit geringer Ausbeute. Größer war bereits die Zahl der Fotografen beim Krieg zwischen Deutschland und Frankreich 1870/71.32 Sie wurden sogar in einem eigenen, allerdings wenig effektiven Truppenteil zusammengefasst. Bezeichnenderweise gelangte in Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch ein – verglichen mit der Fotografie – eher altertümliches Medium zur Blüte und befriedigte die Schaulust der Menschen: die in Neuruppin hergestellten und massenhaft verbreiteten Bilderbogen. Ihr Erfolg hatte gewiss damit zu tun, dass Fotos noch nicht in publizistischen Medien reproduziert werden konnten, es sei denn, indem sie 30
Vgl. Bodo von Dewitz: “Ich begreife nicht, wo die Photographen bleiben!”. Zur Photographie von Kriegen im 19. Jahrhundert. In: Alles Wahrheit! Alles Lüge! Photographie und Wirklichkeit im 19. Jahrhundert. Hg. von Bodo von Dewitz und Roland Scotti. Amsterdam, Dresden 1996. S. 211-218. 31 Vgl. The Photographic History of the Civil War. 5 Bde. Secaucus (N. J.) 1987. 32 Vgl. Dewitz: Zur Photographie von Kriegen (Anm. 30).
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als Vorlage für Holzstiche oder Lithographien dienten. Eine technische Möglichkeit zu einer brauchbaren Wiedergabe in der Presse bot sich mit chemischen Klischierverfahren erst um die Jahrhundertwende. Bis dahin, ja darüber hinaus lieferten die Bilderbogen nicht nur idyllische Alltagsszenen, sondern bildeten auch zeitgeschichtliche Ereignisse ab.33 Darunter befanden sich Szenen vom deutsch-österreichischen Kriegsschauplatz 1866 sowie aus anderen Teilen der Welt, selbst vom Burenkrieg in Südafrika 1899–1902 und vom Russisch-Japanischen Krieg 1904. Noch im Ersten Weltkrieg wurden solche Bilderbogen produziert. Sie haben zur Popularisierung von Kriegsvorstellungen sicher nicht unerheblich beigetragen. Was die deutsche Presse über den Verlauf des Krieges gegen Frankreich 1870/71 berichtete, stammte aus zwei Quellen. Durch “Amtliche KriegsDepeschen” wurden Vorgänge mitgeteilt, die man offiziell bekannt machen wollte. Zeitungen hatten zudem eigene Kriegskorrespondenten vor Ort. In der Allgemeinen Zeitung brachte der Journalist Karl Stieler seine Erlebnisse den Daheimgebliebenen näher. Dies geschah in einem narrativen Duktus und mit einem Hang zur Idyllisierung. Kein Vergleich mit den Kriegsreportagen, die William Howard Russell auch vom Deutsch-Französischen Krieg wieder für die Times lieferte. Das patriotische ‘Kriegshurra’ war seine Sache nicht. Vielmehr schilderte er bei der Schlacht von Sedan am 1./2. 9. 1870 auch wieder das tödliche Grauen, dem er ins Auge gesehen hatte.34 Der Krieg gegen die Franzosen war für die deutschen Zeitungen ein wichtiges Thema. Aber da ihr Umfang zugenommen hatte und ihr Inhalt vielfältiger geworden war, dominierte die Kriegsthematik die ‘Medienrealität’ nicht mehr dermaßen wie noch im 18. Jahrhundert. Übrigens machte auch das deutsche Militär erstmals seine problematischen Erfahrungen mit der Öffentlichkeit der Kriegsberichterstattung. Noch am Ende des 19. Jahrhunderts kam es zu einem weiteren Krieg, der zum Medienereignis hochgespielt wurde. Die Triebfeder dazu war jetzt die Yellow Press, die amerikanische Sensationspresse, die sich in den Jahrzehnten zuvor herausgebildet hatte und von spektakulären Dramatisierungen lebte. Die Blätter der New Yorker Großverleger, Joseph Pulitzers World und William Randolph Hearsts Journal, versuchten sich dabei zu überbieten und lieferten sich einen Preis- und Auflagenkampf. Hearst heizte dazu auch den außenpolitischen Konflikt um das damals noch von Spanien besetzte Kuba an. Als das amerikanische Kriegsschiff Maine am 15. Februar 1898 im Hafen von Havanna von einer Explosion zerrissen wurde und sank, setzte 33
Vgl. Neuruppiner Bilderbogen. Katalogbearbeitung von Theodor Kohlmann. Berlin 1981. Siehe auch die Illustration in vorliegendem Band Abb. 4.2. Die Mörderische Schlacht bei Silistria – ein Gefecht zwischen Russen und Bulgaren im Jahre 1854 auf einem Neuruppiner Bilderbogen. 34 Vgl. Russell: Meine sieben Kriege (Anm. 29). S. 311ff.
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Hearst eine Kampagne in Gang, unter deren Druck Präsident McKinley zwei Monate später Spanien den Krieg erklärte.35 Die Sensationspresse löste diesen folglich selbst (mit) aus und machte daraus ein Riesenthema, ja es kam sogar der Verdacht auf, Hearst habe bei der Explosion die Hände im Spiel gehabt. Zumindest rühmte er sich, mit seinem eigenen Schiff spanische Kriegsgefangene gemacht zu haben. Die Auflagen der Sensationsblätter stiegen, hunderte von Journalisten waren im Einsatz. Mit dem SpanischAmerikanischen Krieg 1898 traten die Vereinigten Staaten in die Weltpolitik ein. Für Hearst aber war ein anderes Resümee wichtiger: “Die Macht der Zeitung ist die größte Macht in der Geschichte der Zivilisation. Zeitungen bestimmen die öffentliche Meinung. Sie kontrollieren die Gesetzgebung. Sie erklären Kriege.”36 VI. Erster und Zweiter Weltkrieg Der Erste Weltkrieg (1914–1918) war die ‘Urkatastrophe’ des 20. Jahrhunderts. Die inzwischen vorhandene Waffentechnik führte zu Materialschlachten und Opferzahlen ohnegleichen. An diesem Krieg mitschuldig zu sein, ja ihn ‘herbeigeschrieben’ zu haben, ist der Presse später immer wieder vorgeworfen worden. Dies war nicht ganz ohne Grund.37 Der Konflikt wurde nicht nur mit militärischen Mitteln ausgetragen, sondern auch von einer bis dahin einzigartigen Propagandakampagne begleitet. Das galt für alle am Krieg beteiligten Länder. Mit solcher Propaganda wandte man sich deutscherseits zum einen an das Ausland, das befreundete ebenso wie das neutrale und das gegnerische,38 zum anderen war sie nach innen gerichtet, um die Kriegsmoral zu festigen. Alles, was es an Medien gab, wurde hierzu genutzt. Zugleich sollte durch die wieder eingeführte (Militär-)Zensur das Bekanntwerden von Informationen verhindert werden, die dem Feind nützlich sein konnten oder die Bevölkerung verunsicherten. So waren die Zeitungen zur Kriegsberichterstattung 35
Vgl. Bartholomew H. Sparrow: Strategic Adjustment and the U.S. Navy: the Spanish-American War, the Yellow Press, and the 1990s. In: The Politics of Strategic Adjustment. Ideas, Institutions, and Interests. Hg. von Peter Trubowitz, Emily O. Goldman und Edward Rhodes. New York 1998. S. 139-175. 36 Zit. Nach Jens Dehning: “Die größte Macht in der Geschichte der Zivilisation”. Wie der Krieg zwischen Amerika und Spanien die Sensationspresse hervorbrachte. In: Die Welt vom 14. 2. 1998. S. G 4. 37 Vgl. Bernhard Rosenberger: Zeitungen als Kriegstreiber? Die Rolle der Presse im Vorfeld des Ersten Weltkriegs. Köln, Weimar, Wien 1998. 38 Vgl. Jürgen Wilke: Deutsche Auslandspropaganda im Ersten Weltkrieg: Die Zentrale für Auslandsdienst. In: Pressepolitik und Propaganda. Historische Studien vom Vormärz bis zum Kalten Krieg. Hg. von Jürgen Wilke. Köln, Weimar, Wien 1997. S. 97-125.
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auf den amtlichen Heeresbericht angewiesen, der ausschließlich durch das Wolff’sche Telegraphische Bureau (WTB), die halboffiziöse Nachrichtenagentur, verbreitet werden durfte.39 Den Lesern kamen nur von der Militärführung kontrollierte Mitteilungen über die Front zu Gesicht. Alliierte Heeresberichte durften zwar wiedergegeben, die für Deutschland ungünstigen Nachrichten sollten aber gestrichen werden (was nicht durchweg geschah).40 Jedenfalls wurden die Kriegsverhältnisse über Jahre hinweg beschönigt und verfälscht. Kein Wunder, dass man in Deutschland dann die eintretende militärische Niederlage nicht wahrhaben und akzeptieren wollte. Dass die deutsche Öffentlichkeit getäuscht, ja belogen worden war, mussten nach 1918 selbst daran Beteiligte eingestehen, während andere, die Anhänger der sogenannten Dolchstoß-Legende, sich dieser Einsicht widersetzten. Nicht nur die Tageszeitungen beteiligten sich freiwillig oder unfreiwillig an der Täuschung und Desinformation. Sie konnten sich der Instrumentalisierung zumindest schwer entziehen. In starkem Maße setzte man für die Propaganda auch auf die Mittel des Bildes. Serienweise wurden Fotografien mit Kriegsmotiven hergestellt und im Illustrierten Kriegs-Kurier oder in der Sammlung Der große Krieg in Bildern publiziert. Selbstverständlich waren auch diese sorgfältig ausgesucht, um positive Einblicke in die Kriegswirklichkeit zu vermitteln. Überdies wurde im Ersten Weltkrieg das junge Medium Film eingesetzt: Propagandastreifen wurden gedreht und für die aktuelle Bildberichterstattung die Wochenschau in Dienst genommen.41 Allerdings war es den Filmoperateuren nicht erlaubt, reale Frontaufnahmen zu machen. Sie mussten sich mit der Etappe und den von den deutschen Truppen besetzten Gebieten als Betätigungsfeld begnügen. Eine Polizeizensur kam hinzu und bewirkte, dass die Filme bereits veraltet waren, wenn sie ins Kino kamen. Im Zweiten Weltkrieg (1939–1945) griffen die Nationalsozialisten in Deutschland wieder zu den gleichen Mitteln, nur noch aufwändiger und raffinierter. Man hatte sich diesmal rechtzeitig darauf vorbereitet. So standen bei Kriegsbeginn 13 spezielle Propagandakompanien zur Verfügung.42 Sieben waren dem Heer, vier der Luftwaffe und zwei der Marine zugeord39
Vgl. Kurt Koszyk: Deutsche Pressepolitik im Ersten Weltkrieg. Düsseldorf 1968. S. 219ff. 40 Vgl. Kurt Koszyk: Die Wiedergabe alliierter Heeresberichte durch deutsche Zeitungen im 1. Weltkrieg. In: Publizistik 13 (1968). S. 54-64. 41 Vgl. Hans Barkhausen: Filmpropaganda für Deutschland im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Hildesheim, Zürich, New York 1982. Siehe daneben die Abb. 4.3 in vorliegendem Band: Die Illustrierte Kriegszeitung (Nr. 108, 1916) berichtet über „Filmer bei unseren Seehelden“ 42 Vgl. Hasso von Wedel: Die Propagandatruppen der deutschen Wehrmacht. Neckargemünd 1962.
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net. Ihnen gehörten 2000 Wort-, Bild- und Rundfunkjournalisten an, die vorher für diese Aufgabe geschult worden waren. 1943 waren es 23 Propagandakompanien mit 5000 Soldaten. Sie waren Mitglieder der kämpfenden Truppe, und ihnen oblag die erwünschte positive Kriegsberichterstattung, als Ergänzung zum amtlichen Wehrmachtsbericht, der dafür die Grundlage darstellte. Dieser durfte nicht gekürzt und musste der Bedeutung entsprechend platziert werden.43 An Erfolgsmeldungen fehlte es nicht, solange die deutschen Armeen auf dem Vormarsch waren und Siege errangen. Als aber Niederlagen sich einstellten, insbesondere nach Stalingrad im Winter 1942/43, wuchs der Zwang zur Schönfärberei und Irreführung. Im letzten Kriegsjahr wurden die Propaganda-Kompanien abgebaut und in eine Wehrmacht-Kriegsberichter-Abteilung umgewandelt. In ihrem Propagandakonzept maßen die Nationalsozialisten Film (Wochenschau) und Rundfunk eine große Bedeutung zu. Da diese Medien in staatlicher Hand waren, erleichterte dies die Instrumentalisierung, während sich die Tagespresse zum Teil noch in Privatbesitz befand. Zudem schienen das bewegte Bild und das gesprochene Wort, zumal bei Gemeinschaftsempfang, wirksamer zu sein als Geschriebenes im Druck. Filmische Kriegsberichterstattung wurde wieder mit der Wochenschau betrieben, durch die noch heute, in historischen Dokumentationen, unser Bild vom Zweiten Weltkrieg beeinflusst wird.44 Als ‘neues Medium’ machte man sich jetzt ferner den Rundfunk zunutze, für dessen Empfangsmöglichkeiten die Produktion von Volksempfängern sorgte. In den Rundfunkprogrammen wurde jeden Tag der Wehrmachtsbericht verlesen und mehrfach wiederholt. Hinzu kamen Erläuterungen aus ‘kompetentem’ Munde. Am Abend folgten Frontberichte der Propaganda-Kompanie, aber selbstverständlich erst, nachdem sie eine Prüfung durchlaufen hatten. Sie wurden dem in Berlin zentralisierten Reichsrundfunk auf Schallplatten zum Abspielen zur Verfügung gestellt.45 VII. Fernsehkriege Aus Kriegen Medienereignisse zu machen, ist in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem eine Sache des Fernsehens geworden. Nicht dass die Pressemedien daran keinen Anteil mehr hätten. Aber dem neu hinzugekommenen Medium wuchs auch hier binnen kurzem eine Leitfunktion zu. Ausschlaggebend waren dafür seine durchdringende Reichweite, die audiovisuellen Präsentationsweisen und die hohe Aktualität durch die Möglichkeit 43
Vgl. Erich Murawski: Der deutsche Wehrmachtsbericht 1939–1945. Ein Beitrag zur Untersuchung der geistigen Kriegsführung. Boppard 1962. 44 Vgl. Barkhausen: Filmpropaganda für Deutschland (Anm. 41). S. 192ff. 45 Vgl. Ansgar Diller: Rundfunkpolitik im Dritten Reich. München 1980. S. 334ff.
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der Live-Berichterstattung. Kriege können jetzt in bewegten Bildern einer Weltöffentlichkeit vorgeführt werden, in einem Modus, der hochgradig die Emotionen weckt, und daraus ist das eingangs erwähnte Politikum entstanden. Der Vietnam-Krieg, den die Vereinigten Staaten zusammen mit dem Süden des Landes gegen den Norden anstrengten, und mit dem sie das Vordringen des Kommunismus in Asien eindämmen wollten, war in den späten 1960er Jahren der erste wirkliche “Fernsehkrieg”. Mit guten Gründen ist behauptet worden, die USA hätten diesen Krieg weniger auf den Schlachtfeldern Vietnams verloren als in den amerikanischen Wohnzimmern, wo die erschütternden Bilder der Verheerung und der Opfer die Kriegsbereitschaft und den Durchhaltewillen unterliefen und einen Umschwung in der öffentlichen Meinung bewirkten. Tatsächlich konnten die Reporter der großen Fernsehsender sich in Vietnam ziemlich frei bewegen und ungehindert von den militärischen Einsätzen der amerikanischen Soldaten und dem Leid, dessen Zeugen sie wurden, berichten. Die Militärs ließen sie weitgehend gewähren. So hat man von einem “unzensierten Krieg” gesprochen, aus dem die politische und militärische Führung des Landes dann aber Lehren zog.46 Das Schlüsselerlebnis des Vietnam-Kriegs tat seine Wirkung. Bei der Invasion auf der Karibik-Insel Grenada 1982 hielten die US-Militärs die Journalisten mit Bedacht fern. Durch die Insellage wurde dies sehr erleichtert.47 1991, im (zweiten) Golfkrieg, ließ sich dies zwar weniger sicherstellen, auch weil der ganze journalistische Apparat weiter zugenommen und die technischen Möglichkeiten, ‘vor Ort’ direkt zu berichten, sich verbessert hatten. Dennoch wurden die Journalisten hier durch ein gut organisiertes ‘Informationsmanagement’ weitgehend ‘neutralisiert’ und an einer Darstellung aus eigener Sicht gehindert, ja sie wurden instrumentalisiert und getäuscht.48 Auf Pressekonferenzen wurden nur strategisch erwünschte Informationen gegeben bzw. andere verweigert. Beim Film- und Videomaterial war man auf dasjenige angewiesen, das von den Militärs freigegeben worden war und das zum Teil von den mit Kameras bestückten Jagdbombern und Marschflugkörpern selbst stammte. Zur Berichterstattung aus dem Kampfgebiet waren nur Journalisten-Gruppen (sogenannte Pools) zugelassen, die vom US-Verteidigungsministerium ausgewählt wurden und deren 46
Vgl. Daniel C. Hallin: The “Incensored War” In: The Media and Vietnam. Berkeley, Los Angeles, London 1986; The Vietnam War and American Culture. Hg. von John Carlos Rowe und Rick Berg. New York 1986. 47 Vgl. Beham: Kriegstrommeln (Anm. 1). S. 93ff; The Media and the Military. Hg. Young / Jesser (Anm. 2). S. 120ff. 48 Vgl. John MacArthur: Die Schlacht der Lügen. Wie die USA den Golfkrieg verkauften. München 1993; Philip M. Taylor: War and the Media. Propaganda and Persuasion in the Gulf War. Manchester, New York 1992.
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Unkenntnis vor Ort man zur Irreführung ausnutzte. Während die Kontrolle im Wüstengebiet gut funktionierte, ließ sich das an anderen neuralgischen Punkten nicht so gut sicherstellen. Das galt insbesondere für Israel, auf das der Irak Raketen abfeuerte. Um zu verhindern, dass Fernsehbilder der verursachten Schäden dazu dienen konnten, die Zielgenauigkeit zu überprüfen, durften keine Naheinstellungen gewählt werden. Informationskontrolle und Desinformation haben aber nicht vereitelt, dass aus dem Golfkrieg in vielen Ländern ein Medienereignis ersten Ranges wurde.49 Der Mangel an gesicherter Information stand dem nicht entgegen. An deren Stelle trat ein Übermaß von Gerüchten, Spekulationen und Kommentierung. Vorstellungen von den Kriegsgegnern entstanden auch so.50 Paradoxerweise wurde man sich des Phänomens der ‘Unsichtbarkeit’ des Krieges bewusst: Wo es an Informationen fehlt, wo keine Journalisten zugegen sind, finden für uns auch keine Kriege statt. Wenn Kriege in den Medien nicht vorkommen, wenn sie nicht zu ‘Medienereignissen’ werden, muss dies nicht heißen, dass es sie in der Realität nicht gibt. Ein Beispiel dafür ist der von Russland seit Jahren in Tschetschenien geführte Krieg. Die Intensität des Protests im In- und Ausland gegen diesen Krieg entzündete sich an den Bildern der Zerstörung und des menschlichen Leids, die davon verbreitet wurden. Als es der russischen Staatsführung und den Militärs gelang, unliebsame Sender zu schließen und die Berichterstatter fernzuhalten, flaute auch die Erregung ab. Zeitweise verschwand der Konflikt somit völlig aus dem Blickfeld der internationalen Öffentlichkeit. Wenn es bei den Konflikten im ehemaligen Jugoslawien dazu nicht kam, so deshalb, weil hier weniger eine zentrale Kontrolle über die Journalisten funktionierte, ja die Gegner an der Verbreitung von für sie vorteilhaften (und den Feind diskreditierenden) Bildern interessiert waren und dies mit ins politische Kalkül zogen. Die von den Massenmedien verbreiteten Informationen und (soweit vorhanden) zumal die Fernsehbilder von den Gewalttaten und den Verbrechen gegen die Menschlichkeit, zunächst in BosnienHerzegowina und dann im Kosovo, bewegten die Menschen in vielen Ländern und erzeugten durch sie einen Druck auf die Regierungen, militärisch einzugreifen, um weiteres Blutvergießen zu verhindern. Nachdem sich diese dazu durchgerungen hatten und 1999 die NATO Serbien zu bombardieren begann, waren es wiederum die Bilder von den angerichteten Schäden, die die öffentliche Zustimmung für das militärische Vorgehen schwächten. Dem 49
Vgl. Desert Storm and the Mass Media. Hg. von Bradley S. Greenberg und Walter Gantz. Creskill (N. J.) 1993; Gulf War, National News Discourses and Globalization. Hg. von Stig A. Norstedt und Rune Ottosen. Göteborg 2000. 50 Vgl. Manipulierte Wirklichkeiten. Medienpsychologische Untersuchungen der bundesdeutschen Berichterstattung im Golfkrieg. Hg. von Wilhelm Kempf. Münster 1994.
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suchte die NATO mit einem intensiven Informationsmanagement entgegenzuwirken.51 Der professionelle Umgang der Journalisten damit ist nachträglich sehr kritisch diskutiert worden.52 VIII. Cyberwar Alle Kommunikationsmedien, die in der Geschichte der Neuzeit erfunden wurden, sind zur Benachrichtigung über Kriege, ja als Mittel der Kriegsführung verwendet worden. Unterstrichen wird dies auch durch die Entwicklung der jüngsten Kommunikationstechnik. Das Internet, das seinerseits ein ‘Nebenprodukt’ militärstrategischer Planungen für den Ernstfall war, in dem ein Kommunikationsnetz ‘unzerstörbar’ sein sollte, ist selbst zu einem virtuellen Raum geworden, in dem Kriege ausgetragen werden (können). Man hat dafür inzwischen den Begriff “Cyberwar” geprägt. Im Netz spielt sich beispielsweise der israelisch-palästinensische Konflikt ab; und von verschiedenen Seiten genutzt wurde es auch im Kosovo-Konflikt.53 So wurden von serbischer Seite 1999 tausende von E-mails an die Adresse der NATO versendet, wodurch diese für andere Computernutzer vorübergehend nicht erreichbar war. Andererseits nutzten die NATO-Verbündeten das Internet, um den Serben Informationen zu übermitteln, unabhängig von den staatlich kontrollierten Medien. Die Regierung des Präsidenten Miloševiü setzte das Internet ebenfalls für ihre Zwecke ein. Zugleich war das Internet ein wichtiges Informationsmittel für die serbische Opposition. Als deren Radiosender B92 zu Beginn der Bombenangriffe der NATO geschlossen wurde, war man dort darauf vorbereitet, die Unterrichtung über das Internet fortzusetzen. Auch albanische Organisationen benutzten das Internet, um ihren Kampf im Kosovo zu rechtfertigen. All dies war nur ein Vorspiel dafür, dass künftig auch das Netz ein Kriegsschauplatz und der Cyberwar ein fester Bestandteil von Medienereignissen sein wird. IX. Ausblick ins 21. Jahrhundert Wer womöglich erwartet hat, dass sich die hier behandelte Thematik im neuen Jahrtausend (erst einmal) erübrigt hätte, wurde bald schon eines Besseren belehrt. Mit dem Anschlag von islamistischen Gruppen auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington am 11. 51
Vgl. Jamie Shea: Kampf der Fernsehbilder. In: Message 1 (2001). S. 98-105. Vgl. Krieg mit Bildern. Wie Fernsehen Wirklichkeit konstruiert. Hg. von Peter Christian Hall. Mainz 2001; “Sagt die Wahrheit: Die bringen uns um!”. Zur Rolle der Medien in Krisen und Kriegen. Red. Oliver Zöllner. Berlin 2001. 53 Vgl. Veran Matiü: Miloševiü goes Internet. Wie das virtuelle Serbien in den Krieg zog. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28. 9. 1999. 52
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September 2001 ist die Welt in eine neue Kriegsphase hineingeraten. Der Anschlag selbst ist als ein Kriegsakt aufgefasst worden und war auch auf dessen medialen Transport hin kalkuliert. Zwischen den zwei Flugzeugen, die in die beiden Wolkenkratzer hineinrasten, vergingen so viele Minuten, wie notwendig waren, um Kameras in Stellung zu bringen. So wurde der Terroranschlag zum Medienereignis. Dagegen ist der dadurch ausgelöste Gegenschlag, die Aktion Enduring Freedom, die die Herrschaft der Taliban in Afghanistan zu Fall brachte und die dort ansässigen Al-Qaida-Verbände unschädlich machen sollte, weitgehend unter Ausschluss der internationalen Öffentlichkeit abgelaufen. Wohl gab es anfangs auch hier Berichte und Fernsehbilder, aber diese waren vergleichsweise unspektakulär; und dem Gegner fehlten die Mittel, durch geeignete Bilder die gegen ihn gerichteten Aktionen zu delegitimieren. Diese fanden zudem abgelegen statt, sodass Reporter nur selten hinzustoßen konnten. Anders war es wieder bei dem im März 2003 eröffneten (dritten) Golfkrieg, der ebenfalls eine Folge des 11. September war. In den Monaten, die ihm vorausgingen, wurde in der UNO ein erbitterter Streit ausgefochten, ob die geforderte Beseitigung von Massenvernichtungswaffen im Irak mit friedlichen Mittel (durch Inspekteure) oder mit militärischer Gewalt durchgesetzt werden müsse. Als die Vereinigten Staaten (zusammen mit einigen anderen Staaten) sich schließlich entschlossen, das letztere zu tun, auch ohne ausdrückliche nochmalige Autorisierung durch die UN, war reichlich Zeit gewesen zur Vorbereitung auf das absehbare ‘Medienereignis’. Das amerikanische Verteidigungsministerium verfolgte diesmal eine ganz andere Strategie als ein Jahrzehnt zuvor. Die Devise lautete jetzt ‘Embedding’: Etwa 500 Journalisten aus den USA wie aus anderen Ländern wurden ausgewählt und auf Flugzeugträgern, Stützpunkten und in Truppenverbänden an der Front stationiert.54 In Schulungskursen wurden sie auf die Situation im Krieg vorbereitet.55 Dies lief auf den Versuch hinaus, die Perspektive der Journalisten durch ‘Einbettung’ in die US-Streitkräfte zu beeinflussen. Auch auf Seiten des irakischen Machthabers Saddam Hussein war man darum bemüht, sich den Zugang zur internationalen Öffentlichkeit zu erhalten. War beim vorangegangenen Golfkrieg nach dem Beginn der Bombardierung Bagdads nur der CNN-Korrespondent Peter Arnett zurück geblieben und zu einer legendären Figur geworden, so duldete das Informationsminis54
Vgl. Matthias Rüb: Eingebettet vom Pentagon. Der erste Cyber-Krieg des einundzwanzigsten Jahrhunderts: Ob Amerika eine gute Presse bekommt, ist die alles entscheidende Frage. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20. 3. 2003. 55 An einem solchen Training nahm der ZDF-Korrespondent Alexander von Sobeck teil. Vgl. seinen Bericht: Fahre im Konvoi, aber niemals als erster. Als Reporter im Krieg: Eine Woche im Reporter-Training der Royal Marines. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. 2. 2003.
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terium jetzt mehr als hundert Korrespondenten, die gleichwohl überwacht und in ihren Berichterstattungsmöglichkeiten eingeschränkt wurden. Den Blick auf die irakische Hauptstadt lieferte eine fest installierte Kamera, die Zuschauer nahmen gleichsam einen ‘Logenplatz’ ein. Dort vor Ort, aber auch in den Medienhäusern war man überall darauf eingestellt, aus dem dritten Golfkrieg, dem Irakkrieg, ein Medienereignis wie noch keines zu machen und die Menschen daran in ‘Echtzeit’, rund um die Uhr teilnehmen zu lassen. Rechtzeitig waren Abmachungen mit anderen Fernsehsendern getroffen worden, um Zugriff auf Bildmaterial zu haben. Dennoch zeigten sich die ersten Tage abermals von widersprüchlichen Informationen beherrscht, woran man einmal mehr die heute unvermeidliche Vermischung von ‘Waffenkrieg’ und ‘Medienkrieg’ verfolgen konnte. Die Medien im Krieg sind gegenwärtig mehr denn je nicht nur Beobachter, sondern selbst Akteure.
Niels Werber
Medien des Krieges Zur Semantik des Weltverkehrs Within the framework of systems theory, our ‘reality’ is a construction of mass media and this thesis applies to war as well. Consequently, our knowledge about wars depends on the internal codes and scripts of the media system. What ‘really’ happens in war the audience does not know. This scepticism came to the fore as early as World War I and was extended by some radical media theoreticians into the nonsensical doctrine of the medial simulation of wars: The Gulf War never happened except as a simulacrum. My approach is an attempt to understand media and forms of communication in a twofold meaning as the ‘media of war’. On the one hand, wars, especially high-tech wars, presuppose media; media and communication make conflicts possible because they convey or transport different positions, forms of information, troops etc. But on the other hand, they are waged as a battle to control the world-wide media system. This hypothesis was set up in 1915, challenging the old, idealistic assumption that a tight and intense net of communication between the nations would produce eternal peace. Such optimistic semantics that consider media a peace-implementing tool will serve as a contrasting background.
I. Die Realität des Krieges der Massenmedien “Erstaunlich ist”, sagt der Baron de Charlus im letzten Band der Suche nach der verlorenen Zeit, “daß dieses Publikum, das die Menschen und Dinge des Krieges immer nur nach seiner Zeitung beurteilt, gleichwohl überzeugt ist, es bilde sich eine Meinung aus eigener Kraft”. Der Erzähler ergänzt dazu, es handele sich hier um eine “allerdings treffende Bemerkung” und wiederholt: “Hierin hatte Monsieur de Charlus recht.”1 Die öffentliche Meinung über den Krieg, so können wir diese Bemerkung generalisieren, liegt in der Hand der Massenmedien und entsteht keineswegs in der privaten Reflexion von Individuen. Charlus’ Beobachtung unterstellt allerdings noch, dass die Presse Meinungen und Urteile über etwas erzeugt, was jenseits der Medien tatsächlich stattfindet: der Krieg – als ob aufgrund der Pluralität und Parteilichkeit der Presseorgane unterschiedliche Meinungen über dieselbe Sache entstünden. Man könnte dann von Medien des Krieges in dem Sinne sprechen, dass erst der Plural der Medien den Singular des Krieges in die Differenzen der veröffentlichten Meinungen zerlegt. Aber welche selbe Sache wäre dieser Krieg? Captain Robert von Ranke Graves bezweifelt in seinen
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Marcel Proust: Die wiedergefundene Zeit [~1922]. Frankfurt/M. 1984. S. 145.
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Kriegserinnerungen Goodbye to all that, dass es diese selbe Referenz auf eine Sache, über die dann nur unterschiedlich geurteilt würde, überhaupt gebe: Recently I saw the following contemporary newspaper cuttings put in chronological sequence: When the fall of Antwerp became known, the church bells were ring (at Cologne and elsewhere in Germany). – Kölnische Zeitung. According to the Kölnische Zeitung, the clergy of Antwerp were compelled to ring church bells when the fortress was taken. – Le Matin. According to what The Times has heard from Cologne, via Paris, the unfortunate Belgian priests who refused to ring the church bells when Antwerp was taken, have been sentenced to hard labour. – Corriere della Sierra. According to information which has reached the Corriere della Sierra from Cologne, via London, it is confirmed that the barbaric conquerors of Antwerp punished the unfortunate Belgian priests for their heroic refusal to ring the church bells by hanging them as living clappers to the bells with their heads down. – Le Matin.2
Was Graves – nicht als einziger, man denke nur an Karl Kraus – hier im ersten Weltkrieg beobachtet, ist ein systeminterner Steigerungszusammenhang, ein Zusammenspiel von Rekursivität und Amplifikation, das ganz ohne neue Sachinformationen zu immer sensationelleren Berichten führt. Angesichts dieser systemimmanenten Eskalationen der Sensation muss man zweifellos von einer “Konstruktion der Realität”3 sprechen – statt sich mit Charlus’ These der medialen Meinungsbildung zu begnügen. Anders formuliert: Um zu verstehen, wie Le Matin schließlich behaupten kann, deutsche Soldaten (protestantische Preußen) benutzten belgische Priester (katholische Zivilisten) als Glockenschlegel ihrer eigenen Kirchen, muss man wenig über das Verhalten deutscher Soldaten und viel über die Schemata und Skripts wissen, mit denen die Massenmedien ihre “Realitätsbeschreibung erzeugen”.4 Heutzutage liest sich dies so. “Die Zeitungen zitieren andere Zeitungen, und was der Berliner Justizsprecher dementiert, steht gleich wieder als wahr in einem anderen Blatt. Focus zitiert Bild, Bild beruft sich auf Focus.”5 Das System führt “sich selbst frisches Blut zu”.6 Muss daher gar keines mehr vergossen werden, wenn der Krieg zum Ereignis werden soll? Wird er einfach ‘fabriziert’, wie insbesondere französische Medientheoretiker argwöhnen?
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Robert Graves: Goodbye to all that. Autobiography [1929]. London 1995. S. 68f. Niklas Luhmann: Die Realität der Massenmedien. Opladen 1996. S. 138ff. Ebd. S. 139. Robin Detje in: Die Zeit Nr. 26 (2003). Luhmann: Die Realität der Massenmedien (Anm. 3). S. 160.
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“Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, das wissen wir durch die Massenmedien.”7 Dieser erste und sehr prinzipielle Satz aus Luhmanns Abhandlung über Die Realität der Massenmedien gilt dann eben auch für die Welt, in der wir sterben, auch über unsere Gesellschaft, die Krieg führt. Die Realität des Krieges, insofern er zum kommunikativen Ereignis und damit zu einer Wirklichkeit der Weltgesellschaft geworden ist, verdankt sich also den Konstruktions- und Operationsregeln der Medien,8 die mithin auch Medien des Krieges sind. Nicht die massenhafte Tötung von Menschen, sondern erst die Berichterstattung darüber macht den Krieg zu einer Tatsache in dem Sinne, dass die Weltgesellschaft sie in ihren Kommunikationen voraussetzt.9 Die Massenmedien “erzeugen” die aktuelle “Weltkonstruktion”, und “das ist die Realität, an der die Gesellschaft sich orientiert”, heißt es in Luhmanns Gesellschaft der Gesellschaft.10 Jeder weiß um die Wirkungsmacht der Bilder, ohne die es humanitäre Interventionen oder bedingungslose Solidarität kaum gäbe. Luhmann hat immer wieder betont, dass auch die Massenmedien ein System bilden, das “zwischen Selbstreferenz und Fremdreferenz unterscheiden kann”,11 und insofern einen “operativen Konstruktivismus” vertreten, der nicht bestreitet, “dass es Realität gibt”.12 Man kann nichts über ‘die’ Realität sagen, ohne auch den Beobachter zu berücksichtigen, der von einer bestimmten Perspektive aus ‘eine’ Realität wahrnimmt, die andere Beobachter anders beschreiben mögen. Die Realität der Massenmedien ist, wie jede Realität eines Beobachters, ein “internes Korrelat der Systemoperationen – und nicht etwa eine Eigenschaft, die den Gegenständen [...] außerdem noch zukommt. Realität ist denn auch nichts weiter als Indikator für erfolgreiche Konsistenzprüfungen im System”.13 Für den Krieg als Thema der Kommunikation bedeutet dies, dass auch in diesem Fall Selbstreferenz und Fremdreferenz von einem Beobachter unterschieden werden können, um dann beispielsweise bestimmte Ausformungen des Themas nicht auf den Krieg (Fremdreferenz), sondern auf die Medien (Selbstreferenz) der Thematisierung zurückzuführen. Wenn Autoren wie Virilio vermuten, es habe den zweiten Golfkrieg nicht gegeben, oder wie Baudrillard annehmen, der Tod im World Trade Center sei symbolisch gewesen und habe allein auf der Ebene zirkulierender Zeichen stattgefunden, dann könnte man auch an
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Ebd. S. 9. Ebd. S. 173ff. 9 Ebd. S. 120. 10 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt/M. 1997. S. 1102. 11 Ebd. S. 15. Vgl. S. 24ff. 12 Ebd. S. 17f. 13 Ebd. S. 19. 8
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diesen “Beobachtern beobachten, wie sie Realität konstruieren”14 und womöglich zu dem Ergebnis kommen, dass ihre Weltentwürfe eher idiosynkratischen immanenten Konstruktionsregeln (Selbstreferenz) folgen, als dass sie sich von Kriegen oder Attentaten (Umwelt, Fremdreferenz) irritieren ließen. In den Massenmedien machen diese Meinungen dann als Abweichung Karriere. Zwar gibt es für die Weltgesellschaft keinen Krieg ohne Massenmedien, die entsprechende Informationen mitteilen, doch bedeutet dies für Luhmann nicht, dass es deshalb keinen Krieg jenseits der Medien geben könne. Dass bestimmte “Realitätsannahmen” den Operationen des Systems zu verdanken sind,15 lässt nicht den Umkehrschluss zu, dass keine Realität diesseits dieser Operationen existiere. Wer als radikaler Konstruktivist glaubt, es ginge auch ohne Konsistenztest und Fremdreferenz, der würde im Extremfall, wenn er etwa als Kriegsberichterstatter oder besser: als medialer Konstrukteur von Kriegsbildern arbeitete, seine Überzeugungen mit dem Leben zu bezahlen haben. Selbst in der Medienkriegspersiflage Wag the Dog! gibt es ‘echte’ Tote. Das alles ist bekannt. Auf den Anteil der Massenmedien am dritten Golfkrieg, wie er in den Medien (vor-)geführt wurde, haben nicht zuletzt die Medien selbst immer wieder aufmerksam gemacht. Achtung, unsere Reporter sind ‘embedded’! Achtung, wir werden hier von interessierter Seite ‘gebrieft’! Achtung, alles selektiv! Man weiß heute: Es geht gar nicht anders.16 Dass die Berichterstattung bestimmten Konstruktionsbedingungen folgt, nämlich dem Integral aus Senderinteressen (Aktualität, Interessantheit, Sensation …) und Armeeinteressen (psy ops, Desinformation, Geheimhaltung …), versteht sich fast von selbst. Das framing der Sendung, die Selektionsbedingungen werden heutzutage mitgesendet und reflektiert. Aber weil Integral und Flugbahn einer Kanonenkugel nicht dasselbe sind, muss nicht behauptet werden, Kanonenkugeln flögen nicht und schlügen auch nirgends ein. Sie schlagen vielmehr auch dann ein, wenn jemand sich verrechnet haben sollte. II. Medien der Weltgesellschaft als Medien des Friedens Die Auseinandersetzung zwischen radikalen Vertretern der Virtualität des Krieges und ihren Kritikern scheint mir unfruchtbar zu sein, Luhmanns Thesen eines operativen Konstruktivismus dagegen sind wohl schon selbst zum Teil jener Realität der Massenmedien geworden, an deren Kommensurabilität nur bei Gefahr psychiatrischer Einweisung gezweifelt werden
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Ebd. S. 17-19. Ebd. S. 121. 16 Ebd. S. 137, 174, 198. 15
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kann:17 Die Voraussetzung, dass Realitätsannahmen nicht nur auf die Realität, sondern auch auf die Operation des Annehmens selbst verweisen, erzeugt allüberall Konsens. Ich möchte in diesem Aufsatz daher einen anderen Akzent setzen. Mich interessieren hier nicht Kriege in den Massenmedien, sondern die Medien des Krieges. Medien des Krieges möchte ich in dem Sinne verstehen, dass Medien nötig sind, um überhaupt Krieg zu führen – über den dann danach berichtet werden mag. Zu diesen Medien zählen selbstverständlich auch die so genannten Massenmedien. Zur Zeit des Ersten Weltkriegs hat man dieses Mediensystem den Weltverkehr genannt, womit nicht nur alle Massen- und Verbreitungsmedien gemeint waren wie Kinos, Zeitungen und Telegramme oder Briefe, sondern auch die Transportwege: communications, wie man sie im englisch-amerikanischen Raum nennt. Ich werde den Medienbegriff des Weltverkehrs im Folgenden herauszuarbeiten suchen und ihn mit einem Medienkonzept vergleichen, wie es heute von Medientheoretikern und Soziologen vertreten wird. Es ginge um den Unterschied zwischen den Medien des Weltverkehrs und den Medien der Weltgesellschaft. Ich werde zunächst die Medien der Weltgesellschaft sehr generell skizzieren, um dann die Fragestellung wieder auf den Krieg zu fokussieren. Danach werde ich die Theorie des Weltverkehrs als Theorie des Weltkriegs schlechthin vorstellen. Die “elektromagnetischen Wellen haben den Raum so ‘erobert’, daß er sich zugleich aufgelöst hat”, lautet die Ausgangsthese in Norbert Bolz’ Buch Weltkommunikation.18 In der Welt der Weltkommunikation erzeugen “Massenmedien” den Effekt der “Gleichzeitigkeit des Anderswo”.19 Gleichgültig zum Ort, an dem man sich aufhalten mag, erlebt man die Welt der Massenmedien via “Fernsehen, Radio” oder im “Internet” oder “Cyberspace”. Um an der Weltgesellschaft teilzunehmen, qua Kommunikation selbstverständlich, ist Synchronie wichtig (old news are no news), was “allein noch zählt, ist die Zeit”, nicht der Raum. Nicht wo, nur wann etwas kommuniziert werde, sei von Belang. Der persönliche Standort eines Teilnehmers der Weltkommunikation sei “gleichgültig” geworden. “Territorialität ist keine sinnvolle Sinngrenze mehr.” Kurz: “Die Weltgesellschaft kann man nicht mehr verorten”.20 Was für Konsequenzen hat es für unser Thema, wenn man die Weltgesellschaft derart von ihren avanciertesten Medien her als raum- und ortlos konzipiert? Bolz selbst macht dies sehr deutlich, wenn er seine Theorie der Weltkommunikation von Carl Schmitts politischer Theorie unterscheidet. 17
Ebd. S. 121. Norbert Bolz: Weltkommunikation. München 2001. 19 Ebd. S. 8f. 20 Ebd. S. 47, 38, 8. 18
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Schmitt habe, stellt Bolz zu Recht fest, den “politischen Raum” vom “Land, dann vom Meer und schließlich von der Luft her gedacht”. Staatliche Ordnung wird von ihm territorial verstanden. Das Erkennen von Freund und Feind erfordert “Ortung”.21 Alle zentralen politischen Kategorien Schmitts vom Nomos bis zur Lage setzen nun in der Tat den Raum voraus; auch der Begriff der vom Ausnahmezustand her konzipierten Souveränität ist auf die Präsenz todes- und tötungsbereiter physischer Körper angewiesen, die “kommunikative Erreichbarkeit” der Personen genügt dafür nicht. Die neuen Kommunikationsverhältnisse, so lautet Bolz’ These, haben nun aber diesem Raumdenken den Boden entzogen. Ohne einen Begriff des Raums zu haben, lassen sich keine Körper lokalisieren, und ohne die Verortung von Körpern löst sich jeder Begriff von Macht in Nichts auf, der letztlich, wie vermittelt auch immer, auf der Androhung physischer Gewalt basiert. Ein Nationalstaat, der mit Polizei im Inneren für Ruhe, Sicherheit und Ordnung sorgt und den äußeren Feind im Extremfall militärisch bekriegt, verliert mit dem Raum seinen Boden. Wenn die Medien der Weltgesellschaft nun aber den Raum aufgelöst haben, dann kommt für den klassischen Begriff des Politischen das Ende: “Wer von Weltgesellschaft spricht”, schreibt Bolz ganz folgerichtig, “hält die segmentäre Ordnung von Nationalstaaten für anachronistisch”. Die Weltkommunikation via Medien habe alle “territorialen Grenzen” abgeschafft, was soll da noch “nationale Politik”? Wie sollte es in diesem medialen “Netz der Weltkommunikation”22 noch Kriege geben, wenn Kriege irgend auf die Zerstörung von Körpern im Raum referieren?23 Im Zeitalter “massenmedialer Weltkommunikation” hat physische Gewalt, die auf Körper zugreift, aus prinzipiellen Gründen keine Chance,24 folglich wird es auch keinen Krieg mehr geben. Wundervoll. “Die These, daß die Angelegenheiten aller Menschen irgendwie zusammenhängen, dürfte heute kaum Widerspruch finden”, beginnt Niklas Luhmann 1971 einen Aufsatz mit dem Titel Weltgesellschaft. Dreißig Jahre später hat man sich daran gewöhnt, für dieses “Irgendwie” des Zusammenhanges omnium inter omnes die Begriffe Internet oder ganz allgemein
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Ebd. S. 38, 92. Ebd. S. 45, 47. 23 Der einzige Krieg, den diese Theorien der Weltkommunikation noch denken könnten, wäre der eines globalen Atomschlags, da hier die Verortung auch keine Rolle spielt und die Atombombe genau wie die neuen Medien der “Gleichzeitigkeit des Anderswo“ gerecht wird. Michael Hardt und Antonio Negri haben in ihrer berühmten Studie Empire (2000; Frankfurt/M. 2003) die These vertreten, die Waffe des postsouveränen Empire sei die Bombe (S. 353). Es ist die Waffe einer neuen, raumlosen Macht (S. 75). 24 Und auch die Drohung mit Gewalt wäre sinnlos. Die Macht-Definition Max Webers verlöre ihren ‘Sitz im Leben’. 22
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Medien zu setzen. Ein “Bereich weltweit orientierter Interaktionen”, so Luhmann, hätte ohne Kommunikationstechnologien überhaupt nicht entstehen können.25 Die “neuen Kommunikationstechnologien”, heißt es dann in Luhmanns letzter, großer Monographie über Die Gesellschaft der Gesellschaft, “bagatellisieren [...] den Platz”, weil alles auch “anderswo” stattfinden kann und “trotzdem nahezu gleichzeitig”. Zu den Folgen der neuen Technologien zählt also, um eine ähnliche Formulierung zu zitieren, die “Bagatellisierung des Standortes”. Wo etwas passiert, ist weniger wichtig als die Frage, wann etwas passiert. Die Medien errichten gleichsam einen “Rahmen der Erreichbarkeit von Wahrnehmung und Kommunikation”: Es ist kein Problem, wenn alter sich an einem anderen Ort aufhält als ego, denn man kann ja telefonieren, faxen, mailen, chatten, eine Videokonferenz abhalten etc.26 Was Bolz als “Bedeutungsschwund des Raums” bezeichnet hat, kann sich neben Luhmann auf zahlreiche andere Autoren stützen. Für Paul Virilio bedeutet “Globalisierung” das “Ende des Raums” im “elektronischen Äther der Telekommunikationsmittel”. Statt auf Raum kommt es nun auf Zeit an. Man kennt das. Diagnostiziert wird eine “Beschleunigung”, deren “Unmittelbarkeit endgültig die Realität der Entfernungen, also jener geographischen Abstände auslöscht, die gestern noch für die staatliche Politik und die Bündnisse maßgeblich waren und deren Gewicht der ‘Kalte Krieg’ in der Zeit des Ost-West-Konflikts belegte”.27 Auch dies ist nicht neu: Schon Herbert Marshall McLuhan hat die “neue Welt des globalen Dorfes” als Vektor einer “Aufhebung des Raums” in den elektronischen Medien verstanden: “Die wichtigsten Faktoren des Einflusses von Medien auf bestehende Gesellschaftsformen sind Beschleunigung und Aufteilung. Heute ist die Beschleunigung fast total und macht so dem Raum als Hauptfaktor der sozialen Ordnung ein Ende.” Die “Zentrum-Peripherie-Struktur” der Weltordnung (erste Welt / dritte Welt, Metropolen / Provinz) macht einer mediengestützten “Homogenität” platz. “Peripherien hören auf unserem Planeten auf zu existieren.”28 Das in der Differenz von Peripherie und Zentrum
25
Niklas Luhmann: Die Weltgesellschaft [1971]. In ders.: Soziologische Aufklärung. Bd. 2. Opladen 41991. S. 51-71, hier S. 51, 57. 26 Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft (Anm.10). S. 152 u. 249. Vgl. Niels Werber: Raum und Technik. Zur medientheoretischen Problematik in Luhmanns Theorie der Gesellschaft. In: Soziale Systeme. Zeitschrift für soziologische Theorie (1998). H. 1. S. 219-232. 27 Paul Virilio: Information und Apokalypse. Die Strategie der Täuschung. Übers. von Bernd Wilczek. München 2000. S. 14f. 28 Herbert Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle. Understanding Media [1964]. Übers. von Meinrad Amann. Düsseldorf, Wien et. al. 1992. S. 113, 115, 111.
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angelegte Machtgefälle verliert seinen Halt.29 Diese Hypothese McLuhans haben deutsche Medien- und Systemtheoretiker übernommen und ausgebaut. Manfred Faßler hat vor ein paar Jahren festgestellt, es schienen sich “in einem alle Interpretationen einig zu sein”, dass wir nämlich in einem Zeitalter leben, in dem “die hochgeschwinden Prozesse” das Problem der “Reichweiten” abschaffen, weil nun alles “all over the world sofort (instantan) anwesend” gemacht werde in Form “elektrischer Telepräsenz” und “medialer Allgegenwart”. Vom Raum ist nur noch metaphorisch die Rede, etwa von “nicht-lokalen ‘Orten’” und “infographischen Räumen” der virtual reality oder vom “postgeographischen Raum”.30 Space disappears. Und was kommt nach dem Raum? Die Frage wird eher ex negativo beantwortet: Auch Faßler verkündet das Ende der Schmittschen Welt: “Kommunikation wird mit der instabilen Zeitform verbunden. Sie löst die Einheit von Land und Leuten ab, von Territorialität, geographischen Grenzen und staatlichen Hoheitsmodellen.”31 Bolz, der vor Redundanzen keine Angst hat, wiederholt, dass nun “geographische Grenzen, Geschichte (Tradition) und Nationalstaatlichkeit keine Rolle mehr spielen”.32 “Regierungsorganisationen, die sich über Landmassen definieren, werden ins Hintertreffen geraten”, prognostiziert Faßler.33 Bolz formuliert die gleiche Einschätzung etwas vornehmer: Die “regional konkretisierte Politik” werde “zunehmend inkommensurabel mit den Problemen globalisierter Funktionssysteme”, ja an Staat und Territorium könne man nur noch “katechontisch” (aufhaltend) oder “anachronistisch festhalten”.34 Die Diskurse der Weltkommunikation und der Weltgesellschaft, des global village und des cyberspace singen dem Raum, dem Staat, dem Territorium, ja der politischen Macht schlechthin unisono einen Schwanengesang. Wenn Bolz Luhmann gegen Schmitt ausspielt, lässt er das Raumdenken wortwörtlich “alt” aussehen. Es ist anachronistisch, obsolet, überholt, und nur konservative Phantasten können daran festhalten. Das Freund-Feind-Denken der Nationalstaaten, des Ost-West-Konflikts, der Kämpfe der Kulturen, der Raumnahmen – die Epoche der Weltkommunikation lässt all dies hinter sich.
29
Vgl. dazu vom Verfasser: Centre as a Form. On the differentiation of centre and periphery in current semantics with a regard to art, urbanism, globalisation, and geopolitics. In: The Centre of Attraction Reader. Hg. vom CAC und Tobias Berger. Vilnius 2003. 30 Manfred Faßler: Cyber-Moderne. Wien, New York 1999. S. 7, 126, 4. 31 Ebd. S. 135. 32 Bolz: Weltkommunikation (Anm. 18). S. 53. 33 Faßler: Cyber-Moderne (Anm. 30). S. 153. 34 Bolz: Weltkommunikation (Anm. 18). S. 38, 45.
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Das Zeitalter der Geopolitik, das immer wieder durch den berühmtberüchtigten Namen Carl Schmitts repräsentiert wird, geht auch in Rudolf Stichwehs Weltgesellschaft endlich zu Ende: “Noch das 19. Jahrhundert scheint den Prozeß territorialer Zentralisierung voranzutreiben und mit den Vereinigten Staaten und Rußland wurden kontinentgroße Einzelstaaten weltpolitisch dominant, eine Tendenz, die [...] als der Hintergrund des deutschen Expansionismus im 20. Jahrhundert gedeutet werden kann.” Mit diesen Versuchen, “Großraumordnungen” (Schmitt) zu bilden, ist es aber in der Weltgesellschaft vorbei, weil in der UNO und anderen globalen Institutionen ein politisches System eingerichtet worden sei, das auf der Grundlage der “Egalisierung nationaler Souveränität” funktioniere. Wie die modernen Verfassungen des Nationalstaats allen Bürgern gleiche Rechte und Pflichten unabhängig von Macht, Rang, Einkommen und Stand einrichteten, behandele die Charta der Vereinten Nationen “die Nationalstaaten als konstitutive Bürger”. In der Weltgesellschaft gibt es also ein einziges politisches System globaler Dimension, dessen Spielregeln für große und kleine Staaten genauso gelten wie in den Einzelstaaten für große und kleine Parteien. “Erstmals”, so Stichweh, “unterscheiden sich die Überlebenswahrscheinlichkeiten für große und kleine Staaten nicht wesentlich, sind kleine Staaten nicht mehr auf geographische Sonderlagen und hegemoniale Unterordnung angewiesen”. Da wird mancher Vertreter eines kleinen Landes im nahen Osten, der Karibik oder Asiens erleichtert aufatmen. Die Weltgesellschaft ist dasjenige System, “das alle kommunikativ füreinander zugänglichen kommunikativen Handlungen einschließt”.35 Die weltweiten Telekommunikationseinrichtungen und die globale Logistik erlauben jedem Teilnehmer der Weltgesellschaft einen ständigen Vergleich von ökonomischen, politischen, wissenschaftlichen Angeboten und Errungenschaften, was auf der Ebene des politischen Systems bereits dazu geführt hat, “daß sich ein verblüffend ähnlicher ‘set’ von Institutionen der Moderne herausbildet: Schulen und die frühe Errichtung tertiärer Hochschulinstitutionen [...], Versicherungssysteme des Wohlfahrtstaates und die in vielen Staaten ähnliche Sequenz ihrer Etablierung; Militär und militärische Dienstpflicht; nationale Kultur-, Wissenschafts- und Sprachpolitik” etc. Die Weltgesellschaft stellt jeder Region ihre erprobten Strukturen zur Verfügung – sie müssen nicht überall noch einmal erfunden werden. Ein junger Staat wie die Ukraine oder Kroatien wird also eher bereits bestehende Modelle staatlicher Organisation übernehmen, als solche quasi autochthon zu entwickeln. Die Evolution in eine bestimmte Richtung wird so immer wahrscheinlicher, weshalb sich in der Weltgesellschaft immer mehr “Gemeinsamkeiten”
35
Rudolf Stichweh: Weltgesellschaft. Frankfurt/M. 2000, hier S. 23-25, 31.
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beobachten lassen: “Es scheint für Staaten eine Modernitätsverpflichtung und damit zugleich eine Verpflichtung auf wohlfahrtsstaatliches Handeln zu geben.”36 Diese in den Strukturen der globalen Kommunikation selbst angelegte Evolution zum Besseren, die man früher sicher Fortschritt genannt hätte, wirkt, so Stichweh, auch pazifizierend: “Einmal wird es in der Weltgesellschaft wichtig, daß Kulturen nicht aggressiv-missionierend auftreten. Weltweit verbreitete kulturelle Komponenten müssen einen relativ geringen Grad von Expliziertheit aufweisen, und George Modelski schließt daran die Überlegung an, daß eine politische Führungsrolle im System der Weltgesellschaft nur für Staaten zugänglich sei, die nicht gleichzeitig eine kulturelle Mission verfolgen.” Stichweh spricht von einer “relativen globalen Homogenisierung” im Medium der weltweiten “Vernetzung kommunikativer Ereignisse”.37 Der Netzwerkbegriff konnotiert ein Mit- und Nebeneinander gleichwertiger Knoten. Alles zusammen stützt die Globalthese, dass die Epoche der Weltgesellschaft das Zeitalter der Hegemonien abgelöst habe. Der ewige Friede könnte nun eigentlich beginnen. Helmut Willke stößt ins gleiche Horn. In Atopia beschreibt er eine globalisierte Gesellschaft, für die “Ort, Raum und Entfernung [...] zunehmend zu vernachlässigenden Größen” werden. Seine Diagnose klingt vertraut: “Globale Infrastruktursysteme der Telekommunikation und der Verkehrstelematik, global präsente Massenmedien und Transaktionsnetze bagatellisieren den Platz, von dem aus man kommuniziert, bagatellisieren also Örtlichkeit.”38 Auch in Luhmanns Gesellschaft der Gesellschaft haben wir gelesen, dass die Medien der Weltgesellschaft den Standort “bagatellisieren”. Dies mag man akzeptieren oder bestreiten; wichtig für meine Argumentation sind hier die weiteren Konsequenzen, die aus diesem Befund gezogen werden. In zwangloser Einigkeit mit Bolz, Stichweh, Faßler oder Virilio, als gelte es, die These von der Homogenisierung zumindest für das System der Wissenschaft zu bestätigen, folgert auch Willke aus der Raumlosigkeit der atopischen Gesellschaft das Ende des politischen Hegemonialstrebens. “Wenn Verortung und Ortbarkeit verloren gehen”, so Willke, dann stehe auch die “Überwindung hegemonialer internationaler Regimes” auf der Tagesordnung.39 “Verortung und Ortbarkeit”, Begriffe aus der Geopolitik Karl Haushofers und Carl Schmitts, stehen hier für die militärischen und politischen Voraussetzungen des Freund-Feind-Denkens: Der Feind muss ortbar sein, um verortet zu werden, handele es sich um ein U-Boot, einen EP-3-
36
Ebd. S. 58. Ebd. S. 44, 256f. 38 Helmut Willke: Atopia. Frankfurt/M. 2001. S. 13. Vgl. Bolz: Weltkommunikation (Anm. 18). S. 92. Dort geht es um den ou topos, das Nirgendwo. 39 Willke: Atopia (Anm. 38). S. 198, 189. 37
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Aufklärer, eine Mittelstreckenrakete, einen Terroristenführer oder eine politische Macht, die einen bestimmten Raum besetzt. Wenn diesen Voraussetzungen die Voraussetzung entzogen wird, weil es keinen Raum mehr gibt, in dem der Feind steht, dann sei den “Plagen wie Fremdenhaß, Chauvinismus, Nationalismus, Diktatur und Krieg, welche die Nationalstaaten über die Menschheit gebracht haben”, die Basis entzogen. Es sei die “Ausbreitung lateraler Weltsysteme”, welche diese alten “Plagen [...] obsolet macht”.40 Der politische Wert des Raums verliere “inflationär an Wert”, infolgedessen schwinde die Bedeutung politischer Macht, die ja letztlich an die “glaubhafte Androhung physischer Gewalt” gebunden ist, was ja vollkommen zutreffend ist. Wenn aber Medien die Verortbarkeit von Körpern in Raum abschaffen, und genau das wird ja immer wieder behauptet, dann stößt alle Gewalt ins Leere.41 Mit dem vielfach beschworenen “Ende des Nationalstaates”42 beginnt das Atopia der “konnektivistischen Fluidität”. In diesem atopischen unendlichen Meer ohne Ufer gehen alle alten Mächte und Hegemonien endlich in der Deterritorialisierung unter.43 Der “Kampf der Kulturen” kann endlich aufhören, um einem “gemeinsam geteilten, guten Leben in einer gerechten Weltordnung” Platz zu machen.44 Alles ist gut und die Welt nur noch ein paar Meter Kabel vom ewigen Frieden entfernt. Die Vorstellung, dass Kommunikation per se ein Medium der Verständigung sei, ist älter als die skizzierten medien- und systemtheoretischen Positionen, ja älter als Jürgen Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns. Der dieser Überzeugung zugrunde liegende Gedanke ist kantisch.45 Der Tübinger Philosoph46 Otfried Höffe begrüßt die “technischen Neuerungen”, die uns das “elektronische Weltnetz” gebracht haben, weil sich in diesem Medium weltweiter Kommunikation in Echtzeit eine “globale Öffentlichkeit” herausbilde, deren politisches Äquivalent wiederum die “Weltrepublik” sei.47 Ähnlich hatte Habermas in seiner berühmten Studie 40
Ebd. S. 221. Mit der Ausnahme der Atombombe, an die aber auch Willke nicht denkt. 42 Willke: Atopia (Anm. 36). S. 36, 86, 122. 43 Ebd. S. 175, 189. 44 Richard Münch: Globale Dynamik. Lokale Lebenswelten. Der schwierige Weg in die Weltgesellschaft. Frankfurt/M. 1998. S. 362. Der Naturzustand ist auch für Kant der Krieg. 45 Vgl. vor allem bei Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden [1795]. Stuttgart 1984; hier den Zusammenhang von Publizität, Weltrepublik und Frieden. 46 Vgl. Otfried Höffe: Immanuel Kant. München 1992. 47 Otfried Höffe: Auf dem Weg zur Weltrepublik. In: Süddeutsche Zeitung vom 24./25. 6. 2000. Der gleiche Dreischritt – globale Medien, Weltöffentlichkeit, Weltdemokratie – findet sich auch in Otfried Höffe: Nationalstaaten im Zeitalter der Globalisierung. Auf dem Weg zu einer Weltdemokratie. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25. 7. 2000. 41
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über den Strukturwandel der Öffentlichkeit argumentiert, die ebenfalls Kant verpflichtet ist: Die neuen Kommunikationsverhältnisse des 18. Jahrhunderts (Buchmarkt, Zeitschriften, Zeitungen …) haben sich als Promotoren der öffentlichen Meinung erwiesen, deren politisches Äquivalent eine demokratisch verfasste Republik sei. Publizität galt etwa Kant als politischer Lackmustest, um zwischen Republik und Despotie zu unterscheiden. Öffentlichkeit, Pressefreiheit und Demokratie gehörten zusammen wie Geheimkabinette, Zensur und Arkanpraxis zum Absolutismus.48 Alle Politologen, Soziologen, Philosophen oder Politikberater brauchen nun nur diese ehrwürdige Kant-Habermas-Gleichung auf Weltniveau hochzurechnen, um Internet (access for all, free flow of information …) auf Weltdemokratie reimen zu können. Wenn alle mit allen vernetzt sind und die Argumente zwanglos – ohne Zensur, ohne Manipulation, ohne Vorselektion – ausgetauscht werden, verwandelt sich die schlechte alte Welt der kriegführenden Nationalstaaten in eine E-Gora der Netizens. Wenn aus dem Kaffeehaus die städtische Öffentlichkeit und ihre republikanische Verfassung hervorgegangen sind und aus dem volkssprachigen Buch- und Zeitungsmarkt der demokratische Nationalstaat, dann könnte nun, nach einem schon von Ortega y Gasset unterstellten Prinzip der “Weiterbildung” von kleinen zu immer größeren Einheiten,49 durch weltweite Medien und globale Öffentlichkeit die Stunde der Weltrepublik schlagen. Eduard von Hartmann, ein intimer Kenner Kants, hat schon vor hundertfünfzig Jahren behauptet, “die Souveränität der Nationalstaaten” sei “ebensosehr aufzuhebendes Moment [...] wie die der Territorialstaaten”. Das Ziel der Weltgeschichte sei die “Staatenrepublik”, in der alle Staaten vereinigt seien, weshalb es unter ihnen keinen “Krieg” mehr geben könne, sondern allein “Rechtsschutz durch die Staatenrepublik”.50 Immanuel Kant hat diese Institution den “Friedensbund” genannt.51 Heute heißt es ganz ähnlich, durch die neuen Medien vollziehe sich die “weltweite
48
Vgl. Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft [1966]. Frankfurt/M. 1990. Ders.: Faktizität und Geltung. Frankfurt/M. 1992. Siehe auch Kant: Zum ewigen Frieden. (Anm. 45) Dazu genauer vom Verfasser: Technologien der Macht. System- und medientheoretische Überlegungen zu Schillers Dramatik. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft XL (1996). S. 210-243; sowie ders.: Kommunikation ohne Interaktion. Thesen zu einem zweiten “Strukturwandel” der Massenmedien. In: Zerstreute Öffentlichkeiten. Hg. von Jürgen Fohrmann und Arno Orzessek. München 2002. S. 43-52. 49 José Ortega y Gasset: Der Aufstand der Massen [1929]. Stuttgart 1947. S. 99. Vgl. S. 108ff. 50 Eduard von Hartmann: Philosophie des Unbewußten. Berlin 1869. S. 337. 51 Kant: Zum ewigen Frieden (Anm. 45). S. 18.
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Ausdehnung der westlichen Demokratie” zur “Weltzivilisation”, und schon heute sei die “universelle Institutionalisierung” dieser “zivilisierten Weltgemeinschaft” in “Gestalt einer revitalisierten UNO als einer Art Weltföderation” auf bestem Wege.52 In dieser Weltrepublik herrschte endlich der von Kant ersehnte ewige Friede, weil es keine Staaten mehr gibt, die sich außenpolitisch als Feinde behandeln könnten. Es gibt nur noch Polizei,53 die ein “Volk von Teufeln” in guter Ordnung hält.54 III. Der Weltverkehr als Medium des Weltkriegs 1915 fragt der Liberale Friedrich Naumann in seiner Schrift über Mitteleuropa: “Aber hat denn nicht auch inzwischen jedermann eine weitere Auffassung von der Notwendigkeit größerer Vereinigungen gewonnen? Ein halbes Jahrhundert Eisenbahn und Weltverkehr hat alle erzogen.” Folgt also auf den Weltverkehr die Weltrepublik, “eine einzige, gewaltige Organisation” der gesamten “Menschheit” in den “Vereinigten Staaten der Erdkugel” oder doch wenigstens in “Vereinigten Staaten von Europa”?55 “Eisenbahnen”, schwärmt Joseph von Eichendorff in der autobiographischen Skizze Erlebtes,56 “Eisenbahnen haben Menschen und Länder zusammengerückt [...] und zahllose Journale haben wie Schmetterlinge den Blütenstaub der Zivilisation in alle Welt vertragen”. Neue Transportmittel und neue Massenmedien formen eine globale Zivilisation. Dass sich die Welt verändert hat, seit es Dampfschiffe und Telegraphen gibt, ist im 19. Jahrhundert solidarisch und zeitgleich mit den technischen Innovationen registriert worden. In Gustav Freytags großem Roman Soll und Haben diskutiert eine der Hauptfiguren, der Kaufmann Anton Wohlfahrt, mit seinem Freund Bernhard Ehrenthal die Welt des Welthandels.57 “Wie arm an großen Eindrücken unser zivilisiertes Treiben ist”, entgegnete Bernhard, “das müssen Sie selbst in Ihrem Geschäft manchmal empfinden, es ist so prosaisch, was Sie tun müssen.” “Da widerspreche ich”, erwiderte Anton eifrig, “ich weiß mir gar nichts, was so interessant ist, als das Geschäft. Wir leben mitten unter einem bunten Gewebe
52
Diese Aufzählung aus skeptischer Sicht bei Werner Link: Die Neuordnung der Weltpolitik. Grundprobleme globaler Politik an der Schwelle zum 21. Jahrhundert. München 1999. S. 20. 53 Hardt und Negri übernehmen im Empire (Anm. 23) dieses Bild, wenden es aber ins Negative. Das staatenlose Empire ist eine Überwachungs- und Kontrollgesellschaft, die tatsächlich nur noch Polizei kennt, allerdings eine totalitäre. 54 Vgl. Kant: Zum ewigen Frieden (Anm. 45). S. 31. 55 Friedrich Naumann: Mitteleuropa [1915]. Berlin 1995. S. 132, 164f., 180. 56 Entstanden zwischen 1849 und 1857. Paderborn 1866. S. 13. 57 Gustav Freytag: Soll und Haben. Roman [1855]. München 1953.
118 von zahllosen Fäden, die sich von einem Menschen zu dem anderen, über Land und Meer aus einem Weltteil in den anderen spinnen. Sie hängen sich an jeden einzelnen und verbinden ihn mit der ganzen Welt. Alles, was wir am Leibe tragen, und alles, was uns umgibt, führt uns die merkwürdigsten Begebenheiten aller fremden Länder und jede menschliche Tätigkeit vor die Augen; dadurch wird alles anziehend. Und da ich das Gefühl habe, daß auch ich mithelfe, und sowenig ich auch vermag, doch dazu beitrage, daß jeder Mensch mit jedem andern Menschen in fortwährender Verbindung erhalten wird, so kann ich wohl vergnügt über meine Tätigkeit sein.”58
Dieses Netzwerk, das der Welthandel spinnt, heißt Verkehr. Die “ganze Welt” ist nichts anderes als ein globales “Gewebe von Fäden”. Bereits 1855 ist das gesponnene Netzwerk der Telegraphen, Eisenbahnen und Dampfschiffe so engmaschig und so schnell, dass Antons Freund Fink behaupten kann, es gebe keine großen Entfernungen mehr auf Erden.59 Dass die modernen Verkehrsmittel den Raum aufheben, wissen schon Romanciers des 19. Jahrhundert. Geopolitiker und Kulturphilosophen werden folgen. Aber bereits Freytag zieht aus diesen Beobachtungen ganz andere Konsequenzen als später Virilio oder Faßler, Willke oder Stichweh, Bolz oder Höffe. Die neuen Verkehrsmittel erweisen sich als Medien des Krieges: “Unaufhörlich führten die Dampfwagen der neuerbauten Eisenbahn Soldaten ab und zu.”60 Die Pläne zur Generalmobilmachung des preußischen, später des deutschen Generalstabs basierten bekanntlich nahezu ausschließlich auf Eisenbahnplänen und telegraphischer Befehlsübermittlung. Friedrich Naumann geht nicht nur wie Freytag davon aus, dass Entfernungen schrumpfen. “Was ist heute ein Gebiet von einer halben Millionen Quadratkilometern? Es ist eine einzige Tagesreise geworden.” Er beantwortet auch seine eigene Frage nach der Zukunft der Weltgesellschaft mit dem Hinweis, dass ein weltweites Eisenbahn- und Schifffahrtsnetz nicht nur den Welthandel begründe oder gar die Weltrepublik der Vereinigten Staaten der Erde, sondern auch die Medien des Weltkrieges stelle.61 “Mitten im Krieg” sei die These nicht mehr aufrecht zu erhalten, aus dem Weltverkehr ergebe sich nahezu von selbst eine “friedliche Entpolitisierung der Nationen, Zurückdrängung der Streitmöglichkeiten, Hebung aller durch alle.” Vielmehr existierten nur noch sehr wenige Großraumordnungen mit echter Souveränität, die um die Hegemonie der Welt einen großen Kampf führten.62 Kleine und mittlere Nationen verlören in dieser “Geschichtsperiode der Staatenverbände und Massenstaaten” unter hegemonialer Führung ihre Selbständig58
Ebd. S. 196f. Ebd. S. 262. 60 Ebd. S. 265. 61 Naumann: Mitteleuropa (Anm. 55). S. 166, 171f. 62 Ebd. S. 1, 171, 4. 59
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keit63 – und der Grund dafür sei eben der Weltverkehr.64 Haben neueste Medien daran etwas geändert, weil sie den Raum bagatellisiert haben? Jene akademische Disziplin, die sich mit dem Zusammenhang von Verkehrsmitteln, Raum und Gesellschaft beschäftigte, nannte man im 19. Jahrhundert politische Geographie oder Anthropogeographie, später dann Geopolitik. Friedrich Ratzel hat diese Disziplin in Deutschland begründet. Mit Rückgriff auf Herder hat Ratzel seit den 1880er Jahren immer wieder die These vertreten, alle Kultur- und Geschichtswissenschaft brauche “die Geographie, um den geschichtlichen Boden und die politischen Raumgebilde zu zeichnen, zu messen und zu beschreiben”. Bei Ratzel findet sich auch der interessante Satz: “Weist man der Geschichte das zeitliche Geschehen, der Geographie das räumliche Sein zur Erforschung zu, so vergesse man nicht: alles Geschehen findet im Raum statt, jede Geschichte hat also ihren Schauplatz. Herders Satz von der Geschichte als einer in Bewegung gesetzten Geographie bleibt wahr”.65 Niemand verstehe die politische Geschichte der Nationen, der die “geographische Lage” ihrer Staaten ignoriere; viele Eigentümlichkeiten etwa Britanniens seien auf die Insellage oder solche Deutschlands auf die berüchtigte “Mittellage” zurückzuführen.66 Dies sehen selbst nach dem Zweiten Weltkrieg auch us-amerikanische Geopolitiker noch so.67 Es ist kein Zufall, dass die Geopolitik auch über Verkehrsmittel und Medien reflektiert, da diese den Raum organisieren oder überwinden und so neue Raumordnungen schaffen. Keine sogenannte “natürliche Grenze” hält den neuen Technologien und Verkehrsmitteln stand.68 Macht, Raum und Medien sind dynamische Größen; jede Geopolitik, die nicht technische Medien als evolutionäre Mechanismen bedachte, wäre falsch.69 Die konkrete
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So auch gegen Ende des Zweiten Weltkriegs; Walter Lippmann: U.S. Foreign Policy and U.S. War Aims. USA 1943/44. 64 Naumann: Mitteleuropa (Anm. 55). S. 4. 65 Friedrich Ratzel: Mensch und Erde. In ders.: Erdenmacht und Völkerschicksal. Hg. von Karl Haushofer. Stuttgart 1941. S. 9. “Weist man der Geschichte das zeitliche Geschehen, der Geographie das räumliche Sein zur Erforschung zu, so vergesse man nicht: alles Geschehen findet im Raum statt, jede Geschichte hat also ihren Schauplatz. Herders Satz von der Geschichte als einer in Bewegung gesetzten Geographie bleibt wahr”. 66 Friedrich Ratzel: Gunst und Verhängnis der Lage. In ders: Erdenmacht und Völkerschicksal (Anm. 65). S. 132, 135. 67 Vgl. Edmund A. Walsh: Wahre anstatt falsche Geopolitik für Deutschland. Frankfurt/M. 1946. 68 Ortega y Gasset: Der Aufstand der Massen (Anm. 49). S. 111. 69 Vgl. vom Verf.: Medien der Evolution. Zur Rolle von Verbreitungs- und Speichertechniken in der Systemtheorie. In: Rezeption und Reflexion. Zur Resonanz der
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Ausprägung der Wechselbeziehung von Raum und Gesellschaft hängt auch aus Ratzels Sicht vom Stand der Verkehrstechniken ab. Erst eine Flotte macht die USA zum Nachbarn Japans, erst die Eisenbahn macht Russland zu einem eurasischen Staat. Der “Verkehr” zielt folglich auf die “Überwindung des Raums”.70 Ratzels Herausgeber Karl Haushofer hat in dieser Tradition von “raumüberwindenden Mächten” gesprochen.71 Genau wie Techniken und Verkehrsmittel im Allgemeinen, prägen auch Kommunikationsmedien im Besonderen das Verhältnis von Raum und Gesellschaft. “Eine nur geographisch bestimmte Vorstellung”, kommentiert Carl Schmitt im Anschluss an den “Meister der geopolitischen Wissenschaft”, Karl Haushofer, sei daher nicht ausreichend, denn die “Kraft der raumüberwindenden Mächte” sei “zu groß”, um sich mit einer zweipoligen Dialektik von Raum und Gesellschaft zu begnügen. Man muss daher dreipolig ansetzen: Raum, Technik (Medien), Gesellschaft. Als raumüberwindende Mächte im Weltmaßstab führt Schmitt beispielsweise die Schiffe der “Seestraßen”, die Flugzeuge der “Luftlinien” oder die Röhren der “pipe-lines” an.72 Unter dem enorm anschlussfähigen Begriff communications fasst Walter Lippmann diese Verbindungswege und Verkehrsmittel zusammen.73 Heute könnte man die Glasfaserkabel des Internet und den Orbit der Satelliten hinzufügen.74 Schmitt nennt das “Radio” als exemplarisches Beispiel einer Technik, die den Raum überwindet, da seine “elektrischen Wellen” alle “Staatshoheiten” und geographischen Sonderlagen ignoriert, um lichtschnell um “den Erdball zu kreisen”. Die Grenzfrage wird hier von der Technik gestellt, denn ein Staat, der über solche Technologien verfügt, hat “Ausstrahlung”75 – und sei er so klein wie Katar.76 Daraus folgt umgekehrt, dass jeder Staat ein “Lebensinteresse im vollen Sinne des Wortes” an seinen Verkehrsmitteln hat. Ohne seine nachrichtentechnische und logistische Infrastruktur, konkretisiert Schmitt, könnte etwa das “britische Weltreich”
Systemtheorie Niklas Luhmanns außerhalb der Soziologie. Hg. von Henk de Berg und Johannes Schmidt. Frankfurt/M. 2000. S. 322-360. 70 Friedrich Ratzel: Raumverhältnisse und Raumbewältigung. In ders.: Erdenmacht und Völkerschicksal (Anm. 65). S. 148. 71 Raumüberwindende Mächte. Hg. von Karl Haushofer. Leipzig, Berlin 1934. 72 Carl Schmitt: Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte [1941]. Berlin 1991. S. 29, 36. 73 Walter Lippmann: U.S. Foreign Policy and U.S. War Aims. O. O. S. 23, 78. Um sie wird Krieg geführt, nicht um Moral und Völkerrecht, schreibt Lippmann immer wieder. 74 Dies tut Saskia Sassen: Cyber-Segmentierungen. In: Mythos Internet. Hg. von Stefan Münker und Alexander Roesler. Frankfurt/M. 1997. S. 215-235, hier S. 224. 75 Schmitt: Völkerrechtliche Großraumordnung (Anm. 72). S. 60, 63. 76 Hier sitzt al-Jazeera, der wichtige arabische Nachrichtensender.
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nicht existieren.77 Ohne eine nachrichtentechnische und logistische Infrastruktur gäbe es keine Globalisierung, keine Weltwirtschaft, keine weltweiten Massenmedien, keine full spectrum dominance78 und auch kein information warfare,79 vom e-commerce, e-government oder e-cinema zu schweigen. Der Herr der “raumüberwindenden Mächte” ist daher zugleich der Souverän der Weltgesellschaft. Heute müsste man fragen, wer in command & control der Satelliten, Pipelines, Schifffahrtslinien, Kabelnetze und Fluglinien der Welt ist und wer auf der anderen Seite diese “Adern” des Weltverkehrs zu bedrohen vermag.80 Die Entscheidungen über die konkrete Route eines Transatlantikkabels oder einer Gas- oder Ölleitung sind von allerhöchstem geopolitischen Rang – wenn man denn überhaupt geopolitisch beobachten mag und nicht lieber den Raum “bagatellisiert”. Die Eisenbahn habe den Raum vernichtet, heißt es bereits bei Heinrich Heine. Alles was passiert, konstatiert der britische Geopolitiker Halford J. Mackinder 1904 in seinem berühmten Aufsatz The Geographical Pivot of History, “is re-echoed from the far side of globe” und löse mithin weltweite Konsequenzen aus.81 Man könnte nun annehmen, dass die in ihren Medien derartig geschrumpfte wie vernetzte Welt die Gegensätze der Staaten und Völker aufheben und die Nationen in einer Weltfamilie verschmelzen lassen. Da alles nun mit allem zusammenhänge, werde die Weltgemeinschaft immer enger kooperieren, statt Krieg zu führen, hoffen die Optimisten in kosmopolitischer oder weltrepublikanischer Tradition. Man glaubte, so berichtet Naumann kritisch, an eine Dialektik aus zunehmender technischökonomischer Verflechtung und einer “friedlichen Entpolitisierung”. Wer miteinander Handel und Wandel treibe, bekriege sich nicht. Der paradigma-
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Schmitt: Völkerrechtliche Großraumordnung (Anm. 72). S. 36. Es geht hier um neue Arten der Kriegsführung mittels neuer Medien. Vgl. dazu vor allem die Abschnitte Full Spectrum Dominance und Information Superiority der Joint Vision 2020 der Joint Chiefs of Staff der US Army. 79 Vgl. dazu vom Verf.: Mediale Großraumordnung. Das alte geopolitische Denken ist in die USA emigriert. In: Merkur Nr. 617/618 (2000). H. 9/10. S. 1031-1037. 80 Allein die Fragestellung legt bereits eine Antwort nahe, die auf die “Asymmetrie” der Konflikte abzielt. Gegen Pipelines kann man Terroristen einsetzten, zur Sicherung der Tausende von Kilometern Pipelines braucht man dagegen reichlich reguläre (disziplinierte) Truppen. Wer nun schnell einwenden möchte, dass die dezentrale Struktur des Internet seine Kontrolle wie auch einen Angriff auf das Netz ausschließe, sei an die Cyberwar-Konzepte der großen Armeen dieser Welt erinnert. Vgl. dazu vom Verf.: Der Krieg hat schon begonnen – und jeder kann mitmachen. Überlegungen zu der Ars Electronica 98 Publikation Information. Macht. Krieg. In: Telepolis. Zeitschrift der Netzkultur (http://www.heise.de/tp/deutsch/special/info/ 6300/1.html). 81 In: The Geopolitics Reader. Hg. von Gearóid Ó Tuathail, Simon Dalby und Paul Routledge. London 1998. S. 27-31. 78
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tische Geschäftsmann Schröter in Freytags Soll und Haben ist gegen den Krieg, weil er den Verkehr störe. Der nationale “Kriegsapparat” gehe den Händler nichts an, der grenzüberschreitenden Handel treibe.82 Unter der Herrschaft der Weltwirtschaft, so könnte man den Gedanken weiterspinnen, gebe es keinen Krieg und keine Grenzen. Die Teile fügten sich zum Ganzen. Naumann führt seine Beobachtungen der Vernetzung und verkehrstechnischen Erschließung der Welt mit einer für die Geschichte der Medienwissenschaften sehr interessanten Überlegung fort: Die Folgen dieses Gedankenganges sind auf Grund der ihn weckenden und begleitenden Verkehrstechnik ganz ungeheure geworden. Es gibt heute in der Tat eine wirtschaftlich verbundene Menschheit, die Menschheit der Dampfschiffe, Eisenbahnen, Briefe und Telegramme, eine Menschheit der Nähmaschinen, Getreidesilos, Plantagen und Warenhäuser. Es gibt den Welthandel und die Arbeitsteilung unter den Völkern.83
Auch innerhalb der Nationalstaaten hatte die soziale Arbeitsteilung (Émile Durkheim) keineswegs zum politischen Zerfall geführt, sondern im Gegenteil zur Gründung intern befriedeter, funktionsdifferenzierter Gemeinschaften. Es lag jetzt für viele nahe anzunehmen, dass sich dies im Weltmaßstab dann wiederhole, wenn auch die Dimensionen der Arbeitsteilung global sind. Der dieser Hoffnung zugrunde liegende Gedanke ist Kantisch. In der Schrift Zum ewigen Frieden (1795) heißt es: “Es ist der Handelsgeist, der mit dem Kriege nicht zusammen bestehen kann, und der früher oder später sich jedes Volks bemächtigt.” Welthandel bedeute Weltfrieden.84 Harry Graf Kessler entwirft 1919 einen Völkerbund, der nicht aus Staaten bestehen soll, die immer wieder gegeneinander Krieg führen würden, sondern aus globalen Akteuren, die an friedlichem wie weltweitem Handel und Wandel ein natürliches Interesse hätten. “Ein Fehler, der in die Augen springt”, lesen wir am 16. 2. 1919 in seinem Tagebuch über den Völkerbund-Plan der Entente,85 ist, daß er von Staaten ausgeht, die in einer natürlichen Kampfstellung zueinander stehen, statt von den großen wirtschaftlichen und menschlichen Interessen und Verbänden, die zur Internationalität streben. Diesen internationalen Verbänden (Arbeiterinternationale, internationale Verkehrs- und Rohstoffverbände, große Religionsgemeinschaften, Zionisten, Assoziationen auf humanitärem oder wissenschaftlichem Gebiete, internationale Bankenkonsortien usw.) müßte man Macht- und Zwangsmittel gerade gegen die Staaten verleihen, sie rechtlich immer mehr von den Einzelstaaten ablösen und verselbständigen [...]; nicht aber dem
82
Freytag: Soll und Haben. S. 281, 276. Ebd. S. 171. 84 Kant: Zum ewigen Frieden. S. 33. 85 Frankfurt/M. 1982. S. 129. 83
123 lächerlichen Ausschuß der Großstaaten gerade umgekehrt noch mehr Macht verleihen als bisher.
Der Friede würde ein Resultat der Globalisierung sein, nicht ein Erfolg willkürlich kooperierender Hegemonialmächte. Der Weltverkehr erwiese sich als ein Medium des Friedens. – Friedrich Naumann dagegen schreibt im zweiten Jahr des Ersten Weltkriegs: “Der Krieg hat bewiesen, daß der Austausch allein noch nicht der Friede ist, denn er allein ist keine verwaltende und regierende, keine den Frieden erzwingende Kraft.” Zwar überwinden die Medien wirklich den Raum, sodass entfernte Mächte miteinander Daten und Waren austauschen können, doch können sie eben auch miteinander Krieg führen; und der Erste Weltkrieg, der alle fünf Kontinente intensiv betrifft, wird just um die Herrschaft über die raumüberwindenden Mächte geführt, die einen Weltkrieg erst möglich machen. Die wirklichen Mächte der Welt, so lautet seine entscheidende These, “streiten innerhalb des Austauschsystems mit ihren Mitteln um den Ertrag und um die Oberleitung des Weltapparates”.86 Dieser Streit hat bis heute nicht aufgehört. Naumanns Skepsis könnte man daher noch heute all denen entgegenhalten, die im Austausch schon den Frieden, im Internet schon die Weltgesellschaft finden. Am Ende unseres Durchgangs durch die Semantiken der Weltgesellschaft und des Weltverkehrs ist eine Differenzierung und Präzisierung nötig. Paul Virilio, den wir den raumlosen Denkern zugeschlagen haben, spricht zugleich von einer mondialen “Landnahme”, denn der Trek into Cyberspace kolonialisiert diesen Raum, den die USA der Welt geschenkt haben und ohne den heutzutage weder Wirtschaft noch Politik, noch Wissenschaft funktionieren. Aus den Annahmen, dass erstens das Internet globale Dimensionen angenommen habe und es zweitens eine in Bezug auf hardware wie software amerikanisch dominierte Sphäre sei, zieht Bill Clinton den folgerichtigen Schluss: “Zum ersten Mal gibt es keinen Unterschied mehr zwischen Innen- und Außenpolitik”.87 Das neue Empire ist ein totaler Immanenzraum. Da die Datenströme der Neuen Medien keinerlei nationale Grenzen respektieren, wird die Erde im “metapolitischen Unternehmen” des Infowar in “eine einzige Vorstadt bzw. Bannmeile umgewandelt”,88 in der die USA nach ihren eigenen Vorstellungen für Sicherheit und Ordnung sorgen. Virilios Thesen zum Ende des Nationalstaats kommt also eine ganz andere Bedeutung zu als den ähnlich klingenden Formulierungen von Höffe, Bolz oder Willke, denn was den alten Souverän des Völkerrechts ablöst, ist eben
86
Naumann: Mitteleuropa (Anm. 55). S. 171f. Zit. nach Virilio: Information und Apokalypse (Anm. 27). S. 193. 88 Ebd. 87
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nicht die demokratische und föderale Weltrepublik, sondern ein globaler Großraum amerikanischen Rechts. Eine Schlüsselpassage der Joint Doctrine for Command and Control Warfare der US-Streitkräfte aus dem Jahre 1997 lautet, es sei “möglich, den Feind davon zu überzeugen, daß die USA noch vor Einsetzen der Kampfhandlungen ‘gewonnen’ haben, was eine Abhaltewirkung von Feindseligkeiten zur Folge hat”.89 Macht ist, wie Soziologen (Weber, Luhmann) wissen, wirksame Macht nur als Drohmacht. Wenn Macht herausgefordert wird und Gewalt anwenden muss, entpuppt sie sich im selben Moment als schwach – andernfalls wäre sie nicht herausgefordert worden (wie die EU im Balkankonflikt). Der präventive soft war der “InfoWarriors” hat daher immer schon begonnen und zielt “auf alle Einrichtungen, Denkprozesse und Handlungen, die es dem Gegner erlauben, die Situation korrekt ‘zu beobachten’, richtig einzuschätzen, was diese Beobachtungen bedeuten, [und] aufgrund dieser Einschätzungen rasche, präzise und effiziente Entscheidungen zu treffen”.90 Ein solcher Krieg ist kürzlich gegen den Irak mit enormem Erfolg geführt worden. Der schon vorher wie auch noch nachher tobende permanente ‘Nicht-Krieg’91 zur Erringung einer amerikanischen “Full Spectrum Dominance” dient, wie sich aus offiziellen Dokumenten für den US-Präsidenten, den US-Kongress und die US-Army zweifelsfrei ergibt,92 der “politischen und militärischen Weltvorherrschaft, Hegemonie, Dominanz und Beherrschung”.93 Es handelt sich um einen ‘Nicht-Krieg’, weil er längst begonnen hat und ohne Kriegserklärung, ohne Behinderung durch das Völkerrechts, also ‘ungehegt’ geführt wird: Die geltende Militärdoktrin der Vereinigten Stabschefs betont ausdrücklich, dass die Information Superiority der USA als Basis ihrer Full Spectrum Dominance täglich errungen werden muss: in Zeiten von Kampfeinsätzen genauso wie in “a noncombat situation or one in which are no clearly defined adversaries”, also jederzeit. Zwischen Krieg und Frieden wird daher genauso wenig unterschieden wie zwischen Innenund Außenpolitik.
89
Zit. n. George J. Stein: Infowar. In: Information. Macht. Krieg. Ars Electronica 98. Hg. von Gerfried Stocker und Christine Schöpf. Wien. New York 1998. S. 5766, hier S. 61. 90 Stein: Infowar (Anm. 90). S. 65. Es ist angebracht zu erwähnen, dass George J. Stein am US Air Force War College unterrichtet und für seine Tätigkeiten vom Oberbefehlshaber der US Air Force mehrfach ausgezeichnet wurde. 91 Carl Schmitt: Die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff [1938]. Berlin 1989. S. 42f. 92 Vgl. vor allem die Abschnitte Full Spectrum Dominance und Information Superiority der Joint Vision 2020 der Joint Chiefs of Staff der US Army. 93 Georg Schöfbänker: Von Plato zur Nato. In: Ars Electronica 98. S. 111-131, hier S. 123.
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Der von den USA vorangetriebene und finanzierte Ausbau des Internet vollzieht nicht nur eine “geopolitische Globalisierung”,94 sondern sichert zugleich auch dem Herrn dieser Technik eine Vormachtstellung, an der deshalb niemand Anstoß nimmt, weil die Technik zu “einem völlig neutralen Gebiet nivelliert” worden ist,95 das, wie zum Beispiel der ehemalige Vizepräsident Albert Gore unermüdlich wiederholt, ein Geschenk der USA sei “for all members of the human family”.96 Man könnte an Gores Reden vorführen, “mit welcher Selbstverständlichkeit” die USA ihre “spezifischen Expansions- und Beherrschungsmethoden für wesentlich ‘friedlich’ und ‘natürlich’” erklären.97 “Let us build a global community”, schwärmt Gore von der Global Information Infrastructure, “in which the people of neighboring countries view each other not as potential enemies, but as potential partners, as members of the same family in the vast, increasingly interconnected human family”.98 Diese friedliche Nachbarschaft der Netzgemeinde steht allerdings unter dem Vorbehalt der USA, die Spielregeln dieses ‘Friedens’ zu gestalten (Freihandel, Demokratie, Menschenrechte, freier Zugang ...), die dann freilich für alle gelten, aber gerade dadurch “die Erde in einen einzigen, allen angelsächsischen Interventionen offenstehenden Raum verwandeln”.99 Brzezinski wiederholt in seiner Beschreibung der “Hegemonie neuen Typs” – die Vokabel und die mit ihr verbundene These zur Rolle der Medien werden Hardt und Negri in Empire aufgreifen – nur die völkerrechtlichen Analysen Schmitts, wenn er etwa die amerikanischen Mitarbeit in internationalen Organisationen von der NATO bis zur UNO als Hegemonie bezeichnet, die sich hinter dem offiziösen “Universalismus”100 verbirgt: “Offiziell vertreten der Internationale Währungsfond und die Weltbank globale Interessen und tragen weltweit Verantwortung. In Wirklichkeit werden sie jedoch von den USA dominiert”. Offiziell werde mit dem Partnern und Verbündeten im “Konsens” entschieden, tatsächlich gehe die “Macht letztlich von einer einzigen Quelle aus, nämlich Washington, D.C.” Aus dieser Sicht erscheint Deutschland als “geopolitischer Brückenkopf” der USA, die EU als Gruppe “tributpflichtiger Staaten” und Japan als “amerikanisches Protektorat”. Die “pluralistische, durchlässige und flexible” Vor94
Virilio: Information und Apokalypse (Anm. 27). S. 108. Carl Schmitt: Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen [1929]. In ders: Positionen und Begriffe. Berlin 1994. S. 138-150, hier S. 147. 96 www.whitehouse.gov. 97 Carl Schmitt: Großraum gegen Universalismus [1939]. In ders: Positionen und Begriffe. (Anm. 95) S. 335-343. S. 341f. 98 www.whitehouse.gov. 99 Schmitt: Großraum gegen Universalismus (Anm. 97). S. 342. 100 Schmitt: Völkerrechtliche Großraumordnung (Anm. 72). S. 32f. 95
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herrschaft der USA101 segelt unauffällig im Windschatten “universalistischer Welt-Ideen”102 und verfolgt das Ziel, etwaige “nationale Interessen” der Verbündeten, respektive Vasallen, in von den USA dominierten, multilateralen Strukturen aufgehen zu lassen.103 Wie der Leser Hans-Dietrich Genscher darauf kommen kann, es gehe Brzezinski darum, “daß Amerika Europa als gleichwertigen Partner akzeptiert”, bleibt ein Geheimnis.104 Das Leitmedium der “Ubiquität”105 amerikanischen Rechts ist das Internet. Als Beleg sei noch einmal aus der Joint Vision 2020 zitiert. “The evolution of information technology will increasingly permit us to integrate the traditional forms of information operations with sophisticated all-source intelligence, surveillance, and reconnaissance in a fully synchronized information campaign.” Das zentrale Medium dieser Strategie ist das weltweite Telekommunikationsnetz. “The development of a concept labeled the global information grid will provide network-centric environment required to achieve this goal.” Das “overall goal” der Militärdoktrin “is the creation of a force that is dominant across the full spectrum of operations”. Die dafür benutzte, von den USA wahrlich beherrschte Technik ist also “kein neutraler Boden”. Ihr “Sinn” ergibt sich erst, “wenn sich zeigt, welche Art von Politik stark genug ist, sich der neuen Technik zu bemächtigen, und welches die eigentlichen Freund- und Feindgruppierungen sind, die auf dem neuen Boden erwachsen.”106 Die vereinigten Stabschefs haben davon eine deutliche Vorstellung gegeben, ihre Joint Vision. Die neuesten Medien erweisen sich mithin als Medien eines permanent geführten amerikanischen NichtKrieges.
101
Zbigniew Brzezinski: Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft [1997]. Frankfurt/M. 1999. S. 49, 91, 41, 49, 277. 102 Schmitt: Völkerrechtliche Großraumordnung (Anm. 72). S. 33. 103 Brzezinski: Die einzige Weltmacht (Anm. 101). S. 112, 88. 104 Hans-Dietrich Genscher: Vorwort. In Brzezinski: Die einzige Weltmacht (Anm. 101). S. 9-14, hier S. 11. 105 Schmitt: Völkerrechtliche Großraumordnung (Anm. 72). S. 32. 106 Schmitt: Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen (Anm. 95). S. 150.
Erhard Schütz
Wahn-Europa Mediale Gas-Luftkrieg-Szenarien der Zwischenkriegszeit1 Texts by J. R. Becher, G. Douhet, H. Gobsch, R. Knauss, H. G. Wells and others are employed to show how between both world wars military and literary authors combined documentary information and elements of the fantastic to create a vision of the war of the future as a short and brutal air-raid in which poison gas was a central element. The civilian population was always assigned a major role as a panic-stricken or revolutionary mass; as either victims or combatants. These scenarios – despite all the efforts to popularize them – were only poor reflections of the real capacities of the mass media. That the real aerial warfare took on quite a different path than imagined – especially in hindsight of people’s endurance – is not only due to its military aspects but also a result of the fact that Nazi-propaganda made full use of the feedback facilitated by the mass media, managing to sell even the difference between the real and the predicted war as one more reason to hold on for the ‘final victory’.
I. Gaskrieg 1936 “War! The newsboys run shouting through the streets and while their cries startle the public the first bombs begin to fall.” So begann Captain H. S. Broad 1936 sein Szenario des Luftkriegs in der Londoner Army, Navy and Air Force Gazette.2 Das Kriegsministerium und die Admiralität sind sofort zerstört, St. Paul’s Cathedral und das Parlament nurmehr Ruinen. Während die Symbole klassischer Mächte zerfallen sind, übersteht die wahrhaft säkulare: Die Bank von England trotzt – dank eines bombenfesten Dachs – allem, was in jedweder Größe und Art vom Himmel regnet, “many of these bombs contain gas. If the wind drops …!” Unter diesem Menetekel geraten die Menschen in Panik. “Indescribable scenes of panic follow.” Die einen, die schreckensstarr im Wege stehen, werden niedergetrampelt. Andere versuchen, sich der Motorfahrzeuge zu bemächtigen, sodass Soldaten gezwungen sind, in die Menge zu feuern. Währenddem durchschlagen Gasbomben die U-Bahnstation von Piccadilly Circus. Über 2.000 Menschen sterben hier. London steht in Flammen, Gasmasken gibt es keine mehr. Telefon und Telegraf sind ausgefallen, nur die BBC sendet, dass sie noch senden kann. Da funkt ein Trawler aus der Nordsee den Überflug gewaltiger feindlicher Formationen, doch es gibt keine Zeitungen mehr, die das ver1
Für Hinweise und Recherchen danke ich Andy Hahnemann! H. S. Broad: If it happened to-day! In: Army, Navy an Air Force Gazette 77 (1936). S. 620. 2
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melden könnten, keine Möglichkeit, die Evakuierung der Gebäude anzuordnen. “And thus ends the first six hours of the war!” Mit diesem Szenario ist Captain Broad 1936 schon recht spät dran. Bombenkrieg unter Einsatz von Giftgas hatte da schon stattgefunden. Allerdings nicht gegen die ‘zivilisierten’ Nationen und ihre großen Städte. Nachdem Spanien bereits Mitte der zwanziger Jahre S-Lost (Yperit) im Kampf gegen die Unabhängigkeitsbewegung der Rifkabylen im spanischen ‘Protektorat’ Nordmarokko eingesetzt und dabei systematisch Dörfer und Trinkwasserstellen ins Visier genommen hatte, war auch Italien 1930 gegen Aufständische im heutigen Libyen zu Giftgasbomben übergegangen. Die dabei geschulten Militärs waren wenig später verantwortlich für das, was unmittelbar vor dem Erscheinen der Zeilen von Captain Broad, nämlich am 30. Juni 1936, Äthiopiens Kaiser, Haile Selassie I., vor dem Völkerbund angeklagt hatte: dass Italien unter Bruch aller unterzeichneten Abkommen in seinem mit äußerster Brutalität gegen Abessinien geführten Krieg seit Weihnachten 1935 systematisch Yperit eingesetzt hatte. In eigens dafür entwickelten Bomben, die mehr als 200 Kilogramm Senfgas fassten, verschonte die Regio Aeronautica, die italienische Luftwaffe, Adis Abeba, weil Mussolini negative Auswirkungen durch die dort lebenden Ausländer fürchtete, attackierte jedoch nicht nur die schutzlosen abessinischen Truppen, sondern auch Dörfer weit im Hinterland der Kämpfe. “Der tödliche Regen, den die Flugzeuge ausbrachten, ließen [sic!] alle die, die mit ihm in Berührung kamen, vor Schmerzen schreien. Alle, die vergiftetes Wasser tranken oder verseuchte Nahrung aßen, starben ebenso, fürchterliche Qualen leidend. Die Opfer des italienischen Senfgases gingen in die Zehntausende.”3 Was Haile Selassie vorm Völkerbund vorbrachte, war nicht übertrieben, wie andere Quellen bestätigten, darunter etwa auch im April 1936 der Brite John Melly, der als Leiter einer Einheit des Roten Kreuzes in Abessinien tätig war. Dass dieser Gaskrieg nicht ohne Wissen der Weltöffentlichkeit stattfand, ja dass man ihn schon erwartete, mag eine perfide Titelkarikatur des Kladderadatsch vom September 1935 (!) belegen, in der unter dem Titel Besser ist besser – und zur Unterschrift Vorbereitungen der Zugvögel für den Flug nach Afrika – Störche unter den Blicken einer entsetzten deutschen Zopf-Maid Gasmasken trugen.4 Nicht zuletzt weil Briten und Franzosen im Blick auf die eigenen Kolonialprobleme Zurückhaltung übten, tat der Völkerbund nichts. Beide Länder 3
Zit. n. Aram Mattioli: Entgrenzte Kriegsgewalt. Der italienische Giftgaseinsatz in Abessinien 1935–1936. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 51 (2003). H. 3. S. 311-337, hier S. 335. Die Ausführungen zum kolonialen Gaskrieg verdanken sich dem Aufsatz von Mattioli sowie Sven Lindqvist: A History of Bombing. London 2001. 4 Oskar Garvens: Besser ist besser. In: Kladderadatsch 88 (1935). Nr. 38.
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hatten immer wieder in ihren Kolonien Flugzeuge zur Niederschlagung von Aufständen eingesetzt und zusammen mit der Sowjetunion – trotz ihrer Unterschrift unter das Genfer Protokoll zum Verbot chemischer und biologischer Waffen – sich ausdrücklich Vergeltungsangriffe mit Giftgas bei einem gegen sie geführten Erstschlag vorbehalten. Und so gingen die Giftgasflüge in Abessinien noch bis 1939 weiter, wohingegen sich die europäischen Völker, nach den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges, wenigstens den Giftgaskrieg untereinander ersparten. Aber nicht nur die reale Entwicklung hatte das Szenario von Captain Broad etwas verspätet erscheinen lassen, sondern auch die literarische Phantasie. 1933 war vom Altmeister der Luftkriegsprophetie und des Welt(en)kriegs, H. G. Wells, ein Roman erschienen, der unter dem Titel The Shape of Things to come 5 einen Luftangriff auf England, London voran, imaginierte, bei dem der Einsatz von Giftgas einen total erscheinenden Rückfall in archaische Zustände hervorrufen sollte, die dann, kulturmorphologischen Zyklenvorstellungen folgend, irgendwann später, durch die Ankunft einer überlegenen Fliegerspezies aufgehoben werden würde. Der Roman diente überdies zur Vorlage für einen britischen Film, Things to come, der in der Regie von William Cameron Menzies 1936 in die Kinos kam. II. Szenarien des Zukunftskrieges Die Kombination von Luftkrieg und Gaseinsatz hatte gleich nach dem Ersten Weltkrieg die Phantasien beschäftigt. Der General und bei Ende des Ersten Weltkrieges Chef der Regio Aeronautica, Giulio Douhet, war wohl der Erste, der mit seinem 1921 erschienen Buch Il Dominio dell’ Aria 6 die Koppelung von Luftkrieg und Gasbombardement geradezu als Axiom der Vorstellungen vom Zukunftskrieg eingeführt hat, indem er den zukünftigen Krieg als ausschließlichen Luftkrieg mit ganz selbstverständlichem Einsatz von Gas annahm, und als unabweisbar, brutal und kurz prognostizierte. Douhets Schrift war erst Mitte 1935 in deutscher Sprache erschienen,7 aber schon in den zwanziger Jahren in einschlägige Überlegungen einge5
H[erbert] G[eorge] Wells: The Shape of Things to come. London 1933. Giulio Douhet: Il Dominio dell’ Aria. Rom 1921. 7 Giulio Douhet: Luftherrschaft. Deutsch von Rittmeister a. D. Roland E. Strunk. Berlin o. J. [1935]. Eine französische Teil-Übersetzung wurde 1932 publiziert: Giulio Douhet: La Guerre de l’Air. Paris 1932. Eine englische Übersetzung ist mir bisher nicht bekannt geworden. Nach Timo Baumann: Der Krieg der Zukunft in britischen Militärzeitschriften. In: An der Schwelle zum Totalen Krieg. Die militärische Debatte über den Krieg der Zukunft 1919–1939. Hg. von Stig Förster. Paderborn u. a. 2002. S. 179-266, hier S. 226, wurde Douhet offenbar in Großbritannien erst ab 1932 über die französische Übersetzung rezipiert. 6
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gangen. Der Begriff ‘Douhetismus’ war längst geläufig. Er besagte, dass der Krieg der Zukunft als Luftkrieg und als ein “totaler Krieg” geführt werden werde.8 Zwar habe – schon aufgrund der technischen Fortschritte der Luftabwehr und der immensen Kosten für den ständigen Unterhalt “einer mit den modernsten Bombenmaschinen ausgerüsteten Luftarmada” – kein Staat “sich bis heute den Grundregeln Douhets verschrieben”, so Oberstleutnant von Bülow in seinem Vorwort zur deutschen Übersetzung, aber die “Wiederherstellung der deutschen Wehrhoheit und insbesondere der deutschen Luftwaffe” durch den ‘Führer’ lasse den Augenblick gekommen erscheinen, in dem Douhets Gedanken “über die Fachkreise hinaus einer weiteren Öffentlichkeit zugängig” gemacht werden sollten. Dies insbesondere der “utopischen Vorstellungen” wegen, die geeignet seien, “den Abwehrwillen des deutschen Volkes zu leiten und zu stärken”. 9 Gemeint ist – nach Kapiteln über die Luftherrschaft und den Luftkrieg – der dritte Teil, Der Krieg 19.., der immerhin mehr als die Hälfte des Buches einnimmt. Dabei handelt es sich um die Fiktion eines durch die Folgen des Versailler Vertrags unvermeidlichen Krieges, der – auf einige Jahre nach 1928 datiert10 – durch einen Luftangriff Frankreichs auf deutsche Städte ausgelöst und schon nach zwei Tagen aufgrund der Luftüberlegenheit und Brutalität für Deutschland entschieden wird. Dargestellt wird das aus der fiktiven Perspektive eines Geschichtsschreibers ebendieses Krieges, der sich auf Akten, Verlautbarungen und Kriegserinnerungen beruft. Demnach hatten französische Flugverbände im Morgengrauen eines 16. Juni die Städte Köln, Bonn, Koblenz, Bingen, Mainz, Worms, Mannheim und Speyer bombardiert. Wiewohl die Zahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung “nicht erschütternd” war und die Franzosen kein Giftgas einsetzten, hatten die Deutschen den Einsatz von Gasbomben und ungeheure Verluste gemeldet: “Tausende friedlicher Bewohner, Greise, Frauen und Kinder, wurden getötet oder liegen im Sterben.” Die darauf fußenden Berichte der “Extraausgaben aller Zeitungen der Welt” hinterließen einen “ungeheuren Eindruck”.11 Um sieben Uhr schlug die deutsche Luftflotte zurück, indem sie zahlreiche französische Städte bombardierte und “über 1000 Tonnen Bomben auf die Umgebung von Paris” abwarf.12 Worauf die Franzosen wiederum mit Angriffen auf Hannover, Magdeburg, Leipzig und Dresden antworteten, die Deutschen ihrerseits Städte und 8
Oberstleutnant [Hans] von Bülow: Vorwort. In Douhet: Luftherrschaft (Anm. 7). S. 5-9, hier S. 7. 9 Ebenda. S. 8f. 10 Vgl. Douhet: Luftherrschaft (Anm. 7). S. 93. 11 Ebd. S. 166. 12 Ebd. S. 179.
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Eisenbahnstrecken in Frankreich und Belgien angriffen, die Franzosen mit Abwürfen durch “Nachtbomber-Brigaden” auf Köln, Koblenz, Mainz und Frankfurt replizierten, die Deutschen erneut französische Eisenbahnstrecken attackierten, dabei nun tatsächlich Giftgas einsetzten, dessen Wolken, “vom Winde verweht, breite Spuren des Todes und Verderbens in das Land fraßen”.13 Zugleich kündigten die Deutschen eine völlige Zerstörung von Namur, Soissons, Chalons und Troyes an. Während der Räumungsbefehl für diese Städte – weiter angestachelt durch abgeworfene Flugblätter – in den Hauptstädten Paris und Brüssel “Massenflucht und Panik” auslöste, verwandelten unter “Operationen”, deren Augenzeugenberichte wegen der “Realistik und Anschaulichkeit der Darstellungsweise berühmt geworden sind”, jeweils 500 Tonnen Brand- und Gasbomben die vier mittelgroßen Städte in “brennende Höllen und unnahbare Trümmerhaufen”. Und, so endet der Bericht aus der vergangenen Zukunft: “Von diesem Zeitpunkt an bietet die Geschichte des Krieges von 19.. kein Interesse mehr.”14 Was Douhet 1921 derart als unvermeidbar prognostiziert hatte – Angriffe einer überlegenen Luftmacht, unter Einsatz von Spreng-, Brand- und Gasbomben, mit den Folgen von Massenpanik und grausigen Opfern unter der Zivilbevölkerung, die zu einem schnellen Kriegsende führen –, das gehörte fortan zum Standardrepertoire der Szenarien des Zukunftskriegs in der Zwischenkriegszeit. Dies keineswegs nur in den Köpfen von Sensationsjournalisten oder pazifistischen Literaten. Vielmehr waren es gerade Militärs, die den Zukunftskrieg so – nach dem Muster von Douhet – entwarfen. Zunächst um nüchterne Analytik und numerische Argumentationen bemüht, ließen sie schließlich doch die militärischen Bilanzierungen ins Belletristische hinübergleiten, um die ‘unbeschreiblichen Szenen’ zu schildern, von denen die endgültige Evidenz ihrer Forderungen nach forcierter Luftrüstung und Vorbereitung auf den Bombenkrieg ausgehen sollte. Das gilt offenbar nicht nur für Deutschland, wo nach den militärischen Fesselungen durch den Versailler Vertrag die Fixation an den Himmel besonders ausgeprägt war: sei es als Schreckensort zukünftiger Schutzlosigkeit, sei es als Herkunftsort wundersamer Ressourcen nationaler Rettung und siegreicher Restitution durch Raketen, Brennspiegel, Todesstrahlen oder was auch immer.15 Vielmehr scheint die Vorstellung vom Zukunftskrieg als
13
Ebd. S. 183. Ebd. S. 184f. 15 Vgl. dazu Manfred Nagl: Science Fiction in Deutschland. Tübingen 1972; Jost Hermand: Völkische und faschistische Zukunftsromane. In: Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. Hg. von Horst Albert Glaser. Bd. 9. Reinbek 1983. S. 212218; Peter Steven Fisher: Fantasy and Politics. Visions of the Future in the Weimar Republic 1918–1933. Diss. Ann Arbor, Mich. 1986. 14
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Luft-Gas-Krieg in Europa, den USA und auch in der Sowjetunion weithin Konsens gewesen zu sein.16 In Deutschland wird, wenn vom zukünftigen Krieg die Rede ist, der Gaskrieg aus der Luft jedenfalls stets mitgedacht. Als z. B. Generalleutnant a. D. Max Schwarte 1923 sein Handbuch über Die Technik im Zukunftskriege vorlegt,17 stellt er den Gaskrieg ins Zentrum seiner Schrift, um ihn im darauffolgenden Kapitel über die “Luftkampfmittel” wiederaufzunehmen. Zukünftig müsse mit einer “Massenverwendung der Gase” gerechnet werden. Diese sei “an die Ausbildung beweglicher Methoden geknüpft”. “Ganz besonderer Wert” komme dabei wiederum den Flugzeugen zu.18 Deshalb sei es besonders problematisch, dass man in Deutschland “keine Flugzeuge in der Luft” sehe. Das führe einerseits zur Annahme, Flugzeuge seien ohne Bedeutung, andererseits blieben bei der Erörterung von Luftkriegsfragen die Experten unter sich, woraus wiederum die einseitige Sicht – des ‘Douhetismus’ – resultiere, “der Krieg der Zukunft werde nur in der Luft ausgefochten”. Beide Meinungen seien gleich gefährlich.19 Unzweifelhaft sei allerdings, dass der “alte Begriff der Disziplin [...] im Zukunftskrieg durch den Begriff der ‘Gasschutzdisziplin’ noch in weit stärkerem Maße erweitert werden” müsse.20 Als Schwarte 1931 für Reclam ein Buch über den Krieg der Zukunft schreibt, ist die Aufmerksamkeit, die er dem Gas-Luftkrieg widmet, entschieden höher. Er weist darauf hin, dass zwar im Völkerbund der Einsatz von Gas geächtet worden sei, aber in fast allen Staaten kontinuierlich an der Verbesserung der alten und an der Suche nach neuen Kampfstoffen gearbeitet worden ist; und schon die “Vermehrung und sorgsamste Pflege” der entsprechenden Voraussetzungen für den Gaskrieg zeige, was man davon zu halten habe.21 Vor allem die von der “Mechanisierung der Heere” erzwungene Industrialisierung des ganzen Volkes zum Zweck der Kriegsführung” mache die Städte besonders kriegswichtig und damit den “früher als geheiligtes Dogma gepredigte[..] Satz vom völkerrechtlichen Schutz der friedlichen Zivilbevölkerung” obsolet.22 In allen Ländern, die am meisten vom Frieden reden, werden die zur Abwehr der Luftgefahr notwendigen Einrichtungen am stärksten gefördert. Ausbau der Orga-
16
Vgl. die Beiträge in: An der Schwelle. Hg. Förster (Anm. 7). M[ax] Schwarte: Die Technik im Zukunftskriege. Ein Handbuch. BerlinCharlottenburg 1923. 18 Ebd. S. 108. 19 Ebd. S. 129. 20 Ebd. S. 118. 21 Max Schwarte: Der Krieg der Zukunft. Unter Mitarbeit von Oberstleutnant a. D. Benary. Leipzig 1931. S. 17, 19f. 22 Ebd. S. 34. 17
133 nisationen für den Luftschutz, gegen Gasgefahr […] können nur als kriegsmäßige Handlungen gewertet werden.23
Zwar gibt er dann zu bedenken, dass noch immer in der Geschichte zu jedem neuen Kriegsmittel Gegenmittel gefunden worden seien und dass die noch so siegreichen Flugzeuge “landgebunden” bleiben, nämlich immer wieder in ihre “Heimathäfen” zurückkehren müssten. “Der Luftraum muß immer wieder von neuem erobert werden.” Aber auch Schwarte kann sich nicht versagen, den Krieg der Zukunft auf wenigstens einer Seite in all seiner Drastik auszumalen: Hunderte von Flugzeugen erscheinen über offenen Städten, lassen ihre Ladung an Spreng-, Brand- und Gasbomben zur Erde sausen. Ganze Häuserblocks, ganze Fabrikviertel stürzen donnernd zusammen, Flammenmeere machen sie zu Trümmerstätten. Angstvoll drängen sich die schutzsuchenden Massen der Bevölkerung in Keller, in Unterstände; aber auch dahin dringen die Gasschwaden
… und so folgen, ausgemalt, Chaos, Hungersnot, Krankheiten, Seuchen – und die Niederlage.24 Da der Zukunftskrieg derart ein Volkskrieg sein wird, werde es unabdingbar, sich der Bedeutung der Propaganda zuzuwenden, den “gleisnerischen Versprechungen” und den “zersetzenden Einflüssen der feindlichen Propaganda” zu wehren, und “die Kämpfer des Geistes, wenn auch nicht persönlich, so doch mit dem von ihnen geschaffenen Rüstzeug” auf das Schlachtfeld vordringen zu lassen. Dabei seien freilich nicht “hochtrabende Aufrufe, langatmige Belehrungen, wohlgemeinter Zuspruch”, sondern “kurze sachliche Hinweise” gefragt.25 Unter den derart skizzierten Annahmen, dass der Frieden Vorbereitungsraum für den kommenden Krieg sei und die Zivilbevölkerung aktiv wie passiv in den Krieg einbezogen sein würde – zumal sie, wie 1926 Hans Ritter in seinem Buch über den Luftkrieg schreibt, mit ihrem “Kriegswillen” integraler Bestandteil der ‘Streitkräfte’ wäre26 –, muss folglich im Frieden die eigene Bevölkerung auf den Krieg eingestimmt und zugerüstet werden, ist die eigene Schrift, in der ebendies steht, ein solch sachlicher Hinweis. Der vermag freilich ohne die Dramatisierung des zu erwartenden Zukunftsschreckens nicht auszukommen. Zwar zitiert z. B. Ritter bekräftigend ausländische Experten, die den apokalyptischen Gaskrieg ins Reich der Phantasie verweisen:
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Ebd. S. 46. Ebd. S. 51ff. 25 Ebd. S. 75f. 26 Hans Ritter: Der Luftkrieg. Berlin, Leipzig 1926. S. 229. 24
134 Die Spekulationen […], die im Zukunftskriege ganze Heere unter dem Leichentuch eines Tausende und aber Tausende von Quadratkilometern bedeckenden Gasschwadens jämmerlich verenden lassen, gehören in das Feuilleton eines Sensationsblättchens, aber nicht in den Kreis ernsthafter Betrachtungen. Dieses Urteil gilt in fast noch höherem Maße für den Bauernschreck des Gastodes einer nach Millionen zählenden Großstadtbevölkerung im Zukunftskriege, der in der Schreckenskammer der pazifistischen Presse einen Ehrenplatz einnimmt.27
Das Urteil mag seine Begründung finden in Presseartikeln oder Zeichnungen wie beispielsweise der in der populären Berliner Illustrirte [sic!] Zeitung 1927, worin im Mittelgrund einer ansonsten leeren, endlosen Straßenflucht ein Häuflein Leichen zu sehen ist, unterschrieben: “Was die ZivilBevölkerung in einem künftigen Krieg zu erwarten hat”.28 Jedoch sind es nicht nur Pazifisten und Literaten, sondern, wie ja bisher schon gesehen, gerade auch Militärs, die sich darin ergehen, den Krieg der Zukunft als papiernes Planspiel dramatisch zu inszenieren. Wie (wenig) literarisch gelungen man ihre Bemühungen auch immer bewerten mag, sie indizieren doch einen neuen Adressaten militärstrategischer Überlegungen: nicht mehr nur den militärischen Fachmann, sondern den aufgrund der technischen Gegebenheiten des neuen Kriegs zwangsweise anzunehmenden Kombattanten, die Zivilbevölkerung. Was man fachmännisch von ihr hält, das machen die Texte klar, mit denen man sich in angenommener Popularisierung an sie – zumindest auch an sie – richtet: In ihnen neigt die Zivilbevölkerung stets zu Chaos, Panik und Verführbarkeit durch den Gegner. III. An die zukünftigen Opfer Zwar erscheint die Masse vorrangig passiv, als Opfer und damit als Schwachstelle, oder sie wird – noch gefährlicher – zur unkontrollierbaren Panikhorde; aber zugleich wird sie im Zukunftskrieg gebraucht: von den Militärs als Verlängerung und Support der Front, von den kommunistischen Weltrevolutionären, wie gleich noch zu sehen, als Ressource des Klassenkampfes. Der Gas-Luftkrieg ist ein fester Topos innerhalb der programmatischen, feuilletonistischen und literarischen Kriegsvorstellungen zur Zeit der Weimarer Republik. Eigentümlich dabei ist, dass es hier von Seiten der militärischen Fachleute wie der einschlägig interessierten Literaten zu einer Annäherung kommt. In beider Produkte vermischen sich Information und Unterhaltung, Fakten und Fiktionen. Während die einen sich mal mehr, mal 27
Ebd. S. 197. Berliner Illustrirte Zeitung. Nr. 44 vom 30. 10. 1927. S. 1747. Der beigefügte Text erläutert: “Militärische Sachverständige erklären, daß wenige Stunden nach der Kriegserklärung alles Leben in großen Städten wie Berlin oder London von nur 20 Flugzeugen durch Giftgase vernichtet werden kann.”
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weniger plastisch, mal mehr, mal weniger ausführlich eingefügter Dramatisierungen ihrer strategischen Kalkulationen bedienen, bauen die anderen in ihre – im mehrfachen Sinne – Spannungsgeschichten zur Unterfütterung und Steigerung der Schreckenseffekte immer wieder ‘Infos’ ein, seien es nun Zahlenkolonnen oder fachmännische Argumentationen. Das reicht bis in die Lyrik. So wählt Erich Kästner für sein 1930 erschienenes Gedicht ‘Das letzte Kapitel’, in dem am 12. Juli 2003 eine Weltregierung zur Herstellung des definitiven Weltfriedens die gesamte Menschheit per Giftgasbomben auslöschen lässt, einen forciert sachlichen, durch Zahlen und Beschreibungen gestützten Duktus, um ein naturgeschichtliches Ende herbei zu imaginieren: Zwar war die Methode nicht ausgesprochen human. Die Erde war aber endlich still und zufrieden und rollte, völlig beruhigt, ihre bekannte elliptische Bahn.29
Johannes R. Bechers Gedicht ‘Fliegerbomben prasselten’ von 1925 steigert sich noch in höchste expressionistische Erregung,30 aber Becher ergänzt es umgehend um einen ganzen Roman über den Gaskrieg, der sofort nach Erscheinen beschlagnahmt wurde: (CHCl:CH)3 As (Levisite) oder Der einzig gerechte Krieg. Schon der Titel indiziert jetzt eine Kombination aus ‘wissenschaftlicher’ Objektivität und Aufrüttelung. Zentriert um eine Bekehrungs- und Opfergeschichte, lässt Becher die kapitalistische Aufrüstung gegen das Proletariat in einem kriegerischen Konflikt zwischen Japan und den USA kulminieren, wobei es zum weltweiten Aufstand des Proletariats unter Hilfestellung der Sowjetunion kommt. Was dem einen der Protagonisten, Peter Friedjung, zuvor in einem wüsten, expressionistisch aufgepeitschten Alptraum erschienen war,31 das wird jetzt Wirklichkeit im Roman: Die Flugzeuggeschwader der weißen und der roten Flugflotte stürzten sich aufeinander […]. Ganze Städte versanken in einem unergründlichen, tiefen und geheimnisvollen Gasgrund … Pflanzen, Wälder, Wiesengründe färbten sich: grün, blau, violett. Wunderbare und seltsamste Farbenspiele zauberten die Gasschwaden aus der Erde hervor. Lautlos überzogen ganze Landesteile wie mit einer Decke sich mit Todesschlaf …
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Erich Kästner: Das letzte Kapitel. In ders.: Ein Mann gibt Auskunft [1930]. Zit. n. Erich Kästner: Werke. Bd. 1. München 1998. S. 171f., hier zit. S. 172. 30 Johannes R. Becher: Fliegerbomben prasselten. In Johannes R. Becher: Gesammelte Werke. Hg. vom J.-R.-Becher-Archiv der Deutschen Akademie der Künste zu Berlin. Berlin und Weimar 1966. Band 2. S. 426-431. 31 Vgl. Johannes R. Becher: (CHCl:CH)3 As (Levisite) oder Der einzig gerechte Krieg. Roman (1926). Der Bankier reitet über das Schlachtfeld. Erzählung (1926). 2. Aufl. Berlin, Weimar 1985. S. 123f.
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In Berlin, wo das Proletariat sich ebenfalls erhebt, setzt die Regierung Gasflieger ein. Der andere Protagonist, der Prolet Max Herse, wird das einstweilen letzte Opfer im Roman. “Den roten Entseuchungskommandos gelang es erst im Verlauf einiger Monate, den Gassumpf, in den die Regierungsflieger die Hauptstadt verwandelt hatten, trockenzulegen.”32 So endet der Roman, ganz im Sinne der Stalinschen Doktrin,33 mit einem Etappensieg auf dem Weg zur Weltrevolution. Wie übererregt, größenphantastisch und zerstörungsberauscht der Roman auch insgesamt daherkommt, er suggeriert doch zugleich explizit eine dokumentarische Beweisführung, indem er sich immer wieder als Montage aus wissenschaftlichen Ausführungen oder Leitartikeln geriert und am Ende sogar eine zehnseitige Bibliographie zum Thema bereithält, säuberlich nach proletarischem und bürgerlichem “Klassenstandpunkt” getrennt.34 Dieses Szenario mag auf der anderen Seite zusätzlich zum Werben der Militärs um die nötige Luftrüstung beigetragen haben, zumal es die befürchtete Trennung des Proletariats vom Zugang zu den Waffen der Zukunft thematisierte, nämlich einerseits vom Fliegen als bürgerlich-aristokratischem Privileg und vom Gas als Produkt bürgerlich-wissenschaftlicher Chemie-Spezialisten. Jedenfalls ist im 1931 erschienenen Roman WahnEuropa 1934 35 die Sowjetunion der lachende Dritte im Europa erschütternden, von den französischen Kommunisten hinterhältig angefachten Vernichtungskampf zwischen Italien und Frankreich. Hanns Gobsch, ein Vielschreiber, der mit Dramen mäßig erfolgreich war und sich noch 1939 als Sänger von Opferbereitschaft und Führertum andiente,36 hatte den Titel als Kontrafaktur zur Bewegung Paneuropa angelegt, die der österreichische Graf Richard von Coudenhove-Kalergi 1923 ausgerufen hatte. Auch wenn in der gleichnamigen Zeitschrift der Bewegung das Buch als “Warnung” gelobt wird, die “hart und realistisch das Bild des Zukunftskrieges” zeige und damit beweise, dass es “keine andere Friedenssicherung als den aktiven Willen der Europäer” gebe,37 ist Gobschs Botschaft so eindeutig nicht. Paneuropa – jedenfalls als friedliche Unternehmung – erscheint als aussichtslos, ja geradezu Garant eines zukünftigen Krieges, an dessen Ende der Sieg des sowjetischen Kommunismus dräut. 32
Becher: Levisite (Anm. 31). S. 350, 364. Vgl. Jens-Fietje Dwars: Abgrund des Widerspruchs. Das Leben des Johannes R. Becher. Berlin 1998. S. 245ff. 34 Becher: Levisite (Anm. 31). S. 365-375. 35 Hanns Gobsch: Wahn-Europa 1934. Eine Vision. Hamburg u. a. 1931. 36 Vgl. Karl Bachler: Hanns Gobsch. In: Die Neue Literatur 40 (1939). H. 7. S. 340343. 37 Anonym [Hanns Gobsch]: Wahneuropa 1934. In: Paneuropa 7 (1931). H. 6. O. S. [letzte Seite]. 33
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Die “Vision” von Gobsch gehörte in eine Symptomatologie all-deutscher Selbstentwürfe: mit ihrem Führerbild, dem dualistischen Operieren mit angeblichen Volkscharakteren38 und Geschlechterverhältnissen, die bis hinein in die Symbolik von Licht und Finsternis resp. Sonne und Mond ausgedeutet wurden und, kurz gesagt, nicht weniger als den Kampf zwischen Gottheit und Kreatur illustrierte.39 Hier soll sie nur zur thematischen Orientierung auf den Gas-Krieg aus der Luft befragt werden. Auch in diesem Roman, der es durch geostrategische Interessenskonflikte auf dem Balkan zwischen einem faschistischen Italien und einem sozialistischen Frankreich zur Kriegskatastrophe kommen lässt, wird man mit nüchternen Traktaten über Strategien des Luftkriegs40 ebenso konfrontiert wie mit apokalyptischen Szenen von Massenpanik und -vernichtung. Obendrein wird die Katastrophenstimmung durch Emotionen in der Geschlechterbeziehung motiviert, nämlich Leidenschaft und Enttäuschung über die unerwiderte Liebe der Kommunistin Rhée zum Helden, dem kühnen Flieger, Paneuropäer, moskaufernen pazifistischen Sozialisten und Präsidenten der Republik, Léon Brandt. Stöhnen, Wimmern, Fluchen, Beten, Gelächter Tobsüchtiger: ferne Erinnerung an gotterschaffene Wesen. […] Menschenfetzen, Autoreste, Asphaltbrocken, Steinschutt prasseln über Boulevards. Blutströme wälzen sich durch die Gossen. Giftdampf strömt durch Mauern und Menschenhaut. […] Heimatlose Tierherden mit menschlichem Antlitz geistern durch die Wälder. […] Ein müde gewordener Baum ließ vorzeitig gereifte Früchte zu Boden fallen. Sie zu sammeln, marschieren russische Divisionen durch Sowjet-Polen, den Grenzen Mitteleuropas entgegen.41
Selbstverständlich sind am Ende dieses Krieges nicht nur die Menschen weitgehend hingemetzelt, sondern auch die nationalen kulturellen Symbole zerstört, der Petersdom ebenso wie der Arc de Triomphe und der Eiffelturm. Höchst symbolisch zerspellt der Eiffelturm auch im 1932 erschienen Roman von Major Helders, Luftkrieg 1936. Die Zertrümmerung von Paris,42 gleich auf dem Titelblatt. Unter dem Pseudonym Major Helders verbarg sich 38
So ist die Hauptfigur mit dem starken Namen Léon Brandt geprägt durch Franzosentum einerseits, das Blut seines deutschen Vorfahren, der als 48er nach Frankreich geflohen war, andererseits. 39 Einige Ansätze dazu finden sich in Tomasz Waszak: Hanns Gobsch: WahnEuropa 1934 – Literarische Vorwegnahme einer paneuropäischen Katastrophe. In: Eurovisionen. Vorstellungen von Europa in Literatur und Philosophie. Hg. von Peter Delvaux und Jan Papiór. Amsterdam, Atlanta 1996. S. 95-106. 40 Vgl. bspw. Gobsch: Wahn-Europa (Anm. 35). S. 194ff. 41 Ebd. S. 334, 346-348. 42 Major Helders [d. i. Robert Knauss]: Luftkrieg 1936. Die Zertrümmerung von Paris. Berlin 1932.
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Robert Knauss, seinerzeit hochrangiger Manager der Deutschen Lufthansa. Sein Buch, das ein Jahr später ins Französische übersetzt wurde,43 galt – nicht zuletzt dieses romanesken Szenarios wegen – als Werk eines deutschen Douhet.44 Diesmal ist es Großbritannien, das wegen französischer Einflussversuche in Ägypten sich zum Luftüberfall auf Paris entschließt. Auch hier ist der Krieg im Nu zu Ende – nach vier Tagen, mit einem harten Diktat, einer Art Umkehrung des Versailler Vertrags.45 Das romaneske Planspiel beginnt mit einem Fokus aufs Individuelle, mit der Geburtstagsstimmung eines jungen englischen Leutnants, die jedoch alsbald von einer Wolke abgekühlt wird, welche ohne Umstände die “Wolken der hohen Politik” nach sich zieht.46 Von da an dominiert das Großeganze unter Schlagzeilenmontagen, Meldungen, Telegrammen und Aufrufen, im Übergang zu einer kurzgefassten Theorie des Luftkriegs,47 zu fiktiven Lageberichten, militärischen Flug- und Angriffsbeschreibungen, bis schließlich die Situation der bombardierten Stadt eine kräftige Orchestrierung des zukünftigen Schreckens erlaubt. Auch hier gehen dem massierte Bombenangriffe voraus, die neben Zerstörung und Vernichtung am Boden Chaos, Panik und Aufruhr auslösen. Angestachelt von Moskaus Funksprüchen und kommunistischen Agitatoren, kommt es zu Barrikadenbau und Aufstand, die jegliche Evakuierung verhindern.48 Die Luftangriffe dienen neben der Zerstörung der Industrie eindeutig “zur Terrorisierung der Bevölkerung”.49 Wieder bricht die Apokalypse aus, zu der 10 Tonnen Senfgas erheblich beitragen: Aeltere [sic!] Herren, das Bändchen der Ehrenlegion im Knopfloch, halten strategisch belehrende Vorträge. Sie kennen den Fliegeralarm von 1918, es war gar nicht so schlimm, nur keine unnötige Aufregung. “Bei Gasbomben halte man den Atem an.” – lautes Gelächter belohnt den Witz. [Unmittelbar darauf Schreien, Husten, Wimmern und Erbrechen.] Was vermögen ein paar tausend Pompiers gegen eine brennende, gasvergiftete Riesenstadt? […] Nur wenige Minuten hatten die ehernen Schwingen über der Stadt gerauscht. Wie ein Schatten war das apokalyptische Gespenst über den Julihimmel gerauscht, Feuer und Blut regnete aus Schreckenswolken. Wurmhaft verkrümmt in ihrer Todesangst hatten die Mil-
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Major Helders: Comment Paris sera détruit en 1936. Paris 1933. Vgl. Horst Boog: Robert Knauss, the German ‘Douhet’. In: Actes du Colloque International ‘Précurseurs et Prophètes de l’Aviation Militaire’. Paris 1992. S. 275291, bes. S. 276, 280, 285. 45 Vgl. Helders: Luftkrieg (Anm. 42). S. 148. 46 Ebd. S. 14. 47 Vgl. ebd. S. 43f. 48 Vgl. z. B. ebd. S. 89, 102. 49 Ebd. S. 104. 44
139 lionen nichts von dem Gespenst selbst gesehen, dessen böses Summen in der Ferne des Himmels verschlungen wurde von dem Gebrüll der Explosionen.50
Knauss, dessen Buch nicht nur für die entschiedene Luftrüstung, sondern auch für die Bevorzugung der Bomber- gegenüber der Jagdwaffe plädierte, war kurz darauf Vizepräsident der Lufthansa geworden, verließ 1935 aber seinen hohen Posten, um vergleichsweise weit unten bei der neugegründeten Luftwaffe anzufangen, wo er als Kommandeur eines Lehrgeschwaders entscheidend zur Entwicklung der taktischen und operativen Grundsätze beitrug und schließlich im Range eines Generalmajors an der Luftkriegsakademie lehrte.51 IV. Revisionen des Zukunftskrieges 1944, als Robert Knauss gerade zum General der Luftwaffe befördert worden war und zugleich Kontakte zum Widerstand aufnahm,52 als der Zweite Weltkrieg offenkundig seinem Ende zuging, gehörte zu den zwanghaften Selbstversicherungen der aushalteparalytischen Deutschen auch der Blick zurück auf den bisherigen Weg des Kriegs. Man tröstete sich damit, dass er ganz anders verlaufen sei, als ehedem angenommen. Zwar musste man, statt die Vormacht Europas zu sein, die wachsende Bedrohung und Ohnmacht zu Hause spüren, aber was für den Krieg der Zukunft prognostiziert worden war, das alles hatte so nicht stattgefunden: Kein Gaskrieg, kein schnelles Ende, kein ‘Aufstand der Massen’ – trotz eines Bombenkriegs in seinerzeit ungeahnten Dimensionen. Wenn also es hier anders gekommen war, warum, so die implizite Hoffnung, nicht auch jetzt oder demnächst? So beruhigte sich Joachim Günther, der nachmalige Herausgeber der Neuen Deutschen Hefte, in seinem Tagebuch bei der Lektüre eines “intelligenten” Artikels in der Berliner Börsen-Zeitung, in dem dargetan werde, dass der Angriff stets aus Feuer und Bewegung bestehe, dem Luftangriff aber das zweite Element fehle und alles daher auf “das Wagnis der Invasion” ankomme.53 Recherchiert man nun in der Börsen-Zeitung, so stößt man auf einen längeren Beitrag von Wilhelm Ritter von Schramm, damals Kriegstagebuchführer an der Ostfront, nachmals Verfasser eines Standardwerks über die Geheimdienste des Zweiten Weltkriegs,54 in dem die Vorhersagen der Zwischenkriegszeit Revue passieren. Aus dem Umstand, dass die “europäische Bevölkerung” dem Luftterror bisher standhalte und “die Moral 50
Ebd. S. 50f., S. 52-54. Vgl. dazu Boog: Knauss (Anm. 44). S. 277f. 52 Vgl. dazu ebd. S. 278f. Knauss kam 1945 vorübergehend in französische Kriegsgefangenschaft und lebte anschließend als Schriftsteller in Deutschland. 53 Joachim Günther: Das letzte Jahr. Hamburg 1948. S. 30. 54 Wilhelm Ritter von Schramm: Unsichtbare Front. München 1974. 51
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der Bevölkerung krisenfest” bleibe, sowie dem, dass der Luftkrieg eben nicht der kürzeste, sondern “im Gegenteil der längste und auch […] der sinnloseste” sei, folgert er, dass “Feuer und Terror des Bombenkrieges […] nicht die Entscheidung herbeiführen [werden] – wenigstens nicht gegen das von Deutschland verteidigte Europa”.55 Nahezu gleichzeitig findet sich eine Betrachtung über den Bombenkrieg in der Propagandaillustrierten Signal. Die beginnt: Es ist interessant, mitten in einer Stadt, in deren Straßen die Skelette ausgebrannter Häuser mit leeren Fensterhöhlen von überstandenen schweren Luftangriffen zeugen, heute nachzulesen, wie man sich einige Jahre vor diesem Krieg die Wirkung von massierten Luftangriffen auf große Städte vorstellte. […] Mehr als genug haben sich vor dem Krieg Berufene und Unberufene mit solchen Fragen beschäftigt. Schriftsteller malten in Utopien mit grausigem Realismus die Vernichtung blühender Städte und den panischen Schrecken der bombardierten Bevölkerung aus. Militärfachleute stellten sachliche Untersuchungen an und wogen die Möglichkeiten eines künftigen Luftkrieges mit Vorsicht ab. Und bei aller Vorsicht schien doch letzten Endes alles möglich. Noch die hemmungslosesten Zukunftsschilderungen hatten einige Wahrscheinlichkeit für sich.56
Vom Gaskrieg aus der Luft war dabei allerdings längst nicht mehr die Rede. Seit Kriegsbeginn war zunehmend vermieden worden, von Gas zu sprechen. Sehr gut indiziert das der Zeitschriften-Dienst / Deutscher Wochendienst, in dem nahezu alle erdenklichen Themen propagandistischer Aufmerksamkeit und Meinungslenkung verzeichnet sind. Außer in Appellen, Strom und Gas zu sparen, erschien das Wort Gas lediglich in Artikeln über die Gasmaske, in denen wiederum nicht mehr von erwarteten Giftgasangriffen, sondern lediglich von Schutz vor Rauchgasen die Rede war. Etwa so: “Der Besitz der Vollgasmaske ist für die Brandbekämpfung unbedingt erforderlich. Jeder Deutsche soll eine Vollgasmaske besitzen.”57 Die Gasmaske hätte bei Angriffen mit Yperit, Lost oder Tabun ohnehin keinen ausreichenden Schutz geboten; inzwischen war der Begriff seiner ursprünglichen Konnotation nahezu völlig entleert worden: neutrale Bezeichnung für einen Gegenstand, der in der Regel eher funktionsloses Accessoire war. Das war in den Jahren bis zum Krieg noch anders gewesen. Mit großem propagandistischem Aufwand, in ständigen Kampagnen, vor allem über Schulen und Betriebe, war die Gasmaske geradezu als Ikone des Luftschutzes implementiert worden – über Alarmübungen und deren mediale Auf- und Nachbereitungen in Schrift und Bild. Nicht zuletzt immer 55
Wilhelm Ritter von Schramm: Luftoffensiven. Illusion und Wirklichkeit im Luftkrieg. In: Berliner Börsen-Zeitung 89 (1944). Nr. 84 vom 25. 3. S. 1. 56 [Anonym]: Wenn Bomben fallen. In: Signal 5 (1944). Nr. 7, S. 27-29. 57 Zeitschriften-Dienst / Deutscher Wochendienst 195, 64. Ausgabe. 29. 1. 1943. Anweisung Nr. 8305: Vorbereitende Luftschutzmaßnahmen.
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wieder in einer Zeitschrift, die den Titel trug: Die Gasmaske (1929–1939).58 Wie selbstverständlich das kommende Gasbombardement angenommen wurde, indiziert ein an die Jugend adressierter Roman von 1935, in dem ein feindlicher Luftangriff auf Deutschland unter Einsatz auch von Gasbomben geführt wurde.59 Noch deutlicher wird die ikonische Funktion der Gasmaske als pars pro toto des Luftkrieges, sieht man sich beispielsweise die satirischen Zeitschriften nach 1933 an. Ob in der Brennessel als Kommentar zum Satz General Pétains, “Der nächste Krieg wird wie ein Blitz aus heiterem Himmel kommen”, gasmaskentragende Kinder mit ebensolchen Puppen spielen,60 gefolgt vom Bild einer Modenschau mit Gasmasken,61 ob wegen des “Kriegsgeschrei[s] der Pariser Presse” ein Paar mit Gasmasken im Bett liegt,62 ob im Kladderadatsch eine Marianne mit verzerrtem Gesicht und stahlbewehrten Brüsten eine Gasmaske auf einem Tablett trägt, Unterschrift: “Hier haben Sie den Beweis für Deutschlands Aufrüstung. Diese unheimliche Waffe ist offenbar gegen meine braven Lufttruppen gerichtet”,63 ob dort Frauen bei der Lektüre der Auslandspresse an einem Kiosk Gasmasken tragen, unterschrieben: “Zweckmäßige Anwendung der Volksgasmaske in Friedenszeiten”,64 oder ob im Simplicissimus der Friedensengel vor einem Horizont aus Flugzeugen und Tanks flieht, Arme gasmaskentragender Menschen nach ihm ausgestreckt: “Halt, Friede, halt! Wir lieben dich doch!”,65 ob schließlich eine Frau die Gasmaske als Kopfschmuck aufsetzt: “Was sagst Du nun, Franz? Sehr fesch!”66 – stets folgen sie derselben Kombination von Dämonisierung und Verharmlosung. In solchen Karikaturen, die man so oder ähnlich in nahezu jedem zweiten Heft findet, wird der Luftkrieg als erwarteter Gaskrieg zur vertrauten Apokalypse. Über diesen Routinen propagandistischer Dienstfertigkeit darf man nicht vergessen, dass man sich tatsächlich auf mögliche Gasangriffe vorbereitete. Als z. B. im nachmaligen Wolfsburg das Volkswagen-Werk gebaut wurde, 58
Vgl. dazu auch Peter Fritzsche: A Nation of Fliers. German Aviation and the Popular Imagination. Cambridge, Mass., London 1992. S. 208ff. 59 Vgl. Ernst Ohliger: Bomben auf Kohlenstadt. Ein Roman, der Wirklichkeit sein könnte. Oldenburg i. O., Berlin 1935. S. 48, 78. 60 Tröstliche Prophezeiungen eines Friedliebenden. In: Die Brennessel 4 (1934), Folge 32 vom 7. 8. 1934. S. 499. 61 Johann Schult: Elegante Gasmasken. In: Ebd. S. 509. 62 Zum Kriegsgeschrei der Pariser Presse. In: Ebd. Folge 49 vom 4. 12. 1934, S. 774. 63 Arthur Johnson: Der Gashelm. In: Kladderadatsch 86 (1933). Nr. 34 vom 20. 8. O. S. 64 Arthur Johnson: Zweckmäßige Anwendung der Volksgasmaske in Friedenszeiten. In: Kladderadatsch 90 (1937). Nr. 25 vom 20. 6. Titelblatt. 65 E. Schilling: Der Friede flieht. In: Simplicissimus 38 (1934). Nr. 29 vom 14. 10. S. 34. 66 Olaf Gulbransson: Die Gasmaske. In: Simplicissimus 43 (1938). Nr. 18 vom 8. 5. S. 216.
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wurden auch Luftschutzräume eingerichtet, die mit Gasschleusen und Lazarett-Räumen für Gasvergiftete ausgestattet waren;67 kaum eigens zu erwähnen, dass Hitlers ‘Führerbunker’ in Berlin mit entsprechenden Gasschutzeinrichtungen versehen war.68 Mit Kriegsbeginn verschwinden fast von einem Tag zum anderen die Gasmasken aus den Karikaturen: Auch das eine Form der propagandistischen ‘Normalisierung’. Indes, nicht nur durch ihre alltäglicher gewordene Funktion als Schutz vor Rauchgasen während und nach den Bombenangriffen blieb, wozu sie zuvor designiert waren, latent präsent: Als es aufs Ende zuging, häuften sich, so die eingeholten Stimmungsberichte, die Befürchtungen vor Gasbombardements;69 ebenso aber auch wahnwitzige Hoffnungen auf Gas als Wunderwaffe, wie das Friedrich Reck-Malleczewen drastisch notierte: [I]n der keimenden Angst nehmen die Herren Landsleute ihre Zuflucht zum Glauben an dramatisch einsetzende Wunder, an ein furchtbares, von den deutschen Chemikern erfundenes Gas, das in zehn Sekunden das Leben einer Großmacht tötet, an phantastische ‘Atombomben’, deren drei genügen werden, die ganze britische Insel in den Ozean zu versenken. [...] Was aber von höchster Realität ist [setzt er hinzu], das ist ja wohl die Schicksalsangst dieser nazistischen Desperados, die schließlich ihrem Schicksal zu entgehen, auch die Erkletterung des Mondes versuchen werden.70
Dass Furcht wie ‘Hoffnung’ im Zusammenhang mit Gas ganz so unbegründet nicht waren, wurde erst später bekannt: Sowohl Churchill als auch Hitler hatten in jenen Tagen des Endkampfs erneut ernsthaft Gasbombardements erwogen.71 V. Massen/Medien in Büchern und Bombenkrieg Die Befriedigung der propagandistisch gelenkten, veröffentlichten Meinung darüber, dass die reale Entwicklung des Luftkriegs ganz anders verlaufen war als in den militärischen und literarischen Szenarien der Zwischenkriegs67
Gleich am Eingang der heutigen Gedenkstätte für die Zwangsarbeiter im Volkswagen-Werk sind linkerhand Blaupausen für Gasschleusen und “Gaskrankenräume” zu sehen. 68 Vgl. dazu die angeblichen Überlegungen Speers, Hitler mit Gas umzubringen. Albert Speer: Erinnerungen. Frankfurt/M. u. a. 1969. S. 438f. 69 Vgl. Das letzte halbe Jahr. Stimmungsberichte der Wehrmachtspropaganda 1944/4. Hg. von Wolfram Wette, Ricarda Bremer und Detlef Vogel. Essen 2001. 70 Friedrich Percyval Reck-Malleczewen: Tagebuch eines Verzweifelten. Zeugnis einer inneren Emigration (1946). Frankfurt/M. 1971. S. 104f. 71 Vgl. zu Churchill Jörg Friedrich: Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940– 1945. München 2002. S. 132f. und zu Hitler Albert Speer: Erinnerungen (Anm. 68). S. 420f.
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zeit aus- und festgeschrieben, verdankte ihre perverse Hoffnung auf ein weiteres An- und Aushalten nicht zuletzt dem, dass der Nationalsozialismus an der Macht die Massenmedien entschieden anders zu handhaben wusste, als sie in den seinerzeitigen Szenarien eingesetzt oder auch überhaupt nur wahrgenommen wurden. Allein schon an der Tatsache, dass Militärs ebenso an der medialen Stimulierung der Phantasien über den zukünftigen Krieg interessiert waren wie die Literaten, zeigte sich, dass Verlauf und Ausgang des Ersten Weltkriegs eine durch die Vermittlung der modernen Massenmedien wie durch die kriegstechnologische Entwicklung andere, ob nun befürchtete oder bewillkommnete, jedenfalls entschieden wichtigere Rolle der öffentlichen Meinung und der großen Bevölkerungsmassen mit sich gebracht hatte. Umso signifikanter scheint es dann, dass die Rolle der Medien und Massen innerhalb der Szenarien allermeist merkwürdig unterbelichtet, nahezu als blinder Fleck erschien. Die Militärs gehen direkt über Presseveröffentlichungen oder aber über Buchpublikationen mit zumindest romanesken Elementen an die Öffentlichkeit, um ihre Interessen an einer forcierten Luftrüstung durchzusetzen, benutzen dann aber wiederum die Medienberichte, um sich von deren angeblichem Sensationismus zu distanzieren, freilich nicht ohne die Warnung, dass die so verbreitete ‘übertriebene Furcht’ als Faktor in einem Zukunftskrieg ins Kalkül gezogen werden müsse. In ihren eigenen Szenarien jedoch können sie die Rolle der modernen Massenmedien nur rudimentär und je einseitig sich vorstellen. Unisono werden Fotografie, Film72 und Rundfunk lediglich zu militärischen Zwecken, zur Luftaufklärung oder zur Befehlskommunikation genutzt. Die Bevölkerung, allenfalls von Plakaten oder Extraausgaben informiert, bleibt dem Gerücht ausgeliefert. Wenn die modernen Medien als Massenkommunikation eingesetzt werden, dann stets vom Gegner, sei es in Gestalt von abgeworfenen Flugblättern, sei es in Gestalt der weitreichenden Radiosender Moskaus, die zumeist erfolgreich die Massen zu Panik und Aufruhr bringen. Auch der Roman von Gobsch macht da keine Ausnahme. Einzig Johannes R. Becher, ausgestattet mit der begehrlichen Sensitivität des Literaten als Volkstribun, als fürsprechender Massenmund, zeigt Gespür und Bewusstsein für Differenzen und Wirkungen der modernen Medien. Allerdings sind sie auch bei ihm weitgehend in der Hand des Gegners – sprich: des Kapitalismus. Der Roman, der sich in der Mixtur aus Leitartikeln, Meldungen, Schlagzeilen (darunter auch: “Spanische Flugzeuge bombardieren die Rifkabylen mit Gasbomben”)73 und Fachtexten der medialen Wirklichkeit mimetisch attachiert, und dessen Traumvisionen vom 72 73
Dies auch lediglich bei Helders: Luftkrieg (Anm. 42). S. 35. Becher: Levisite (Anm. 31). S. 82.
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Gaskrieg man noch als eine Art Para-Kino lesen könnte, überformt zwar alle Textsorten gleichermaßen mit dem hocherregten Becher-Sound, versucht aber doch, die medialen Differenzen und spezifischen Wirkungen zu notieren. Er klammert sich hartnäckig an die angeblich einzig wahrhaftigen Verlautbarungen der Arbeiterpresse oder des Moskauer Rundfunks. Aber er bezieht immerhin die Wirkungen des Medienalltags, die Funktion des Katastrophischen im Mix der Sensationen, die Unübersichtlichkeit der Medienlandschaft, schließlich noch die Armut des Versammlungssaals gegenüber der Opulenz des Kinos,74 mit ein. Becher kann sich allerdings nicht versagen, in einem sich überschlagenden Leitartikel die generalisierende Kritik der Medienunterhaltung, zu der jegliche Information ebenfalls gehört, verdoppelnd nachzutragen.75 Wie der reale Bombenkrieg den prognostizierten Zukunftskrieg, so setzte der massenmediale Propagandismus des Nationalsozialismus die medienkundliche Einfalt der Militärs sowohl wie die Manipulationshysterie Bechers beiseite und überbot sie zugleich. Die Überbietung lag dabei nicht in jener ohnehin überbewerteten Einschüchterungs- und Überwältigungspropaganda der ersten Phase des Nationalsozialismus an der Macht,76 sondern in der Koppelung von Lenkung und Unterhaltung, der Herstellung von Medienverbünden und Themenkampagnen, vor allem aber in der zunehmend dichteren, geradezu mimetischen Rückkoppelung mit den Stimmungen und Vorstellungen in der Bevölkerung. Das soll – abschließend – am Gegenstand des Luft- als Bombenkriegs in ein paar symptomatischen Aspekten skizziert werden. Zunächst einmal ist da schon der Umstand, dass und wie die Vorstellungen vom Zukunftskrieg zur Bindung an den gegenwärtigen Kriegszustand genutzt wurden: indem die Differenz des Kriegszustands, in dem man sich gerade befand, zu dem seinerzeit erwarteten – mithin die Portionierung der jähen und totalen Apokalypse zum anhaltenden Dauerterror – ausgereizt wurde. Dies diente der Autosuggestion, das derzeit angenommene alsbaldige Ende mit Schrecken werde nun analog – durch Wunder, nämlich Wunderwaffen, zu denen auch wieder das Gas zählen durfte – vermieden und alles werde ganz anders kommen. Das musste nicht einmal ausgesprochen werden. Und erst einem Joachim Fernau, der als SS-Kriegsberichterstatter fungierte, blieb es vorbehalten, unter Verweis auf V1 und V2 plump zu 74
Vgl. ebd. S. 78f. Vgl. ebd. S. 308f. 76 Vgl. zuletzt dazu Bernd Sösemann: “Auf Bajonetten läßt sich schlecht sitzen.” Propaganda und Gesellschaft in der Anfangsphase der nationalsozialistischen Diktatur. In: Geschichtsbilder. Festschrift für Michael Salewski zum 65. Geburtstag. Hg. von Thomas Stamm-Kuhlmann, Jürgen Elvert, Birgit Aschmann und Jens Hohensee. Stuttgart 2003. S. 381-409. 75
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versprechen: “Wir werden den letzten Preis, den wir noch zu bezahlen haben, eben bezahlen. Mit allen Mitteln und mit allen Kräften. Der Sieg ist wirklich ganz nahe.”77 In diesem Kontext muss man sehen, wie Topoi der (Selbst-)Beschreibung unter der Perspektive der militärischen Luftherrschaft aufgegriffen und offensiv gewendet wurden: so das notorische Bild von den Menschen als Ameisen. Zu dem, was in der letzten Zeit unter Rekurs auf Carl Schmitt verstärkt als Raumrevolution diskutiert wurde,78 gehört auch die spezifische Wahrnehmung der Menschen nicht mehr unter dem Auge Gottes, sondern in der Vogelperspektive auf sich selbst, das Bild von Insekten, insbesondere Ameisen und Termiten. Das Bild hat es schon früher gegeben und steht im Kontext allgemeiner Modernisierungsproblematik,79 mit dem Flug und speziell dem Luftkrieg erhält es aber eine neue Intensität. Seit H. G. Wells 1908 in Der Luftkrieg schrieb: “Wir sind einfach Ameisen in Ameisenstädten”80 oder Marinetti 1912 visionierte, den “ameisenwimmelnden Haufen” der Gegner im Rausch des Luftkriegs zu dezimieren,81 gehörte das Bild von den menschlichen Ameisen zum Repertoire des tatsächlichen oder imaginierten Blicks von oben. Es findet sich denn bei Johannes R. Becher82 ebenso wie bei Robert Knauss – hier besonders eindrucksvoll, weil katachrestisch: “Das Ameisengewimmel der Menschen duckt sich in den Kellern”.83 Dieses Bild nun wird unterm realen Bombenkrieg zunehmend zum Selbstbild derer, die sich als Opfer sehen. “Ringsum emsiges Leben, als habe ein Riese mit seinem Stock in einem Ameisenhaufen gestochert”,
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Joachim Fernau: Das Geheimnis der letzten Kriegsphase. In: Völkischer Beobachter. Nr. 243 vom 30. 8. 1944. S. 2 [Hervorhebung durch Sperrung im Original]. 78 Vgl. etwa Armin Adam: Raumrevolution. Ein Beitrag zur Theorie des totalen Kriegs. In: HardWar, SoftWar. Krieg und Medien 1914 bis 1945. Hg. von Martin Stingelin und Wolfgang Scherer. München 1991. S. 145-158; Christoph Asendorf: Super Constellation. Flugzeug und Raumrevolution. Wien, New York 1997; Ingo Stöckmann: Im reinen Raum. Jünger, Schmitt, Medientechnik. In: Raum – Wissen – Macht. Hg. von Rudolf Maresch und Niels Werber. Frankfurt/M. 2002. S. 135-155. 79 Vgl. Stephan Porombka: “Bewundernswert war die Ordnung”. Der Ameisenstaat und die biologische Modernisierung. In: Reflexe und Reflexionen von Modernität 1933–1945. Hg. von Erhard Schütz und Gregor Streim. Bern u. a. 2002. S. 109-124. 80 H[erbert] G[eorge] Wells: Der Luftkrieg [1908]. Frankfurt/M. u. a. 1983. S. 204. 81 Filippo Tommaso Marinetti: Tod dem Mondschein! Zweites Manifest des Futurismus [1912]. In Peter Demetz: Worte der Freiheit. Der italienische Futurismus und die deutsche literarische Avantgarde (1912–34). München 1990. S. 182-192, hier S. 192. 82 Becher: Levisite (Anm. 31). S. 126. 83 Helders: Luftkrieg (Anm. 42). S. 52.
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notiert beispielsweise Ursula von Kardorff im zertrümmerten Berlin.84 Das setzt sich auch nach 1945 noch fort. “Ein Haupteindruck im Lande […] ist, daß die Menschen hier wie Ameisen in einem zerstörten Haufen hin und her rennen”, notiert, zurückgekehrt, Alfred Döblin.85 Und Hans Erich Nossack wird noch 1963 die Zukunft des Menschen im “durchfunktionalisierten Ameisenhaufen” sehen.86 Konservative wie Gerhard Nebel oder Friedrich Reck-Malleczewen machten ebendies, dass die Menschen aufs Insektische reduziert würden, zum Zentrum ihrer Kritik am Regime.87 Entscheidend scheint hier aber, dass die NS-Propaganda selbst das Bild aufnahm und nun aktiv propagierte. Anfang April 1945 wird der Zeitschriften-Dienst / Deutscher Wochendienst den noch verbliebenen Zeitschriften einen Artikel zur wörtlichen Übernahme empfehlen, ‘Den Ameisen gleich’: Es gibt kaum ein schwierigeres Unternehmen als die Ausrottung einer größeren Ameisenkolonie. […] wie bringen sie es fertig, auch schwerste Verfolgungen zu überstehen und nachhaltigste Zerstörungen ihrer Bauten zu überwinden? […] Ameisen handeln […] und spekulieren nicht. Der Wille zum Weiterleben, des Einzelnen wie der Gemeinschaft, ist so stark, daß er […] stärker ist als das Unglück. […] Sie sind ein Vorbild für jedes Menschenvolk.88
Vergleichbares ließe sich schließlich an der durch den Krieg erzwungenen Deterritorialisierung, Mobilität und nomadischen Existenz zeigen, die noch H. G. Wells in seinem Roman als “wandering death” zum Inbegriff des Schreckens gemacht hatte: “extreme mental distress, causing an uncontrollable desire to wander”.89 Selbst das wird nun propagandistisch positiviert. So wird dem ‘Volksgenossen’ beispielsweise “Entrümpelung – auch geistig” vorgeschlagen, weil es “einiges für sich hat, mit leichterem Gepäck durch
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Ursula von Kardorff: Berliner Aufzeichnungen. Aus den Jahren 1942–1945. München 1981. S. 136. Vgl. auch Theo Findahl: Letzter Akt – Berlin. 1939–1945. Hamburg 1946. S. 94. 85 Alfred Döblin: Süddeutschland, Ende 1945. In: Europa in Ruinen. Augenzeugenberichte aus den Jahren 1944–1948. Hg. von Hans Magnus Enzensberger. Frankfurt/M. 1990. S. 188. 86 Hans Erich Nossack: Proligio. Ein Traktat über die Zukunft des Menschen [1963]. In ders.: Die schwache Position der Literatur. Frankfurt/M. 1966. S. 165-175, hier S. 14f., 165. 87 Vgl. Gerhard Nebel: Auf dem Fliegerhorst. In: Die Neue Rundschau 52 (1941). S. 606-608; vgl. ebenso Reck-Malleczewen: Tagebuch (Anm. 70). S. 146, 109, 119; vgl. ders.: Das Ende der Termiten. Ein Versuch über die Biologie des Massenmenschen. Lorch, Stuttgart 1946. 88 Den Ameisen gleich. In: Zeitschriften-Dienst / Deutscher Wochendienst. 7. 4. 1945. Nr. B 209. 89 Wells: Things to come (Anm. 5). S. 494.
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das Leben zu gehen”.90 Und nachdem der oben zitierte Anonymus in Signal seinen Rückblick auf die vergangenen Szenarien des Zukunftskrieges mit einer spöttischen Bemerkung zu den seinerzeitigen Visionen des Captain Broad gekrönt hat, endet er mit dem Lob des Bürgers, der zum “Bohemien” geworden, notfalls nurmehr im Besitz einer Zahnbürste, in heiterer Gelassenheit weitermache.91 Brechen wir ab. Von hierher jedenfalls ließen sich zum einen die Auseinandersetzungen um den möglichen, unausweichlichen oder vermeidbaren zukünftigen Atomkrieg nach 1945 noch einmal und anders lesen, z. B. darauf hin, wie literarisch ‘Lehren’ aus dem Verhältnis von Zukunftskriegsentwürfen zum realen Bombenkrieg gezogen wurden. Zum anderen bekommt, was jüngst über das Verhältnis der Literatur nach 1945 zum Luftkrieg92 und überhaupt in Reinszenierung des damaligen Schreckens unter Vorgabe von Erinnerung93 geschrieben worden ist, eine korrigierende Vorgeschichte – deren Aufarbeitung damit freilich noch längst nicht abgeschlossen ist.
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Entrümpelung – auch geistig. In: Zeitschriften-Dienst / Deutscher Wochendienst 8. 12. 1944, Nr. A 932. 91 [Anonym]: Wenn Bomben fallen. In: Signal 5 (1944). Nr. 7. S. 27-29. 92 Vgl. bes. W. G. Sebald: Luftkrieg und Literatur. München, Wien 1999; vgl. auch Volker Hage: Zeugen der Zerstörung. Die Literaten und der Luftkrieg. Frankfurt/M. 2003. 93 Hier insbesondere Friedrich: Der Brand (Anm. 71).
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Heinz-Peter Preußer
Tödliche Blicke Filmische Typologien des Fotografen, des Reporters und des Regisseurs im Kriege. Spottiswoode – Born / Schlöndorff – Manchevski – Kusturica – Angelopoulos It is a well known fact of recent media theory that visual recording apparatuses like photographic and movie cameras were developed parallel and in accordance to their military usability. This does, however, not mean that war and cinema (or war and television) are identical, as Paul Virilio argues. In contrast to his view, this essay attempts giving examples of self-referentiality in the visual medium film that demonstrate an awareness of the reciprocity between military development and medium and which in fiction criticize what media theory holds them responsible for.
I. Kino ist Krieg – Ist Kino Krieg? Moderne Medientheorie, das macht ihr Faszinosum und ihre Unaufrichtigkeit aus, kokettiert mit dem Metapherneffekt, als wollte sie auf jeder Seite beweisen, dass sie nur Literatur sein will. Den Hang zur Trope, gerne auch zur Rhetorik der Inversion, findet man in Frankreich wie in Deutschland gleichermaßen, bei Virilio und Baudrillard so gut wie bei Kittler und Zielinski. Gleichsetzung gilt als Mittel der Argumentation. “Krieg ist Kino und Kino ist Krieg” sagt etwa Paul Virilio mit Apodiktik und Emphase, bar aller Ironie.1 Sein Essay, der dieser Behauptung seinen Titel verdankt und vorgibt, eine Logistik der Wahrnehmung bereitzustellen, bebildert diese Behauptung mit dem zähen Gestus der Akkumulation. Virilio verfügt über einen Zettelkasten, der wohl die Ausmaße eines Arno Schmidtschen erreichen dürfte; aber allein davon wird die Aussage nicht wahrer. Ich möchte im Folgenden zeigen, wie gerade Bildmedien – allen voran der fiktionale Spielfilm – zur Kritik der Verhältnisse beitragen, die sie medientheoretisch angeblich verantworten sollen. Filme, die selber theoretisch ambitioniert sind, reflektieren den Anteil ihres Mediums an der Kriegsentwicklung, um den Krieg selbstreferenziell kritisieren zu können. Anders gesagt: Sie kritisieren mit filmischen Mitteln und unter Bezug auf das Filmische an sich, was an ihnen zum Kriegerischen tendiert. Damit wird prinzipiell zwar eingeräumt, was Kittler, Virilio und andere unentwegt 1
Paul Virilio: Krieg und Kino. Logistik der Wahrnehmung [1984]. Übers. von Frieda Grafe und Enno Patalas. Frankfurt/M. 1989. S. 47.
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vorführen. Dass nämlich nicht nur der Krieg, wie schon Heraklit wusste, der Vater aller Dinge ist, sondern dass sich gerade die Entwicklung der Aufzeichnungen aus dem Feld des Realen und Imaginären2 untrennbar mit der des Militärischen vollzog.3 Ob man aber, wie Zielinski dies tut, von einer grundsätzlichen Aggressivität telekommunikativer Technik ausgehen kann, ob schließlich die Gewalt der Wahrnehmungsveränderungen parallelisiert werden darf mit der Gewalt im Kriege, bleibt wenigstens fragwürdig, wenn man sich bescheiden und höflich ausdrücken will. Vielleicht gilt auch nur, was derselbe Autor bereits in seinem Untertitel über den Zusammenhang von Krieg und Medien ausführt: Er ist ein “kybernetischer Kurzschluß”, und das wäre dann, genau besehen, alles andere als ein Geistesblitz.4 Ich möchte dagegen eine negative Ontologie des Spielfilms entwickeln und Filme präsentieren, die um die Gefahren wie um die Grenzen filmischer Repräsentation des Grauens, der Gräuel im Kriegsgeschehen wissen. Über die Brechung dieser Volte erst wird der Kern der Thesen Virilios und seiner Anhänger doch noch wahr: Nicht als positive Identifikation von Krieg und Kino, sondern als kritische Aneignung der zerstörerischen Gewalt, die von dem Medium selbst auszugehen scheint. Indem Filme bebildern, was an ihnen Gewalt ist oder zu Gewalt führen kann, distanzieren sie sich von eben den Wahrnehmungskonventionen, welche die Filmgeschichte erst etabliert hat. Solche selbstreflexiven Filme, die ich an den fünf Fallbeispielen von Spottiswoode, Born / Schlöndorff, Manchevski, Kusturica und Angelopoulos vorführen will,5 lösen der Form nach ein, was an ihnen kritischer Gehalt 2
Kittler weist – mit Bezug auf Lacans Trias Reales, Imaginäres und Symbolisches – der filmischen Aufzeichnung das Imaginäre, der akustischen hingegen das Reale zu. “Phonographie und Spielfilm stehen zueinander wie Reales und Imaginäres.” Film “speichert statt der physikalischen Schwingungen selber [...] nur ihre chemischen Effekte auf sein Negativmaterial.” Friedrich Kittler: Grammophon, Film, Typewriter. Berlin 1986. S. 183, 182; vgl. S. 29 sowie 11f. 3 Rockmusik ist, nach einem nicht einmal falschen Bonmot von Kittler, “Mißbrauch von Heeresgerät”. Und stärker noch als für das Auditive gilt vom Visuellen, dass es seine Verwendung zu Zwecken der Unterhaltung der vorigen kriegerischen Entwicklung und Nutzung verdankt. Kittler: Grammophon, Film, Typewriter (Anm. 2). S. 170, ebenso S. 149; vgl. S. 196. 4 Siegfried Zielinski: Medien / Krieg. Ein kybernetischer Kurzschluss. In: Medien im Krieg. Die zugespitzte Normalität. Hg. von der Österreichischen Gesellschaft für Kommunikationsfragen, Red. Peter A. Bruck u. a. Salzburg 1991. S. 12-20, hier S. 15, 12. Auch Kittler beschreibt den “Zusammenfall von Kino und Krieg” über die Veränderung der Perzeptionsmuster: “Kino war von Anfang an Manipulation der Sehnerven und ihrer Zeit.” Kittler: Grammophon, Film, Typewriter (Anm. 2). S. 177. 5 Es wären zahlreiche weitere möglich. Siehe insbesondere Warshots, von Heiner Stadler, der thematisch an Spottiswoode anknüpft, allerdings Elemente des Dokumentarfilms (hier Realaufnahmen von UN-Truppen in Mogadischu, UNOSOMEinsatz) mit einer Spielfilmhandlung und fiktionalen Kriegsschauplätzen kombi-
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sein kann, nicht durch das Dargestellte. Es ist also eine im strengen Sinne ästhetische Reaktion; so wie auch der Umgang mit dem Vorwurf der universalen Simulation, wie ihn in aller Schärfe Baudrillard erhoben hat,6 als Selbstreflexion und spielerisch umgesetzt wird. Doch zunächst zur Theorie und dort insbesondere zu Paul Virilio: Für den Franzosen bricht die Technisierung mit einer von außen kommenden Gewalt in das Empfindungsvermögen ein, die letztlich die Wahrnehmungsfähigkeit selbst zerstört. Das gilt für die Beschleunigung der Telekommunikation7 ebenso wie für die angebliche Überreizung des Menschen mit Sinneseindrücken oder seine prothesenhafte Motorisierung.8 Einerseits werde der Mensch durch Technik entmachtet – es herrscht ein “technophile[r] Synkretismus” –,9 andererseits rüste er sich selbst auf durch die Technisierung seines Körpers.10 Seit dem Ersten Weltkrieg, so sagt Virilio, kann nur noch “die Blende des Objektivs [...] den Film der Ereignisse konservieren, den momentanen Frontverlauf, die Sequenzen seines fortschreitenden Verfalls”.11 Die Unmittelbarkeit des Sehens wird von optischen und optisch-elektronischen Verfahren der Wahrnehmung und Konservierung des Wahrgenommenen abgelöst.12 Auf der Ebene der Unterhaltungsmedien vollzieht sich eine analoge Entwicklung: niert. “Verstörend” sei der Film und lasse “seinen Helden Mord- und Todschlag aufmerksam beobachten, um mit dem ‘besten’ Schnappschuß vom Kriegsschauplatz, der brutalsten Szene Meriten zu gewinnen, auch wenn er dabei die Seele verliert. Ein spannender Beitrag über Fragen von Ethik, Moral und Verantwortung”, befindet Margret Köhler: Viel Spreu, wenig Weizen. Neue deutsche Filme beim ‘Filmfest München’. In: film-dienst 49 (1996). H. 17. S. 15f., hier S. 16. Filmdaten – Titel: Warshots. Deutschland 1995 – 94 Min. Verleih: offen. Erstaufführung: 6. 4. 1998 arte. Produktionsfirma: HSF-Film / BR / WDR / SDR / arte. Produktion: Heiner Stadler. Regie: Heiner Stadler. Buch: Harald Göckeritz, Heiner Stadler. Kamera: Yusef Hu. Musik: Roman Bunka. Schnitt: Micki Joanni. Darsteller: Herbert Knaup, Peter Franke, Özay Fecht, David Kelhoe, Claude Channice. Diese und alle nachfolgenden filmografischen Angaben wurden dem Lexikon des internationalen Films, Ausgabe 1999/2000 auf CD-ROM, München 1999, entnommen. Dort jeweils auch weiterführende Hinweise. 6 Jean Baudrillard: The Gulf War did not take place [1991]. Übers. von Paul Patton. Bloomington, Indianapolis 1995. Insb. S. 36 und S. 61-87. Siehe auch die Einführung Paul Pattons: Introduction. S. 1-22. 7 Vgl. Virilio: Krieg und Kino (Anm. 1). Passim. 8 Paul Virilio: Die Eroberung des Körpers. Vom Übermenschen zum überreizten Menschen [1993]. Übers. von Bernd Wilczek. München, Wien 1994. Passim. 9 Virilio: Krieg und Kino (Anm. 1). S. 51. 10 Virilio: Die Eroberung des Körpers (Anm. 8). S. 78; vgl. ders.: Rasender Stillstand [1990]. Essay. Übers. von Bernd Wilczek. München, Wien 1992. S. 128. 11 Virilio: Krieg und Kino (Anm. 1). S. 157. 12 Ebd. S. 155.
152 So gibt es keinen Krieg ohne Selbstdarstellung, keine noch so entwickelte Waffe ohne psychologische Mystifikation. Die Waffen sind Werkzeuge nicht nur der Zerstörung, sondern auch der Wahrnehmung. Sie sind Stimulatoren der Sinnesorgane und des zentralen Nervensystems, deren Wirkung sich in neurologischen und chemischen Effekten äußert, die die Reaktionen beeinflussen, das Erkennen der wahrgenommenen Objekte, ihre Unterscheidung im Verhältnis zu anderen.13
Im Zweiten Golfkrieg 1991, dem “ersten totalen elektronischen Krieg der Geschichte”, sollen die Fernsehzuschauer sich sogar “in einer Situation der absoluten Interaktivität” befunden haben.14 Die “Darstellung in Echtzeit” verwandle das Wohnzimmer in reine “Teleaktion”.15 “Das direkt übertragene Bild ist ein Filter [...], der nur das Gegenwärtige durchläßt.” Und Desinformation bedeutet im Zeitalter der Fernsehkriege nicht mehr Lüge, “sondern das Übermaß an widersprüchlicher Information, die Überinformation”.16 Krieg und Fernsehen beschreibt die Entwicklung dieses Bilderkrieges, sein täuschendes Faszinosum und das schnelle Verblassen der Erinnerungsspuren, ganz ähnlich, wie man dies für den Kosovo-Krieg analysiert hat und für Afghanistan und den Irakkrieg wohl gar nicht mehr braucht. Das Medienspektakel konnte darüber hinweg täuschen, dass hier Kriegstechnik vorgeführt und erprobt wurde am Menschen, an konkreten Opfern, und die doch für die Führung sauberer Kriege, wie auch im Kosovo, wie im Irakkrieg, eingesetzt werden sollte. Seit Erfindung des optischen Telegraphen 1794 “wurde bereits die Distanz eingeholt im Augenblick. Von nun an verlor der Ort an Bedeutung, zogen sich entsprechend der wachsenden Geschwindigkeit die geographischen Räume zusammen”, und es konstituierte sich “eine topologische Scheinwelt [...], in der alle Oberflächen des Globus einander unmittelbar konfrontiert sind”.17 Alles rückt in eine beängstigende oder aber gleichgültige Nähe. “Der Nihilismus der Geschwindigkeit” vernichtet “die Wahrheit der Welt”, heißt es an anderer Stelle.18 Der Krieg ist für Virilio nur die Gewaltform der Beschleunigung. “Seit es Geschwindigkeit gibt, bricht die Welt unaufhörlich herein; der Gegenstand löst sich auf in den Anfang einer Informationskette. Und gerade diese Verkehrung zerstört die Welt, wie wir sie wahrnehmen”.19 Dieser Prozess mache “das Sehen zum Rohstoff”. Die Beschleunigung erzeuge “nicht so sehr Bilder als vielmehr unglaubliche und 13
Ebd. S. 10. Vgl. ders.: Krieg und Fernsehen [1991]. Übers. von Bernd Wilczek. Frankfurt/M. 1997. S. 61-64. 14 Virilio: Krieg und Fernsehen (Anm. 13). S. 30, 16. 15 Ebd. S. 17. Vgl. S. 35f., 48, 78f., 133f. 16 Ebd. S. 15f. 17 Virilio: Krieg und Kino (Anm. 1). S. 83. 18 Paul Virilio: Ästhetik des Verschwindens [1980]. Übers. von Marianne Karbe und Gustav Roßler. Berlin 1986. S. 128. 19 Ebd. S. 112.
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übernatürliche neue Erinnerungsspuren”, die das Erleben verdrängen.20 Dieser “[r]asende[..] Stillstand”21 löscht, was als Eindruck im Subjekt zurückbleiben könnte; er negiert den “Horizont der menschlichen Erfahrung”.22 Die Wirklichkeit der Phänomene ist begrenzt durch “die Geschwindigkeit ihres Auftauchens”.23 Da der Krieg Motor der Beschleunigung wie der medialen Wahrnehmung ist, bildet er die Spitze der Bewegung und den Ansatzpunkt der Kritik. An ihm und in ihm manifestiert sich, nach Virilio, was das Wesen der Bildmedien ausmacht. “‘Das erste Opfer eines Krieges ist immer die Wahrheit’, wußte schon Kipling. Heute könnte man sagen: das erste Opfer des Krieges ist das Konzept von Realität.”24 Bereits Ernst Jünger beschreibt In Stahlgewittern25 die Entrealisierung durch den industrialisierten Krieg, vor allem aber zeigt er “das Ineinandergreifen, die Verkoppelung von Beobachtungsmaschinerie und moderner Kriegsmaschine”, welche “den Zeit-Raum des Sehens” revolutioniert.26 Aufklären, Sehen, Vermessen, Fokussieren, Dokumentieren sind die audiovisuellen Eigenschaften, ohne die Zielsuche, Auswahl, Bestimmung und letztlich Beschuss mit Gewehren, mit Bomben und Raketen nicht möglich wären. Die Filmkamera fliegt immer mit, wo sie nicht selbst verschaltet ist mit dem Schussmechanismus.27 Dieser MilitärMedienverbund besteht bereits im Ersten Weltkrieg. Heute leiten CruiseMissiles den Blick bis in den Punkt des Aufschlags; Drohnen sehen alles und führen die nachfolgenden Bomber zielgenau an ihren Ort.28 Existent ist,
20
Ebd. S. 67. So der bereits oben zitierte Titel von Paul Virilio, Rasender Stillstand (Anm. 10), im gleichnamigen Band, S. 126-158. 22 Ebd. S. 134. Vgl. ders.: Ästhetik des Verschwindens (Anm. 18). S. 120. 23 Virilio: Rasender Stillstand (Anm. 10). S. 145. 24 Virilio: Krieg und Kino (Anm. 1). S. 59. Die eigene Erkenntnis hielt Kipling nicht davon ab, selbst Propaganda zu betreiben und den Gegner (hier die Deutschen des Ersten Weltkrieges) zu dämonisieren als die neuen Hunnen, wenn es der nationalen Sache nützlich war. Vgl. dazu den Beitrag von Michael Kunczik in diesem Band. 25 Ernst Jünger: In Stahlgewittern. Aus dem Tagebuch eines Stoßtruppführers. Hannover 1920. Vgl. dazu den Essay Jüngers: Der Kampf als inneres Erlebnis. Berlin 1922. Texte erneut in ders.: Sämtliche Werke. 18. Bde. Stuttgart 1978–1983. Hier Bde. 1 und 7. 26 Virilio: Krieg und Kino (Anm. 1). S. 161. 27 Vgl. Kittler: Grammophon, Film, Typewriter (Anm. 2). S. 190: “Die Geschichte der Filmkamera fällt also zusammen mit der Geschichte automatischer Waffen. Der Transport von Bildern wiederholt nur den von Patronen. [...] Im Prinzip von Kino haust der mechanisierte Tod.” Siehe ebd. S. 192-196, 210. 28 Virilio: Krieg und Kino (Anm. 1). S. 95, 180. 21
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was gesehen wird: Und im Moment des Sehens bereits kann das so Gesehene zerstört werden. Das wären dann wahrhaft tödliche Blicke.29 II. Mit der Kamera schießen: Under Fire Der erste und einfachste Prototyp, der für diese Veränderung der Realitätswahrnehmung haftbar gemacht werden kann, ist der Fotograf, der Fotoreporter. Auch dafür gibt es reichlich Belege aus der Technikgeschichte. Und die Zerlegung von Bewegung in ihre Sequenzen, die Chronofotografie, hat das sinnbildlich eingelöst. Der erste Kampf gegen die Zeit bestand in der Analyse eines Kontinuums. So viele Bilder wie möglich in der kürzest denkbaren Zeit gaben den Blick frei auf nie Gesehenes, auf Abläufe, die dem menschlichen Auge zunächst zu schnell waren; das berühmteste Beispiel ist das Setzen der Beine beim galoppierenden Pferd. Ob alle vier Beine jedweden Bodenkontakt wären des Galopps verlieren, war ohne technische Hilfsmittel nicht zu entscheiden. Eadweard Muybridge brachte den Beweis durch eine Maschine, die angeblich nicht lügt und das trügerische menschliche Auge substituiert, ja korrigiert. In einer klug ersonnenen Reihenschaltung – die Versuchsanordnung baute er in seinem Freilichtstudio in Palo Alto auf – lösten die vorbeigaloppierenden Pferde den elektrischen Kontakt aus, der den fotografischen Verschluss betätigte. Das Objekt selbst belichtete sich vielfach und zerlegte dadurch das Kontinuum seines Bewegungsablaufs in jene Segmente, die Klarheit für etwas bis dahin Unsichtbares brachten. Muybridge hatte die erste serielle ‘Selbstschussanlage’ erfunden.30 Auch mit Etienne-Jules Mareys fotografischer Flinte konnten Bewegungen zerhackt und dadurch erst verstanden werden. “Innerhalb von einer Sekunde wurden 12 Fotos in Intervallen von je 1/720 Sekunde ‘geschossen’”. Mareys Herrschergeste des Zielens, Erfassens und Schießens erinnert nicht von ungefähr an einen schrotbewehrten Jäger.31 Marey traf Möwen im 29
Der neue Irakkrieg brachte als Innovation die Drohne für den Tornister. Dragon Eye unterstützt den Einzelkämpfer, indem sie für ihn über den nächsten Hügel, um die Ecke, hinter die Frontlinie oder ein paar Häuser weiter schaut, ob Gefahr zu gewärtigen ist. Vgl. Peter Münch: Kampf mit ungleichen Waffen. In: Süddeutsche Zeitung vom 21. 3. 2003. In Afghanistan wurde die unbemannte Predator nicht allein als Aufklärungsdrohne, sondern bereits mit Raketen bestückt als Angriffswaffe eingesetzt. Die intelligente Bombe erledigt den Rest. Vgl. ebd. und Thomas KleineBrockhoff: Quantensprung im Kriegshandwerk. Amerika rüstet für die Feldzüge der Zukunft. In: Die Zeit vom 14. 2. 2000. 30 Vgl. Gerhard Kemner, Gisela Eisert: Lebende Bilder. Eine Technikgeschichte des Films. Berlin 2000. Dort das Kapitel 5: Chronofotografie (verf. von G. Eisert). S. 67-83, insb. S. 71f. Siehe auch Kittler: Grammophon, Film, Typewriter (Anm. 2). S. 178f. 31 Vgl. Abb. 7.1. Voriges Zitat und Quelle Kemner, Eisert: Lebende Bilder (Anm. 30). S. 66.
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Flug, keine Gänse oder Enten; und seine Tiere durften weiterleben, reproduziert in unzähligen Zeichnungen, ja selbst in dreidimensionalen Skulpturen, die ihren Flug anschaulich machen sollten.32 Das Bild aber der Bemächtigung des zeitlichen Kontinuums blieb prägend: als das eines Jägers. Hier wurde, in der Tat, geschossen. Jeder Schuss sprengte Teile aus einem ungegliederten Zeitfluss.33 Weil Lebendiges auf diesen Zusammenhang existentiell angewiesen ist, weil es das Seiende selbst ausmacht, erinnert seine Zerstörung an den Tod. Ein Tremendum, an das Roland Barthes in seinem Essay Die helle Kammer erinnert.34 Unbeweglich sind die Fotografien wie die Verstorbenen, die sie im Bilde erinnernd wach halten: aber nur als Entlebendigte. Der Tod ist das eidos der Fotografie.35 Bei magisch denkenden Völkern wird auch darum das Fotografieren mit einem Seelenraub gleichgesetzt.36
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Vgl. Abbildungen und Text bei Sigfried Giedion: Die Herrschaft der Mechanisierung. Ein Beitrag zur anonymen Geschichte [1948]. Nachwort von Stanislaus von Moos. Hg. von Henning Ritter. Frankfurt/M. 1987. Dort S. 37-49, S. 42f. insb. 33 Die prägnantesten Aufnahmen der Chronofotografie stammen weder von Muybridge, noch von Marey, sondern von Ottomar Anschütz. Sein “elektrischer Schnellseher” zeigte Bewegungsfolgen wie etwa den Speerwerfer von 1886. “Nicht nur das ausgewählte Modell, ein durchtrainierter junger Soldat, fand gebührendes Lob, sondern vor allem erstaunten die Fotos in ihrer Schönheit und Unverstelltheit, die allen posierenden Modellen hohnsprachen.” Kemner, Eisert: Lebende Bilder (Anm. 30). S. 78. Abb. dort S. 77 (“Speerwerfer”), S. 79 (“Schnellseher”). 34 Roland Barthes: Die Helle Kammer. Bemerkung zur Photographie [1980]. Übers. von Dietrich Leube. Frankfurt/M. 1989. Insb. S. 99-104. 35 Ebd. S. 24. Ähnlich bereits der frühe Siegfried Kracauer in seinem Essay: Die Photographie (Frankfurter Zeitung vom 28. 10. 1927). Erneut in ders.: Das Ornament der Masse. Essays. Mit einem Nachwort von Karsten Witte. Frankfurt/M. 1977. S. 21-39, dort insb. S. 35, 30. Vgl. auch Bernd Busch: Belichtete Welt. Eine Wahrnehmungsgeschichte der Fotografie [1989]. Frankfurt/M. 1995. S. 364-366; anschließend über die Chronofotografie, S. 367-372. 36 Noch in der Photographie der Moderne wirkt die Furcht vor schwarzer Magie unbewusst nach. Vgl. Henri Cartier-Bresson: Der entscheidende Augenblick [1952]. In: Die Wahrheit der Photographie. Klassische Bekenntnisse zu einer neuen Kunst. Hg. von Wilfried Wiegand. Frankfurt/M. 1981. S. 267-282, hier S. 274. Siehe auch Barthes: Die Helle Kammer (Anm. 34). S. 21-23 sowie Kittler: Grammophon, Film, Typewriter (Anm. 2). S. 21. Man wird dagegen halten können, die Chronofotografie habe erst den Film mit seinen (scheinbar) fließenden Bewegungen ermöglicht. Das trifft durchaus zu, bildet aber nur die Gegenseite zu der Irritation, welche die angehaltene Zeit als Erfahrung eines Tremendum auslöst. Vgl. etwa James Monaco: Film verstehen. Kunst, Technik, Sprache, Geschichte und Theorie des Films. Mit 30 Schaubildern von David Lindroth [1977/80]. Übers. von Hans-Michael Bock und Brigitte Westermeier. Reinbek 1987. S. 35, 66. Ebenfalls Ralf Schnell: Medienästhetik. Zu Geschichte und Theorie audiovisueller Wahrnehmungsformen. Stuttgart, Weimar 2000. S. 41-43.
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Schnell zu sein heißt, nach Marey, dem Kontinuum möglichst viele Einzelteile entreißen, in der Stillstellung und Fixierung des Ablaufs das Lebendige einzufrieren in eine starre Haltung. “Den Wettlauf gegen die Zeit gewinnen nur die Besten”, lautet folgerichtig der Slogan einer Werbung für Nikons F4, Titelzeile: Die Unschlagbaren.37 Darüber posiert ein verwegener Kämpfer mit seiner Waffe, breitbeinig mit halbem Ausfallschritt, sicher auf der Erde stehend; ein echter Phallokrat, wie ihn sich die feministische Kritik nur wünschen kann. So viel Heldentum, so viel Manneskraft bündeln sich im langen Teleobjektiv, dass der Recke in beiden Händen hält. In tiefer Untersicht, fast aus der Froschperspektive aufgenommen, hat man so einen ganzen Heros vor sich, einen Unerschrockenen, welcher der Gefahr trotzt, sich ihr stellt. Im Strahlenkranz leuchtet die Ikone des investigativen Journalisten, der nicht allein Sensationen liefert, sondern auch aufklären will durch das, was er, im “Wettlauf gegen die Zeit”, sichtbar werden lässt. Roger Spottiswoode macht sich diese Konvention, die besagte Werbung nur ins überzeichnete Extrem getrieben hat, in seinem Film Under Fire von 1982 zunutze.38 Thematisch geht es um den Aufstand der Sandinistas gegen den Diktator Somoza in Nicaragua. Formal reflektiert der Film auf eine Ontologie der Fotografie. Immer wenn Russel Price, Hauptfigur der Geschichte und Fotoreporter, Kampfszenen im Einzelbild festhält, stoppt der Bewegungsablauf, die so geschossenen Fotos werden aus dem Fluss des Geschehens herausgerissen, eingefroren und sie erstarren in dokumentarischem Schwarzweiß. So erlebt man ihn bereits eingangs, im Tschad, bis eines der Bilder schließlich den Titel des TIME-Magazine ziert. An seiner Seite findet sich schon der amerikanische Söldner, den er in Nicaragua wiedersehen wird: Ein Universal Soldier, Ed Harris verkörpert die Rolle, der an allen Orten der Welt auftauchen kann und in den immer gleichen Szenarien. Stets im Einsatz, stellt diese Figur jenen Typus aus, der gegen Bezahlung alles tut, dem Skrupel nie in den Sinn kommen. Gegen diese Folie des Käuflichen muss sich Price beweisen, und er emanzipiert sich, zunächst verblüffend, durch eine Fälschung: Ins Lager des Sandinistenführers Rafael geleitet, soll er mit einem Foto belegen, dass der soeben erschossene Revolutionsheld noch lebt. 37
Vgl. Abb. 7.2, übernommen aus Zielinski: Medien / Krieg (Anm. 4). S. 14. Filmdaten – Titel: Under Fire (UNDER FIRE. Unter Feuer). USA 1982 – 128 Min. Literaturverfilmung, Politthriller. Verleih: Orion im Filmverlag. Erstaufführung: 11. 11. 1983 / 12. 10. 1984 Kino DDR / 28. 12. 1985 DFF 1. Fd-Nummer 24287. Produktionsfirma: Lion’s Gate. Produktion: Jonathan Taplin. Regie: Roger Spottiswoode. Buch: Ron Shelton. Clayton Frohman. Vorlage: nach einer Erzählung von Clayton Frohman. Kamera: John Alcott. Musik: Jerry Goldsmith. Schnitt: John Bloom. Mark Conte. Darsteller: Nick Nolte (Russell Price). Gene Hackman (Alex Grazier). Ed Harris (Oates). Joanna Cassidy (Claire). Jean-Louis Trintignant (Jazy) René Enriquez (Präsident Somoza). 38
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Spottiswoode dreht also die Konvention um, indem er einen Toten im Bild wieder zum Leben erweckt.39 Price, der Fotograf, produziert ein Zeichen gegen das Wahrheitsgebot, weil er inzwischen von der Wahrhaftigkeit der Sandinisten, von ihrem Kampf überzeugt ist. Das ist zwar rührend naiv, was die politischen Konsequenzen anbelangt40 (ein “Plädoyer für nationale Befreiung und Selbstbestimmung”, wie der Regisseur selbst, und mancher Rezensent mit ihm, sagt).41 Aber dieses sacrificium intellectus 42 lebt von der Bereitschaft zur dezisionistischen Entscheidung, zur Parteinahme, die hymnisch verklärt wird. Nicht außen zu stehen, eingreifen zu können ins Geschehen, macht das Faszinosum aus für einen, der sonst nur Oberflächen ablichtet, der nur reproduziert, was andere ihm vorgegeben haben.43 Das Kalkül des bewussten Betrugs, die Unterordnung von reiner Information unter ein parteiliches Interesse, geht schließlich auf. So erweckt der Film zugleich substantielle Zweifel am dokumentarischen Charakter, der den Fotografien, angelegt mit dem “Zeichenstift der Natur”, eignet.44 Information, auch die bildliche, so lernen wir aus dieser Szene, wird konstruiert, und ihr Wahrheitswert entspringt erst dem situativen Kontext. Diese Einsicht gilt also lange vor dem paradigmatischen Bruch, 39
Vgl. Abb. 7.3. Siehe in diesem Sinne die Kritik von Günter Giesenfeld: Under Fire. In: Filmklassiker. Beschreibungen und Kommentare. Hg. von Thomas Koebner unter Mitarbeit von Kerstin Luise Neumann. Bd. 4, 1982–1994. Stuttgart 1995. S. 108111, hier insb. S. 111. 41 Vgl. Hans Gerhold: Under Fire [Rezension]. In: film-dienst 36 (1983). H. 24. S. 12. Fd-Nummer 24287. Ähnlich die Kurzkritik in: Lexikon des Internationalen Films. Begründet von Klaus Brüne. Redaktion Stefan Lux u. a. Hg. vom Katholischen Institut für Medienforschung (KIM) und der Katholischen Filmkommission für Deutschland. Reinbek 1995. S. 5944. 42 “Russell begeht die journalistische Todsünde und ergreift eindeutig Partei”. Giesenfeld: Under Fire (Anm. 40). S. 108. 43 Das Potenzial der Verführung belegt auch eine andere Sequenz. Giesenfeld schreibt in Filmklassiker über Under Fire (Anm. 40), S. 109: “Einmal, nachdem er in ein Gefecht geraten ist und ein eben siegreicher Guerillero von einem Amerikaner aus dem Hinterhalt erschossen wurde, ergreift Russell dessen Waffe und rennt los, ihn zu rächen, bis er sich besinnt und statt dessen die auf dem Pflaster liegengebliebene Nikon aufhebt. Die Szene steht für die ganze Geschichte: Der neutrale Reporter erliegt fast der Versuchung, in das Geschehen einzugreifen, statt über es zu berichten.” 44 Siehe Henry Fox Talbot: Der Zeichenstift der Natur [1844/46]. In: Die Wahrheit der Photographie. Klassische Bekenntnisse zu einer neuen Kunst. Hg. [und übers.] von Wilfried Wiegand. Frankfurt/M. 1981. S. 45-89. Ein Foto sei ein Index, sagt Peirce, weil “die physikalische Wirkung des Lichts beim Belichten eine existentielle eins-zu-eins-Korrespondenz zwischen den Teilen des Fotos und den Teilen des Objekts” herstelle. Charles Sanders Peirce: Phänomen und Logik der Zeichen. Hg. und übers. von Helmut Pape. Frankfurt/M. 1983. S. 65. 40
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den die digitale Fotografie mit sich brachte, indem sie den Belegcharakter des Lichtbildes generell in Zweifel zog.45 Deshalb konnte Under Fire als ein Diskurs über “die moralische Verantwortung des Reporters, Macht, Machtmißbrauch und Manipulation der Nachrichtenmedien” verstanden werden.46 Ganz anders in einer späteren, für unseren Zusammenhang ebenfalls interessanten Szene des Films mit Nick Nolte. Hier fallen dokumentarische Absicht und die Bewegungspartialisierung im Akt der Fotografie mit der Tötung selbst zusammen. Bei der Suche nach einem Hotel gerät Alex Grazier, ein Kollege unseres Fotografen, dargestellt von Gene Hackman, in eine scheinbar routinemäßige Kontrolle; eher beiläufig nimmt Price die Szene mit einigen Bildern auf. Wieder hält der Bewegungsfluss ein, sobald man den Verschluss der Nikon hört, wenn auch die Farben hier gleich bleiben. Der Film erlaubt sich, die eigene Idee als Zitat einzusetzen; zweimal nur steht das Bild, um die Spannung nicht zu sehr zu stören. Als Price aber bemerkt, dass Grazier ohne Vorwarnung, ohne Befragung, fast aus einer Laune heraus von den Milizen Somozas erschossen wird, spult der Motor seiner Kamera ohne Unterbrechung, decken sich scheinbar filmische Aufnahme und Fotografie zu einem gleichlaufenden Kontinuum. Paradoxerweise erhält hier also das aufgenommene Dokument dieselbe Funktion zugewiesen wie das gefälschte Foto zuvor, nämlich “eine Beglaubigung von Präsenz”, von Wirklichkeit zu sein.47 Die dann anschließende Verfolgungsjagd zeigt, was Film mit Zeit anfangen kann. Die Schrecksekunde des unerwarteten Todes wird aufgelöst in eine klassische Parallelmontage und umgesetzt in rasante Dynamik. III. Verkaufte Wirklichkeit: Die Fälschung Auch Die Fälschung, der Roman von Nicolas Born aus dem Jahr 197948 wie die gleichnamige Verfilmung durch Volker Schlöndorff von 1981,49 zeigt 45
Vgl. Peter Lunenfeld: Digitale Fotografie. Das dubitative Bild. In: Paradigma Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters. Hg. von Herta Wolf. Frankfurt/M. 2002, S. 158-172, hier insb. S. 166f. Siehe ebenfalls Wolfgang Hagen: Die Entropie der Fotografie. Skizzen zu einer Genealogie der digital-elektronischen Bildaufzeichnung. In: Ebd. S. 195-235, insb. S. 234f. 46 Vgl. Gerhold: Under Fire (Anm. 41). 47 Barthes: Die helle Kammer (Anm. 34). S. 97. 48 Nachfolgende Textzitate nach Nicolas Born: Die Fälschung. Roman. Reinbek 1979. Sigle F, Seitenzahl. 49 Filmdaten – Titel: Die Fälschung (1981) LE FAUSSAIRE. BR Deutschland / Frankreich 1981 – 110 Min. Literaturverfilmung, Drama. Verleih: United Artists. Erstaufführung: 15. 10. 1981. Fd-Nummer 23179. Produktionsfirma: Bioskop / Artemis / Argos. Regie: Volker Schlöndorff. Buch: Volker Schlöndorff, Jean-Claude Carrière, Margarethe von Trotta, Kai Hermann. Vorlage: nach einem Roman von Nicolas Born. Kamera: Igor Luther. Musik: Maurice Jarre. Schnitt: Suzanne Baron.
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die Problematik der Kriegsberichterstattung an einer Fotografenfigur, auch wenn sie hier nur eine Nebenrolle spielt. Im Zentrum steht der (Text-) Journalist Georg Laschen, der zusammen mit dem Fotografen Hoffmann in Beirut und Damur, im Auftrag einer Hamburger Illustrierten,50 über den Bürgerkrieg im Libanon berichten soll. Die Handlung spielt 1975/76. Eigentlicher Gegenstand ist aber weniger das direkte Kriegsgeschehen, der Kontakt mit Waffenhändlern etwa (F 116) oder mit Vertretern der Milizen, sondern der Zweifel Laschens an seinem Beruf: wie Wirklichkeit abzubilden sein soll, welche Betroffenheit zulässig, welche notwendig sei, um adäquat die Lage zu referieren. Hoffmann kennt solche Skrupel nicht, er ist “eine Existenz ohne Nebengedanken”, (F 57) ein “Betonmensch[..]”, (F 30) das Stereotyp des Sensationsreporters, der “seine Raubzüge mit den Kameras” plant und durch rote Kreuze auf dem Stadtplan markiert. (F 28) “Mit dem Zweifel hatte er nichts zu schaffen. Alle Zweifel waren Laschens Zweifel.” (F 23) Selbst Hoffmanns Frohsinn, seine Leutseligkeit haben für Borns Roman etwa Gewalttätiges. (F 29) Für Rudnik, “den Allgegenwärtigen”, (F 222) der mit Waffen wie mit Bildern gleichermaßen handelt, trifft dies umso mehr zu. Je abscheulicher das Dargestellte, desto höher der Marktwert. Hoffmann hat bereits gekauft – für 5000 Dollar – was der Zwischenhändler jetzt auch dem Reporter zeigt: Rudnik hielt die Mappe auf den Knien und blätterte die Fotos durch, so daß Laschen sie mit zur Seite geneigtem Kopf einigermaßen sehen konnte. Es lagen Leichen herum. Ein Maskierter hob mit zwei Fingern einen abgeschnittenen Penis in die Höhe. Ein Mann, ein ausgefranstes, durchschlissenes Bündel, das in einer Staubwolke über den Boden zu fliegen schien, an ein Seil gebunden, das an einem Jeep befestigt war. Eine Reihe von Männern in arabischer und europäischer Kleidung, die mit hinter den Köpfen verschränkten Armen an einer Mauer standen. Die Läufe automatischer Gewehre ragten ins Bild. [...] Das letzte Foto zeigte einen Maskierten in hohen blanken Schaftstiefeln. An seinem Hals hingen an Ketten mehrere unterschiedlich große Kruzifixe. Mit der einen Hand hielt er die Maschinenpistole, den Stutzen gegen die Schulter gepreßt, mit der anderen Hand hatte er in den Haarschopf eines Mädchens gegriffen, das er hinter sich herschleifte in eine Toreinfahrt. Rudnik sagte, da könne man sich lebhaft vorstellen, plastisch geradezu, was dort gleich passieren werde. [...] Ob Laschen überhaupt wisse, fragte Rudnik, was Vergewaltigung für ein Muslim-Mädchen bedeute. (F 166, 168)
Gegen diesen vitalen Zynismus, der “allem ins Auge sehen” will, “jeder Wahrheit, damit man sieht, was realistisch ist”, (F 167) kommt das Selbst Darsteller: Bruno Ganz, Hanna Schygulla, Jerzy Skolimowski, Gila von Weitershausen, Jean Carmet. 50 Vorbild für Laschen war der Stern-Reporter Kai Hermann, der zugleich beim Drehbuch mitarbeitete. Vgl. Hans Gerhold: Die Fälschung [Rezension]. In: filmdienst 34 (1981). H. 22. S. 12f. Fd-Nummer 23179.
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Laschens nicht an.51 Die Skrupel reiben ihn vielmehr auf: “Vielleicht waren alle Fotos von der Wirklichkeit nicht in Ordnung, falsch, alle Sätze über die Wirklichkeit falsch. Es passierte etwas mit der Wirklichkeit, [...] mit dem falschen Auge, dem verdrehten, das die Bilder aufnahm [...]. Er haßte die eigenen Berichte”. (F 53) Was eine Errungenschaft sein sollte im Prozess der Zivilisation, gerät Laschen zur Maske und zum Rollenklischee: “Erfahrungen machen ohne Erfahrungen, Gefühle behaupten, Verantwortung behaupten, fade Pflicht, fade Kulturleistung, abgeschmackt. Und er war nichts Besseres, er war Schlechteres. Er kopierte Erfahrung, er fälschte drauflos.” (F 79) Hoffmann und Laschen unterscheiden sich nur darin, dass der eine über ein Bewusstsein verfügt, das ihn lebensuntauglich macht, während der andere fälscht, ohne dass die Fälschung ihm zum Problem würde; er empfindet sie, besser gesagt, als reine Objektivität. Hoffmann lebt durch die “triumphale Neutralität des Blicks durch den Sucher”, durch seine “brutale Zivilisiertheit” erst recht auf. (F 186) Laschen fehlt, wie zunächst auch Price, das tatsächliche Ergriffensein, das Zwischendiefrontengeraten, die Gefahr und die Angst. (F 129)52 Nur mühsam rafft er sich auf zur Routine der Massakerschilderungen, deren Neuigkeitswert jeweils dem narrativen Rahmen angepasst werden muss. (F 139f.) Der Reporter sucht sein Inneres und findet es leer; nur gegen Rudnik weiß er noch, sich zu profilieren: “Der hatte die Menschenverachtung voraussetzungslos, der Hüllenmensch, das Organisationstalent.” Für den zivilisationskritischen Topos passt, dass Laschen sich freut, krank geworden zu sein “an der Unbeteiligtheit und der Verantwortungslosigkeit des Berichterstattens”. (F 167f.) Der Textjournalist zwingt sich zum Hinsehen, zur Pflicht, die sein Beruf ihm vorschreibt. (F 144, 188) “Es war eine trostlose Sachlichkeit darin, die ihn verstörte, diese angebliche Notwendigkeit, die Augen nie zu verschließen, die Genugtuung, sie offen halten zu können, was auch passiert, diese 51
Erhard Schütz streicht, mit einem Zitat von Friedrich Christian Delius, die “umfassende Kritik” des “hoch gelobte[n] Roman[s]” “am ‘europäischen Voyeurismus’” heraus. [Artikel] Nicolas Born. In: Literatur Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Bd. 2. Hg. von Walther Killy. Gütersloh, München 1989. S. 188-120, hier S. 119. Dem Protagonisten ist das Dilemma nur allzu bewusst: Laschen “pochte auf sein Entsetzen angesichts von Unmenschlichkeit. Es war das Entsetzen des Herrn aus Deutschland. Es entsetzten ihn vor allem solche Ereignisse, deretwegen er doch hergekommen war, um darüber zu berichten, solche Ereignisse, denen er, letztlich, seine Bezahlung verdankte. Er konnte gut leiden an unverständlicher Grausamkeit. Er glaubte doch wohl nicht, daß sein Bericht den Leser ermahnen würde. Glaubte er nicht vielmehr, daß er für Geld ein Entsetzen lieferte, für das es eine Nachfrage gab, eine unersättliche.” (F 187) 52 Laschen nehme “die Schrecken des Krieges wie ein Somnambuler wahr”, schreibt wiederum Gerhold: Die Fälschung (Anm. 50). S. 12.
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mörderische Objektivität”. Laschen spürt die Deformation, die an ihm arbeitet. Er trennt das fremde Sterben von der eigenen Sterblichkeit, um den Schrecken auszuhalten, der die tägliche Arbeit stören könnte; (F 176) aber er registriert die Lähmung. (F 178) Und so will der Reporter nicht das “empfindungslose[..] Monstrum” bleiben, zu dem er als Berichterstatter geworden ist. (F 186) Er sperrt sich gegen das Auseinanderfallen von Wahrnehmung und Gefühlsreaktion.53 Wie in Under Fire gibt es eine entscheidende Erschießungsszene, wieder an einer Mauer, wieder ohne Grund. Auch wenn Laschen hier versucht, das Geschehen aufzuhalten, so bleibt er doch letztlich wirkungslos. Hoffmann will den Kollegen beruhigen: “du kannst doch nicht durchdrehen”, sagt er. “Ich habe die Bilder. Ich habe alles drauf.” (F 180) Laschen aber hat dieser Vorfall verändert; “er glaubte, endlich diesen Offizier, alle diese Leute hassen zu können”. (F 181) Georg Laschens Krise als Reporter ist ein Zeichen für die tiefere Lebenskrise, in die er geraten ist;54 alles besteht aus Illusion und Selbsttäuschung: die Beziehung zu Frau und Kindern in Deutschland wie die Liebe zur Botschaftsangehörigen Ariane. Die Zerstörung um ihn ist seine eigene als Person. Gerade Schlöndorffs Film nutzt diese primäre Übertragung: Wir sehen die Granaten einschlagen, und die Narben der Stadt sind wie die auf dem Gesicht des Bruno Ganz.55 Für beide Seiten, die private wie die des Berufsjournalisten, gilt “das notorische menschheitsgeschichtliche Weitermachen”. (F 240) Umso fragwürdiger gerät deshalb die scheinbare Befreiung Laschens aus seinem Verfangensein in Erfahrungen aus zweiter Hand. In einem Keller, der Schutz bieten soll vor nächtlichem Beschuss, dessen Decke aber bereits nachgibt, fällt ein fremder Körper auf den Reporter. In einer panischen Reaktion sticht er dem Unbekannten mehrmals eine Messerklinge in den Leib: “Hatte er eine Leiche getötet, einen Betenden?” (F 272) Was auch immer in dieser alptraumartigen Situation geschehen sein mag, Laschen erlebt es als befreiende Tat. (F 273) Und dann empfindet er sich wiederholende Momente händereibender Genugtuung über seine schung’, ausgekochte Freude darüber, nicht wieder nur empört zu sein fremdet über die Ruchlosigkeit der Menschen, sondern endlich heimlich gehören, eingemischt zu sein, ein verzweifeltes Interesse am Tod eines gehabt zu haben. (F 275) 53
‘Einmiund bedazuzuanderen
Vgl. Reinhold Rauh: Die Fälschung. In: Kindlers Neues Literatur Lexikon. Bd. 2. Hg. von Walter Jens. München 1988. S. 954f. 54 Vgl. Martin Grzimek: [Artikel] Nicolas Born. In: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur – KLG. Hg. von Heinz Ludwig Arnold. München, 32. Nlg. 1989. S. 10. 55 Vgl. Abb. 7.4.
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Im Film wirkt dieser Umschlag von Ekel (F 222) und Verdruss in Erleichterung noch drastischer, plötzlicher, letztlich unglaubhaft.56 Wenn der Film zuweilen als “zwiespältig, wenn nicht zynisch” eingeschätzt worden ist, so trifft das, meine ich, vor allem auf diese Kausalitätsfigur zu.57 Ob er nun zum Mörder geworden war oder sein Messer in einen toten Körper getrieben hatte: Laschen, so ungewiss wie der Rezipient über den tatsächlichen Vorfall, nimmt diesen zum Anlass, ein anderer zu werden. (F 289) Er kehrt nach Hamburg, zu seiner Familie zurück. Aber nunmehr bestärkt in dem Wunsch nach einer grundlegenden Korrektur, reicht er seine Kündigung ein, (F 304) gibt den bisherigen Beruf auf, “den des Fälschens ebenso wie den der moralischen und kritischen Empörung”. (F 308) IV. Gewalt der Bilder – Interruption: Vor dem Regen Drei spätere Filme, allesamt 1994/95 entstanden, thematisieren Mediensimulationen und deren Agenten mit Bezug auf den Zerfall des einstigen Vielvölkerstaates Jugoslawien.58 Der früheste von ihnen, Vor dem Regen, ist das zyklische Episodendrama des Mazedoniers Milcho Manchevski von 1994.59 Er behandelt die Entstehung von Hass und Feindbildern zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen, konkret zwischen Albanern und Mazedoniern.60 Der Plot der Narration spiegelt die formale Finesse. Teil 1 trägt 56
“[E]her bemühte filmische Ausrufezeichen”, urteilt Gerhold, Die Fälschung, (Anm. 50), S. 13, gegenüber den “perfekt rekonstruierten Kriegsszenen an Originalschauplätzen”, die den Film mehr definierten “als Laschens Zwiespalt”. Vgl. auch die Kurzkritik in: Lexikon des Internationalen Films (Anm. 41). S. 1510f. 57 Gerhold, Die Fälschung (Anm. 50), S. 13, sperrt sich gegen den “oberflächlich” “protokollierende[n] Realismus”. Vgl. hierzu auch den Band von Volker Schlöndorff, Nicolas Born und Bernd Lepel: Die Fälschung als Film und der Krieg im Libanon. Frankfurt/M. 1981. 58 Einen Überblick über diese und weitere, insb. dokumentarische Beiträge zum (politischen) Thema gibt Rainer Gansera: Die Untergründe des Hasses – Filme über Ex-Jugoslawien. In: epd Film 13 (1996). H. 3. S. 14-17. Ergänzend zu den nachfolgenden behandelt Gansera: Marcel Ophuls: Veillées D’armes – The Troubles We’ve Seen; Klaus Wildenhahn: Reise nach Mostar; ders.: Die dritte Brücke; Didi Danquart: Wundbrand; Debbie Christie: Wir sind doch Nachbarn; Radovan Tadiü: Les vivants et les morts de Sarajevo; Sukrija Omeragiü: Suzana im Keller. Alle diese Filme sind zwischen 1993 und 1995 entstanden und uraufgeführt worden. 59 Manchevski wurde 1959 in Skopje geboren und lebt seit Anfang der achtziger Jahre in den USA. Vgl. die Internetpräsentation unter:http://www.makedonika.org/ milcho/MilchoEng.htm sowie http://balkansnet.org/milco.html. 60 Filmdaten – Titel: Vor dem Regen (BEFORE THE RAIN). England / Frankreich / Mazedonien 1994 – 113 Min. Drama. Verleih: Pandora; Arthaus (Video). Erstaufführung: 28. 9. 1995 / 28. 5. 1996 Premiere / 4. 3. 1996 Video. Fd-Nummer 31531. Produktionsfirma: Ami / Noé / Vardar. Produktion: Judy Counihan, Cedomir Kolar, Samuel Taylor, Cat Villiers. Regie: Milcho Manchevski. Buch: Milcho Manchevski.
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den Titel Worte: Der junge Mönch Kiril (Grégoire Colin) versteckt die Albanerin Zamira (Labina Mitevska) im Kloster und entzieht sie dadurch der Verfolgung einer Gruppe von Mazedoniern, die an ihr Rache für eine angebliche Bluttat nehmen wollen. Letztlich aber wird das jugendliche Mädchen Opfer, wenn auch nicht der gewalttätigen Verfolger, so doch der eigenen Verwandten, darunter ihr Großvater und ihr Bruder, die ihr nächtliches Fernbleiben als Entehrung empfinden und sie ungewollt, aus einem verzweifelten Affekt fast, erschießen. Teil 2, Gesichter: Die Szene wechselt nach London. Hier arbeitet die Bildredakteurin Anne (Katrin Cartlidge) am selben Material, an eben jener Erschießungsszene, die ihr in Fotografien vorliegt, die sie aber, höchst wahrscheinlich, als ethnischen Konflikt interpretiert und verkaufen will. Sie fühlt sich zu Aleksander Kirkov (Rade Šerbedzija), dem Kriegsfotographen, hingezogen. Teil 3 lautet Bilder: Aleksander kehrt nach vielen Jahren in seine mazedonische Heimat zurück, auch, um seine Jugendliebe Hanna, eine Albanerin, wiederzusehen. Inzwischen allerdings leben beide Volksgruppen, orthodoxe Christen und muslimische Albaner, wie Feinde nebeneinander, mit einer imaginären Grenze zwischen zwei Dorfteilen und wechselseitigen Verdächtigungen. Eine trifft die vierzehnjährige Tochter Hannas, Zamira. Sie soll einen der Vettern Aleksanders, den Schäfer, ermordet haben: “Eine ihrer Huren war es.” Das Urteil ist eindeutig und es wird im Dorf als Beginn des Kampfes gegen die Albaner gedeutet: “Ich wünsch Dir einen angenehmen Krieg”, sagt einer zum Fotografen. “Mach schöne Bilder.” Als Zamira sich vor den Verfolgern durch Flucht zu retten versucht, scheint sich der Kreis der drei Episoden zu schließen; Zamira läuft auf jenes Kloster zu, in dem sie der Mönch Kiril vor ihren Verfolgern schützen wird. Aleksander selbst kommt zuvor bei dem Versuch, Zamira vor der aufgebrachten Dorfbevölkerung zu schützen, ums Leben; unter den Tätern finden sich auch seine eigenen Verwandten, darunter sein Vetter Mittre, der den eignen Bruder rächen will. So sterben beide Opfer, Alex wie Zamira, durch die Tat von engsten Verwandten, nicht durch die dämonisierte Gegenseite. Das Rondo wird durchbrochen von dem Foto, das Anne in London, in der Bildagentur, betrachtet. Der Kreis, den der Zuschauer zu seiner Überraschung meint erleben zu können, erhält einen Sprung. Manchevski illustriert also nicht Nietzsches ewige Wiederkehr des Gleichen, sondern er inszeniert geschickt den Bruch, der verhindert, dass Ende und Anfang ineinander münden.61 Beschwörend taucht die Formel dreimal auf, die unterstreichen Kamera: Manuel Teran. Musik: Anastasia. Schnitt: Nicolas Gaster. Darsteller: Katrin Cartlidge (Anne), Rade Šerbedzija (Aleksander), Grégoire Colin (Kiril), Labina Mitevska (Zamira), Jay Villiers (Nick). 61 Rainer Gansera schreibt hingegen in seiner Rezension Vor dem Regen. In: epd Film 12 (1995). H. 10. S. 28f., hier S. 29: “Gewalt, die ‘Blutmühle der Geschichte’,
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soll, was der Film der Form nach und als Ganzes meint: “Die Zeit stirbt nie, der Kreis ist nicht vollendet.” Dieser durchbrochene Zyklus markiert zugleich und nicht zufällig die Selbstreflexion des Fotografen. Das Foto der Erschießung hätte nicht aufgenommen werden können, weil derjenige, der es geschossen haben muss, sich engagiert hatte. Zwischen der ersten und der letzten Szene, die sich scheinbar identisch wiederholen, liegt eben jener Kriegsfotograf, der die Tochter seiner einstigen Liebe, Zamira, in Schutz nimmt, und dafür mit dem Leben zahlt. Er negiert also das Bild, von dem man suggestiv denken soll, dass er es eingangs aufgenommen und nach London gebracht haben wird.62 In der zweiten Variante der Erschießung glaubt man, könne es keinen Fotografen mehr geben; damit aber auch nicht das Foto, das in der ersten Variante in Annes Hände gelangte. Diese scheinbare Korrektur nimmt sowohl das eine Fotos als auch den Kriegsfotografen und seine vorigen Handlungen zurück. Aleksander Kirkov hat seinen anerkannten, sogar mit dem Pulitzerpreis geehrten Beruf aufgegeben,63 weil er selbst schuldig geworden ist. “Ich hab getötet”, sagt er, im Taxi unterwegs, ohne weite Erklärung zu Anne. Das ist der zweite Grund seiner Heimkehr. Der Film entwickelt diese Motivation später und beinahe zufällig, ohne filmische Bilder, die dem Vorgang entsprechen. In einem Gefangenenlager in Bosnien hatte er sich beklagt, es geschehe dort nichts, worauf ein Wärter für ihn, für seine Augen und für seinen Fotoapparat einen Gefangenen erschießt. “Meine Kamera hat einen Menschen getötet”, schreibt Alex an Anne, in seinem Heimatdorf, allein in ist eine Spirale, die immer wieder in sich zurückläuft, eine Schleife der Verwüstung.” 62 Für diesen fälschlichen Eindruck ist mehr die Montage der Szenen in der Bildagentur als die Konstruktion der Narration zuständig; denn letztere betont ja ausdrücklich, Kirkov komme aus Bosnien, nicht aus Mazedonien. Sechzehn Jahre sei Aleksander nicht mehr dort gewesen und vor vierundzwanzig Jahren bereits fortgegangen nach London. 63 Robert Capa und Horst Faas, die Vietnam-Veteranen und Pulitzer-Preisträger, oder der gegenwärtig bekannteste Kriegsfotograf, James Nachtwey, mögen hier Pate gestanden haben für die Idealisierung des Typus. Der Film Warphotographer von Christian Frei, Schweiz 2001, 96 Min., wurde für den Oscar nominiert (74th Academy Awards) als beste Dokumentation. Nachtwey selbst spricht dort mit Freunden und Kollegen über seine Arbeit und wird über zwei Jahre an unterschiedlichen Kriegsschauplätzen vom Regisseur begleitet. Vgl. über Faas, der inzwischen in London am “War desk” von AP die Bilder aus dem letzten Irak-Krieg begutachtet, das Porträt von Christopher Keil: Lieber da draußen sein. In: Süddeutsche Zeitung Nr. 777 vom 2. 4. 2003. S. 23. Zu Nachtwey und dem Film Warphotographer siehe http://www.war-photographer.com, ebenso http://www.frif.com/new2002/warp.html und Geoff Foster: War Photographer [Review]. In: http://www.showbusiness weekly.com]. Vgl. auch (über eine Ausstellung der Fotografien von Nachtwey im Münchner Literaturhaus) Alex Rühle: Tausendundeine Nachtaufnahme. In: Süddeutsche Zeitung vom 5./6. 4. 2003.
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seinem weitgehend zerstörten Haus, in sein elektronisches Notebook. Nur zwischengeschnitten sieht man die schwarzweißen Fotografien, die Aleksander sich erinnernd vor Augen hält.64 Um diese Fotos der Erschießung im Gefangenenlager rückgängig zu machen, als Anerkennung der eigenen Schuld, ging Kirkov in die Heimat und er wird dort neuerlich enttäuscht durch die Feindbilder, mit denen ein Zusammenleben der verschiedenen Volksgruppen unmöglich scheint. Unmittelbar anschließend sieht man eine Szene, die metaphorisch das Vorige aufgreift wie das dann Folgende vorausnimmt. Kirkov sieht den ermordeten toten Vetter, den Schäfer, aufgebahrt, formt, eher zufällig, mit der rechten Hand einen Fotoapparat und drückt mit einem Finger imaginär ab. Die Tonspur gibt ein Verschlussgeräusch; die Jagd nach der angeblich schuldigen “Hure” beginnt. Nur mit dem Einsatz des Lebens entgeht der Fotograf dem Zirkel, für dessen Weiterlauf auch seine Bilder verantwortlich waren. Die Kritik, die intendiert ist, versteckt sich in der geschickten Komposition des Filmes, in der Leerstelle, die der Rezipient erst (re)konstruieren muss.65 V. Geschichte als Mediensimulation: Underground Anders als Manchevski handelt Emir Kusturica nicht nur vom momentanen Zerfall Jugoslawiens, sondern auch von dessen Vorgeschichte. In den Feuilletons, vor allem in Frankreich, etwa durch Alain Finkielkraut, warf man dem Film eine nationalistische, proserbische oder jugophile Tendenz vor,66 was sicherlich unzulässig verkürzt. Kusturicas Film von 1995, Underground, ist vielmehr eine vielschichtige politische Allegorie, die zwar den Verfall des Vielvölkerstaates unumwunden bedauert, in seinen ästhetischen Mitteln allerdings, in seiner Ironie und verspielten Ambitioniertheit jede einseitige Parteinahme untergräbt.67 Der Film68 setzt 1941 ein, im 64
Vgl. Abb. 7.5. Frank Klubertz hingegen kritisiert die “(Über-)Dosierung der Effekte”, die er auf Manchevskis “bisherige Regieerfahrungen bei der Herstellung von Videoclips für die Musikindustrie” zurückführt. Vor dem Regen [Rezension]. In: film-dienst 48 (1995). H. 19. S. 22. Fd-Nummer 31531. Ähnlich die Kurzkritik in: Lexikon des Internationalen Films. Filmjahr 1995. Hg. vom Katholischen Institut für Medieninformation (KIM) und der Katholischen Filmkommission für Deutschland. Reinbek 1996. S. 355. 66 Vgl. die Darstellung bei Peter Handke: Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien. Frankfurt/M. 1996. S. 22-28, 130. Auch Claus Löser hält den “Patriotismus” des Films für einen “A-priori-Zustand, der über seine Behauptung hinaus keinerlei Motivation bedarf ”. In: film-dienst 48 (1995). H. 24. S. 26f., hier S. 26. Fd-Nummer 31644. 67 Das sieht Gansera anders, der den überzogenen “Karnevalismus” des Films als “Souvlaki-Vitalismus” und “bloßen Kraftakt” denunziert, der immer wieder abrut65
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Krieg gegen die Deutschen. Marko (Miki Manojloviü), ein gerissener Schwarzmarktkönig und Waffenschieber, findet seinen Weg nach oben, bis an die Seite Titos. Zu diesem Zweck, und um sich die schöne Natalija (Mirjana Jakoviü) nicht mit dem Rivalen teilen zu müssen, versteckt er den Kontrahenten Blacky und eine Reihe anderer Gleichgesinnter in einem großen unterirdischen Lager, das für Nachschub in der Waffenproduktion sorgen soll. Anlass für dieses Leben im Untergrund ist eine Affekthandlung Blackys, der den dritten Rivalen um Natalija, den deutschen Offizier Franz (Ernst Stötzner), von der offenen Bühne herab im Zuschauerraum erschießt. Diese (wie sich später herausstellt misslungene) Ermordung fügt sich ein als Spiel im Spiel; sie passt zunächst in die Handlung und fällt so erst auf, als die Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum überschritten wird und der Täter fliehen muss. Das Theater ist das erste Medium, im Gang der Handlung wie in der Mediengeschichte, das mit fiktionalen Mitteln Wirklichkeiten glaubhaft konstruiert, repräsentiert und damit täuscht. Als zweites Medium setzt Kusturica die Tonaufzeichnung und den Hörfunk ein. Die Partisanen müssen nun im Glauben belassen werden, permanent von den Deutschen bedroht zu sein. Diese Situation versteht Marko auch über das Ende des Krieges hinaus aufrecht zu erhalten, indem er die Radiomeldungen über angebliche deutsche Angriffe simuliert. Er beschallt den Keller mit Fliegerwarnungen, mit Reden Hitlers und Sirenengeheul oder dem Sehnsuchtslied deutscher Wehrmachtssoldaten, Lili Marleen: “Vor der Kaserne, vor dem großen Tor ...” Mehr braucht es nicht, um die Verschlossenen weiter unter Verschluss zu halten.69 sche “ins Banale, Anbiedernde, Pseudopoetische”. Rainer Gansera: Underground [Rezension]. In: epd Film 12 (1995). H. 12. S. 42f., hier S. 43. Nicht so drastisch urteilt Claus Löser in seiner Besprechung von Underground (Anm. 66), hier S. 27: “Dem Film mangelt es letztlich sowohl an epischer Größe als auch an dramatischer Dichte.” In diesem Sinne auch die Kurzkritik in: Lexikon des Internationalen Films. Filmjahr 1995 (Anm. 65). S. 340. 68 Filmdaten – Titel: Underground (1995) (UNDERGROUND). Frankreich / Deutschland / Ungarn 1995 – 170 (TV: 300) Min. – Scope. Drama. Verleih: Pandora; Arthaus (Video). Erstaufführung: 23. 11. 1995 / 2. 9. 1996 Video / 15. 5. 1998 arte. Fd-Nummer 31644. Produktionsfirma: Ciby 2000 / Pandora / Novo. Produktion: Pierre Spengler, Karl Baumgartner. Regie: Emir Kusturica. Buch: Dusan Kovaceviü, Emir Kusturica. Kamera: Vilko Filac. Musik: Goran Bregoviü. Schnitt: Branca Ceperac. Darsteller: Miki Manojloviü (Marko), Lazar Ristovski (Blacky), Mirjana Jokoviü (Natalija), Slavko Stimac (Ivan), Ernst Stötzner (Franz), Srdan Todoroviü, Hark Bohm, Emir Kusturica, Pierre Spengler. 69 Vgl. Abb. 7.6. Auf den ebenso trivialen wie ‘langlebigen Mythos’ Lili Marleen geht der Artikel von Andreas Wilink: Wunschkonzert, ein, mit Bezug auf eine Ausstellung im Bonner Haus der Geschichte. In: Süddeutsche Zeitung vom 28. 12. 2001. Für Jugoslawien hatte das Lied (klassische Interpretationen von Lale Ander-
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Marko steigt auf zum großen Agitator, zum Funktionär und Helden des Volkes, während die Partisanen weiter knechten und selbst einen Panzer bauen mit ihren bescheidenen Mitteln. Ausgerechnet ein Schuss aus diesem Panzer durchschlägt die simulierte Wirklichkeit der Kellergewölbe. Als die Untergrundgemeinschaft den Schritt in die Gegenwart wagt, vermischen sich deren Wahrnehmungen mit der Verfilmung des Weltkrieges zu einer surrealen Szenerie. Blacky, eigentlich Petar Popara (Lazar Ristoviski), gerät in eine filmische Huldigung über ihn selbst, den angeblich toten Patrioten. Das dritte Simulationsmedium des Films Underground ist der Film. Fiktion und Wirklichkeit, lange Zeit bewusst einander überlagernd und im Tonmedium inszeniert, lassen sich in der Begegnung mit dieser neuen medialen Wirklichkeit nicht mehr trennen. Jetzt ist es der Drehort, der Blacky vorgaukelt, immer in der einen und einzigen Wirklichkeit gelebt zu haben, in einem nichtendenwollenden Zweiten Weltkrieg. Der Regisseur des Films im Film ist in Blackys Wahrnehmung, bezeichnenderweise, ein Kollaborateur der Nazis, aggressiver fast als jeder General. Wenn die Simulation das einzig Erfahrbare ist, dann eben ist dieses Erfahrene real. In dieser Realität wurde, wenn auch im Keller, gearbeitet und gelebt, geboren und gestorben, gefeiert und getrauert. Seinem dort geborenen Sohn wird Blacky erst erklären müssen, was den Mond, den er eben sieht, von der Sonne unterscheidet, die er nie zu Gesicht bekommen hat. Das Sehen allein schafft noch keine Gewissheit. Poetischer könnte man keine Medienkritik schreiben. “Denn was weiß man”, sagt Handke, “wo eine Beteiligung beinah immer nur eine (Fern-)Sehbeteiligung ist? Was weiß man, wo man vor lauter Vernetzung und Online nur Wissensbesitz hat, ohne jedes tatsächliche Wissen, welches allein durch Lernen, Schauen und Lernen, entstehen kann?”70 Blacky weiß nichts und metzelt alles nieder, reißt Schauspieler und Helfer des Films in ein Blutbad. Was er sieht, ist Täusen und Marlene Dietrich, letztere für die Gegenseite) allerdings eine besondere Bedeutung: “Nach der Kapitulation [...] im April 1941 übernahmen die Deutschen den Sender Belgrad für die Truppenbetreuung. [...] Lili Marleen [...] war so beliebt, dass von August 1941 an die Hörerpost-Sendung jeden Abend kurz vor 22 Uhr mit dem wehmütigen Lied beendet wurde.” 70 Peter Handke: Eine winterliche Reise (Anm. 66). S. 30. Handke ließ einen zweiten Reisebericht folgen: Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise. Frankfurt/M. 1996. Das Theaterstück Handkes: Die Fahrt im Einbaum oder Das Stück zum Film vom Krieg, Frankfurt/M. 1999, verarbeitet die Unmöglichkeit der Kriegsrepräsentation erneut. Die beiden Filmregisseure geben am Ende ihre Vorhaben auf: “Wir werden den Film zum Krieg nicht machen”, sagt Machado. O’Hara erwidert: “Ich weiß so wenig von hier wie am Anfang. Aber nicht deswegen sage ich den Film ab: so ein Nicht-Wissen ist filmreif. Ich sage den Film ab, weil mir scheint, daß es bei der Geschichte hier für einen Film noch zu früh ist [...], für diese Geschichte muß ein anderer Atem her als der eines Films. [...] die Geschichte hier ist eine Tragödie. Und Film und Tragödie gehen bei mir nicht zusammen.” S. 122f.
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schung, und gerade die erlebt er real. Er tötet die Deutschen, auch wenn es nur deutsche Schauspieler sind. Die von Handke beklagte Partialisierung wird so im Medium des Films selbst thematisch. Und sie spinnt sich weiter fort. Nach einem Zeitsprung ins Jahr 1992 sieht man beide Helden, merklich gealtert nun und wieder im Krieg; die Ellipse zeigt eigentlich dessen Kontinuität an über die Jahrzehnte. Der Bürgerkrieg setzt fort, was der Weltkrieg an Verwüstungen im Land hinterlassen hat. Und dann wird, wie so oft in diesem komischen, sarkastischen und zugleich traurigen Film,71 wieder gefeiert, bis im Schlussbild ein Stück Land abreißt und wegtreibt als Insel, von Wasser umgeben: Auf dieser Insel sieht man die Festgesellschaft, als Tote alle wieder vereint, alle jung wie früher, alle lustig aber unversöhnt wie zuvor. So ist der Trennungsschmerz über ein zerrissenes Land, den schon Manchevski illustrierte mit seinem Film, zum Tableau geronnen. V. Weiße Leinwand: Der Blick des Odysseus Film lebt von der simulierten Wirklichkeit. Dass er sie vorgaukeln kann, macht seit seinen Anfängen den spezifischen Reiz aus.72 Andererseits versteht es gerade der Film, das Materielle der Welt, die äußerliche Wirklichkeit, einzufangen wie kein anderes Medium. Er bildet ab, ohne in der Abbildung bereits bedeuten zu müssen. Er kann einen Fluss des Lebens malen, ohne ein Ziel zu kennen. Kracauer hat dieser Realitätsverhaftung eine quasi religiöse Errettungsfunktion zugeschrieben.73 Der Film wäre dann eine zeitgemäße Schule des Sehens, dessen Wirkung noch auf die rein elektronischen Medien und die digitalisierte Welt ausstrahlen könnte. 71 Vgl. Handke: Eine winterliche Reise (Anm. 66). S. 22f., insb. S. 24: “Underground kommt, ist gemacht, besteht und wirkt, ich sah es, allein aus Kummer und Schmerz und einer kräftigen Liebe; und selbst seine Grobheiten und Lautstärken sind Teil davon”. Siehe auch die geradezu euphorische Kritik im: Fischer Film Almanach 1996. Filme, Festivals, Tendenzen. Hg. von Horst Schäfer und Walter Schobert. Frankfurt/M. 1996. S. 385f., hier S. 386: “Ein Antikriegsfilm wie kein anderer [...]. Überwältigendes Kino”. 72 Das gilt bereits für die ersten Stopptricks. Georges Méliès hat sie schon 1896 effektvoll eingesetzt. Heute werden künstliche Welten bekanntlich nicht mehr allein durch optische oder mechanische Verfahren, sondern primär elektronisch erzeugt. Vgl. die Beiträge von Rolf Giesen: Geheimnisvolle Inseln und phantastische Irrfahrten, sowie von Gundolf S. Freyermuth: Synthetische Realitäten. Beide in: Filmmuseum Berlin. Hg. von Wolfgang Jacobsen, Hans Helmut Prinzler und Werner Sudendorf. Berlin 2000. S. 295-314, bzw. S. 315-328. Siehe auch Kittler: Grammophon, Film, Typewriter (Anm. 2). S. 10, 177f. 73 Siegfried Kracauer: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit [1960]. Übers. von Friedrich Walter und Ruth Zellschan. Hg. von Karsten Witte. Frankfurt/M. 1985. Passim.
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Dieses alte Konzept, meine ich, deckt sich mit den Arbeiten von Theo Angelopoulos, so sehr auch seine Bilder symbolisch überhöht sein mögen.74 Angelopoulos fängt die äußere Wirklichkeit ein und wendet sie zugleich selbstreferenziell auf das Medium Film zurück. Er macht den Blick als solchen spürbar. Das angehaltene Bild im Film, etwa bei Spottiswoode, ist bereits für diese Rückführung auf den Akt der Wahrnehmung gut. Angelopoulos aber nutzt das leere Zeichen, indem er es als das Medium selbst ausstellt und negativ konnotiert. Es ist die weiße Leinwand, die sich über das definiert, was abwesend ist. Jene Opfer, die man nicht mehr sehen kann, sind anwesend als ausradierte. Die Gewalt des Lichtes lässt sie verschwinden; anders gesagt: die darstellende Kraft des Mediums, das vor allem mit Licht die Simulation des Wirklichen erreicht. In seinem Film Der Blick des Odysseus von 199575 arbeitet Angelopoulos dieses Zeichen einer Abwesenheit, dieses ausradierte, negativ konnotierte Weiß, in beiden Strängen der Handlung heraus. Wir sehen Harvey Keitel als alter ego des Regisseurs, ein später Nachfahre des rastlosen Odysseus, der nach Jahren im Ausland (wie bei Manchevski) in seine Heimat zurückkehrt. Zwischengeschnitten werden Dorffrauen gezeigt, die spinnen und weben und Zeit haben; ein Dokumentarfilm von 1905, der einerseits den Mythos evoziert (man denkt an die zuhause gebliebene Penelope, die unermüdlich webt und auftrennt, um sich die Freier vom Halse zu halten und auf den Gatten zu warten),76 andererseits verweisen diese frühen Bilder auf den Grund der Reise: die Suche nach den verlorenen Filmrollen der Brüder Manakis, den Pionieren des Films in Griechenland. Von Filmarchiv zu Filmarchiv führt die Recherche, immer tiefer hinein in eine durch Krieg verwüstete Welt: Nordgriechenland, Albanien, Rumänien, Serbien, Bosnien. In Sarajevo schließlich endet die Narration; das belichtete, noch nicht entwickelte Filmmaterial ist endlich gefunden. A., der Filmemacher, betrachtet erst ganz am Ende des Films die inzwischen entwickelten Streifen 74
Vgl. Thomas Koebner: Der Blick des Odysseus [Rezension]. In: film-dienst 48 (1995). H. 24. S. 24f., hier S. 25. 75 Filmdaten – Titel: Der Blick des Odysseus (TO VLEMMA TOU ODYSSEA / LE REGARD D’ULYSSE). Griechenland / Frankreich / Italien 1995 – 176 Min. Drama. Verleih: Concorde-Castle Rock / Turner. Erstaufführung: 7. 9. 1995 / 20. 3. 1997 Premiere. Fd-Nummer 31643. Produktionsfirma: Theo Angelopoulos Film Prod. / Paradis / Basic Cinematografica. Produktion: Costas Lambropoulos, Giorgio Silvagni, Eric Heumann. Regie: Theo Angelopoulos. Buch: Theo Angelopoulos, Tonino Guerra, Petros Markaris, Giorgio Silvagni. Kamera: Giorgos Arvanitis. Andreas Sinanos. Musik: Eleni Karaindrou. Schnitt: Giannis Tsitsopoulos. Darsteller: Harvey Keitel (A., der Filmemacher), Maia Morgenstern (die Frau, die ihm begegnet), Erland Josephson (S., Filmmuseums-Kurator), Thanassis Vengos (Taxifahrer), Giorgos Michalakopoulos (Freund und Journalist), Dora Volanaki. 76 Homer: Odyssee. XIX. Gesang. Verse 137-157. Vgl. XIV. Verse 89-98.
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und sieht nichts als blendendes, mit Kratzern und Flimmern durchsetztes Weiß. Was der Film bewahren sollte gegen die Zeit, wird vernichtet durch eine Überdosierung des Mittels, das erst die Aufzeichnung möglich macht: Licht. Zuviel Licht gibt es auch in einer weiteren Szene, die für den Film zentral ist, auf die hin er erzählt wird: beide spiegeln einander. Folgt man dem Regisseur A. sonst durch nächtlich dunkle Straßenzüge, die vom Regen kalt abweisend glänzen, so schmerzt die Helligkeit, die von dieser Einstellung ausgeht. Zu Recht hat man hierin eine “der berührendsten und zugleich schockierendsten Sequenzen” des Films ausgemacht.77 Die Szene ist wiederum Sarajevo, es herrscht dichter Nebel. Durch die diffuse und in der Brechung überhelle Verteilung des Lichts lösen sich Konturen und Gestalten auf, Einzelheiten sind kaum auszumachen. In dieser Helle fühlen sich die allzeit in Angst lebenden Bewohner der Stadt sicher, gerade vor den überall präsenten Heckenschützen. So füllen sich die Straßen, ein Orchester spielt, es wird getanzt. In die zerstörte Stadt kehrt Leben zurück, weil sie sich der Sichtbarkeit entzieht. Nicht allein durch den Nebel wirkt alles surreal überzeichnet, auch die unverhoffte Ausgelassenheit scheint gespenstisch, zwischen Traum und Alptraum angesiedelt. Dann geht man zum Fluss, die Kinder vorauseilend, A. ihnen, als letzter, hinterher. Alle verschwinden im Weiß des Nebels, entziehen sich dem Blick des Regisseurs, der Ihnen scheinbar unbeteiligt folgt: ein Wanderer im Nebelmeer, dem man, wie bei Caspar David Friedrich, über die Schultern schaut.78 Plötzlich sind Geräusche zu hören, vermutlich ein Jeep, Stimmen werden laut, Schüsse fallen. Der Filmemacher, der gewohnt ist, Gegebenes in Bildern zu repräsentieren, wird zurückgeworfen auf die Präsenz des Vorgestellten – so wie der Zuschauer, mit dessen Blick er in dieser Szene verschmilzt. Der Schrecken spielt sich im Kopf ab, nicht im Gezeigten. A. ‘liest’79 die Leere und erlebt darin das Grauen. Die Tonspur ersetzt ihm gleichsam die Buchstaben, auf die sein Namenskürzel selbst verweist. A. steht, selbstredend, für Angelopoulos, aber auch für den Anfang, den Anbeginn der Schrift. Als er, viel zu spät, in die Szene stürzt, findet er nur noch Leichen vor am Ufer, während sich die Tat entzogen hatte; er selbst geschützt von der weißen Wand, die er mit seinen Augen nicht durchdringen konnte. 77
So Koebner: Der Blick des Odysseus (Anm. 74). S. 25. Vgl. Rainer Gansera: Der Blick des Odysseus [Rezension]. In: epd Film 12 (1995). H. 12. S. 47. 79 Vgl. Abb. 7.7. Die Präsenz des Vorgestellten realisiert sich, nach der Rezeptionstheorie, im Vorgang des Lesens – als Projektion des Lesers. Vgl. Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung [1976]. München 21984. S. 219-256, insb. S. 280-315, über den Begriff der “Leerstelle”. 78
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Zurück in der Stadt – im Fortgang der filmischen Sukzession –, im Keller des Filmarchivs betrachtet der Regisseur zum ersten Mal die oben erwähnten, lang gesuchten historischen Aufnahmen jener Filmpioniere, denen die gesamte Reise, vordergründig, gewidmet war. A. erhofft sich einen first gaze, die Unschuld im Blick auf die Dinge, weil er dem Ursprung selbst entstammen soll: Wirklichkeit, die noch für sich selbst steht und Film, der die Freude an physischer Präsenz ungebrochen spiegeln könnte. Dem Regisseur aber bieten sich nur jene weißen, flackernden Schemen dar: Kratzspuren, ein optisches Rauschen gewissermaßen über einer durchgängigen hellen Leere. Das Material, verdorben über die Zeit, zerstört durch zuviel Licht, gibt den ersten, aber nur scheinbar unverbrauchten Blick der Brüder Manakis wieder. A. sieht, was er zuvor gesehen und zugleich nicht gesehen hat: Die Gewalt der Zerstörung, das menschliche Leid, die Fassungslosigkeit – und ihr Verschwinden im Medium selbst. Er sieht die Verweigerung der Repräsentation in der Darstellung. Seine Reise ist zuende.80
80 Der Fischer Film Almanach. 1996 (Anm. 71). S. 45f., hier S. 46 kommentiert in seiner Rezension: “Schon jetzt eines der großen Meisterwerke der Filmgeschichte. Der Blick des Odysseus, der nicht unschuldig sein kann, sieht deshalb nichts, weil [...] [j]ede Besetzung des Filmmaterials mit realen Zeichen [...] eine [...] oktroyierte Bedeutungszuweisung” wäre.
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III GESCHICHTE DER EINZELMEDIEN, VERGLEICHE
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Jochen Meißner
Das Prinzip Live – Krieg im Hörspiel In the Live Principle, radio is regarded as a medium of presence and presentation at the same time. Beyond the surface of its fluidity and immediate authenticity in real time lies a layer of recording and distribution techniques which paradoxically decode the Live Principle as a category of mediation that constructs a certain cultural tradition. Examples from Orson Welles’ War of the Worlds and the echoes of its dramaturgy of illusion in German radio drama are confronted with plays where the Live Principle functions as model and structural analogy.
I. Schrecken in Echtzeit – Mediengeschichtliche Vorbemerkungen Die radiophone Urszene, die die Wirkungsmacht des Prinzips Live begründete, stammt aus dem Jahr 1937. Es war der 6. Mai, als der Reporter Herbert Morrison von der katastrophalen Landung des Luftschiffes Hindenburg berichtete1 und – überwältigt von den Ereignissen – die Schrecken des Realen mit seiner Übertragung in Echtzeit verknüpfte. Seit es Apparate zur Schallaufzeichnung und -übertragung gibt, haben auch die Schrecken des Krieges ein neues Schlachtfeld gefunden. Die Eroberung von Territorien wird durch die Eroberung des Äthers ergänzt. Fliegende Sendestudios unterstützten im Irakkrieg die kämpfenden Verbände, und in Afghanistan warfen die Flugzeuge nicht nur Bomben und Lebensmittelpakete, sondern auch Radios mit einem Kurbelmechanismus zur Stromversorgung ab.2 Schon 1937/38 hatte Bertolt Brecht in einem Sonett (wohl die Sowjetunion) aufgefordert, solche Geräte schon für den künftigen “Krieg mit Hitler” zu bauen. Er nannte sie im Vertrauen auf die Durchschlagskraft von Argumenten “schiessbare Radioempfangsgeräte”:3 “Ich wollt, ihr sprächt zu ihnen vor den Schlachten / Und bautet für sie die Empfangsgeräte / Die man wirft unter sie, als ob man säte / Und fragtet Tag und Nacht sie, was sie machten.” Verbreitet wurde diese Aufforderung mediengerecht über die Kurzwellen-
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Zu hören auf der CD Der Zeppelin in Deutschland. Tondokumente 1900 bis 1937. Hg.: Deutsches Historisches Museum, Deutsches Rundfunkarchiv, Zeppelin Museum. Berlin 1997. 2 Eine Erfindung des britischen Ingenieurs Trevor Baylis, die seit 1995 von der Firma Freeplay produziert wird. 3 Bertolt Brecht: Vorschlag für den Krieg mit Hitler schiessbare Radioempfangsgeräte zu bauen. In ders.: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe 1993. Bd 14. S. 425f. (im Folgenden kurz BFA).
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frequenz des “Deutschen Freiheitssenders”,4 eines Geheimsenders der Internationalen Brigaden des Spanischen Bürgerkrieges, der sich auch “Die Stimme der Freiheit in deutscher Nacht auf Welle 29,8” nannte. Das war nicht der einzige Vorschlag Brechts zum Umgang mit dem neuen Medium. Schon zehn Jahre zuvor (1927) hatte er dem Intendanten des Rundfunks Vorschläge unterbreitet, die das Prinzip Live etablieren sollten.5 Es wäre schon allerhand erreicht: “wenn Sie es aufgäben, für die wunderbaren Verbreitungsapparate, die Sie zur Verfügung haben, immerfort nur selbst zu produzieren, anstatt durch ihre bloße Aufstellung und in besonderen Fällen noch durch ein geschicktes zeitsparendes Management die aktuellen Ereignisse produktiv zu machen.”6 Und Brecht betont das kursiviert: Ich meine also, Sie müssen mit den Apparaten an die wirklichen Ereignisse näher herankommen und sich nicht nur auf Reproduktion oder Referat beschränken lassen […]. Außerdem können Sie vor dem Mikrophon an Stelle toter Referate wirklich Interviews veranstalten, bei denen die Ausgefragten weniger Gelegenheit haben, sich sorgfältige Lügen auszudenken, wie sie dies für die Zeitungen tun 7 können.
Mit der Hypostasierung des “Wirklichen” als vermeintlich unverfälscht Authentischem und dem Ressentiment gegen “tote” Referate, schließt sich Brecht der Position einer Medien- (hier primär einer Schrift-)Kritik an, deren prominentester Vertreter Paulus im 2. Korintherbrief Kap. 3, Vers 6 verkündete: “der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig”. Seit dem argumentiert die Kritik an den Aufzeichnungs- und Speichermedien in der binären Opposition von tot und lebendig. Konsequenterweise bedienen sich die Toten gerne der aktuellen Aufzeichnungsmedien, worauf Walter Filz sinnigerweise in einer Live-Inszenierung seines Features Vox Zombie – Wir hören die Stimmen der Toten8 hinwies. Karl-Heinz Göttert, Autor der großen Monographie über Die Geschichte der Stimme,9 zeichnet die Entwicklung des Topos vom “toten Buchstaben” von Paulus über Harsdörffer bis zu Adam Müller nach und stellt fest: “Der Kampf gegen den toten Buchstaben gehört in den
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Ebd. S. 672. Bertolt Brecht: Vorschläge für den Intendanten des Rundfunks. In ders.: BFA (Anm. 3). 1992. Bd 21. S. 215-217. 6 Ebd. S. 215. 7 Ebd. S. 216f. 8 Walter Filz: Vox Zombie. Wir hören die Stimmen der Toten. Westdeutscher Rundfunk 1999. Ursendung live aus dem Kölner Filmhaus 15. 11. 1999, 20.00 Uhr. WDR 3. 52:30 Min. In Filz’ Feature geht es nicht nur um paranormale Tonbandstimmen, sondern ebenso um die digitale Reanimation von Rock- und Popstars. 9 Karl-Heinz Göttert: Die Geschichte der Stimme. München 1998. 5
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großen Zusammenhang der Reaktionen auf den Modernisierungsprozess”,10 wie es unter anderem an Brechts Ablehnung des neuen Mediums ‘abzulesen’ ist. Live is live, wusste auch schon Joseph Goebbels, der in seinen Tagebüchern gestand, lieber vor lebendigen Menschen als vor toten Mikrophonen zu sprechen.11 In erheblich größerem Maße galt dieser Satz für Hitler, der im Gegensatz zu Goebbels ein miserabler Radiosprecher war. In einer leeren Sprecherkabine, ohne den Kontakt zum Publikum, wirkte seine Rede unverständlich, kraftlos, ‘unhitlerisch’. Vor der Reichstagswahl am 5. März 1933 reiste Hitler zusammen mit Goebbels per Flugzeug durch ganz Deutschland, um überall präsent zu sein und seine Reden zu halten. Die wurden nicht nur live übertragen, sondern auch auf Wachsplatte aufgezeichnet und tags darauf wiederholt. Es ergab sich eine Arbeitsteilung, die Goebbels in seinen Tagebüchern in die Formel fasste: “Dort Hitler. Ich Reportage.”12 Das lenkt die Aufmerksamkeit auf eine Paradoxie, die dem Prinzip Live, wie es hier verstanden werden soll, innewohnt. Das Prinzip des Live ist eine Kategorie des Medialen, der Vermittlung, der Übertragung. Das heißt, es geht nicht um seine Flüchtigkeit, die ein unmittelbares Dabeisein in Hörweite erforderlich machte, sondern es gibt immer eine räumliche Differenz. Während Hitler mit den schnellsten Verkehrsmitteln seiner Zeit die Illusion der Allgegenwart zu erzeugen versuchte, stellte Goebbels sie mit der Gleichschaltung der medialen Kanäle in der Live-Übertragung her. Wäre das Prinzip Live nicht schon grundsätzlich eine Kategorie der Vermittlung, würde es mit der Möglichkeit der Aufzeichnung und zeitversetzten Sendung verschwinden. So nimmt lediglich der Grad von (suggerierter) Unmittelbarkeit ab; am wenigsten noch in der unmanipulierten Ausstrahlung eines zuvor ‘live-on-tape’ aufgezeichneten Ereignisses, die, wenn auch nicht in Echtzeit, immerhin den linearen Fluss der Ereignisse respektiert. Als ‘tape’ diente in der Frühzeit des Radios die ab Juli 1929 eingeführte Wachsplatte, die, anders als die später eingeführten Draht- oder Magnetbandspeicher, mit einfachsten Mitteln einen nichtlinearen Schnitt ermöglichte – indem man den Stichel auf einer beliebigen Stelle neu aufsetzte. Ein 10
Karl-Heinz Göttert: Wider den toten Buchstaben. Zur Problemgeschichte eines Topos. In: Zwischen Rauschen und Offenbarung. Zur Kultur- und Mediengeschichte der Stimme. Hg. von Friedrich Kittler, Thomas Macho und Sigrid Weigel. Berlin 2002. S. 93-113, S. 109. 11 “Allerdings ist es ein eigentümliches Gefühl, plötzlich vor einem toten Mikrophon zu stehen, während man bisher nur gewohnt war, vor lebendigen Menschen zu sprechen, sich von ihrer Atmosphäre hochheben zu lassen und aus ihren Gesichtern die Wirkung der Rede abzulesen.” Joseph Goebbels: Die Tagebücher. Sämtliche Fragmente. Hg. von Elke Fröhlich. München 1987. S. 371f. 12 Ebd. S. 379.
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Verfahren, dem man sich gerne bei Sportübertragungen bediente, die vor Ort aufgezeichnet und im Funkhaus als so genannte “Stochersendungen” gefahren wurden.13 Solche Zeitachsenmanipulationen sind mit der digitalen Technik allgemein üblich geworden. Sie erlebten ihren Höhepunkt in der beständigen Wiederholung der in die Zwillingstürme des World Trade Centers stürzenden Flugzeuge. Paradoxerweise brauchte dieses Ereignis die permanente Wiederholung, um den Rezipienten die Echtheit seiner Einmaligkeit zu versichern, und nicht als ein Knalleffekt von vielen in einer fiktiven Hollywoodinszenierung vergessen zu werden. Weder Wiederholung noch Zeitachsenmanipulation des ursprünglichen Materials, nicht Jahrzehnte lange Distanz zum ursprünglichen Ereignis, ja nicht einmal die komplette Fälschung eines Live-Ereignisses (und die gleichzeitige Enthüllung dieser Fälschung!) können dem distanzauflösenden Effekt des Prinzips Live schaden. Warum ist das so? In Lob der Blindheit, dem zentralen Text seines Buches Rundfunk als Hörkunst, polemisiert der Film- und Radiotheoretiker Rudolf Arnheim14 gegen jenen “unausstehlichen Typ von Kunstgenießer”, der ein Kunstwerk danach beurteilt, wie stark es sein Phantasie ‘anrege’. Man habe sich streng daran zu halten, was vom Künstler geboten werde und keineswegs sei der Kunstgenießer befugt, das Werk seinerseits durch eigenes Hinzuphantasieren zu komplettieren: “Statuen darf man nicht nachträglich mit rosa Fleischfarbe bemalen, und Rundfunksendungen darf man nicht nachträglich sichtbar machen.”15 Genau diese Ausschließung der Phantasie leistet das Prinzip Live mit seiner Anmutung von unmittelbarer Teilhabe. Im Gegensatz zu Brecht, der sich von Live-Übertragungen aus Parlamenten und Gerichtssälen eine Demaskierung der Akteure erhofft (und deswegen die gesetzgeberische Verhinderung solcher Übertragungen erwartete), kann Arnheim mit der ungestalteten Ausstrahlung irgendwelcher Ereignisse nichts anfangen: Während also der Hörer beim Hörspiel das ruhige Gefühl hat, daß er den Vorgang vollständig auffaßt, fühlt er sich vor der Übertragung als Krüppel. Er hört Leute hin- und hertrappeln und weiß nicht, was sie tun, er hört ein glücklicheres Publikum laut auflachen und weiß nicht weswegen, er hört plötzlichen Applaus oder Begrüßungsrufe und hat gar nicht gemerkt, daß jemand aufgetreten ist. […] 13
Wolfgang Hagen: Über das Radio (hinaus): Ein Medium zwischen Krieg und Digitalisierung. Feature. Österreichischer Rundfunk 1993. Ursendung 29. 3. 1993, 19.45 Uhr. Landesstudio Tirol. 14 Rudolf Arnheim: Rundfunk als Hörkunst [dt. verf. 1933]. München, Wien 1979. Zuerst erschien das Buch 1936 in London unter dem Titel Radio, übersetzt ins Englische von Herbert Read und Margaret Ludwig. 15 Ebd. S. 81, 82.
179 Soll der Rundfunk ernstlich nicht mehr als ein bloßer Übermittlungsapparat, sondern als eine von der Wirklichkeit durch eigne Formgesetze unterschiedene Hörwelt behandelt werden, so ist die Abschaffung dieser, durch nichts als die Bequemlichkeit der Sendeleitungen gerechtfertigten Übertragungen eine unabweisbare Forderung.16
Während der Theoretiker Arnheim für die medienadäquate Gestaltung der (Hör-)Welt plädiert, setzt der Theaterpraktiker Brecht auf das Medium als Werkzeug zur Umgestaltung der Welt. Es gehe nicht darum, die Institutionen (Theater, Rundfunk) zu beliefern und zu perpetuieren, sondern die Aufgabe bestehe vielmehr in Folgendem: “Durch immer fortgesetzte, nie aufhörende Vorschläge zur besseren Verwendung der Apparate im Interesse der Allgemeinheit haben wir die gesellschaftliche Basis dieser Apparate zu erschüttern.”17 Darin besteht der Zweck des Rundfunks, den Brecht nach seiner Medienkritik (s. o.) wiederholt “Lebenszweck”18 nennen muss. Das Radio kommt nicht als neues Medium in den Blick, sondern bestenfalls als Werkzeug, eher aber als eine störende Erfindung. So konstruiert er eine verquere Genealogie des Mediums, nicht ohne dabei sich als Künstler eine entscheidende legitimatorische Rolle zuzusprechen: In diesen Städten beginnt jede Art künstlerischer Produktion damit, daß ein Mann zu dem Künstler kommt und sagt, er habe einen Saal. Daraufhin unterbricht der Künstler seine Arbeit, die er für einen anderen Mann unternommen hat, der ihm gesagt hat, er habe ein Megaphon. Denn das Metier des Künstlers besteht darin, etwas zu finden, wodurch es hinterher entschuldigt werden kann, daß man Saal und Megaphon unüberlegterweise gemacht hatte.19
Was Brecht nicht hindert, von der Bourgeoisie zu ihrer Erfindung des Livemediums Radios noch eine weitere zu verlangen, nämlich “eine, die es ermöglicht, das durch Radio Mitteilbare[!] auch noch für alle Zeiten zu fixieren.”20 Die offensive Ahnungslosigkeit in Fragen der technischen Entwicklung des Rundfunks, die Brecht mit vielen Schriftstellern der Weimarer Republik teilte, erklärt Wolfgang Hagen psychologisch: “Ich hatte”, heißt es in seinem [Brechts] Radiotheorietext, “was das Radio betrifft, sofort den schrecklichen Eindruck, es sei eine unausdenkbar alte Einrich16
Ebd. S. 84, 85. Bertolt Brecht: Der Rundfunk als Kommunikationsapparat. Rede über die Funktion des Rundfunks. In ders.: BFA (Anm. 3). 1993. Bd 21. S. 552-557, hier S. 555. Der Text entstand 1932. 18 Ebd. S. 553. Kursivsetzung original. 19 Bertolt Brecht: Radio – eine vorsintflutliche Erfindung? In ders.: BFA (Anm. 3). 1993. Bd. 21. S. 217f. Ersetzt man “Saal” durch “Staat”, ergibt sich die präzise Funktionsbeschreibung des Künstlers in der späteren DDR. 20 Ebd. S. 218. Der Text entstand 1927, vor der Einführung der Wachsplatte. 17
180 tung, die seinerzeit durch die Sintflut in Vergessenheit geraten war.” Philologisch besehen ist dieser Satz ein Paradebeispiel für die Wirkung kriegstechnischer Medienspuren. Der Erste Weltkrieg als Sintflut, die vergessen gemacht hat, woher dieses Medium kommt. Nämlich aus dem Ersten Weltkrieg.21
“World-War One ist ein Radiokrieg, der nicht zu seinem Ende gekommen ist”,22 zeichnet Hagen thesenhaft die Entwicklung des Radios nach, das personell und technisch seine Herkunft aus dem Militär nicht verleugnen kann. Selbst als am 29. Oktober 1923 der Deutsche Unterhaltungsrundfunk “urplötzlich” auf Sendung ging, sei das eine prophylaktische Bürgerkriegsmaßnahme gewesen, so friedlich das Programm auch dahinmusizierte, während Ausnahmezustand, Arbeitslosigkeit und Hyperinflation herrschten.23 Mehrere Jahrzehnte später beschreibt Marshall McLuhan den Status des Rundfunks als Aufzeichnungs- und Verbreitungsmedium und seine Verschaltung mit dem Menschen als Wiederkehr des Verdrängten: Das Radio ist wie jedes Medium mit einer Tarnkappe versehen. Offensichtlich tritt es uns gegenüber direkt auf, wie von Mensch zu Mensch, privat und intim, während es tatsächlich aber, und das ist wichtiger, eine unterschwellige Echokammer ist, die die Zauberkraft besitzt, längst vergessene Saiten erklingen zu lassen. In noch stärkerem Maße als das Telefon oder der Telegraf ist der Rundfunk eine Erweiterung unseres Zentralnervensystems, dem nur die menschliche Sprache selbst gleichkommt.24
Enttarnt erweist sich das Radio trotz seiner scheinbar direkten und privaten Ansprache als Transportmittel kollektiver Erfahrungen, das heißt kultureller Überlieferung. Die nachhaltigsten Echos, die das Radio mit seiner quasimagischen Kraft hervorruft, haben ihren Ursprung in den Erschütterungen des Krieges, dessen Produkt es ist, was es aber zu verbergen versucht. Wenn es anhand der folgenden Fallbeispiele um Krieg und Hörspiel gehen soll, dann nicht um Propagandahörspiele oder um die literarische Aufarbeitung von Kriegserfahrungen im Hörspiel, sondern um den Umgang von Hörspielmachern mit authentischem Material in den verschiedensten Erscheinungsformen: als Dokumentation, als Spiel, als Recycling und als Konstruktion. Für die Überwältigungsdramaturgie des Prinzips Live braucht es nicht einmal einen Krieg im strengen völkerrechtlichen Sinne als Gegen21
Hagen: Über das Radio (hinaus) (Anm. 13). Wolfgang Hagen: Der Radioruf. Zu Diskurs und Geschichte des Hörfunks. In: HardWar / SoftWar. Krieg und Medien 1914 bis 1945. Hg. von Martin Stingelin und Wolfgang Scherer. München 1991. S. 243-274, hier S. 254. 23 Ebd. S. 257. 24 Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle. Understanding Media. Übers. von Meinrad Amann. Düsseldorf, Wien 1968. S. 329. 22
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stand. Seine Funktion lässt sich auch an einer (fiktiven) extraterrestrischen Invasion, einer friedenserzwingenden Maßnahme, einer Revolution, bürgerkriegsähnlichen Zuständen, einem Terroranschlag sowie an diversen zivilen Katastrophen demonstrieren. II. Der Phonographenkrieg – Kaiser Wilhelm Overdrive Eines der ganz wenigen Tondokumente, die von Kaiser Wilhelm II. erhalten sind, ist sein 2 ½-minütiger Aufruf an das deutsche Volk vom 6. August 1914. Genauer gesagt: Erhalten ist dessen nachgesprochener Text, der vom Kaiser am 10. Januar 1915 für die Aufzeichnung verlesen wurde.25 An das deutsche Volk. Seit der Reichsgründung ist es schon 43 Jahre mein und meiner Vorfahren heißes Bemühen gewesen, der Welt den Frieden zu erhalten und in Frieden unsere kraftvolle Entwicklung zu fördern. Aber die Gegner neiden uns den Erfolg unserer Arbeit. Alle offenkundige und heimliche Feindschaft von Ost und West, von Jenseits der See haben wir bisher ertragen im Bewußtsein unserer Verantwortung und Kraft. Nun aber will man uns demütigen. Man verlangt, daß wir mit verschränkten Armen zusehen, wie unsere Feinde sich zu tückischem Überfall rüsten. Man will nicht dulden, daß wir in entschlossener Treue zu unserem Bundesgenossen stehen, der um sein Ansehen als Großmacht kämpft und mit dessen Erniedrigung auch unsere Macht und Ehre verloren ist. Es muß denn das Schwert nun entscheiden. Mitten im Frieden überfällt uns der Feind. Darum auf zu den Waffen. Jedes Schwanken, jedes Zögern wäre Verrat am Vaterlande. Um Sein oder Nichtsein unseres Reiches handelt es sich, was unsere Väter sich neu gründeten, um Sein oder Nichtsein deutscher Macht und deutschen Wesens. Wir werden uns wehren bis zum letzten Hauch von Mann und Roß und wir werden diesen Kampf bestehen auch gegen eine Welt von Feinden. Noch nie ward Deutschland überwunden, wenn es einig war. Vorwärts mit Gott, der mit uns sein wird, wie er mit den Vätern war.
Kaiser Wilhelm Overdrive 26 nennt Andreas Ammer den ersten Teil seiner zusammen mit FM Einheit realisierten Tonträgeroper Deutsche Krieger.27 In dem “Remix der Originalklänge aus den Jahren 1888 bis 1918” treten unter 25
In den Rundfunkarchiven lassen sich für viele Dokumente, die für authentisch zu halten man sich geeinigt hat, solche Unstimmigkeiten finden; so auch für die erste Sendung des Deutschen Unterhaltungsrundfunks. 26 Andreas Ammer: Kaiser Wilhelm Overdrive. Bayerischer Rundfunk 1991. Ursendung 20. 3. 1991, 21.00 Uhr. Bayern2Radio 19:48 Min. Das Stück ging in stark überarbeiteter Fassung in Deutsche Krieger auf. 27 Andreas Ammer, FM Einheit: Deutsche Krieger. Tonträgeroper. Bayerischer Rundfunk 1995. Bestehend aus: Kaiser Wilhelm Overdrive (Ursendung 10. 10. 1995, 21.00 Uhr. Bayern2Radio. 22:05 Min.), Adolf Hitler Enterprise (Ursendung 10. 10. 1995, 21.00 Uhr. Bayern2Radio. 21:40 Min.) und Ulrike Meinhof Paradise (Ursendung 10. 6. 1997, 23.00 Uhr, WDR 1Live, 24:21 Min.). Auf CD wiederveröffentlicht Hamburg 2003.
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anderem auf: Wilhelm II. als Der Kaiser, Leo XIII. als Der Papst, Enrico Caruso als Der Sänger, sowie die Schauspieler Alexander Moissi und Ludwig Wüllner als Schiller und Goethe. Nicht nur, dass diese alle dem Kaiser ins Wort fallen, das Medium selbst scheint sich gegen ihn zu verschwören und unterminiert die Linearität seiner Äußerungen, indem es um des komischen Effektes willen die Substantive vertauscht. Statt “Es muß das Schwert nun entscheiden” könnte das genauso gut “das Roß”, “der Feind”, “jedes Schwanken” etc. erledigen. Mehr noch: Das Radio, dem Brecht bestenfalls eine Rolle als Stellvertreter von Theater, Oper, Konzert oder Vorträgen zugestehen wollte,28 kommt selbst zu Wort – und zwar in der 1. Person Singular. In einer zeitgenössischen Demonstration stellt sich das Aufzeichnungsgerät, der EdisonPhonograph, selbst vor: “Ich, die Sprechmaschine, habe das Vergnügen, Sie alle auf das Herzlichste zu begrüßen”, nicht ohne auf seine Funktion (“Meine Lebensaufgabe besteht darin, alle Anwesenden stets zu unterhalten”) und seinen Charakter als vermittelnder Bote zu verweisen (“Durch mich hören sie mit vollkommener Naturtreue die berühmtesten Künstler”). Allerdings können die Botschaften der Sprechmaschine auch aus dem Totenreich kommen: “Ich zaubere Ihnen auf Wunsch die Stimme und die Kunst längst Dahingegangener herbei.” Die Autonomie der Sprechmaschine endet allerdings genau da, wo sie als Befehlsverteilungsmaschine benutzt wird, selbst wenn der finale Befehl von einer anderen Stimme kommt: “Und deshalb rufe ich Ihnen zu, so laut es meine Konstruktion gestattet: Stillgestanden!” Der Befehl als einziger Sprechakt, der die Massen informiert, das heißt in Form bringt und in Bewegung setzt, ist, glaubt man Friedrich Kittler, Wolfgang Hagen und anderen, die grundlegende Struktur des Radios. Die ist allerdings erheblich älter als ihre kriegstechnische Implementierung. Eine der ältesten Institutionen der Menschheit, die Kirche, wurde auf einer Kommunikationstechnologie begründet, die nicht über Schrift und Bild, sondern über die übertragene Stimme funktionierte. Der Bericht vom Sendestart stammt aus der Apostelgeschichte, Kap. 2, Vers 3f.: “Und es erschienen ihnen Zungen zerteilt, wie von Feuer; und er setzte sich auf einen jeglichen unter ihnen, und sie wurden alle voll des heiligen Geistes und fingen an zu predigen in anderen Zungen, wie der Geist ihnen gab auszusprechen. Da nun diese Stimme geschah, kam die Menge zusammen und wurde bestürzt; denn ein jeder hörte sie in seiner eigenen Sprache reden.” Radio-‘Sendungen’ als Worldservice gibt es also seit 2000 Jahren.29 28
Brecht: Der Rundfunk als Kommunikationsapparat (Anm. 17), hier S. 552. Zu den Anweisungen erteilenden, keinen Widerspruch duldenden und nicht abschaltbaren Stimmen, wie denen der automatisierten Ansagen aus den Lautsprechern von Bahnhöfen, Flughäfen oder Navigationssystemen, denen der Schizophre-
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Sprechmaschinen, wenn man sie denn nicht nur als Reproduktionsautomaten auffasst, gibt es seit gut 200 Jahren. 1791 publizierte der Wiener Hofrat Wolfgang von Kempelen die Abhandlung “Mechanismus der menschlichen Sprache nebst der Beschreibung einer sprechenden Maschine”. Als genialer Mechaniker hatte er schon für die blinde Tochter eines Freundes eine Schreibmaschine und den berühmten Schachtürken konstruiert, dem Edgar Allen Poe ein literarisches Denkmal gesetzt hat. Kempelen führte seinen Schach spielenden Androiden und seine Sprechmaschine immer gemeinsam vor. Der blecherne Schachspieler war dem Äußeren eines Menschen nachgebaut und unterstrich mit eckigen Bewegungen und unnatürlich rollenden Augen seine Maschinenhaftigkeit, um den Betrug, der in ihm steckte – nämlich einen menschlichen Schachspieler – zu verbergen. Die Sprechmaschine hingegen konnte auf jedes illusionistische Beiwerk verzichten. In einer absolut modernen, schuhkartongroßen Blackbox steckte ein Nachbau der menschlichen Anatomie: ein Blasebalg als Lunge und Stimmlippen aus Gummi.30 Im Gegensatz zu der fixierten Stimme des Phonographen waren die mit Kempelens Maschine erzeugten Laute flüchtig – eben live. Der Phonographenkrieg endet bei Andreas Ammer nicht mit einem militärischen, sondern mit einem demokratischen Sprechakt, Scheidemanns Bericht von seiner Ausrufung der Republik am 9. November 1918. III. Der Radiokrieg 1 – Adolf Hitler Enterprise Es sind nicht, wie man vermuten könnte, die Stimmen Hitlers oder Goebbels’, die den zweiten Teil der Deutschen Krieger dominieren. Es sind vielmehr die Stimmen anonymer Sprecher, die mit Daten und Zahlen die Frequenzwechsel annoncieren und so die Kommunikation am Laufen halten: “Diese Sendung geht über die Kurzwellensender GFA im 49 Meter Band, 6050 kHz – Achtung, Achtung! GSW im 41 Meter Band 7430 kHz.”31 Die technischen Medien haben sich als widerstandsfähiger erwiesen als das Menschenmaterial an der Front. Wie man bei Ammer hören kann, trennen ganze drei Minuten Krieg von Nachkrieg: 20 Uhr und 3 Minuten. Wir bringen heute den letzten Wehrmachtsbericht dieses Krieges, den 9. Mai 1945. Das Oberkommando der Wehrmacht gibt bekannt: Seit Mitternacht schweigen nun an allen Fronten die Waffen. Die deutsche Wehrnie und nicht zuletzt der Gottes siehe Walter Filz: Masters Voices. Stimmen aus dem Off. Feature. Deutschlandradio Berlin / Westdeutscher Rundfunk 1999. Ursendung 23. 11. 1999, 0.05 Uhr. DLR Berlin. 53:40 Min. 30 Siehe Brigitte Felderer: Stimm-Maschinen. Zur Konstruktion und Sichtbarmachung menschlicher Sprache im 18. Jahrhundert. In: Zwischen Rauschen und Offenbarung (Anm. 10). S. 257-278. 31 Ammer / Einheit: Deutsche Krieger (Anm. 27).
184 macht ist vor der gewaltigen Übermacht ehrenvoll unterlegen. Wir brachten den Wortlaut des letzten Wehrmachtberichtes dieses Krieges. Es tritt eine Funkstille von drei Minuten ein. – 1212 sendet. – Die Naziregierung und die deutsche Wehrmacht haben bedingungslos den alliierten Expeditionsstreitkräften kapituliert. – 1212 sendet, 1212 sendet.32
Der Synchronisation von Zeit und Frequenz im Takt der Übertragungstechnik korrespondiert die Synchronisation und Gleichschaltung der Stimmen. Chiffre für diese Synchronisation ist die Zusammenschaltung aller Truppenteile am 24. Dezember 1941 von Stalingrad bis Afrika um ‘Stille Nacht, heilige Nacht’ zu singen: diesem spontanen Wunsch unserer Kameraden fern, drunten am Schwarzmeer schließen sich nun alle Stationen an. Jetzt singen sie schon am Eismeer und in Finnland, und jetzt schalten wir dazu alle die andern Stationen: Leningrad, Stalingrad und jetzt kommt dazu Frankreich, kommt dazu Catania, uns singt Afrika und nun singt alle mit, singt alle mit uns gemeinsam in dieser Minute das alte, deutsche Weihnachtslied.33
Unabhängig davon, ob es die Schalte zu allen Fronten wirklich gegeben hat, wichtig im Propagandakrieg war, dass sie als Live-Ereignis rezipiert wurde und so die distanzlose Unmittelbarkeit und Geschlossenheit demonstrierte. Ebenso wie Herbert Morrisons Lakehurst-Reportage wirkt auch diese Inszenierung noch nach Jahrzehnten, wenn auch gegen ihre propagandistische Absicht. Weiß man doch, dass die Mitglieder des Chores, wo immer sie auch gewesen sein mögen, wenig später zu Zehntausenden tot sein werden. Auf den gespenstischen Chor der Toten haben die Nazis allerdings kein Copyright. Ein frühes Zeugnis stammt aus einer anderen Terrorherrschaft, nämlich der Robespierres. Schon damals bildeten Musik und Stimme den Kampfplatz politischer Auseinandersetzungen. IV. Exkurs über die Stimme und Politik In den sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts tobte zwischen dem Komponisten Jean-Philippe Rameau und dem Philosophen Jean-Jacques Rousseau ein geradezu fundamentalistischer Streit darüber, was am Ursprung der Musik stehe: Harmonie oder Melodie. Rameau vertrat die These der Harmonie und der “verunglückte Musiker” Rousseau proklamierte eine unité de mélodie, das heißt eine Einheit durch und im Namen der Melodie. Der Streit eskalierte und führte zu heftigen öffentlichen Beschimpfungen, Demütigungen und Bloßstellungen. Warum die ganze Aufregung? Es schien um mehr zu gehen als um Musik. Und in der Tat standen in diesem Streit Denkfiguren 32 33
Ebd. Ebd.
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und Argumentationsmuster zur Diskussion, die später auf ganz anderem Gebiet wirkungsmächtig werden sollten. Was sind also die gesellschaftspolitischen Forderungen der Unité de Mélodie? Das entscheidende scheint mir zu sein, dass Rousseaus (nun auch politisches) Konzept der Einheit nicht auf einer Übereinstimmung basiert. Einheit meint nicht Übereinstimmung; Übereinstimmung wäre das alte Konzept der Harmonie. Einheit meint den Rückgang auf einen Ursprung, der als Prinzip oder Gesinnung oder Gefühl oder Leidenschaft Präsenz bekommt und immer einfach ist. Genau das ist jene Melodie, die der Harmonie als Übereinstimmung – wo die Mehrheiten entscheiden, wo man sich einigt – gegenübersteht.34
Es geht nicht um Gesang, es geht um Politik. Und zwar um eine, in der Kompromisse nicht gefragt sind, sondern das einmal erkannte Gute durchgesetzt werden soll. Und die Gesangsstimme ist das Schlachtfeld, auf dem und mit der Politik gemacht wird. Die Revolution will zu keiner rechten Einstimmigkeit gelangen. In der Politik, in den Konventen, Versammlungen und Ausschüssen herrscht rege Polyphonie. Misstöne müssen da natürlich ausgemerzt werden. Im terreur der französischen Revolution erlebt der Kampf gegen die Mehrstimmigkeit seinen Höhepunkt. Den inneren Feind auslöschen – das war Robespierres Version der Unité de Mélodie, der Einstimmigkeit, zu der sich das französische Volk, die Nation, die wie ein Körper nur eine Stimme hat, formieren sollte. Jede Polyphonie war Verrat an den Idealen der Unité, ihrem gemeinsamen Ursprung, an dem die einfachen Melodien regieren. Darum mussten nicht fremde Körper oder äußere Feinde, sondern Stimmen im Inneren dieses Nationenkörpers eliminiert werden. Und darum auch sind die letzten Worte und Gesänge, also die Stimmen der Verurteilten bei ihrer Exekution so wichtig.35
Es gibt sogar ein – vermutlich nicht ganz authentisches – Zeugnis über dieses Phänomen: Ein Chor von zwanzig Männerstimmen singt die Marseillaise. Ihr Gesang ist einstimmig, ihre Gesinnung einmütig, ihr Schicksal völlige Gleichheit: Sie sind zum Tode verurteilt. Den Text der Marseillaise haben sie geändert; er lautet nun: Plutôt la mort que l’esclavage! C’est la devise des Français Den Tod der Knechtschaft vorzuziehn, sind Frankreichs Söhne stets bereit. Sie singen bis zu ihrem Tode, bis das Beil ihre Stimme zerschneidet. Das Verstummen ihres Gesangs lassen sie zum Merkmal ihres Todes werden. So sehr sich ihre Reihen lichten, verkleinert sich das Volumen ihres Chors – bis dem letz34
Nicklaus: Rousseau und die Verurteilung der Mehrstimmigkeit. In: Zwischen Rauschen und Offenbarung (Anm. 10). S. 153-173, hier S. 160. 35 Ebd. S. 171 f. Kursivsetzung original.
186 ten nicht das Wort, sondern der Gesang buchstäblich abgeschnitten wird. […] Im Namen der neuen Einstimmigkeit ging es um das Zerschneiden unstimmiger Stimmbänder. Man vernichtete die politische Stimme der Verurteilten.36
Gegen das Stimmengewirr im Parlament, das die Einheit von Vox und Votum, Stimme und Stimmrecht symbolisiert, hilft also nur die Durchtrennung der Stimmbänder, was unter der Guillotine praktischerweise mit dem Ableben der Unstimmigen zusammenfiel. Im Nationalsozialismus wurde die Polemik gegen die freie Rede im Parlament bis zum Exzess gesteigert. Schon bevor sie der gleichgeschaltete Rundfunk in die Volksempfänger des Reiches sendete, bedienten sich die Nazis offensiv der Stimmen ihrer Funktionäre. Ein gewisser Fritz Reinhardt, Gründer einer Fernhandelsschule, rief 1928 eine offizielle Partei-Redner-Schule ins Leben, die die rund 180.000 Parteiversammlungen vor der Machtergreifung mit Agitatoren versorgte. Die Kulturwissenschaftlerin Claudia Schmölders zitiert Fritz Reinhardt:37 Dieser Kurs soll Ihnen nicht beibringen, wie Sie Ihren Mund und Ihren Körper bewegen sollen, oder wie Sie Arme und Hände rühren, oder welchen Gesichtsausdruck Sie einsetzen sollen, oder was Sie laut oder leise sprechen sollten usw. Sie sollen kein Schauspieler werden, sondern zuerst ein Anwalt des Nationalsozialismus und dann ein nationalsozialistischer Redner.
Dem im Prinzip dialogischen Charakter der öffentlichen Rede standen Reinhardts geradezu antirhetorische Maximen gegenüber, die Hitler in Mein Kampf so beschrieb: Ich habe damals in kurzer Zeit etwas sehr Wichtiges gelernt, nämlich dem Feinde die Waffe seiner Entgegnung gleich selber aus der Hand zu schlagen. […] Es war wichtig, sich in jeder einzelnen Rede vorher schon klar zu werden über den vermutlichen Inhalt und die Form der in dieser Diskussion zu erwartenden Gegeneinwände und diese dann in der eigenen Rede bereits restlos zu zerpflücken. Es war dabei zweckmäßig, die möglichen Einwände selbst immer sofort anzuführen und ihre Haltlosigkeit zu beweisen; so wurde der Zuhörer, der, wenn auch vollgepfropft mit den ihm angelernten Einwänden, aber sonst ehrlichen Herzens gekommen war, durch die vorweggenommene Erledigung der in seinem Gedächtnis eingeprägten Bedenken leichter gewonnen.38
Gelungen ist das seinem Propagandaminister Goebbels in der Sportpalastrede. “Führer befiehl, wir folgen”, so bejubelte das Publikum das Versprechen des noch totaleren und radikaleren Krieges. Die Stimmen sind gleichgeschaltet und auf eine 64stel Sekunde synchronisiert. Das unisono im Berliner 36
Ebd. S. 167, 172. Claudia Schmölders: Stimmen von Führern. Auditorische Szenen 1900–1945. In: Zwischen Rauschen und Offenbarung (Anm. 10). S. 175-195, hier S. 178. 38 Adolf Hitler: Mein Kampf. München 1936. Zit. nach Schmölders: Stimmen von Führern (Anm. 36). S. 179. Kursivsetzung C. Schmölders. 37
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Sportpalast entfaltet im ganzen Reichsgebiet seine Wirkung. Was sich grundsätzlich geändert hat, ist die Struktur, die nicht mehr dialogisch ist, sondern nach der Relation von lautem Befehl und – in der Regel – stummem Gehorsam funktioniert. In der Einweg-Kommunikation über ein Massenmedium ist der Hörer nicht einmal mehr als Zwischenrufer vorgesehen. Er hat eine Botschaft zu empfangen: “Der Rundfunk ist nun nicht länger im physikalisch-technischen, sondern endlich im geistigen Sinne ‘Sendung’. Jeder Funkschaffende ist Träger der nationalsozialistischen Sendung, ein Propagandist und Apostel der Idee”,39 schrieb der Reichssendeleiter Eugen Hadamovsky 1934. Und Joseph Goebbels verweist, nachdem er in seiner Sportpalastrede die Schließung der Vergnügungslokale verkündet hatte, auf den Rundfunk als Ersatz. Als Befehlsverteilungsmaschine auf UKW und als Unterhaltungsmedium auf Mittelwelle hat der Rundfunk durch seine Übertragungsmöglichkeit die Stimme unendlich effektiviert. Die Technik war dem gegenüber indifferent und sendete einfach weiter, jedoch nicht mehr nach den Gesetzen der unité de mélodie. Es ging nicht mehr um die Einheit der Differenz, sondern um die Differenz der Differenz. Der Unterhaltungsrundfunk eroberte das UKWBand und die Befehle wanderten in den Gigahertzbereich der Satellitenkommunikation ab. V. Der Radiokrieg 2 – Orson Welles und seine Echos Mit der Sprechmaschine aus Kaiser Wilhelm Overdrive teilte Orson Welles zwei Eigenschaften: seine stimmliche Variabilität und seine Position im Radio. Sein Debüt hatte Welles im vom Magazin Time gesponserten NBCProgramm The March of Time, in dem Schauspieler Politikerstimmen imitierten, um die harten Nachrichten der Woche dialogisch und mit Geräuschen in Szene zu setzen. Eine Mischung aus fact und fiction, die man heute aus Dokudrama oder Infotainment kennt. Als 1934 für den Bericht über die Geburt von Fünflingen jemand gebraucht wurde, der fünf unterschiedlich schreiende Babys nacheinander imitieren konnte, war Welles zu Stelle. In der Folge sprach er Franklin D. Roosevelt, Haile Selassie, Hindenburg, Kaiser Hirohito u. v. a. m.40 Welles kassierte Höchstgagen und bekam 1938 seine eigene Radio-Show auf CBS: First Person Singular, die Radiobearbeitungen von Romanen und Dramen aus der subjektiven Perspektive der IchForm präsentierte. “First Person Singular – die einzige Person im Radio, die es nicht gibt, und die sich, um zu existieren, als eine andere maskieren
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Schmölders: Stimmen von Führern (Anm. 36). S. 192. Richard France: The Theatre of Orson Welles. Cranbury, New Jersey 1977. S. 172ff. Zit. nach Hagen: Der Radioruf (Anm. 22), hier S. 270. 40
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muß”,41 wie es Wolfgang Hagen beschreibt, und wie es die Sprechmaschine vorgemacht hatte.42 Ohne die akustische Erfahrung mit der Lakehurst-Katastrophe von 1937, deren Mitschnitte zur auditiven Grundierung der Explosionen auf dem Landeplatz der Marsmenschen dienten, und ohne die heraufziehende Bedrohung aus Europa, wäre die Wirkung von Orson Welles’ War of the Worlds 43 nicht möglich gewesen. Eine Woche vor Welles’ Ursendung am 30. Oktober 1938 brachte die CBS an gleicher Stelle Archibald McLeishs Hörspiel Air Raid,44 das den Luftangriff der Legion Condor auf Guernica thematisierte. Das Publikum war für die Schrecken des Realen sensibilisiert und wusste, dass es bei solchen Terrorangriffen mehr noch auf den traumatisierenden Effekt als auf die tatsächlichen Zerstörungen ankommt. Der Autor Howard Koch hatte in dieser Zeit seinen ersten Job bei Columbia Broadcasting System und bekam von Orson Welles den Auftrag, in nur sechs Tagen den 1898 erschienenen Roman War of the Worlds von Herbert George Wells in Nachrichtenform für das Mercury-Theatre zu bearbeiten. Der Effekt des fiktiv Authentischen war überwältigend. Zwischen neun Uhr abends New Yorker Zeit und der Frühe des nächsten Tages flüchteten Männer, Frauen und Kinder in vielen Städten der USA vor Dingen, die nur in ihrer Phantasie existierten. Innerhalb von fünfundvierzig Minuten realer Zeit – im Unterschied zu subjektiver oder vorgespiegelter Zeit – waren die eindringenden Marsmenschen angeblich imstande, von ihrem Planeten zu starten, auf der Erde zu landen, ihre Vernichtungsmaschinen aufzustellen, unsere Armee zu schlagen, Verkehrsverbindungen zu unterbrechen, die Bevölkerung zu demoralisieren und ganze Landstriche zu besetzen. In fünfundvierzig Minuten! […] Nach der Landung der Marsmenschen ließ ich die Streitkräfte beider Seiten über ein immer weiteres Gebiet operieren, machte Manöver und Gegenmanöver zwischen den Invasoren und uns und genoß schließlich die Verwüstung, die ich zustande brachte, wie ein betrunkener Feldherr. Endlich, nach der Zerstörung des CBS-Gebäudes, vielleicht ein unbewußter Wunschtraum von mir, beschloß ich das Gemetzel mit einer einsamen Funkamateurstimme im Äther: “Ist denn da niemand ... Ist da niemand ... Niemand? ” Zu diesem Zeitpunkt saßen anscheinend nur noch die Nervenstärksten, oder die mit der Geistesgegenwart, eine andere Station einzuschalten, an den Geräten. Die Menschen flüchteten blind in alle Richtungen, zu Fuß und in allen möglichen 41
Hagen: Der Radioruf (Anm. 22). S. 270. Dabei ergibt sich eine interessante Umkehrung. War es bei der Sprechmaschine noch ihr technischer Kern, der maskiert werden musste, so wird bei den heute gebräuchlichen künstlichen Stimmen (in Navigationssystemen etc.) verborgen, dass sie auf der Rekombination kleinster Bestandteile natürlich gesprochener Sprache basieren. 43 Orson Welles: The War of the Worlds. Audio-Kassette. München 1996. 56:10 Min. 44 Als Luftangriff 1988 vom Sender Freies Berlin in deutscher Fassung produziert. 42
189 Fahrzeugen. Die Szene in Newark, wie sie mir später beschrieben wurde, war ein vollständiges Chaos. Hunderte von Wagen rasten zur Verblüffung der Polizei ohne Rücksicht auf die Verkehrsampeln durch die Straßen, wie in einer Keystone-Komödie aus der Stummfilmzeit.45
Gegen die ausgeklügelte Dramaturgie des Stückes, das langsam begann und in der Temposteigerung reale und erlebte Zeit entkoppelte, gegen die meisterhaft fingierten O-Töne – unter anderem dem des damaligen Innenministers und späteren Präsidenten Franklin D. Roosevelt –, halfen weder die Sprünge in der Zeitachse noch der mehrfache, explizite Hinweis, dass es sich um “fiction” handelte. Welles’ Abmoderation, die, als Reaktion auf wütende Anrufe im Sender, das Stück zum Halloween-Scherz erklärte, konnte den panikauslösenden Effekt nicht verhindern. Nachdem sich die Aufregung gelegt hatte, zogen Ströme von Schaulustigen nach Grovers Mill (“wo die Marsmenschen gelandet waren”), und die Grundstückpreise explodierten. In gewisser Weise wurde das Fiktive jetzt erst real, weil das Spiel nicht falsch sein kann, wenn das Geld echt ist. Wie Welles später freimütig zugab, war er nicht einmal der Urheber des Genres, das man heute als Mediafiction bezeichnet. Welles ließ sich von einer BBC-Show inspirieren, in der ein katholischer Priester von der Eroberung Londons durch die Kommunisten erzählte.46 Nach dem Skandal ging Orson Welles mit den Mercury-Leuten nach Hollywood und drehte den ‘ersten radiophonen Film’ (so François Truffaut) Citizen Kane; der Schauspieler Joseph Cotten wurde ein Star und Howard Koch ging zu den Warner Brothers und schrieb das Drehbuch zu Casablanca. Eine deutsche Fassung ließ lange auf sich warten. Nachdem das Stück auf Schallplatte veröffentlich worden war, wagte es der Bayerische Rundfunk 1975 erstmals, eine kommentierte Fassung zu senden. 1998 produzierte Radio Bremen ebenfalls eine kommentierte Fassung mit dokumentarischen O-Tönen der Beteiligten.47 Eine eigenständige Fassung entstand 1977, fast 40 Jahre nach der Ursendung, produziert vom damaligen Chef des Studios Akustische Kunst im WDR, Klaus Schöning. Dabei stand Eines im Mittelpunkt – um jeden Preis den Eindruck des Live zu vermeiden. Warum? Weil es einer ‘derartigen Panik’ nicht noch einmal bedürfe, um auf die Konse45
Howard Koch: Text auf dem Cover der Schallplatten-Edition der Originalsendung War of the Worlds. Zit. nach Klaus Schöning: Die Wirklichkeit des Radios ist die Wirklichkeit des Radios oder Die Marsmenschen kommen. Feature. Westdeutscher Rundfunk 1988. 1. 11. 1988, 21.00 Uhr. WDR 3. 37:30 Min. 46 Siehe Jochen Rack: The War of the Worlds. Radio Bremen 1998. Ursendung 14. 6. 1998, 17.05 Uhr. Radio Bremen 2. 87:07 Min. 47 Darin unter anderem ein Radiogespräch von 1940, in dem H. G. Wells auf Orson Welles’ “jolly good new noises” verweist.
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quenzen des Missbrauchs der auf Glaubwürdigkeit angewiesenen Form der Radio-Reportage aufmerksam zu machen. Deshalb ist für Schöning War of the Worlds “ein Lehrstück, jedoch kein Modell”.48 Die Angst des Radiomachers vor dem eigenen Medium wird nur noch von der eines Interpreten übertroffen, der dem Radio jedes aufklärerische Potential abspricht.49 Das Motto, unter das Klaus Schöning seine Fassung stellte, lautete: “Zeitreise zurück”.50 Die deutsche Radioversion beabsichtigt dabei allerdings nicht, die historische Situation des Vorkriegs-Amerika zu vergegenwärtigen, sondern “den medienspezifischen Aspekt spielerisch zu verdeutlichen” – und verhält sich deswegen dem amerikanischen Original gegenüber “zitierend kritisch”.51 Nicht Verdoppelung, die das Original vergessen macht war die Absicht, sondern eine Art bewußt gemachter Annäherung an das Original. Ein vergeblicher Versuch, der sich seiner Vergeblichkeit bewußt ist. Die deutschen Texte sollten wie eine Folie sein, die ihre originale Vorlage sucht, jedoch nie ganz deckungsgleich mit ihr wird und natürlich auch nie werden kann. […] Das Original, ein Dokument mit eigener Realität und Geschichte, sollte – bei allen Versuchen, es zu verlebendigen – hörbar werden als Zitiertes, eben als Dokument, akustisch verstärkt durch die technisch nicht mehr einwandfreie historische Bandkopie.52
Die zentrale Kategorie der deutschen Realisierung ist die der Übersetzung. Schon beim Originalhörspiel handelte es sich um die Übersetzung von einem Medium (dem Buch) in ein anderes (das Radio). Für die deutsche Fassung war eine weitere Übersetzungsleistung nötig, nämlich von einer Sprache in die andere und von einem Frequenzband auf ein anderes: von der Amplituden- zur Frequenzmodulation, von Mittelwelle (AM) zur Ultrakurzwelle (FM). Da alle Ebenen kenntlich bleiben sollten, wurde das Stück zu einem akustischen Palimpsest. Aber das ist nicht die einzige Sicherheitsvorkehrung, die verhindern soll, dass man das Stück für bare Münze nimmt. Die Reporter und Moderatoren als “berufsmäßige Übersetzer einer Wirklichkeit in eine andere” (nämlich die der Medien) sind mit bekannten Radiostimmen besetzt wie den Journalisten Dieter Thoma und Lothar Dombrowski sowie den Schauspielern Christian Brückner, Gert Haucke und Jürgen Thormann. Schauspieler als Moderatoren, Moderatoren als Schauspieler ihrer selbst: die Irritation wächst und die Übersetzung überholt schließlich ihre Vorlage. 48
Schöning: Die Wirklichkeit des Radios (Anm. 44). Werner Faulstich: Radiotheorie. Eine Studie zum Hörspiel ‘The War of the Worlds’ (1938) von Orson Welles. Tübingen 1981. 50 H. G. Wells, Orson Welles, Klaus Schöning: Der Krieg der Welten. Westdeutscher Rundfunk 1977. Ursendung 18. 3. 1977. WDR 3. 61:15 Min. 51 Schöning: Die Wirklichkeit des Radios (Anm. 44). 52 Ebd. 49
191 Der aufmerksame Zuhörer weiß, daß auch der WDR-Moderator Teil des Spiels ist, Moderator, Spielmacher einer Reise in die Vergangenheit und nicht des Augenblicks. Sein Versuch, sich schließlich dann direkt mit seinem amerikanischen Original anzulegen und die Moderation als Live-Reportage vom Dach des New Yorker Funkhauses zu verkaufen, endet damit, daß der deutsche Moderator den Text seines Originals überrundet (der amerikanische Kollege “übersetzt” jetzt den Text seines deutschen Übersetzers) – und so stirbt er einige Sekunden vor ihm an dem imaginierten Rauch, der über New York City am 30. Oktober 1931 nach dem Willen von Orson Welles hintreibt.53
Der Titelthese seines erläuternden Essays Die Wirklichkeit des Radios ist die Wirklichkeit des Radios hat Klaus Schöning im Untertitel durch eine Drohung ergänzt: oder die Marsmenschen kommen.54 Nur indem man permanent eine kritische Bewusstseinsspaltung gegenüber dem Medium aufrechterhält, entgeht man der Invasion. Nur die Selbstdistanzierung und die Perspektive des Beobachters von Beobachtern schützt vor der Überwältigung durch das Prinzip Live. Aber es kommt, wie es kommen muss, wenn man sich in die Sphäre der Medien begibt, insbesondere die der ästhetisch gestalteten. Waren nach der Ursendung am 18. April 1977 die panikartigen Reaktionen ausgeblieben und das Stück für seinen medienkritischen Gestus gelobt worden, so entfaltete es, ganz gegen die Intentionen seiner Macher, doch noch seine irritierende Wirkung. Am 1. November 1978 wurde das Hörspiel, in der Mittagsmagazinzeit auf der populären Welle WDR 2, wiederholt. Laut einer Meldung der Deutschen Presse Agentur (dpa) erkundigten sich daraufhin 158 Anrufer beim Westdeutschen Rundfunk nach den Marsmenschen.55 Warum ist das so? Weil der ‘Schlaf der Vernunft Monstren gebiert’? Wolfgang Hagen formuliert es so: War of the Worlds markiert den Schnittpunkt, an welchem die politische Geschichte des Radios in die Epoche seiner emotionalen Ohnmacht einläuft. Die perfekte Radiosage, die Orson Welles Meisterwerk inszeniert, entdeckte am Radiohören jenen entschiedenen Anteil des Vergessens, der bislang, praktisch und noch mehr theoretisch, unbeachtet geblieben war. Ein Vergessen aus Hörvergessenheit, das vergißt, was es hörte, indem es vergißt, daß es hört, um also umso mehr von der Präsenz und Tatsächlichkeit des Gehörten überzeugt zu sein.56
Erst 62 Jahre nach Welles Original und 23 Jahre nach der deutschen Realisierung konnte man eine Medienfiktion hören, die sich selbst als Fiktion ernst nahm. Für den 23. August 2000 kündigte der Hessische Rundfunk ein 53
Ebd. Zur besonderen Akzentuierung bildet der Titel zugleich den Schlusssatz des Features. 55 Faulstich: Radiotheorie (Anm. 48), hier S. 90. 56 Hagen: Der Radioruf (Anm. 22), hier S. 271. 54
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Stück namens Krieg der Wellen: Club-Nacht Spezial mit Wigald Boning und Gästen an.57 Der aus dem Privatfernsehen bekannte Comedy-Star Wigald Boning, der früher als Journalist gearbeitet hat, kehrt zu seinen Wurzeln zurück, zum Radio der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt Hessischer Rundfunk. Auf hr2 wird ihm für knapp 80 Minuten “carte blanche” gegeben, um hier und heute mit seinem ihm typischen Witz endlich all das zu Medien, Sport, Kultur und Politik ungeschminkt zur Sprache zur bringen, was der Blick auf die Quoten bei den Privaten bisher verboten hat. Aber Wigald Boning zelebriert nicht nur eine “One-ManShow” – zahlreiche Gäste werden ihm live über den “Krieg der (Funk- und Fernseh-)Wellen” Rede und Antwort stehen. Ungewöhnlich an diesem Abend wird auch sein, dass der Hausautor der Berliner Schaubühne, Roland Schimmelpfennig, dafür gewonnen werden konnte, einen Rahmen mit Stegreifszenen zu entwickeln, ein Versuch, Comedy und Hochkultur kompatibel zu machen.58
Aber es kommt ganz anders. Der, den man am wenigsten in dieser Sendung zu hören bekommen wird, ist Wigald Boning, denn gleich zu Beginn wird er von einem Sonderkommando des Panzeraufklärungsbataillons 14 als Geisel genommen, als es das Frankfurter Funkhaus besetzt. Es soll eine Erklärung verlesen werden, die aber sofort von Störgeräuschen unterbrochen wird. Alle Hörfunkprogramme des HR werden nacheinander abgeschaltet und die ARD übernimmt die Frequenzen zur Berichterstattung über das Ereignis. Der Medienapparat, in Deutschland im Gegensatz zu Amerika traditionell hoheitlich organisiert (zumindest bis zur Zulassung des Privatfunks 1982), wehrt sich gegen seine Übernahme. Echte Radiojournalisten berichten vor Ort und aus den Funkhäusern, die großartige Wibke Bruhns koordiniert die Live-Reportagen und moderiert die Expertengespräche und Hintergrundberichte. Es kommt sogar zum Showdown, bei dem das Funkhaus gewaltsam gestürmt und das bundesweite Programm abgeschaltet wird. Worum es eigentlich geht, das heißt was in der Erklärung steht, die die abtrünnigen Bundeswehrsoldaten verlesen wollen, muss sich der Hörer aus den übertragenen Fetzen und der Metaebene der Hintergrundberichte selbst zusammenreimen. Das Motiv für Besetzung des Senders ist die Verbreitung der völkerrechtlichen und ethischen Bedenken der Soldaten bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr außerhalb des NATO-Gebietes. Belehrt von der Vergeblichkeit metafiktionaler Distanzierungsversuche, bewegt sich Roland Schimmelpfennigs Stück – nur sporadisch von Off-AirTönen aus den Sendestudios unterbrochen – konsequent auf der Ebene der Medienrealität. Denn, so Werner Faulstich: “Der Hörfunk war von Anfang an im doppeltem Sinne Medium des Jetzt: als Medium der Präsentation und 57
Roland Schimmelpfennig: Krieg der Wellen. Hessischer Rundfunk 2000. Ursendung 23. 8. 2000, 21.00 Uhr. HR 2. 66:43 Min. 58 Programmheftankündigung zum Krieg der Wellen. HR 3/2000.
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als Medium der Präsenz.”59 Radiojournalisten spielen im Krieg der Wellen nicht sich selbst, sondern tun einfach im Rahmen der Fiktion ihre Arbeit – in Echtzeit, an Originalschauplätzen und ohne vorher fixierten Text. Konsequent orientiert sich Regisseur Klaus Buhlert an den Formatierungen des Radios und am Erwartungshorizont der Hörer. Am unglaubwürdigsten wirken die wenigen echten Schauspieler im Stück, deren Darstellungsbedürfnis nicht genügend Einhalt geboten wurde.60 Eines aber muss man stets erklären, wenn das Radio selbst Teil einer Katastrophe wird: warum noch etwas zu hören ist und der Sender nicht sofort ausfällt oder abgeschaltet wird. “Wenn man der Geschichte nicht glaubt – und das finde ich sehr gut, dass man ihr nicht glaubt – dann muss man zumindest den Schauspielern und den Störgeräuschen glauben”,61 sagt Krieg der Wellen-Regisseur Klaus Buhlert. Diesmal war es nicht die künstlerische Abteilung, die eine letzte Sicherheitsbarriere einzog, um die Wirklichkeit der Hörer vor der Wirklichkeit des Radios zu schützen. HR-Dramaturg Manfred Hess wollte das Stück zwar nicht ins Mittagsprogramm hieven, aber immerhin ins bundesweite Nachtprogramm der ARD. Da spielte jedoch die Intendanz nicht mit. VI. Der Fernsehkrieg oder Ulrike Meinhof Paradise Obwohl Rudolf Arnheim in seinem Buch Rundfunk als Hörkunst für eine ein- und eigensinnige Hörwelt plädierte und das “Lob der Blindheit”62 verkündete, obgleich auch der Komponist und Hörspielmacher Heiner Goebbels sich danach sehnt, “die Tonspuren von Filmen zu senden, denn das sind die besseren Hörspiele”63 (und sich alternativ dazu wenigstens eine Taste auf der Fernbedienung der Fernsehgerätes wünscht, mit der man das Bild ‘muten’ könne), herrscht in den Diskursen über das Hörspiel immer noch eine andere Vorstellung, nämlich dass es ‘Kino im Kopf’ sei. Autor Walter Filz erläutert in seiner Rede zur Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden: Der Satz steht fest: gegen alle praktischen und theoretischen Aufweichungen des Hörspielbegriffs. – ars acustica, Sound Art, Medienkunst, literarisches DJ-ing. Destruktion, Rekonstruktion, Dekonstruktion des Hörspiels, hat alles nix genutzt bzw. nix geändert an der Ansicht, dass Hörspiel Kino im Kopf sein soll. […] 59
Faulstich: Radiotheorie (Anm. 48), hier S. 36. So z. B. Dieter Mann, der in der Rolle eines miesen Generals a. D. chargiert. 61 Klaus Buhlert: Diskussionsbeitrag zum “Krieg der Wellen” bei der jährlich stattfindenden Woche des Hörspiels. Berlin, 12. November 2000. 62 Arnheim: Rundfunk als Hörkunst (Anm. 14). S. 81-120. 63 Heiner Goebbels: Tonspur Radioraum: Plädoyer für ein Geheimnis. In: Heiner Goebbels. Komposition als Inszenierung. Hg. von Wolfgang Sandner. Berlin 2002. S. 84-87. 60
194 Nehmen wir mal ein kleines Beispiel: Telefon klingelt. Gemäß der Kino-imKopf-Theorie müsste unsere Phantasie dann das Bild eines Telefons erzeugen – und zwar bei jedem ein anderes. Der eine sieht vielleicht das Telekom-Modell Europa 30i, der andere das Sinus 44. Der eine sieht’s in Brombeerblau, der andere in Businessschwarz – und er sieht es natürlich nicht wie im Telekom-Prospekt freigestellt auf weißem Grund. Das Telefon steht irgendwo – auf einem Tisch in einem Raum. Und der braucht eine Einrichtung. All das müsste unser Kino im Kopf leisten. Oder habe ich jetzt übertrieben? Weil “Kino im Kopf ” gar keine so konkreten Bilder meint, sondern Bilder allgemeiner Art, universal abstrahierte Vorstellungsbilder? Gut. Aber was sind denn universal allgemein abstrahierte Vorstellungen? Es sind überhaupt keine Bilder, es sind Begriffe. Und Begriffe werden uns vermittelt durch Zeichen. Ein Telefonklingeln im Hörspiel ist ein Zeichen für Telefon. Ein Sound-Icon. So wie in einem Text die Buchstabenfolge t-e-l-e-f-o-n ein Zeichen für Telefon ist. Wir nehmen das Zeichen wahr und haben den Begriff. Also: entweder ist die Rede vom “Kino im Kopf ” nur so lala, ungefähr metaphorisch zu verstehen, dann ist sie nicht ernst gemeint. Ist sie ernst gemeint, dann ist sie falsch. Ich glaube, dass das Hörspiel unseren komplizierten Apparat aus Wahrnehmung, Begriffsbildung und Vorstellung vielleicht anders – auf jeden Fall aber nicht besser, nicht leistungsstärker, nicht sensibler, nicht innerlicher oder sonst qualitativ herausragend in Gang setzt als andere Medien das tun. Ich glaube, dass das Hörspiel keinen sondersinnfördernden Turbokreativ-Vorstellungsprojektor in unseren Köpfen anwirft.64
“Den optischen Möglichkeiten sind beim Radio keine Grenzen gesetzt.”65 spottet Heiner Goebbels. In Ulrike Meinhof Paradise, dem dritten Teil der Deutschen Krieger, ist es Andreas Ammer und FM Einheit dennoch gelungen, Bilder hörbar zu machen oder, mit Walter Filz, das Fernsehen auf seinen akustischen Begriff zu bringen. Im Gegensatz zu Osama bin Laden, der eigentlich nur im Medium existiert, ist Ulrike Meinhof im heutigen Fernsehen eine mediale Unperson, die gerade deswegen zur Mythisierung einlädt. Aber man hört, dass sie zu Lebzeiten im Fernsehen des von ihr als faschistoid denunzierten Staates präsent war. Das kaum zu registrierende, aber dennoch vorhandene hochfrequente Fiepen des Fernsehempfängers ermöglicht eine Identifikation des Tons als Fernsehton. Der Sound transportiert neben Sprache, die im Wesentlichen aus antiimperialistischer Rhetorik66 besteht, eine weitere Information. Das bedrückendste Tondokument in diesem Zusammenhang ist der Mitschnitt des Telefonats eines Beauftragten der Bundesregierung mit einem
64
Walter Filz: Metaphysische Moorbäder. Kurze Bitte: Die Rettung des Hörspiels vor dem Ächz. In: epd-Medien Nr. 49. 23. 10. 2001. 65 Goebbels: Tonspur Radioraum (Anm. 62), hier S. 84. 66 “Und wenn ein anderes Mittel als das des Krieges ihnen nicht übrig bleibt, dann sind wir für ihren Krieg.” Zit. Meinhof in Ammer / Einheit: Deutsche Krieger (Anm. 27).
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der Geiselnehmer der deutschen Botschaft in Stockholm 1975, bei der Ulrike Meinhof freigepresst werden sollte. Ministerialdirigent Dr. Hoye aus dem Bundesinnenministerium in Bonn. – Ja? – Mit wem spreche ich? – Kommando Holger Meins. – Die Bundesregierung hat beschlossen, nicht auf ihre Forderungen einzugehen. – Unsere Entscheidung steht auch. – Sagen Sie mir Ihre Entscheidung. – Die steht in unserer Erklärung. Wir werden jetzt jede Stunde einen Botschaftsangehörigen erschießen. Und wenn das Gebäude gestürmt wird, werden wir das Gebäude sprengen. Wir werden hier nicht rausgehen, bevor unsere Forderungen erfüllt sind. Ist das klar? (Schuß) Wir haben eben den Botschaftsangehörigen Hillegaart erschossen. Wir werden hier nicht rausgehen, bevor unsere Forderungen erfüllt sind.67
Wer solche Paradiese hat, braucht keine Höllen mehr, hatte sich Ammer schon früher gedacht und 1993 den Schock derselben Geiselerschießung in sein Hörspiel Radio Inferno (nach Dantes Göttlicher Komödie) eingebaut.68 Im siebten Kreis der Hölle, dem der Mörder und Selbstmörder, ist das Telefonat mit heiteren Grooves unterlegt, die den Schockeffekt steigern. Drastischer kann man die These, dass im Radio immer der Abwesende spricht und es überhaupt das Medium der Toten sei, nicht illustrieren. Das Prinzip Live ist allerdings nicht nur eines des Schreckens, sondern auch eines der Überlieferung. Apokalypse Live, nach der Offenbarung des Johannes, noch kurz vor seinem Tode moderiert vom Anchorman der “Tagesthemen” Hanns Joachim Friedrichs, beglaubigt, dass der Weltuntergang nicht stattfindet – oder aber in Permanenz. Das “Live” im Titel des Stückes besagt unter anderem, dass das Stück live im Münchner Marstall aufgeführt, live vom Bayerischen Rundfunk gesendet und live-on-tape auf CD gepresst wurde. Seine Rede zur Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden 1995 nahm Andreas Ammer zum Anlass, die Kunstformen zu benennen, die er für radiophon und damit für medienadäquat hält: – die Fußball-Live-Reportage (für die Schnelligkeit und die im Torschrei kulminierende Emotionalität des Mediums), – die Oper (als eine Medientechnik, die große Geschichten auf intensivste Weise erzählt) und – die Hitparade (, die aus der Opernarie kommt und disparateste Stile vereinigen kann).69 Es sollte nicht der einzige Kriegsblindenpreis für Andreas Ammer und FM Einheit bleiben. 2002 bekam ihn das Autorenduo für Crashing Aeropla67
Ammer / Einheit: Deutsche Krieger (Anm. 27). Andreas Ammer, FM Einheit: Radio Inferno. Bayerischer Rundfunk 1993. Ursendung 29. 10. 1993, 22.05 Uhr. Bayern2Radio 74:10 Min. 69 Andreas Ammer: Rede zu Verleihung des Hörspielpreises der Kriegslinden. Bonn. 30. 6. 1995. Alle Reden ab 1952 sind online verfügbar unter www.kreidestriche.de. 68
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nes. Das Stück verwendet Material der akustischen Raumüberwachung eines Flugzeugcockpits: “Der Cockpit Voice Recorder nimmt die Stimmen der Crew sowie andere Geräusche innerhalb des Cockpits auf. Der Cockpit Voice Recorder übersteht – anders als Piloten – jeden Flugzeugabsturz.”70 Als Teil der Black Box, die permanent alle relevanten Daten des Fluges aufzeichnet, dienen die akustischen Informationen, die der CVR liefert, in erster Linie technischen Zwecken. So ging es Ammer und Einheit ähnlich wie Klaus Schöning um eine Übersetzungsleistung, nämlich “eine Übersetzung eines technischen Dokuments, was es ja eigentlich ist, in ein verstehbares künstlerisches”.71 Das Konzept des Stückes, das in Gestalt eines Requiems die letzten Worte der Besatzungen bewahrt, wurde von der European Broadcasting Union (EBU) in Auftrag gegeben und 10 Sender wollten es in ihrer Sprache nachproduzieren. Das war vor dem 11. September 2001; zufällig der Tag, auf den die CD-Veröffentlichung ursprünglich terminiert war. Urgesendet wurde das Stück schon am 18. Juni 2001 auf WDR 3. Nach dem 11. September hat nur ein Sender die Produktionsvorgabe umgesetzt: der Slowenische Rundfunk. Der unterlegte die strenge Komposition, die nur aus den Originaltönen und FM Einheits Musik besteht (die lediglich die Funktion hat, das Vergehen von Zeit hörbar zu machen), mit angstvollen Atmern aus der Passagierkabine – Töne, die den CVR nie erreichen. Die vorgebliche Steigerung der Intensität bewirkte das genaue Gegenteil: eine Verkitschung des unerwartet ruhigen und besonnenen Tons, in dem die Besatzung ihre letzten Äußerungen übermittelt, um künftige Unglücke zu verhüten. Andreas Ammer und FM Einheit sind “immer auf der Suche nach den verbliebenen Unmittelbarkeiten, sowohl nach den Unmittelbarkeiten im Leben als auch den Unmittelbarkeiten, die das Medium zulässt”,72 sagt die WDR-Dramaturgin Martina Müller-Wallraf. Es gibt Momente, wo die Wirklichkeit stärker ist als die Kunst. Da muss man auch der Wirklichkeit ihr Recht einräumen. Dass man sich auch solchen Momenten künstlerisch stellen muss, bleibt als Herausforderung an eine Kunst, die es noch ein bisschen ernst meint.73
70
Andreas Ammer, FM Einheit: Crashing Aeroplanes. Westdeutscher Rundfunk 2001. Ursendung 18. 6. 2001, 23.05 Uhr. WDR 3. 50:42 Min. 71 Jochen Meißner: Interview mit Andreas Ammer. In ders.: Der Prix Europa 2002. Deutschlandfunk 2002. Ursendung 9. 11. 2002, 21.20 Uhr. DLF 32:00 Min. “Verstehbar” bezieht sich in diesem Zusammenhang nur auf die akustische Qualität der Aufnahmen. 72 Ebd. 73 Ebd.
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Die Kritik ließ nicht auf sich warten. Die Verwendung von Tönen echter Toter sei pornographisch, voyeuristisch und moralisch zutiefst fragwürdig. Andreas Ammer will diese Vorwürfe nicht akzeptieren: Früher, bevor sie nur abstrakt wurde, war Kunst immer Kommunikation mit einem heiligen Bereich. Und der Tod ist so ein heiliger Bereich und deshalb war er unser Thema und diesmal auch unser Material. Ich denke, dass wir den Tönen eine gewisse Heiligkeit zurückgegeben haben, die Leute ja nicht durch dieses Hörspiel umbringen, sondern gerade am Leben halten in ihrem Kampf mit der Technik. In allen Hörspielen, die ich mit FM Einheit gemacht habe, geht es immer um menschliche Auflösungszustände, ob es jetzt die Hölle von Dante ist oder die biblische Apokalypse. Das war immer der Versuch, solche Extremzustände der menschlichen Imagination fürs Radio oder für die CD sozusagen einzufangen.74
Aber einen überzeitlichen Rettungsanker setzen auch Ammer und Einheit. Ein alter Lateiner rezitiert einen Text, von dem nur wenige Worte verstanden werden müssen, um zu erkennen, worum es geht – nämlich um den Traum vom Fliegen und sein Scheitern im Mythos von Ikarus.75 Die letzten Worte der Cockpitbesatzung, gesprochen in Bewusstsein der Ausweglosigkeit ihrer Situation – und ihrer Aufzeichnung – begründen in der Fassung von Ammer und Einheit eine neue Art mythischer Überlieferung: Ikarus unter Live-Bedingungen. VII. Fiktionen des Live Schon Schlingensiefs Hörspieldebüt Rocky Dutschke ’68 spielte mit der Fiktion einer Live-Sendung. Gefälschte Interviews, die ihre Inszeniertheit geradezu ausstellen, und vitale Parodien des so genannten “Brechtstils”, der nur entstehen konnte, weil es in der DDR “weder Vitamine noch Mineralien gab”,76 steht der langsame Tod der Redakteurin für “Gedenken ohne Schmerzen” gegenüber, die vor aller Ohren live im Sendestudio vergast wird. Aber nicht immer enden Begegnungen mit dem Prinzip Live tödlich. Als einer der großen Charismatiker unter den deutschen Regisseuren, ist Schlingensief 1999 nach Mazedonien gereist und hat sich von dem Elend der Flüchtlingslager anrühren lassen. In Lager ohne Grenzen verlässt Schlingensief den Schauplatz des Geschehens und inszeniert sein Hörspiel als die 74
Ebd. Im Wortlaut: “puer Icarus una stabat et, ignarus sua se tractare pericla, ore renidenti modo, quas vaga moverat aura, catabat plumas”. Ammer / Einheit: Crashing Aeroplanes (Anm. 69). 76 Christoph Schlingensief: Rocky Dutschke ’68. Westdeutscher Rundfunk 1997. Ursendung 7. 1. 1997, 23.00 Uhr. WDR 1Live. 49:14 Min. 75
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Travestie einer Spendengala, ergänzt um die Erzählungen kinderschändender Offiziere und hysterisierter Helferinnen.77 Hier ist wirklich kein Ton authentisch. Schlingensiefs Verhältnis zum Prinzip Live ist zwar immer ein inszenierendes, aber er nimmt es auch wörtlich, setzt sich ihm aus, und beglaubigt es mit seinem Körper. Christoph Schlingensief meint es wirklich ernst. Das ‘Missverständnis’, wenn man es denn so nennen will, besteht darin, mit dem Prinzip Live aus der Sphäre der Vermittlung wieder in die Unmittelbarkeit des Körpers vorstoßen zu können. Der bekommt aber dadurch seinerseits medialen Charakter. Die Ängste, die ich als Kleinbürger habe, die sind dafür zuständig, dass ich die ganze Zeit eigentlich mit diesen Katastrophen, die das Leben ja auch ausmachen, nur auf eine andere Art und Weise umgehen kann. Eigentlich ist es lebensgefährlich, aber man hört’s pochen, und das ist ein ganz warmes Gefühl bei einem selber, und auch da hat das Gehirn mal Pause.78
In Lager ohne Grenzen ist die Wirklichkeit des Radios ausschließlich die Wirklichkeit des Radios. Die Außenwelt wird nur noch als Irritationspotenzial wahrgenommen, das den selbstreflexiven Betrieb am Laufen hält. Die Methode Schlingensief ist das Live-Ereignis als Recycling und das Recycling des Live. Kulturgüter sind mit dem “Grünen Punkt” zu versehen, um sie bei Bedarf wieder verwenden zu können. Es ist alles zur Benutzung freigegeben, und es ist alles zu Abnutzung freigegeben, und alles, was abgenutzt ist, ist ja auch – wie in jedem Antiquitätenladen sichtbar – wohl mittlerweile mehr wert als das, was neu hergestellt wird. Und jetzt haben wir den Salat, es ist alles zerstört, es ist alles da gewesen und jetzt wäre eigentlich Ende der Fahnenstange. Aber jetzt geht’s eben wirklich in das tatsächlich auswertende Element dieses Jahrhunderts, nämlich zu dem Müll zu stehen und aus dem Müll etwas Recyceltes herzustellen. Und dadurch nicht nur zu veredeln, sondern einfach etwas zur Verfügung zu stellen, was man wieder auf dem Boden von Müll weiterverwerten kann. Und diese Ökomaßnahme, die wir jetzt mit dem grünen Punkt und so weiter allmählich akzeptiert haben, die sollte man auch auf Kulturgüter stecken und sagen, dieses Stück von Herrn Soundso ist mit dem Grünen Punkt ausgezeichnet worden, weil es nämlich absolut noch mal verwertet werden kann. Recycelt es, recycelt die Welt.79
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Christoph Schlingensief: Lager ohne Grenzen. Westdeutscher Rundfunk / Deutschlandradio Berlin 1999. Ursendung 23. 6. 1999, 23.00 Uhr. WDR 1Live. 33:29 Min. 78 Christoph Schlingensief in: Gabriele Flessenkemper und Kati Hötger: White Trash – Zündstoff für den Unterleib. Feature. Westdeutscher Rundfunk 1996. Ursendung 23. 3. 1996, 23.00 Uhr. WDR 1Live. 49:14 Min. 79 Ebd.
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Von ähnlicher Qualität sind denn auch die Spenden, die in der Gala eingehen. Statt Geld gibt es gebrauchte Artikel des täglichen Bedarfs, über die sich die Moderatorinnen ganz doll freuen: Meine Damen und Herren, ist das nicht großartig, das darf doch nicht wahr sein, wie sich hier die Spenden mehren und mehren. – Margit Carstensen, was haben Sie gerade für eine Spende bekommen, was für Spenden gehen bei Ihnen ein? Sie haben ja hier ... – Wiederum haben wir hier eine schöne Keramikvase, die gespendet wird. Das sind inzwischen nun schon einige. Wir haben jetzt inzwischen 14 Keramikvasen. Sehr schön, herzlichen Dank, meine Damen und Herren, und da kommt noch ein Max …, Maxialbum mit Fotoflipp-Album; das ist was ganz großartiges, darüber werden wir uns sehr, sehr freuen. Und weiter, meine Damen und Herren, haben wir hier ein City-Bike 26 Zoll, das hatte ich schon gesagt, und eine Babylatzhose, sehr schön. Sehen Sie, denken Sie an all die kleinen Bedürfnisse des Alltags, meine Damen und Herren.80
Gänzlich ohne die Schlingensiefschen Exaltationen kommt die Live-Fiktion Die Stimme des Hörers des Medienkünstlers und Hörspielautors Eran Schaerf aus.81 Auch die Anlehnung an die Hörgewohnheiten, die Roland Schimmelpfennigs Krieg der Wellen auszeichnete, ist seine Sache nicht, genauso wenig wie die ihrem eigenen Anspruch nicht ganz gerecht werdende Schöningsche Fassung des War of the Worlds. Schaerfs Fassung des Prinzips Live ist eine modellhaft abstrahierte. Keine Musik illustriert das Geschehen, nicht einmal die schrägen Cello-Akzente, die als Hochkultursignale regelmäßig den unbändigen Impuls umzuschalten auslösen. Keine Anoder Abmoderation sagt: “Achtung, Kunst”. Kein Schauspieler wurde eingesetzt, dessen typischen Hörspielsprech man schon an den Atmern erkennt. Die einzige Stimme der Stimme des Hörers gehört Peter Veit, einem Nachrichtensprecher des Bayerischen Rundfunks. Diese fungiert, modulationsarm und künstlich intoniert, als ‘automatischer Moderator’, der das Prinzip des Senders, das heißt die Funktionsweise seiner Software erklärt, Fehlermeldungen absetzt und Hackerangriffe auf das System meldet. Denn bei der titelgebenden “Stimme des Hörers” handelt es sich um einen autonomen, computergesteuerten Talkradio-Sender, dessen Programm ausschließlich von Höreranrufen bestimmt werden soll. In unterschiedlichen Sprechhaltungen spricht Peter Veit sämtliche Höreranrufe und Fremdprogramme, auf die sich der Sender “Die Stimme des Hörers” aufschaltet, wenn keine Anrufe eingehen oder diese redundant werden. Nur der Wechsel dieser Sprechhaltungen erlaubt es dem Hörspielhörer, sich in dem beginn80
Schlingensief: Lager ohne Grenzen (Anm. 76). Die Schauspielerin Margit Carstensen hat das Wort ‘Maxialbum’ im Eifer des Gefechts nicht verstanden und es falsch betont; statt ‘Maxi-Album’ also ‘Maxial-Bumm’. 81 Eran Schaerf: Die Stimme des Hörers. Bayerischer Rundfunk 2002. Ursendung 23. 3. 2002, 22.05 Uhr. Bayern2Radio. 40:24 Min.
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und übergangslosen Wortschwall zu orientieren. Im spannungsreichen Wechsel von kalkulierter Verwirrung und ebenso kalkulierten Redundanzen kann er sich niemals sicher sein, ob das spröde und sperrige Material der vorgetragenen Texte authentisch, manipuliert, rein fiktiv oder überhaupt das eines ganz anderen Senders ist. Das führt den vorgeblichen Anspruch eines Talkradios ad absurdum, als Stimme der Hörer das denkbar demokratischste Medium zu bilden. Als im Wortsinne utopischer, nämlich ortloser Sender ist “Die Stimme des Hörers” nicht einmal auf dem Frequenzband zu fixieren. Er ist ein – wie es im Stück heißt – adressenloser Ort am Rande der Demokratie. Der Sender könnte ebenso gut eine Werbeplattform wie ein Notprogramm für Krisenfälle sein. Wer dahinter eine antidemokratische Verschwörung vermutet, sieht sich getäuscht. Nicht einmal die Finanziers des Senders (der Visacard-Inhaber-Club und die Gastarbeiter-Gesellschaft für VisaAntragsteller) könnten gegen die Algorithmen der Software, das heißt gegen die selbstreferenzielle Operationsweise des Mediums, ihre Interessen durchsetzen. Und vielleicht ist eine der beiden Organisationen nur eine alternative Adresse, die der Sender aus “vergnügungspolitischen Gründen” hinzugefügt hat. Versuchen, den Sender dingfest zu machen, entzieht sich die Steuerungssoftware durch Frequenzwechsel; und falls jemand versucht, eine eigene Diskussion zu ‘programmieren’, werden Daten wie die Namen von Personen, Orten, Kriegen usw. einfach durch “Soundso” ersetzt oder diesen Daten Alternativen(!) hinzugefügt. Anschließend wechselt der Sender die Frequenz. Ein Beispiel: Heutzutage gibt es die Stimme Israels in der Soundsosprache nicht mehr. In 18 ½ Sendestunden Minuten Sekunden gibt es kein einziges politisches Programm. Nur Musik von Soundso und Soundso. Das muss man sich vorstellen: Soundso, die Ikone der Soundsomusik, die auf denselben Kanälen sang, auf denen Soundso Propaganda machte. Die mit dem Lied Soundso in der Ära der Transistorradios ihre größten Erfolge errang. Die nach der Ausweisung sowjetischer Experten durch Soundso “Gib mir meine Freiheit” sang. Das ist der Anfang unseres Rückzugs aus dem Äther, den wir mit der soundso sprechenden Stimme Israels so mühsam besetzt hatten.82
Der Konnex von Bild und Abbild, Ereignis und Vermittlung ist verloren gegangen beziehungsweise nur noch in konstruktivistischer Terminologie zu beschreiben. Ein grundlegendes Konzept des Schaerfschen Werkes ist das so genannte Re-enactment83 (die Wiederaufführung), das heißt die Umkodierung durch Wiederholung. Ein Foto, das vorgeblich Kampfhandlungen von als Palästinenserinnen verkleideten israelischen Elitesoldaten zeigt, wird in 82 83
Ebd. Eran Schaerf: Re-enactment. Ausstellung und Katalog. Esslingen 1996.
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der Ausstellung Scenario Data 84 mit dem Kommentar präsentiert, dass das Bild nicht die Soldaten zeige, sondern Personen, die sich für diese Aufnahmen zu Verfügung gestellt haben. Das hat zur Konsequenz, dass “die Verwendung der Photos in der Presse [...] gesetzlich verbunden [ist] mit dem Satz ‘Zwischen Bild und Bildunterschrift besteht keine Verbindung’”.85 Neben der Wiederaufführung ist die Übersetzung (ähnlich wie für Klaus Schöning und Andreas Ammer) eine zentrale Kategorie – nicht nur des Schaerfschen Werkes, sondern wohl auch des Prinzips Live: “Ich merke immer mehr, dass ein Kriterium, das für mich ganz wichtig ist, ist, ob es übersetzbar ist, das heißt übersetzbar in eine andere Sprache oder in ein anderes Medium.”86 Das Medium prozessiert die Welt nach seinen eigenen Algorithmen. Der hochartifiziellen formalen Konstruktion der Stimme des Hörers korrespondiert eine bemerkenswerte Welthaltigkeit. Denn die Themenkomplexe, die in den fiktiven Anrufen verhandelt werden, sind authentisch und reflektieren die politischen und medialen Verhältnisse in Israel. Wir [Eran Schaerf und Eva Meyer] haben Bezug genommen auf die Medienlandschaft in Israel Anfang und Mitte der 90er Jahre: einerseits der Rückzug aus den besetzten Gebieten, andererseits Fortführung der Besatzung auf den Frequenzen. Also, dass man der palästinensischen Autorität Frequenzen gegeben hat, die gar nicht frei, sondern von Gegnern der palästinensischen Autorität innerhalb der palästinensischen Gesellschaft schon besetzt waren – was fast wie eine Kriegslist oder fast wie eine Inszenierung von Gegnerschaft innerhalb der Palästinenser gewesen ist.87
Je unwahrscheinlicher und komischer die Anrufe anmuten, umso authentischer sind die Realitätspartikel. Als zum Golfkrieg 1991 die orthodoxen Rabbiner auch den Strenggläubigen den Radioempfang gestatteten, stellte sich ihnen das Problem, das Programm geschlechtsspezifisch aufteilen zu müssen – einen halben Tag mit männlichen Sprechern für männliche Ohren, einen halben Tag mit weiblichen für weibliche Ohren. Natürlich stellt sich dem säkularisiert orientierten Israeli sofort die Frage, wie sich ein monosexuelles Programm von einem homosexuellen unterscheidet. Die Stimme des Hörers betreibt keine Medienkritik von einem vorgeblich außermedialen Standpunkt, sondern macht im Vollzug die Operationsweise des Mediums Radio hörbar. Der Sender “Die Stimme des Hörers” ist 84
Seit 1998 in Herzliya, Israel, Berlin, Bern und Turku gezeigt. Katalog Herzliya 1998. Versatzstücke daraus tauchen immer wieder in späteren Werken Schaerfs auf. 85 Schaerf: Die Stimme des Hörers (Anm. 80). 86 Interview mit Eran Schaerf in Jochen Meißner: Über “Die Stimme des Hörers”. Hessischer Rundfunk 2003. Ursendung 6. 4. 2003, 15.30 Uhr. HR 2. 16:39 Min. 87 Ebd.
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zugleich Erfüllung und Negation der Forderung aus Brechts Radiotheorie, das Radio von einem Distributionsapparat zu einem Kommunikationsapparat zu machen. Zwischen die Anrufe sind immer wieder analytische Passagen geschaltet, die – bisweilen überraschend präzise – die gegenwärtige Lage der Medienkriege auf den Punkt bringen und ganz nebenbei den Adressaten aller medialen Vermittlung wenn schon nicht gänzlich in Frage stellen, so doch zur quantité négligeable machen: Alltägliche militärische Operationen mit theatralischen Anteilen sind publikumlose Aufführungen, die exklusiv von der Berichterstattung in Nachrichten wahrgenommen werden. Sie können nicht angekündigt werden, da der Staat als Produzent sich die politischen Implikationen der möglichen Anwesenheit eines Publikums nicht leisten kann.88
Die nichtssagenden grünstichigen Bilder oder die Leerformeln der embedded correspondents sind nur die Wiederaufführung der in Schaerfs Stück vorgedachten Konzepte. Mich hat zum Beispiel sehr interessiert, was das Stück von Orson Welles für Konsequenzen für die Regelung des Radios in Amerika hatte. Da wurde etwas inszeniert, aber das war so nahe an der Realität, dass es für real genommen worden ist. Es geht letztlich darum, wie man ganz genau dem Hörer kenntlich macht, wo er ist, wem er gerade zuhört und wie der Realitätsstatus dieser Sendung ist.89
Gerade weil das Prinzip Live nur noch lose mit den Realitäten verkoppelt ist und im medialen Äther operiert, stellt sich das Problem, das Niklas Luhmann zum Ausgangspunkt seiner Theorie der Massenmedien genommen hat, verschärft: “Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien.”90 Dagegen wächst die Sehnsucht nach dem Echten und Authentischen; und sie manifestiert sich in Figuren wie der von Christoph Schlingensief gern zitierten LafontaineAttentäterin Adelheid Streidel, die ihren Akt als “private politische Entscheidung” verstanden wissen wollte. Auch die Männer mit den Teppichmessern meinten es am 11. September ernst, als sie neben möglichst vielen echten Toten auch noch möglichst schreckliche Bilder produzieren wollten. Während der aufgeklärte Medienkonsument auf die Differenz von Bild und Abgebildetem geeicht ist, versuchten sie in einem fundamentalistischen Akt, die Einheit des Schreckens und seiner Abbilder wiederherzustellen.
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Schaerf: Die Stimme des Hörers (Anm. 80). Schaerf in Meißner: Über “Die Stimme des Hörers” (Anm. 85). 90 Niklas Luhmann: Die Realität der Massenmedien. Opladen ²1996. S. 9. 89
Mirjana Stanþiü
Der Balkankrieg in den deutschen Medien – Seine Wahrnehmung in der Süddeutschen Zeitung, bei Peter Handke und in den Übersetzungen der exjugoslawischen Frauenliteratur Alle suchen Kraftquellen, an der Poesie gehen sie vorbei. Durch das Poetische wird ein Problem sichtbar, das vorher nicht sichtbar war. Das ist das Poetische und nicht die Erhabenheit des Wortes. Jeder poetische Text ist problematisch, ist im Grunde skandalös. Ich wäre gern noch viel skandalöser. (Peter Handke) Since the early nineties, after the former socialist republic of Yugoslavia ceased to exist, the German and Austrian media have increasingly focused on military, political, humanitarian, and cultural issues in the newly constructed states in transition. Famous poets and well-known journalists published their (incidentally controversial) views of the secession, after having travelled in the Balkan (e. g. Peter Handke). The support of civil society, of liberal, anti-nationalist, and anti-totalitarian issues in politics and culture in particular have created a broad media interest in literature written by women from Ex-Yugoslavia (e. g. Slavenka Drakuliü, Dubravka Ugrešiü, Biljana Srbljanoviü). Above all, the young Serbian dramatist Srbljanoviü was considered the unique star of woman protest-literature due to ca. forty performances in German and Austrian theatres in the mid-nineties.
I. Der Untergang Jugoslawiens Der Anfang der neunziger Jahre eingeleitete Zerfall der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien, die dadurch entfachten Kriege und der politische Zustand danach – formale Demokratien in Slowenien und Kroatien, transitorisches Interludium mit demokratischer Option im Südosten (Montenegro, Mazedonien) und diktatorisches Regime im Osten (Serbien, Kosovo), das sich bis zum 5. Oktober 2000 behaupten konnte – hinterlassen tief greifende, alle Segmente der Lebenswelten berührende Spuren. Die Rolle der Bundesrepublik Deutschland und Österreichs im Prozess der Auflösung Jugoslawiens war beträchtlich, nicht zuletzt durch die politische wie mediale Unterstützung bestimmter politischer Entwicklungen (wesentlicher Beitrag zur völkerstaatlichen Anerkennung Kroatiens und Sloweniens, aber auch Unterstützung des NATO-Bombardements in Serbien 1999, gleichzeitig laufende Friedensinitiativen, Aufnahme von Flüchtlingen,
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Koordination von Projekten zur Herstellung einer zivilen Gesellschaft etc.). Indem die deutschsprachigen Länder für Intellektuelle, Künstler und die Stimmen “der Anderen” aus Ex-Jugoslawien stets eine Plattform boten, trugen sie unvermeidlich zur Bildung von Auto- und Heterostereotypen bei, die auf innerjugoslawische nationale Zwistigkeiten bezogen waren.1 Deshalb spielte auch die Rezeption der Literatur exjugoslawischer AutorInnen durch die deutschsprachigen Medien eine wesentliche Rolle für ihre gesamteuropäische Wahrnehmung. Ein wichtiges Symptom der Dekade von 1990 bis 2000 in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens ist das Hervortreten kritischer Autorinnen, Verlegerinnen und Kunstschaffenden. Dies hat viele Gründe: insbesondere die herausragende Position der Frau in der Familie während der kriegerischen Auseinandersetzungen und ein Jahrzehnte anhaltendes repressives Verhalten gegenüber den Frauen in der patriarchalischen Gesellschaft des untergegangenen Jugoslawien (trotz des formalen Bekenntnisses zur Gleichberechtigung der Geschlechter als eines der grundsätzlichen sozialistischen Ideologeme). Es darf daher nicht wundernehmen, dass sich die neugegründeten Fraueninitiativen den erbitterten Kampf gegen das tradierte Rollenverhalten in der Gesellschaft auf die Fahnen schreiben. Das im April 2000 in Belgrad ins Leben gerufene Frauenforum Plavi jahaþ group (Der blaue Reiter) setzt sich vordergründig in der Kultur, in den Medien und in der Politik für die Unterstützung der Frauen im Kampf gegen die patriarchalische Zivilisation ein, auf der “alle totalitären Regime gründen”.2 Im Zuge der eingeleiteten Demokratisierung zeichnet sich in den letzten Jahren eine Wende ab, denn die Frauen behaupten sich in zunehmendem Maße als wahrhaftig frei handelnde Subjekte. Die von Frauen geschriebene Literatur und ihr gesellschaftliches Umfeld gestalten sich in den einzelnen Nachfolgestaaten Jugoslawiens unter spezifischen Bedingungen. Ihre Arbeitswelt wird hier allerdings nicht als ein isoliertes Phänomen untersucht: Auch männliche Autoren und Kunstschaffende werden zu Worte kommen, die sich in prononcierter Weise mit der Frauenrolle entweder inhaltlich-thematisch oder reflektierend ausei-
1 Die Literatur über die Ursachen des Zerfalls Jugoslawiens, den Krieg und den Aufbau der neugegründeten Staaten ist ebenso vielfältig in ihren Ansatzpunkten wie uferlos in ihrem Umfang. Es sei hier auf einige wenige Publikationen hingewiesen, die der spezifischen literarisch-kulturologischen Perspektive Rechnung tragen: Reinhard Lauer: Aus Mördern werden Helden. Über die heroische Dichtung der Serben. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 55 vom 6. 3. 1993; Das jugoslawische Desaster. Historische, sprachliche und ideologische Hintergründe. Hg. von Reinhard Lauer und Werner Lehfeldt. Wiesbaden 1995; Mira Beham: Kriegstrommeln. Medien, Krieg und Politik. München 1996. 2 Vgl. das Informationsblatt des Forums Plavi jahaþ group, Belgrad, Kneza Mihaila 42.
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nandersetzen, etwa die bosnischen Dichter Miljenko Jergoviü (*1966)3 und Ðevad Karahasan (*1953)4 oder der slowenische Philosoph Slavoj Žižek (*1949). II. Die mediale Inszenierung des Krieges Der altösterreichische Dichter und Publizist Manès Sperber (1905–1984) erinnert sich im zweiten Teil seiner Autobiographie, die Mitte der siebziger Jahre in Wien erschienen ist, an seine frühe Faszination durch Rembrandts Porträtmalerei. Indem er den Augenblick seiner tiefen Ergriffenheit evoziert, als er im jugendlichen Alter Anfang der zwanziger Jahre im Rijksmuseum in Amsterdam zum ersten Mal vor Gemälden Rembrandts stand, drängt sich ihm die Frage der Reproduzierbarkeit der gelebten Wirklichkeit auf: Das Licht scheint in der Finsternis, aber verjagt sie nicht, sondern begrenzt sie nur. Auch auf Bildern anderer Maler sah ich Ähnliches, aber bei Rembrandt fand ich noch eine Besonderheit, die mich in uferlose Nachdenklichkeit versetzte: die Gesichter der Porträtierten waren zumeist überdeutlich in all ihren Zügen und Merkmalen, aber wenn ich sie lange genug betrachtet hatte, war mir, als ob es nur eines Wenigen bedürfte, damit ich in ihnen noch viel mehr erblicken könnte, als ich sah: ein ganzes Leben war noch da, nicht dargestellt, nicht in Falten halb verdeckt, es war unmittelbar da.5
Selbst in einer genialen Darbietung entzieht sich also die Unmittelbarkeit des Lebens einer endgültigen, eindeutigen Wiedergabe. Ein ähnliches Gleichnis scheint mir auf diese Studie und die Überlegungen über die Wechselbeziehung zwischen dem Krieg und den Medien zuzutreffen, denn das hermeneutische Grundproblem der medialen Inszenierung des Krieges liegt im wesentlichen in der Unzulänglichkeit des Berichtens über den Krieg. Mit allzu großer Deutlichkeit kommt diese Unzulänglichkeit insbesondere in den Berichten über die Kriegstoten zum Vorschein. Im Augenblick, wenn das Medium mit dem unwiederbringlich zerstörten Leben konfrontiert wird, 3
Er wurde mit seinem Roman Marlboro von Sarajevo (1994) international bekannt. Zuletzt ist in deutscher Übersetzung Mama Leone. Erzählungen, Wien 2000, erschienen. 4 Der größte Teil seines Werks ist ins Deutsche übersetzt worden: Der östliche Diwan, 1993; Tagebuch der Aussiedlung, 1993; Schahrijars Ring. Roman einer Liebe, 1997; Sara und Serafina. Roman, 2000. 5 Manès Sperber: Die vergebliche Warnung. Frankfurt/M. 1993. S. 30. Sperber war außerdem ein hervorragender Kenner Jugoslawiens. Bereits im April 1929, als er zum ersten Mal Zagreb besuchte, wurde er Zeuge der brutalen Übergriffe der Polizei (im damaligen Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen) gegen die einfache Bevölkerung, was ihn zu einem Vergleich der Balkanregime mit den südamerikanischen Diktaturen bewog.
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stellt sich zugleich die ebenso akute wie schmerzhafte Erkenntnis ein, dass keine Form der medialen Vermittlung der Wirklichkeit gerecht werden kann. So bleibt die Unmöglichkeit der Vermittlung der Pfahl im Fleisch. Anders als bei Nachrichten, die der Kontingenz der Lebenswelt entnommen worden sind und von Ereignissen und Menschen berichten – möge die Darstellung dieser Ereignisse durch die Ideologie oder andere Filter der Uneigentlichkeit noch so entstellt sein –, ist ihr Inhalt nachvollziehbar und lässt sich stets dem durativen Charakter der Bewältigung des Alltags zuordnen. Die Darstellbarkeit des Krieges jedoch, insbesondere der Kriegstoten, bricht diese gewöhnliche Form der Mediatisierung, weil sein bedeutender Bestandteil in keiner Form, schon gar in keinem medialen Format restlos aufgeht. Man kann ihn kaum benennen, aber es handelt sich um das Wichtigste, das Wesentliche, die Unmittelbarkeit der vormals noch präsenten, im nächsten Augenblick zerstörten Existenz. An einigen ausgewählten Textbeispielen werde ich zu zeigen versuchen, welche Formen diese Wiedergabe, also auch die Interaktion zwischen den Medien und dem Krieg, annehmen kann. Thematisch beziehen sich alle hier analysierten Werke auf den Krieg auf dem Balkan. Das erste Textbeispiel ist ein journalistischer Bericht / Kommentar aus einer großen deutschen Tageszeitung, das zweite ist der Reiseessay Peter Handkes Gerechtigkeit für Serbien. Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina, die zunächst in zwei je acht Seiten umfassenden Teilen als Zeitungsvorabdruck im Januar 1996 in der Süddeutschen Zeitung und bald danach als Buchausgabe im Suhrkamp Verlag erschien und die Öffentlichkeit polarisierte. Handke ließ der Winterreise Ende 1996 eine Fortsetzung unter dem Titel Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise folgen, schließlich erschien 1999 ein Sammelband zu diesem Thema Noch einmal für Jugoslawien: Peter Handke, der alle wichtigeren Beiträge zur Debatte versammelt. Und abschließend werde ich mich, stellvertretend für die exjugoslawischen Autorinnen, dem Schaffen der Belgrader Dramatikerin Biljana Srbljanoviü widmen, die seit 1997 eine beispiellose Karriere in der Bundesrepublik, in deren Folge dann auch in anderen Staaten Europas gemacht hat. 1999 erhielt sie in Berlin die höchste deutsche Auszeichnung für das Grenzgebiet zwischen Literatur und Politik, den Ernst-Toller-Preis. Es werden auch andere Autorinnen aus den Nachfolgestaaten Jugoslawiens Erwähnung finden, die erst durch die nachhaltige Wahrnehmung in Deutschland einen beachtlichen Bekanntheitsgrad im internationalen Literaturbetrieb erreicht haben. In aller Kürze und nur ephemer werden in der Analyse einige besonders auffällige Aspekte angesprochen, immer im Bewusstsein jenes Lichts, das die Finsternis begrenzt, ohne sie zu verjagen, um aus dieser Differenz die Frage nach der literarischen Darstellbarkeit der gelebten Unmittelbarkeit zu stellen. Am Rande wird die Frage der moralischen
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Legitimation oder einer entsprechenden Reflexion erhoben und nur dann, wenn sie sich von selbst, aus den Texten, aufdrängt. III. Das balkanische Bestiarium und die Frage des guten Stils Die Süddeutsche Zeitung veröffentlichte am 8. 11. 2001 einen Artikel von Richard Swartz, dem langjährigen Osteuropa-Korrespondenten für das schwedische Svenska Tagbladet, über den Auftritt des ehemaligen Präsidenten Restjugoslawiens, Slobodan Miloševiü, vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag mit dem ausschweifend barocken Titel: Die Verteidigung des Vaterlandes durch einen trotzigen Mops. Das kann doch einen großen Geist nicht stören: Slobodan Miloševiü bindet sich eine bunte Krawatte um und schaut seinem Richter nicht ins Gesicht.6 Nachdem er in dem einleitenden Kommentar die Umstände des neuesten Verhörs Miloševiü’ vor dem Kriegstribunal geschildert hat, lockert Swartz in der mittleren Passage des Artikels seinen für die politische Berichterstattung befremdlichen, salopp-umgänglichen Ton mit dem Hinweis auf, dass er die Informationen über das Procedere im Gericht einem Insider verdanke, einem befreundeten Rechtsanwalt, mit dem er gerade zu Abend esse. Als würde das galante Privatissimum eine zusätzliche Leichtfüßigkeit des Kommentars sowie eine witzige Kontrapunktierung diktieren, fühlt sich der Journalist zu folgender Assoziation angeregt: Vielleicht isst jetzt auch Miloševiü zu Abend, es ist den Gefangenen erlaubt, sich ihr Essen selbst zu kochen. Serben, Kroaten und bosnische Muslims, gestern Todfeinde, tauschen Rezepte miteinander. Die Kriege sind vorbei, und in der Küche des Gefängnisses kochen sie zusammen Spaghetti mit Fleischsoße. Falls Miloševiü das will, kann er auch einen Kurs in Aquarellmalerei belegen. Außerdem wird Schach gespielt. Mein Freund, der Anwalt, vertritt einen General der kroatischen Armee, der behauptet, nur sein Land gegen die Serben verteidigt zu haben. Im Gefängnis muss er sich aber darauf beschränken, dasselbe auf dem Schachbrett zu tun. Denn dieser kroatische General ist der Lieblingsgegner von Miloševiü, dazu auch vielleicht der letzte, der ihn noch immer mit ‘Herr Präsident’ anspricht.7
Die Frage nach der Beglaubigung dieser Aussage sei dahingestellt, lediglich die des Stils sei hier erhoben und grundsätzlich zu Bedenken gegeben, ob diese Form der Repräsentanz eines Politikums von einem guten, das heißt passenden Stil zeuge. Anzunehmen ist, dass eine gewisse moralische Entrüstung den Autor Swartz veranlasst hat, nach einem Vergleich aus der Tierwelt zu greifen und anschließend auch zum Bild der Gefangenen als fried6
In: Süddeutsche Zeitung Nr. 256. S. 19. Swartz trat in den vergangenen Jahren auch als Romanautor hervor, 1999 mit Room service, 2001 mit dem von der kroatischen Geschichte inspirierten Roman Ein Haus in Istrien, München. 7 Süddeutsche Zeitung ebd.
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fertige, geradezu friedliebende Spaghetti-Hobbyköche und Schachspieler, also harmlose mediale Unterhalter, bereitwillig im Dienste des Infotainment. Die Tiersymbolik und die Vergleiche mit Bestien, nicht zuletzt mit Möpsen, haben in politischen Prozessen Tradition und kamen übrigens auch in den Anklagen des berüchtigten Staatsanwalts Stalins Andrej Wyschinski vor, der sie in den Moskauer Schauprozessen in den dreißiger Jahren zur moralischen, politischen und menschlichen Degradierung der Angeklagten, am Anfang Sinowjew und Kamenjew, herangezogen hatte.8 Ich will Swartz keine diffamierende Absicht unterstellen, zumal es sich um eine grundsätzlich verschiedene Ausgangsposition handelt. Und dennoch ist sein Stil eindeutig im Dienste der politischen Unterhaltung, eines schwer erträglichen, Grenzen verwischenden und durch penibel ausgearbeitete Pointen belustigenden bellizistischen Feuilletonismus. Nicht zuletzt sind auch Bedenken hinsichtlich eines unreflektierten Ethnozentrismus angebracht,9 denn das westlich-gnädige Imponiergehabe und eine gewisse ludistische Absicht sind im Artikel des schwedischen Journalisten nicht von der Hand zu weisen. Bezeichnend dafür ist der Bezug des Autors auf die selbstverständlichen Wertvorstellungen der westeuropäischen Zivilisation, dem als Gegenstück das balkanische Bestiarium der verfeindeten Ethnien entgegengestellt wird, die unter veränderten Umständen ihre vormalige Blutrünstigkeit zugunsten des Schachspiels und des Aquarells, des subtilsten und feinsten aller Malereigenres, eingetauscht haben. Dass die Spannung der Mitteilung ausgerechnet im Schachspiel zugespitzt wird, vertagt gleichzeitig die Entscheidung über die Gewinner und Verlierer in die Zukunft. Die am Schachbrett wieder vereinten ehemaligen Todfeinde weisen sich durch ihren Versöhnungsgestus, der möglicherweise bloß ein Täuschungsmanöver ist, 8
Michael Rohrwasser: Der Stalinismus und die Renegaten. Die Literatur der Exkommunisten. Stuttgart 1991. S. 155: “Im ersten Prozeß gegen Sinowjew, Kamenew u. a. hatte Wyschinski die Angeklagten als Lügner und Clowns, elende Pygmäen, Möpse und Kläffer charakterisiert und mit dem Satz geschlossen: ‘Ich fordere, daß diese tollwütigen Hunde allesamt erschossen werden.’” Vgl. auch Andrej Wyschinski: Gerichtsreden. Berlin 1951. 9 Jörn Rüsen diagnostiziert in seiner Essener Universitätsrede vom 23. Juni 1999 Was heißt und zu welchem Ende studiert man Kulturwissenschaften? eine tiefe Verunsicherung der deutschen Intellektuellen angesichts der Kriegskatastrophe und bleibt dabei auf die elementare ethische Dimension des Problems konzentriert, dem er keinerlei intellektuelle Reize abzugewinnen versucht: “Nehmen wir als konkretes Beispiel den Kosovo-Krieg. Haben wir eigentlich verstanden, was geschehen ist? Die öffentliche Debatte in Deutschland ging im Wesentlichen um die Legitimität des Krieges, und dabei rekurrierten wir auf konsensfähige Werte wie die Menschen- und Bürgerrechte. Zugleich war die Debatte von einem kaum reflektierten Ethnozentrismus geprägt, mit dem wir uns im Rekurs auf diese Werte als Zivilisierte von den Serben als den anderen, den Barbaren, unterscheiden.” In: Essener Universitätsreden (1998/99). Heft 4. S. 15.
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dann doch nur als Präfigurationen jenes “byzantinischen” Typus aus, dem kein volles Vertrauen gebührt und den der Balkan-Experte Michael W. Weithmann treffend mit “frömmelnde[r] Hinterhältigkeit” und “leere[m] Zeremonienwesen” beschrieben hat.10 Der Balkan-Hintergrund trägt offensichtlich zur wohlfeilen Entpersonalisierung der Protagonisten bei. Dass der Balkan keineswegs ein mediales Konstrukt ist, sondern eine auf ihre Art faszinierende Realität, die in ihrer Negativität einnehmend, schillernd und gleichzeitig abstoßend ist, spiegelt sich in der beträchtlichen Ausdauer und Konsequenz, mit der Wissenschaftler unterschiedlicher Provenienz, Medien, Kunstschaffende und die Öffentlichkeit im allgemeinen sich mit ihr auseinandersetzen. In den Balkanländern sind immer noch Formen einer nichtbürgerlichen Gesellschaft zu beobachten, die für den Besucher aus der Fremde den Anachronismus ihrer sozialen Entwicklungen mit aller Deutlichkeit zur Schau stellen.11 Die mediale Präsenz des Balkanraumes, mit Nachdruck nach den Kriegen in Kroatien und Bosnien, als eine gelebte Form des Theaters des Absurden auf einem mystischen Territorium oder des brodelnden Chaos, das seit Jahrhunderten Ungeheuer gebiert, wird unentwegt nicht nur durch das politische Agieren in den Balkanstaaten, sondern vielmehr auch durch die Kunstproduktion und Impulse aus den Medien unterstützt. Die Filme des preisgekrönten, international renommierten bosnischen Regisseurs Emir Kusturica (*1954), etwa Underground aus dem Jahr 1995, liefern hierzu signifikante Exempla, die in der breiten Öffentlichkeit als eine globale Metapher des ewig von Zerstörungskriegen gemarterten Balkans wahrgenommen wurden. Vor allem hat Kusturica die breite poetische Rezeption des Balkans als eines von der Multikulturalität und der Simultaneität anachronistischer Ansätze in der Politik und dem gesellschaftlichen Leben geprägten Raumes bestimmt, dessen geographische Lage zum Schicksal wurde.12 10
Michael W. Weithmann: Balkan-Chronik. 2000 Jahre zwischen Orient und Okzident. Darmstadt 1997. S. 42. 11 Die Monographie der in den USA lebenden bulgarischen Historikerin Maria Todorova: Imagining Balkans, New York 1997 (dt. Übersetzung Die Erfindung des Balkans. Europas bequemes Vorurteil. Übers. von Uli Twelker. Darmstadt 1999), überragt die neueren Beiträge zur Phänomenologie des Balkans an Elaboriertheit und analytischer Klarsicht, die jedoch nicht ohne Humor vonstatten geht. In ihre Analysen der Balkan-Identitäten schließt Todorova u. a. die kroatischen AutorInnen Ugrešiü, Drakuliü und Šnajder ein. Die aus Zagreb stammende Philosophin Rada Ivekoviü konzentriert sich in ihrer essayistischen Studie Autopsie des Balkans. Ein psychopolitischer Essay (Übers. a. d. Franz. von Ilona Seidel. Graz 2001) auf die aus eigener Erfahrung gewonnenen Erkenntnisse. 12 Nicht zufällig schaute sich Handke im Zuge seiner Vorbereitungen auf die Serbien-Reise in einem Kino in Versailles ausgerechnet Underground an. So wurde er “erstmals von einem Film Kusturicas (fast)ergriffen. Endlich war aus der bloßen Erzählfertigkeit eine Erzählwucht geworden, indem nämlich ein Talent zum Träu-
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Eine der gründlichsten epistemologischen Annäherungen an das Phänomen des Balkans stammt aus der Feder des serbischen Dichters und Philosophen Radomir Konstantinoviü. Seinem genialen Opus Filosofija palanke (Die Philosophie des Krähwinkels. Belgrad 1969) blieb ein typisches balkanisches Schicksal beschieden: Außerhalb der Staatsgrenzen ist es weitgehend unbekannt. Weil seine Ausführungen unser Thema schlaglichtartig beleuchten, werden sie hier in aller Kürze und thesenartig zusammengefasst. Der Geist des balkanischen Krähwinkels bekundet sich in Konstantinoviü’ Wahrnehmung als ebenso konsequente wie leidenschaftliche Verhöhnung des europäischen rationalistischen, technizistischen Weltgeistes. Das balkanische Krähwinkel ist vom Ideal der nackten Armut beherrscht, dessen Geist auf den Widerspruch zwischen dem in sich geschlossenen, einheitlichen Geist des Stammes und dem offenen Weltgeist zurückgeht. Vergessen von der Weltgeschichte, strengt sich der Geist des Krähwinkels an, sein böses Schicksal in ein Privileg umzuwandeln, indem er selbst die Geschichte bewusst vergisst und infolgedessen ausschließlich nur noch in sich selbst ruht. Jenseits der aktuellen Zeit, jenseits des Krähwinkels fängt das Chaos der Welt an oder das Chaos der Welt der absoluten Offenheit. Der Krähwinkler indessen – so argumentiert Konstantinoviü weiter – gibt sich selbst als Subjekt auf, denn seine Treue zum Krähwinkel ist stärker als seine Treue zu sich selbst. Der Krähwinkler steht lebenslang im Dienst des kollektiven Stils, er ist selbst nach dem Muster des kollektiven Willens stilisiert, deshalb, weil er sich des Schutzes durch die Allgemeinheit gewiss ist. Der Stil, dieses hohe Ideal der organischen Kultur, ist der höchste Sinn überhaupt. Er erfüllt die Funktion der Uniformiertheit, weshalb selbst das Phänomen der Kultur auf das Phänomen des Stils reduziert werden kann. Der Stil widersetzt sich dem Geist, er steht in der Funktion der Anti-Geistigkeit. Das Gebot der Offenheit steht in unmittelbarer Beziehung zur Ablehnung der Tragödie und der metaphysischen Unruhe, die sie erzeugt. Denn der Krähwinkler meint, “felsenfest” auf dem Boden der Tatsachen zu stehen und ist davon überzeugt, nicht betrogen werden zu können. Umso mehr glaubt er unerschütterlich daran, dass eben dies – der Betrug – die Beziehungen zwischen den Menschen, wohl auch seine eigene Existenz prägt. Es handelt sich schließlich immer nur darum, wer von wem betrogen sein wird, sogar in der Relation des Menschen zur eigenen Existenz. An sich banal, weigert sich der Geist des Krähwinkels, seine eigene Banalität einzugestehen. Indem er seine strenge Normativität und seinen oberflächlichen Empirismus zelebriert, men, ein gewaltiges, sich verbunden hat mit einem handgreiflichen Stück Welt und auch Geschichte – dem einstigen Jugoslawien, welches des jungen Kusturica Heimat gewesen war.” Peter Handke: Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien. Frankfurt/M. 1996. S. 22f.
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lehnt er notgedrungen jedes Mysterium ab, der Träger der Banalität ist immer jemand anderes, jemand aus der feindlichen, weil in ihrer Unbekanntheit unfassbaren Außenwelt. In der Vorstellung des serbischen Kleinbürgers gab es diese “tödlichen Modernismen” auf dem Balkan nie, und sie werden hier auch nie Fuß fassen können. Das krähwinklerische AntiEuropäertum beruht auf zwei grundsätzlichen Prämissen, deren Anachronismus den irrationalen Charakter des serbischen Krähwinkels mitbestimmt: 1) Der Balkan ist nicht Europa, 2) Der Balkan kennt die europäischen Krankheiten nicht, an denen Europa schließlich und unwiederbringlich eines Tages untergehen werde, so Konstantinoviü. Das abstrakte philosophische Modell erlebte im deutschen Sportkanal “DSF” im Sommer 2001 eine unerwartete Konkretisierung. Die Dokumentation Das Derby des Wahnsinns befasste sich mit einem Entscheidungsspiel im Besonderen und den Rahmenbedingungen im Allgemeinen, unter denen nach dem Fall Miloševiü die Fußball-Liga in Serbien funktioniert. Das Derby hätte zwischen den zwei größten und bedeutendsten, seit langem miteinander rivalisierenden Belgrader Fußballklubs, “Crvena Zvezda” (Der rote Stern) und “Partizan” (Der Partisan) ausgetragen werden müssen, wurde aber immer wieder unter dem Einsatz dramatischer Effekte verschoben. Ganze Stuhlreihen flogen durch die Luft, während sich das Fußballstadion in ein Schlachtfeld verwandelte, als das Finale zum x-ten Mal wenige Minuten nach dem Anpfiff vom Beobachter des Internationalen Fußballverbands (FIFA) wegen Unruhe und allgemeiner Gefährdung der Spieler und nicht minder der Schiedsrichter unterbrochen wurde. Die Gründe der Zwistigkeiten lagen teilweise auch in ungünstigen politischen Rahmenbedingungen. Es sei dahingestellt, ob bei den Zuschauern des “DSF” ein wesentliches Interesse an der jugoslawischen Fußball-Liga besteht, also dürfte es sich um etwas anderes handeln, um eine Übertragung des Krieges auf das Fußballstadion, die vom TV-Sender mit bravourösem Geschick inszeniert wurde. Nicht zuletzt die unverhohlen aufklärerische Tendenz des deutschen Senders trug zu einem abgerundeten medialen Ereignis bei: Mit sozialkritischem Bedacht und geradezu verkitschter Deutlichkeit wurde auf das Gefälle zwischen den Blechhütten der proletarisierten Bevölkerungsmehrheit in den Vororten Belgrads und den von hohen Mauern umzäunten Villen der Mächtigen in den Residenzvierteln hingewiesen. Diese unter der Oberfläche brodelnde explosive Mischung entlädt sich unter anderem im Fußballstadion. Das Derby des Wahnsinns ist eine Konkretisierung unseres Themas, denn der Fußballkrieg wird als mediales Ereignis inszeniert, und zwar der Krieg zwischen diesen zwei Vereinen und ihren Fans, die die Stadt als eine Neuauflage des Kalten Krieges polarisieren.
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IV. Versuch eines poetischen Korrektivs mit uneingestandener politischer Belehrung – Peter Handke Was uns bei Handke und seinen Reiseessays interessiert, ist die Verquickung zwischen dem Krieg und den Medien und seine Antworten darauf. Das heißt, es geht nicht so sehr um die Bewertung seiner Aussage, um das Inhaltliche, sondern um die medienkritische Qualität seiner Texte und seine spezifische Fragestellung – und ebenso um die Reaktionen, die sie ausgelöst haben. Handkes kritische bis feindliche Einstellung der Presse gegenüber ist nicht neu, denn die Beschäftigung mit den Mechanismen der Wahrnehmung von Kommunikation war ja von Anfang an ein zentrales Thema seines Schreibens. Der Hauptvorwurf, den er im Feldzug gegen die – in seiner Lesart – ideologisierte Wahrnehmung in den Medien als Gängelung der kritischen Vernunft erhebt, richtet sich gegen die Manipulation des Schriftstellers. Der Schreiberberuf werde mit dem eines Richters oder gar mit der Rolle eines Demagogen verwechselt, so Handke, dem jedes Mittel recht sei, um “den Krieg unter die Kunden zu bringen”. Die Sujets würden dabei nicht mehr beschrieben oder evoziert, sondern begrapscht, zu Objekten gemacht. In einem Interview aus Anlass der Erstveröffentlichung seiner Reiseeindrücke aus Serbien für das Hamburger Wochenmagazin Stern sagte Handke, dass er ja nur eine Reiseerzählung geschrieben habe, verbunden mit Sprachkritik. Alles andere gehe über seine Kompetenz. Selbstverständlich tut er genau das Gegenteil davon und produziert ununterbrochen politische Urteile, die ihn überfordern. Sie sind das explosive Potenzial, das für Antagonismen und Streit gesorgt hat. Auf seine eigenartige dichterische Annäherungsart ist es Handke gelungen, die Komplexität der Wechselbeziehung “Krieg und Medien” aus einem Blickwinkel zu beleuchten, der die Poetizität des Textes zum eigentlichen Medium seiner Kritik auslotet. Zugespitzt formuliert: Er hat die Kunst auf den Richterstuhl erhoben. Die inhaltliche Aussage rückt deshalb in den Hintergrund; selbstverständlich nur unter der Voraussetzung, dass man als Leser diese Interpretation in die Lektüre integriert und überhaupt anerkennt. Handkes besonderes Medium war seit dem Beginn seiner Karriere als Schriftsteller 1966 auf dem Treffen der “Gruppe 47” in Princeton (USA) die ästhetische Provokation. Er las aus seinem Prosatext Die Hornissen, nachdem er mit Publikumsbeschimpfung im deutschsprachigen Raum bereits für Aufsehen gesorgt hatte. So schreibt er sich auch in seinem Reisebericht aus Serbien von der Position einer bewusst strategisch provozierenden Innensicht heran, nicht einer Außenansicht. Dies unterscheidet ihn von so vielen Berichterstattern und vergleichbaren Reisedichtern auf dem Balkan, dass er eine wahrhaftige Innenperspektive einnimmt. Diese verdankt er seinem “notorischen” biographischen Bezug zu Exjugoslawien, seiner slowenischen
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Mutter und seinen vielen und tiefen Kontakten, Reisen, Kenntnissen, nicht zuletzt seinem genuinen Interesse, das im Wandel der Jahrzehnte nicht nachgelassen, sondern sich gesteigert hat. Seinen Initialargwohn ob der Sezession von Slowenien und Kroatien bekundete er bereits 1991 in einer heftigen Abrechnung mit dem längeren Essay Abschied des Träumers vom Neunten Land. Eine Wirklichkeit, die vergangen ist: Erinnerungen an Slowenien.13 In der Winterreise durch Serbien weicht jene frühe Heftigkeit einer Nachfühlung des konkreten Lebens in den von ihm bereisten Gegenden. Handke gestaltet sie nicht ohne Humor, ohne dabei die Menschen der Lächerlichkeit preiszugeben. Seine politischen Ansichten finde ich unüberlegt und nicht besonders interessant, gelegentlich auch verletzend. Er verfügt in meiner Lesart über keine relevante politische Vision, deshalb ist der rein politische Teil seiner Aussage auch nur von geringer Bedeutung. Auf seine Art hat er aber als Dichter Recht, also muss man ihm ein gewisses ästhetisches Recht einräumen. Die Spannung seiner Texte wird zwar durch die Wiedergabe des Erfahrenen, Gesehenen erzeugt, sie geht aber nicht völlig in ihnen auf. Was er leistet, ist eine besondere sprachliche und mentale Sensibilisierung für den Krieg. Er schafft zwei poetische Ebenen, eine rationale und eine emotional-intelligible, reflektierende, mit der jene Unmittelbarkeit, jene undeformierte Wirklichkeit des undeformierten Lebens stellenweise zu rekonstruieren ist, die er für wesentlich hält. So kehren wir zu Sperbers Gleichnis über das Licht in der Finsternis zurück. Der poetische Text vermag die Finsternis zwar nicht zu verjagen, er begrenzt sie aber. Zu Recht kann sich der Leser mit Handke zusammen die Frage stellen, ob die Wirklichkeit – allen Beteuerungen zum Trotz – überhaupt interessiert und inwiefern sie sich für die Medien wirksam gestalten lasse. Was der österreichische Autor mit der angesprochenen Ebene seiner Reiseeindrücke schafft, ist eben eine Simulation der Lebenswirklichkeit, deren Abwesenheit den medialen Berichten vorgeworfen wird. Einen Vorwurf erhebt nicht zuletzt er selbst, indem er dem politischen Aburteilen in den Kommentaren der größten und bedeutendsten Zeitungen Europas und der von ihnen heraufbeschworenen Anomie ein zwar literarisch konstruiertes, aber dank der künstlerischen Aussagekraft authentisches, also wirkliches Bild der gelebten und von ihm erfahrenen Unmittelbarkeit entgegensetzt. Er adelt die Banali13
Frankfurt/M. 1991. Reinhard Lauer reagierte auf Handkes ‘Verbot’ der Sezession Sloweniens mit dem scharfsinnigen Artikel “Slowenien soll nicht sein. Peter Handkes Polemik gegen die Eigenstaatlichkeit des Landes”. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. Nr. 300 vom 28. 12. 1991. S. 26. Als Kritiker der serbischen Angriffspolitik und als Autor des kleinen Langenscheidt-Wörterbuchs der kroatischen Sprache, das früher, in Handkes Erinnerung, “Serbokroatisch” geheißen hat (Auflage von 1992), wurde Lauer in Handkes Reiseessay heftig attackiert. Vgl. Handke: Winterliche Reise (Anm. 12). S. 52.
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tät des Lebens im Krieg, indem er sie registriert.14 Dies tut er zum Beispiel mit beachtlicher poetischer Intensität in der Winterlichen Reise, als er die Bewohner und die Atmosphäre der Grenzstadt Višegrad vor dem Übertritt nach Bosnien schildert: Ziemlich viele Menschen waren in dem hohen Schnee unterwegs, hauptsächlich aber nur Alte und Kinder, welche letzteren stadtwärts, nachdem sie wohl die Brücke überquert hatten, zur Schule gingen, mit einem mannigfaltigen, aus allen Weltrichtungen stammenden Kopfschutz, dazwischen ein Greis, den Schädel mit einem ausgefransten Handtuch umwickelt. Aus ihren Grüppchen heraus sagten diese Kinder immer wieder “How do you do?” und schütteten sich danach aus vor Lachen. Fast allen Entgegenkommenden, ob Jungen oder Alten, fehlten mehrere Zähne, so auch dem Grenzposten auf der serbischen Brückenseite, der uns schließlich weiterließ, freilich auf eigene Gefahr[.]15
Diese Art von Beschreibung dürfte sogar als ein unterschwelliger Versuch der Selbstdistanzierung des Dichters von politischen Verkündigungen verstanden werden. Sonst würde wohl auch der Eindruck entstehen, als wären die blutigen Kriegshandlungen mit ihren Tausenden von Opfern bloß ein willkommener intellektueller Anreiz. V. Autorinnen aus den Nachfolgestaaten Exjugoslawiens in deutschen Medien – mit besonderer Berücksichtigung von Biljana Srbljanoviü Die neunziger Jahre rissen in den Korpus der nationalen Literaturen Jugoslawiens eine tiefe Zäsur, die nicht nur die Überflutung durch die aktuellen Themen der Sezession und des Krieges mit sich brachte, sondern auch eine schon längst fällige Abrechnung der jüngeren Generation mit den nationalen literarischen Traditionen nach sich zog. In der Polyphonie der Stimmen stiegen signifikante Denkfiguren hervor, die vordergründig auf die Erfahrung der negativen Veränderbarkeit der Welt durch Politik zurückgehen. In Slowenien ist der Prozess der Konstituierung der Frauenliteratur und ihrer gesellschaftlichen Anerkennung am weitesten fortgeschritten. Daher bildet diese keine auffällige Besonderheit in der literarischen Produktion und der sie reflektierenden Literaturkritik und -wissenschaft, die sich um eine bewusste Abgrenzung gegen die Literatur der männlichen Kollegen 14
Handkes Reisetext provozierte aus unterschiedlichen Lagern erbitterte Kritik, ergab jedoch dank seiner breiten Wirkung in der Öffentlichkeit (sogar auch bei Menschen, die Handke selbst nie gelesen haben), gewissermaßen eine intellektuelle Markierung, geradezu einen Standard, an dem alle nachfolgenden Reiseberichterstatter aus der Region gemessen wurden und werden. Hermann Theißen überschreibt seinen ausführlichen Bericht über das Theaterleben in Serbien, der in Theater heute Nr. 12 (1996), S. 33ff. erschienen ist, mit: Goodbye Belgrad? Eine Reise – mit anderem Blick als Peter Handke. 15 Handke: Winterliche Reise (Anm. 12). S. 99.
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bemühen müsste. Eine Reihe von Autorinnen, Sozial- und Literaturwissenschaftlerinnen ist aktiv, im deutschen und österreichischen Sprachraum haben sich die Lyrikerinnen Maruša Krese16 und Maja Vidmar17 etabliert. Maja Novak (*1960)18 hat schon mehrere, sehr beachtete Romane vorgelegt; die jüngste Generation wird von der begabten Erzählerin Nina Kokelj (*1972)19 angeführt. Die Literaturwissenschaftlerin Silvija Borovnik (*1960) begleitet systematisch-analytisch die slowenische Frauenliteratur und schafft mit ihren Publikationen einen guten Überblick über die literarische Frauenproduktion der letzten Jahrzehnte.20 Das oppositionelle Kulturbewusstsein hat im Wandel der Jahre auch einen kritischen Diskurs in der reflektierenden Literatur und Philosophie gezeitigt. Allen voran hat sich der inzwischen international anerkannte Philosoph in Lacanscher psychoanalytischer Tradition, Slavoj Žižek, mit der Grundbefindlichkeit des Menschen “post bellum” befasst. Seine Publikationen tragen nicht zufällig oft recht provokante Überschriften: Denn sie wissen nicht, was sie tun. Gewissen als ein politischer Faktor (Wien 1994) oder Ein Plädoyer für die Intoleranz (Wien 1998).21 Žižek versteht seine Aufgabe darin, das Gewissen wachzurütteln und Aufmerksamkeit zu erzeugen – bei den europäischen Nachbarn wie in der Weltöffentlichkeit – auch mit den Mitteln der Pop-Kultur, die er ebenso intelligent wie wirksam einsetzt. Und er vergisst nicht, die Besonderheit der Rolle des anderen Geschlechts im jugoslawischen Postpurgatorium anzusprechen. Das kroatische Spezifikum liegt im Umstand, dass die prominentesten kroatischen Autorinnen, die ebenso in Europa wie in den USA ein beachtli16
Die in Ljubljana und Berlin lebende Lyrikerin (Gestern, Heute, Morgen. Frankfurt/M. 1992), Trägerin des Bundesverdienstkreuzes der BRD, beteiligt sich maßgeblich an humanitären Projekten zum Aufbau der zivilen Gesellschaft in den Ländern Ex-Jugoslawiens, zuletzt am “Deutsch-Bosnischen-HerzegowinischenGesellschaftsprojekt”, von der BRD, der EU und der Entwicklungshilfe der Vereinten Nationen (UNDP) gefördert, das durch die Schaffung einer funktionierenden, bürgerlichen städtischen Mikrostruktur der Ethnisierung entgegenwirkt. 17 Mit ihrer Sammlung Leibhaftige Gedichte ist sie in die österreichische Vereinigung “Wespennestautorinnen” aufgenommen worden. 18 Sie veröffentlichte zuletzt den Roman Maþja kuga (Die Katzenpest). Ljubljana 2000. 19 Ihr jüngster Roman heißt Milovanje (Das Streicheln). Ljubljana 2000. 20 Silvija Borovnik: Slovenija, moja Afrika (Slowenien, mein Afrika). Ljubljana 1993. 21 Žižek, der 1999 den Wissenschaftspreis des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen zuerkannt bekam und sich auf seiner Homepage als “Jean-Jacques Žižek, one of the greatest thinkers of our time” selbst inszeniert, ist im Internet mit einer Reihe von längeren Statements und Essays vertreten; einer davon setzt sich mit dem NATO-Bombardement in Serbien – Against the Double Blackmail. On NATOBombings in Kosovo – auseinander. Žižek beherrscht bravourös die Äquilibristik zwischen intellektuellem Diskurs und Popkultur.
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ches Echo gefunden haben, im selbstgewählten Exil leben. Dubravka Ugrešiü und Slavenka Drakuliü haben noch vor dem Ausbruch des Krieges in Kroatien die Mystifizierung patriarchalischer Gesellschaftsformen und die staatstragenden Ikonen angeprangert. Ihre kritische, im Formalen avantgardistische Prosa stieß auf Ablehnung und Verdammung ebenso bei den Kulturträgern der Tudjman-Regierung wie bei bestimmten Schichten der Leserschaft. Als Verräterinnen der Heimat und Nestbeschmutzerinnen diffamiert, verließen sie das Land, obzwar ihre Existenz nie bedroht war. Sie erhofften sich in der Fremde auch eine breitere und qualifiziertere Resonanz für ihr Werk. Die Überschriften ihrer Buchveröffentlichungen verweisen eindeutig auf den Kern ihrer Entrüstung und Sehnsucht: Dubravka Ugrešiü (*1949) publizierte die Essaybände: Die Kultur der Lüge (Frankfurt/M. 1995) und Das Museum der bedingungslosen Kapitulation (Frankfurt/M. 1998); Slavenka Drakuliü (*1949) die Essaybände Sterben in Kroatien – Vom Krieg mitten in Europa (1992), Café Paradies oder die Sehnsucht nach Europa (Berlin 1997). In ihrem jüngsten Roman Als gäbe es mich nicht (Berlin 2000)22 analysiert Drakuliü die Massenvergewaltigungen während des Krieges in Bosnien, wobei sie die Zerstörung der Sprache als notwendigen Bestandteil der Zertrümmerung zivilisatorischer Grenzen darstellt.23 Mit ihrem dokumentaristischen Hörspiel Nicht schuldig (2001)24 reagierte sie auf die Kriegsverbrecherprozesse vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Drakuliü versucht als Prozessbeobachterin derselben Frage nach der Banalität des Bösen auf den Grund zu gehen, wie dies Hannah Arendt als Beobachterin des Eichmann-Prozesses in Jerusalem 1961 getan hat. Die kluge Vermischung der dokumentaristischen und der reflektierenden Ebene zeitigt einen spannenden Bericht, in dem es der Autorin schließlich um Abgrenzung des Lichtes in der Finsternis der Abgründe des menschlichen Charakters geht. Nicht die Ursachen, Gründe oder Motive der Täter erforscht die Autorin, sondern sie beschreibt lediglich die Täter in ihrer er22
Die genannten Werke sind nur ein kleiner Ausschnitt aus dem umfangreichen Œuvre der genannten Autorinnen. Die deutschen Übersetzungen von Dubravka Ugrešiü erscheinen im Suhrkamp-Verlag, die von Slavenka Drakuliü hauptsächlich im Berliner Aufbau-Verlag. 23 Der kroatische Literaturkritiker und Verleger Josip Paviþiü fällt in seinem Interview So wie wir sind, interessieren wir niemand in der Welt in der Zagreber Tageszeitung Veþernji list vom 5. 11. 2000 ein skeptisches Urteil über die Gründe der Popularität zeitgenössischer kroatischer AutorInnen: “Es wäre gewiss eine Sünde zu behaupten, dass AutorInnen wie D. Ugrešiü, S. Drakuliü oder M. Jergoviü schlechte Schriftsteller sind, ich bin jedoch fest davon überzeugt, dass sie in fremde Sprachen nicht wegen ihrer literarischen Qualität übersetzt worden sind, sondern lediglich wegen ihrer politischen Überzeugungen. Sie haben nach der Musik der europäischen Ministerien getanzt, und dies hat wohl einigen gut gefallen.” (S. 16) 24 SFB / ORB / ORF / SR / NDR; erste Sendung NDR (Radio Kultur), 6. 10. 2001, in der Regie von Nikolai von Koslowski.
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schreckenden Banalität. Julijana Matanoviü (*1959) landete mit ihrem Romanerstling, der subtilen Erinnerungsprosa Warum ich euch belogen habe (Frankfurt/M. 2000, kroatische Erstausgabe 1997), einen sensationellen Erfolg in ihrer Heimat (der Bestseller von 1998); der Band verkauft sich auch in der Bundesrepublik sehr gut. Zu den literarisch bedeutendsten Neuerscheinungen kroatischer Autorinnen zählt der im Suhrkamp-Verlag erschienene Erzählungsband Eigentlich ein Heiratsantrag der in Deutschland geborenen und deutschschreibenden Erzählerin Jagoda Mariniü (*1977). Durch die Themenwahl und die mediterrane Welt, dem typischen Schauplatz ihrer Geschichten, bleibt sie der kroatischen Nationalliteratur eng verbunden. Vesna Biga (*1948) erzählt in ihrem essayistischen Tagebuch Autobusni ljudi (Menschen, die Bus fahren, 1999) über die alltägliche Erfahrung der Busfahrten zwischen Slowenien und Kroatien nach Belgrad und zurück in der Kriegszeit. Es wundert deshalb nicht, dass die kroatische Literaturwissenschaftlerin Dubravka Oraiü Toliü ihren vorzüglichen Überblick Kroatische zeitgenössische Prosa mit dem symbolträchtigen Untertitel Die Herausforderung der Wirklichkeit versieht.25 Sie stellt einige prägende Stilmuster auf und weist mit Nachdruck auf den Umstand hin, dass sich die Schriftsteller in einer schizophrenen Situation befänden. Rujana Jeger (*1968) bringt mit ihrem verdeckt autobiographischen Roman Darkroom die Gefühlslage ihrer Generation zum Ausdruck, deren Sozialisation in der Ära des Kommunismus stattfand, um dann nach der postkommunistischen Zeitenwende in eine volle Persönlichkeitsentwicklung umzuschlagen. Die junge Dramatikerin Nataša Rajakoviü vertritt ebenfalls die etwas gelassenere Position der jüngsten Generation, die die Bühne der Literatur und des Theaters erst zu erobern gedenkt und in ihrer Themenwahl nicht ausschließlich vergangenheitsorientiert ist. Der Generationskonflikt ist in allen exjugoslawischen Nationalliteraturen ein Signum der Zeit. Die Generation der vierzig- bis fünfzigjährigen Autorinnen verbindet ein gemeinsamer Hintergrund: Jugend in Tito-Jugoslawien, Universitätslaufbahn, feministischer Diskurs, landesweite Anerkennung und das Exil. So ist neben dem “Kampf der Kulturen” im exjugoslawischen Raum der parallel stattfindende “Kampf der Generationen” zu beobachten. “History is back” bedeutet daher für den älteren Teil schreibender Frauen eine in der eigenen Erfahrung zu beglaubigende Erkenntnis ihrer persönlichen Geschichte, für die Jüngeren hingegen ein interessantes Motiv, das es literarisch zu zelebrieren gilt. Die jüngere Generation findet ihren Platz nicht in den “älteren, gesamtjugoslawischen” Realitäten; sie erobert sich einen 25
Im Original: Suvremena hrvtska proza. Izazov zbilje (Die zeitgenössische kroatische Prosa. Die Herausforderung der Wirklichkeit). In: Republika (Zagreb/Kroatien) 57. Jg. (2001). Nr. 5-6. S. 39-51. Das Substantiv “zbilja” ist im Deutschen mit “Wirklichkeit” und “Wahrheit” deckungsgleich.
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direkten Anschluss an die europäische Literatur und das Theater – ohne die bei den Älteren oft stilbildende Melancholie. Zoran Feriü (1961), der prominenteste Vertreter der Zagreber Gruppe für alternative Literatur (FAK), arbeitet in seiner Erzählprosa vordergründig mit Provokation und Pietätlosigkeit. In der Erzählungssammlung Anÿeo u ofsajdu (An Angel Offside, Wien 2000) zeigt er in einer Reihe paradoxenreicher Geschichten die absurde Kehrseite des gesellschaftlich sanktionierten Mitleidsgefühls der Nachkriegszeit. Nicht selten wird seitens der älteren Generation auf die Oberflächlichkeit der Jüngeren im Umgang mit essentiellen politischen und historischen Stoffen hingewiesen. Die Jungen würden vor nichts Halt machen, nichts sei ihnen heilig! “Wir sind Zombies mit Wonderbra”, behauptet die junge Belgrader Dramatikerin Biljana Srbljanoviü (*1970) in einem ihrer Interviews, die während des NATO-Bombardements in Serbien vorwiegend von deutschsprachigen Medien mit verblüffender Bereitschaft kolportiert worden sind. Ein Jahr später, als sich der Abgang Miloševiü’ von der politischen Bühne schon abzeichnete, lieferte sie Berichte über “die coolste PopDemokratie der Welt”.26 Insbesondere wird der serbischen Frauenliteratur europaweit eine enorme Beachtung gezollt. Srbljanoviü, die inzwischen zur Ikone des oppositionellen Theaters aufgestiegen ist, wird zeitweilig auf vierzig europäischen Bühnen parallel inszeniert: von den Münchener Kammerspielen über Heilbronn, Konstanz, Würzburg, Essen, Bremen bis Berlin.27 Nach dem durchschlagenden Erfolg des auf die jüngste politische Entwicklung in Serbien anspielenden Dramas Familiengeschichte. Belgrad (1996, uraufgeführt in Belgrad 1997) und Belgrader Trilogie wurde ihr letztes Stück Pad / Der
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Am 19. 11. 2000, fünf Wochen nach dem Regierungswechsel in Belgrad, wurde in der Berliner Akademie der Künste die Ausstellung kritischer bildender Kunst “Dossier Serbien” eröffnet, eine Dokumentation der “kulturellen Dekontamination” (Tagesspiegel vom 19. 11. 2000. S. 25). Die Co-Kuratorin, Dramatikerin Ana Miljaniü, interpretiert die Ausstellung als Teil des Heilungsprozesses, sogar eines – aus der westlich-humanistischen Perspektive in seiner Wirkung wohl überschätzten – kulturellen Jungbrunnens. WDR3 sendete am 27. 1. 2002 einen Dokumentarbericht über die gerade erst eröffnete Ausstellung Jugo-Museum in Belgrad. 27 Gleichzeitig wird sie in Amsterdam und Rom aufgeführt; ihre Tagebuch-Berichte aus Belgrad kurz vor dem Untergang des Regimes Miloševiü wurden genauso in der italienischen La Repubblica wie im österreichischen Standard abgedruckt. Das Interview für den Spiegel vom 2. 11. 1999 bestätigte endgültig das Renommee von Biljana Srbljanoviü in der BRD. Vgl. auch den Aufsatz von Ivan Medenica: Die Stunde Null. Weltflucht mit wenigen Ausnahmen: Ein Überblick zur Situation des Theaters in Serbien zwischen gestern und heute. In: Theater heute vom 11. 11. 2000. S. 34-39. Der Autor nennt eine ganze Reihe neuer Namen, auch von Autorinnen, die mit interessanten Dramenprojekten hervorgetreten sind, u. a. Sonja Vukiþeviü und Mirjana Bobiü Mojsiloviü.
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Sturz in einer Koproduktion mit dem Grazer Festival “Steirischer Herbst” Ende Oktober 2000 in Graz in deutscher Sprache aufgeführt.28 In Bosnien-Herzegowina sind in den letzten Jahren durch europäische und außereuropäische Initiativen zahlreiche literaturfördernde Projekte initiiert worden. Am 17. November 2000 eröffnete das Goethe-Institut ein Gründungsbüro in Sarajevo. Die Programmschwerpunkte gelten den Menschenrechten, der Demokratisierung und dem Aufbau einer civil society.29 Zahlreiche Stiftungen haben in Sarajevo ihre Zweigstellen eingerichtet, die sich um die Wiederbelebung des brachliegenden Kultur- und Literaturbetriebs in der Region bemühen. So wirkt z. B. die aus Sarajevo gebürtige deutsche Slawistin Azra Djajiü für die Heinrich-Böll-Stiftung an der Intensivierung der Kontakte mit Deutschland und an der Förderung der literarischen Produktion in Bosnien. Das Lexikon des Schriftstellerverbandes von 28
Der integrale Text des Dramas (“Der Sturz, Stückabdruck spezial”) wurde in der Zeitschrift Theater der Zeit vom November 2000, Heft Nr. 11, S. 6-23 abgedruckt, auch dies ein Signal der enormen Präsenz der jungen serbischen Dramatikerin auf den deutschsprachigen Bühnen. Am 9. April 2001 strahlte der TV-Sender 3sat eine zwanzigminütige Sendung Biljana Srbljanoviü. Mein Belgrad aus, in der die Autorin selbstreflexiv ihre Stadt, nach dem für sie enttäuschenden Regierungswechsel vom 5. 10. 2000, begeht. Trotz des sentimentalen Untertons (“Ich weiß nicht, was mich hier hält, aber ich kann Belgrad unmöglich verlassen”) wirkten die Szenerien der Stadt nachhaltig, vor allem durch die theatralische Inszenierung der durch das NATO-Bombardement herbeigeführten Beschädigungen, die das schlechte Gewissen der westlichen Zuschauer zutiefst berührte. Wieder einmal ist die Inszenierung des Krieges, der in Belgrad und Serbien nicht in seiner verheerenden Form wie in Kroatien und Bosnien stattgefunden hat, trefflich gelungen. U. a. hielt – neben den stark strapazierten Straßenschlachtenszenen – als eine der Stätten der Besinnung das Interieur einer orthodoxen Kirche her, das gerade restauriert wurde. Zur Theatralisierung der gelebten Geschichte vgl. die Aussage des Abgeordneten im kroatischen Landtag Ivan ýehok (von der Sozialliberalen Partei): “Die Serben sind durch die Inszenierung des Putsches, indem sie in einer TV-Show das Parlament in Brand gesteckt haben, auf einen Schlag mitleids- und bewunderungswert geworden: Ein politisch zermürbtes Volk, ein Jahrzehnt lang hintergangen, steht auf und befestigt sich in seinem demokratischen Bewusstsein. Koštunica ist ein Demokrat, der Geruch des Geldes lässt die Nase, aber auch die Augen in Richtung Serbien richten [...]. Bei uns aber wird die miserable Stimmung der Öffentlichkeit von liederlichen Zirkussanten artikuliert, die sich aus dem Staatsbudget genährt haben. Die Gesellschaft insgesamt ist nicht fähig, eine ruhige, aber früchtebringende Auseinandersetzung auszutragen, das Fernsehen, das die Öffentlichkeit beobachten sollte, unterhält sich mit den vermeintlich tiefsinnigen Talkshows über Gott und die Welt. Leider ist es uns nicht gelungen, die Aufmerksamkeit Europas auf uns selbst dann zu richten, als wir am meisten gelitten haben. Als Vukovar kurz vor dem Fall stand, veranstalteten wir Bälle, als wären unsere Vorfahren Berater am Hofe und nicht arme Teufel gewesen. Wir sind außerstande, unsere Tragödien in Szene zu setzen.” (Veþernji list, Zagreb, vom 24., 25. u. 26. 12. 2000. S. 17.) 29 Die EU fördert die Gründung mit 1,2 Mio. DM; Nachricht der “dpa” vom 10. November 2000.
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Bosnien-Herzegowina belegt für das Jahr 1999 lediglich ein Viertel seiner bisherigen Mitgliederschaft: So entfalle neuerdings “nur ein Dichter auf 82 Einwohner”, lautet die ernüchternde Statistik. Die junge Lyrikerin Maja Andriü (*1971), die mit der Gedichtsammlung Aus der Zeit der reinen Seide (1991) hervortrat, oder die Erzählerin und Arabistin Melika Bosnawi Salihbeg (*1945) harren jedoch, mit vielen anderen Autorinnen, in ihrer Heimatstadt aus. Die 1993 in Klagenfurt eingerichtete Bosnische Bibliothek soll auch helfen, die Literatur bosnischer Autorinnen nach Europa zu vermitteln. Aus Mazedonien wagte der junge Dramatiker Dejan Dukovski den Schritt nach Europa und eroberte mit seinen körperbetonten Stücken, welche die Zurichtungen des Menschen (vornehmlich von Frauen) inszenieren, im Sturm die Bühnen in Österreich und Deutschland. Die Autorin Ljupka Koþovska publizierte 2001 einen Roman mit dem programmatischen Titel Vremento na ljubovta i na omrazata (Die Zeit der Liebe und des Hasses).30 VI. Biljana Srbljanoviü Das beachtliche Talent der jungen Belgrader Dramatikerin Biljana Srbljanoviü (*1970) zeigt sich in der Abarbeitung des Balkan-Syndroms. Sie tritt mit ihrem Stück Familiengeschichte. Belgrad nicht als Moralistin hervor, schafft aber mit diesem und den nachfolgenden Dramen ein Gleichnis für den Balkan: Repression, Gewalttätigkeit, das Wechselspiel zwischen Macht und Gehorsam sowie Angst als Grundgefühl und internalisierte Verhaltensmuster. Der entscheidende Grund für ihren durchschlagenden Erfolg ist in ihrem besonderen Kunstgriff zu suchen, dass sie mit ihren Stücken (Familiengeschichte. Belgrad; Belgrader Trilogie; Sturz; Supermarkt)31 für den politischen und gesellschaftlichen Zustand in ihrer Heimat ein weitgehend abstrahierendes dramatisches Bild schafft. Die Politisierung ist auf einen sehr genau begrenzten privaten Rahmen reduziert, so dass eine gewisse Universalgültigkeit dem dramatischen Geschehen unterlegt wird. Das Politikum verlagert sich in ihren Dramen aus der äußeren Welt, in der sie sonst wahrgenommen und unmittelbar objektiviert wird, in die Privatsphäre des Familienlebens. Eine weitergehende Intimisierung des Politischen ist nicht vorstellbar. Dies wird noch durch den Hinweis der Dramatikerin verstärkt, dass alle Rollen von erwachsenen Schauspielern zu besetzen seien, obwohl die Helden des Stücks Kinder sind. Kinder mutieren zu Eltern, Eltern verwandeln sich in die eigenen Kinder, die Rollenzuteilung selbst ist beliebig. Und dennoch ist – trotz einer offensichtlichen, bewussten, starken Entkontextualisierung – der Bezug zur neuesten Geschichte Serbiens und des Balkans für 30
Verlag Štrk in Skopje. Vgl. Biljana Srbljanoviü: Familiengeschichte. Belgrad / Belgrader Trilogie. 2 Theaterstücke. Frankfurt/M. 1999.
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den Zuschauer deutlich herstellbar. Aus dieser Paradoxie schöpft das dramatische Werk von Biljana Srbljanoviü eine spezifische aufregende Spannung und einen Reiz, indem sie den Stücken den unverwechselbaren politischen, dadurch auch historischen Kontext absichtlich entzieht. Vor allem zeigt sie, wie die repressive Staatsgewalt und das Bewusstsein von ihr in alle Sphären des individuellen Lebens und des kollektiven Bewusstseins eindringen, um es unwiederbringlich zu kontaminieren und das individuelle Leben zu depravieren. Alle vier Protagonisten befinden sich so gesehen noch im Stadium des Vorindividualismus: Dass ihre Rollen streckenweise verkindlicht werden, kann als ein versteckter Hinweis auf die mangelnde Individualität verstanden werden, da die Menschen in einem staatlich und gesellschaftlich geförderten Infantilismus stecken geblieben sind. In ferner Anlehnung an Radomir Konstantinoviü bestätigt sich auch hier, dass der balkanische Krähwinkler kein Individuum auf dem Wege der Individuation sei, sondern bloß der Abdruck einer Erfahrung, einer Anschauung und eines bestimmten Stils. Die Tyrannei des Krähwinkels impliziert die Tyrannei des Einblicks in alles, so Konstantinoviü, in jede Facette des privaten Lebens, sie materialisiert sich als die Tyrannei der absoluten Klarheit und der absurden Offenheit. Die Tyrannei bewegt sich bei Srbljanoviü jedoch in einer Welt des allgemein gültigen Absurden, in manchem mit Alfred Jarys König Ubu vergleichbar. Es handelt sich um eine Form der Enthebung aus der konkreten Wirklichkeit, um eine Parallelwelt der dekonkretisierten Verletzlichkeiten, also gleichzeitig auch um eine andere Unmittelbarkeit. Es wundert nicht, dass in Theaterkritiken diesbezüglich oft von Parabeln die Rede ist. Biljana Srbljanoviü zeichnet eine Welt nach dem Zerfall aller sozialen und politischen Strukturen, die nur noch als personifizierte Anomie vorhanden sind. Sie zeigt aber auch die Dialektik dieser Prozesse, die Mechanismen also, die sie herbeigeführt haben. Die Auflösung alter Strukturen entstand zwar als Reaktion auf das totalitäre Regime; dies führte aber gleichzeitig zu einem privaten Totalitarismus, den man im Wandel der Jahre oder Jahrzehnte eingesogen hatte und der zur zweiten Natur oder zum eigentlichen Bewusstsein wurde. Der Mensch erduldet zwar ein Regime, er wird aber von ihm gleichzeitig zutiefst geprägt, deformiert und mitunter zu seinem eigentlichen Produzenten formatiert. Die junge Belgrader Dramatikerin fixiert diesen gesellschaftlichen Null-Punkt, in dem die Opfer ihr eigenes totalitäres Bewusstsein produzieren, um sich darin zu antiquieren und für die neuen Entwicklungen zu verschließen. Der einzige Kommunikationsgestus einer vierköpfigen Familie erschöpft sich in phantasievoller Anwendung differenzierter Gewalttätigkeiten: Kinder und Eltern bedrohen sich unentwegt gegenseitig, werden dann am Ende des Stückes alle durch eine Explosion ausgelöscht.
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Srbljanoviü war ein Hätschelkind der Medien, zeitweise auch ein Superstar, dessen Dramen von den prominentesten Regisseuren auf den bedeutendsten deutschsprachigen Bühnen aufgeführt worden sind. Ihr letztes Stück Supermarkt. Soap opera wurde im Herbst 2000 von Thomas Ostermeier für den Steirischen Herbst als Koproduktion mit der Schaubühne, Berlin, inszeniert. Vor allem ihre Tagebücher aus dem bombardierten Belgrad von 1999, in großen meinungsbildenden europäischen Magazinen publiziert, trugen zu ihrem Ruhm nachträglich bei. Sie wurde zur Ikone des serbischen sowie des gesamt-exjugoslawischen Widerstands stilisiert, was bei ihren SchriftstellerkollegInnen auch für Unmut sorgte. Das für den 21. 10. 2000 in Graz einberufene Symposion “Frauen, Literatur und Politik in Exjugoslawien”, an dem neben Maruša Krese, Nataša Rajakoviü und Biljana Srbljanoviü auch die Belgrader Intellektuelle Svetlana Slapšak, der mazedonische Dramatiker Dejan Dukovski und der bosnische Romanschriftsteller Ðevad Karahasan, später Stadtschreiber in Graz, hätten teilnehmen sollen, fand nicht statt. In prominenter Besetzung sollte in erster Linie der Frage nach den Möglichkeiten einer weiblichen Sprache in dem vom Krieg und Nationalismus auch auf sprachlicher Ebene beschädigten Land nachgegangen werden. Dass letztlich die geplanten Diskussionen scheiterten, ist ein Spiegelbild der Spannungen, der Zerrissenheit und der mangelnden Dialogbereitschaft der exjugoslawischen AutorInnen und der Intellektuellen. Eine der Teilnehmerinnen, Svetlana Slapšak, hatte in einem Interview unmittelbar vor der Konferenz Biljana Srbljanoviü und Slavoj Žižek beschuldigt, in den westlichen Medien das Bild eines idealen jugoslawischen Oppositionellen zu monopolisieren und eine revolutionäre Pose einzunehmen, die den im Lande Verbliebenen aufgrund von Arrangements mit dem Regime nicht zustünde.32 Die Attackierten sagten aus Protest ihre Teilnahme ab. Die als Moderatorin engagierte Autorin und Übersetzerin Ilma Rakuša (*1946) konnte lediglich das Scheitern eines auf Harmonisierung ausgerichteten Projekts feststellen.33 32
Vgl. den Bericht der Wiener Tageszeitung Der Standard vom 23. 10. 2000. S. 11. Selbst die Kritik der deutschen Uraufführung des Stücks Pad / Der Sturz fiel, offensichtlich unter dem Eindruck der schlagartigen Veränderung der politischen Machtverhältnisse in Serbien, moderat aus. Die grelle Farce auf das Miloševiü / MarkoviüRegime, in deren Mitte die Metapher von der Familie als Schoß des Faschismus steht, wurde als ein “recht eindimensionales Zeitstück” eingestuft, dessen symbolischer Subtext (Gebärmutter) als “fragwürdig” gewertet. 33 In ihrem Essay Wieviel Übersetzung brauchen wir? für das Kulturprogramm des Österreichischen Rundfunks, Ö1, weist Rakuša auf den Transfercharakter der Sprachkunst als Mittel der Völkerverständigung hin: “Nehmen wir den unseligen Jugoslawien-Konflikt: [...] So mancher Journalist und Politiker wäre gut beraten (gewesen), die Werke des Nobelpreisträgers Ivo Andriü zu lesen, um bosnische Historie und Wesensart kennenzulernen, oder sich in die Romane von Ismail Kadare
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Die Kommunikation zwischen den Repräsentantinnen einzelner Nationalliteraturen untereinander findet ohnehin am häufigsten in Form eines aggressiven Schweigens statt. Bezeichnend ist dafür die Antwort von Biljana Srbljanoviü in einem Interview für Theater heute auf die Frage: “Reisen Sie auch in die anderen exjugoslawischen Länder?” Ich bin in den letzten zehn Jahren nur einmal in Slowenien gewesen, nicht mehr in Kroatien. Wir waren früher jeden Sommer dort und kennen uns gut aus, es war Teil unseres Lebens, unserer Kultur. Heute weiß ich nicht mehr, was dort vor sich geht, ich weiß mehr über das Theater in Nicaragua als über das in Kroatien.34
Die Dramatikerin hat meines Wissens in allen ihren Interviews kein einziges Mal die Albaner oder den Krieg im Kosovo erwähnt; auch thematisch rekurrieren sowohl ihre Dramen als auch ihre Tagebuchaufzeichnungen in großen europäischen Zeitungen und Magazinen (1999 – Der Spiegel, La Repubblica, Der Standard) ausschließlich auf das NATO-Bombardement in Serbien.35 Auf den schwierigen Umgang serbischer Intellektueller mit ihrer neuesten Geschichte, der sich in der Denkfigur des im Universalismus befangenen und an der Weltgeschichte leidenden, doch jegliche konkrete Betroffenheit von sich weisenden Dichters kristallisiert, weist Slavenka Drakuliü in ihren Arbeiten hin, so etwa in ihrem Beitrag We are all Albanians in The Nation: “The problem is that Serbs – or anyone else, for that matter – cannot identify with the suffering of others if they are not able to see them as equals. In Yugoslav society Albanians were never visible. [...] They were always underdogs.”36 Aus der Differenz zwischen der von Selbstmitleid durchdrungenen Eigenwahrnehmung serbischer Intellektueller und dem politischen Tatbestand bringt sie mit wenigen scharfsinnigen Sätzen diesen selbstmitleidigen Gestus zu Fall. Die These “We are all Albanians” des jungen serbischen Romanschriftstellers Vladimir Arsenijeviü, die er in einem offenen Brief ausgesprochen hat, würde in dieser undifferenzierter Form nicht stimmen, so Drakuliü, und sie argumentiert: “If the zu vertiefen, um dem kleinen, fernen Albanien näherzukommen. [...] Ein Blick in serbische Volkslieder oder Heldenepen – schon von Goethe verehrt und auszugsweise nachgedichtet – verrät mehr über serbische Mythenbildungen als noch so kluges Sekundärgeplapper.” Fragen an das 21. Jahrhundert. Hg. von Martin Bernhofer. Wien 2000. S. 204f. Vgl. auch Ivan Lovrenoviü: Bosnien und Herzegowina. Eine Kulturgeschichte. Wien 1998. 34 Gespräch mit der Belgrader Dramatikerin Biljana Srbljanoviü, in: Theater heute Nr. 1(1999). S. 57. 35 Die Frage, welche Rolle bei der Wahrnehmung der exjugoslawischen Literatur der europäische “Serbozentrismus” spielt, lechzt nach einer komplexen Antwort. Über die politische Dimensionierung dieses Problems vgl. Viktor Meier: Jugoslawiens Erben. Die neuen Staaten und die Politik des Westens. München 2001. 36 S. 1 des Ausdrucks aus dem Internet vom 20. 5. 1999. http.//www.thenation.com/ doc.mhtml%3Fi=19990607.&s=drakulic.
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young writer considers himself an Albanian, why is he not fleeing to Macedonia or Albania as well? How cynical – or young or innocent or perhaps stupid – do you have to be to say that? It is as grotesque as if the Germans, after World War II, had said, ‘We are all Jews’. After all, had they not suffered occupation, bombardment, rationing?”37 Indem sie auf die Manipulation mit dem Finger zeigt, macht sich die Schriftstellerin nicht gerade beliebt bei ihren exjugoslawischen Kollegen. Zurzeit tobt in Serbien der Kalte Krieg zwischen Biljana Srbljanoviü und dem Regisseur Emir Kusturica. Die junge Dramatikerin hat dem Regisseur vorgeworfen, seinen Film 1995 mit finanzieller Unterstützung des Miloševiü-Regimes, beziehungsweise seiner Handlanger, gedreht, also zynisch und amoralisch gehandelt zu haben. Kusturica wehrt sich gegen diese Anschuldigungen mit identischer Schuldzuweisung an die Dramatikerin, auch sie habe damals für dieselben Auftraggeber vom staatlichen Fernsehen Drehbücher geschrieben, das heißt sich nicht weniger amoralisch verhalten. Dieser Streit um die Autorschaft als moralische Instanz ist im Internet zu verfolgen und wird ständig aktualisiert, nicht nur von der serbischen oder bosnischen Seite, und mit unverhohlener Lust am Streitobjekt betrieben. Eine ganze Reihe Autorinnen aus Exjugoslawien ist im deutschsprachigen Raum künstlerisch präsent. Als kritische Stimmen aus dem Kriegsgebiet haben sie in den neunziger Jahren durch deutsche Übersetzungen die Aufmerksamkeit des Lesepublikums auf sich gezogen oder punktuell das Interesse der intellektuellen Öffentlichkeit vor allem durch Zeitungsartikel erregt. Die bekanntesten unter ihnen, zwei kroatische Autorinnen, Dubravka Ugrešiü und Slavenka Drakuliü, haben sich schon in ihrer Heimat einen Namen gemacht. Im Unterschied zu der Dramatikerin Biljana Srbljanoviü fokussieren diese beiden Romanschriftstellerinnen und Essayistinnen die konkret erlebte Wirklichkeit im Kriege. Der Roman von Slavenka Drakuliü Als ob es mich nicht gäbe (Berlin 2000) ist ein fiktives Tagebuch einer vergewaltigten Bosnierin, die – nach der Befreiung aus dem Lager – in Stockholm ihr Kind bekommt. Eine direktere und konkretere Annäherung an die Wirklichkeit ist mit literarischen Mitteln kaum vorstellbar. Das gleiche Thema behandelt auch das Drama des kroatischen Dichters Slobodan Šnajder (*1948), Schlangenhaut, das im Theater an der Ruhr in Mülheim von Roberto Ciulli inszeniert wurde. Und dennoch sind sie – trotz eines bestimmten Bekanntheitsgrades, Slavenka Drakuliü blickt darüber hinaus bereits auf eine beachtliche Karriere in den USA zurück – in den Medien nur gelegentlich präsent; den Aufstieg zur Ikone der skeptischen Stimmen vom Balkan hat keine dieser hervorragenden AutorInnen geschafft. Vielleicht hat ihnen gerade die extreme politische Kontextualisierung, eine ebenso diffe37
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renziert-minuziöse wie in ihrem Impetus leidenschaftlich-kritische Diagnose der gesellschaftlichen, politischen und seelischen Befindlichkeiten im und nach dem Krieg das mediale Wasser geradezu abgegraben. Trotz aller Beteuerungen, die zuletzt während des USA-Bombardements in Afghanistan wieder besonders laut geworden sind – man vermisste wirklichkeitsnahe Berichte über konkrete Kriegshandlungen –, scheint sich in der öffentlichen Wahrnehmung angesichts der literarischen Konkretisierungen des Krieges eher ein Unbehagen auszubreiten. Paradoxerweise erfreuen sich beim Lese- und Theaterpublikum jene Werke einer lebendigeren und offeneren Aufnahme, schließlich auch des Erfolgs, die die Kriegserfahrung in die Nähe des Slapsticks oder der soap opera rücken. Zum Roman Rache und Illusion. Ein bosnisches Gastmahl 38 der bosnischen Romanschriftstellerin Safeta Obhodjas (*1951), die in Wuppertal lebt, bringt der Verlagsprospekt folgende Kurzbeschreibung: “Eine Groteske, fast ein Slapstick: Eine junge Frau jobbt in einem Hotel. Um sie herum Korruption, nationale Verblendung, Selbstüberschätzung – eine eitle Männerwelt, die in den Abgrund treibt. In ihr – Haß. Haß auf die, die ihre Familie durch Denunziation ruiniert haben. Haß, der in selbstzerstörerischer Rache endet.” Der Roman des Belgrader Romanschriftstellers Vladimir Arsenijeviü U potpalublju (Im Zwischendeck) handelt vom Alltag einer Belgrader Durchschnittsfamilie Anfang der neunziger Jahre, zu Beginn der Kriege in Slowenien und Kroatien. Er erschien 1996 in deutscher Übersetzung bei Rowohlt, Berlin, unter dem Titel Cloaca maxima. Eine Seifenoper. Das letzte Stück von Biljana Srbljanoviü – Supermarkt. Soap opera – führt ebenfalls die Seifenoper als ergänzenden Gattungshinweis im Titel. Das Medium der deutschen Übersetzungsliteratur scheint mit entpolitisiertem Soap-opera-Ansatz besser, auflagenstärker, also erfolgreicher zurechtzukommen als mit präziser, zersetzender Analyse. Letztere macht nicht zuletzt die Differenz zwischen den Kriegsparteien deutlich und problematisiert das allzu schnelle, kommode Verwischen von Grenzen zugunsten eines nur noch belustigenden, bellizistischen, operettenhaften Chaos, das alle Beteiligten täuschend ähnlich oder gar geklont erscheinen lässt. Darin liegt wohl ihre suggestive Stärke, die sie aber für eine breitere mediale Rezeption nur beschränkt genießbar macht.
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Ratingen 1996.
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Heinz-B. Heller
“Wir warten auf die Bilder...”1 Beobachtungen und Anmerkungen zur Irak-Kriegsberichterstattung 2003 The essay “Observations and Annotations on Iraq War Reports in TV ” tries to show the interdependence of political and military developments on the one hand and the changes in journalism on the other. It also keeps in mind that television only gets part of its images first hand and receives the others from the parties involved.
I. Nie zuvor war die Kriegsberichterstattung des Fernsehens so umstritten wie schon beim Aufmarsch und dann erst recht nach dem Einmarsch der USamerikanischen und britischen Truppen 2003 in den Irak. Alle Parteien wollten ihre Lehren aus den Erfahrungen des ersten US-Golfkrieges und des Kosovo-Krieges gezogen haben: die Militärs im propagandistischen Bemühen um eine maximale Kontrolle der veröffentlichten Bilder, die Journalisten, die auf der Suche nach größtmöglicher Unmittelbarkeit und vorgeblicher Authentizität sich auf die Rolle als embedded correspondents einließen – und dann zumeist mit ihrer Instrumentalisierung durch die Militärs bezahlen sollten –, bis hin zu jenen Journalisten und Fernsehverantwortlichen, die schon im Vorfeld der kriegerischen Auseinandersetzung mit ihrer neuen Skepsis gegenüber dem Wahrheitsgehalt der Fernsehbilder mehr oder weniger offensiv umzugehen versuchten. Doch schon bevor George W. Bush am 2. Mai auf dem US-Flugzeugträger “Abraham Lincoln” das offizielle Ende der Kriegshandlungen glaubte erklären zu können, machte sich in medien(selbst)kritischer Hinsicht Katerstimmung breit. “Im Krieg findet jeder zu seiner eigenen Wahrheit”, resümierte am 14. April die FAZ verblüffend relativistisch ihre medienanalytische Auftragsstudie über die TV-Berichterstattung;2 ein Fazit, das mit Blick auf die deutschen Verhältnisse die kritische Perspektive allerdings eher zu verstellen als zu erhellen scheint. Dies vor allem deshalb, weil es – wie zu zeigen ist – zum einen die ‘Einbettung’ der deutschen Berichterstattungspolitik, insbesondere die der öffentlich-rechtlichen Sender, in die ‘große’ bundesrepublikanische Politik unterschätzt, zum anderen, weil sie die 1
Petra Gerster in ZDF-Heute. 20. 3. 2003. Sandra Kegel: Im Krieg findet jeder zu seiner eigenen Wahrheit. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14. 4. 2003. Vgl. auch: www.medientenor.de.
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Zusammenhänge übersieht, die sich prozessual im Verlauf der Ereignisse in der Kriegsberichterstattung des Fernsehens augenscheinlich entfalteten und veränderten. Die nachfolgenden Anmerkungen machen deshalb an exemplarischen Beobachtungen fest, die sich an markanten Zäsuren der Chronik des angekündigten Krieges und der tatsächlichen Ereignisse orientieren.3 Berücksichtigt werden die Nachrichten- und Sondersendungen der öffentlichrechtlichen TV-Anstalten ARD, ZDF, ARTE sowie vergleichend von BBCWorld, die in der Zeit von Mitte Februar bis zum Fall Bagdads ausgestrahlt wurden. II. – 15. Februar Weltweit finden Massendemonstrationen statt, die größten seit dem Vietnamkrieg, in einigen Ländern – so in London oder Berlin – die größten seit dem Zweiten Weltkrieg überhaupt. Wochen später werden Derrida und Habermas diesen Demonstrationen eine epochale Bedeutung zuschreiben (“... könnte rückblickend als Signal für die Geburt einer europäischen Öffentlichkeit in die Geschichtsbücher eingehen”).4 In allen Nachrichtensendungen des Abends stellen sie das Top-Ereignis dar – und dennoch sind die Unterschiede im Präsentationsgestus, die zugleich politische Argumentationsunterschiede erkennen lassen, unübersehbar. BBC-World zeigt zunächst die sinnlich eindrucksvollsten Bilder: Die Totalen aus dem Helikopter über die von Demonstranten überbordende Londoner City vermitteln anschaulich den Massencharakter des Bürgerprotests gegen Tony Blairs Unterstützung der US-Politik. Kamerateams und Reporter inmitten der Demonstrierenden registrieren und akzentuieren auffallend die Besonderheit dieses Aufmarsches: nicht nur die außerordentlich breite ethnische und soziale Repräsentanz der British community, sondern auch und vor allem die Tatsache, dass sich hier Bürger – Generationen übergreifend – zusammengefunden hätten, die noch nie zuvor in ihrem Leben auf einer Demonstrationen gewesen wären: der hochdekorierte Armeeveteran, der junge Vater mit Kinderwagen, die halbverschleierte Muslim-Frau ... Tony Blair, auf sich allein gestellt, – so die sprachlich und visuell vermittelte Botschaft der BBC – befindet sich in gravierender Erklärungsnot einer überwältigenden community gegenüber. Anders die Berichtsstrategie der Tagesschau in der ARD: Nach dem sprachlichen Verweis auf den globalen Charakter der Massenproteste konzentriert sich die Tagesschau auf die Berliner Demonstration. Kirchen, 3 Beate Schlanstein und Matthias Steinle haben mit zahlreichen Beobachtungen und Anregungen die Entstehung dieses Beitrags gefördert. Ihnen gebührt nachdrücklich Dank. 4 Jacques Derrida und Jürgen Habermas: Unsere Erneuerung. Nach dem Krieg: Die Wiedergeburt Europas. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31. 5. 2003.
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Friedensgruppen, Gewerkschaften hätten zur Demonstration aufgerufen, der “größten Friedensdemonstration in der Geschichte der Bundesrepublik”, um dann indes in den Bildern dem Prinzip der Personalisierung zu frönen. Die Musiker der Puhdis, Reinhard Mey, Konstantin Wecker werden auf der Bühne gezeigt (der “Rahmen”), dann weitere Redner der kulturellen Prominenz wie der Theologe Friedrich Schorlemmer und der Schauspieler und TV-Kommissar Peter Sodann, der Bertolt Brecht rezitiert. Der Kommentator aus dem Off knüpft an Brechts Worte an und qualifiziert die Veranstaltung – eigentümlich verallgemeinernd und bar einer konkreten politischen Stoßrichtung – als “Appell gegen das Vergessen und gegen den Krieg”. Ein junges Ehepaar mit Kind darf diese Einschätzung tautologisch bestätigen. Um so mehr interessiert sich der Bericht – auch hier wieder die personalisierende Perspektive einnehmend – für prominente Demonstranten aus dem rot-grünen Lager: für den Bundestagspräsidenten Thierse und für die Kabinettsmitglieder Wieczorek-Zeul, Trittin, Künast, die sich mit ihrem Verhalten der Forderung ihres Regierungschefs Schröders, an dieser Veranstaltung nicht teilzunehmen, widersetzten. Unausgesprochen erscheinen der ob dieses Verhaltens zu erwartende kabinettsinterne Ärger und der von der Opposition innenpolitisch ausschlachtbare Dissens von größerem Attraktionswert als die soziale Zusammensetzung, die Motivation und die politischen Forderungen der Teilnehmer dieser Massendemonstrationen. Andererseits fällt auf, dass – im Gegensatz zur Heute-Sendung des ZDF – in der Tagesschau auf ‘Zeugenaussagen’ verzichtet wird, die pflichtschuldig betonen, dass sich diese Veranstaltung “nicht gegen Amerika” richte. In dieser Hinsicht geht die Tagesschau selbstbewusster mit der von konservativer Seite immer wieder vorgebrachten Diffamierung der Kriegsgegner als Anhänger eines “Anti-Amerikanismus” um. So als gelte es, das angesichts der deutschen und französischen Kriegsvorbehalte am 18. Januar von Donald Rumsfeld geprägte Wort vom “alten Europa” in seiner Unbedarftheit bloßzustellen, beginnt ARTE-Info seine Berichterstattung am 15. Februar mit einem furiosen Zusammenschnitt von Bildern aus aller Welt: Massenaufmärsche in Damaskus, Kapstadt, Melbourne, Moskau, Brüssel, Bagdad [!], Tokio, New York und nicht zuletzt Italien; “dort, wo die Idee einer weltweiten Demonstration entstanden war”. Der von O-Ton-Aufnahmen skandierter Protestparolen zusätzlich dramatisierte Zusammenschnitt der Bilder schafft einen sinnlich-suggestiven Zusammenhang globalen Protests, in welche die dann folgenden Bilder von der Demonstration in Paris eingebettet sind. Diese prononciert internationalistische Perspektive rahmt auch die Charakterisierung der französischen Veranstaltung: “Protest gegen Krieg im Allgemeinen und Bush im Besonderen, Pazifismus und Anti-Imperialismus” hätten die Pariser massenhaft auf die Straße gebracht – dazu aufgerufen von “80 linken Gruppierungen”. Interna-
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tionalismus und latente Vorstellungen einer neuen ‘Volksfront’ werden hier zusammengeschlossen und emblematisch verdichtet; so, wenn ein Anhänger der Linken (mit roter [!] Baskenmütze) zu Wort kommt (“Ich bin nicht gegen Amerika, aber gegen Präsident Bush”), wenn der Kommentator die – für französische Verhältnisse ungewöhnliche – Unterstützung der ChiracPolitik durch die Linke hervorhebt, wenn Demonstrierende mit Pro-ChiracParolen auffällig groß ins Bild gesetzt werden (“Tenez / Bon / Jacques”), schließlich, wenn in Paris ansässige US-Amerikaner mit ihren Parolen (“Americans Against the War on Iraq”) in Wort und Bild ihren Widerspruch zur US-Politik kundtun können. Unverkennbar haben sich in die Berichterstattung der drei Sender unterschiedliche argumentative Subtexte eingeschrieben. Zu einem Zeitpunkt, da der Weg für politische Lösungen noch offen erscheinen sollte (erst einen Tag zuvor hatte Blix im UNO-Sicherheitsrat erneut mehr Zeit für Waffeninspektionen im Irak gefordert), da konfrontiert BBC-World vor allem Tony Blairs Verhalten mit dem öffentlichen Votum eines sozial und ethnisch geeinten, zumal alle Generationen umfassenden Großbritanniens. ARTE-Info bündelt in seinem Bericht den globalen internationalen Widerstand gegen die US-Politik und aktualisiert Vorstellungen einer Volksfront im Innern, was zugleich auch historische Reminiszenzen evoziert, während die Tagesschau – was die konkrete politische Stoßrichtung des Protests angeht – ihm eigentümlich die außenpolitische Spitze nimmt. III. – 18. März In den Abendstunden des 17. 3., zur Prime Time, – in Westeuropa ist es wegen der Zeitverschiebung schon der 18. 3. – erklärt George W. Bush via Fernsehen das Ultimatum: Saddam habe eine Frist von 48 Stunden, um das Land zu verlassen. Die Abendnachrichten in Deutschland und Westeuropa reagieren zunächst auf unterschiedliche Weise. Die Tagesschau zeigt einen kurzen Ausschnitt der Bush-Rede und setzt ihr den kritischen Kommentar von Daschle, dem Führer der Demokraten im Senat, entgegen (“so jämmerlich in der Diplomatie gescheitert”), – freilich nicht ohne den patriotischen Hinweis, dass im Kriegsfall Armee und Regierung mit der Unterstützung der Demokraten rechnen könnten. Dass mit diesem Ultimatum – wie schon zuvor – nicht nur eine erneute Reformulierung des Kriegsziels der USA stattfindet,5 sondern darüber hinaus nur scheinbar eine Entscheidungsmöglichkeit gegeben ist (wie Powell schon am Tag zuvor erklärt hatte und nun auch Ari Fleischer bekräftigt, würde ein Gang von Saddam ins Exil keines5
Zunächst war bekanntlich die Bekämpfung des Terrorismus (Al Qaida) erstes Kriegsziel, dann der Präventivschlag gegen Saddams Massenvernichtungswaffen, schließlich der Kampf für demokratische Verhältnisse in Nah-Ost.
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wegs den Krieg vermeiden), – auf diese Problematik des Ultimatums wird in der Tagesschau mit keinem Wort eingegangen. Petra Gerster in der HeuteSendung des ZDF fällt dies immerhin auf, ohne es allerdings näher zu kommentieren. Allein ARTE-Info verspricht explizit eine “Analyse der BushRede” und lässt sich eingehender kritisch auf sie ein. Unverkennbar ist, dass sich in der Berichterstattung von ARD und ZDF zu diesem Zeitpunkt das sich abzeichnende militärische Szenario auch als maßgebliches journalistisches Wahrnehmungsdispositiv durchsetzt. Dementsprechend sieht Tom Buhrow in den USA nur die Maßnahmen im Zusammenhang der neu verordneten Sicherheitsstufe “Orange”, Stephan Kloss liefert aus Bagdad Bilder von aufgeriebenen Friedensaktivisten, die nur noch bemitleidenswert hilflos und komisch wirken, Ulrich Tilgner zeigt im ZDF, wie sich die Zivilbevölkerung im Irak auf den Krieg vorbereitet. So als hätten Politik und öffentliche Meinung endgültig ausgespielt, sind die noch immer weltweit anhaltenden Proteste (auch und gerade in den Vereinigten Staaten) gegen die USKriegspolitik keinem Sender mehr eine Erwähnung wert. Die US-Strategie hat auch in den TV-Studios Oberhand gewonnen. Am folgenden Tag meldet sich in der Tagesschau aus Kuwait der ARDKorrespondent Arnim Staudt. Er befindet sich inmitten eines US-Camps – “der vielleicht letzte Appell vor dem Krieg”. Fragen und Vermutungen nach der Stimmungslage der GIs: Geradezu einfühlsam geht der Korrespondent mit ihnen um, lässt jede kritische Distanz fahren; umstandslos setzt er die vertrauensvolle Beschriftung der Haubitze (“Almighty”) ins Bild und resümiert verständnisvoll, dass für diese Männer, von denen “kaum einer an Tod oder Verwundung oder an die politischen Konsequenzen des Krieges” denkt, “jetzt nicht mehr die Zeit” sei, ihre Entscheidung für den Krieg “in Frage zu stellen”. Soldatenperspektive und journalistisches Wahrnehmungsdispositiv sind hier bereits am Vorabend des Krieges weitestgehend verschmolzen. IV. – 20. März Um 3.30 Uhr MEZ beginnt der Angriff der alliierten Truppen. Die ersten Bilder der Abendnachrichten – trotz der den ganzen Tag laufenden Sondersendungen herrscht höchste Anspannung: Die Abendnachrichten bündeln schließlich das Geschehen der vergangenen 24 Stunden im Programmfluss und reflektieren den neuesten Stand. Wörtlich und graphisch überschlagen, genauer: überlagern sich die Bilder und Informationen. “Seit etwa 19 Uhr herrscht in Bagdad Luftalarm.” Mit diesem Satz eines Off-Sprechers beginnt die Tagesschau – dazu der visuelle Auftakt, noch bevor die Nachrichtensprecherin Susanne Daubner ins Bild gesetzt wird: grüne, mit Nachtsichtgeräten realisierte Aufnahmen sich bewegender und aufblitzender Leuchtpunk-
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te, wie wir sie vom Afghanistan-Krieg kennen. Was diesen Bildern an denotativem Gehalt abgeht, bringen sie konnotativ zur Geltung. Im linken oberen Eck weht als Logo die amerikanische Flagge, graphisch überlagert von den Schrifttiteln “Live” und “Exclusive”, während an der unteren Bildkante auf drei Zeilen Lauftitel mit unterschiedlicher Geschwindigkeit tickerartig die eigentlich nichtssagenden Bilder mit Nachrichtenstichworten dramatisierend aufladen. Einen visuellen Ruhe- und Orientierungspunkt liefert lediglich das Senderlogo von Fox News am linken unteren Bildrand und – mit Abstrichen – der rechts unten, diagonal zur US-Flagge platzierte US-Aktienindex (alternierend S&P, Nas). Nicht nur ist man geneigt, in der visuellen Anordnung dieses hochgradig synthetischen Fernsehbilds, das exklusive Live-Authentizität verspricht, geradezu emblematisch das Zusammenwirken der Trinität von Staat (Flagge), Medien (TV-Logo) und Wirtschaft (Börsenindex) zu sehen: ein Zusammenhang, der das Kriegsgeschehen rahmt und in dem dieses sich körperlos, abstrakt-zeichenhaft entfaltet. Darüber hinaus muss es erstaunen, dass die Tagesschau, die so gern auf ihre journalistischen Tugenden verweist, die ersten Bilder eines Krieges, die als Schlüsselbilder im Mediengedächtnis gemeinhin von besonderem Erinnerungswert sind, ausgerechnet von einem US-Sender bezieht, der für sein notorisch nationalistisches Pathos hinlänglich bekannt ist. Allerdings zeigt sich auch das Novum dieses Krieges schon bald. Zum einen bleiben die gezeigten Bilder sowie die von offizieller Seite geäußerten Verlautbarungen von Reportern und Sprechern nicht fraglos unbewertet. Im Gegenteil: So als hätte man die Lektion aus den letzten Kriegen gelernt, wird sprachlich in einem zuvor nicht bekannten Ausmaß Distanz zu den Meldungen gehalten, was die Nachrichtenlage schließlich fast völlig unter hypothetischen Vorbehalt stellt (‘... sollen angegriffen, getroffen, getötet usw. haben’); ein Befund, der sich in den nächsten Tagen noch erhärten wird. Um so mehr fällt dann – quasi die Ausnahme, welche die neue SprachRegel(-ung) bestätigt – der Indikativ eines Stephan Kloss im telefonisch zugeschalteten Bericht aus Bagdad am 20. 3. aus dem neuen Rahmen, wenn er – zumal in einer zwischenzeitlich journalistisch fast obszön gewordenen Begrifflichkeit – “von einer Art chirurgischem Angriff” auf das Regierungsviertel berichtet. Zum anderen – dies ist das wohl noch bedeutsamere Novum – gibt es diesmal Risse im Netz der internationalen Kriegsberichterstattung. Allein die Tagesschau am Tag des Angriffs auf den Irak vermittelt davon eine Vorstellung: Den schon erwähnten Bildern von Fox News folgen Bilder von Al-Jazeera TV, der amerikanischen ABC und des irakischen Staatsfernsehens. Das ZDF wird, abgesehen von NBC-Beiträgen, an diesem Abend darüber hinaus auch noch Bilder vom arabischen TV-Abu Dhabi übernehmen. Damit wird insgesamt gegenüber dem ersten US-Golfkrieg und dem Kosovokrieg ein formal wesentlich breiteres, zumal hinsichtlich der
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Urheberschaft perspektivisch gebrochenes Spektrum an Bildern des Krieges angeboten. Das Problem aber ist, ob sich nach einer Vielzahl von Arbeitsgängen diese vorhandene formale Vielfalt als eine qualitativ inhaltliche und perspektivische Brechung einander in Frage stellender Ansichten erweist: also nach der Synthetisierung von ursprünglichem Reportagebild, sprachlicher Kommentierung vor Ort und späterer Bewertung in der Redaktion, nach der visuellen Aufbereitung des tatsächlich gesendeten Bildes und der Studio-Präsentation durch einen Sprecher oder Moderator. – Mit anderen Worten: Trägt die Vielfalt der Bilder(-herkunft) zu einer Differenzierung der Ansichten vom Kriege bei, oder geht sie in einer konturlosen Amalgamierung der bewegten Bilder, einer Konfusion im wörtlichsten Sinne auf? Die ARD-Tagesschau zeigt an diesem Abend, welche produktiven Möglichkeiten der Berichterstattung sich vor diesem Hintergrund ergeben. Den nichtssagenden grünstichigen Nachtbildern bewegter Lichtpunkte in den Fox-News setzt sie konkrete Opferbilder (Verletzte in einem Krankenhaus) des irakischen Staatsfernsehens entgegen. Diese mögen unter Umständen aus gänzlich anderen Zusammenhängen stammen, mithin also einen propagandistischen Fake darstellen, aber als konkrete Vorstellungsbilder dessen, was Granaten und Marschflugkörper in Bagdad anzurichten vermögen, taugen sie allemal – jedenfalls mehr als die nahezu abstrakten Bilder der Fox-News. Petra Gerster in der Heute-Sendung dieses Tages treibt unfreiwillig den Realismus des medialen Dilemmas in dieser Situation hervor. Das nichtssagende Standbild (offensichtlich) einer Webcam im nächtlichen Bagdad soll der “aus Sicherheitsgründen” nur telefonisch zugeschaltete Korrespondent Ulrich Tilgner kommentieren. “Wir sehen nichts, aber wir hören die Töne”, heißt es – bevor die Telefonleitung zusammenbricht. Eine sichtlich irritierte, sich verhaspelnde Petra Gerster sagt, nach mehreren angekündigten Umschaltungen, die nicht funktionieren: “Wir warten auf die Bilder ...” Als für Sekunden ein ähnlich nichtssagendes Bild einer anderen Webcam eingespielt wird, versucht journalistische Routine auf groteske Weise zu camouflieren, was die Bilder nicht hergeben: “... heftiges Feuer, offenbar wehren sich die irakischen Streitkräfte heftig ... Das Feuer ist inzwischen ununterbrochen, wie wir sehen”. – Schließlich kommt eine Bild- und TonSchaltung nach Kuwait zustande, das am Morgen von einem irakischen Marschflugkörper angegriffen worden sein soll. Zwar sehen wir Bilder eines Luftalarms, doch der Erkenntnisgewinn angesichts des (sich später als Falschmeldung erweisenden) irakischen Angriffs tendiert gegen Null. “Konfusion auch bei uns Journalisten”, meldet Halim Hosny nach Mainz. Deutlicher hätte das auf Bilder angewiesene Fernsehen kaum zeigen können, wie es hier an seine journalistischen Grenzen stößt, ohne diese bewusst zur Kenntnis zu nehmen oder gar zu thematisieren.
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V. – 21. bis 23. März Man mag einwenden, dass dafür Nachrichtensendungen nicht das geeignete Format darstellen. Dies umso mehr, als die mediale Selbstreflexion – ebenfalls ein auffälliges Novum nach den Erfahrungen des ersten US-Krieges am Golf und im Kosovo – tatsächlich von Kriegsbeginn an einen bemerkenswert breiten Raum einnimmt: in den Sondersendungen (ARD-Brennpunkt, ZDF-Spezial) oder in Hintergrundsendungen, mit denen sich vor allem WDR 3 hervortun sollte. Allerdings zeigt sich auch hier die begrenzte Reichweite der medialen (Selbst-)Kritik. Symptomatisch erscheint ein Beitrag im ARD-Brennpunkt am 21. 3. Zwar liefert die ARD-Korrespondentin in Washington eine ebenso prägnante wie anschauliche Kurzanalyse über die Problematik der embedded correspondents von CNN, CBS und Fox; doch welche Konsequenzen dies für die Berichterstattung des deutschen Fernsehens hat, das ja immer wieder auf diese Bilder zurückgreift, wird nicht problematisiert – auch nicht vom Moderator dieses Brennpunkts, Jörg Schönenborn. Dies geschieht selbst dann nicht, als dieser, im weiteren Verlauf seiner Sendung, den in Kuwait ansässigen ARD-Korrespondenten, Arnim Staudt, per Direktschaltung nach dessen Zugangsmöglichkeiten zu Informationen aus dem Irak befragt und eine bemerkenswert freimütige Antwort erhält: Trotz der geographischen Nähe seien die dort ansässigen Korrespondenten, “besonders die deutschen”, auf “die gleichen Quellen angewiesen, die Sie in Deutschland haben”, also auf die großen amerikanischen Networks mit ihren “eingebetteten” Berichterstattern. Deutlich aus dem Rahmen fällt die ARTE-Spezial-Sendung vom 23. 3. Sie widmet sich ausführlich der Berichterstattung in einer Bilanz der ersten vier Kriegstage und schildert drastisch die Arbeitsmöglichkeiten der Kriegskorrespondenten unter den konkreten Bedingungen eines Militärs, das einerseits aus Legitimationsgründen die Medien für seine Informationspolitik benötigt, andererseits sie entsprechend einer immanenten militärischen Logik nachgerade für Propagandazwecke instrumentalisieren muss. Denn eines sei doch klar, so der Korrespondent Marc-Antoine Valverde: “Ein Krieg ist eine viel zu ernste Sache, als dass man sie Journalisten überlassen könnte.” Es gibt verschiedene Wege, mit diesem Problem umzugehen: Bilder liefern zu müssen, die doch nur fragwürdige Bilder aus zweiter Hand sind. ‘Authentizität’ ist – wie wir aus jüngeren dokumentarfilmtheoretischen Diskussionen wissen – weniger eine inhärente Qualität von Filmbildern, denn vielmehr ein Rezeptionseffekt auf Zuschauerseite. Wenn nun die Bilder der embedded correspondents so offensichtlich des Authentischen entraten, liegt es nahe, andere Formen des auratisch Authentischen zu repräsentieren. Am 22. 3. moderiert Fritz Frey den ARD-Brennpunkt zum Irak-
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Krieg (“Bomben auf Bagdad”). “Unser Thema lässt keinen kalt”, heißt es, und wer könnte nicht ‘authentischer’ seine Haltung zum Irak-Krieg zum Ausdruck bringen als die Prominenz des insbesondere kulturellen Lebens. Und so geschieht es: Der gnadenlos populistisch-populäre Chorleiter Gotthilf Fischer, die Alt-Ikone des Feminismus Alice Schwarzer, der Kabarettist Dieter Hildebrandt, ja selbst der als “Olympiasieger” vorgestellte Langstreckenläufer Dieter Baumann drücken ihre tiefe Betroffenheit angesichts der Kriegsereignisse im Irak aus. Routiniert spielt Fritz Frey den Ball ins Kölner Studio zu Jörg Schönenborn weiter, wo man sich darauf eingerichtet hat, weniger prominenten, ratsuchenden “Betroffenen”, dem namenlosen Fernsehpublikum, mit einem im Studio versammelten Expertenteam zur Seite zu stehen; etwa wenn es um die Frage geht “Wie viel Krieg im Fernsehen dürfen Kinder mitbekommen?” oder “Was ist mit dem Türkei-Urlaub zu Ostern?” Die kostenlose Info-Hotline stehe die ganze Nacht über zur Verfügung (Telefon 0800 221 3000 / eMail:
[email protected]). Wenn es um “Betroffenheit”, insbesondere um “ganz persönliche” (Schönenborn) geht, der das Fernsehen Linderung anzubieten verspricht, ist die Satire auf den Plan gerufen. Tatsächlich offenbaren vor diesem Hintergrund Harald Schmidts allabendliche Mokerien über die Präsenz und die mediale Behandlung des “Angriffs unserer amerikanischen Freunde auf unsere irakischen Freunde” im Fernsehen dieser Tage mehr analytisches Bewusstsein als so manch ernsthaft bemüht-selbstreflexiver Beitrag. Wenn Schmidt etwa nach dem ersten Kriegstag den vom US-Flugzeugträger startenden Bomberpiloten nach 42-maligem Sehen schon “persönlich zu kennen” meint (“Es gibt ja nur wenige Bilder”), wenn er die Fernsehauftritte deutscher Politiker im Fernsehen in ihrer Zuschauerwirkung auf groteske Wechselbäder diffuser “Betroffenheitsgefühle” reduziert sieht (Müntefering: “Angst in Deutschland” vs. Schröder: “kein Grund zur Panik und zur besonderen Sorge”) oder wenn er Talkshows und Gesprächsrunden mit dem Experten der Stunde, Peter Scholl-Latour, zur Selbstinszenierung eines nichtsagend grummelnden Selbstdarstellers werden lässt (alle Beispiele 20. 3.), – dann werden hier Strukturen und Funktionsmechanismen im Fernsehalltag satirisch kenntlich gemacht und freigelegt, die auf der Oberfläche von Bild und Programm der unmittelbaren Anschauung sich so selbstverständlich nicht erschließen. VI. – 23. bis 25. März Der Vormarsch der Amerikaner auf Bagdad verläuft nicht so zügig wie geplant, Präsident Bush dämpft die Erwartungen auf einen schnellen Sieg und beantragt im Kongress zusätzliche 75 Milliarden $ für den Krieg. Vor allem aber gehen am 23. 3. Bilder von ersten getöteten und gefangenen US-
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Soldaten um die Welt – “ein schwarzer Tag für Amerika”, wie ARTE-Info titelt. Es sind Bilder, die der Sender Al-Jazeera in Umlauf gebracht hat. Ausführlich widmet sich ARTE-Info am 23. und 24. 3. dem von Präsident Bush und seinem Minister Rumsfeld erhobenen Vorwurf, mit der Veröffentlichung dieser Bilder gefangener und getöteter GIs (Rumsfeld: “They do a wonderful job” [!]) werde die Genfer Konvention verletzt. Breiten Raum gibt ARTE, um die widersprüchliche Praxis in den westlichen Medien zu reflektieren. So habe das britische Fernsehen die Bilder der gefangenen Amerikaner zunächst nur verschlüsselt, dann aber, nachdem die Gesichter aus der Presse schön längst bekannt waren, unverschlüsselt gezeigt. In einem Interview weist der Leiter des Pariser Büros von Al-Jazeera darauf hin, dass die westlichen Medien seit Jahren Bilder etwa palästinensischer Gefangener in entwürdigender Position wie selbstverständlich veröffentlichen würden. – Die Tagesschau vom 2. 4. wird dafür einen Beweis der besonderen Art liefern: Sie zeigt Bilder britischer Journalisten, auf denen sich irakische Gefangene in der Wüste vor Soldaten der Alliierten buchstäblich nackt ausziehen müssen. Erscheinen allein schon die kriegsrechtlichen Bestimmungen lediglich als Funktionsgrößen innerhalb eines militärisch bestimmten journalistischen Wahrnehmungsdispositivs, so erst recht etwaige medienethische Überlegungen. Dies gilt vor allem für die Darstellung ziviler Opfer oder trauernder Überlebender des Krieges. Auffällig ist, dass in den zahlreichen Beiträgen, in denen über die TV-Berichterstattung nachgedacht wird, die etwaige Verletzung von Persönlichkeitsrechten der zivilen Opfer überhaupt kein Thema darstellt – bemerkenswerterweise auch in den angesprochenen ARTE-Sendungen nicht. VII. – 27. bis 31. März Die Strategie der US-Regierung, insbesondere die des Ministers Donald Rumsfeld, gerät auch in den USA immer stärker in die Kritik: Entgegen militärischem Rat hätte die politische Führung mit nicht ausreichenden Truppenkontingenten den Einmarsch zum jetzigen Zeitpunkt gewagt. Oberbefehlshaber Tommy Franks hält – wider den von Politik und US-Medien geschürten Erwartungen auf einen raschen Sieg – noch monatelange Kämpfe für möglich. In dieser Situation gewinnen auf dem Bildschirm nicht nur die Bilder von Al-Jazeera und TV-Abu Dhabi an Gewicht, sondern auch die Korrespondentenberichte der in Bagdad weilenden Christoph Maria Fröhder (ARD) und Ulrich Tilgner (ZDF). Sie bringen vor allem die Opferperspektive der unter Versorgungsmängeln und Bombardements gleichermaßen leidenden Zivilbevölkerung zur Geltung. Und wo ihnen angesichts verordneter Bewegungseinschränkungen nur gezielte, vom Informationsministerium
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begleitete Ortsbesichtigungen möglich sind, versuchen sie als nachdenkende Reporter, den unmittelbaren Augenschein zu durchbrechen und ihn in einer weiteren Dimension zu vermitteln. So, wenn in einem ZDF-Spezial (27. 3.) die Kosten für die allein in einer Nacht in Bagdad niedergegangenen 40 Tomahawk-Raketen (“Stückpreis 1,4 Millionen $”) errechnet werden: knapp 60 Millionen $, eine Summe, die exakt dem Betrag entspreche, die der UNFlüchtlingskommissar veranschlage, um die 600.000 irakischen Flüchtlinge einen Monat lang ernähren zu können. “Die Kriegskosten sind gedeckt, die humanitäre Hilfe nicht.” So, wenn am 29. 3. die Bombardierung eines Marktplatzes inmitten eines Wohngebiets am Rande Bagdads gemeldet wird: Fröhder berichtet zuerst in Bild und Ton über die zahlreichen Toten und Verletzten der Zivilbevölkerung (“Selbst hartgesottene Kollegen waren nach dem Besuch im Krankenhaus sprachlos”), um dann den Widerspruch zwischen amerikanischem Aufklärungspotenzial (“keine zivilen Ziele”) und tatsächlichem Waffeneinsatz zu thematisieren. Tilgner liefert in einer telefonischen Zuschaltung eine Argumentationskette, die – ausgehend von konkreten Beispielen gezielten Einsatzes von Präzisionswaffen (“Präzision vom Feinsten”) – die Bombardierung ziviler Ziele wie die jenes Marktplatzes nur als Strategie einer gewollten Vertreibung der Zivilbevölkerung gelten lässt. “Wenn die USA treffen wollen, treffen sie ganz genau.” Hier werde “mit dem Schicksal der Menschen gespielt. Man möchte einfach, dass die Leute Bagdad verlassen”. Solche Beobachtungen und Schlussfolgerungen konterkarieren das von den Militärs und den amerikanischen Fernsehstationen beschworene Bild eines Befreiungskrieges. Sie tun es umso mehr, als die Bilder von AlJazeera und TV-Abu Dhabi ein Übriges dazu beitragen, um die Opferperspektive der irakischen Bevölkerung zur Geltung zu bringen. In dieser Phase des Krieges zumindest zeitigt der Verlust der medialen Monopolstellung für die US-Politik Folgen. Das gilt insbesondere für die Informationspolitik der Militärs, für die das ZDF-Heute Journal am 29. 3. eine besonders blamable, weil mit nichtssagenden Video-Bildstereotypen operierende Pressekonferenz als Beispiel anführt und die Geoff Meade von den britischen Sky News kommentieren lässt: “Was den Krieg der Bilder angeht, den gewinnen im Augenblick die Iraker. Da gibt es diese Schreckensbilder verletzter und toter Zivilisten in Bagdad. Sie prägen für die arabischen Länder und auch für den Rest der Welt das Bild des Krieges. Wenn das hier eine Hollywood-Inszenierung ist, dann ist sie schlecht gemacht.” VIII. – 8. März Das Hotel “Palestine”, Unterkunft der meisten ausländischen Korrespondenten, wird von US-Militär gezielt beschossen: Zwei Kameraleute werden
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getötet, womit sich die Zahl der zu Tode gekommenen Auslandsjournalisten auf 10 erhöht, ein weiterer Journalist wird noch am gleichen Tage an seinen schweren Verletzungen sterben. Vor allem der Versuch amerikanischer Stellen, den Beschuss als Antwort auf ein angeblich aus der Lobby eröffnetes Feuer darzustellen, wird angefochten, und der Vorfall erfährt als Bruch des Völkerrechts scharfe Kritik durch die Internationale Journalistenvereinigung. Christoph Maria Fröhder berichtet in der Tageschau (8. 4.), dass schon am Vormittag amerikanische Flugzeuge die Fernsehstationen von AlJazeera und TV-Abu Dhabi angegriffen hätten, wobei ein Kameramann getötet worden sei. Damit insinuiert Fröhder unausgesprochen, dass die USMilitärs aus einem ‘Krieg der Bilder’ bewusst nun auch einen heißen ‘Krieg gegen die Bilder’ gemacht hätten, in den darüber hinaus auch das deutsche Publikum involviert sei, da das Opfer, so Fröhder, “auch schon für die ARD berichtet hat”. Dann folgt der Bericht über den Beschuss des Hotels “Palestine” und die Opfer. “Schock und Trauer: Den meisten Berichterstattern wurde erst jetzt klar, dass sie sich ebenfalls im Visier beider Kampfparteien befinden.” In der Heute-Sendung des ZDF vom Tage erinnert man an den deutschen Focus-Korrespondenten Christian Liebig, der einen Tag zuvor als embedded correspondent bei einem irakischen Raketenangriff getötet wurde. “Die Zuschauer haben sich daran gewöhnt: an die sogenannten embedded correspondents”, leitet die weibliche Stimme aus dem Off den Beitrag ein und leistet mit dieser Behauptung einem neuen rhetorischen Muster sowie einem neuen journalistischen Selbstverständnis – die eigene Handlungsrolle betreffend – Vorschub. In dem Maße, wie die in Bagdad akkreditierten Journalisten unter amerikanischen Beschuss und die pool reporter unter irakisches Feuer geraten, schwinden auch die statusbezogenen Aus- und Abgrenzungen (‘man habe sich daran gewöhnt’) von den ‘Eingebetteten’. Das drückt sich allein schon äußerlich aus: Wie Stephan Kloss sehen wir zahlreiche andere ‘unabhängige’ Journalisten aus dem “Palestine”-Hotel, die sich mit schusssicherer Weste, Stahlhelm usw. ihren in die amerikanischen Kampfeinheiten ‘eingebetteten’ Kollegen zunehmend im Outfit angleichen. Und wie diese können sie nicht umhin, in dieser konkreten Situation Partei zu ergreifen – wenn auch im entgegengesetzten Sinne. Ulrich Tilgner liefert ein eindrucksvolles Beispiel dafür, dass eine solche Parteilichkeit weder auf Dezisionismus noch auf Pragmatismus, sondern auf plausiblen Schlussfolgerungen gründlicher journalistischer Recherche beruht: so wenn er die amerikanische Version des “Palestine”-Beschusses detailliert und mit genauen topographischen Belegen als eine “absurde” und “fadenscheinige Behauptung” widerlegt.
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IX. – 9. April Drei Wochen nach Kriegsbeginn fällt Bagdad; US-Truppen bringen das Zentrum der Stadt unter Kontrolle. Ein Ereignis solcher Bedeutung und Tragweite verlangt nach Schlüsselbildern für das mediale Gedächtnis. Die Abendausgabe der Tagesschau bringt es mit dem Sturz der Saddam-Statue auf dem Paradise-Platz bildlich wie sprachlich auf den Begriff. “Die Symbole der Macht fallen in der irakischen Hauptstadt. Am Nachmittag wird eine tonnenschwere Saddam-Hussein-Statue in Bagdad zu Fall gebracht [Schriftinsert: “16:49:03”]. Weltweit sind Millionen Zuschauer live dabei. Mehrere Stunden hatten Iraker versucht, das Standbild des Diktators vom Sockel zu stürzen. Und letzten Endes gelang es ihnen – mit amerikanischer Hilfe.” Eine genaue Betrachtung dieser Schlüsselbilder, zumal im Kontext der anschließenden (sprachlichen und bildlichen) Erläuterungen, lässt aber deren politische Bedeutung wesentlich zwiespältiger erscheinen. Was die Nachrichtenredaktion symbolisch zu verdichten suchte: den Eindruck, ein Volk befreit sich von seinem Diktator – wenngleich mit Unterstützung der USA, das wird durch die Bilder mitnichten abgedeckt. Von den Tausenden von Irakern, die vom Off-Sprecher im weiteren Kommentar auf dem ParadisePlatz ausgemacht wurden, sind im Bild tatsächlich nur ein Bruchteil, einige Hundert, zu sehen. Die Euphorie der Befreiung hält sich bei den Irakern, in diesen Bildern deutlich erkennbar, in Grenzen. Anstatt die Triumphpose der siegreichen Invasoren zu exponieren – GIs umhüllen zunächst den Kopf der Statue vor deren Schleifung mit einer US-Flagge –, erscheint diese bedeutungsträchtige Szene im Beitrag als – aus amerikanischer Sicht – politisch und diplomatisch wenig opportune nach hinten verschoben. Dies findet seine positive Entsprechung in den Zwischenschnitten, die metonymisch aufgeladene Bilder von Irakern zeigen, die sich mit pro-amerikanischen Willkommensformeln förmlich überbieten. Eine differenzierte Perspektivierung der Geschehnisse wird vermieden, im Gegenteil: Unkommentiert bleibt Vizepräsident Cheneys eingespielte Prophezeiung, dass das Ende dieses Krieges “eine der erfolgreichsten Militärkampagnen bedeuten [würde], die je unternommen wurden”; unkommentiert bleibt Donald Rumsfelds fragwürdige Analogisierung geschichtlicher Ereignisse, der Sturz der SaddamStatue erinnere an den Fall der Berliner Mauer und den des Eisernen Vorhangs. Dieser – voll im Einklang mit der offiziellen amerikanischen Politik stehende – (Re-)Präsentationsmodus trägt jedoch nicht lange. Schon am 9. 4. wird von der Tagesschau registriert, dass mit den “Jubelnden auch die Plünderer” kämen. Was aber zu diesem Zeitpunkt von den verantwortlichen Redakteuren noch als fröhlich-karnevaleske Anarchie ins Bild gesetzt wird – die Plünderung etwa des Landwirtschaftsministeriums –, das wird bereits
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einen Tag später (10. 4.) vom ARD-Korrespondenten Fröhder auch angesichts der Plünderung und Verwüstung der deutschen Botschaft in mehrfacher Hinsicht als mehrdeutiges Menetekel einer brisanten Gemengelage interpretiert: als Ausdruck der materiellen Notlage der irakischen Bevölkerung, als sichtbare Absenz jeglicher Ordnungsmächte, mithin als Manifestation eines gefährlichen Machtvakuums, sowie schließlich als Zeichen der – in außenpolitischer Hinsicht – “schwierigen Freundschaft” zwischen dem Irak und Deutschland; eine Feststellung, die sich emblematisch verdichtet im Bild der beiden zerfetzten, im Stacheldraht hängenden Fahnen der Botschaft. X. – 12. April Von einer partiellen Umdefinition journalistischer Handlungsrollen, die die Kriegsereignisse mit sich gebracht hätten, war oben die Rede, und von einer im Grunde unvermeidbaren Parteilichkeit. Man könnte ergänzen, dass journalistisches Handeln keineswegs nur im Beobachten und Berichten aufgeht, sondern auch politisches Handeln beinhaltet. Ein besonders anschauliches Beispiel dafür liefert Ulrich Tilgner, wie die Heute-Sendung vom 12. 4. zeigt. Berichtet wird, der irakische Präsidentenberater und Chef der Abrüstung, Ex-General Amir el Saadi, habe den Korrespondenten Tilgner aufgesucht, um von ihm den US-Militärs überstellt zu werden. Aus dem Fernsehen will der ranghohe Iraker erfahren haben, die USA fahndeten nach ihm. Der Ahnungslosigkeit und dem Unverständnis der GIs, die ihn nun in Empfang nehmen, steht der Nachdruck des Korrespondenten gegenüber, mit dem er Amir el Saadis Versicherung, im Irak gebe es keine Massenvernichtungswaffen, Glaubwürdigkeit zu verleihen sucht. Insistierende Nachfrage von Petra Gerster: “Sagt er die Wahrheit?” – “Ich glaube schon. [...] Er möchte, dass die Wahrheit herauskommt, für ihn gab es keinen wirklichen Grund, diesen Krieg zu beginnen.” XI. Kriegsberichterstattung ist, wie jede TV-Berichterstattung, eine Form der medialen Konstruktion von Wirklichkeit; allerdings nach einem militärischen Szenario. Unser Anliegen war zu zeigen, welche journalistischen Handlungsrollen und welche Rollendistanz in den verschiedenen Phasen der Entwicklung zum und im Irakkrieg 2003 dominierten. Gleichzeitig ist deutlich geworden, dass sich diese Rollenbilder im Verlauf der Auseinandersetzung veränderten – bis hin zur unmittelbaren und unfreiwilligen Involvierung, sei es als Opfer (im beschossenen Hotel “Palestine”), sei es als Unterhändler (Tilgner). Auch das greift ein in die Perspektive der Berichterstattung und ihrer Bilder.
ABBILDUNGEN ZU DEN
BEITRÄGEN VON
MANUEL KÖPPEN JÜRGEN WILKE HEINZ-PETER PREUSSER UND
OLE FRAHM
Abb. 3.1. Ernest Meissonier: 1807 – Friedland. 1875.
Abb. 3.2. Alphonse de Neuville: Défense de la porte de Longboyau (21. Oktober 1870). 1879.
Abb. 3.3. Felix Emmanuel Henry Philippoteaux: La Défense de Paris. 1871.
Abb. 3.4. Anton von Werner: Sedan-Panorama. 1883.
Abb. 3.5. Standbilder aus David W. Griffith: Birth of a Nation. USA 1914/15.
Abb. 4.1. Newe Zeytung aus dem Türkenkrieg 1576.
Abb. 4.2. Die Mörderische Schlacht bei Silistria – Gefecht zwischen Russen und Bulgaren im Jahre 1854, Neuruppiner Bilderbogen.
Abb. 4.3. Die Illustrierte Kriegszeitung berichtet über “Filmer bei unseren Seehelden”.
Abb. 7.1. Jagd mit der “fotografischen Flinte” des Etienne-Jules Marey. © Deutsches Technikmuseum Berlin.
Abb. 7.2. Die Unschlagbaren. Werbung für Nikons F4. © Kiefer Mosimann Kommunikation AG, Zürich.
Abb. 7.3. Standbild aus Roger Spottiswoode: Under Fire. USA 1982. © MGM Home Entertainment, Frankfurt/M. Der Film ist dort als DVD und als Video-Tape erhältlich.
Abb. 7.4. Standbild aus Volker Schlöndorff: Die Fälschung. BR Deutschland / Frankreich 1981. © Bioskop Film GmbH, München.
Abb. 7.5. Standbilder aus Milcho Manchevski: Vor dem Regen. England /Frankreich / Mazedonien 1994. © Universal Studios Media Licensing, Universal City, CA, USA.
Abb. 7.6. Standbild aus Emir Kusturica: Underground. Frankreich / Deutschland / Ungarn 1995. © Pandora Film, Köln.
Abb. 7.7. Standbild aus Theo Angelopoulos: Der Blick des Odysseus. Griechenland / Frankreich / Italien 1995. © Paradis Films, Paris.
Abb. 12.1. George Herriman: Krazy & Ignatz. The Sunday Pages. 1918. © King Features Syndicate, Inc., Orlando, FL, USA. The Hearst Corporation.
Abb. 12.2. Harvey Kurtzman: Rubble! Aus Two-Fisted Tales. © William M. Gaines, Agent, Inc. Contact: Jack N. Albert, Attorney, Boca Raton, FL, USA.
Abb. 12.3. Jacques Tardi: Grabenkrieg. Zürich 2002. © 2002 Edition Moderne, Zürich. 1993 Casterman, Belgien.
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Michael Kunczik
Public Relations in Kriegszeiten – Die Notwendigkeit von Lüge und Zensur Denn wer wäre so töricht, daß er Krieg wählte statt Frieden? Im Frieden bestatten die Söhne ihre Väter, im Kriege hingegen die Väter die Söhne.1 This article begins with historical aspects of war reporting. The French revolution had changed the character of warfare and stimulated Carl von Clausewitz to develop his idea in On War that the central aspect of warfare is not physical force but morale. The war aim is to break the enemy’s morale. From this point of view lying and propaganda are important instruments of warfare. Another theoretical reason for the censorship of war reporting is communication. Any state waging war has to justify and ennoble its cause, e. g. via dialectic contortions. To stabilise belligerent public opinion, the enemy is stigmatised as an aggressor or a non-human monster. Attempts to manipulate the world’s opinion are discussed in special reference to the role of public relations agencies. The article concludes with some remarks on the war on terrorism.
I. Historische Vorbemerkungen Kriegsberichterstattung besitzt eine lange Tradition. Bereits Homer verfasste in der Odyssee detaillierte Schilderungen von Kämpfen. Thukydides (ca. 460–396 v. Chr.), der sich um eine objektive Geschichtsschreibung bemühte, versuchte, die “Wahrheit” auch über den Peloponnesischen Krieg herauszufinden.2 Ganz anders ließ der “Vater der Geschichte” (so Cicero), Herodot von Halikarnassos (484–425 v. Chr.), seine Sympathien und Antipathien in die Geschichtsschreibung einfließen,3 weshalb er auch als Presseagent im
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Herodot: Historien Bd. 1. Kroisos und Solon. In der Geschichte des Peloponnesischen Krieges schreibt Thukydides: “Was aber tatsächlich geschah in dem Kriege, erlaubte ich mir nicht nach Auskünften des ersten Besten aufzuschreiben, auch nicht ‘nach meinem Dafürhalten’, sondern bin Selbsterlebtem und Nachrichten von andern mit aller erreichbaren Genauigkeit bis ins einzelne nachgegangen. Mühsam war diese Forschung, weil die Zeugen der einzelnen Ereignisse nicht dasselbe über dasselbe aussagten, sondern je nach Gunst und Gedächtnis.” Thukydides: Geschichte des Peloponnesischen Krieges. Hg. und übers. von Georg Peter Landmann. München 1981. S. 22. 3 Alfred Sturminger: 3.000 Jahre politische Propaganda. Wien, München 1960. S. 51. 2
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Dienste Athens bezeichnet wird.4 Alexander der Große war nach Sturminger der Schöpfer der ersten “Kriegsberichterstatter-Einheit”.5 Berichte über den Kriegsverlauf wurden an den Hof gesandt, dort vervielfältigt und verbreitet. Kaiser Maximilian I. (1493–1519) war der erste, der nach der Erfindung des Buchdrucks die “Massenmedien” im Kontext der Kriegsberichterstattung zu instrumentalisieren versuchte. Durch einseitige Kriegsberichte sollte die Stimmung im Reich beeinflusst werden, wobei auch die Neuen Zeitungen benutzt wurden.6 In früheren Zeiten war die Medienberichterstattung über Kriege wesentlich ausgeprägter. Aufgrund einer Inhaltsanalyse der deutschen Presse im Zeitraum 1622 bis 1906 argumentiert Jürgen Wilke: “Man kann – relativ gesehen – geradezu von einer [...] ‘Entmilitarisierung’ der ‘Medienrealität’ sprechen. Früher bot sich den Lesern durch die Zeitung noch mehr als heute das Bild einer durch Krieg und militärische Aktionen beherrschten Welt”.7 Krieg war bis zur Napoleonischen Zeit ein Aspekt der Geheimdiplomatie. Die Öffentlichkeit bzw. das Volk wurde in der Zeit der Kabinettskriege8 nicht gezielt informiert. Die Berichterstattung erfolgte ohne Aktualitätsdruck. So begleitete Goethe 1792 für fünf Monate die “Kampagne in Frankreich 1792”, das heißt den preußischen Feldzug gegen Frankreich und veröffentlichte seinen Bericht erst 1820/21 in Aus meinem Leben; Zweiter Abteilung fünfter Teil; Auch ich in der Champagne! 9 Napoleon, der sich der 4
George Sylvester Viereck: Spreading Germs of Hate. New York 1930. S. 16f. Sturminger: Politische Propaganda (Anm. 3). S. 386. 6 Hermann Wiesflecker: Kaiser Maximilian I. Das Reich, Österreich und Europa an der Wende der Neuzeit. Bd. V. Der Kaiser und seine Umwelt: Hof Staat, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur. München 1986. S. 454. 7 Jürgen Wilke: Wie das Bild der Welt seinem Zusammenhang verlor. Der Wandel der Nachrichtenauswahl in vier Jahrzehnten. In: forschung – Mitteilungen der DFG 1 (1984). S. 28. Ausführlicher in ders: Nachrichtenauswahl und Medienrealität in vier Jahrhunderten. Berlin 1984. S. 164ff. 8 Michael Salewski: Tier aus der Tiefe. Aufklärung über den Krieg. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23. 3. 2002. S. 11. Er schreibt: “Die Vorstellung, der Kabinettskrieg, wie er nach 1648 Mode wurde, sei Ausdruck der Aufklärung und der Staatsräson, der Rationalität, der Rechenhaftigkeit, der Emotionslosigkeit und merkantilen Denkens gewesen; die Idee, der Krieg sei wie ein Schachspiel, mit festen Regeln auf einem begrenzten Spielfeld zu führen, war immer nur ein Traum. [...] Was wir landläufig mit dem Begriff ‘Kabinettskrieg’ verbinden, ist ein Euphemismus.” 9 Detailliert schildert Goethe die Kriegshandlungen, wie z. B. das Bombardement von Verdun am 31. August: “Um Mitternacht fing das Bombardement an, sowohl von der Batterie auf unserem rechten Ufer als auch von einer anderen auf dem linken, welche, näher gelegen und mit Brandraketen spielend, die stärkste Wirkung hervorbrachte. Diese geschwänzten Feuermeteore mußte man denn ganz gelassen durch die Luft fahren und bald darauf ein Stadtquartier in Flammen sehen. Unsere 5
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Bedeutung der öffentlichen Meinung bewusst war, lieferte sich mit dem Rest von Europa einen regelrechten Propagandakrieg.10 In den Napoleonischen Kriegen hat sich erstmals ein Militär über einen Journalisten beschwert. Duke Wellington teilte in einem Brief vom 21. 12. 1809 aus Badajoz dem Kriegsminister Lord Liverpool mit, die Berichte des Times Journalisten Henry Crabbe Robinson würden den Krieg so detailliert beschreiben, dass der Gegner exakte Informationen über die Zahl der Regimenter, deren Stellung, Bewaffnung und Kampfmoral bekommen würde.11 Das Argument, der Gegner bekomme aus den Massenmedien Informationen, ist zur Standardbegründung für Zensur in Kriegszeiten geworden. Winston Churchill hat im November 1940 in einer Kabinettssitzung mit großer Verbitterung die BBC charakterisiert als “an enemy within the gates; continually causing trouble; doing more harm than good”12. Während des Vietnam-Krieges erklärte Präsident Richard Nixon: “Our worst enemy seems to be the press”13. Die Informationen über den Golfkrieg wurden von den USA nahezu vollkommen kontrolliert. General Schwarzkopf gab am 27. 2. 1991 auf einer Pressekonferenz zu: “Vieles, was [...] bekannt gegeben wurde, war sorgfältig zusammengestellte Desinformation”.14 Bilder, die aus der Sicht der USA negativ auf die Öffentlichkeit hätten wirken könnten, wurden nicht gezeigt. Der NATO-Sprecher im Serbien-Krieg, Jamie Shea, kommentierte seine Informationspolitik folgendermaßen:
Ferngläser dorthin gerichtet, gestatteten uns, auch dieses Unheil im einzelnen zu betrachten; wir konnten die Menschen erkennen, die sich oben auf den Mauern dem Brande Einhalt zu tun eifrig bemühten, wir konnten die freistehenden, zusammenstürzenden Gesparre bemerken und unterscheiden”. Propyläen-Ausgabe von Goethes Sämtlichen Werken. Berlin o. J. Bd. 34. S. 209. 10 Erich Everth: Die Öffentlichkeit in der Außenpolitik von Karl V. bis Napoleon. Jena 1931. S. 392ff. und Sturminger: Politische Propaganda (Anm. 3). S. 188ff. 11 “I bag to draw your Lordship’s attention to the frequent paragraphs in the English newspapers describing the position, the numbers, the objects, the means of attaining them possessed by the armies in Spain and Portugal. In some instances the English newspapers have accurately stated, not only the regiments occupying a position, but the number of men fit for duty of which each regiment was composed; and the intelligence must have reached the enemy at the same time as it did me, at a moment at which it was important that he should not receive it”. Alan Hooper: The military and the media. Aldershot 1982. S. 5. 12 Valerie Adams: The Media and the Falklands Campaign. Houndmills 1986. S. 22f. 13 William M. Hammond: Reporting Vietnam. Media and Military at War. Kansas 1998. S. IX. 14 Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland: X für U. Bilder, die lügen. Bonn 1998. S. 40.
244 Ich bin überzeugt, Journalisten und Öffentlichkeit verstehen, daß es gewisse Restriktionen geben muß. Solange Flugzeuge in der Luft sind und auf Piloten geschossen wird, kann über ihre Aufgabe oder ihre Position keine Auskunft gegeben werden. [...] Meine Erfahrung aus dem Kosovo-Konflikt ist, daß man das, worüber man nicht sprechen konnte, durch möglichst ausführliche Informationen über Operationen kompensierte, bei denen es keine Restriktionen gab. So hatten die Journalisten das Gefühl, sie würden informiert und konnten ihre Geschichte schreiben.15
II. Theoretische Begründung der Steuerung der Öffentlichen Meinung in Kriegszeiten 1832 wurde, ein Jahr nach dem Tod von Carl von Clausewitz, das Textfragment Vom Kriege veröffentlicht. Darin vertrat er die These, Napoleon habe seine Siege nicht nur seinem militärischen Können verdankt, sondern vor allem auch der Begeisterung des Volkes. Durch die französische Revolution sei Krieg urplötzlich wieder zur Sache des Volkes geworden.16 Dies sei ein immenser Vorteil gewesen, über den seine Gegner zu Kriegsbeginn nicht verfügten. Clausewitz charakterisiert den Krieg als einen “Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen.”17 Krieg ist ein Konflikt widerstreitender Willen, “ein Abmessen der geistigen und körperlichen Kräfte vermittelst der letzteren.”18 Die Moral steht im Zentrum des Krieges, nicht die physische Stärke. Sieg wird nicht durch Vernichtung erreicht, sondern durch das Zerbrechen der gegnerischen Moral. Jede Theorie des Krieges muss nach von Clausewitz drei Faktoren berücksichtigen: – die Regierung, die das Kriegsziel definiert; – die Armee, die dafür kämpft; – das Volk, das sie unterstützen soll.
Ausgehend von den Überlegungen Carl von Clausewitz’ kann eine theoretische Verortung der Notwendigkeit von zensorischen Maßnahmen bzw. der Kontrolle von Kriegsberichterstattung entwickelt werden, die 1. die Informationspolitik der Regierung erklärt, 2. die auf der Ebene militärischer Aktionen erfolgende Kommunikation, also die Informationsbeschaffung beim Gegner und dessen Täuschung, verständlich macht und 3. den Faktor 15
In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14. 10. 2001. Die Argumentation bedarf allerdings einer kleinen Modifikation. Dem Kriegstheoretiker war unbekannt, dass in den USA die Gründungsväter bereits den Faktor Volk im Kampfe gegen die Briten entdeckt hatten und dabei bereits Desinformation bzw. die Manipulation von Nachrichten einsetzten, um das Volk gegen die Briten zu mobilisieren. 17 Carl von Clausewitz: Vom Kriege. Pfaffenhofen 1969. S. 29. 18 Ebd. S. 48. 16
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Volk, das heißt dessen Bereitschaft, den Krieg zu unterstützen, berücksichtigt.19 Militärische Aktion findet in einer Umwelt statt, die von Gefahr, Verwirrung und höchster physischer Anspannung gekennzeichnet ist; Clausewitz bezeichnet dies als “Friktion”. “Friktion” ist verantwortlich dafür, dass im Krieg alle Pläne, die am Tisch entworfen wurden oder sich im Manöver bewährt haben, umgeworfen werden müssen: Es ist alles im Kriege sehr einfach, aber das Einfache ist schwierig. Diese Schwierigkeiten häufen sich und bringen eine Friktion hervor, die sich niemand richtig vorstellt, der den Krieg nicht gesehen hat. [...] Friktion ist der einzige Begriff, welcher dem ziemlich allgemein entspricht, was den wirklichen Krieg von dem auf dem Papier unterscheidet.20
Kein Militär wird einen auf Überraschung basierenden Plan ausführen, wenn er Grund zu der Annahme hat, dass der Gegner den Plan kennt. Geheimhaltung ist unumgängliche Notwendigkeit der Kriegführung, denn – um Wellington zu zitieren – der Gegner will wissen, “was auf der anderen Seite des Hügels vorgeht”.21 Zur Qualität der Nachrichten im Kriege schreibt von Clausewitz: “Ein großer Teil der Nachrichten, die man im Kriege bekommt, ist widersprechend, ein noch größerer ist falsch und bei weitem der größte ist einer ziemlichen Ungewissheit unterworfen.”22 Clausewitz meint: “Mit kurzen Worten: die meisten Nachrichten sind falsch”.23 Der von Carl von Clausewitz theoretisch herausgearbeitete Tatbestand der Notwendigkeit der Täuschung des Gegners im Kampf war den Militärs natürlich schon lange bekannt. Auf die Tatsache, dass es im Krieg notwendig ist, den Gegner zu täuschen, verwies bereits vor ca. 2000 Jahren Sun Tsu in seinem Klassiker über die Kunst des Krieges, in dem die “Überlegenheit durch Unergründlichkeit”24 betont wird. Niccolo Machiavelli hatte im
19
Von Clausewitz wusste bereits, was Sir Arthur Ponsonby 1935 folgendermaßen ausdrückte: “The point is that propaganda is as much a weapon of war as a gun, and far more effective”. Zit. n. James Duane Squires: British propaganda at home and in the United States from 1914–1917. Cambridge 1935. S. 15. 20 Clausewitz: Vom Kriege (Anm. 17). S. 65. 21 In den Croker Papers (1885, Vol. III, 276) schreibt Wellington: “All the business of war, and indeed all the business of life, is to endeavour to find out what you don’t know by what you do; that’s what I called ‘guessing what was at the other side of the hill’.” 22 Clausewitz: Vom Kriege (Anm. 17). S. 63. Er definiert: “Mit dem Worte Nachricht bezeichnen wir die ganze Kenntnis, welche man von dem Feinde und seinem Lande hat, also die Grundlage aller eigenen Ideen und Handlungen”. 23 Clausewitz: Vom Kriege (Anm. 17). S. 64. 24 Sun Tsu: Wahrhaft siegt, wer nicht kämpft. Die Kunst der richtigen Strategie. Freiburg i. Brsg. 1999. S. 17.
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Principe die Lüge als Instrument der Politik betont. Die Meisterschaft in Verstellung und Heuchelei, die Machiavelli vom Fürsten fordert, ist entscheidend für militärische Aktionen, wenn es gilt, den Gegner zu überraschen. George Washington wird der Satz zugeschrieben: “Concealment is a species of misinformation.”25 Georg Simmel hat in seiner Soziologie im 5. Kapitel – Das Geheimnis und die geheime Gesellschaft – diese Thematik untersucht. Simmel geht von folgender grundlegenden Annahme aus: “Alle Beziehungen von Menschen untereinander ruhen selbstverständlich darauf, daß sie etwas voneinander wissen.”26 Menschen haben also Verhaltenserwartungen und wissen, dass ihre Gegenüber ebenfalls derartige Erwartungen besitzen. Stabile soziale Beziehungen basieren darauf, dass sich aufgrund der Interaktionen stabile Erwartungserwartungen herausbilden, die soziales Verhalten prognostizierbar machen. Mit anderen Worten: Im Kriege kommt es darauf an, die Verhaltenserwartungen des Gegners zu täuschen, das heißt die Grundlagen menschlichen Zusammenlebens in Bezug auf den Gegner zu untergraben. Paul Watzlawick gibt der Notwendigkeit, den Gegner im Kriege täuschen zu müssen, eine kommunikationstheoretische Einbettung. Entscheidungsverfahren im Kriege nehmen den Charakter paradoxer Voraussagen an: “Je wahrscheinlicher eine bestimmte Handlung ist, desto weniger wahrscheinlich wird er sie ausführen; je unwahrscheinlicher sie aber dadurch wird, desto wahrscheinlicher wird sie wiederum.”27 Es geht um die Kunst der Desinformation, die nicht mit Propaganda gleichzusetzen ist, da erfolgreiche Desinformation bedeutet, dem Gegner den Eindruck zu vermitteln, die Information stamme aus dem eigenen Bereich und sei glaubwürdig. Die Logik der Desinformation, also das Zuspielen falscher Information über die eigenen Pläne, bei der eine fast grenzenlose Verschachtelung der Interdependenzen möglich ist, reduziert Watzlawick auf die Grundformel: “Was denkt er, daß ich denke, daß er denkt... usw.? – außer daß hier der Endzweck darin besteht, ihn zu Fehlschlüssen zu bringen, ihm eine falsche Wirklichkeit zuzuspielen und dafür zu sorgen, daß er sich ihrer nicht gewahr wird, bis es zu spät ist.”28 Mit anderen Worten: Die Regeln normaler Kommunikation sind im Kontext von Desinformationsbemühungen auf den Kopf gestellt. Es ist die Welt des double cross, der Doppeltäuschung.
25
Joachim Westerbarkey: Das Geheimnis als Forschungsgegenstand. In: Publizistik 32 (1987). S. 431. 26 Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. München, Leipzig 1922. S. 256. 27 Paul Watzlawick: Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Wahn – Täuschung – Verstehen. München 1976. S. 132. 28 Ebd. S. 123.
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Ein herausragendes Beispiel für erfolgreiche Desinformation stellt die Operation Mincemeat dar, durch die es den Alliierten während des Zweiten Weltkrieges gelang, die Deutschen über ihre Landungspläne im Mittelmeer zu täuschen.29 Die Alliierten verstanden es auf glaubwürdige Art und Weise, den Deutschen Informationen zu vermitteln, “wonach gerade auf Grund der logischen Offensichtlichkeit eines Angriffs auf Sizilien die alliierte Landung für Griechenland oder Sardinien geplant war”.30 Es gelang also, die Wahrheit als Täuschung herauszustellen und dadurch die Täuschung umso glaubwürdiger zu machen. Nach Dear und Foot erhielt Churchill, der auf einer Konferenz in Washington weilte, am 14. Mai 1943 die Nachricht: “MINCEMEAT swallowed whole.”31 Ein weiteres Beispiel für erfolgreiche Desinformation während des Zweiten Weltkrieges32 stellt die Operation Fortitude dar, über die einer der Hauptbeteiligten, Roger Hesketh, inzwischen einen Bericht vorgelegt hat.33 Das Ziel von Fortitude bestand darin, die Deutschen hinsichtlich der für 1944 geplanten Landung in Frankreich in die Irre zu führen – was auch erfolgreich gelang. Es wurde der Eindruck erweckt, die Landung solle im Juli 1944 an der Kanalküste erfolgen, wohingegen sie für Juni 1944 in der Normandie geplant war. Die Alliierten täuschten die Deutschen auf drei Kanälen. Britische Diplomatische Vertretungen im neutralen Ausland streuten entsprechende Informationen aus. Ein Funknetz zwischen tatsächlich existierenden und fiktiven Truppenteilen wurde aufgebaut, so dass der Eindruck einer Truppenmassierung in Südost-England entstehen musste. Flugzeug- und Bootsattrappen verstärkten diesen Eindruck. Der dritte und wohl effektivste Kanal für Desinformation waren aber fünfzehn ‘umgedrehte’ deutsche Agenten (es war gelungen, einen deutschen Code zu brechen und deutsche Agenten aufzuspüren). Hesketh, der nach dem Krieg auch deutsche Quellen ausgewertet hat, konstatiert, dass die Deutschen niemals misstrauisch waren, sondern die Informationen der umgedrehten ‘deutschen’ Agenten (insbesondere GARBO und BRUTUS) als Hauptinformationsquelle
29
Vgl. Ewen E. S. Montagu: The man who never was. London 1953 und John C. Masterman: Unternehmen Doppelspiel. Sir John Mastermans Geheimbericht an die Regierung seiner Majestät. Der Kampf zwischen deutscher Spionage und britischer Abwehr im Zweiten Weltkrieg. Wien 1973. 30 Watzlawick: Wie wirklich ist die Wirklichkeit? (Anm. 27). S. 132. 31 The Oxford Companion to the Second World War. Hg. von I. C. B. Dear und M. D. R. Foot. Oxford, New York 1995. S. 751. 32 Eine knappe Übersicht über Tarnen und Täuschen während des Zweiten Weltkrieges findet sich ebd. S. 283ff. 33 Roger F. Hesketh: Fortitude. The D-Day Deception Campaign. London 1999. S. XV. Er berichtet: “I wrote my history of Operation FORTITUDE during the three years following demobilisation in 1945.”
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hinsichtlich der Landungspläne der Alliierten nutzten.34 Der Einschätzung von Hans Kluth, bei Fortitude handle es sich um ein Paradebeispiel einer nachrichtendienstlichen Operation, ist nichts hinzuzufügen.35 Karl Bücher (1847–1930) argumentierte 1915, seit der Erfindung der Buchdruckerkunst erlebe die Welt immer wieder von neuem das Schauspiel,36 “daß jedem Krieg mit den Waffen ein Krieg mit Druckerschwärzen zur Seite geht, in dem jede Partei die öffentliche Meinung für sich zu gewinnen sucht”.37 Ferdinand Tönnies charakterisiert die öffentliche Meinung in einem Lande, das sich im Kriegszustand befindet, dahingehend, man sei sich darüber einig, “dass der Krieg dem eigenen Lande aufgezwungen, daß er ein Verteidigungskrieg oder, wie die englische Formel38 lautet, ein gerechter und notwendiger Krieg sei”.39 Tönnies schreibt weiter: Die Gestaltung der öffentlichen Meinung im Kriege unterliegt naturgemäß der Sorge der Regierung und der Heeresleitung. [...] Leicht wird aber, wegen des Wertes der Siegesnachricht, der wirkliche Sieg vergrößert, die wirkliche Niederla-
34
Hesketh: Fortitude (Anm. 33). S. 210. Er berichtet, dass General Wilhelm Keitel, als er mit dem Text der entscheidenden Botschaft von GARBO nach Kriegsende konfrontiert wurde, ausführte: “There you have your answer. If I were writing a history I would say, with ninety-nine percent certainly, that the message provided the reason for the change of the plan.” Zur Nachricht von GARBO und deren Rezeption ebd. S. 208ff. 35 Hans Kluth: Rezension von Roger Hesketh, Fortitude. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15. 12. 1999. 36 Karl Bücher: Der Krieg und die Presse. In: Gesammelte Aufsätze zur Zeitungskunde. Tübingen 1926. S. 271f. 37 Der Bremer Kaufmann Ludwig Roselius (1874–1943), der Gründer von Kaffee HAG und für Deutschland während des Ersten Weltkriegs als Propagandist tätig, beeinflusste die bulgarische Presse dadurch, dass er die gesamte Druckerschwärze des Landes aufkaufte und nur an Zeitungen abgab, die deutschfreundlich schrieben oder zu schreiben sich verpflichteten; vgl. Michael Kunczik: Die Geschichte der Öffentlichkeitsarbeit in Deutschland. Köln u. a. 1997. S. 221ff. 38 Die von Tönnies verwandte Bezeichnung englische Formel für die Rechtfertigung eines Krieges ist durchaus angebracht. David Hume schreibt 1749 in Treatise of Human Nature (Oxford 1958. S. 348): “When our own nation is at war with any other, we detest them under the character of cruel, perfidious, unjust and violent: But always esteem ourselves and allies equitable, moderate, and merciful. If the general of our enemies be successful, ‘tis with difficulty we allow him the figure and character of a man. He is a sorcerer: He has a communication with daemons; as is reported of Oliver Cromwell and the Duke of Luxembourg: He is bloody-minded, and takes pleasure in death and destruction. But if the success be on our side, our commander has all the opposite good qualities, and is a pattern of virtue, as well as of courage and conduct. His treachery we call policy: His cruelty is an evil inseparable from war. In short, every one of his faults we either endeavour to extenuate, or dignify it with the name of that virtue, which approaches it.” 39 Ferdinand Tönnies: Kritik der öffentlichen Meinung. Berlin 1922. S. 544.
249 ge – deren Nachricht naturgemäß die entgegengesetzte Wirkung auslöst – verkleinert oder verschleiert; und von der Leichtfertigkeit oder doch minderen Gewissenhaftigkeit in bezug auf die Wahrheit führt bald ein weiterer Schritt zum Entschlusse der bewußten Täuschung, der Lüge. Die Kriegsgeschichte aller Zeiten ist davon erfüllt [...].40
Die Mobilisierung des Nationalhasses ist ein weiterer Aspekt der Beeinflussung der Moral der Bevölkerung bzw. der Truppe. Schneersohn stellt in Sozialpsychologie der Massenlüge dialektische Verdrehungen bzw. Schlagworte41 kriegstreibender Staaten zusammen: Seit jeher kamen im Leben der Masse raublustige, kriegerische Leidenschaften mit entgegengesetzten religiösen, ethischen, kultur-sozialen Geboten der Solidarität und der Menschenliebe in Konflikt. Aber zu allen Zeiten baute sich die raublustige Bellikosität dialektisch ein Hintertürchen durch recht charakteristische und bekannte Konstruktionen. ‘Heiliger Krieg’, ‘ad majorem dei gloriam’, ‘Vaterlandskrieg’ [so heißt in der russischen Geschichtsschreibung der Krieg von 1812; auch der Krieg Kroatiens von 1991 bis 1995 firmiert unter dieser Bezeichnung], ‘Befreiungskrieg’ [Idealisation!], ‘Vorbeugungskrieg’ [Präventivkrieg!], ‘Verteidigungskrieg’, ‘erzwungener oder aufgezwungener Krieg’ [Not!], ‘Gelegenheitskrieg’, ‘zufällig ausgebrochener Krieg infolge unerwarteter fataler Konflikte oder unerwarteter überstürzender Ereignisse’ [Episode!], ‘Abschlußkrieg’, ‘letzter Krieg’ [Hinauszögerung!], ‘Krieg dem Kriege’, ‘Tod den Henkern’, ‘Vernichtung der mörderischen Barbaren’, ‘Gewalt gegen Gewalttäter’, ‘Ausbeutung der Ausbeuter’ [dialektische Leugnung!].42
Der Krieg gegen Afghanistan heißt ‘Krieg gegen den Terrorismus’. Zum Krieg gegen Jugoslawien bemerkte Tony Blair nach dem Sieg der NATO: “Die Gerechtigkeit hat über die Barbarei gesiegt.”43 Er konstatierte den Triumph “der Werte der Zivilisation” im Herzen Europas. Jamie Shea, der NATO-Sprecher während des Krieges gegen Serbien, antwortete in einem 40
Ebd. S. 545. Die Wirkung derartiger Schlagworte ist unbestreitbar. So schreibt Frederick Palmer, der wichtigste amerikanische Kriegsberichterstatter im Ersten Weltkrieg: “Deep down I did think of the World War as a war to end war; a thought I heard often from British and French soldiers [...] and from German prisoners. After this exhibition of mass murder we would relegate war to past savagery in common with witch burning, imprisonment for debt, drawing and quartering, the torture chamber and hanging for thievery. Foolish dream! I had it in common with millions of other men. But our side must win – I had that delusion, too – and not the Germans, in order to start that new era for mankind.” Frederick Palmer: With my own eyes. A personal story of battle years. Indianapolis 1932. S. 300. 42 F. Schneersohn: Sozialpsychologie der Massenlüge. In: Die Lüge in psychologischer, historischer und soziologischer, sprach- und literaturwissenschaftlicher und entwicklungsgeschichtlicher Betrachtung. Hg. von Otto Lipmann und Paul Plaut. Leipzig 1927. S. 546. 43 In: Der Spiegel vom 14. 6. 1999. H. 24. S. 157. 41
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Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung auf die Frage, wie es mit dem Propaganda-Aspekt von Informationen stehe: “Wir wissen sehr wohl, daß moderne Konflikte nur durchgestanden werden können, wenn es die Unterstützung durch die Öffentlichkeit gibt.”44 Die Verwendung derartiger kriegsverherrlichender Phrasen erklärt auch, weshalb es möglich war, dass die Niederlande unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, in dem sie selbst unter dem Terror der Nazis gelitten hatten, einen brutalen Angriffskrieg starteten. Es ist schon ein höchst eigenartiger Tatbestand, dass dieses Land, das selbst fünf Jahre von den Deutschen besetzt gewesen war, einen Krieg geführt hat, der mindestens 100.000 Opfer gefordert hat. Tessel Pollmann argumentiert, es sei möglich gewesen, “einen äußerst aggressiven Krieg mit vielen Toten und Kriegsverletzten, als eine ‘Polizeiaktion’ zum Erhalt von Ruhe und Ordnung, Wohlstand und Volksgesundheit des kleinen indonesischen Bauern darzustellen.”45 Nach Pollmann betrachteten sich die Niederlande auch nicht als ein Land mit angreifendem, besetzendem Heer: Sie sehen sich selbst, kurz nach der Befreiung, vielmehr als ein Land mit einem Befreiungsheer im Stil der bewunderten, glänzenden amerikanischen und kanadischen Befreiungstruppen: ein ehrwürdiges Heer, das arme Menschen von aggressiven und mächtigen Belagerern befreit. Die aggressiven und mächtigen Belagerer sind in erster Instanz die Japaner, die seit 1941 Niederländisch-Indien besetzt haben.46
Nachdem Japan am 15. August 1945 kapituliert hatte, gab es eine andere Gefahr. Sukarno hatte die Republik Indonesien ausgerufen und seine Anhänger waren auf Java und in Aceh auf Sumatra tätig, und diese galt es zu bekämpfen. Pollmann schreibt: Sukarno gilt in niederländischen Kreisen als ein Kollaborateur, der mit den Japanern zusammengearbeitet hat, um seine nationalistischen Ambitionen zu realisieren. Seine Gefolgschaft wird als klein, aber gefährlich bezeichnet und gleichzeitig werden seine Interessen ins Lächerliche gezogen. Aufschneider sind es, die viel Lärm um nichts machen.47
44
In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14. 10. 2001. Tessel Pollmann: Kolonialgewalt als “Polizeiaktion”. Der niederländische Krieg gegen die indonesischen Nationalisten. 1945–1949. In: Kriegsbegeisterung und mentale Kriegsvorbereitung. Hg. von Marcel van der Linden und Gottfried Mergner. Berlin 1991. S. 195. 46 Ebd. S. 198. 47 Ebd. 45
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Vom Standpunkt der Niederländer bedeutet das also nicht, dass ein Krieg angefangen wurde, sondern es handelte sich um ‘Polizeiaktionen’, die einem zivilisierten Staat angemessen erschienen. Pollmann argumentiert weiter: Fast jeder, einschließlich der sozialdemokratische Ministerpräsident, findet, daß erst in dem von den Japanern geplünderten und bewaffneten Indien ‘Ruhe und Ordnung’ – die pax nederlandica – geschaffen werden muß, bevor zu eventuellen Konzessionen gegenüber dem wachsenden Nationalismus übergegangen werden kann.48
Vor diesem Hintergrund wird dann verständlich, weshalb der Auftrag des Militärs war, “die arme terrorisierte Bauernbevölkerung aus den Klauen ihrer blutrünstigen Landesgenossen zu retten.”49 III. Funktion des Feindbildaufbaus Derartiger Feindbildaufbau ist ein seit jeher beliebtes Verfahren, um die öffentliche Meinung in Kriegszeiten zu stabilisieren bzw. auf die Vorbereitung eines Krieges einzustimmen. Der Aufbau eines Feindbildes schafft bei der Bevölkerung ein Gefühl der Bedrohung, das mit einem Bedürfnis nach starker Führung bzw. mit einer erhöhten Bereitschaft, autoritäre Führung zu akzeptieren, verbunden ist. Je größer die angenommene Bedrohung durch einen tatsächlichen oder vermeintlichen Gegner ist, desto größer ist der Bedarf nach starker Führung. Feindbilder können durchaus dazu dienen, die innerhalb eines Staates bestehenden Frustrationen nach außen zu projizieren und damit “unschädlich” zu machen. In Kriegszeiten wird der Gegner zum Untermenschen, zur Bestie stigmatisiert.50 So wurde Deutschland im Ersten Weltkrieg von Herbert George Wells, der den Deutschen intellektuelle Inferiorität bescheinigte, als “Frankenstein Germany” bezeichnet, und Rudyard Kipling warnte: “The Hun is at the gate.” Kipling meinte: “This is not war. It is against wild beast that we fight”.51
48
Ebd. S. 199. Ebd. S. 203. 50 Während des ersten Weltkriegs war eine beliebte Gräuelgeschichte, die Deutschen hätten 50 belgischen Pfadfindern die Hände abgehackt. Mit derartiger Gräuelpropaganda sollte insbesondere in den USA eine deutschfeindliche Stimmung aufgebaut werden. Die populärste Gräuelgeschichte, die von den Briten erfunden wurde, war übrigens eine Kadavergeschichte, die auch von der Times (16. 4. 1917) verbreitet wurde. Demnach wurden die Leichen gefallener deutscher Soldaten zur Glyzerinherstellung benutzt (Michael Kunczik: Die manipulierte Meinung. Nationale Image Politik und internationale Public Relations. Köln 1990. S. 57ff.). 51 Michael Kunczik: British and German propaganda in the United States from 1914 to 1917. In: Propaganda in the 20 th century. Hg. von Jürgen Wilke. Cresskill, N. J. 1998. S. 36. 49
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Eng verbunden mit dem Feindbildaufbau durch Propaganda ist in Kriegszeiten die sprachliche Verharmlosung der durch die eigene Seite angerichteten Schäden, die, um David Hume zu paraphrasieren,52 natürlich im Dienst der guten Sache vorgenommen werden und bedauerlicherweise militärisch unumgänglich sind. Die Bedeutung sprachlicher Verharmlosung für die Steuerung der öffentlichen Meinung in Kriegszeiten wurde erstmals während des Krimkrieges deutlich, als William Howard Russell, der als erster professioneller Kriegsberichterstatter gilt, 1854 vom Herausgeber der Times in den Krimkrieg geschickt wurde und mit seiner Berichterstattung öffentliche Empörung auslöste.53 Zum ersten Male wurde der Schrecken des Krieges von einem Augenzeugen in der Presse beschrieben: das Leiden und Sterben der Soldaten, die Schrecken der Cholera usw. Das Publikum kannte zuvor nur die offiziellen Kommuniques. Gegen Russell wurde der Vorwurf erhoben, er habe Hochverrat begangen, da aufgrund seiner Berichterstattung der Gegner Informationen über militärische Details bekommen habe.54 Russell wurde vorgehalten, der russische Geheimdienst würde die veröffentlichten Informationen sofort nach Moskau kabeln und in militärische Vorteile umsetzen. Im Parlament gab es erregte Debatten über die Legitimität der Kriegsberichterstattung. Dadurch wurde ein Gegensteuern durch PRMaßnahmen notwendig. Prinz Albert, der Ehemann von Königin Victoria, nannte Russell nicht nur einen miserablen Schreiberling, sondern startete zudem Maßnahmen gegen die unerwünschte Wirkung der Times-Berichterstattung.55 Am 20. 2. 1855 wurde der Fotograf Roger Fenton mit Kamera und mobiler Dunkelkammer auf die Krim geschickt. Er sollte die positiven Seiten des Krieges festhalten: “No dead bodies”.56 Auch der NATO-Krieg gegen Jugoslawien bietet eine Fülle von Beispielen für sprachliche Verharmlosungen. Getötete Zivilisten, zerstörte Wohngebiete und Industrieanlagen wurden zu “kollateralen Schäden”. Nachdem durch die NATO bei einem Angriff auf das Dorf Korisha im Kosovo nach serbischen Angaben rund hundert Zivilisten getötet wurden, vermutete das Bundesverteidigungsministerium eine Kriegslist der Serben. Kosovo-
52
Vgl. Anm. 38. Siehe dazu Frederic Lauriston Bullard: Famous war correspondents. New York 1974 und Rupert Furneaux: The first war correspondent. William Howard Russell of The Times. London 1945. 54 General Simpson schrieb an Lord Panmure: “I must not omit to mention that The Times newspapers reaches Sevastopol before we get it here in our camp: so what with the electric and The Times, our enemy has many advantages over us.” Zit. n. Furneaux: The first war correspondent (Anm. 53). S. 86. 55 Rainer Fabian und Hans Christian Adam: Bilder vom Krieg. 130 Jahre Kriegsfotografie – eine Anklage. Hamburg 1983. S. 76. 56 Ebd. S. 29 und 79. 53
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Albaner würden als menschliche Schutzschilde missbraucht (was durchaus möglich war). Mögliche eigene Fehler wurden von der NATO abgestritten. Stattdessen kündigte die NATO seinerzeit an, die Zahl der Luftangriffe ungeachtet der zivilen Opfer verstärken zu wollen. Lediglich als die präzisen Präzisionswaffen der NATO mit unglaublicher Präzision ausgerechnet die chinesische Botschaft in Belgrad zerstörten und Menschen töteten, sah sich Bundeskanzler Schröder im Mai in Peking veranlasst, eine Entschuldigung auszusprechen. Der Kanzler bezeichnete die Zerstörung der Botschaft explizit als völkerrechtswidrig. Wenn unschuldige Serben getötet wurden, war das demgegenüber offenbar “kollateral” und diente der guten Sache. Unvergessen wird der Satz bleiben, den Schröder am Tag des NATOAngriffs im Fernsehen ausgesprochen hat: “Wir führen keinen Krieg.” Da wurde der Kanzler zur lebenden Worthülse. Im Spiegel vom 12. 4. 1999 meinte Schröder in einem Interview “Ich bin kein Kriegskanzler.” Wenn die NATO keinen Krieg geführt hat – was dann? Die Tatsache, dass in bewährter US-amerikanischer Manier kein Krieg erklärt, der böse Feind aber gleichwohl im Dienste der guten Sache angegriffen worden ist, bedeutet doch nicht, dass kein Krieg geführt wurde. IV. Kontrolle der Weltöffentlichkeit in Kriegszeiten Als erster Staat hatte Großbritannien die Bedeutung internationaler Kommunikation erkannt; und zwar sowohl als Mittel, um weltweit schnell agieren zu können, als auch als Instrument zur Kontrolle der Weltmeinung. Größter Wert wurde auf den Aufbau einer globalen kommunikativen Infrastruktur gelegt, um über weltweite Entwicklungen möglichst schnell informiert zu sein. Ein Cabinet Paper vom 19. 3. 1891 stellte heraus, dass die globale Kontrolle der Kabelnetze Großbritannien einen großen Vorteil einbrächte, nämlich die Möglichkeit der Ausübung der Zensur von ausländischen Nachrichten.57 Bereits 1898 fasste das Colonial Defence Committee den Beschluss, im eventuellen Kriegsfall feindliche Kabel zu kappen. Die Planung wurde für alle möglichen Bündniskonstellationen durchgeführt. In Bezug auf Deutschland wurde beschlossen, im Kriegsfalle das deutsche Kabel von Emden nach Vigo, das von dort über die Azoren nach Amerika lief, zu kappen. Für den Fall, dass England mit Frankreich und Russland gemeinsame Sache machen würde, war es, so ein Report aus dem Dezember 1911, möglich “to isolate Germany from practically the whole world, out-
57
Paul M. Kennedy: Imperial cable communications and strategy 1870–1914. In: English Historical Review 86 (1971). S. 741. Ebenso Squires: British propaganda. (Anm. 19). S. 17.
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side Europe”58. Das Kappen dieses Kabels war dann auch eine der ersten Kriegshandlungen der Briten im Ersten Weltkrieg. Am Morgen nach Ablauf des Ultimatums an Berlin wurde das Kabel durchtrennt. Die Konsequenz war, dass die Kriegsberichterstattung in den USA fast ausschließlich von den Alliierten kam. Bereits 1895, beim Einfall ins Transvaal-Gebiet, hatten die Briten ihre Macht über den internationalen Nachrichtenfluss demonstriert und am 28. Dezember den gesamten Verkehr nach Transvaal für alle nicht-britischen Telegramme gesperrt. Die britische Kabelherrschaft zeigte sich aber insbesondere während des Buren-Krieges: “Am 18. Oktober 1899 richtete England eine militärische Depeschenzensur in Aden ein, die den gesamten internationalen Telegrammverkehr mit ganz Ost- und Südafrika einer äußerst strengen Kontrolle unterwarf. Kodierte Telegramme wurden überhaupt nicht mehr befördert.”59 Nach Hennig war es viele Monate hindurch unmöglich, ungefärbte Berichte über den Krieg zu erhalten, “da alle Nachrichten auf den britischen Kabeln in einem für die britischen Waffen günstigen Sinne frisiert wurden”.60 Im Juli 1900 protestierte Baron de Reuter, Eigentümer der gleichnamigen Nachrichtenagentur: “The censor’s action is nothing short of a scandal [...] the censor (undoubtedly acting under orders) suppresses everything which is not favourable. The way which the British public are being continuously misled and the honesty of the correspondents frustrated is a disgrace to the authorities.”61 Im Zweiten Golfkrieg zwischen dem Irak und den USA sind die Informationen von den USA nahezu perfekt kontrolliert worden. Nach John R. MacArthur hatte die Regierung der USA in dem Moment, da die Truppen im August 1991 nach Saudi-Arabien geschickt wurden, niemals die Absicht gehabt, eine wirklichkeitsgetreue Berichterstattung über den Krieg zu gestatten.62 (Noch eindeutiger ist dies beim “Krieg gegen den Terrorismus” der Fall, der nach dem 11. September 2001 begonnen wurde.) Die Informationen wurden unter Aspekten der PR kontrolliert: Selbst der Kriegsbeginn am Golf erfolgte mediengerecht zur prime-time, zur besten Sendezeit in den USA: Die erste Angriffswelle der alliierten Kampfflugzeuge erreichte Bag58
Kennedy: Imperial cable communications and strategy (Anm. 57). S. 744. R. Hennig: Die deutsche Seekabelpolitik zur Befreiung vom englischen Weltmonopol. In: Meereskunde. Sammlung volkstümlicher Vorträge zum Verständnis der nationalen Bedeutung von Meer und Seewesen 6 (1912). H. 4. S. 9. 60 Ebd. S. 10. 61 House of Commons: First Report from the Defence Committee. Session 1982– 1983. The handing press and public information during the Falklands conflict. Vol.1: Report and minutes of proceedings. London 1982. S. X. 62 John R. MacArthur: Second front. Censorship and propaganda in the Gulf War. New York 1992. 59
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dad genau zu dem Zeitpunkt, da an der amerikanischen Ostküste die Nachrichten liefen. Dank CNN waren Millionen live dabei. Die Journalisten wurden in einem ‘Pool’ zusammengefaßt und waren damit, wie Malcolm W. Browne von der New York Times meinte, “an unpaid employee of the Department of Defense, on whose behalf he or she prepares the news of the war for the outer world”.63 Der Sprecher des Pentagon, Pete Williams, konstatierte: “the best war coverage we’ve ever had”.64 Bilder, die aus der Sicht der USA negativ auf die Öffentlichkeit hätten wirken können, wurden nicht gezeigt. General Norman Schwarzkopf war der Überzeugung, dass die amerikanischen Zeitungen und Fernsehstationen zur wichtigsten Nachrichtenquelle für den Irak geworden waren. Auch beschwerte sich der General darüber, dass er sich mit 1300 Reportern im Kriegsgebiet herumschlagen musste, davon waren 180 ständig als Mitglieder des Pressepools an der Front. Ein weiterer zentraler Aspekt des Golfkrieges ist die von Kuwait veranlasste und von der PR-Firma Hill & Knowlton vorgenommene massive Medienmanipulation und Desinformation. Die Arbeit von Hill & Knowlton für Kuwait begann kurz nach der irakischen Invasion im August 1990. Zu den Maßnahmen der Agentur gehörten die Erstellung von Pressematerial in gedruckter Form und auf Video, die Veranstaltung eines “National Pray Day” sowie eines “Kuwait Information Day” auf dem Gelände von 20 Colleges, Auto-Aufkleber und T-Shirts mit der Aufschrift “Free Kuwait”, eine Anzeigenkampagne, Schulungen in der Durchführung von Pressekonferenzen und im Interviewverhalten sowie die Überwachung der Medienberichterstattung. Die Agentur versuchte auf der einen Seite, ein Image Kuwaits als demokratisches Land zu etablieren (was es damals nicht war und auch heute noch nicht ist) und auf der anderen Seite den Irak als Feindbild aufzubauen. Dies geschah insbesondere durch Gräuelpropaganda. So bereitete Hill & Knowlton Beweismaterialien für den UN-Sicherheitsrat, den Außenpolitischen Ausschuss und den Arbeitskreis für Menschenrechte des Kongresses vor. Kuwaitische Flüchtlinge, die als Augenzeugen vor diesen Gremien oder vor der Presse aussagten, wurden von Hill & Knowlton ausgewählt und instruiert. Der wohl bekannteste Fall in diesem Kontext ist das Auftreten der 15-jährigen Nayirah as-Sabah bei einem öffentlichen Hearing des Arbeitskreises für Menschenrechte im Oktober 1990 über die Bedingungen in Kuwait unter irakischer Besatzung. Nayirah berichtete unter Tränen, sie habe gesehen, wie irakische Soldaten kuwaitische Babys aus 63
Michael Massing: Another front. In: Columbia Journalism Review. May/June (1991). S. 23. 64 William Boot: The pool. In: Columbia Journalism Review. May/June (1991). S. 24.
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Brutkästen gerissen und auf den Fußboden geworfen hätten, wo sie gestorben seien. Hill & Knowlton sorgte nicht nur für die Zeugin, sondern veranlasste auch, dass ein Film, der die Aussage Nayirahs zeigte, von 700 Fernsehstationen gesendet wurde. Allein in einer einzigen Sendung am 10. 10. 1990 (ABC Nightline) sahen 53 Millionen Amerikaner diese Szene. Die perfekt inszenierte, erschütternde Aussage, die entsprechende Berichte von Amnesty International stützte, wurde von Präsident Bush oft zitiert und übte großen Einfluss auf die öffentliche Meinung aus. Im Januar 1992 deckte John R. MacArthur in der New York Times auf, dass es sich bei Nayirah in Wirklichkeit um die Tochter des Kuwaitischen Botschafters in den USA handelte und es fraglich sei, ob sie sich zu der Zeit, in der sie ihre Beobachtungen angeblich gemacht hatte, überhaupt in Kuwait aufgehalten habe. Nach Bekanntwerden dieser Tatsache war Hill & Knowlton heftigen Vorwürfen ausgesetzt, weil die Agentur die Identität der Zeugin verheimlicht hatte. Hill & Knowlton bestritt, irreführende Zeugenaussagen produziert zu haben. Auf die Frage, ob denn nicht Nayirahs Tränenappell die Bereitschaft zum Kriege mobilisiert hätte, antwortete Frank Mankiewicz, Vizepräsident von Hill & Knowlton, er sei stets gegen den Krieg gewesen, und meinte: “Die Kriegsentscheidung habe nicht ich getroffen, sondern Präsident Bush.” Der Vizepräsident sagte aber auch: “Kuwait war eindeutig ein Erfolg der Firma.”65 Zu beachten ist, dass sechs Senatoren die “Brutkastengeschichte” als Begründung ihres Votums für den Krieg benannt hatten. Der entsprechende Beschluss war mit nur fünf Stimmen Mehrheit gefasst worden. Auch im Krieg der NATO gegen Serbien wurde manipuliert. Shea antwortete in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung auf die Frage, ob er jemals gezwungen gewesen sei, zu lügen: “Nein, das war ich nicht. Und glücklicherweise hat das auch niemand verlangt. [...] Das eigentliche Problem war nicht, dass man lügen musste, sondern dass man nicht alles sagen konnte.” Als Reaktion auf die Frage, ob es sich also um Halbwahrheiten gehandelt habe, nahm Shea eine durchaus gewitzte Klassifikation vor: “Nein, hier ist sorgfältig zu unterscheiden zwischen unvollständiger Information oder sogar Fehlern, aufrichtigen Fehlern und einer bewussten Lüge.”66 Anzumerken ist, dass Benjamin Franklin der Ausspruch zugeschrieben wird, die halbe Wahrheit könne eine große Lüge sein. Der Kölner Stadt-Anzeiger schrieb am 10./11. April 1999 über den KommunikationsStil der NATO: “Statt harter Fakten gab es in den letzten Wochen viel heiße 65
Frank Mankiewicz zit. in: Unsere politische Kultur ist zerstört. Spiegel-Reporter Matthias Matussek über die Vertrauenskrise in den USA. In: Der Spiegel vom 28. 9. 1992. S. 200-208, hier S. 205. 66 In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14. 10. 2001.
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Luft und Luftkriegvideos. Und die NATO-Sprecher bemühten sich, die durch Luftangriffe zerstörte Zigarettenfabrik in Niš oder die Donaubrücke in Novi Sad als militärisch bedeutsame Ziele zu verkaufen.” Martin Löffelholz berichtet, dass die NATO sich nicht gescheut hat, Videos zu manipulieren. Dies betrifft einen Angriff der NATO auf eine Eisenbahnbrücke bei Leskovaü in Serbien. Mindestens vierzehn Zivilisten starben in dem Zug, der zum Zeitpunkt des Angriffs über die Brücke fuhr: Der Zug, so schien es, raste so schnell auf die Brücke, dass die Kampfpiloten den Angriff nicht stoppen konnten. Tatsächlich konnte nach dem Krieg nachgewiesen werden, dass das NATO-Video manipuliert war: In der publizierten Variante war das Abspieltempo des Videobandes deutlich erhöht worden, um eine höhere Fahrgeschwindigkeit des Zuges zu suggerieren.67
Während der Kriege im zerfallenden Jugoslawien spielte die PR-Firma Ruder-Finn eine unrühmliche Rolle. Bereits 1994 berichtete Scott M. Cutlip in seinem Standardwerk über die Geschichte der amerikanischen PR The Unseen Power, dass “tiny Kosovo, threatened by Serbian aggression after Yugoslavia’s break up” die amerikanische PR-Firma Ruder-Finn mit der Vertretung seiner Interessen beauftragt hatte. Demnach hat Ruder-Finn im März 1993 eine intensive Publizitäts-Kampagne in den USA für den Kosovo durchgeführt. Cutlip erwähnt ferner, dass im Jahr 1993 Ruder-Finn nicht nur für den Kosovo, sondern auch für Kroatien und die Muslim-Führung von Bosnien-Herzegowina arbeitete. Nachgerade prophetisch die Aussage: “Again the objective is to move public opinion to embroil America in that fratricidal conflict.”68 Abgesehen davon erschien bereits am 9. Februar 1990 in der New York Times eine PR-Anzeige der Albanian-American Community und der American Friends of Albania in der u. a. folgende Aussage stand: “KOSOVA has been converted into a real CONCENTRATION CAMP.” Während des Krieges in Jugoslawien berichtete die BBC, die Serben würden für jedes getötete Kind 300 Pfund zahlen, so dass Kinder zum bevorzugten Ziel von Heckenschützen würden. In diesem Kontext wurde ein Interview veröffentlicht, in dem behauptet wurde, die Serben zielten des Geldes wegen auf Kinder: “They target the children because of the money and because they are easier to kill. With their small size, the bullets make a bigger mess.”69 Es wurde die Zahl von 11.000 verletzten und 400 getöteten Kindern genannt. Inzwischen hat sich herausgestellt, dass die Meldung auf das kroatische Informationsministerium zurückzuführen ist. Zuerst erschien 67
Martin Löffelholz: Neue Schlachtfelder – alter Journalismus? In: Deutsche Welle (2001). S. 32. 68 Scott M. Cutlip: The Unseen Power. Public Relations. A History. Hillsdale, N.J. 1994. S. 771. 69 Karl Waldron: Spin Doctors of War. In: New Statesman & Society 12/13 (1992).
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die Gräuelgeschichte in einer kroatischen Zeitung. Der verantwortliche Journalist hat zugegeben, die Information vom kroatischen Informationsministerium bekommen und nicht weiter recherchiert zu haben: “Who could I ask? You can’t expect us to ring them [the Serbs] and believe them when they say it isn’t true.” Bei der Verbreitung der Gräuelstory hat die amerikanische PR-Agentur Ruder-Finn, die für Kroatien tätig war, mitgeholfen. Eine Mitarbeiterin der Firma, Rhoda Paget, hat zugegeben, bei der Verbreitung der “Cash for a Corpse”-Story beteiligt gewesen zu sein: “We were told it by a minister in the Croatian government. We merely informed them of its importance and have never checked its honesty. Neither do we have the resources to do so. Frankly, it’s just not our job. It’s the journalist’s job to check them out”. Das Motiv des Kindermordes tritt beim Feindbildaufbau immer wieder auf. In Timisoara wurden während der rumänischen Revolution des Jahres 1989 der Presse die Leichen schwangerer Frauen mit aufgeschlitzten Bäuchen vorgeführt, um die Brutalität der Securitate zu beweisen. Tatsächlich waren die Frauen eines natürlichen Todes gestorben und einer Autopsie unterzogen worden.70 Auf vergleichbare angebliche Gräuel hat auch der deutsche Verteidigungsminister Rudolf Scharping verwiesen, um den Angriff der NATO gegen Jugoslawien zu rechtfertigen: Die menschliche Empörung spielt eine große Rolle, die historische Erfahrung ebenso wie das Wissen um die Gräuel. Auf dem Balkan geht es ja nicht um Öl oder Rohstoffe. Was wir jetzt tun, geschieht wegen der mit äußerster Brutalität vorgenommenen Verletzung von Menschen- und Lebensrechten. [...] Aus einer Schule trieb man die Lehrer und Kinder heraus, hängte die Lehrer vor den Augen der Kinder auf und vertrieb die Kinder dann mit Gewehrkolben und Schüssen. Schwangeren Frauen wurden nach ihrer Ermordung die Bäuche aufgeschlitzt und die Föten gegrillt.71
Auf die Frage, ob dies verbürgt sei, antwortete Scharping: “Ich gebe solche Erzählungen nur weiter, wenn sie von mindestens zwei oder drei Zeugen unabhängig voneinander berichtet worden sind.”72 Zwei Zeugen reichen also – wer denkt Böses, wenn ein Minister so etwas weiter gibt? Im Rahmen der anti-serbischen Propaganda der PR-Firma Ruder-Finn bemühte sich die Firma in den USA auch um die amerikanischen Juden. Die Juden waren dabei als Zielgruppe nur schwer für die anti-serbische Sache zu gewinnen, da sich sowohl Tudjman als auch Izetbegoviü antisemitisch geäußert hatten. Als am 5. August 1992 Berichte über serbische Lager erschienen, wurden drei große jüdische Organisationen von der PR-Firma 70
Kevin Weaver: Body Counts. In: New Statesman & Society 13 (1992). In: Der Spiegel vom 26. 4. 1999. 72 Ebd. 71
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kontaktiert. In diesen Berichten stellte man Parallelen zwischen den Konzentrationslagern der Nazis und den Lagern in Serbien her. Den Organisationen wurde nahegelegt, Anzeigen in der New York Times zu veröffentlichen und vor dem Gebäude der UN Protestkundgebungen durchzuführen. Serbien wurde mit Nazi-Deutschland gleichgesetzt. James Harff, leitender Direktor von Ruder-Finn, bezeichnete es als den größten Erfolg, dass man es geschafft habe, die Juden auf die Seite der Serbengegner zu ziehen.73 James Harff informiert über den Propagandacoup von Ruder-Finn gegen die Serben. Ausgangspunkt war, dass zwischen dem 2. und dem 5. August New York Newsday Berichte über angebliche serbische Lager veröffentlichte: Da haben wir im Flug zugegriffen und drei jüdische Organisationen überlistet – die B’nai B’rith Anti-Defamation League, das American Jewish Committee und den American Jewish Congress. Wir haben ihnen vorgeschlagen, einen Beitrag in der New York Times zu veröffentlichen und eine Protestkundgebung vor dem Sitz der Vereinten Nationen zu organisieren. Das hat hervorragend funktioniert; die jüdischen Organisationen auf seiten der Bosnier ins Spiel zu bringen war ein großartiger Bluff. In der öffentlichen Meinung konnten wir auf einen Schlag die Serben mit den Nazis gleichsetzen. [...] Sofort stellte sich eine bemerkbare Veränderung des Sprachgebrauchs in den Medien ein, begleitet von der Verwendung solcher Begriffe, die eine starke emotionale Aufladung hatten, wie etwa ethnische Säuberung, Konzentrationslager usw., und all das evozierte einen Vergleich mit Nazi-Deutschland, Gaskammern und Auschwitz. Die emotionale Aufladung war so mächtig, daß es niemand wagte, dem zu widersprechen, um nicht eines Revisionismus bezichtigt zu werden. Wir hatten ins Schwarze getroffen.74
Auf den Einwand, er hätte nur die Newsday-Artikel, die sich auf anonyme Zeugen oder auf Informationen aus “zweiter Hand” stützten, zur Verfügung gehabt, bemerkte Harff: “Unser Job ist nicht, Informationen zu überprüfen. Wir sind dafür auch nicht ausgerüstet. Unsere Aufgabe ist es, [...] Informationen, die uns günstig erscheinen, schnell in Umlauf zu bringen und ein sorgsam ausgewähltes Ziel zu treffen.”75 Es besteht der starke Verdacht, dass auch Spitzenpolitiker in Deutschland getroffen worden sind. Auf einem Niveau mit der PR-Firma argumentierte Scharping, wenn er die serbische Regierung mit den Nazis gleichsetzte und behauptete, von den Serben “werden Selektionen vorgenommen, und ich sage bewusst Selektionen”.76 Damit wollte er an die Konzentrationslager der Serben erinnern. Der deut-
73
Interview mit James Harff. In Jacques Merlino: Les Vérités Yougoslaves ne sont pas toutes bonnes à dire. Paris 1993. Übers. nach Beham (Anm. 74f., nachfolgend). 74 Mira Beham: Kriegstrommeln. Medien, Krieg und Politik. München 1996. S. 174. 75 Ebd. S. 175. 76 In: Der Spiegel vom 26. 4. 1999. S. 33.
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sche Außenminister Fischer meinte: “Ich habe nicht nur gelernt: Nie wieder Krieg. Sondern auch: Nie wieder Auschwitz.”77 Mira Beham hat die Aktivitäten von Ruder-Finn für Kroatien, BosnienHerzegowina und den Kosovo zusammengefasst. Für Bosnien registriert sie 1992 u. a. folgende ‘kommunikative Interventionen’: x Ein Lehrgang für den bosnischen Außenminister Haris Silajdžiü im Umgang mit den Medien. x Die Ausarbeitung eines Pakets von Aussagen, die ständig wiederholt werden sollten. x Die Erstellung einer Liste der wichtigsten Kongressabgeordneten und Mitarbeiter des State Department, nationaler und internationaler Medien. x Das Verfassen von Kommuniqués an den amerikanischen Kongress. x Das Verfassen von insgesamt 17 Briefen, die von Izetbegoviü und Silajdžiü unterzeichnet wurden – u. a. an den Vorsitzenden des UN-Sicherheitsrats, Präsident Bush, Margaret Thatcher, US-Außenminister Baker sowie die Vorsitzenden von KSZE, EG, und WEU. x Die Organisation von Treffen des bosnischen Außenministers mit US-Staatssekretär Eagleburger, mit Margaret Thatcher, Al Gore (damals Kandidat für den Vizepräsidenten); Kontakte mit 17 einflussreichen Senatoren. x Die Formulierung und Platzierung von Leitartikeln in New York Times, Washington Post, USA Today und Wall Street Journal. x Die Organisation von Pressekonferenzen und Interviews für Izetbegoviü und Silajdžiü.78
Ein Musterbeispiel für die ‘Ethik’ der Public Relations ist die Tatsache, dass Ruder-Finn für sein Bosnien-Engagement 1993 die Silbermedaille der Public Relations Society of America (PRSA) erhielt.79 Für den Alltag der PR gilt leider noch viel zu häufig die Paraphrase eines Ausspruches von Bertolt Brecht: Öffentlichkeitsarbeiter sind ein Geschlecht erfinderischer Zwerge, die für alles gemietet werden können.80
77
Ebd. Beham: Kriegstrommeln (Anm. 74). S. 170ff. 79 Ebd. S. 172. 80 Im Leben des Galilei charakterisiert Galilei die Naturwissenschaftler als “ein Geschlecht erfinderischer Zwerge, die für alles gemietet werden können”. In Szene 14 wird ausgeführt: “Hätte ich widerstanden, hätten die Naturwissenschaftler etwas wie den hippokratischen Eid der Ärzte entwickeln können, das Gelöbnis, ihr Wissen einzig zum Wohle der Menschheit anzuwenden! Wie es nun steht, ist das Höchste, was man erhoffen kann, ein Geschlecht erfinderischer Zwerge, die für alles gemietet werden können.” Die Stücke von Bertolt Brecht in einem Band. Frankfurt/M. 1992. S. 537. 78
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V. Der Krieg gegen den Terrorismus Über die Manipulation der öffentlichen Meinung während des AfghanistanKrieges liegen bislang nur geringe Kenntnisse vor. Arundhati Roy hat angesichts des Angriffs der USA auf Afghanistan die Rhetorik von Präsident George W. Bush, Jr., analysiert und dessen Denkstrukturen als ähnlich denen Osama bin Ladens charakterisiert. Der eine habe die Dichotomie Gläubige versus Ungläubige, der andere sehe den Weltkampf zwischen Gut und Böse. Beide reduzierten die komplexe Realität zu simplen SchwarzWeiß-Bildern. Als Bush den Angriff ankündigte, sagte er: “Wir sind eine friedliche Nation”. Roy kommentiert: “Jetzt wissen wir Bescheid. Schweine sind Pferde. Mädchen sind Jungen. Krieg ist Frieden.”81 In einem Essay mit dem Titel Dieser Krieg ist längst verloren 82 verweist der britische Schriftsteller John Le Carré darauf, dass es sei, “als hätten wir eine neue Orwellsche Welt betreten, in der unsere persönliche Zuverlässigkeit als Mitstreiter im Kampf danach beurteilt wird, wie weit wir bei der Diskussion der Gegenwart die Vergangenheit einbeziehen. Jeder Hinweis darauf, dass die jüngsten Anschläge in einem historischen Zusammenhang stehen, gilt als Rechtfertigung. Wer auf unserer Seite steht, tut dergleichen nicht, und wer es doch tut, ist gegen uns.” Zur Ursache des Krieges in Afghanistan meint Le Carré: “Es ist eine furchtbare, notwendige, demütigende Polizeiaktion, die das Versagen unserer Geheimdienste wettmachen soll und unsere politische Blindheit, die uns dazu brachte, islamische Fanatiker zu bewaffnen und als Kämpfer gegen die sowjetische Invasion zu instrumentalisieren.”83 Eine sich insbesondere nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges herauskristallisierende Tendenz ist die Privatisierung der Kriegs- und damit auch Gräuelpropaganda. Immer häufiger haben PR-Firmen für kriegführende Staaten gearbeitet. Die Grenzen zwischen staatlicher und “privater” Kommunikation in Kriegszeiten verwischen sich immer mehr. Es sei nur nochmals auf Hill & Knowlton und den Golfkrieg oder Ruder-Finn und die Konflikte im zerfallenden Jugoslawien verwiesen. Wie fließend die Übergänge zwischen Staat und Privatwirtschaft sind, verdeutlichte auch Außen-
81
Arundhati Roy: Krieg ist Frieden. In: Der Spiegel 44 (2001). S. 182. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. 10. 2001. S. 49. 83 Ebd. Le Carré bemerkt zur Rhetorik von Tony Blair, man könne den leisen Hinweis heraus hören, dass wegen der Wichtigkeit der Mission in Afghanistan dringend notwendige Reformen in Großbritannien weiter heraus geschoben werden würden. Blair regiere dabei ein heruntergewirtschaftetes Land: “Die Krankenhäuser, die Schulen, das Verkehrswesen sind eine einzige Katastrophe. Gern redet man bei uns von Verhältnissen wie in der Dritten Welt, doch es gibt Länder in der Dritten Welt, die viel besser dastehen als wir.” 82
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minister Colin Powell, der Anfang September 2001 – also vor dem Terroranschlägen in New York und Washington – sagte, er wolle für das Außenministerium “einen der weltbesten Werbefachleute” als Mitarbeiter gewinnen. Powell führte aus: “Wir sind Verkäufer. Wir verkaufen das freie Wirtschaftssystem, das amerikanische Wertesystem; ein Produkt für das es einen großen Bedarf gibt.”84 Die neue “Verkäuferin” bzw. Staatssekretärin für Public Relations im Außenministerium wurde Charlotte Beers, die vormalige Chefin der Werbeagenturen J. Walter Thompson (1998) sowie Ogilvy & Mather Worldwide (1992–1997).85 Zu Beginn ihrer Karriere war Beers Produktmanagerin von Uncle Ben’s Rice. In einem Interview nach den Terroranschlägen erwähnte sie ihr Interesse, Sendezeiten beim arabischen Satellitensender al-Jazeera kaufen zu wollen, der auch Videos von Osama bin Laden ausgestrahlt hatte. Der Kampf gegen den Terrorismus sei auch ein geistiges Duell, bei dem Amerika neue Wege gehen müsse. Defizite in der PR sieht Beers vor allem bei der Vermittlung amerikanischer Werte im Ausland: “Wir müssen den Menschen verständlich machen, was die Worte Freiheit und Toleranz bedeuten.” 86 In diesem Kontext ist zweifellos relevant, dass bereits am 15. September 2001, also nur vier Tage nach den Terroranschlägen in Washington und New York, der PR-Berater Thomas Lauria die Arbeit (Media Relations) für die afghanische Nordallianz in den USA übernahm.87 Die Nordallianz suchte Hilfe, “um Washington von ihrer Kampfbereitschaft und -fähigkeit zu überzeugen.” Nach eigenen Angaben hat Lauria Informationen über Afghanistan von der Lobbyistin für den afghanischen Außenminister bekommen, die sich – so Lauria – “extrem gut” auskennt. Inzwischen arbeitet er für die Interims-Regierung Hamid Karzai. Medienereignisse wurden bei dessen Besuch in den USA inszeniert (natürlich ist das Selbstdarstellung): “Es gab eine eindrucksvolle Zeremonie zum Hissen der Flagge in der alten afghanischen Botschaft in Washington und eine Veranstaltung für in den USA lebende Afghanen an der Uni, die wunderbare TV-Coverage bekommen hat. So haben wir mit ungewöhnlich knappen Ressourcen sehr viele Zuschauer erreicht.” Anfang 2002, im Aprilheft des prmagazin, kommentierte Lauria, dass sich der Fokus des Krieges gegen Afghanistan verändere: “Die Öffentlichkeit schaut in Richtung Philippinen, Indonesien, Somalia, Irak [...]. Wir müssen natürlich aufpassen, dass die Welt jetzt nicht das Interesse an Afghanistan verliert.”
84
In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18. 10. 2001. S. 16. Beide Unternehmen gehören zu den zehn größten Werbeagenturen der Welt. 86 In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18. 10. 2001. S. 16. 87 Vgl. Interview mit Thomas Lauria. In: prmagazin 33 (2002). H. 4. S. 32-34. 85
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Angesichts des Krieges gegen den Terrorismus, bei dem Geheimhaltung unumgänglich ist, steht eine Wiederbelebung der literarischen Kriegsberichterstattung zu befürchten, die sich nicht so sehr an den Fakten orientiert, sondern aus ‘dramaturgischen’ Gründen den Wahrheitsbegriff flexibel interpretiert und dem Autor große literarische Gestaltungsspielräume ‘zugesteht’. Der Grund hierfür kann zum einen effektive Zensur sein, das heißt die Journalisten bekommen keine umfassenden Informationen. Zum anderen kann aber auch das Gefühl der Journalisten, in einem gerechten Kampf beteiligt zu sein (gegen die Deutschen, gegen die Serben, gegen die Faschisten, gegen die Terroristen usw.), dazu führen, dass vorgefasste Wahrnehmungsstrukturen die Selektion und Interpretation von Fakten beeinflussen. Meisterwerke der literarischen Kriegsberichterstattung sind etwa die Berichte aus dem Abessinienkrieg von Evelyn Waugh. Die Reporter waren nur in einem Hotel in Addis Abeba untergebracht und hatten keinerlei Zugang zur Front. Waugh beschreibt sein Leben als Kriegsberichterstatter, das Fehlen von Informationen über den Kriegsverlauf und seine Unkenntnis des Landes.88 Einer der Höhepunkte der literarischen Kriegsberichterstattung stellte der Spanische Bürgerkrieg dar. Ernest Hemingway verfasste Wem die Stunde schlägt (For Whom the Bell Tolls) und schildert darin seine Erfahrungen im Bürgerkrieg. George Orwell schrieb1938 seine Homage to Catalonia und brachte darin die Problematik der Kriegsberichterstattung auf den Punkt: “Als eine der traurigsten Wirkungen des Krieges erkannte ich, dass die Presse der Linken bis ins kleinste genauso falsch und unehrlich ist wie die der Rechten.”89 Objektivität und damit verbunden Neutralität scheint auch im Afghanistan-Krieg der USA die amerikanischen Massenmedien nicht auszuzeichnen.90 “America first, journalist second”, lautet das Motto der journalistischen Patrioten. Dan Rather, der wohl bekannteste amerikanische Fernsehmoderator meinte, wenn ihn der Präsident zur Pflicht rufe, stehe er bereit. Nachdem Milzbrandsporen in seinem Büro gefunden worden waren, meinte Rather auf die Frage, wie er das Vorgehen der Behörden einschätze: “Selbst wenn ich Anlass hätte, Kritik zu üben, würde ich es nicht tun.” Allerdings sei er bereit, wenn ihn der Oberbefehlshaber rufe, das Gewehr zu schultern und Latrinen zu reinigen.91 Der Anchorman von Fox, Brit Hume, dokumentierte in seiner Sendung, wie viel Zeit die Konkurrenz – also ABC, NBC und CBS – darauf verwandt hatte, um in den Hauptnachrichtensendungen Bilder
88
Evelyn Waugh: Scoop. London 1938. George Orwell: Mein Katalonien. Bericht über den spanischen Bürgerkrieg. Übers. von Wolfgang Rieger. Zürich 1975. S. 82f. 90 Vgl. zum folgenden Absatz: Der Spiegel 46 vom 12. 11. 2001. 91 In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22. 11. 2001. S. 51. 89
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von afghanischen Kriegsopfern zu zeigen. In einer Diskussionsrunde von Journalisten wurde dann sogar geschlussfolgert, tote und verletzte Zivilisten hätten überhaupt keinen Nachrichtenwert. Laut Spiegel hat der Sprecher des Weißen Hauses, Ari Fleischer, die Amerikaner sogar ermahnt, sie sollten “aufpassen, was sie sagen”. Der Chef von CNN, Walter Isaacson, hat in einem Memo seine Korrespondenten aufgefordert, jeden Anschein zu vermeiden, dass CNN den amerikanischen Militäreinsatz in Frage stelle. Die Berichterstattung solle sich nicht zu sehr auf die Opfer und das Elend in Afghanistan konzentrieren. Ein Vorschlag für die Abmoderation von Korrespondentenberichten aus Afghanistan lautete: “Die amerikanische Militäraktion ist eine Antwort auf den Terroranschlag, der 5.000 unschuldige Menschen in den USA getötet hat.”92 VI. Resümee Objektive und aktuelle Berichterstattung im Kriegsfall ist nicht zu erwarten, da jeder Militär und jede Regierung daran interessiert sein muss, die Nachrichten zu beeinflussen, um damit die öffentliche Meinung zu steuern. Senator Hiram Johnson hat dies 1917 auf den Punkt gebracht: “The first casualty when war comes is truth.” Entscheidend für die Demokratie ist, dass in der jeweiligen Nachkriegszeit aufgearbeitet wird, wie Informationen manipuliert worden sind. Auch in Demokratien gilt für die Kriegsberichterstattung: 1. Im Krieg haben Journalisten, wenn sie aktuell und objektiv berichten wollen, nichts verloren. Der Schaden, den sie möglicherweise anrichten, ist zu groß. 2. Die paradoxe Kommunikation im Krieg mit dem Gegner erfordert absolute Kontrolle über Informationen. 3. Journalismus ist im Krieg aber nicht unbedingt nutzlos, sondern kann auch militärisch sehr wichtig werden, wenn die Journalisten als Öffentlichkeitsarbeiter instrumentalisiert werden können, um einerseits den Gegner zu täuschen und um andererseits die eigene Öffentlichkeit oder die Weltöffentlichkeit zu steuern.
92
In: Der Spiegel 46 vom 12. 11. 2001.
Ole Frahm
Zwischen den Linien Zur Kriegsdarstellung in Comics von George Herriman, Harvey Kurtzman und Jacques Tardi This article discusses how the atrocities of war can be represented in comics. It is frequently stated that comics are affirmative or at best unable to show the realities of war. Analyzing three examples from three different times – 1918, 1951, 1992 – and from three different sources of printed media – a Sunday paper page, a short story from a comic book, a graphic novel – the article shows that the specific means of the mediality of comics not only address the question of war but also explore new ways on how to cope with war visually. The juxtaposition of word and image, the closure between the panels and the page lay-out as used in George Herriman’s Krazy Kat, Harvey Kurtzman’s Rubble and Jacques Tardi’s C’était la guerre des tranchées, are ways of conveying ‘between the lines’ what war means, and that the meaning of war itself is a contested field.
I. Vorbemerkung Als es der us-amerikanischen Comicindustrie nach dem 11. September 2001 besser zu gehen schien als die Jahre zuvor, kam verschiedentlich die These auf, Comics und Krieg ständen in einem genuinen Verhältnis.1 Das Bedürfnis nach gezeichneten Geschichten, nach bunten, aufregenden Bildern wachse in Zeiten der Katastrophe. Das unvorstellbare Geschehen, der vielfache Tod verlange mehr und andere Bilder, als sie jeweils im Umlauf wären. Tatsächlich gibt es zumindest ein historisches Beispiel, das diese These schlagend zu beweisen scheint. Die Entstehung der Comic Books, der zum größeren Teil bis heute monatlich erscheinenden Comichefte, und die Glanzzeit ihrer Produktion, das so genannte Golden Age, fiel in die Zeit des Zweiten Weltkriegs. 1938 erschien der berühmte Superman zum ersten Mal in Action Comics, woraufhin sich dessen Auflage bis Anfang der Vierziger so steigerte, dass viele andere Verlage auf den Zug aufsprangen. Unzählige Superhelden bevölkerten nun die Zeitungsstände, um von dort aus die Amerikaner und die Welt vor den Nazis zu retten. Erst Mitte der fünfziger Jahre ebbte dieser Boom aus verschiedenen Gründen ab. Die Verbreitung des Fernsehens, eine umfängliche Kampagne gegen die Comics bis zu öffentlichen Senatsanhörungen und die Selbstbindung der Comic-Verlage an 1
So zum Beispiel in einer internationalen Diskussionsliste wissenschaftlicher Comicforscher (
[email protected] oder unter http://web.english.ufl.edu/ comics/scholars/).
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einen Code, der jede drastische Abbildung von Gewalt unterband, kamen zusammen – das Ende des Korea-Krieges hingegen ist kaum als Ursache des Rückgangs in Betracht zu ziehen.2 Ein Kurzschluss zwischen Krieg und Comics, von historischen Ereignissen und kultureller Produktion ignoriert die Kontingenz, die deren Entwicklung eignet. Es ist zu einfach, die Popularität der Comic Books mit dem Zweiten Weltkrieg zu erklären. Es ist zu einfach, mit einer verkürzten BasisÜberbau-Theorie Comics als Bildproduzenten zu identifizieren, die Leser und Leserinnen für den Krieg begeistern können und sollen: aufgrund ihrer Einfachheit, ihrer Schemata, der simplen Figuren und Geschichten und nicht zuletzt wegen der Onomatopöien, die Geschosse und Gefechtslärm überzeugend repräsentieren. Mag sich auch manches Moment in der relativ kurzen Geschichte der Comics so darstellen lassen: Für die medialen Bedingungen, die Comics mit den ihnen eigenen Mitteln ermöglichen, ist dieser Kurzschluss kaum zulässig. Es müsste vielmehr untersucht werden, wie Krieg im Comic überhaupt darstellbar geworden ist. Dabei wäre gerade die relative Eigenständigkeit ihrer kulturellen Produktion zu berücksichtigen. Im Folgenden ist es kaum möglich, eine solche Untersuchung in erschöpfender Breite und Tiefe durchzuführen. Vielmehr möchte ich drei historisch differente Fallbeispiele vorstellen, zwischen deren Linien sich diese grundsätzliche Frage der Darstellbarkeit lesen lässt. Während der Kurzschluss zwischen Comics und Krieg deren wechselseitige Bezogenheit annimmt und ihren affirmativen Charakter von vornherein behauptet, stellen die Comics, um die es hier geht, eben dieses Verhältnis durch ihre spezifischen medialen Mittel in Frage. Die drei Beispiele, die ich ausgewählt habe, Krazy Kat von George Herriman, Rubble! von Harvey Kurtzman und C’était la guerre des tranchées von Jacques Tardi sind keineswegs repräsentativ. Sie lassen sich eher als Modelle dessen verstehen, was unter den unterschiedlichen medialen Bedingungen der Comics ermöglicht werden kann. Denn alle drei Comics sind auf verschiedenen Trägermedien erschienen. Krazy Kat ist ein Zeitungsstrip, der seit 1914 wochentags und seit 1917 auch sonntags erschien. 1944, mit dem Tod des Zeichners, wurde die Serie eingestellt. Hier wird eine Sonntagsseite vom 30. Juni 1918 diskutiert, die sich auf den Ersten Weltkrieg bezieht. Rubble! ist eine sechsseitige Kurzgeschichte, die während des Korea Krieges in der Comicheft-Serie Two-Fisted Tales des Verlags Entertaining 2
Diese Phase der Comicgeschichte ist verhältnismäßig gut erforscht. Als Überblick dient Bradford W. Wright: Comic Book Nation. The Transformation of Youth Culture in America. Baltimore, London 2001. Einige Einzelanalysen bietet William W. Savage, Jr.: Comic Books and America 1945–1954. Norman, London 1990 und Ian Gordon: Comics Strips and Consumer Culture 1890–1945. Washington, London 1998. S. 128-151.
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Comics (E.C.) in Heft 24, November/Dezember 1951 veröffentlicht wurde. C’était la guerre des tranchées schließlich ist ein Comicalbum, das 1993 in den Buchhandel kam und 2002 von Michael Hein ins Deutsche übersetzt wurde. Der mediale Rahmen – die Zeitung, das Comicheft, das Buch – stellt jeweils ein begrenztes Format zur Verfügung, innerhalb dessen die Produzenten arbeiten müssen und das notwendig Einfluss auf die Möglichkeiten der Darstellung hat.3 Zugleich arbeiten alle Zeichner mit Mitteln, die, unabhängig von den je verschiedenen Definitionen, als für Comics typisch gelten dürfen. Die Einteilung in verschiedene Bilder (Panels), die sich in den Beispielen nicht nur zum Streifen, sondern als Seiten komponiert finden, die Konstellation von Schrift und Bild innerhalb der Panels (sei es als Blocktext getrennt vom Bild oder als Sprechblase im Bild) sowie stehende oder zumindest wiedererkennbare Figuren: Alle diese Mittel lassen sich als Wiederholungen verstehen, die auf kein ‘Original’ zurückzuführen sind.4 Die Zeichen wiederholen einander ohne erste Referenz, ohne dass diese immanente Selbstreferentialität selbstgenügsam würde. Sie befragen sich gegenseitig auf ihre Referentialität. Zwischen den Linien der Comics, zwischen Bild und Schrift tut sich keine Leere auf, die vom Bewusstsein der Leser und Leserinnen mit Bildern zu schließen wäre. Das Weiß zwischen den Panels ließe sich eher als Niemandsland beschreiben, das in seiner Opazität ein – bedeutungspolitisch – umkämpftes Feld eröffnet. Weil sich zwischen den gezeichneten Linien der Comics keine endgültige Wahrheit verbirgt, lässt sich mit ihnen die historische Frage stellen, was der Krieg in den modernen Gesellschaften bedeutet. II. Krazy Kat – Zwischen den Gräben Krazy Kat gehört wie kaum ein anderer Zeitungsstrip zum Kanon der Comics, die das 20. Jahrhundert überdauern werden.5 Seine Sonntagsseiten erschienen ungewöhnlicherweise im Feuilleton der Zeitungen – und nicht wie andere Strips in der Comic-Beilage. Er wurde von Intellektuellen – wie Edward Estlin Cummings – und Comic-Zeichnern – wie Charles M. Schulz 3
Zur Bedeutung des Formats für die Comics vgl. Pascal Lefèvre: The Importance of Being ‘Published’. A comparative Study of Different Comics Formats. In: Comics Culture. Hg. von Anne Magnussen und Hans Christian Christiansen. Kopenhagen 2000. S. 91-106. Eine weitergehende Untersuchung dieses Verhältnisses steht aus. 4 Vgl. Ole Frahm: Weird Signs. – Zur parodistischen Ästhetik der Comics. In: Ästhetik des Comic. Hg. von Michael Hein, Michael Hüners und Torsten Michaelsen. Berlin 2002. S. 201-216, insb. S. 204f. 5 Vgl. allgemein zum Strip und zur weiterführenden Literatur. Ole Frahm, Michael Hein: Krazy Kat. In: Lexikon der Comics. Hg. von Marcus Czerwionka. 4. Erg.-Lfg. November 1992.
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– hochgeschätzt.6 Bisher sind die ersten 11 Jahre der Sonntagsseiten und nur sehr wenige Tagesstrips wiederveröffentlicht.7 Einzelne Sammlungen haben Material aus den verschiedenen Zeiten des Strips zugänglich gemacht.8 Bis heute gibt es keine umfängliche Interpretation dieses Comics in seiner zeitlichen Entwicklung. Stattdessen wurde immer wieder die allgemeine Konstellation des Strips gedeutet, die gerade in ihrer Ambivalenz zu den verschiedensten Interpretationen einlädt:9 Krazy Kat, die Titelfigur, ist verliebt in Ignatz Mouse. Doch die Maus hasst die Katze und wirft ihr darum regelmäßig Ziegelsteine an den Kopf. Die verrückte Katze fasst diese aber als Liebesbeweise auf. Ab 1918 tritt vermehrt ein Hund in diese Situation ein, Offissa Pupp, der wiederum in die Katze verliebt ist und Ignatz Mouse für seine Taten ins Gefängnis steckt. Die Varianten dieser Konstellation sind zahlreich, gerade auf den Sonntagsseiten treten verschiedene Nebenfiguren hinzu, mit denen sich die Verhältnisse weiter verkomplizieren. Aufgrund der reduzierten Wüstenlandschaft von Coconino County, in der die reduzierte Handlung ihren Lauf nimmt und die von Panel zu Panel vollständig wechseln kann, ist der Strip immer wieder gerne als surrealistisch gekennzeichnet worden und wurde nicht in seiner historischen und politischen Tagesaktualität gelesen. Die Sonntagsseite vom 30. Juni 1918, die ich hier diskutieren möchte, würde im Sinne der gängigen Interpretationen einfach eine weitere Variation des verkehrten Spiels zwischen Katze und Maus bieten (Abb. 12.1). Ignatz und Krazy befinden sich jeweils in Gräben, die Maus versucht wie so oft die Katze mit Steinen zu treffen. Die Katze sieht diese jeweils zu spät, eilt hin und her, ohne den erhofften Schlag auf den Kopf zu ergattern. Schließlich robbt sich Ignatz hinüber, zieht eine Linie von der Position, wo sich Krazy im Graben befindet bis zu dem eigenen Graben und landet von dort aus einen erfolgreichen Steinwurf. Angesichts der Tatsache, dass viele Seiten so harmlos, fast slapstickhaft daherkommen wie diese, ist der Bezug auf den 6 7
Für die erste Anthologie von 1946 schrieb E. E. Cummings das Vorwort.
Zuletzt erschien George Herriman: Krazy & Ignatz. Volume 1: The Dailies 1918– 1919. Hg. von Gregory J. Fink. Edmonton 2001. George Herriman: Krazy & Ignatz. The Complete Full Page Comic Strips 1927–1928. Hg. von Bill Blackbeard. Seattle 2002. 8 Besonders George Herriman: Krazy Kat. The Comic Art of George Herriman. Hg. von Patrick McDonnell, Karen O’Connell und Georgia Riley de Havenon. New York 1986. 9 Hervorzuheben sind die Interpretationen von Jens Balzer: Maus quält Katze, Hund kommt immer zu spät. Rückkehr zur Zwangswiederholung mit und ohne Sherrie Levine. In: Festschrift für Kathrin Hoffmann-Curtius. Hg. von Maike Christadler und Hilla Frübis. Marburg 1997. S. 20-24. Ders.: Der Horizont bei Herriman. Zeit und Zeichen zwischen Zeitzeichen und Zeichenzeit. In: Ästhetik des Comic. Hg. von Michael Hein, Michael Hüners und Torsten Michaelsen. Berlin 2002. S. 143-152.
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Ersten Weltkrieg nicht unmittelbar einsichtig. Die Szene scheint nicht in Europa, sondern wie immer in der Wüste Arizonas zu spielen. Es gibt keine Waffen, es gibt keine Soldaten – es gibt alleine die Gräben, die an den Ersten Weltkrieg erinnern könnten. Sie erscheinen nicht zum ersten Mal in Krazy Kat. Am 20. Mai 1917, die USA hatten erst wenige Wochen zuvor den Krieg gegen Deutschland erklärt, erscheint eine viel offensichtlichere Seite, auf der “Korporal Krazy Kat” von einem “Jineral” in den Graben geschickt wird, um nachzusehen, ob Freund oder Feind sich dort befinden. In dem anderen Graben lauert Ignatz. Nachdem Krazy niemanden beobachtet hat, wird er beim Verlassen des Grabens von einem Ziegelstein getroffen. Krazy berichtet dem Soldaten zu dessen Verwunderung, dass er nichts gesehen habe, aber ein Freund sich dort befinde. Hier ist der Bezug auf ein historisches Ereignis deutlich: Erst wenige Tage zuvor, am 18. Mai 1917 hatte der Kongress beschlossen, 500 000 USBürger zu rekrutieren. Einer von ihnen ist Krazy Kat, der aber, verrückt wie die Katze nun einmal ist, den Ernst der Lage nicht versteht. Zur Erklärung der Seite vom 30. Juni 1918 ist der Hinweis auf aktuelle Ereignisse weniger hilfreich. Zwar hat sechs Tage zuvor die US-Armee bei ihrem ersten Einsatz in Catigny erfolgreich gekämpft, doch scheint dies zum Verständnis der Seite kaum beizutragen. Die Seiten von Krazy Kat dürfen nicht auf mögliche historische Ereignisse reduziert werden. Krazy Kat bildet den Krieg weder ab, noch stellt ihn der Comic dar, sondern er ist verrückt: crazy mit einem ‘k’. Der Krieg findet sich hier nicht an der Stelle, wo er gemeinhin erwartet werden würde – im drastischen, im Schreckensbild –, sondern er ist zwischen die Linien verrückt; er lässt sich nur zwischen den Linien entdecken. Anders als auf der Seite vom 28. Mai 1917, auf der die Panels nummeriert und der größere Teil gerahmt ist, setzt sich der weiße Raum in den Zeichnungen, von zwei entscheidenden Ausnahmen abgesehen, über die ganze Seite hinweg ungebrochen zwischen den Zeichnungen fort. Das Weiss zwischen den Gräben wird zum Weiss zwischen den Panels – durch die verschiedenen Orte und Funktionen auf der Seite: Zugleich zweierlei Weiss und beide Male gleich Weiss wie das Papier. Das eine Mal Niemandsland zwischen den Gräben, konturiert durch wenige Striche, das andere Mal das Niemandsland zwischen den Panels, den Gräben der Darstellung, den notwendigen Ausschluss thematisierend, wenn etwas gezeichnetes Bild werden soll. Während das Weiss im Bild öde Landschaft, Wüste zeigt, lässt sich die Öde zwischen den Bildern nicht mit Bildern füllen. Das gerahmte Panel in der geometrischen Mitte der Seite ließe sich demgegenüber als Bild des Krieges lesen: Ein Soldat schleicht sich an, ein anderer ist im Graben – ahnungslos, nichts ahnend. Eine Situation der Gefahr für beide. Doch was sagt diese Situation über den Ersten Weltkrieg
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aus? Als einzelnes Bild, wie eine Fotografie betrachtet, bleibt es bedeutungslos. Im Kontrast des schwarzen Himmels zum Weiss der restlichen Seite wird positiv sichtbar, dass diese Zeichnungen nicht alles sind, dass Bilder fehlen, Bilder vom Krieg fehlen, die eine Vorstellung von dem geben könnten, was in Europa stattfindet. Es gibt kein Bild von diesem Krieg: Allen Bildern ist zu misstrauen, weil es Bilder sind, weil einzelne Bilder nie genug sind. In der öden, weißen Leere dieser Seite lässt sich so eine implizite Kritik an den Umgang mit Helden- und Schreckensbildern vom Krieg lesen, Fotografien, wie sie damals begannen in der Zeitung neben Krazy Kat zu erscheinen, und von denen bis heute behauptet wird, dass sie zumindest eine Vorstellung vom Krieg geben könnten. Ihre Bedeutung als Dokumente wird von Herriman nicht geleugnet, aber zwischen den gezeichneten Bildern wird deutlich, wie wichtig es ist, sie einzeln und in Reihen genau zu lesen – sie zu konstellieren und in dieser Lektüre zu reflektieren, was sich den Bildern entzieht und welchen Entzug die Bilder erst produzieren; und schließlich die Frage aufzuwerfen, wie die Bilder zwischen den Bildern ein Bild vom Krieg zusammenfügen, dass diesen als natürlich erscheinen lässt. Wer glaubt, Bilder unmittelbar oder intuitiv verstehen zu können, wird durch Krazy Kat und den Zwang einer genauen Lektüre eines Besseren belehrt. Dieses genaue Lesen zwischen den Bildern übt diese Seite in ihrer präzisen Komposition ein. Das siebte Panel ist zwischen den Panels in den Ecken der Seite eingespannt. Das erste Panel wird vom letzten mit Differenzen wiederholt. Krazy und Ignatz befinden sich beide Male im Graben, zwischen ihnen das Niemandsland. Doch während zu Beginn Ignatz zu lauern und Krazy zu warten scheint, ist diese Spannung im 13. Panel als Missverständnis aufgelöst: Was dem einen der gute Treffer ist, ist dem anderen die Erfüllung eines kleinen Glücks. Die Verbindungslinie durch das Niemandsland zeigt an, wie weit die beiden Interpretationen des Geschehens, das durch sie ermöglicht wurde, getrennt sind. Sie ist auch die entscheidende Differenz zwischen dem zweiten und dem elften Panel. Der erste Wurf miss-, der zweite gelingt. Die Verbindungslinie ermöglicht nicht nur den Treffer, sondern auch die konkurrierenden Lektüren eines Zeichens – des Ziegelsteins –; die Seite stellt den Krieg nicht dar, sondern verschiedene Lektüren des Krieges. Die Verbindungslinie erzeugt deren sichtbare Trennung: Einen gewalttätigen Wurf als Gewalt durch den Täter, als Wohltat für den Getroffenen. Die Verrückung des Krieges als vielfacher Mord wird von der verrückten Katze vorgenommen – als Kriegsbegeisterung wie sie sich im “all is
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well” artikuliert.10 Aber auch Ignatz Mouse verkennt den Krieg, wenn er in seinem Pragmatismus das “good hunting” als einziges Ziel begreift, das erfolgreich erfüllt werden kann. Es gibt keinen Erfolg im Krieg. Die Seite verrückt den Blick auf den Krieg, indem sie beide Positionen als verrückte ausstellt und zwischen den Linien sichtbar werden lässt, dass es etwas jenseits der wiederkehrenden, scheinbar unauflöslichen Konstellation von Maus und Katze geben könnte: nicht jenseits des Missverständnisses, nicht in der Rückkehr zur Natur, in der die Katze die Maus jagt, sondern in der ausgeschlossenen Möglichkeit anderer Bilder. Gerade der stete Wechsel der Hintergründe erinnert daran, dass eine andere Situation von einem Moment auf den nächsten vorstellbar ist. Indem die Seite das Niemandsland zwischen den beiden Missverständnissen des Krieges mit dem Niemandsland zwischen den Panels konstelliert, wird das Paradox der medialen Darstellung des Krieges verdeutlicht: Weder die abbildhafte Fotografie noch die völlige Selbstreferentialität und schon gar nicht der Rückgriff auf eine authentische Erfahrung können auflösen, dass es im Niemandsland zwischen den Gräben eine Auseinandersetzung um die Bedeutung geben muss. III. Rubble! – Zwischen Trümmern! Mit einem Ausrufezeichen kündigt das erste Panel den Titel der sechsseitigen Geschichte an – Rubble! – als sei die Geschichte des Krieges eine Sensation. Diese Ästhetik der Sensation, durch die Leser und Leserinnen für die Lektüre begeistert werden sollen, ist für die Serien des Verlages Entertaining Comics Anfang der fünfziger Jahre typisch.11 Doch anders als den ebenfalls in Two-Fisted Tales erschienenen Stories Bunker Hill!, Luck!, oder Old Soldiers never die!, wo schon im Titel aufregende Kriegsabenteuer versprochen sind, liegt bei Rubble! – Trümmer! – die Sensation in der Verschiebung der Perspektive auf den Krieg. Nicht von Soldaten und ihren Heldentaten oder unschuldigen zivilen Opfern wird erzählt, sondern die Dinge selbst, die durch den Krieg entstehen, berichten davon, was der Krieg bedeutet.12
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Vgl. die Seite vom 2. Juni 1918, auf der Krazy sich begeistert zeigt, dass Ignatz sein Geld statt für Ziegelsteine für Kriegsanleihen ausgibt, woraufhin dieser jenem einen Pflasterstein an den Kopf wirft. 11 Vgl. allgemein zur Ästhetik von E. C. Ole Frahm: Different Drafts of a “Future Horizon”: Weird Science versus Nick der Weltraumfahrer. In: Visions of the Future in Germany and America. Hg. von Norbert Finzsch und Hermann Wellenreuther. Oxford, New York 2001. S. 471-485, insb. S. 478. 12 Es ist anzumerken, dass die Geschichten der Entertaining Comics grundsätzlich von solchen Verschiebungen leben, Rubble! stellt innerhalb der Two-Fisted Tales die konsequenteste Umsetzung dieser Verschiebung dar.
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Harvey Kurtzman hat seine kurze Geschichte über die Reste der Zerstörung ausgesprochen klar gegliedert. Ein Raster liegt allen Seiten zugrunde, dass diese in drei gleichgroße Zeilen unterteilt. Nur auf der ersten Seite wird durch ein großes splash panel davon abgewichen, um als Exposition eine Kanone der US-Armee auf zerstreuten Trümmern zu zeigen. Während das erste Panel nahe legt, es ginge in der Geschichte um die Trümmer, die von der gerade ausgelösten Kanone erzeugt wurden, zeigt das zweite, über die ganze Breite der Seite gehende Panel die öde Landschaft, in der die Kanone steht. Wie oft in E. C.-Comics werden die Leser und Leserinnen direkt von dem Erzähltext angesprochen und in diesem Falle rhetorisch über ihre Meinung zur Landschaft gefragt: “Not very pretty is it? [...] But what was it like here when the raw earth was covered with grass?” (1/2) – und zur Antwort wird die Erzählung mit einer Einschränkung an die Trümmer übergeben: “If the rubble could talk, it would tell a story…” (1/2).13 Auf der zweiten Seite beginnt die Geschichte von Chun, einem koreanischen Reisbauern, der auf dem vom Vater geerbten Land ein Haus für sich und seine Frau bauen will (2/1). Die Mühsal dieses Unternehmens, das Fundament zu legen (2/2-4) und das Gerüst des Hauses zu bauen (2/5), wird in blocktextlosen Panels illustriert. Chun kommentiert seine Arbeiten selbst in Sprechblasen, als würde er zu der Erde und den Materialien sprechen. Auch diese Seite endet mit einem Panel, das sich über die ganze Breite der Seite erstreckt und Chun mit seiner Frau in einiger Entfernung vor dem Gerüst seines Hauses zeigt. Chun verspricht ihr nicht nur die Fertigstellung des Hauses, sondern auch einen Brunnen, damit seine Frau nicht bis zum Fluss laufen muss, um Wasser zu holen. Auf der dritten Seite wird das Haus fertiggestellt, wobei sein Erbauer dessen Dauerhaftigkeit betont (3/1). Panel für Panel wird die Sorgfalt demonstriert mit der Chun zu Werke geht. Im letzten Panel verspricht er erneut einen Brunnen. Die sich gegenüberliegenden Seiten zwei und drei sind identisch strukturiert: Drei Zeilen, je drei gleich große Panels in den ersten beiden Zeilen, ein breites Abschlussplanel, das die Seite resümiert. Diese Struktur setzt sich auf der vierten Seite fort: Chun, nun Vater (4/1), baut eine starke Mauer, um sein Haus zu schützen (4/2-3). In der zweiten Zeile kehrt Alltag ein, der Bauer erholt sich mit einer Pfeife von den Anstrengungen des Tages (4/4-6) und stellt im letzten Panel, das sein sturmumwehtes Haus zu sehen gibt, fest, dass das Leben gut zu ihm ist (4/7). Doch die fünfte Seite (Abb. 12.2) gibt der Geschichte eine andere Wendung, das mühevolle Leben des Koreaners wird jäh unterbrochen: “all was not well”, schreibt Kurtzman wie zur Korrektur Krazy Kats (5/1). Der Takt 13
Hier und im Folgenden zitiere ich Rubble! nach Seite/Panel, oben im Text. Die Geschichte ist nur intern paginiert.
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der Panels erhöht sich; in vier Panels pro Zeile wird der beginnende Krieg gezeigt. Die Kontinuität der Erzählung durch den Protagonisten setzt sich nicht fort. Seine Sprechblasen werden durch Blocktexte abgelöst, die fragmentarisch und äußerlich über die Kriegshandlungen berichten (5/1-4). In der zweiten Zeile werden vier verschiedene Waffen vorgestellt mitsamt den Geräuschen, die sie erzeugen (5/6-8). Wie in einem Lexikon stehen sich hier Bild und Schrift gegenüber, der Blocktext über dem Bild erfüllt die Funktion einer Bildunterschrift, mit der das Bild begrifflich erläutert werden soll. Das letzte Panel visualisiert, wie das Haus und damit sein anstrengender Bau “in einem Augenblick” durch ein Artilleriegeschütz zerstört wird. Die Zerstörung resümiert den Krieg. Dessen Geschichte ist aber noch nicht zuende. Die sechste und letzte Seite kehrt zu der Struktur der Seiten zwei bis vier zurück, übernimmt aber von der fünften die Blocktexte. Die Struktur des letzten Panels, Blocktext über und unter dem Bild, schließt an die erste Seite an. Die erste Zeile widmet sich den Auswirkungen der Explosion – das Dach ist zerstört und das Stroh, das Chuns Familie vor Wind und Wetter schützte, brennt lichterloh, die stabilen Mauern verwandeln sich in einen Haufen Steine und auch die Familie ist in Trümmern, “shredded wreckage like the rest of the house!” (6/3). Die zweite Zeile erklärt, wie die Kanone der ersten Seite auf die Trümmer gekommen ist, ohne diese selbst zu zeigen. Im letzten Panel schließlich ist auch sie verschwunden (6/7). Eine öde Landschaft, in der die Reste des Hauses noch zu erkennen sind, bietet sich den Augen der Leser und Leserinnen dar, ein Fluss sucht sich von den Trümmern ausgehend seinen Weg auf deren Blickpunkt hin. Der letzte Kommentar dieser Geschichte ist, wie so oft in den E. C.-Comics zynisch: “Look with your dead eyes if you can, Chun! At last you have a well!” (6/7). Rubble! legt aufgrund seiner klaren Strukturierung zwei Lektüren nahe. Er ist ein Comic, der nicht nur einmal, zur Unterhaltung, gelesen werden will. Um das fehlende Bild der Kanone zwischen dem sechsten und siebten Panel zu sehen, müssen die Leser und Leserinnen von der letzten Seite zur ersten Seite zurückblättern. Die erste Lektüre verfolgt die Geschichte Panel für Panel, zeilenweise von oben nach unten. Sie lässt sich von der dargestellten Handlung, von Chuns Mühen und Hoffnungen fesseln und von dessen abruptem Ende schockieren. Die zweite Lektüre, um die Kontinuität der Handlung wissend, konzentriert sich auf die je letzten Panels, die einander mit Differenzen wiederholen. Immer wird das Gelände gezeigt, auf dem Chun sein Haus errichtet. Die Perspektive variiert kaum, mal ist der Ausschnitt größer, mal kleiner. Dadurch treten die Veränderungen in den Vordergrund – vom Geschütz zum Gerüst, vom fertigen, verschneiten Haus zu dessen Explosion, die nichts als eine leere Landschaft hinterlässt. Aufgrund der Formate der Panels schließen diese direkt aneinander an; wie eine Kurzfassung ist in ihnen die Geschichte erzählt. Dies verdeutlicht, dass es nicht
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nur eine Geschichte über Trümmer ist, sondern auch die Geschichte der Trümmer: Sie beginnt notwendig mit dem Ende. Diese zweite Lektüre liest die Seiten gleichsam von unten nach oben. Die jeweils sechs Panels der zweiten bis vierten Seite erheben sich selbst wie ein Haus auf dem Fundament dieser Panels. Die Geschichte erscheint als gut gebaute. Aus der Perspektive der Trümmer ist die Kontinuität der Erzählung Chuns immer schon durchbrochen. Scheint noch in der ersten Lektüre jedes Panel auf das nächste sinnvoll zu folgen, scheint die Panelfolge einen sinnvollen zeitlichen Ablauf – und mag er sich über fünf Jahre (1/2) hinstrecken – zu erzählen, ist dies der zweiten Lektüre tatsächlich nur ein Schein, dessen Zufälligkeit sich auf der fünften Seite enthüllt. Deshalb endet dort die Integration der Schrift durch die Sprechblasen in das Bild der Panels. Die Verbannung der Schrift aus dem Bild kennzeichnet hier den Kriegsbeginn und eröffnet damit die Frage, was Bild und Schrift in ihrer Konstellation überhaupt über den Krieg erzählen können. Mit der Explosion des Hauses fliegt auch die Möglichkeit ihrer gemeinsamen sinnvollen Bezeichnung auseinander. “Ba-Doom!” – es bleibt das Geräuschwort. Das Seltsame an diesem Wechsel ist, dass sich die Erzähltechnik selbst nicht zu ändern scheint. In allen Panels wiederholt die Schrift in gewisser Weise das Bild, indem sie erzählt, was im Bild zu sehen ist, und die Bilder wiederholen die Schrift, indem sie deren Aussagen illustrieren. Und doch verändert sich durch die Erhöhung der Panelzahl und die Wiedereinführung des Blocktextes auf Seite fünf etwas maßgeblich. Über den Krieg kann Chun nicht erzählen, niemand kann über den Krieg erzählen, denn der Text wie auch die Bilder werden zwischen den Panels zu redundanten Wiederholungen. Während die Sätze immer nur über das, was kommt, berichten – die Soldaten, die Panzer, die Nord-Koreaner, der Krieg “kommen” (5/1-4) – signalisieren sie zugleich die Unmöglichkeit zu erzählen, was dieses Kommen bedeutet. Die Bilder treffen zwar klare Aussagen – im ersten Panel sehen wir schießende Soldaten, im zweiten Sterbende – aber auch dies wird redundant wiederholt, wenn im dritten ein schießender Panzer und im vierten eine Explosion mit Leichen gezeigt wird. Eine räumliche und zeitliche Zuordnung wie auf den Seiten zuvor ist nicht mehr möglich. Die Kontinuität eines Hausbaus wird durch die Wiederholung ersetzt, die der Krieg bedeutet. Nicht nur einmal wird ein Haus zerstört, sondern immer wieder; nicht nur ein Mensch wird einmal umgebracht, sondern ständig sehr viele. Dies lässt sich nicht erzählen, sondern nur in der Wiederholung andeuten. Die Untauglichkeit der Zeichen, dieses Morden adäquat darzustellen oder auch nur zu bezeichnen, wird auf dieser Seite vorgeführt. Bild und Schrift werden selbst zu Ruinen der kontinuierlichen Erzählung (5/5-8). Diese Ruine der Darstellung wird in der zweiten Zeile offensichtlich. Auf ihre bezeichnende Funktion reduziert, erheben die Worte – Pistole, Gewehre,
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Mörser und Kanonen – denselben Anspruch wie die Zeichnungen dieser Waffen. Die durch die Wiederholung auch in der visuellen Umsetzung von Schrift und Bild zur Schau gestellte Redundanz verdeutlicht, wie wenig Wort und Bild über den Krieg erzählen können. Diese leere Wiederholung wird durch die Geräuschworte unterbrochen. Im bildgewordenen Wort, jeweils durch ein Ausrufezeichen betont – CRACK!, POW!, WONK!, BLAM! –, wird nichts bezeichnet. Das Geräusch ist lesbar als leere Bezeichnung, in der die Konsequenz, der Mord durch diese Waffen, zwar deutlich und unüberlesbar ist, aber nicht bezeichnet werden kann. Es sind Trümmer, wie die Trümmer des zerstörten Hauses, das seine Bewohner alle begraben hat. Doch wie die Trümmer diese Geschichte erzählen, insistiert die Darstellung darauf, dass noch die Trümmer von Wort und Bild in ihrer Konstellation, das heißt in der gegenseitigen Unterbrechung, die diese inszeniert, eine andere Geschichte erzählen können: eben als Geschichte der Trümmer. In Rubble! wird kein melancholischer Blick auf den Krieg und dessen Ruinen gegeben, sondern das Ruinöse des Krieges erzählt sich selbst. Die strenge Struktur der Seiten, die Veränderung der Wiederholung ermöglicht diese Lektüre der Ausrufezeichen: Aus der Perspektive der Trümmer zu sehen, wie es Kurtzman nahe legt, heißt mit toten Augen zu sehen! Das ist der Blick auf den Krieg, den Rubble! eröffnet. IV. C’était la guerre des tranchées – Zwischen die Linien flüchten? Jacques Tardis Comic-Album C’était la guerre des tranchées unterscheidet sich von den anderen beiden Beispielen, weil es durchaus den Anspruch erheben kann, die Geschichte des Ersten Weltkriegs zu erzählen, auch wenn es nicht auf einzelne historische Ereignisse eingeht, also bestimmte Schlachten an bestimmten Orten benennt.14 Während Herriman und Kurtzman in einer Situation schreiben und zeichnen, in der ein Krieg stattfindet, sie also auf das Begreifen dieses Krieges Einfluss zu nehmen suchen, ist der Krieg, von dem Tardi erzählt, lange vorbei und – zumindest in Deutschland – nahezu in seiner Bedeutung vergessen. Der Autor lässt in seiner Einleitung keinen Zweifel daran, dass er diesen Krieg für den eigentlichen Beginn des 20. Jahrhunderts hält: “In Sarajevo beginnt das 20. Jahrhundert, das Jahrhundert der industrialisierten Tötung. Der Erste Weltkrieg, ein ‘Geistesblitz’, an dem man augenscheinlich Gefallen fand: Das Gas erweiterte den
14
Vgl. die ausgezeichnete Analyse von Michael Hein: What Haunts a Soldiers Mind: Monsters, Demons and the Lost Trenches of Memory. Representations of Combat Trauma in the Works of Jacques Tardi. In: The Graphic Novel. Hg. von Jan Baetens. Leuven 2001. S. 101-111.
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Horizont, regte zu neuen Ideen an, sehr ‘modern’ war das alles”.15 Auch der Comic ist ein ‘modernes’ Medium, und Tardi nutzt es, um in demselben Ton – lapidar und hellsichtig, involviert und ein wenig resigniert – Geschichten aus einer Zeit zu erzählen, von der er durch Erzählungen seiner Großmutter, andere Bücher und Bilder erfahren hat. Wie Kurtzmans Geschichten in einer Zusammenschau verdeutlichen, taugt der Krieg nicht für Heldenfiguren, die durch die mörderischen, sinnlosen und zufälligen Ereignisse führen, um gestählt aus ihnen hervorzugehen. Tardi schließt sich dieser Erkenntnis an. Sein Grabenkrieg kennt keine Helden, keine Identifikationsfigur leitet die Leser und Leserinnen. Im Gegenteil wird diese Erwartungshaltung systematisch durchkreuzt: Viele Figuren, aus deren Perspektive Blocktexte den Panels beigegeben sind, überleben die Geschichte, die sie erzählen, nicht. Stattdessen berichten sie von der Grausamkeit eines Alltags, die nach dem Krieg schnell wieder vergessen wurde: vergessen, so ließe sich mit Tardi folgern, weil die Toten nicht sprechen können. Deshalb erzählt Grabenkrieg die Geschichten dieser Toten, die aus ganz unterschiedlichen Gründen ermordet wurden oder umkamen: der namenlose Alte, der in einem Café zu Beginn des Krieges erschlagen wird, weil er die Marseillaise nicht mitsingt (35); der Soldat Jean Desbois, der erschossen wird, weil seine Kompanie vor den Deutschen zurückwich, nachdem zwei Drittel von ihnen umgekommen waren (46-49); Grumeau, der sich mit dem Verband eines Freundes selbst mit Wundbrand infiziert, aber den schnellen Krankheitsverlauf nicht überlebt (52); Huet, der zu Beginn des Krieges auf Befehl eine Mutter mit ihren Kindern erschoss, als diese von den Deutschen vorgeschickt wurden – Huet erträgt die Schuld nicht und rennt, wahnsinnig geworden, in das Niemandsland, wo er von einem Scharfschützen der Deutschen erschossen wird (64); der “kleine Jude” Ackermann, der am helllichten Tag in das Niemandsland geschickt wird, um Huets Leiche zu beerdigen und dabei von demselben Scharfschützen erschossen wird – der Hauptmann hatte ihn in den sicheren Tod geschickt, obwohl Ackermann Anspruch auf Urlaub gehabt hätte (69); Mazure, der in einer Kirche einen deutschen Soldaten trifft, mit dem er aushandelt, dass sie jeweils den anderen als Gefangenen ausgeben, wenn sie von der jeweiligen Armee gefunden werden – als die französischen Soldaten kommen, erschießen sie den Deutschen und stellen Mazure vor das Kriegsgericht wegen Fraternisierens, er wird zum Tode verurteilt (83); ein unbekannter Soldat, der sich selbst mit einer Granate in die Luft sprengt, nachdem ihm das Bajonett eines Deutschen den Bauch so aufgeschlitzt hat, dass die Därme herausgekommen sind (97). Manche Figur, wie der namenlose 15 Jacques Tardi: Grabenkrieg. Übers. von Michael Hein. Zürich 2002. Im Folgenden sind Verweise auf Seitenzahlen in Klammern im Text angegeben.
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Erzähler der Abbildung (vgl. 12.3), wird so verletzt, dass sie schwer geschädigt bleibt; zwei Seiten nach dem erwähnten Beispiel verliert der Erzähler sein Augenlicht (109). Auf alle diese Verstümmelungen und Tode folgt eine nächste Seite, ein nächstes Panel, das die Erzählung der vielfachen Leiden und Tode fortsetzt, ohne je vollständig werden zu können. Diese wenig erbaulichen Episoden werden lakonisch aus verschiedenen Perspektiven vorgetragen. Tardi zieht, anders als Kurtzman in manchen Geschichten, keine Moral aus diesem Krieg, sondern gibt verschiedenen Stimmen das Wort. Zu einem Teil montiert er euphemistische, zeitgenössische Zitate in die Panels, die von der “göttlichen Minute” des Angriffs sprechen (42), während die Soldaten im Bild hingemetzelt werden bzw. ihrem sicheren Tod entgegenrennen. Zu einem anderen Teil erzählen die Soldaten in Blocktexten oder in Sprechblasen selbst. Manches wird von einem unbekannten auktorialen Erzähler mitgeteilt, der die Bilder kommentiert. Die Auswertung der jeweiligen Konstellation zwischen Schrift und Bild ist den Lesern bei der Lektüre überlassen. Und doch geben zwei formale Entscheidungen einen unhintergehbaren Hinweis darauf, wie Tardi den Krieg bewertet. Zum einen gibt es, anders als bei Kurtzman, keinerlei Onomatopöien in den Panels. Die Bilder des Krieges bleiben stumm und wirken dadurch seltsam beklemmend. Das Geschehen erscheint zugleich distanziert, ein Eindruck, der durch die fehlende Farbe gesteigert wird. Tardi lässt keinen Zweifel daran, dass die Worte und Bilder aus dieser Distanz sehr wohl vom Krieg erzählen können. Wenn sie auch unzählig viele Geschichten auslassen, wenn die einzelnen Geschichten auch keineswegs den Anspruch erheben, für andere Geschichten zu stehen, so erlauben sie gerade deshalb eine konkrete Darstellung des Krieges. Das Fehlen der Geräuschworte zeigt eine Grenze dieser Darstellung an: Es geht hier nicht um eine Abbildung eines realen Geschehens, das mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln dargestellt wird, sondern um eine Rekonstruktion, die gerade durch den Verzicht auf manche, im Comic besonders naheliegende Mittel wie die Onomatopöien als Rekonstruktion sichtbar bleibt. Auf dem ersten Panel der Abbildung würden Schreie etwa nur vom Grauen des Geschehens, dem Kampf zwischen den von tödlichem Gas umgebenden Soldaten, ablenken. Die Brutalität der unterschiedlichen Verletzungen und Tode – sei es, dass ein Auge ausgestochen oder die Gasmaske abgerissen wurde – tritt so deutlicher hervor, als wenn lautmalende Geräuschworte das Geschehen unterstreichen würden. Bild und Schrift bleiben, anders als bei Rubble!, durch diesen Verzicht streng getrennt. Ihr Verhältnis, als unterschiedliche Methoden der Rekonstruktion, wird umso bedeutsamer. Auch bei Tardi stellt sich mit dieser Relation die Frage, was erzählt werden kann. Der Text im zweiten Panel erklärt das Geschehen, die Explosion im Hintergrund ist durch französische
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Artillerie verursacht, die Soldaten im Vordergrund flüchten “zwischen die Linien”, um nicht selbst getroffen zu werden. Doch das Bild zeigt noch mehr, als der Text berichtet: Wenn sich im Vordergrund ein Soldat die Augen zuhält, so erinnert dessen Figur zugleich daran, dass nicht alles im Bild gezeigt werden kann. Auch der Text erzählt in einzelnen Formulierungen mehr als das Bild, wenn der Erzähler beispielsweise feststellt, dass “keiner [...] einen Krümel Boden gutgemacht” hat oder sie “mit dem Quatsch aufgehört” haben. Beide ergänzen sich, zeigen einander ihre Darstellungsgrenzen und ersparen den Lesern und Leserinnen die Repräsentation des Krieges keineswegs. Tardi verwendet drastische Bilder und deutliche Texte – beide sind historisch genau recherchiert. Es geht in diesem Album gerade darum, Schreckensbilder, die schon lange aus dem visuellen Gedächtnis verschwunden sind, Erzählungen, die nicht mehr erinnert werden, zu tradieren. Vor diesen schrecklichen Texten und Bildern ist nicht zwischen die Linien zu flüchten. Die zweite, für die Darstellung Tardis bedeutende formale Entscheidung ist das Format der Panels. Bis auf eine erste Episode, die dem Hauptteil vorangestellt und durch einen Text Tardis von diesem getrennt ist, sind alle Panels in demselben länglichen Format gehalten. Was zuerst nur als möglichst einfache Strukturierung des Albums erscheinen mag, um die hügellose Landschaft der kriegerischen Auseinandersetzungen an der Westfront des Ersten Weltkriegs nachzuzeichnen, erweist sich darüber hinaus als Möglichkeit, den Grabenkrieg in Gräben darzustellen, denn als eben solche müssen die Panels auch gelesen werden. Es gibt keine Ebene, auf der den Gräben des Krieges und ihrer Bedeutung entkommen werden kann. Mögen Text und Bild in ihrer Aussage auch widerstreiten oder ihren gegenseitigen Anspruch auf die Darstellung eines Geschehens bezweifeln, so wird zwischen ihnen doch kein Zweifel gelassen, dass das Niemandsland, über das gestritten werden könnte, historisch real umkämpft war – und sich nicht nur als Frage der Interpretation diskutieren lässt. Die Reduktion der Form verhindert wiederum, zwischen die Linien zu flüchten, um anhand der Konstellation der Bilder über Nichtdargestelltes oder Nichtdarstellbares zu räsonieren. Die weißen Zwischenräume zwischen den Panels sind schmal, sodass die Seiten gelegentlich einheitlich Grau erscheinen und die Trübseligkeit des Soldatenalltags unübersehbar werden lassen. Zudem wird durch das durchgehende Format das Lesetempo verlangsamt. Der Blick kann nicht von Panel zu Panel in der Zeile weitergleiten, sondern ist mit jeweils einem Bild pro Zeile konfrontiert. Dies ist keine Technik zur Beruhigung der Leser, im Gegenteil: Die offensichtliche Deutung des Krieges durch die formale Anlage des Comics als ebenso mörderisch wie sinnlos, die Verhöhnung allen Heldentums schon in der monotonen Form, ermöglicht eine Auseinandersetzung darüber, was Tardi in einem
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dem Band beigegebenen Text selbst anmerkt: “Wenn ich an die alten Veteranen denke, ihre Filzpantoffeln, Barette, Tapferkeitsmedaillen und die Fahnen am Arc de Triomphe, jeweils am 11. November [...], dann fürchte ich manchmal, dass wir immer noch nicht raus sind aus unseren Schützengräben [...] im Osten, im Westen [...] oder genauer gesagt, im Niemandsland, im offenen Feld, zwischen den Linien […], da, wo es zum Zusammenstoß kommt!” (28) V. Schluss Es wäre falsch, die historisch wie medial voneinander weit entfernten Comics mit ihren ausgesprochen unterschiedlichen Kriegsdarstellungen gegeneinander zu diskutieren oder zu bewerten, welche Darstellung besser gelungen ist, welche ungeeigneter erscheint. Sie alle beweisen, dass im Comic formale Mittel existieren, mit denen sie bereits unterschwellig die Schwierigkeiten der Darstellung des Krieges reflektieren. Diese Reflexion der eigenen Grenzen – wie sie sich im Aufbau der Seiten, im Verhältnis zwischen Schrift und Bild und in der Situierung verschiedener formaler Elemente wie den Onomatopöien je anders artikuliert – vermag es, dass zugleich die Frage der Bedeutung und Bewertung des Krieges in der modernen Gesellschaft als umkämpfte gezeigt werden kann. Schon die schlichte formale Voraussetzung der Comics, in Panels zu erzählen – sodass mit jedem Panel alles anders werden kann, sodass mit jedem Panel die Geschichte enden kann –, macht es ihnen einfach, den vielfachen Mord sowohl in seiner Sinnlosigkeit auszustellen als auch in den Versuchen, diesem einen Sinn zu geben. Wie weit die Nutzung dieser Möglichkeiten in den hier diskutierten Comics von affirmativen Strategien vieler anderer entfernt ist, muss kaum ausgeführt werden. Die kulturelle Produktivität der Comics aber – als immanente Reflexion von Zeichenbeständen – lässt sich als repräsentationskritisches Korrektiv zu vielen anderen visuellen und narrativen Darstellungen des Krieges lesen.
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Klaus Kreimeier
Die Konfiguration des Bösen Ikonographische Anmerkungen zum Bild Osama bin Ladens in den Massenmedien Not only since the US government has invented the ‘axis of evil’ to fight global terrorism, the media and media systems have faced problems in authenticating the ‘evil’ by means of language and images in order to prepare the global audience for the war which already has begun. War design and the design of the ‘enemy’ have been part and parcel of media systems during the 20 th century, influencing colonialist and imperialist strategies and national conflicts. Due to globalization and the construction of a ‘world enemy’, embodied by monstrous phenomena like Osama bin Laden and secret societies like Al Qaeda, the image of the demon enters a new dimension. Thanks to the telematic qualities of TV and internet, design specialists have access to new resources; the ‘axis of evil’ and the war against terrorism are on the global market place and occupying the global discourse.
I. Television, Sichtbarkeit, Unsichtbares Nicht nur für die moderne Kriegsfotografie gilt, dass sie “ausblendet und dabei auf ein ikonographisches Gedächtnis beim Betrachter setzt, das für Stereotypen, Mythen und Illusionen besonders empfänglich ist.”1 Die Ausblendung differenzierter Details und die Stereotypisierung des im Bild jeweils Ausgestellten sind die beiden Seiten dessen, was Bilder in der elektronisch medialisierten Welt leisten (müssen), um als Kommunikate globale Diskurse zu ermöglichen. Wir nennen es ‘Komplexitätsreduktion’: Kommunikationstaugliche Bilder, die im Gedächtnis haften bleiben und referentiell anschlussfähig sind an erfolgreiche Weltkonstruktionen, sind Bilder, die das Opake jener ‘Wirklichkeit’, die wir hinter ihnen vermuten, auf eine Formel bringen – auf ein Muster, das uns eine unerträgliche Vielfalt zu ertragen hilft. Unentwegt klagen wir in der ‘Bilderflut’ vom einzelnen Bild einen ‘Nachrichtenwert’ ein und meinen doch etwas anderes: eine Nachricht, die mit ihrem Bildzeichen identisch ist und, als ‘unauslöschliches Zeichen’, die Flut der Nachrichten und der Bilder überdauert. Der Terroranschlag vom 11. September 2001 hat, mit den Echtzeit-Bildern vom einstürzenden World Trade Center, ein solche ‘Nachricht’ geschaffen und tatsäch1
Ulrich Hägele: Das Sichtbare und das Unsichtbare. Afghanistan – Ikonographie der fotografischen Kriegsberichterstattung. Tübingen 2003 (in Vorbereitung). Hier zitiert nach: http://www.tvv-verlag.de/Der_Verlag/Neuerscheinungen/Kriegsberichterstattung/kriegsberichterstattung.html.
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lich ein neues Verhältnis von Bild und Botschaft inauguriert. Mit ihm wurden neue Diskurse in Gang gesetzt. Seither gibt es Sprachbilder wie die “Achse des Bösen” – Bilder aus Worten, die Kriegserklärungen implizieren und ankündigen, dass die Nachricht noch kommen und das Bild aus seiner reinen Bildlichkeit erlösen werde. Die überwältigende Sichtbarkeit der Bildnachricht vom 11. September profitierte nicht zuletzt vom Dunkel, aus dem sie kam, und der Unsichtbarkeit, in der sich ihre Urheber verbargen. Das Zeichen, so schien es, war kontextlos und zugleich von einer zuvor nie da gewesenen Signifikanz – ein schwer auszuhaltender Widerspruch, der sich nur in einer Vielzahl aporetischer Diskurse entladen konnte: in ‘Debatten’, die ihrerseits nach Bildern suchten, um die kontextlose Definitionsmacht des Terrorbildes zu durchbrechen und seine suggestive Kraft zu neutralisieren. Ein Dilemma war entstanden: Einerseits hatte das Bildzeichen, als Signum bisher unbekannter materieller Gewalt, schlagartig ein Geflecht undurchdringlicher Widersprüche erhellt; die Komplexität der Welt schien ‘auf eine Formel gebracht’. Andererseits war ebenso schlagartig neue Komplexität entstanden, die Welt war ‘komplizierter’, ‘unverständlicher’ geworden, und keine der unermüdlich rotierenden Debatten, erst recht kein Bildzeichen war im Stande, das verloren gegangene Terrain zurückzuerobern. Der Krieg gegen die Taliban, in dem die verletzte Weltmacht eine erste Antwort suchte, geriet als Nachrichten-Diskurs – und vor allem: als Diskurs aussagestarker, einprägsamer Bilder – sofort in eine selbst gestellte Falle. Die militärische Technologie der neunziger Jahre hatte das kriegerische Geschehen weitgehend ins Feld des Unsichtbaren verschoben. “Dafür sorgt seit dem Zweiten Golfkrieg, einmal wieder, die Pressezensur”, schrieb Friedrich Kittler zur Zeit des Kosovo-Kriegs. Und weiter: Kampftruppen dürfen desto weniger im Fernsehen erscheinen, je ausschließlicher ihr Gefecht über Computermonitore, Nachtsichtgeräte oder Satellitenbilder läuft. Diesen ganzen Medienpark hat die U.S. Army in schöner Zweideutigkeit ‘Vision 2000’ getauft. Denn der Krieg als Television ist keine Ikonographie. Selbst unser Mann in Bagdad, der einsame CNN-Reporter auf seinem Hotelbalkon, sah weniger als die alte Times bei Königgrätz. Um überhaupt noch Propaganda abzuwerfen, bleibt der ‘Vision’ also nur, dass fernsehäugige Marschflugkörper kurz vorm Einschlag ihre eigenen Zielbilder zurückfunken. Für das Fernsehen übrigens eine gründlich verpasste Gelegenheit, seine technische Identität mit dem Angreifer zu begreifen.2
Erst der Irakkrieg von 2003 hat die Parameter der Sichtbarkeit neu definiert und Gefechtsstrategie und -technologie auf die Integration sogenannter “embedded correspondents” umgestellt, um kontrollierte Bilder nach dem 2
Friedrich Kittler: Der Schleier des Luftkriegs. In: Die Zeit Nr. 16 (1999).
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Modus der nationalsozialistischen Propagandakompanien für die angeschlossenen TV-Netzwerke zu ermöglichen und den Krieg, nach den Vorgaben der Generalität, erneut sichtbar zu machen. Der Krieg, als Television, wurde wieder zur Ikonographie. II. Selbstanzeige, Fahndungsfoto, Merk-Zeichen Der Afghanistan-Krieg hingegen, die erste Offensive auf der “Achse des Bösen”, blieb nahezu unsichtbar – von den Ereignissen an seiner Peripherie und den Bildern von seinen Folgen abgesehen. Als unüberbietbares Merkzeichen aber kristallisierte sich, schon bevor er begann, eine neue Ikonographie heraus – als wäre sie, wie etliche Fotomontagen in Magazinen und auf Websites suggerierten, unmittelbar dem Rauch- und Flammenmeer am Ground Zero entstiegen: die Ikone des Bösen par excellence, Osama bin Laden. Es gehört zu den Ironien der modernen Mediengeschichte, dass dieses neue memento mori der westlichen Zivilisation einer Selbstanzeige entstammt: In den beiden Videotapes, die al-Qaida in den ersten Wochen nach den Anschlägen über den in Katar stationierten Sender al-Jazeera in Umlauf brachte, hat sich das Böse selbst konfiguriert, als hätte sich der Teufel auf den mittelalterlichen Tafelbildern selbst gemalt. Zwischen Wort- und Bildberichterstattung über Gut und Böse in der Welt entwickelte sich schnell eine auffallende Diskrepanz. “Die meisten Artikel über die Urheberschaft der Anschläge richteten sich zum einen explizit gegen die Person Osama bin Ladens; zum anderen gegen das TalibanRegime in Afghanistan, das, so die Annahme, bin Ladens Gruppe Unterschlupf gewährt hatte”, schreibt der Fotografiehistoriker Ulrich Hägele. “Demgegenüber wird in der visuellen Berichterstattung die Schuld allein bin Laden zugewiesen. Die Konterfeis des mutmaßlichen Terror-Chefs bestehen zunächst aus älterem Archivmaterial. Nachdem die ersten seiner berüchtigten Video-Botschaften in Umlauf gebracht worden waren, publizierten die Tageszeitungen daraus zumeist farbige, etwas unscharfe Standfotografien.”3 Eine anthropologische Konstante trat alsbald in Kraft: Bildzeichen, zumal wenn sie sich zu Merkzeichen mit mythologischer Konnotation verdichten, fokussieren. Für unser Auge und unser visuelles Gedächtnis schneiden sie die einzelne Figur oder ein Detail, ein Gesicht oder auch nur ein Merkmal, das es charakterisiert, aus den Kontexten heraus und bringen Bewegung in die medial organisierte Ökonomie der Aufmerksamkeit. Die Terrorbilder aus den USA, das Konterfei bin Ladens und George W. Bushs Formel von der “Achse des Bösen” bildeten sehr schnell eine wort-/bildsprachliche 3
Hägele: Das Sichtbare und das Unsichtbare (Anm. 1).
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Triade, die für etliche Monate als semantische Superfigur die globalen Diskurse überschattet hat. Freilich – das Sprachbild von der “Achse des Bösen”, will es seine Suggestivkraft bewahren, benötigt den Wechsel in der Wahl der Ungeheuer. Knapp ein Jahr nach den Anschlägen in den USA – und schon Monate vor der US-amerikanischen Invasion im Irak – wurde bin Laden durch den neuen Dämon, Saddam Hussein, ersetzt. Bin Laden hatte sich als Prediger inszeniert, doch nicht sein Wort, sondern sein Bild beherrschte, mit den ersten Bomben auf Afghanistan, den medialen Marktplatz. Das inszenierte Selbstporträt des Bösewichts wurde von denen, welche jetzt die Jagd auf ihn eröffneten, zum steckbrieflichen Phantombild umcodiert. Doch im Codesystem der Kriminalistik geht die Ikonographie des Merkzeichens ‘Osama bin Laden’, das bis heute durch die videographischen Rahmentexte des Fernsehens, die illustrierten Magazine, die Bildergalerien und Fotostrecken der Online-Dienste geistert, nicht auf. Noch als (imaginäres) Fahndungsfoto bewahrt das Videobild des Schurken eine eigentümliche Aura, die in der Archaik seines Auftritts gründet: eine Hülle, die seine Entferntheit, seine Un(an)greifbarkeit hervorhebt und die Frage der Fahnder, ob das Original nicht womöglich längst zur Strecke gebracht sei, bedeutungslos erscheinen lässt. Was war den unscharfen Videobildern zu entnehmen? Versteht man die Anschläge vom 11. September als anonyme, kontextfreie Botschaft, so hatte sich nun der Absender zu erkennen gegeben. Das trans-politische Bild der Zerstörung wurde von seinem vermuteten Urheber in Sprache, in ein mündlich vorgetragenes Bekennerschreiben, mithin in Politik übersetzt. Doch gerade der politische Diskurs verschob sich durch diese kalkulierte Selbstanzeige und ihre visuelle Inszenierung auf eine neue Ebene. Osama bin Laden konstruierte für seine ‘zweite Botschaft’ ein außergewöhnliches Bild. Der Ikonographie der Beschleunigung, dem Bild der zusammenbrechenden Türme, das alle Actionfilme Hollywoods übertrumpft hatte, ließ er ein Tableau aus archaischen Tiefen folgen: Der Prophet in felsiger Wüstenei, eingerahmt von zwei Jüngern – Idol einer neuen Generation von Märtyrern; ein orientalischer Wahrsager, entschlossen, mit erhobenem Zeigefinger und sanfter Stimme der Menschheit die Leviten zu lesen; ein Lehrer der letzten Dinge, ein mit dunkler Weisheit Geschlagener, ein Anachoret, der sich bedingungslos mit Gott im Bunde weiß und der falschen Welt, dem Tanz um das goldene Kalb mit gerechter Vernichtung droht – ein Bild aus den imaginären Archiven der Gründerreligionen, eingespeichert im kollektiven Gedächtnis der Menschheit, notabene auch der Leser der Märchen aus Tausendundeiner Nacht und, was die vorgezeigte Bewaffnung und die topographische Rahmung betrifft, der Romane von Karl May. Alles in allem: eine hochkomplexe Konfiguration, die nicht einer Intention des unbekannten Kameramanns, sondern dem Zusammenspiel der vor-
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handenen Elemente zuzuschreiben ist. Bilder, wie einfach ihre ästhetische Struktur sein mag, sind Konstrukte; sie schleppen historische Erfahrung und multiple kulturelle Semantiken mit. Biblisches und ‘Orientalisches’ kamen hier zusammen, die Anmutung des Märchens und das Flair des ExotischAbenteuerlichen – Apokalypse, Räuberroman und Kolonialfotografie. Die von Presse und Fernsehen favorisierten Bilder afghanischer Kämpfer nahmen nicht zuletzt Anleihe an der Erobererfotografie des 19. Jahrhunderts, die stets auf einer ethnozentristischen und vor europäischem Hintergrund herabwürdigenden Sicht auf das Fremde basierte, auch wenn dabei manchmal die Faszination an der fernen Kultur ihren Ausdruck fand. [...] Im Verbund mit stereotyp präsentiertem Hightech vermitteln Fotografien mit folklorisierend-exotischen Motiven, kargen Wüstenlandschaften, marodem Gerät und zerstörten Städten die Überlegenheit der alliierten Zivilisation gegenüber dem orientalischen Chaos,
schreibt Hägele.4 Gewiss taugte bin Ladens Selbstanzeige, in der Umcodierung zum Sinnbild des Bösen, somit auch als ikonische Personifizierung jener Kultur, die im globalen Diskurs zunehmend ins Visier geriet. Sie wurde zur Chiffre für ‘den Islam’ und zur Legitimation für dessen entschlossene Gleichsetzung mit obskurem Fundamentalismus und religiösem Wahn. Doch in der persuasiven Kraft, die von den Bildern ausging, hielten sich ethnozentrische Arroganz und eine schwer definierbare Faszination vor dem absolut Fremden die Waage: Gerade die ungetrennte Mischung des einen Rezeptionsmodus mit dem anderen definiert ja das Bild des Bösen als Angstbild, dessen mobilisierende Qualität höher zu veranschlagen ist als die der Karikatur, die den Feind nur ins Verächtliche zieht. Der medienpolitische Clou bestand darin, dass sich bin Laden eines modernen Speicherverfahrens, der Videotechnik, bediente, um seine Botschaft aufzuzeichnen und just in time, nämlich termingerecht nach Beginn der amerikanischen Luftangriffe auf Afghanistan, ins globale Informationsnetz einzuspeisen. Das brachte die Amerikaner auf die Idee, bin Ladens archaische Rhetorik müsse, außer Propaganda, verschlüsselte Anweisungen an das weltweit operierende Terrornetz enthalten. Geheimdienste sind offenbar trainiert, auch die ‘große Erzählung’, das Märchen, die Bußpredigt und die mythische Rede als codierte Texte zu lesen und sie solange zu decodieren, bis sie meinen, sie ‘geknackt’ zu haben. Diskurstheoretisch interessanter ist, dass die Terroristen mit ihrem zweiten ‘großen Bild’ – dem predigenden bin Laden vor dem Felsgestein – gewiss auf die Bildwirkung spekuliert, zugleich aber den Text als Medium rehabilitiert und nach der monströsen Ikone des sprachlosen Massenmords dem Wort seine Macht zurückgegeben haben.
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Hägele: Das Sichtbare und das Unsichtbare (Anm. 1).
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III. Maske, Figur, Allegorie Das Fremde in diesen Videobildern gleicht jenem Geheimnis, das Elias Canetti in Masse und Macht der Maske attestiert: Wo sie ernst genommen werde, dürfe man nicht wissen, was sich hinter ihr verbirgt. Sie drückt viel aus, aber sie verbirgt noch mehr. Sie ist eine Trennung. Mit einem gefährlichen Gehalt geladen, den man nicht kennen darf, zu dem eine Beziehung der Vertrautheit nicht möglich ist, kommt sie sehr nahe an einen heran; aber sie bleibt, in eben dieser Nähe, scharf von einem abgesondert. Sie droht mit ihrem Geheimnis, das sich hinter ihr staut.5
Die hinter dem im Bild Sichtbaren aufgestaute Gefahr (die “man nicht kennen darf”, die zu ahnen ist und dennoch unkalkulierbar bleibt): Sie ist eben jene Botschaft, die sich vorzüglich zur Chiffrierung des Grundbösen eignet; ebenso wie sie als Kriegszeichen für jene taugt, die Osama bin Laden – vielmehr: sein mediales Gespenst – zu ihrem Heerführer, wo nicht ihrem Gott erkoren haben. Hinzu kommt: In den totalen Kameraeinstellungen des Videofilms gewinnt bin Ladens Gestalt eine figurale Kontur, in deren Statuarik sich die Trennschärfe der Maske wiederholt und die Definitionsmacht befestigt, die der Prediger mit seinen Worten beansprucht. Die Figur, sagt Canetti mit Blick auf die “Götterfiguren sehr alter Religionen”, sei ein “Endzustand der Verwandlung”. Zu ihr gehöre, “dass sie eine weitere Verwandlung nicht mehr gestattet. Sie ist nicht natürlich, ein Geschöpf des Menschen. Sie ist eine Rettung aus der unaufhörlichen Fluidität der Verwandlung.”6 Die ‘Archaik’ des Bildes wäre somit genauer zu bestimmen als insistenter Einspruch gegen die Veränderungen in der Welt und, aktueller und politischer gefasst, gegen die unaufhörliche Fluidität der westlichen Zivilisation. In der prekären Gemengelage aus fundamentalistischen Emotionen und chiliastischen Heilserwartungen, in die derzeit das politische Planen und Handeln – gerade auch auf ‘westlicher’ Seite – abzugleiten drohen, gewinnt Canettis erstmals 1960 erschienenes Buch eine beklemmende Aktualität. Als zentral ist in diesem Zusammenhang sein Begriff der “Hetzmasse” zu sehen. Die “Hetzmasse” – heute der erwünschte Adressat der USamerikanischen wie der islamistischen Propaganda – “bildet sich im Hinblick auf ein rasch erreichbares Ziel”; sie ist “aufs Töten aus, und sie weiß, wen sie töten will”.7 Im Oktober 2001 ging es um den Kopf Osama bin Ladens, im März 2003 um den Saddam Husseins. Doch nicht nur als Fahndungsfoto und Zielobjekt einer als global vorgestellten “Hetzmasse”, son5 6 7
Elias Canetti: Masse und Macht. München, Wien 1960. S. 445. Ebd. S. 442. Ebd. S. 54.
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dern gerade in seiner Vielschichtigkeit und doppelten Konnotierung, in seiner ‘unheimlichen’ Semantik verfügt das Bild bin Ladens über die Qualitäten eines Droh- und Angstbildes, das sich für viele, die es betrachten, einer rationalen Analyse entziehen mag. Die gescheiterten Anstrengungen der Amerikaner, mit Nachtsichtgeräten und Präzisionswaffen das Böse in den afghanischen Bergen aufzuspüren und zu vernichten, haben nur bestätigt, was schon vor den Anschlägen des 11. September den Nimbus bin Ladens ausgemacht hat: dass er eben nicht “rasch erreichbar”, sondern ein politisches Phantom und gleichsam Inbegriff des – in mehrfacher Hinsicht – ‘Unfasslichen’ sei. Wie unter einem Paradigmenzwang wiederholte sich das Debakel der Amerikaner in den maroden Straßenschluchten Bagdads auf der Suche nach Saddam. “Die Hetzmasse ist sehr alt, sie geht auf die ursprünglichste dynamische Einheit zurück, die unter Menschen bekannt ist, die Jagdmeute”, schreibt Canetti.8 Die (politische) Hetze bedarf wie die Jagd eines greifbaren Ziels. Wenn sich das Zielobjekt, stets auf der Flucht, den Jägern erfolgreich entzieht und sich gleichsam ‘stabil verflüchtigt’; wenn es sich in Bunkeranlagen versteckt hält oder tief unter die Erde kriecht (dorthin, wo der Teufel wohnt), entsteht ein Vakuum, das der Mythenbildung Raum gibt: den Legenden edler Räuber vom Schlage Robin Hoods, aber auch allen Gespenstergeschichten vom vagabundierenden Satan, der in mannigfacher Verkleidung den Menschen auflauert, um sich ihrer Seelen zu bemächtigen. In mythologischen Konstruktionen finden die Differenzen, die Komplexität der Welterfahrung Ausdruck – ebenso wie die tiefsitzende Furcht, dieser Komplexität nicht gewachsen zu sein. Dies erklärt die ungebrochene Aktualität mythisch-eschatologischen Denkens wie auch der politischen Praxis, die sich von solchem Denken leiten lässt. Für die Projektionen des edlen Räubers wie die des teuflischen Dämons taugt das Videobild bin Ladens als symbolisch hoch aufgeladenes Bildzeichen, genauer: als Allegorie. IV. Ideogramm, Emblem, Dokument Der allegorischen Struktur der Bilder ist die technologisch bedingte Unschärfe der primitiven Videokamera nicht hinderlich, sie hebt sie vielmehr hervor. In der Ästhetik der Fotografie dienen Unschärfen häufig einer Strategie der Entrückung und der Verrätselung; sie betonen die Flüchtigkeit einer Erscheinung ebenso wie ihre Ferne, oft auch eine als ‘magisch’ empfundene, nicht messbare Distanz. Hägele verweist darauf, dass diese und andere Kunstgriffe der Bildgestaltung seit dem spanischen Bürgerkrieg vom modernen Fotojournalismus übernommen wurden; zahlreiche ‘verwackelte’ 8
Ebd. S. 55.
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oder betont unscharf gehaltene Bilder signalisieren heute ‘epochale Augenblicke’ des 20. Jahrhunderts – vom Tod auf dem Schlachtfeld bis zum Hissen der Siegerfahne – und sind als Ikonen ins kollektive Archiv der Moderne eingegangen. Die Tilgung der Schärfe durch die Videotechnik (forciert durch den Verschleiß der Vervielfältigung und Distribution) ist fernab jeder künstlerischen Intention; aber wie diese verweist sie auf eine nur dem Bild eigentümliche Realität, die es aus der Welt unserer Erfahrungen herausschneidet und es abhebt von den ‘inneren’ Bildern, die wir uns von der Welt machen. Es dauerte nicht lange, bis das Konterfei bin Ladens zum digitalen Ideogramm auf den Startseiten der Nachrichtendienste im Internet gefror; das Menetekel wurde zum Logo des Online-Wettbewerbs unter dem von CNN und Fox diktierten und allgemein akzeptierten Postulat des “Breaking News”. Ideogramme sind allgemein verständliche Schrift- oder Bildzeichen, die assoziativ hoch aufgeladene Begriffe transportieren und sie gleichzeitig der jeweils opportunen Konnotierung verfügbar machen. Digitale Bildbearbeitung ermöglicht problemlos, je nach Wunsch des Gestalters, die Einbettung des Zeichens in ‘barocke’ Metaphorik, seine Collagierung zum allegorisch befrachteten Emblem: Mal tauchte bin Ladens Porträt unheilkündend aus den Rauchschwaden über dem zerstörten WTC auf, mal hing es, als imaginierte ‘Drohkulisse’, in den Wolken über den Bergen Afghanistans. Doch die Bild- und Zeichenteppiche der Websites sind einem, im Vergleich zu älteren Medien, atemberaubenden Verschleiß ausgesetzt; ihr Patchwork ist gleichmacherisch und unterwirft das Bildmaterial der pragmatischen Ästhetik des Piktogramms. Fast ebenso rasch, wie es die Aufmerksamkeit der Welt auf sich gezogen hatte, verkam das Bild des Bösen im neuen Medium zur visuellen Floskel, zum aktuellen und bald schon veralteten ‘Link’, nur ein Mausklick von der Shopping-Leiste oder vom “direkten Weg zum neuen Traumjob” entfernt. Länger hielten sich die Referenzen auf das Drohpotenzial der bin LadenBilder im politischen Diskurs. In der Bundestagsdebatte über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus am 14. Dezember 2001 berief sich Erwin Marschewski (CDU/CSU) ausdrücklich auf ein neues Video: “Gestern konnten wir die Bilder von bin Laden sehen, von den selbstzufriedenen und selbstgerechten Massenmördern, die sich im Mord sonnten, die lachten und die sich bewundern ließen. Dies ist erschütternd. Deswegen müssen wir handeln.”9 Nicht die von dem mutmaßlichen al-Qaida Führer geäußerten (oder ihm zugeschriebenen) Worte bewegten den Abgeordneten, sondern das Bild und die ihm fraglos unterstellte Authentizität. Und nicht das Abbild 9
http://www.documentarchiv.de/brd/2001/rede_marschewski_1214.html.
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der Person, sondern deren böse Aura, ihren ‘bösen Blick’ stattete er aus mit der Beweiskraft des Dokuments. Eben diese Qualität der Videoaufnahmen verfehlt eine kritische Analyse, die allein auf die Technizität der Bilder rekurriert und, mit Recht, ihre Fragwürdigkeit als Beweismittel betont. So fand die Redaktion der WDRSendung Monitor heraus, dass die Übersetzung des Videobandes an den wichtigsten Stellen, die die Täterschaft Bin Ladens beweisen sollten, nicht identisch mit dem arabischen Ton ist. Dieses Band ist von einer so schlechten Qualität, dass es streckenweise überhaupt nicht zu verstehen ist. Es gibt ein starkes Hintergrundpfeifen auf der Aufnahme. Bild und Ton stimmen nicht immer überein. Und das, was zu verstehen ist, ist oft aus dem Zusammenhang gerissen, dass man daraus kein Beweismittel konstruieren kann. Die amerikanischen Übersetzer, die die Bänder abgehört und transkribiert haben, haben offensichtlich an vielen Stellen Dinge hinein geschrieben, die sie hören wollten, die aber so – auch nach mehrmaligen Anhören – nicht zu hören sind.10
Diese und ähnliche Differenzen wurden immer wieder hervorgehoben; auf der empirischen Ebene der Materialanalyse sind sie kaum bestreitbar, und sie gegen die politische und propagandistische Nutzung der Videos in Anschlag zu bringen, ist selbstverständlich legitim. Aber über die immanente, der oberflächlichen Evidenz entzogene ‘Realität’ der Bilder und über die Konfiguration des Bösen, die sich nicht technischer, vielmehr immaterieller Werkzeuge bedient, sagen sie nichts aus. Ebenso wenig vermögen sie die schnelle Karriere des bin Laden-Bildes zur Pop-Ikone zu erklären, die heute in den Joke- und PornographieAbteilungen des Internets verramscht wird: Die Personifikation des Bösen als erigierter Penis oder als Klopapier-Design konkurriert dort mit ähnlichen Dekonstruktionen des Bildes von George Bush.11 Wie einst in den politischen Obszönitäten des Volkstheaters oder später in der Karikatur der Massenpresse findet hier eine Abarbeitung an traumatisch-unverarbeitetem Material statt: Nur überdimensionale Merkzeichen können damit rechnen, ohne Rücksicht auf Geschmacksvorschriften demontiert zu werden. Die Konfiguration des Bösen hat auf allen Ebenen Konjunktur; ihre Schwankungen und Metamorphosen werden derzeit von der Option für das nächste Schlachtfeld entschieden.
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http://home.t-online.de/home/h.-j.werner/luegen.htm. Beispiele finden sich auf der Website http://www.arazishak.de.vu/.
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IV WERKANALYSEN, AUTOREN
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Gregor Streim
Der Bombenkrieg als Sensation und als Dokumentation Gert Ledigs Roman Vergeltung und die Debatte um W. G. Sebalds Luftkrieg und Literatur This essay refers to recent debate about the traumatic experience of strategic bombings in the last years of World War II and their literary representation. It particularly discusses the taboo hypothesis established by W. G. Sebald in his essay Luftkrieg und Literatur and Volker Hage in Der Spiegel. The object of this revision is Gert Ledig’s novel on aerial warfare, Vergeltung , which was censured by critics when it was first published in 1956 but republished to great acclaim in 1999. The comparison shows that varied reception depends not upon repression or nonrepression of a traumatic memory, but upon changing aesthetic encoding of the documentary. Although criticized as sensational in the 1950s, Ledigs film-like style was appreciated as authentic around the year 2000.
Es dürfte ein einzigartiger Fall in der Geschichte literarischer Wiederentdeckungen sein, dass Kriegsromane eines Autors, dessen Namen kaum jemand mehr kennt, fast ein halbes Jahrhundert nach ihrer Erstpublikationen zur literarischen Sensation des Feuilletons und zum Verkaufsschlager in den Buchhandlungen werden; so geschehen zur Jahrtausendwende mit der Neuauflage von Gert Ledigs Romanen Vergeltung (1956/1999) und Die Stalinorgel (1955/2000). Zusammen mit dem im Zuge des Erfolgs der ersten beiden Romane ebenfalls wiederaufgelegten dritten Roman Ledigs, Faustrecht (1957/2001), bilden sie eine Trilogie zum Zweiten Weltkrieg im Fokus von Bombenkrieg, Schützengraben und Besatzungszeit.1 Viel wurde in den Rezensionen geschrieben über den vergessenen Autor, der kurz vor seinem Tod am 1. 6. 1999 noch interviewt werden konnte, über die zwiespältige Aufnahme seines Werks in den 50er Jahren, insbesondere die scharfe Ablehnung des ‘Luftkrieg-Romans’ Vergeltung, und sein frühzeitiges literarisches Verstummen. Zugleich wurde die Wiederentdeckung von Vergeltung als ein Akt kollektiven Erinnerns und als Überwindung eines lange unanfechtbaren Tabus stilisiert. So wirft der Erfolg der Neuauflage ein mindes1
Die Stalinorgel. Hamburg 1955. Mit einem Nachwort von Florian Radvan. Frankfurt/M. 2000; Vergeltung. Frankfurt/M. 1956. Mit einem Nachwort von Volker Hage. Frankfurt/M. 1999; Faustrecht. Wien, München, Basel 1957. Mit einem Nachwort von Volker Hage. München 2001. Zur Werkgeschichte und Biographie Ledigs vgl. den Artikel von Christian Schulte: Gert Ledig. In: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Hg. von Heinz Ludwig Arnold. München 69. Nlg. 10/2001.
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tens ebenso scharfes Licht auf den Erinnerungsdiskurs der Gegenwart wie im Rückblick auf die Bewusstseinslage der fünfziger Jahre. Und er provoziert die Frage, wie es kommt, dass Ledigs Roman, der damals als reißerische Unterhaltungsliteratur klassifiziert wurde, heute als authentisches Zeugnis gelesen wird. I. Volker Hage – “der Stoff für ein Epos” Der Erfolg von Ledigs Romanen zur Jahrtausendwende war kein Zufall. Er wurde möglich im Rahmen einer öffentlichen Debatte über die Opfererfahrung der Deutschen im Zweiten Weltkrieg und einer Konjunktur historischen Erinnerns an Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg als den kollektiven Traumata der wiedervereinten Nation, in der zuletzt auch die Bombardierung der deutschen Städte in den Blick rückte.2 Eine literaturkritische und literaturhistorische Dimension erhielt diese Debatte mit W. G. Sebalds Vorlesung zum Thema Luftkrieg und Literatur im Herbst 1997 an der Universität Zürich, die indirekt auch der Neuauflage und Wiederentdeckung Ledigs den Weg bahnte. Sebalds Hinweis auf eine vermeintliche Tabuzone des deutschen Kollektivbewusstseins, deren Kern die Verdrängung der Erfahrung des alliierten Bombenkriegs sei, wurde zuerst von Volker Hage im Spiegel und danach in unzähligen Feuilletons, Radio- und Fernsehmagazinberichten aufgegriffen und zum Anlass für eine Revision aktueller und vergangener Erzählliteratur über den Zweiten Weltkrieg genommen. Hages Artikel Feuer vom Himmel wirkte dabei insofern diskurssteuernd, als er Sebalds Auftritt als Indiz einer literarischen Wende, einer Neuentdeckung der Kriegs- und Nachkriegszeit durch deutsche Autoren deutete und gegenüber einem lange dominierenden politisch-literarischen Diskurs abhob, der eine wesentliche Dimension des Zweiten Weltkriegs ausgegrenzt habe.3 Es könne sein, “daß die deutsche Nachkriegsliteratur überhaupt erst 2 Das populärste Medium dieser Form historischen Erinnerns sind die von Guido Knopp verantworteten ZDF-Fernsehdokumentationen über den ‘Jahrhundertkrieg’ mit Titeln wie Die große Flucht oder Der Bombenkrieg. Die ungebrochene Aktualität des Themas bewies jüngst der Sensationserfolg von Jörg Friedrichs ‘erzählendem’ Sachbuch: Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940–1945. München 2002. 3 Eine Kritik an Hage und zugleich eine Verteidigung Sebalds gegen die ‘Literarisierung’ seiner Thesen leistet Stephan Braese: Bombenkrieg und literarische Gegenwart. Zu W. G. Sebald und Dieter Forte. In: Mittelweg 36 11 (2002). S. 4-24, insb. S. 9-12. Hage reagierte auf Braeses Aufsatz und insbesondere auf dessen ideologiekritische Behandlung des im Spiegel hoch gelobten Erzählers Dieter Forte mit dem Vorwurf “politischer Besserwisserei”. Volker Hage: Unter Generalverdacht. In: Der Spiegel 15 (2002). S. 178-181, hier S. 180.
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beginnt – zum Jahrhundertende, zur Jahrtausendwende”, so endet Hage seinen Artikel – mehr fordernd als konstatierend.4 Denn tatsächlich bringt er für seine These in diesem Artikel kaum Belege bei, sondern allenfalls Indizien: eine autobiographische Passage bei Wolf Biermann über den Hamburger Feuersturm und die Ankündigung von Martin Walsers Roman “über seine Erfahrungen im Krieg”. In zwei wenig später veröffentlichten Rezensionen präsentiert der Literaturkritiker dann Walsers Ein springender Brunnen (1998) als Bestätigung seiner These5 und ebenso Dieter Fortes autobiographischen Roman In der Erinnerung (1998), der als dritter Teil einer Familiengeschichts-Trilogie (Das Haus auf meinen Schultern) Walsers Erzählung über die Kriegs- und Nachkriegszeit in der Provinz “aus Großstadtperspektive ergänzt”.6 Den Höhepunkt und – insofern er “als erster Schriftsteller seiner Generation” direkt auf Sebalds Thesen “reagiert” habe – gewissermaßen den Text zur Debatte liefert in Hages Augen dann 2002 Günter Grass mit seiner Novelle Im Krebsgang, die nicht nur die “wohl größte Schiffskatastrophe aller Zeiten”, sondern “auf mitreißende Weise zugleich die Geschichte und Wirkung dieses gesamtdeutschen Tabus nicht zuletzt auf die eigene Person” erzähle.7 Die Zusammenstellung und Präsentation der literarischen Belegstücke und vor allem die in Feuer vom Himmel zitierten literaturkritischen Äußerungen von Gegenwartsautoren lassen deutlich werden, welche poetologischen Prämissen Hages Wende-These zugrunde liegen. So zitiert er Maxim Billers Bemängelung der “Blässe und Reizlosigkeit” der deutschen Gegenwartsliteratur, die den in der Vergangenheit liegenden “Fundus an Fabeln” nicht nutze, oder Ruth Klügers Kritik an einem “alttestamentarischen Bilderverbot”, die Hage zufolge genauso wie für die literarische Behandlung des Holocaust auch für die des Zweiten Weltkriegs gilt. Unverkennbar geht es dem Kritiker um eine Rehabilitierung des ‘Erzählens’, ganz direkt um die Überwindung eines “Erzähltabus”, das die Nachkriegsliteratur bis in die Gegenwart hinein beherrscht habe. Dabei setzt er voraus, dass die epische 4 Volker Hage: Feuer vom Himmel. In: Der Spiegel 3 (1998). S. 138-141, hier S. 141. Die folgenden Zitate sind aus dieser Quelle. Hage hat seine verschiedenen Beiträge zum Thema später zu einem Buch verarbeitet: Volker Hage: Zeugen der Zerstörung. Die Literaten und der Luftkrieg. Essays und Gespräche. Frankfurt/M. 2003. Zur Sebald-Debatte vgl. darin v. a. S. 113-131. Vgl. auch die von ihm herausgegebene Quellensammlung: Hamburg 1943. Literarische Zeugnisse zum Feuersturm. Hg. von Volker Hage. Frankfurt/M. 2003. 5 Vgl. Volker Hage: Königssohn von Wasserburg. In: Der Spiegel 31 (1998). S. 148-150. 6 Volker Hage: Kälte und Hunger hören nie auf. In: Der Spiegel 45 (1998). S. 298302. 7 Volker Hage: Das tausendmalige Sterben. In: Der Spiegel 6 (2002). S. 184-190, hier S. 185.
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Erzählung das genuine Medium des Erinnerns ist und als solches auch noch am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts und bezogen auf lange als inkommensurabel angesehene Ereignisse funktionieren kann. Der “Stoff für ein Epos oder wenigstens eine Novelle” sei vorhanden, und inzwischen – eben dies indiziere Sebalds Auftritt – seien auch die mentalen, politischen und literarischen Beschränkungen gefallen, die den “großen deutschen Roman” über die Schrecken des Weltkrieges, den “Roman der Bombennächte” bisher verhindert hätten. Möglich wird dadurch aber auch die Wiederentdeckung vergessener Romane aus der Nachkriegszeit – wie von Ledigs Vergeltung, auf den Hage in seinem Artikel erstmals wieder aufmerksam machte. Irritierend an Hages Artikel – wie zum Teil auch an Sebalds Essay – ist ganz allgemein die selbstverständliche Identifikation von Erzählen, Erinnern und Literatur, als wenn das eine das andere bedinge und sich vom Fehlen literarischer Darstellungen des Bombenkriegs logisch auf ein traumatisiertes Bewusstsein schließen lasse; als wenn alles sich im selben Medium ereigne und denselben diskursiven Regeln unterliege.8 Problematisch an Hages Entwurf einer neuen Nachkriegsliteratur ist vor allem die Art, in der der Spiegel-Autor einen poetologischen mit einem psychologischen Diskurs, den Diskurs des Erzählens und den Diskurs des Erinnerns, verknüpft. Zum einen fordert er von der Literatur Zeugenschaft, ein Freisetzen der Erfahrung in der Erinnerung, wobei unterstellt ist, dass psychologische und ideologische Blockaden diese Zeugenschaft lange Zeit verhindert haben. Implizit – und mit dem Verweis auf Ruth Klüger auch explizit – figuriert er die neue deutsche Erinnerungsliteratur dabei nach dem Muster jüdischer Zeugenliteratur, der Exil- und Holocaustliteratur, und parallelisiert damit zwei grundverschiedene Erinnerungs- und Repräsentationsproblematiken.9 Zugleich wird indirekt für die Darstellung des Bombenkriegs der Status des Autobiographischen zum Kriterium von Authentizität erhoben. Bei den von Hage bemühten Beispielen handelt es sich ausschließlich um Autoren, die den Bombenkrieg zumindest in ihrer Kindheit noch erlebt haben, also aus eigener Erinnerung berichten. Das in der Forschung zur Holocaust-Literatur vieldiskutierte Problem der Erinnerung bei der zweiten oder dritten Generation bleibt dabei ausgespart. 8
Zu dieser Kritik in Bezug auf Sebald vgl. Andreas Huyssen: On Rewritings and New Beginnings: W. G. Sebald and the Literature About the ‘Luftkrieg’. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 124 (2001). S. 72-90, hier S. 81. 9 Hage konstruiert darüber hinaus einen psychologischen Kausalzusammenhang zwischen der Erinnerung an den Holocaust und der an den Bombenkrieg, demzufolge das durch Schuldgefühl oder ideologische Schranken verursachte Schweigen über den Holocaust es den Deutschen gleichzeitig unmöglich gemacht habe, von der eigenen Opfererfahrung zu sprechen. Zur Problematik dieses Arguments vgl. Braese: Bombenkrieg und literarische Gegenwart (Anm. 3). S. 11.
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Die Diagnose eines psychologischen Erinnerungstabus wird in Hages Artikel zum anderen immer wieder überlagert durch die Kritik eines ästhetischpolitischen Erzähltabus, das Adorno mit seinen verbindlichen Aussagen zur Lyrik ‘nach Auschwitz’ und zum ‘Ende des Erzählens’ errichtet habe. Gefordert und konstatiert wird die Abkehr von den leitenden Literaturkonzepten der 60er bis 80er Jahre und einem ästhetisch-politischen Diskurs, der die Autoren in eine Askese des Erzählens und zum Ausweichen in “Dokumente und Zitatmontagen, Reportagen und kritisch gemeinte Sprachexerzitien” gezwungen habe. So geht bei Hage der Kampf gegen die ‘Erzähltabus’ Hand in Hand mit der Abwertung dokumentarischer Schreibtechniken im weitesten Sinne. Diese Kritik richtet sich auch gegen aktuelle Erinnerungsprojekte wie Walter Kempowskis Echolot-Unternehmen (1993 ff.), das in Hages Augen nur einen letztlich unbefriedigenden “Ersatz” des fehlenden ‘großen Romans’ bietet. Insbesondere kritisiert er die Technik der Aussagen-Montage in diesem “Mammutzitatwerk”, die zur “Einschränkung und Relativierung” der einzelnen Zeugnisse führe, und beruft sich dabei auf Walter Benjamin, dem zufolge die wahre Erzählung frei von Erklärungen sei. Man könnte Hages Forderung als Reflex postmoderner Rehabilitierung epischen Erzählens verbuchen, wenn sie nicht in eine literaturpolitische Polemik eingebunden wäre, die mit einer Reihe historisch falscher Behauptungen operiert. Dazu zählt die in Frageform gekleidete Unterstellung, die deutschen Autoren der 60er bis 80er Jahre hätten wegen der sich selbst auferlegten erzählerischen Askese bei der “Aufarbeitung der Vergangenheit versagt”. Tatsächlich entwickelten diese ihre Schreibweisen gerade in Auseinandersetzung mit der jüngsten Geschichte, und tatsächlich wurde der Holocaust von ihnen erstmals in der Nachkriegsliteratur thematisiert.10 Und so unseriös es ist, Adornos ästhetische Reflexionen zum Schreiben nach Auschwitz für psychologische Verdrängungen in der Nachkriegszeit verantwortlich zu machen, so falsch ist die Behauptung, die Krise des traditionellen Erzählens sei ein Effekt deutscher Vergangenheitsbewältigung. Bezeichnender Weise verschweigt Hage, dass schon Benjamin sein Modell der ‘wahren Erzählung’ rein retrospektiv entwirft – mit Blick auf ein archaisch-mündliches Erzählen, von dem sich letzte Spuren im Realismus des 19. Jahrhunderts finden – und der legitimatorisch herangezogene ErzählerAufsatz (1936) in den Kontext von Reflexionen zur Krise des Erzählens aus der Zwischenkriegszeit gehört. (Erzählen erklärt Benjamin lebensweltlich und nicht psychologisch, und deshalb taugt sein Modell nicht zur theoreti10
Vgl. Klaus Briegleb: Vergangenheit in der Gegenwart. In: Gegenwartsliteratur seit 1968. Hg. von Klaus Briegleb und Sigrid Weigel. München, Wien 1992. S. 73116.
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schen Begründung eines tabubefreiten Erzählens in der Gegenwart.) In der Tradition dieser historisch-poetologischen Reflexion steht auch Adornos Aufsatz über den Standort des Erzählers (1954), den Hage für die ErzählHemmungen deutscher Nachkriegsautoren mitverantwortlich macht. Die Schwierigkeit realistischen Erzählens wird bei Adorno mit der doppelten Krise sowohl der literarischen Gegenständlichkeit als auch der Psychologie in der Moderne begründet, also mit einer grundsätzlichen Infragestellung des Authentizitätskonzepts, mit dem Hage operiert. Zum einen zwingt die Medienkonkurrenz von Reportage und Film den Roman dazu, sich von deren Realismus mit sprachlich-fiktionalen Mitteln zu unterscheiden, zum anderen ist Adorno zufolge im Prozess der Modernisierung die “Identität der Erfahrung” verloren gegangen, die traditionelles Erzählen möglich machte: “Man braucht nur die Unmöglichkeit sich zu vergegenwärtigen, daß irgendeiner, der am Krieg teilnahm, von ihm so erzählte, wie früher einer von seinen Abenteuern erzählen mochte.”11 Auch wenn man den ethisch-ästhetischen Purismus Adornos nicht teilt und dagegen das Argument vertritt, dass Authentizität immer einer medialen Vermittlung unterliegt, kann ein Diskussionsbeitrag zur gegenwärtigen Debatte um literarische Kriegsdarstellung, will er ernstgenommen werden, diesen Reflexionsstand nicht schlicht ignorieren. Doch Hage tut noch mehr, indem er die Problematisierung der konventionellen Repräsentationsästhetik zum Erzähltabu erklärt und, nur den ersten Teil des bekannten Satzes von Adorno zitierend, dessen Dialektik unterschlägt: “es läßt sich nicht mehr erzählen, während die Form des Romans Erzählung verlangt”.12 Tatsächlich wird das Erzählen um 1970 ja nicht aufgegeben und durch reines Zitieren und Dokumentieren ersetzt, wie Hage suggeriert. Charakteristisch für die Literatur dieser Zeit ist vielmehr der Versuch, nicht naiv zu erzählen, die Illusion zu durchbrechen und die Perspektiven zu vervielfältigen, indem dokumentarisches Material in die fiktionale Erzählung integriert wird.13 Damit wird Erinnern nicht ausgeschlossen, jedoch programmatisch der Einsicht in die Inkonsistenz und Partialität individueller Erfahrung Rechnung getragen, wie etwa in Uwe Johnsons Jahrestagen (1970ff.).14
11
Theodor W. Adorno: Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman. In ders.: Noten zur Literatur. Frankfurt/M. 1974. S. 41-48, hier S. 42. 12 Ebd. S. 41. 13 Vgl. dazu Keith Bullivant und Klaus Briegleb: Die Krise des Erzählens – ‘1968’ und danach. In: Gegenwartsliteratur seit 1968 (Anm. 10). S. 302-339. 14 Vgl. dazu Michael Hofmann: Erzählen nach Auschwitz in Uwe Johnsons Jahrestagen. In: Deutsche Nachkriegsliteratur und der Holocaust. Hg. von Stephan Braese, Holger Gehle, Doron Kiesel und Hanno Loewy. Frankfurt/M., New York 1998. S. 197-212.
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II. W. G. Sebald – Arbeit an “einem der traditionellen Ästhetik inkommensurablen Material” Wenn man in Kenntnis von Hages Artikel den Blick auf Sebalds 1999 publizierten Essay über Luftkrieg und Literatur richtet, wird zum einen die weitgehende Differenz und dadurch noch einmal verstärkt der politische Charakter des Spiegel-Textes erkennbar, zum anderen treten die neuralgischen Punkte in Sebalds eigener Argumentation deutlicher hervor. Vor allem, wenn man vergleichend die in der Buchausgabe an den Vorlesungstext angefügte ‘Nachschrift’ heranzieht, in welcher der Ende 2001 verstorbene Schriftsteller die zahlreichen Reaktionen auf die Zürcher Vorlesung seinerseits kommentiert. Zudem ist Sebalds bereits siebzehn Jahre früher erschienener Aufsatz Zwischen Geschichte und Naturgeschichte zu berücksichtigen, in dem wesentliche Teile der Vorlesung textgleich formuliert sind. Dass Sebalds Überlegungen zur literarischen Behandlung bzw. NichtBehandlung des Luftkriegs erst 1997 eine solch starke Wirkung entfalteten, lag nicht allein am exponierten Ort ihres Vortrags und in der veränderten intellektuellen Konstellation nach der Wiedervereinigung begründet. Sebald trug selbst dazu bei, indem er seinen Reflexionen in der Vorlesung eine Zuspitzung in Richtung auf eine kollektivpsychologische Diagnose der Deutschen gab, die sich in dem Aufsatz von 1982 so noch nicht findet. Zwar konstatiert er dort bereits den “Mangel an literarischen Zeugnissen” der “kollektive[n] Katastrophe”, der auf “komplizierte Verdrängungsprozesse” der Betroffenen hindeutete.15 Doch erst in der Vorlesung spricht er prononciert von “Prozessen der Selbstzensur”, einer “stillschweigenden Vereinbarung” zum Verschweigen des “wahre[n] Zustands der materiellen und moralischen Vernichtung” und verwendet die Formulierung vom “mit einer Art Tabu behafteten Familiengeheimnis”,16 die Hage und andere Publizisten elektrisierte. Gerade die Rede vom Tabu erwies sich aber schnell als problematisch oder zumindest missverständlich. Denn die zahlreichen Zuschriften, die der Redner auf seine Vorlesungen hin erhielt, belegten, dass der Bombenkrieg im Alltagsbewusstsein und den Gesprächen der Nachkriegszeit allgegenwärtig war. Dass er als literarisches Thema gleichwohl marginal blieb, lässt sich folglich nicht mit ‘Verdrängung’ und ‘kollektiver Amnesie’ erklären, sondern nur mit den Regeln des politischen und literarischen Diskurses, der, so die These von Andreas Huyssen, mit dem Ausschluss 15
W. G. Sebald: Zwischen Geschichte und Naturgeschichte – Versuch über die literarische Beschreibung totaler Zerstörung mit Anmerkungen zu Kasack, Nossack und Kluge. In: Orbis Litterarum 37 (1982), S. 345-366, hier S. 347 und 357. Wieder abgedruckt in W. G. Sebald: Campo Santo. Hg. von Sven Meyer. München 2003. 16 W. G. Sebald: Luftkrieg und Literatur. Mit einem Essay zu Alfred Andersch. München 1999. S. 18.
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möglicherweise gerade auf eine bestimmte Art der Alltagsrede über den Krieg reagierte.17 So gesehen verfährt Hage nicht ganz willkürlich, wenn er das Thema Luftkrieg und Literatur zu einer diskurspolitischen Auseinandersetzung mit einer herrschenden Tendenz der Nachkriegsliteratur macht. Er dürfte diese Kritik dann jedoch nicht im Namen der Befreiung unterdrückter Erfahrung führen, sondern müsste deutlich machen, dass es um verschiedene Redeweisen über den Krieg geht. Sebald allerdings verwendet den Begriff Tabu in anderem Sinne als Hage. Er zielt mit ihm nicht auf eine linksliberale Diskurspolitik. Vielmehr rekurriert er auf das Theorem der ‘Unfähigkeit zu trauern’ (Mitscherlich),18 also auf ein psychoanalytisches Modell der Kritik, das an manifeste Redeäußerungen angelegt wird und so auch das naive Konzept von Zeugenschaft in Frage stellt. Das Problem des Umgangs mit dem Bombenkrieg in der Nachkriegszeit stellt sich bei Sebald daher als Frage weniger des Redens oder Nicht-Redens als der Art der Rede dar. Besonders deutlich tritt diese Intention in der Nachschrift zur Vorlesung hervor, in der der Essayist zu den zahlreichen ihm zugeschickten Augenzeugenberichten und Hinweisen auf Bücher und Dokumentationen Stellung nimmt, mit denen Zuhörer seine These, die Zerstörung habe im kollektiven Gedächtnis der Nation keinen Platz gefunden, zu widerlegen versuchten. Gerade diese Zuschriften, so schreibt er nun, hätten ihn in seiner Auffassung bestätigt, “daß sich die Nachgeborenen, wenn sie sich einzig auf die Zeugenschaft der Schriftsteller verlassen wollten, kaum ein Bild machen könnten vom Verlauf, von den Ausmaßen, von der Natur und den Folgen der durch den Bombenkrieg über Deutschland gebrachten Katastrophe”.19 Den Hinweis einer Frau aus Greifswald auf das alljährlich in der DDR begangene Gedenken der Zerstörung Dresdens kommentiert er: “Von der Instrumentalisierung des Untergangs dieser Stadt in der offiziellen Rhetorik des ostdeutschen Staates [...] schien die Dame aus Greifswald keine Ahnung zu haben.”20 Und an einer ihm zugeschickten tausendseitigen Sammlung von Zeitzeugeninterviews zum Zweiten Weltkrieg kritisiert er die “stereotypen Bahnen” “sogenannter Erlebnisberichte”, ihre “notorische Unzuverlässigkeit 17
“The scarcity of literary texts about the bombings may have to be explained differently, and it certainly contrasts with the fact that there always was a lot of talk about the bombings in post-war Germany. After all, it was that kind of talk that produced the Luftkrieg taboo among liberals and leftists in the first place. This discourse was perhaps more prevalent in the private than in the public sphere, but it functioned powerfully in bolstering the war generation’s claims to victimization and the attempt to minimize responsibility.” Huyssen: On Rewritings and New Beginnings (Anm. 8). S. 81. 18 Vgl. Sebald: Luftkrieg und Literatur (Anm. 16). S. 97. 19 Ebd. S. 81. 20 Ebd. S. 93.
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und eigenartige Leere, ihre Neigung zum Vorgeprägten, zur Wiederholung des Immergleichen.”21 Diese Kritik ist spürbar von der Furcht bestimmt, die eigenen Thesen könnten in einem Rechtfertigungs- oder Aufrechnungsdiskurs funktionalisiert werden. Vor allem zeigt sie aber Sebalds prinzipielle Ablehnung der Auffassung, der autobiographische Bericht repräsentiere authentische Erfahrung. Und sein Einwand trifft genauso wie die alltägliche auch die literarische Rede, ja er betrifft, wenn man Sebalds Bewertungen unterschiedlicher Texte vergleicht, im Grunde jede, die faktuale wie die fiktionale, Erzählung der historischen Vorgänge. Obgleich “Zeugenschaft” verlangend, misstraut er “der Form”, in der Erfahrungen “sich literarisch artikulieren”.22 Das gilt gleichermaßen für den “sogenannten” Erlebnisbericht, dessen Stereotypie letztlich nur die “Abwehr der Erinnerung” demonstriere,23 wie für die Verarbeitung in traditionellen fiktionalen Erzählformen; Beispiele hierfür sind Hermann Kasacks Roman Die Stadt hinter dem Strom (1947), in dem die Bilder der Trümmerwelt nur mehr als “Versatzstücke für den übergeordneten Plan der Mythisierung einer in ihrer Rohform der Beschreibung sich verweigernden Wirklichkeit” fungieren,24 oder Peter de Mendelssohns Romanfragment Die Kathedrale (1948/1983), dessen Handlungsmuster der Autor offenbar Thea von Harbous Drehbuch zu Metropolis entlehnt habe.25 Mit der Kritik an der autobiographischen Erzählung einerseits, in der Sebald gerade kein Medium authentischen Erinnerns erkennt, und an der fiktionalen Großerzählung andererseits entwickelt der Essayist ein Modell literarischer Erinnerungsarbeit, das in seinen ästhetischen Prämissen und Referenzen in diametralem Gegensatz zu Hages Argumentation steht. Mit dem Vorbehalt gegenüber dem Roman, der, da “dem bürgerlichen Weltbild verpflichtet”, für eine gültige “literarische Beschreibung kollektiver Katastrophen”26 von vornherein ungeeignet sei, knüpft er an eine Kritik des Erzählens an, wie sie u. a. bei Adorno formuliert ist. Und indem er auf dem “Aufklärungswert [...] authentischer Fundstücke, vor denen jede Fiktion verblaßt,”27 beharrt, stellt er sich bewusst in die Tradition dokumentarischerzählerischer Prosa von Alexander Kluge und Peter Weiss – auch wenn seine eigenen Prosatexte wie Die Ausgewanderten (1992) und Die Ringe des Saturn (1995) die dokumentarischen Fundstücke in ganz anderer Weise
21
Ebd. Ebd. S. 81, 93. 23 Ebd. S. 94, 34, 97. 24 Ebd. S. 59. 25 Vgl. ebd. S. 66. 26 Sebald: Zwischen Geschichte und Naturgeschichte (Anm. 15). S. 357. 27 Sebald: Luftkrieg und Literatur (Anm. 16). S. 72. 22
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verarbeiten, nämlich metaphorisierend.28 Im Luftkriegs-Essay nennt er als ästhetisch-programmatische Referenztexte Kluges Neue Geschichten (1977), insbesondere die montageartige Rekonstruktion des Luftangriffs auf Halberstadt, und Hans Erich Nossacks ‘Bericht’ über die Zerstörung Hamburgs Der Untergang (1948). Mit dem “Dokumentarischen, das in Nossacks Der Untergang einen frühen Vorläufer” habe, komme die “deutsche Nachkriegsliteratur eigentlich erst zu sich” und beginne mit “ihren ernsthaften Studien zu einem der traditionellen Ästhetik inkommensurablen Material”.29 Authentizität ist also für Sebald nicht an Augenzeugenschaft gebunden, sondern ein Effekt, der sich erst aus der ästhetischen Organisation und ‘Inszenierung’ von Text- und Bildmaterial ergibt und eine Reflexion der Vermitteltheit der eigenen Erfahrung beinhaltet.30 Nur deshalb kann er Kluges 28
Sebald hat sich zur Vorbildfunktion der dokumentarischen Literatur der 70er Jahre und seinem eigenen fiktional-dokumentarischen Schreibverfahren gelegentlich in Interviews geäußert. So antwortete er einmal auf die Frage, warum er keine historischen Monographien verfasse: “Was die historische Monographie nicht leisten kann, ist, eine Metapher oder Allegorie eines kollektiven Geschichtsverlaufs zu produzieren. Aber erst in der Metaphorisierung wird die Geschichte emphatisch zugänglich. [...] Das soll aber nicht heißen, daß ich dem Romanhaften das Wort rede. Ich habe einen Horror vor allen billigen Formen der Fiktionalisierung. Mein Medium ist die Prosa, nicht der Roman.” (Zit. n. Sigrid Löffler: “Wildes Denken”. Gespräch mit W. G. Sebald. In: W. G. Sebald. Hg. von Franz Loquai. Eggingen 1997. S. 135-137, hier S. 137.) Und gefragt, warum er keine Reportagen schreibe, äußerte er ein anderes Mal: “Ich glaube, dass gerade an der Nahtstelle zwischen Dokument und Fiktion literarisch die interessantesten Dinge entstehen. Das lässt sich an der dokumentarischen Welle der deutschen Literatur zeigen, die es in den sechziger und siebziger Jahren gab, von Peter Weiss bis Alexander Kluge.” (“Ich fürchte das Melodramatische”. In: Der Spiegel 11 (2001). S. 228-234.) Trotz dieser expliziten Bezugnahmen auf die dokumentarische Prosa der 70er Jahre unterscheidet sich Sebalds eigene “Erinnerungskunst” (Franz Loquai: Erinnerungskünstler im Beinhaus der Geschichte. Gedankenbrosamen zur Poetik W. G. Sebalds. Ebenfalls in: W. G. Sebald. S. 257265, hier S. 262.) von ihr grundlegend. 29 Sebald: Luftkrieg und Literatur (Anm. 16). S. 70f. – Es scheint zunächst unverständlich, dass Sebald Nossacks autobiographischen Bericht als Frühform dokumentarischen Schreibens vorstellt. Offensichtlich zielt diese Einordnung aber auf die Haltung analytischer Distanz, in der der Ich-Erzähler seine eigenen Eindrücke und die Mitteilungen anderer Personen referiert und zugleich reflektiert. Im Aufsatz von 1982 heißt es noch deutlicher: Nossacks Text zeige, “wie die richtig erst seit dem Beginn der sechziger Jahre sich entwickelnde dokumentarische Schreibweise, die der Fiktionalisierung der Realität entgegenarbeitet, die Möglichkeit einer authentischen literarischen Reflexion von Erfahrung eröffnet, die mit traditionellen Formen des Erzählens nicht mehr vereinbar sind.” Sebald: Zwischen Geschichte und Naturgeschichte (Anm. 15). S. 344. 30 Vgl. dazu auch folgende Interview-Äußerung Sebalds zum eigenen Schreiben. Auf die Frage, wie authentisch die Erfahrung des Schreckens sein müsse, um sie beschreiben zu können, antwortete er: “Sie muß nicht sehr authentisch sein. Man
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Luftangriff auf Halberstadt, der außer der kurzen Anfangssequenz keine autobiographischen Anteile enthält, den “Charakter einer Modellstudie” attestieren: “Sein Verhältnis zu der von ihm beschriebenen Zerstörung seiner Heimatstadt ist das einer Recherche verlorener Zeit, vermittels derer die traumatisch-schockartigen Erfahrungen, die von den Betroffenen in komplizierten Verdrängungsprozessen der Amnesie überantwortet wurden, herübergeholt werden in die von der verschütteten Historie konditionierte gegenwärtige Wirklichkeit.”31 Der Fokus einer solchen im Zeichen Benjamins stehenden Archäologie liegt nicht auf der Freilegung historischer Erfahrungen, sondern auf der Analyse der psychosozialen Struktur der Nachkriegsgesellschaft und der Durchbrechung eines natur- und geschichtsvergessenen Fortschrittsglaubens.32 III. Gert Ledig – der Bombenkrieg als Sensation und als Dokumentation In kaum einem der zahlreichen Feuilletonartikel, die die Neuentdeckung des Romans Vergeltung und damit des Autors Gert Ledig begleiteten,33 fehlte der Hinweis auf Luftkrieg und Literatur und Sebalds ‘Tabu-These’. Zum einen wurde die Entdeckung als Reaktion auf die ‘Tabu-These’ – und gleichzeitig als Überwindung dieses Tabus – vorgestellt, zum anderen wurde der Roman unter dem Aspekt eines historischen Tabuverstoßes rezipiert. In Ledigs Roman über die Erfahrung des area bombing seien “Fragen, die bis heute Tabu blieben”,34 sei “das große Tabu der deutschen Nachkriegsliteratur”35 angerührt, mit “einem der großen Tabus der Nachkriegsgeschichte”36
muß nicht unbedingt an den Ort des Schreckens [...]. Nehmen sie die Beschreibungen der Hinrichtungen am Plötzensee von Peter Weiss in der Ästhetik des Widerstands. Es ist äußerst fraglich, ob Peter Weiss das in dieser grauenvollen Form hätte beschreiben können, wenn er den Hinrichtungen als Zeuge beigewohnt hätte.” Zit. n. Sven Siedenberg: Anatomie der Schwermut. Interview mit W. G. Sebald. Über sein Schreiben und die Schrecken der Geschichte. In: W. G. Sebald (Anm. 28). S. 146148, hier S. 146f. 31 Sebald: Zwischen Geschichte und Naturgeschichte (Anm. 15). S. 357. 32 Sebald endet die Vorlesung mit einem Zitat aus der neunten These von Benjamin zum Begriff der Geschichte. 33 Im Nachwort zur Neuauflage von Ledigs drittem – auch aus heutiger Sicht nur als misslungen zu beurteilenden – Roman Faustrecht rekapituliert Volker Hage die Aufnahme der ersten beiden Romane als Erfolgsgeschichte: “Die Wiederentdeckung, das läßt sich jetzt schon sagen, ist geglückt.” Volker Hage: Nachwort. In Ledig: Faustrecht (Anm. 1). S. 221. 34 Reinhard Baumgart: Massaker zur Mittagsstunde. Gert Ledigs Luftkriegsroman von 1956. In: Die Zeit vom 9. 12. 1999. 35 Peter Roos: Den Toten schlägt keine Zeit. Gert Ledig erleidet die Bombenhölle der Vergeltung. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19. 1. 2000.
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gebrochen worden. Sebalds Thesen wurden dabei nicht nur von Hage in einen erinnerungs- und identitätspolitischen Diskurs übertragen und als Indiz einer nationalen Neubesinnung bewertet. “Erst jetzt”, so schrieb etwa Thomas Medicus in der Frankfurter Rundschau, “da sich die Deutschen als Nation neu definieren” müssten, seien sie “reif” für “diese lange nicht bewusstseinsfähige Geschichte”.37 Dass eine solche optimistische Aktualisierung Sebald im Grunde widerspricht, spielte in der Debatte um Luftkrieg und Literatur ebenso wenig eine Rolle wie die auffallende Zurückhaltung, mit der der Essayist in der Nachschrift zu seinen Vorlesungen die Wiederentdeckung von Vergeltung kommentierte. Zwar deutet er die Vergessenheit des Romans dort ebenfalls als Zeichen einer Verdrängung. Er erklärt diese jedoch nicht politischideologisch, sondern mit der Ökonomie der bürgerlichen Psyche, die all das aus dem kollektiven Gedächtnis ausschließt, was droht, “den cordon sanitaire zu durchbrechen [...], mit dem die Gesellschaft die Todeszonen tatsächlich entstandener dystopischer Einbrüche umgibt”.38 Und die implizite Frage, ob Ledigs Roman eine angemessene ästhetische Behandlung eines solchen dystopischen Einbruchs leiste, beantwortet Sebald eher skeptisch: “Es ist nicht einfach, etwas zu sagen über die Qualität dieses Romans. Manches in ihm ist aufgefaßt mit erstaunlicher Präzision, manches wirkt unbeholfen und überdreht.”39 Die feuilletonistische Rede von Tabu und Tabubruch steht im Zeichen gegenwärtiger Erinnerungs- und Geschichtskonstruktion, die für sich in Anspruch nimmt, erstmals einen unverstellten Blick auf die historische Wahrheit und das von Ledig dargestellte Grauen zu werfen. Vergleicht man die gegenwärtige Rezeption von Vergeltung mit der aus den 50er Jahren, so ergibt sich folgendes Bild: Die unterschiedliche Beurteilung des Romans ist nicht darin begründet, dass bestimmte Geschehnisse und Erfahrungen in der Nachkriegszeit tabuisiert bzw. nicht darstellbar waren. Die Akzeptanz oder Ablehnung entscheidet sich vielmehr an der Frage, ob die Repräsentation als authentisch, ob der Text als authentisches Dokument des Bombenkrieges angesehen werden kann. Und die Beantwortung dieser Frage hängt wiederum von seiner Ästhetik bzw. den sich verändernden ästhetischen Codierungen des Dokumentarischen ab.40 So verbinden die überwiegend negativen 36
Thomas Medicus: Ausweitung der Todeszone. Warum Gert Ledigs Romane erst jetzt Erfolg haben. In: Frankfurter Rundschau vom 8. 6. 2000. 37 Ebd. 38 Sebald: Luftkrieg und Literatur (Anm. 16). S. 112. 39 Ebd. S. 110. 40 Allgemein zur Problematisierung des Authentischen in verschiedenen kulturwissenschaftlichen Theorieansätzen vgl. Helmut Lethen: Versionen des Authentischen: sechs Gemeinplätze. In: Literatur und Kulturwissenschaften. Positionen, Theorien,
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Rezensionen von Vergeltung in den 50er Jahren den Vorwurf der Unglaubwürdigkeit durchgängig mit der Kritik der ‘Machart’, während in den positiven Rezensionen der Neuausgabe die Anerkennung der Authentizität mit dem Lob für Ledigs Erzähltechnik verknüpft ist. Ledigs Roman sei “ein sehr gut ‘gemachtes’” Buch, das einen “wider Willen packt”, lautet das Urteil in den 50er Jahren.41 Der Autor verlasse “den Rahmen des Glaubwürdigen” und vergreife sich “in unentschuldbarer Weise in der Darstellungsart”; er finde “nicht die angemessene Darstellungsweise für das sinnlose Sterben von Menschen”.42 Er beweise “beachtliche Fähigkeiten als literarischer Cutter und Monteur” und produziere “nach der Methode nervös aufgepeitschter Reportagen” eine “kalte Mache”, ein “bloßes Grauen”.43 Die “Beherrschung der technischen Mittel” diene nicht dazu, einen “Erlebnisgehalt” zu vermitteln.44 Der Roman sei eine “dadaistische Schreckenskammer”,45 er wirke “unglaubwürdig”, weil er “die experimentellen Möglichkeiten” der Darstellung “überdreht”.46 Geradezu konträr dazu verläuft die Rezeption um 2000, in der dem Roman fast durchgängig ein dokumentarischer Charakter attestiert wird.47 Ledigs “harte, amerikanische Prosa” werde “als verzweifelte Dokumentarliteratur erst jetzt lesbar”.48 Von “schonungsloser Chronistenpflicht” getrieben, spare der Erzähler “kein Modelle. Hg. von Hartmut Böhme und Klaus R. Scherpe. Reinbek 1996. S. 205-231. Zur Bedeutung von Authentizität bei der Konstruktion kultureller Gedächtnisbilder des Holocaust vgl. Manuel Köppen und Klaus R. Scherpe: Zur Einführung: Der Streit um die Darstellbarkeit des Holocaust. In: Bilder des Holocaust. Literatur – Film – Bildende Kunst. Hg. von Manuel Köppen und Klaus R. Scherpe. Köln, Weimar, Wien 1997. S. 1-12. 41 [Ohne Titel] In: Standpunkte vom 8. 3. 1957. 42 Peter Hornung: Zuviel des Grauens. Zum neuen Roman von Gert Ledig. In: Die Zeit vom 15. 11. 1956. 43 E. R. Dallontano: Gruselkabinett mit Bomben. Zu Gert Ledigs zweitem Roman Vergeltung. In: Rheinischer Merkur vom 7. 12. 1956. 44 Christian Ferber: ... aber er engagiert sich nicht. Gert Ledigs zweiter Roman. In: Die Welt vom 23. 2. 1957. 45 Karl August Horst: Deutsche Kriegsbücher. In: Merkur 11 (1957). S. 492-494, hier S. 493. 46 Franz Schonauer: Zu neuen Kriegsbüchern. In: Neue deutsche Hefte 3 (1956/57). S. 591-595, hier S. 593. 47 Aus dem euphorischen Chor der Rezensenten fällt die Rezension von Thomas Fitzel heraus, der – deutlich an die Kritik der 50er Jahre anknüpfend – Ledig vorwirft, “mit dem Thema nicht fertig geworden” zu sein. Der Autor sei nicht der “kühle Chronist”, der er vorgebe zu sein, er reproduziere in “Kolportagestil” und “Landserjargon” nur die “Enthumanisierung” und leiste nicht “die Vermittlung auch nur einer Erfahrung”; Thomas Fitzel: Feuerschein am Himmel. Was der Krieg war: Gert Ledigs Roman Vergeltung. In: Stuttgarter Zeigung vom 24. 3. 2000. 48 Lothar Müller: Späte Vergeltung. Der kommende Roman Deutschlands ist vierzig Jahre alt. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28. 10. 1999.
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noch so blutiges Detail des Krieges aus”.49 Seine Darstellung des Schreckens sei “von erstaunlich dichtem Realismus” und zeige “das wahre Gesicht des Krieges”.50 Der Roman sei das Beispiel eines revolutionären “Dokumentarismus”; die brutale Wirklichkeit des Krieges ‘diktiere’ dem Dichter “Duktus, Wortwahl, Satzbau”: “Dichter? Ein gottverlassener Zeuge.”51 Erst heute könne man Ledigs “kalt registrierende, dokumentarische Prosa” schätzen, die zeige, “was das war: der totale Krieg”.52 Vergeltung sei das “Protokoll eines unheimlichen Paroxysmus”, das beschreibe, “ohne wegzusehen”.53 Der Autor sei “ein Dokumentarist mit der untrüglichen Sicherheit für das Timing der Szenen” und einem “artistischen Verständnis von Montage”.54 Wie sieht der Text aus, der solch unterschiedliche Lektüren ermöglicht? Ledig greift in Vergeltung das formale Erzählmuster auf, das er schon in Die Stalinorgel zur Darstellung des Frontkrieges verwandte. Kennzeichnend sind die reportageartige Syntax, der als ‘amerikanisch’ eingestufte Verzicht auf Psychologisierung und Kommentierung und der den Anti-Kriegsromanen der Weimarer Republik verpflichtete ‘harte’ Realismus in der Darstellung der ‘Todesarten’.55 Auch hier konzentriert Ledig das Kriegsgeschehen
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Volker Hage: “Die Angst muß im Genick sitzen”. In: Der Spiegel 1 (1999). S. 160-164, hier S. 163. 50 Stephan Reinhardt: Gegenwart des Nichts. Pflichtlektüre: Gert Ledigs LuftkriegsDokument. In: Der Tagesspiegel vom 27. 2. 2000. 51 Roos: Den Toten schlägt keine Zeit (Anm. 35). 52 Medicus: Ausweitung der Todeszone (Anm. 36) 53 Uwe Pralle: Die erbarmungslose Physiologie des Krieges. Von einem Blackout der Nachkriegszeit: Ein Portrait des Autors Gert Ledig anlässlich seines Romans Vergeltung. In: Frankfurter Rundschau vom 21. 2. 2000. 54 Wilfried F. Schoeller: Collage des Kahlschlags. Gert Ledigs lange verschollen gewesener Roman Vergeltung. In: Süddeutsche Zeitung vom 11./12. 12. 1999. 55 In den Rezensionen der 50er Jahre wurde Stalinorgel mehrfach mit Remarques paradigmatischen Anti-Kriegsroman Im Westen nichts Neues (1929) verglichen. Die germanistische Forschung zu Kriegsromanen des Zweiten Weltkriegs hat Ledigs Schreibstil dem Typus des ‘Romans der Härte’ zugeordnet. Als dessen wichtigste Kennzeichen gelten eine extrem distanzierte, bis ins Sarkastische gehende Erzählhaltung und eine extensive Beschreibung von Grausamkeit. (Vgl. Jochen Pfeiffer: Der deutsche Kriegsroman 1945–1960. Ein Versuch zur Vermittlung von Literatur und Sozialgeschichte. Königstein/Ts. 1981. S. 81, 177.) Zugleich wurde dieser Romantyp ideologiekritisch problematisiert. So wurde Stalinorgel vorgeworfen, dass die Ausstellung der Gewalt die “gehaltliche Aussage” schwäche. (Ebd. S. 177.) Ledig würde allein mit “Schockeffekten” arbeiten, “ohne historische, politische und soziologische Aspekte des Zweiten Weltkriegs zu berücksichtigen”; bei der “Detailbeschreibung des Grauenhaften” blieben die Gründe des Krieges ausgespart. (Hans Wagener: Soldaten zwischen Gehorsam und Gewissen. Kriegsromane und -tagebücher. In: Gegenwartsliteratur und Drittes Reich. Deutsche Autoren in der Aus-
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in einen zeitlich-räumlichen Ausschnitt, der exemplarischen Charakter hat: in diesem Fall der Luftgangriff auf eine ungenannte deutsche Stadt, von der Markierung der Angriffsziele bis zum Ende der dritten Angriffswelle. Die exakte zeitliche Fixierung des Anfangs- und Endpunktes des Angriffs, zwischen 13.01 und 14.10, wie auch die präzise Rekonstruktion des technischen Operationsablaufs im Kontrast zur historisch-lokalen Unbestimmtheit verstärken noch den Eindruck einer parabolischen Struktur. Wie in Stalinorgel verwendet Ledig vorwiegend eine variable interne Fokalisierung und verknüpft eine Vielzahl von Handlungssträngen nach dem Prinzip der Parallelmontage, allerdings mit sehr viel höherer Schnittfrequenz als im ersten Roman. Die Auswahl der Schauplätze (Bomberkanzel, Bombermagazin, Flakturmplattform, Flakturmbunker, Beobachtungsstand, Geschützstellung, Friedhof, Wohnhauskeller, Wohnungszimmer, Luftschutzbunker etc.) und des Personals (der amerikanische Bomberpilot, der Bomberkommandant, der schwarze US-Soldat, das junge Mädchen, die kranke alte Frau, das alte Ehepaar, die jugendlichen Flakhelfer, ihr Lehrer, der Leutnant der Flakabteilung, der sowjetische Zwangsarbeiter, die Milchfrau, der Fähnrich etc.) zeigen ebenfalls die Intention an, eine technisch und funktionell exakte sowie personell repräsentative Darstellung zu geben. Anders als Theodor Plievier in Stalingrad (1945) geht es Ledig dabei nicht um eine historische, sondern eine abstrakte – militärtechnische, militärlogische wie auch verhaltenspsychologische – Rekonstruktion des Krieges. Ledigs Darstellung verweigert eine Klassifikation in Täter und Opfer. Sie evoziert weder Mitleid mit den Figuren noch heroisiert sie ihr Leiden. Stattdessen präsentiert sie ein Pandämonium menschlicher Schwächen, moralischer und körperlicher Auflösungen – eine Vergewaltigung im verschütteten Keller, einen sadistischen Lynchmord und vieles mehr: ein Reigen von Angst, Schmerzen und Hinfälligkeit, der keinen Unterschied zwischen Angreifern und Angegriffenen, Soldaten und Zivilisten, Männern und Frauen, Alten und Jungen kennt. Die Irritationen bei der Lektüre des Romans scheinen zu einem großen Teil darin begründet, dass die objektivierenden Tendenzen in einem kalkulierten Spannungsverhältnis zum Effekt der Unmittelbarkeit stehen. Die eingesetzten ästhetischen Mittel erzeugen gleichzeitig Nähe und Distanz zum dargestellten Grauen. Der Text suggeriert unmittelbare Zeugenschaft durch extreme ‘Nahaufnahmen’ und Tempo-Verlangsamungen, springt dann aber mit einem Schnitt zu einem ganz anderen Schauplatz oder breitet aus der Distanz in einer langen Periode das ganze Panorama des Schreckens aus. In schwindelnder Folge geht es vom Luftschutzkeller in die Bomberkanzel einandersetzung mit der Vergangenheit. Hg. von Hans Wagener. Stuttgart 1977. S. 240-264, hier S. 259.)
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und von dort wieder in die Wohnung des alten Ehepaars u.s.f. Der ambivalente Eindruck einer ‘distanzierten Nähe’ entspricht dem Blick der Reportage, die den Leser mitten ins Geschehen führt und doch nicht involviert, die das Einzelne zeigt und doch den Überblick über das Ganze behält. Ledig erzielt diese Wirkung durch die kontrastive Montage der Schauplätze und Blickwinkel, den Wechsel von Dialogszenen und Ereignisbericht, die Einfügung auktorial erzählter Passagen oder das Changieren zwischen externer und interner Fokalisierung, wie in folgender Passage, die den Selbstmord eines schwer verbrannten Soldaten ‘reportiert’: Plötzlich goß man Wasser über ihn. Es planschte. Dann zischte es. Das Hemd zerfiel wie Zunder. Auf den Armen platzen die Blasen auf. Dampf bildete sich über seinem Schädel. Mit einem Aufschrei riß er das Gewehr an sich. Der Riemen schlug durch die Luft. Er streckte sich die Mündung in den Mund. Gegen seine Zähne schlug Stahl. Die rechte Hand tastete nach dem Abzug. Sein Zeigefinger krümmte sich. Nein. Das Gewehr war gesichert. Er legte zitternd den Hebel um. Das Korn schnitt seinen Kiefer auf wie ein Messer. Er griff noch einmal nach dem Abzug. Schob ihn nach hinten.56
Passagen wie diese waren es, die in den 50er Jahren – nicht zu Unrecht – den Vorwurf der Effekthascherei und ‘kalten Mache’ provozierten; nicht weil man ein Darstellungstabu verletzt sah, sondern weil man diese Evokation von Grauen als dysfunktional im Sinne des realistischen Erzählens wie auch des humanistischen Appells empfand. Dieses Urteil widerspricht keineswegs – wie in heutigen Rezensionen mehrfach behauptet – der überaus positiven Aufnahme der ein Jahr zuvor erschienenen Stalinorgel. Denn Ledigs erster Roman arbeitet zwar ebenfalls – übrigens durchaus genretypisch57 – mit Parallelhandlungen und Multiperspektivität, doch sind die einzelnen Figuren dort psychologisch viel differenzierter gezeichnet, die Handlungsstränge weiter entwickelt und die dargestellten Kriegsgräuel so stärker narrativ integriert. Im Vergleich dazu zeigt Vergeltung eine Zersplitterung der Handlungsstränge, eine Vervielfältigung der Schauplätze und eine Reduktion der Charakterisierung. Diese Veränderung lässt sich als tendenzielle Abkehr von der Romanform begreifen. Dafür spricht, dass in Vergeltung pseudo-dokumentarische Stilmittel eingesetzt werden. An die Stelle der einleitenden und abschließenden Kapitelüberschriften “Prolog” und “Epilog” in Stalinorgel treten hier die logbuchartigen Notate “Mitteleuropäische Zeit 13.01” und “Mitteleuropäische Zeit: 14.10”. Und wo der erste Roman in kursivierten Einschüben das Figurenbewusstsein in Form von Erinnerungen, Träumen und Reflexionen 56
Ledig: Vergeltung (Anm. 1). S. 164f. Zu den typischen Erzählformen und Handlungsmustern des Kriegsromans vgl. Pfeiffer: Der deutsche Kriegsroman 1945–1960 (Anm. 55). Insb. S. 61ff.
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darstellt, wird in Vergeltung jedem Kapitel ein fiktives autobiographisches Dokument, zumeist in Form eines Lebenslaufes, vorangestellt. Zudem werden chronikartige Berichte in die Beschreibung eingefügt, wie folgende Aufzählung: In dieser Stunde oder nach dieser Stunde wurden noch mehr erschlagen. Ein ungeborenes Kind im Mutterleib von einer Hausmauer. Der französische Kriegsgefangene Jean Pierre mit einem Gewehrkolben. Sechs Schüler des humanistischen Gymnasiums am Flakgeschütz von einem Rohrkrepierer. Ein paar hundert Namenlose auch.58
Die Verwendung pseudo-chronikalischer und pseudo-dokumentarischer Elemente dient dazu, die Anonymität des durch Technik herbeigeführten Massensterbens herauszustellen, und folgt dabei der Erkenntnis, dass das tatsächliche Ausmaß des Grauens im Rahmen einer auf einzelne Figuren und Geschichten ausgerichteten Narration nicht darstellbar ist. So lässt sich das narrative Programm von Vergeltung auch als Anti-Erzählung, als demonstrative Destruktion von narrativen Zusammenhängen beschreiben. Die Fragmentierung der Handlung entspricht dem stets wiederholten Sterben der Protagonisten, und die einmontierten schriftlichen ‘Lebensläufe’ kontrastieren die dargestellte Auslöschung der Biographien. Man mag in diesem Insistieren auf dem Ende und der Destruktion biographischer oder religiöser Sinngebungen bzw. ‘Geschichten’ das pädagogisch-aufklärerische Programm von Ledigs Roman erkennen.59 In jedem Fall begründet es die parabolische Struktur vieler Passagen: so etwa die analog zum Auftakt der Stalinorgel konzipierte ‘Eingangszene’ von Vergeltung, in der die durch die Romanform gesetzten Erwartungen an Sukzession, Kausalität und Zusammenhang gleich zu Beginn mit effektsicherer Rhetorik, gewissermaßen einer Inversion von Erzählung, enttäuscht werden: Lasset die Kindlein zu mir kommen. –
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Ledig: Vergeltung (Anm. 1). S. 11. Gert Ledig hat dieses gegen restaurative Tendenzen im Kulturbetrieb der Adenauer-Zeit gerichtete Programm 1957 in einem Zeitungsartikel mit dem Titel Gefährliche Literatur formuliert. ‘Gefährliche Literatur’ definiert er dort wirkungsästhetisch. Sie suche “die richtige Form nur wegen der Wirkung, nicht um der Kunst willen” und übe eine “erzieherische” Funktion aus. Als entscheidendes Stilelement nennt er dabei die Kontrastierung, auf die auch die Montagetechnik seiner Romane hin ausgerichtet ist: “Wenn in einer Küche ein Kruzifix hängt, darunter ein Sofa steht und auf dem Sofa ein Ehebruch stattfindet, so verschweigt die ungefährliche Literatur entweder den Geschlechtsakt oder das Kruzifix. Die gefährliche Literatur aber zeigt beides zusammen.” Gert Ledig: Die gefährliche Literatur. In: Panorama. Eine deutsche Zeitung für Literatur und Kunst, Nr. 1 (1957). S. 1-2; wieder abgedruckt in: Konkret Nr. 7 (1960).
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310 Als die erste Bombe fiel, schleuderte der Luftdruck die toten Kinder gegen die Mauer. Sie waren vorgestern in einem Keller erstickt. Man hatte sie auf den Friedhof gelegt, weil ihre Väter an der Front kämpften und man ihre Mütter erst suchen mußte. Man fand nur noch eine. Aber die war unter den Trümmern zerquetscht. So sah die Vergeltung aus.60
Ebenso wie das in diese Passage einmontierte Bibelzitat werden auch die berichtenden und pseudo-dokumentarischen Elemente des Romans stets mit dem wirkungsästhetischen Kalkül der kontrastiven Desillusionierung verwendet und sind immer schon in die parabolische Struktur eingebunden. Ledigs Erzählweise unterscheidet sich darin grundsätzlich vom dokumentarischen Realismus. Weder werden, wie bei Plievier, reale Dokumente in eine auf historische Rekonstruktion zielende Reportage eingearbeitet, noch soll, wie später bei Kluge, mit fiktiven Dokumenten die Erfahrbarkeit des Krieges problematisiert werden. Da auch die ‘realistische’ Beschreibung des Kriegsgeschehens in seiner bildlich-rhetorischen Konstruktion von vornherein auf den Schock- und Desillusionierungseffekt hin kalkuliert ist, scheint der in den zeitgenössischen Rezensionen gegen Vergeltung erhobene Vorwurf der ‘Mache’ in literaturkritischer Sicht durchaus begründet. Vor diesem Hintergrund müssen die psycho-historischen Thesen zur ‘Verdrängung’ des Romans, die seine Neuentdeckung im Rahmen der Debatte um Luftkrieg und Literatur flankierten, als spekulativ bewertet werden. Ein über die Schrecken des Bombenkrieges verhängtes Repräsentationsverbot lässt sich mit der in den Rezensionen vorgebrachten Kritik nicht belegen, geschweige denn eine Verdrängung eigener Opfererfahrung. Viel eher ließe sich die umgekehrte These vertreten, dass der Roman deshalb abgelehnt wurde, weil die damaligen Leser die eigene Leidenserfahrung nicht angemessen repräsentiert fanden – genauer müsste man aber formulieren: nicht realistisch dargestellt fanden. Man konnte diese “Wachspuppe der Vergangenheit” nicht anerkennen.61 Aus den zeitgenössischen Kritiken spricht die Orientierung am narrativen Dispositiv; die Forderung, dass die Darstellung des Grauens im Rahmen einer realistischen Erzählung zu erfolgen hat. Das Bemühen, “das Grauen eines Terrorangriffes auf die wehrlose Zivilbevölkerung möglichst drastisch und vollständig zu zeigen”, verlässt den “Rahmen des Glaubwürdigen und Zumutbaren”, weil “der erzählerische Impetus” immer wieder abreißt.62 Ledigs stets wiederholte, schockartige Präsentation einzelner Schreckensbilder wird als effekthascherisch empfun60
Ledig: Vergeltung (Anm. 1). S. 9. “Ledig will uns einen Spiegel vorhalten: So habt ihr vor zwölf Jahren ausgesehen. Aber wir erkennen die Wachspuppe der Vergangenheit nicht an. Wir fragen uns: kann denn wirklich nichts das Räderwerk aufhalten, das den Hexensabbat in Gang setzte?” Horst: Deutsche Kriegsbücher (Anm. 45). S. 593. 62 Hornung: Zuviel des Grauens (Anm. 42). 61
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den. Die “hektisch zerrissenen Szenenfetzen” drängen “monoton auf eine möglichst grässliche Darstellung des Grauens” und wirkten dadurch ermüdend: “Denn bloßes Grauen, das hat das Kino längst entdeckt, kitzelt die Leute. Und erschüttert sie nicht.”63 Es bleibt die Frage, warum die Mittel, die in den 50er Jahren als inadäquat angesehen wurden, bei heutigen Rezensenten als authentisch gelten, die den Bombenkrieg in den allermeisten Fällen nicht mehr aus eigener Erfahrung kennen und als Erinnerungsbilder nur die Fotos der zerstörten Städte. Hinweise dazu finden sich wiederum in den Rezensionen. In direkter Umkehrung der Kritik aus den 50er Jahren wird der Eindruck des Authentischen heute gerade an der ‘filmischen’ Ästhetik Ledigs festgemacht. Man könnte sagen, sein Roman bietet den ‘Film’ zu den überlieferten Fotos der zerstörten Städte.64 Weil “uns heute Bildschocks näher liegen als moralische Unterweisungen”, könnten wir an Ledigs Prosa schätzen, dass sie sich darauf konzentriere, “zu zeigen was da ist”.65 Mit der Darstellung der Gewalt habe der Autor in seinem Roman literarisch vorweggenommen, “was den special effects im Film erst heute – wie etwa in Spielbergs Saving Private Ryan – gestattet wird”.66 Als authentisch bzw. “veristisch” gilt auch die durch die rasante Schnitttechnik bewirkte Zerstörung des Zeitkontinuums, “die Zusammenziehung des Lebens auf sein Ende, Zeitsturz und brachiale Plötzlichkeit”.67 Zudem wird Ledigs Schreibweise durch Vergleiche mit ästhetisch avancierten Autoren – wie John Dos Passos, Alfred Döblin, Bertolt Brecht, Gottfried Benn,68 Joseph Heller, Kurt Vonnegut,69 John Hawkes, Thomas Pynchon oder Claude Simon70 – aufgewertet. Der Eindruck der Authentizität entsteht heute also vor allem deshalb, weil die ästhetische Form der Kriegsdarstellung in Vergeltung auf der Folie aktueller, als realistisch geltender Muster filmischer Kriegs- und Gewaltdarstellungen rezipiert wird.71 Der Gestus kommentarlosen Zeigens,72 die 63
Dallontano: Gruselkabinett mit Bomben (Anm. 43). Der Umschlag der Neuausgabe von Vergeltung unterstützt diese Rezeption, indem er dem Titel ein grob gerastertes Archivfoto einer brennenden Häuserfront unterlegt. In gleicher Weise wurde auch bei der Neuausgabe von Faustrecht verfahren, dessen Umschlagfoto den Abriss einer Hausruine in der unmittelbaren Nachkriegszeit dokumentiert. Die Umschläge der Erstausgaben sind dagegen graphisch gestaltet. 65 Medicus: Ausweitung der Todeszone (Anm. 36). 66 Pralle: Die erbarmungslose Physiologie des Krieges (Anm. 53). 67 Sibylle Cramer: Lebensläufe, Tötungsarten. Gert Ledigs erzählter Krieg: zeitgeschichtliche Sprengsätze. In: Neue Zürcher Zeitung vom 17. 10. 2000. 68 Vgl. Roos: Den Toten schlägt keine Zeit (Anm. 35). 69 Vgl. Volker Hage: Nachwort. In Ledig: Vergeltung (Anm. 1). S. 204. 70 Vgl. Cramer: Lebensläufe, Tötungsarten (Anm. 67). 71 Im Unterschied zu der überwiegenden Zahl der Rezensenten hat Reinhard Baumgart in der Zeit diese filmische Ästhetik als nicht-authentisch bewertet und dabei ein 64
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extreme Nähe zum Geschehen bei gleichzeitig neutraler Beobachterposition, die kontrastiven Schnitte und schnellen Schauplatzwechsel finden sich auch in der filmischen Kriegsberichterstattung des Fernsehens und in neueren Kriegsfilmen, die sich diese ästhetischen Mittel zu eigen machen, um den Effekt dokumentarischer Echtheit zu erzielen.73 Diese Anerkennung für eine spezifische Kriegsästhetik ist nicht zu trennen von einer bestimmten Konzeptualisierung dessen, was der Krieg sei. Zeugt die Kritik an der Ästhetik des ‘bloßen Grauens’ in den 50er Jahren vom Bedürfnis nach geschichtlicher, politischer, religiöser oder philosophischer Deutung des Krieges zum Zweck gegenwärtiger Handlungsorientierung, so gilt heute umgekehrt gerade die Inkommensurabilität des Schreckens als Ausweis der Authentizität. Krieg wird heute unter dem Paradigma der technischen Gewalt verstanden – der Luftkrieg als “Serienkiller”.74 Das durch die heutige Lektüre von Ledigs Roman evozierte Vorstellungsbild vom Bombenkrieg bleibt so gerade wegen der ihm zugesprochenen Authentizität relativ abstrakt. Es sperrt sich damit aber zugleich gegen erinnerungs- und geschichtspolitische Instrumentalisierungen.
Argument vorgetragen, das in den Kritiken der 50er Jahre immer wieder begegnet, nämlich das der ästhetischen Überreizung bzw. Abstumpfung: “Der Leser von heute, abgebrüht durch eine Ästhetik der Grausamkeit, von Artaud bis SchlingensiefCastorf, abgestumpft durch ein Gewalt-Kino und -TV, in dem sprühendes Blut, brennende Menschen, fliegende Körperteile längst als special effects figurieren, die Vernichtung von Dingen gleichsetzend mit der von Menschen, dieser Leser, ästhetisch auf der Höhe der Zeit, lässt sich von Ledigs kaltem Entsetzen so leicht nicht mehr entsetzen.” Baumgart: Massaker zur Mittagsstunde (Anm. 34). 72 Eben dieser Gestus prägt auch die Ästhetik der – in den letzten Jahren fast inflationären – Fernsehdokumentationen zum ‘Dritten Reich’ und zum Zweiten Weltkrieg. Guido Knopp, der Leiter der ZDF-Redaktion Zeitgeschichte, berief sich anlässlich der Ausstrahlung der von ihm verantworteten Dokumentation Der Bombenkrieg (im ZDF am 4. 2. 2003) in einem Zeitungsinterview auf den Dokumentationswert der reinen Bilder und deklarierte seinen Film ausdrücklich als Beitrag zur ‘Versachlichung’ der emotionalisierten Bombenkriegs-Debatte: “Unsere Autoren sind darauf mehr als trainiert, dass ihre Filme historisch exakt gestaltet und trotzdem verständlich sind. Außerdem war die Diskussion bisher recht theoretisch. Erst die Bilder zeigen, wie es wirklich war. [...] Der Film will zeigen, wie es war, welche Bilder es gibt, und wie die Geschehnisse von den Betroffenen beider Seiten heute empfunden werden.” “Bilder zeigen, wie es wirklich war”. Guido Knopp über das Entstehen der ZDF-Dokumentation ‘Der Bombenkrieg’. In: Der Tagesspiegel vom 4. 2. 2003. 73 Zur Ästhetik moderner Fernseh-Kriegsreportagen vgl. Manuel Köppen: Von Effekten des Authentischen – ‘Schindlers Liste’: Film und Holocaust. In: Bilder des Holocaust (Anm. 40). S. 145-170, insb. S. 158f. Ders.: Krieg und Filmästhetik – Der Wirklichkeitseffekt. In: Zeitschrift für Germanistik NF 13 (2003). S. 286-309, insb. S. 287f. 74 Müller: Späte Vergeltung (Anm. 48).
Matteo Galli
Wirklichkeitsentzug – Krieg und Medien bei Alexander Kluge Starting with the categories recently outlined by Alexander Kluge, on occasion of rewriting the keyword ‘war’ for republishing of Diderot and D’Alembert’s Encyclopédie , edited by Hans Magnus Enzensberger in 2001, my paper analyses some of Kluge’s work concerning the relationship between war and media. Special emphasis is put on Schlachtbeschreibung (1964), which focuses on the battle of Stalingrad. After 40 years, Kluge’s hermeneutic categories can still be considered valid, also for interpretation of following wars. It is only in this way that the seemingly contradictory structure of Chronik der Gefühle can be explained: the two-volume work published in 2000, which includes Kluge’s previous work and newer productions of the last decade. In fact, Schlachtbeschreibung is the only old text among new ones in Vol. I. In the last section of my article, I have taken into account some of Kluge’s most original ideas developed soon after September the 11th.
I. Die Frage des Ernstfalls Alexander Kluge und der Krieg: Das scheint ein fast desperates Unternehmen bei einem Autor zu sein, welcher sich auf fast jeder Seite seines gesamten Œuvres literarisch und filmisch mit dem Krieg auseinandersetzt.1 Bei einer solchen unüberschaubaren Fülle von Materialien lohnt es sich vielleicht, gerade mit einem der jüngsten veröffentlichten Texten anzufangen, der einen bei Kluge eher seltenen Vorteil vorzuweisen hat: Kürze; Mangelware für einen Autor, der sich zwar einen ‘Lakoniker’ nennt, aber nicht in der Kürze seine Stärke hat – Chronik der Gefühle (2 Bände), insgesamt 2036 Seiten; Geschichte und Eigensinn (3 Bände), insgesamt 1249 Seiten und gerade veröffentlicht Der unterschätzte Mensch (2 Bände), 2264 Seiten. Im September 2001 legte Hans Magnus Enzensberger die Encyclopédie von Diderot und D’Alembert bei Eichborn wieder auf. Enzensberger hat dieses Werk mit einem ‘modernen’ Anhang versehen wollen, indem er deutsche und nicht nur deutsche Intellektuelle beauftragt hat, einige grundsätzliche Stichworte der alten Encyclopédie neu zu schreiben. Das Stichwort
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Das ‘klassische’ Werk zum Thema ‘Krieg bei Kluge’ ist kaum auf das Verhältnis des Krieges zu den Medien zentriert. Stefanie Carp: Kriegsgeschichten. Zum Werk Alexander Kluges. München 1987.
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“Krieg” wurde von Enzensberger eben Kluge anvertraut;2 dies kann wohl als Beweis für Kluges indiskutable Autorität in Sachen Krieg gelten. Das Stichwort für die Encyclopédie – fünf Seiten zu je zwei Spalten – ist ein hervorragendes Beispiel der Klugeschen Methode und Schreibweisen, seiner Art, die großen makrogeschichtlichen Fragen anzugehen. Mit Ausnahme der ersten zwei Seiten, wo Kluge sichtlich bemüht ist, sich des typischen klassifikationsfreudigen Tons des Mitarbeiters einer Enzyklopädie zu bedienen, finden wir in diesem kurzen Text beide par excellence Klugeschen Methoden: auf der einen Seite die hypertheoretische Art, wodurch er – ganz gleich mit welchem Thema er sich gerade befasst – zur Erschließung von Kategorien gelangt, die mal völlig neu, mal aus ganz unterschiedlichen Spezialgebieten entnommen sind, und die auf den ersten Blick von geringer Operativität zu sein scheinen. Auf der anderen Seite finden wir jene Art, die man, um Symmetrie willen, die hypotheoretische nennen könnte (oder, wenn man will, die minimalistische), die sich auf Episoden, Fragen, Figuren von klarer mikrohistorischer Marginalität konzentriert, die aber Kluges Absichten gemäß in der Lage sind, indirekt auf große Komplexe hinzuweisen. Was die hypertheoretische Art angeht, denke man an den Abschnitt über die “Vergesslichkeit des Krieges”3 oder aber an einen langen Absatz, in dem Kluge mit dem logisch-mathematischen Gegensatzpaar der “Wahrscheinlichkeit” und “Unwahrscheinlichkeit”4 des Krieges operiert; für die andere Art denke man an Kluges Ausführungen in einem Absatz, der den Titel “Die Mehrheit der Kriege entsteht aus Nebensachen”5 trägt, wo Kluge zu dem seltsamen Wunsch gelangt, man solle eine Sonderkommission errichten, die sich mit jenen Nebensachen befasse, die eventuell zu einem Krieg führen könnten. Beide operationellen Methoden Kluges helfen uns nicht viel im Hinblick auf das Thema, das uns hier interessiert, das heißt Kluges Stellungnahme zu Medien und Krieg zu präzisieren. Etwas mehr finden wir in den zweieinhalb anfänglichen Spalten, wo Kluge versucht, eine kurze Geschichte der verschiedenen Kriegsarten zu skizzieren, die in den letzten 250 Jahren, also seit der Erstveröffentlichung der Encyclopédie, aufeinandergefolgt sind. Kluges Schema wäre folgendes: An erster Stelle, chronologisch geordnet und sozusagen in der Prähistorie, wären die “Metzeleien des Mittelalters”6 zu nennen, gefolgt von – zweitens – den so genannten “Kabinettskriegen”,
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Alexander Kluge: Krieg. In: Die Welt der Encyclopédie. Ediert von Annette Selg und Rainer Wieland. Frankfurt/M. 2001. S. 211-216. 3 Ebd. S. 213. 4 Ebd. S. 214. 5 Ebd. S. 213. 6 Ebd. S. 211.
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den “Kriegen unter Herrschern”7 aus der Zeit, in der Jaucourt das Stichwort “guerre” für die Encyclopédie schreibt. Die erste große Metamorphose des Begriffs “Krieg” erfolgte – drittens – mit den “Napoleonischen Kriegen”, in der Zeit zwischen 1792 und 1815, der Zeit der sogenannten “Volkskriege”: “Ehre, Adel, Ruhm; Naturrecht, ‘Früchte des Krieges’ (alles Vokabeln von Jaucourt) werden zu Phrasen. Massenvernichtungswaffen (industrialisierter Krieg), levée en masse (Wehrpflicht), Propaganda, Wirtschaftskrieg und Guerilla sind die neuen Erscheinungen.”8 Der wichtigste theoretische Stützpunkt für diese dritte Phase ist von Clausewitz’ Traktat Vom Kriege, ein Text, auf den Kluge sich öfters bezieht, wie wir bald sehen werden. “Dieser neue Krieg” – so Kluge – “erlischt erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (und auch dann nur für die Metropolen) und wird abgelöst durch die Abschreckung”.9 Die zwei Weltkriege des 20. Jahrhunderts wären also für Kluge als moderne Spielart der Volkskriege der Napoleonischen Zeit anzusehen. Der sogenannte “Abschreckungskrieg” – viertens – dauert nach Kluges Auffassung ungefähr bis 1970, um dann von einem fünften Typus ersetzt oder besser gesagt ergänzt zu werden, der für die Jahre 1970 bis 1989 gelte und den er den “virtuellen Krieg” nennt, welcher nichts anderes sei als die Verschiebung der “Abschreckungsglocke” auf planetarische Szenarien, ein “Krieg im Weltraum oder aus dem Weltraum heraus”, ein Krieg, den man “litotisch” nennen könnte, ein “NICHT KRIEG DER KEIN FRIEDEN IST”, so Kluge in Majuskeln (die er öfter verwendet, wenn es darum geht, einen Begriff besonders hervorzuheben).10 Kluge wendet das Adjektiv “virtuell” in der Bedeutung “der Kraft und der Möglichkeit nach vorhanden” (so im Wahrig) an und nicht in der anderen, vielleicht am meisten verbreiteten Bedeutung, die ursprünglich der Fachsprache der Optik entnommen ist; nämlich als Synonym für “scheinbar”. Der Absatz über den virtuellen Krieg endet mit einer optimistischen Aufforderung zur Wachsamkeit und mit dem Wunsch, dass alle Fragen, die mit dem Krieg zu tun haben, nicht ausschließlich der Kaste der sogenannten Experten überlassen würden: “Die wichtigste politische Frage hierbei ist, inwieweit man eine solche FRAGE DES ERNSTFALLS [das ist Kluges Umschreibung für das Wort “Krieg”] Experten überlassen kann. Wir brauchen eine funktionierende ÖFFENTLICHKEIT allein schon aus dem Grund, daß eine Entscheidung über Krieg und Frieden – über diese tägliche Frage, auf die sich Souveränität gründet – ohne sie nicht möglich ist.”11 Das Problem ist eben, inwieweit diese Öffentlichkeit funktioniert und welche die Instanzen sind, die die Aufgabe haben, sie zu 7
Ebd. Ebd. 9 Ebd. 10 Ebd. S. 212. 11 Ebd. 8
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vertreten und ihre Rechte zu wahren. Den Medien kommt sicherlich eine Schlüsselrolle zu, wenn sie nicht die Hauptinstanz schlechthin darstellen. Dies gilt besonders für einen Autor, welcher sich bereits in den ersten Tagen der Liberalisierung der Fernsehfrequenzen – innerhalb eines streng monologischen Systems – einen eigenen alternativen Freiraum zu schaffen verstand. Ein Autor zudem, der in vielen Medien – im Medium Buchdruck insbesondere die Bereiche Literatur und politische Theorie, Film, Fernsehen, teilweise auch im Internet – einen absolut originellen Beitrag geleistet hat. Es ist nicht mein Anliegen, hier die Koordinaten der Klugeschen Medientheorie zu erörtern (ob das aufgrund der Heterogenität der Medien und der Ansätze überhaupt möglich ist, möge dahingestellt bleiben), sondern eher, synthetisch die verschiedenen Etappen der Klugeschen Bestandsaufnahme im Hinblick auf das Funktionieren von Öffentlichkeit in der FRAGE DES ERNSTFALLS zu skizzieren, angefangen mit Schlachtbeschreibung bis hin zu seinen jüngsten Behauptungen über die Ereignisse des 11. September. II. Stalingrad als Nachricht Diese Bestandsaufnahme fängt eigentlich auf eine extrem dramatische Weise mit der ersten Fassung der collageartig gebauten Schlachtbeschreibung aus dem Jahre 1964 an, die von der sogenannten Pressemäßigen Behandlung eingeleitet wird. Kluge wird sie in den folgenden Fassungen ans Ende setzen – der Prolog wird dadurch zum Epilog – ohne ihr damit jene extrem exponierte Stellung zu nehmen.12 In der Pressemäßigen Behandlung werden die Richtlinien wiedergegeben, die der Reichspressechef schon seit November 1942 den Presseorganen im Bezug auf die mediale Behandlung der Ereignisse in Stalingrad zukommen lässt.13 An diese Richtlinien halten sich die Presseorgane tatsächlich voll und ganz; hierdurch verzichten sie auf jegliche Kontroll- und Aufklärungsfunktion im Hinblick auf Stalingrad. Das 12
Alexander Kluge: Schlachtbeschreibung [1964]. In ders.: Chronik der Gefühle. Frankfurt/M. 2000. Bd. I. S. 509-794, hier S. 765-776. Zu Kluges Kompositionstechnik in der Schlachtbeschreibung vgl. vor allem dessen Aufsatz im Merkur (1964). Heft 195. S. 445: “Es handelte sich um einen Versuch, die Schlacht um Stalingrad aus verschiedenen Perspektiven der an dem Ereignis oder mit Denkarten beteiligten Personen kaleidoskopartig darzustellen – sich dabei einer Technik annähernd, die Gottfried Benn unter Bezugnahme auf die früheren Versuche von André Gide in seinem Roman eines Phänotyp als Orangentechnik definiert und als Modell für die ihm vorschwebende absolute Prosa vertreten hat.” 13 Ulrike Bosse: Alexander Kluge – Formen literarischer Darstellung von Geschichte. Frankfurt/M. u. a. 1989. S. 69: “Ausgangsbasis für die Annäherung an ‘Stalingrad’ ist die Dokumentation. Nicht der konkreten historischen Situation in Stalingrad selbst, aber dessen was in Deutschland aufgrund des Wehrmachtsberichts für die Realität an der Ostfront gehalten werden mußte”.
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Nicht-Funktionieren der Öffentlichkeit, genauer gesagt: der Medien in der Nazizeit, also während einer Diktatur, mag vielleicht selbstverständlich anmuten; nicht so selbstverständlich ist allerdings, dass Kluge den Eindruck vermittelt, die gegenwärtige Öffentlichkeit sei den gleichen Gefahren ausgesetzt. Kluges Aufforderung, die Schlachtbeschreibung “in einem ganz unpraktischen, inaktuellen, von der BRD-abgewendeten Interesse”14 zu lesen, ist demnach völlig irreführend und höchstwahrscheinlich antiphrastisch zu interpretieren; der Text soll hingegen sowohl als ein später Beitrag zu einer nie stattgefundenen Trauerarbeit im Bezug auf Stalingrad, als auch als eines der ersten und zahlreichen Menetekel gelesen werden, die Kluge den Lesern, den Kinogängern, den Fernsehzuschauern zukommen lässt.15 Kluge nennt sein Vorwort weder Einleitung noch Einführung, sondern “Nachricht” – ein Begriff, der einer näheren Betrachtung wert ist.16 Mit “Nachricht” bezeichnet Clausewitz nämlich die kurzen einführenden Worte zu seiner Abhandlung, in denen er auf Änderungen eingeht, die er in einer späteren Ausgabe des Textes vornehmen möchte, um seine Kriegstheorie klarer zu gestalten; und wo er die bekannte Hauptthese seines Buches – “daß der Krieg nichts ist als die fortgesetzte Staatspolitik mit anderen Mitteln” – noch einmal hervorhebt.17 In seinem Kommentar zu Clausewitz’ Nachricht behauptet Kluge, nichts von dem, was in Stalingrad passiert sei, habe mit den im Endeffekt “aufgeklärten” Theorien seines berühmten Vorgängers zu tun: Das “Unglück” von Stalingrad könne man durch Clausewitz’ Kategorien gar nicht erklären. Verglichen mit den Theorien von Clausewitz und mit seiner entsprechenden “Nachricht” sei der Stalingrad-Komplex eher als eine “Nicht-Nachricht” anzusehen.18 Kluges Buch soll aber auch als eine einzige, enorme, ununterbrochene Nachricht (diesmal im geläufigen Sinne von Information) gelesen werden, durch die er 20 Jahre später versucht, das Ungesagte, das Ungeschriebene, 14
Kluge: Schlachtbeschreibung (Anm. 12). S. 511. Diese ‘Gebrauchanweisung’ ist erst in der Ausgabe aus dem Jahre 1978 zu lesen. 15 Zu Kluge als ständigem Kommentator der Zeitgeschichte siehe (außer dem bereits erwähnten Standardwerk von Ulrike Bosse) den vor kurzem erschienenen Beitrag von Winfried Siebers: Mit Historie will man was. Zeitgeschichte im Fernsehen der Autoren. In: Kluges Fernsehen. Alexander Kluges Kulturmagazine. Hg. von Christian Schulte und Winfried Siebers. Frankfurt/M. 2002. S. 165-180. 16 Vgl. hierzu Rainer Stollmann: Alexander Kluge zur Einführung. Hamburg 1998. S. 54-57. 17 Carl von Clausewitz: Sämtliche hinterlassenen Werke über Krieg und Kriegsführung. Hg. von Wolfgang von Seidlitz. Bd. 1: Vom Kriege [1832]. Vollständige Ausgabe 1.–8. Buch. O. O. 1999. S. 10-13, hier zit. S. 10. Hervorhebung original. Vgl. ebd. S. 40. Kap. 1: Was ist der Krieg? Nr. 24: “Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.” 18 Kluge: Schlachtbeschreibung (Anm. 12). S. 513.
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kurz: das Versagen der Medien in den Monaten von Stalingrad wieder gutzumachen. In der Ausgabe aus dem Jahre 1978 finden sich am Ende des Buchs, neben der so genannten Pressemäßigen Behandlung und deren Ergänzung Nachrichtensperre 1943, zwei Seiten, die wiederum Stalingrad als Nachricht heißen. Dieser sehr kurze Anhang besteht aus drei Teilen. Der erste trägt den Titel Deutschland im Herbst 19 und stellt unter anderem einige Erklärungen von Gudrun Ensslins Mutter im Bezug auf Stalingrad vor: “Meine Mutter” (also Gudruns Großmutter) – sagt sie –, “nähte Pelzstücke zusammen, strickte Socken, sammelte usf. Sie wollte damit in Stalingrad siegen”.20 Im zweiten Teil zieht Kluge auf der einen Seite eine explizite Parallele zwischen dem Schicksal des Kommandanten der 6. Armee, Paulus, und dem von Hanns-Martin Schleyer: Beide seien von ihren Vorgesetzten im Stich gelassen worden. Auf der anderen Seite vergleicht Kluge die Fehler des Feldmarschalls von Manstein in Stalingrad mit den strategischen Fehlern der Terroristen, die Horst Mahler im Tegeler Altgefängnis einräumt (wer den Film Deutschland im Herbst noch im Gedächtnis hat, der wird sich an Mahlers Interview erinnern). In beiden Fällen haben viele Menschen ihr Leben verloren. Der dritte und letzte Teil besteht aus einem einzigen fett gedruckten Satz, einem Aphorismus von Karl Kraus (der übrigens auch in der Patriotin aus dem Jahre 1979 zu lesen ist. Kluges permanente interne Intertextualität wäre ein Thema für sich): “Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner sieht es zurück”; dem folgt, kursiv geschrieben, ein einziges Wort: Deutschland.21 Diese drei kurzen Teile werden, wie gesagt, von Kluge unter dem Stichwort “Stalingrad als Nachricht” rubriziert. Hier spielt Kluge noch einmal mit der Doppelbedeutung Nachricht, wie er es schon am Anfang getan hatte: Nachricht als Information aber auch als Kriegsmodell im Sinne von Clausewitz. Er scheint behaupten zu wollen, dass gerade jene explosive Mischung aus Nicht-Information und dem Fehlen eines Konzeptes in der heutigen Welt noch am Werke ist; gerade weil die Schlacht um Stalingrad damals keine Nachricht (im Sinne von Information) war, ist sie heute eine Nachricht geworden (im Sinne von Modell); sicherlich ein negatives Modell, von dem sich Deutschland 30 Jahre später immer noch nicht befreit hat. Kluge schafft sogar ein explizites link zwischen der Desinformation über Stalingrad, der daraus resultierenden Nicht-Verarbeitung jener Ereignisse und dem Terro19
Dies ist bekanntlich auch der Titel eines kollektiven Films aus dem Jahre 1978, den Kluge, Fassbinder, Schlöndorff, Reitz und andere als Kommentar zur Entführung, Ermordung und Beerdigung von Hanns-Martin Schleyer sowie zum ‘angeblichen’ Selbstmord der RAF-Terroristen in Stammheim gedreht haben. 20 Kluge: Schlachtbeschreibung (Anm. 12). S. 738. 21 Ebd. S. 740.
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rismus, der das Deutschland der 70er Jahre erschüttert hat: Gerade weil man im Hause Ensslin in den Monaten, als die 6. Armee kämpfte und zu Grunde ging, Socken gestrickt und Pelzstücke zusammengenäht hatte, aber nichts Näheres über den Krieg wusste, konnte sich 25 Jahre später die Tochter und Enkelin des Hauses in ein so desperates und im Endeffekt konzeptloses Unterfangen wie das des Terrorismus manövrieren. Inwieweit dieses link funktioniert, darf man wohl fragen; was man sicherlich nicht bestreiten kann, ist die Tatsache, dass das erzählerische und ideologische Modell der Schlachtbeschreibung für Kluge der ein für allemal gültige Ansatz ist – fragmentierte Erzählweise, Hinweis auf mediales Versagen oder Entstellungen, Demaskierung eines vermeintlichen Zivilisationskriegs als Eroberungskrieg. Es ist demnach nicht übertrieben, wenn ich behaupte, dass alle vergangenen und künftigen, alle wirklichen oder virtuellen Kriege, mit denen Kluge sich, wenn auch kurz, befasst, ungefähr das gleiche Schema vorweisen und die “Nachricht / Nicht-Nachricht” Stalingrad wiederaufgreifen. Sehen wir uns ein paar Beispiele an. III. Verstümmelte Nachrichten 1973 veröffentlicht Kluge Lernprozesse mit tödlichem Ausgang, das erste “literarische” Werk nach acht Jahren Pause, in denen er sich dem Film und der Abfassung seiner ersten theoretischen Abhandlung Öffentlichkeit und Erfahrung (zusammen mit Oskar Negt) zugewandt hat. Innerhalb dieser sehr umfangreichen und komplexen Ansammlung von Texten hat mindestens einer mit meinem Thema zu tun, und dieser beweist auf eine fast schulmäßige Art, wie Kluge sich darauf beschränkt, das Modell der Schlachtbeschreibung zu variieren. Der Text befindet sich im dritten Teil des Bandes und heißt Projekt Groß-Weißafrika.22 Es handelt sich hierbei um die Erzählung einer fiktiven militärischen Operation, obwohl bei Kluge kaum auszumachen ist, inwieweit man es mit Fiktion oder mit authentischem Material zu tun hat.23 Soeben ist die Attacke fehlgeschlagen: Eine Koalition von westlichen Alliierten sollte – nach dem Vorbild von “Conrad von Hötzendorfs genialem Vormarsch mit der gesamten österreichischen-ungarischen Streitkraft strahlenförmig über Lemberg nach Südpolen, August 1914” – einen 22
Alexander Kluge: Projekt: Groß-Weißafrika [1973]. In ders.: Chronik der Gefühle (Anm. 12). Bd. II. S. 591-617. 23 Kluge definiert seine Methode als “naiven Umgang mit Dokumentation”, der eine “einzigartige Gelegenheit, Märchen zu erzählen” darstelle. Vgl. Alexander Kluge: Gelegenheitsarbeit einer Sklavin. Zur realistischen Methode. Frankfurt/M. 1975. S. 202-203. Siehe auch Gottfried Just: Von der Literatur zum Film. Alexander Kluge. In ders.: Reflexionen. Zur deutschen Literatur der Sechziger Jahre. Pfullingen 1972. S. 56 ist von “Fiktion in der Ausdrucksform des Dokumentarischen” die Rede.
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Großteil der afrikanischen Staaten angreifen.24 Dies unter der Führung des portugiesischen Generals de Spínola, einer real existierenden bzw. existiert habenden Figur, der, obwohl Kommandierender der portugiesischen Streitkräfte in Angola, doch einer der ersten Befürworter eines Rückzuges der Portugiesen aus den afrikanischen Kolonien war und deswegen entmachtet wurde. Die Erzählung fängt in dem Moment an, als das Projekt bereits fehlgeschlagen ist. Die Alliierten haben sich auf der Insel “Inaccessible” zurückgezogen. Hier interviewt ein Journalist der Times den General de Spínola, den “Cheftheoretiker dieser gescheiterten Allianz”, in der vergeblichen Hoffnung, einige Informationen über Zweck, Organisation und Ausführung des Projekts von ihm zu erhalten. Er erfährt aber sehr wenig aufgrund des Militärgeheimnisses. Was bei diesem fiktiven Interview herauskommt – Kluge bedient sich in seinen Texten, Filmen und Fernsehmagazinen sehr oft einer entfremdeten Spielart der “Gattung” Interview 25 – ist die Charakterzeichnung eines Kriegsprofessionellen, eines skrupellosen Kriegstechnokraten: TIMES: Was hätten Sie denn mit der Bevölkerung gemacht? DE SPÍNOLA: Wir
hätten die Gebiete in Bezirke eingeteilt, die Verbindungen zwischen diesen Bezirken abgeblockt und dann Stück für Stück befriedet. TIMES: Dann hätten Sie die Bevölkerung praktisch beseitigen müssen? DE SPÍNOLA: Das sehen Sie alles etwas laienhaft. Es ist ja auch nicht meine Planung gewesen. Natürlich hätte es Verluste in der Bevölkerung gegeben. TIMES. Sie hätten sie praktisch ausrotten müssen. DE SPÍNOLA: Gegen diese Bezeichnung muß ich mich verwahren. Aber ist an sich diese Bevölkerung unersetzlich? Dieses schöne, riesige Land hätten wir notfalls auch mit importierten Arbeitskräften aus Portugal, Süditalien usf. erschließen können. Sehen Sie es doch einmal positiv, von der Erschließung des Landes her.26
Diesem langen Interview, das fast das ganze erste Kapitel umfasst, schließt sich einerseits die fragmentierte und tagebuchartige Rekonstruktion des Projekts an und andererseits, gewissermaßen als Kontrapunkt dazu, der ebenfalls fragmentierte und tagebuchartige Bericht, im vierten Kapitel, über eine Tagung in Spitzingsee: Die Nachricht von der Krise überrascht 62 Friedensforscher, Abrüstungsexperten, Steuerungstheoretiker, Geographen, Philosophen, Soziologen, Ethnographen usf., die in Spitzingsee eine internationale Konferenz abhalten. Tagungsthema:
24
Kluge: Projekt Groß-Weißafrika (Anm. 22). S. 594. Zur fernsehmäßigen Spielart der ‘Gattung’ Interview vgl. Matthias Uecker: AntiFernsehen? Alexander Kluges Fernsehproduktionen. Marburg 2000. S. 101-121. 26 Kluge: Projekt: Groß-Weißafrika (Anm. 22). S. 594. 25
321 “Science in Change: Krise der Lebensbedingungen in der technisch-wissenschaftlichen Welt als Herausforderung an die Wissenschaft.”27
Zum Wort “Nachricht”, wiederum das Wort “Nachricht”, schreibt Kluge eine lange Fußnote,28 in der er präzisiert, dass “die Nachrichten verstümmelt” und dass die Rundfunkstationen in Verlegenheit geraten sind, weil sie ins bereits brechendvolle “laufende Programm” “drittklassige Meldungen über die afrikanischen Ereignisse, meist Stellungnahmen von Regierungen und Dementis”, hineinstopfen müssen. Die Anmerkung schließt mit der Stellungnahme eines der hundert Experten, Spezialisten oder wie es im Text ausdrücklich heißt: “Begriffsimperialisten”, auf die man in Kluges Texten, in Kluges Filmen, in Kluges Magazinen permanent stößt. Physiker Deuerlein, der sich auf Nachrichtenmittel spezialisiert hat, ist zur Auffassung gelangt, dass auf hoher See vor dem afrikanischen Kontinent Schiffe unbekannter Nationalität einen elektronischen Stör-Schirm gelegt haben, der nachrichtenundurchlässig ist: Wenn sich Nationen nicht zu den von ihnen ausgeführten Kriegshandlungen bekennen, muß man sich das nicht so vorstellen, daß sie die Gesichter der Soldaten schwarz anmalen oder die Kennzeichen ihrer Fahrzeuge übertünchen, sondern sie verleugnen die nationale Zugehörigkeit ihrer Truppen durch Funküberwachung und Nachrichtenfälschung. Nichts was uns erreicht, ist wahr.29
Die Referenten der Tagung, die Kluge in ihrem Hochmut, Eigensinn, blinden Spezialistentum porträtiert, tappen ansonsten im Dunkeln, sie wissen nicht, anhand welcher Kategorien und Fachausdrücke die wenigen und wahrscheinlich falschen Nachrichten über die Afrikakrise zu interpretieren sind. Die Verlegenheit ist so groß, dass die älteren Teilnehmer, lauter intrigante Professoren, sich ihrerseits gezwungen sehen, paradoxerweise eine Nachrichtensperre zu erlassen gegenüber Frau Jeremias, einer Journalistin, die beauftragt wurde, über die Ergebnisse der Mega-Tagung zu referieren (die Fassungslosigkeit der Referenten, das völlige Versagen der Tagung soll um Gottes willen nicht öffentlich werden). Andererseits müssen auch jüngere Teilnehmer, die zu einer freieren, entspannteren Diskussion einladen, zum Schweigen gebracht werden, und zwar mit einem autoritären Ton, der dem von de Spínola nicht unähnlich ist: “Sie können doch nicht verlangen, daß wir die Wissenschaft, nur weil sie nach Ansicht einer kleinen Minderheit hier versagt – ich möchte mich gegen eine solche scharfe Formulierung durchaus verwahren –, jetzt heute nacht umkrempeln”.30 Wortschatz und 27
Ebd. S. 600. Ebd. 29 Ebd. 30 Ebd. S. 605. 28
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Praxis der Wissenschaft sind nicht so grundsätzlich anders als die der militärischen Kaste, scheint Kluge behaupten zu wollen. Der “organisatorische Aufbau eines Unglücks”, wie Kluge Stalingrad nennt, war übrigens in seinen Augen auch das tragische Ende der Geschichte der preußischen Militärtheorie: das Präzipitat von Imperialismus und theoretisierendem Wahn. IV. Moral bombing Weniger ergiebig für unser Thema ist der zweite der Kriegstexte, die in Lernprozesse mit tödlichem Ausgang enthalten sind, und zwar der titelgebende.31 Obwohl Kluge formal ähnlich wie bei der Schlachtbeschreibung verfährt, werden hier die Kriegsereignisse vor einem breiteren Horizont betrachtet: Der medialen Reflexion wird die historiographische vorgezogen.32 Es handelt sich diesmal um einen Krieg der Zukunft, den sogenannten “schwarzen Krieg” – zugleich Kluges größter narrativer Beitrag zur Gattung Science-Fiction. Dass die vier 180 Jahre alten und mit etlichen Ersatzteilen versehenen Überlebenden aus Stalingrad, denen Kluge die Erzählung und die fragmentarische Rekonstruktion der Jahre bis 2103 anvertraut, genauso wie deren Schöpfer vorgehen, sagt uns, dass Kluges modus operandi, auch seine Erzähltechnik mehr oder weniger gleich bleiben. Lernprozesse mit tödlichem Ausgang zeugt zwar von Kluges frühem Interesse für das Virtuelle, der Text weicht aber erheblich von unserem Thema ab, was die medientheoretische Reflexion anbelangt. Da es weder meine Aufgabe noch meine Absicht ist, alle Texte Kluges zu behandeln, in denen es um einen Krieg geht, möchte ich mich, bevor ich zu Kluges aktuellen Äußerungen übergehe, noch kurz mit einem Text befassen, der in den Neuen Geschichten aus dem Jahre 1977 enthalten ist und der Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945 heißt.33 Wieder ist der Text, wie fast immer bei Kluge, collageartig gebaut. Zwei der vielen Stücke sind für unser Thema besonders aufschlussreich, ein drittes, wahrscheinlich fiktives Interview eines Halberstädter Reporters mit dem Brigadier Frederick L. Anderson ist in Kluges Fiktion auf das 1952 datiert und gehört demnach stricto sensu der historiographischen Rekonstruktion an. Die erste der zwei Stellen, die hingegen unmittelbar zu unse31
Alexander Kluge: Lernprozesse mit tödlichem Ausgang. In ders.: Chronik der Gefühle (Anm. 12). Bd. II. S. 827-920. 32 Das Gleiche ist in der Patriotin aus dem Jahre 1979 geschehen. 33 In dem umstrittenen Pamphlet über Luftkrieg und Literatur schenkte W. G. Sebald diesem Klugeschen Text als einer der wenigen Ausnahmen zu der vermeintlichen literarischen Nicht-Verarbeitung der Zerstörung Deutschlands eine besondere Aufmerksamkeit. Vgl. W. G. Sebald: Luftkrieg und Literatur. München 1999. S. 72-80.
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rem Thema gehören, ist wiederum ein fiktives Interview, das aber sozusagen an Ort und Stelle und in Echtzeit stattfindet. Der schweizerische Korrespondent der NZZ, Wilfried Keller, interviewt in einer Maschine namens “The Joker” den Brigadegeneral Robert W. Williams, der den Auftrag hat, den Luftangriff stabsmäßig zu beobachten. Im Laufe dieses Interviews drückt er Ziele und Grenzen des sogenannten moral bombing aus. Sobald der Journalist diese Formulierung hört, fragt er: “Bombardieren Sie aus Moral oder bombardieren Sie die Moral?” Worauf Williams antwortet: “Wir bombardieren die Moral. Der Widerstandsgeist muß aus der gegebenen Bevölkerung durch Zerstörung der Stadt entfernt werden”.34 Obwohl er den eher geringen Erfolg dieser Strategie zugibt, akzeptiert Williams als eine Art Fatum die Unabwendbarkeit solcher Angriffe. Der Krieg hat ein starkes Eigengesetz entwickelt, wogegen man nichts mehr unternehmen kann. Noch einmal will Kluge betonen, wie hoch der Preis sein kann, wenn Theorie und Praxis auseinander klaffen. In Anbetracht dieser fatalistischen Feststellung wirkt der Journalist nicht besonders bestürzt, er suggeriert dem über das Sinnlose der ganzen Operation eher verlegenen General sogar eine weitere mögliche Rechtfertigung: “Ein solcher Angriff, stelle ich mir vor […], hat ja mindestens den Wert einer ‘Erscheinung’. Der ‘Geist spricht aus dem brennenden Busch’, würde ich mal sagen.” Der General verwirft jedoch mit fester Überzeugung diese Lesart des zynischen Interviewers.35 Die zweite Stelle – eine Art ironischer Nachtrag zur Pressemäßigen Behandlung aus der Schlachtbeschreibung – heißt Der unbekannte Fotograf und erzählt in ganz wenigen Zeilen, die von insgesamt sechs Bildern unterbrochen werden, von der Festnahme, von dem Verhör und schließlich von der Flucht eines Fotografen, der von einer Militärstreife in der Nähe eines Sperrbereiches beim Fotografieren des Luftangriffs und der zu Trümmern zerstörten Stadt ertappt wird: “Der Streifenführer macht ihn sogleich darauf aufmerksam, daß dies den Tatbestand des Eindringens in den militärischen Sperrbereich der Höhlen beinhalte.”36 Deswegen muss er wahrscheinlich standrechtlich erschossen werden. Die Dokumentation des Berufsfotografen, der “seine Heimatstadt in ihrem Unglück” beschreiben will,37 hält man für einen Spionageakt. Der militärisch-bürokratische Apparat wird von Kluge in seiner ganzen Gewissenhaftigkeit und Gründlichkeit porträtiert, die es dem Fotografen paradoxerweise ermöglicht zu fliehen und dennoch, durch die dem Bericht die beigelegten Bilder, das Halberstädter Unglück zu dokumentieren – ein kleiner Ersatz für die Tageszeitung, die nicht erscheinen kann, 34
Alexander Kluge: Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945 [1977]. In ders.: Chronik der Gefühle (Anm. 12). Bd. II. S. 27-82, hier S. 65. 35 Ebd. S. 66. 36 Ebd. S. 33. 37 Ebd. S. 30.
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weil Journalisten und Schriftsetzer es vorziehen, beim Feuerlöschen zu helfen, wie es im Abschnitt In der Schriftleitung heißt.38 Nach den Neuen Geschichten im Jahre 1977 veröffentlicht Kluge keinen Text mehr, der mit aller bei Kluge gebotenen Vorsicht als erzählerisch einzuordnen wäre; dies gilt bis ins Jahr 2000, in dem die Chronik der Gefühle erscheint. Es sind dies zwei Bände und insgesamt 2000 Seiten, von denen ungefähr 1300 alte Texte und 700 neue enthalten. Die 700 neuen, in sechs Kapitel unterteilten Seiten sind allesamt in dem ersten Band abgedruckt, der außerdem auch die Schlachtbeschreibung enthält, während die übrigen alten Texte, wenn auch teilweise anders geordnet, alle im zweiten Band untergebracht sind. Warum verteilt Kluge seine Materialien so? Nach dem, was wir bis jetzt gesehen haben, scheint mir folgende Hypothese die sinnvollste: Kluge hält das erzählerische und ideologische Modell der Schlachtbeschreibung nach wie vor für das gültige. Für einen Autor, der sich ständig mit Kriegen befasst, mutet Kluge nämlich in den 700 neuen Seiten plötzlich extrem lakonisch an: Zu den Kriegen der letzten Jahre, zum Golfkrieg z. B., zum Krieg im ehemaligen Jugoslawien scheint er nicht viel zu sagen zu haben. Es ist so, als würde Kluge durch die Einschiebung der Schlachtbeschreibung genau in die Mitte der neuen Erzählblöcke zu verstehen geben wollen, der Text könne ohne weiteres mit den allerneuesten Arbeiten zusammen “wohnen”; er habe nichts an Aktualität eingebüßt, er könne heute geschrieben worden sein und sage wesentlich mehr als ein aktueller Kommentar zu den Kriegen der letzten Jahre. Einen weiteren, vielleicht sogar schwerwiegenderen Grund könnte man anführen, welcher die Einschiebung der Schlachtbeschreibung mitten in die neuen Erzählblöcke erklären würde. Ich beziehe mich auf eine Behauptung Kluges vor dem zweiten der sechs neuen Teile, den er Verfallerscheinungen der Macht betitelt: “Reiche zerfallen durch Implosion, d. h. sie zerfallen im Inneren der Menschen. Im 20. Jahrhundert konnte man in einem Lebenslauf drei solcher Stürze miterleben. Die folgenden 47 Geschichten reichen von heute bis zu Gilgamesch: Verfallserscheinungen der Macht”.39 Viele Stücke dieses zweiten Teils der Chronik der Gefühle befassen sich mit Episoden und Figuren, die im ehemaligen Ostblock und in den neuen Bundesländern angesiedelt sind. Sie reflektieren Formen und Varianten eines neuen westlichen Kolonialismus, eines als Zivilisationsakt maskierten ökonomischen und kulturellen Imperialismus. Dass Kluge als diachronische Ergänzung, gleichsam in Form einer Quellenforschung, die Schlachtbeschreibung daran anschließt, gehört zu einer überlegten Strategie. 38
Ebd. S. 41-42. Alexander Kluge: Verfallerscheinungen der Macht. In ders.: Chronik der Gefühle (Anm. 12). Bd. I. S. 147-306, hier S. 149.
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Möchte man etwas Direktes, wenn auch Beiläufiges von Kluge über die Kriege der 90er Jahre lesen, dann bieten sich die einführenden Worte zu seinem im Jahre 1991 veröffentlichten langen Essay Maßverhältnisse des Politischen an. Es sind sicherlich Sätze, die Kluge kurz vor dem Erscheinen des Buchs geschrieben hat und die von keiner besonderen Originalität zeugen: Die Golfkrise war buchstäblich eine Herausforderung für das Augenmaß: CNNBilder, Kriegszensur (Ersatzbilder), verdrehte historische Situation, Wirklichkeitsentzug, gleichgültig, ob man integriert in den Militärapparat im Nahen Osten war oder vor dem Fernseher zu Hause teilnahm; alle diese bekannten Einzelfaktoren stifteten eine Gemengelage, die das praktische Urteil verwirren musste. Niemand kann unter solchen Bedingungen sein Unterscheidungsvermögen intakt erhalten.40
V. Metanoia? Ich möchte mit einigen kurzen Ausführungen zu Kluges Stellungnahmen im Hinblick auf die Ereignisse des 11. September schließen, und zwar fast ausschließlich mit Zitaten. Es handelt sich hierbei um drei Interviews, diesmal anscheinend keine fiktiven: das erste im Standard vom 14. September, das zweite im Tagespiegel vom 15. September und das dritte in der Süddeutschen Zeitung vom 15. Oktober 2001. Hinzu kommen noch einige Stellen aus der Preisrede anlässlich der Verleihung des Schillerpreises an Kluge, die in der Stuttgarter Zeitung vom 13. November abgedruckt wurden. Der erste interessante Punkt ist, dass der Kriegsforscher, der Kriegsexperte, der Menetekel-Entsender und überhaupt: der scharfe Analytiker der Jetztzeit, Kluge, sofort einräumt, von den Ereignissen am 11. September vollkommen überrascht worden zu sein und noch nicht die passenden Kategorien gefunden zu haben, sie zu definieren. “[W]ir sind auf dem falschen Fuß, ganz unvorbereitet, von den Ereignissen in diesem September überrascht worden, für die uns noch die Deutung fehlt”,41 sagt er in der Preisrede. Nur durch dieses Unwissen, durch diese eingestandene Unzulänglichkeit kann man – so meine ich – Kluges uneingeschränkte Anerkennung der Medien verstehen. Der langjährige Erforscher aller möglichen Verzerrungen der Medien stimmt in den Interviews mehrmalige Loblieder auf CNN an: Es hat mich übrigens sehr bewegt, wie taktvoll CNN mit teilweise propagandistisch hochgradig aufladbarem Material umgegangen ist. In Deutschland wurden ja etwa diese Bilder jubelnder Palästinenser, wo man nicht wusste: Sind das 40
Oskar Negt / Alexander Kluge: Maßverhältnisse des Politischen. 15 Vorschläge zum Unterscheidungsvermögen. Frankfurt/M. 1992. S. 10. 41 Abgedruckt in: Stuttgarter Zeitung vom 13. 11. 2001. Vgl. auch: http://www.kluge -alexander.de/presse_preis_und_preistraeger.shtml.
326 10.000, sind das 1000 oder 100 Menschen oder ist das ein Massenphänomen? – diese Bilder also, die keine Nachricht enthalten, weil sie nebulos sind, wurden immer wieder gezeigt [...]. Auf CNN war man zurückhaltender und fragte mehr nach individuellen Erfahrungen der Betroffenen in New York. Dieser Arzt zum Beispiel, der da über ein Auto erzählt, das ihm Schutz war, und er wirkt wie ein Opfer aus dem alten Pompeji – das kommt dem Bedürfnis der Menschen nach fassbaren, tröstenden Erklärungen entgegen. Auch die fortwährende Wiederholung, die Zerdehnung der Zeit – dass man das alles immer wieder sieht –, das hat etwas Tröstliches.42
Und weiter: Ich glaube, dass unsere Gefühle langsam sind, ich meine im positiven Sinn langsam, deshalb brauchen wir die Wiederholung. CNN hat das meisterhaft gemacht mit diesem Bericht, der die Staubbildung gezeigt hat, wie sich diese riesige Staubwolke durch die Häuserschluchten geschoben hat – wie der Ausbruch des Vesuvs, wie die Lava, die über Pompeji einbricht. Nachdem man das fünf oder sechs Mal gesehen hat, glaubt man, man hätte selbst an einem Fenster in Manhattan gestanden.43
Und auf die Frage des Interviewers, ob er nicht glaube, dass durch die ständigen Wiederholungen der Bilder aus New York die Nachrichtenindustrie an einem “terroristischen Dauerbeschuss”44 teilnehme, antwortet Kluge, dass diese zunächst einmal als Filter agiert und eine Hilfe für die Vorstellungskraft des Menschen darstellt, welche “Zeit braucht, um ein solches Entsetzen als echt zu realisieren”. Und dies – so fragt der Interviewer weiter – überwiegt gegenüber dem Effekt eines Mitspielens der Medien? Worauf Kluge entgegnet: “Jede Öffentlichkeit funktioniert so. Aber auf Öffentlichkeit kann man nicht verzichten, weil sie Menschen verbindet – und damit verbindet sie natürlich auch die falschen und gefährlichen Nachrichten. Der Gegenpol dazu wäre Zensur. Und die wäre sicher unheimlicher”.45 Dies behauptet derselbe Autor, der klar erkennt, dass gerade Attentate (und das gilt bereits seit Sarajewo 1914) nichts anderes sind als “Ins-BildSetzungen”. “Nehmen Sie das Bild von Hanns-Martin Schleyer, das uns 1977 erschüttert hat. Die Aufnahmen aus Mogadischu. Dies sind öffentliche Bilder, und genau so ein öffentliches, terroristisches Bild wird jetzt hergestellt: Im Gegensatz zum Bilderverbot von Kriegsführenden.”46 Trotz der 42
Unsere Vorstellungskraft braucht Zeit. Ein Gespräch mit dem deutschen Autor Alexander Kluge über Terrorbilder aus den USA. In: Der Standard vom 14. 9. 2001. Auch: http://www.kluge-alexander.de/interv_vorstellungskraft_braucht_zeit.shtml. 43 Wie eine Reise nach Nazareth. Alexander Kluge im Interview. In: Der Tagesspiegel vom 15. 9. 2001. Vgl. auch: http://www.kluge-alexander.de/interv_reise_nach_ nazareth.shtml. 44 Kluge: Unsere Vorstellungskraft braucht Zeit (Anm. 42). 45 Ebd. 46 Ebd.
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nach Kluges Auffassung kostbaren Arbeit der Medien bleibt der gewaltige Unterschied zwischen einem live erlebten Krieg – das Beispiel ist noch einmal der Luftangriff in Halberstadt – und den Bildern von Manhattan unüberbrückbar: Im Krieg haben Sie eine abgeschlossene Erfahrung. Sie sind vertraut mit dem Krieg. In Manhattan und am Fernseher trifft es Sie ungeschützt, weil Sie nicht vorgehärtet sind. Die Bilder treffen auf Sie: Menschen schauen aus dem Fenster, unter ihnen quillt der Rauch, sie wissen, dass sie nicht davonkommen werden. In unserer Vorstellung fehlt noch das Gefühl dafür, dass diese Türme zusammensacken. Selbst als sie schon brennen, stehen sie noch ordentlich da. Man denkt, das ist ja Spielzeug und fühlt sich an Spielfilme erinnert. Aber das ist eine irrige Wahrnehmung. Das Materialreiche, das Zermalmende von Hochbauten ist sinnlich anschaulich geworden. Hochbauten gab es weder in Coventry noch in Hamburg oder Dresden oder in Halberstadt. Beim Krieg ist es ganz anders, da erleben wir eine Abhärtung der Außenhaut des Bewusstseins. Das ist ja üblich, hieß es selbst bei den schlimmsten Luftangriffen, und jeder lauert nur, dass wir’s den anderen heimzahlen. Diese Entrealisierung ist der Unterschied zum Bombenkrieg 1945. Wirklichkeitsentzug ist eine Terrorwaffe.47
Hier bedient sich Kluge mit Bezug auf den Terrorismus des gleichen Begriffs “Wirklichkeitsentzug”, den er schon im Vorwort von Maßverhältnisse des Politischen, damals aber auf den entweder medial oder direkt erlebten Golfkrieg bezogen hatte. Um gegen diesen Wirklichkeitsentzug vorzugehen, meint Kluge, müsste man anfangen, “mit dem Kopf des Gegners” (hier der Attentäter) zu denken, sich in der sogenannten “Metanoia” zu üben: Metanoia heißt wörtlich Umkehr oder Nachdenken. In diesen Gewässern der Partikularisierung und des globalisierten Terrors reicht unsere Erfahrung nicht aus, um seetüchtig zu bleiben. Die Schrift an der Wand lese ich nicht nur bei den Twin Towers, sondern schon in Tschernobyl. In Tschernobyl waren Feuerwehrleute die Helden, und in Manhattan waren sie es wieder. Statt des ABCs sollte man in der Schule das Löschen unterrichten. Das wäre Metanoia.48
Sollte man etwa gerade jene Schriftsetzer und Journalisten von Halberstadt, die es direkt nach dem Luftangriff vorgezogen hatten, beim Feuerlöschen zu helfen, anstatt die Lokalzeitung zu drucken, als Pioniere der Klugeschen Metanoia betrachten?
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Die Menschen sind noch nicht vorgehärtet. Alexander Kluge über die Katastrophe vom 11. September und die Wahrnehmung von Terrorismus und Krieg. In: Süddeutsche Zeitung vom 12. 10. 2001. Vgl. auch: http://www.kluge-alexander.de/interv_ menschen_nicht_vorgehaertet.shtml. 48 Ebd.
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Jürgen Kost
Mediale Inszenierung als Paradigma der entfremdeten Moderne: Friedrich Dürrenmatts Der Auftrag oder Vom Beobachten des Beobachters der Beobachter Was er Wirklichkeit nenne, sei inszeniert, sagte sie. (Dürrenmatt: Der Auftrag) In his novel, Der Auftrag, Friedrich Dürrenmatt turns Werner Heisenberg’s idea, that reality cannot be observed without changing reality by observing it, from a nuclear-physical theory into a social one: human behaviour depends on the knowledge of being or not being observed. A lot of acts just happen because people know they are being watched or because they want to be watched. This concept has an existential aspect: individuals can never get in touch with an ‘authentic’ reality. But there is also a political aspect, or better: it includes a theory of mass media. In Dürrenmatt’s novel, the reporter F. observes a war, which is staged in an anonymous middle-east-state to be observed and to hide the political reality. That offers a new perspective on war-journalism: There is no ‘reality itself ’, which can be reflected ‘truly’ or ‘falsely’ by mass media (which is the common argumentation of criticism of war-journalists’ ‘propaganda’). According to Dürrenmatt’s theory, the mass media create a reality which would never exist without them.
Der so genannte Zweite Golfkrieg – der Krieg der USA und ihrer Alliierten gegen den Irak Saddam Husseins, dessen Truppen Kuwait besetzt hatten – hat der Medienberichterstattung über das internationale Kriegsgeschehen eine neue Qualität verliehen. Publizistische wie wissenschaftliche Beobachter waren und sind sich darüber einig, dass insbesondere die USA – gewarnt durch die Erfahrungen des Vietnamkriegs, in dem die freie Berichterstattung ein wesentlicher Faktor für das Entstehen der amerikanischen Protestbewegung war – eine Kriegsinszenierung präsentierten, wie sie zuvor nicht bekannt war. Indem man die Journalisten intensiv ‘betreute’, den Fernsehanstalten gezielt Filmmaterial zur Verfügung stellte und gleichzeitig die Berichterstattung einer Militärzensur unterwarf, gelang es der US-Regierung, der Weltöffentlichkeit ein Bild des Kriegsverlaufs zu präsentieren, das voll und ganz ihren Wünschen entsprach. Mehr denn je wurde Propaganda – denn um solche handelte es sich natürlich – zu einem kriegsentscheidenden Faktor. Der Krieg, der am Golf nur sein geographisches Zentrum hat, ist historisch der erste Krieg, in dem die elektronischen Kommunikationswaffen die mechanischchemischen Instrumente der Zerstörung dominieren. Dies kommt nicht nur darin zum Ausdruck, daß mittlerweile (auch wirtschaftlich) der größere Aufwand bei
330 den Waffensystemen bei den kommunikationselektronischen Anteilen liegt. Dies drückt sich vor allem auch darin aus, daß die Beherrschung des sichtbaren Raumes und die größere Maschinengeschwindigkeit, also die telekommunikative Hegemonie, letztendlich kriegsentscheidend werden dürften,1
konnte Siegfried Zielinski schon 1991 schreiben. Bald setzte die Kritik sowohl an der Informationspolitik der US-Regierung als auch an der Willfährigkeit der Medien ein. “Ausmaß und Art der Berichterstattung über den Golfkrieg” hätten, so Michael Schmolke, “bei beobachtenden Experten und auch bei Teilen der Bevölkerung Überraschung, Kritik und ein Gefühl des Angewidert-Seins, aber auch der Enttäuschung ausgelöst”.2 “Immerhin entfachte dieser angeblich ‘neue Journalismus’ von CNN ebenso wie das Versagen der Presse, die sich offenbar widerspruchslos zensieren ließ, später in den USA doch eine breite Debatte über das Selbstverständnis des Journalismus unter den Bedingungen der Satellitentechnik”,3 wie Siegfried Weischenberg schreibt. Die Frage ist nun aber: Wie wurde diese Debatte geführt? Welches waren die Paradigmen, nach denen die Problematik strukturiert, unter denen das Problem wahrgenommen und diskutiert wurde? Eine Diskussion über Kriegspropaganda, Militärzensur und unkritische Willfährigkeit der Medien gegenüber dieser Propaganda ist notwendig auch eine Diskussion über das Verhältnis der Massenmedien zu der dargestellten Wirklichkeit. Symptomatisch zumindest für die Diskussion im deutschen Sprachraum ist das Buch Kriegstrommeln. Medien, Krieg und Politik der Münchner Journalistin Mira Beham. Beham sieht die Politik der USA von Anfang an – schon lange vor dem eigentlichen Ausbruch des Krieges, lange auch vor dem Einmarsch des Irak in Kuwait – auf das Ziel gerichtet, “das Drehbuch eines vorbildlich inszenierten Krieges”4 zu schreiben. Der eigentliche Grund für den Golfkrieg war für Beham der Wunsch der USA, “ihr lange verfolgtes Ziel, sich den Zugriff auf die lebenswichtigen Ölvorkommen der Nahost-
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Siegfried Zielinski: Medien/Krieg. Ein kybernetischer Kurzschluss. In: Medien im Krieg. Die zugespitzte Normalität. Hg. von der österreichischen Gesellschaft für Kommunikationsfragen. Salzburg 1991. S. 12-20, hier S. 16. 2 Michael Schmolke: ... dass die ganze Welt zuhört. Kriegsberichterstattung zwischen Prohibition und Exhibition. In: Medien im Krieg. Die zugespitzte Normalität. Hg. von der österreichischen Gesellschaft für Kommunikationsfragen. Salzburg 1991. S. 35-42, hier S. 35. 3 Siegfried Weischenberg: Legitimation als Gegengeschäft. Warum CNN zum Symbol journalistischer Dummheit geworden ist. In: Medien und Krieg – Krieg in den Medien. Hg. von Kurt Imhof und Peter Schulz. Zürich 1995. S. 163-168, hier S. 165. 4 Mira Beham: Kriegstrommeln. Medien, Krieg und Politik. Mit einem Vorwort von Peter Glotz. München 1996. S. 101.
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Region zu sichern, in die Tat umsetzen zu können.”5 Saddams Überfall auf Kuwait erscheint aus dieser Perspektive durch falsche Signale der USA provoziert, die sich auf diese Weise die Legitimation für eine Militärintervention zu verschaffen hofften.6 Schon der Versuch, das Scheichtum Kuwait, das – ähnlich wie der Irak – “unzweifelhafte Image-Probleme in den 7 USA” gehabt habe, zum unschuldigen Opfer des irakischen Diktators zu stilisieren, dem gegen das Böse Hilfe zu leisten, moralische Pflicht der internationalen Staatengemeinschaft sei – schon dieser Versuch sei die erste große Herausforderung für die US-Propaganda gewesen.8 Nachdem der “US-Propagandakrieg zur Mobilisierung der Weltöffentlichkeit [...] erfolgreich absolviert worden” war,9 habe die US-Propaganda – durch die bereits erwähnte Bildung eines Journalisten-Pools, durch Militärzensur, durch scheinbar bereitwillig zur Verfügung gestelltes Bildmaterial – der Weltöffentlichkeit einen “gefilterten Krieg” präsentiert, das Bild des Krieges, das genau den Anforderungen und Interessen der US-Administration entsprach.10 Die internationalen Medien sahen keine Möglichkeit, gegen diese flächendeckende Public Relations-Strategie eine Berichterstattung durchzusetzen, die ein authentisches Bild des Krieges geliefert hätte: “Die Medien erkannten zwar, daß sie Teil einer Lügenstrategie geworden waren, hatten diesem Umstand jedoch außer einer vorübergehenden Empörung nichts entgegenzusetzen.”11 Beham geht also offensichtlich aus von einer Wirklichkeit, einer ‘wirklichen’ Wirklichkeit, die hinter der sichtbaren Wirklichkeit existiert und grundsätzlich durch journalistische Arbeit erkennbar gemacht werden kann. Diese ‘wirkliche’ Wirklichkeit existiert ‘an sich’; sie existiert vor jeder Berichterstattung und unabhängig von jeder Berichterstattung. Propaganda erscheint aus dieser Sicht als der interessengeleitete Versuch, die Wirklichkeit so darzustellen, wie sie objektiv nicht ist, aber aus der Perspektive dieser Interessen gewünscht wird. Theoretisch wäre also der Vergleich zwischen der Berichterstattung und der an sich seienden Wirklichkeit möglich; man könnte dann entscheiden, ob die Wirklichkeit richtig oder falsch abgebildet wurde. Die richtige Wirklichkeit hinter den Fiktionen der Propaganda zu entdecken und darzustellen – das verlangte dann das publizistische Ethos.
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Ebd. S. 102. Vgl. ebd. S. 104f. 7 Ebd. S. 106. 8 Vgl. ebd. S. 106f. 9 Ebd. S. 110. 10 Vgl. ebd. S. 110f. 11 Ebd. S. 117. 6
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Ein solches Modell des Verhältnisses von Realität und Nachrichtenauswahl – die Realität existiert primär, der Journalist spiegelt sie wider und er kann sie nachprüfbar falsch oder richtig widerspiegeln – bezeichnet der Publizistikwissenschaftler Hans Mathias Kepplinger als “Selektionsmodell”.12 Nach diesem Modell wird das Geschehen als vorgegebene Wirklichkeit und die Berichterstattung als ihre Widerspiegelung betrachtet. Sie erscheint als Folge von Selektionsentscheidungen, in denen die Eigenschaften der aktuellen Ereignisse sowie die Selektionskriterien der Journalisten unabhängige Variablen sind und die Publikationsentscheidung die abhängige Variable.13
Und auch wenn eine solche Vorstellung über das Verhältnis von Realität und massenmedialer Berichterstattung dem Selbstbild der meisten Journalisten entspricht,14 hält Kepplinger es für untauglich – “weil ein solches Modell voraussetzt, daß die Ursachen der Berichterstattung nicht zugleich ihre Folgen sind. Dies trifft jedoch auf die aktuelle Ereignislage offensichtlich nicht zu.”15 Trotz der Kritik des Publizistikwissenschaftlers – auf die unten noch einmal einzugehen sein wird – hält die Debatte über die Kriegsberichterstattung implizit an diesem Modell fest: Die Medien stünden im Golfkrieg “im Dienste der Politik des Verhüllens und Verschleierns und Verzerrens”:16 “künstliche Welten werden vorgegaukelt (simuliert), Wirklichkeiten verund entstellt (dissimuliert)”.17 “Im Afghanistan-Krieg sind Propaganda, gezielte Desinformation, Lügen, Verfälschungen, Vertuschungen, Manipulationen, Informationszurückhaltungen, Zensur, Pressionen gegen kritische Journalisten und unliebsame Medieneigner, staatliches Abhören der Telekommunikation [...] endgültig zum Normalfall geworden.”18 All diese Topoi ergeben nur dann einen Sinn, all diese Paradigmen, die die Debatte dominie12
Hans Mathias Kepplinger: Ereignismanagement. Wirklichkeit und Massenmedien. Zürich 1992. S. 47. 13 Hans Mathias Kepplinger: Der Ereignisbegriff in der Publizistikwissenschaft. In: Publizistik 46 (2001). H. 2. S. 115-139, hier S. 117. 14 Kepplinger: Ereignismanagement (Anm. 12). S. 47. 15 Hans Mathias Kepplinger: Die Demontage der Politik in der Informationsgesellschaft. München 1998. S. 175. 16 Georg Schmid: War Game. Historischer Vergleich über die Kriegsbilder und ihr Verschwinden. In: Medien im Krieg. Die zugespitzte Normalität. Hg. von der österreichischen Gesellschaft für Kommunikationsfragen. Salzburg 1991. S. 21-29, hier S. 26. 17 Ebd. S. 29. 18 Jörg Becker: Afghanistan: Der Krieg und die Medien. In: Medien zwischen Krieg und Frieden. Hg. von Ulrich Albrecht und Jörg Becker. Baden-Baden 2002. S. 139172, hier S. 145.
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ren, treffen nur dann den Sachverhalt, wenn man davon ausgeht, dass es eine Wirklichkeit ‘an sich’, unabhängig von der Berichterstattung gibt und dass die Berichterstattung über die Wirklichkeit durch interessegeleitete Propaganda verfälscht wird, aber eben auch richtig dargestellt werden könnte. Aus einer konstruktivistischen Perspektive etwa würde ein solcher Vorwurf keinen Sinn machen. Der Konstruktivismus geht davon aus, “daß kognitive Systeme nicht in der Lage sind, zwischen Bedingungen der Existenz von Realobjekten und Bedingungen ihrer Erkenntnis zu unterscheiden, weil sie keinen erkenntnisunabhängigen Zugang zu solchen Realobjekten haben”.19 Das bedeutet: Wir ‘haben’ die Wirklichkeit nur als unser Bild von ihr. Es gibt für uns keinen Zugang zu einer Wirklichkeit, die nicht unser Bild der Wirklichkeit wäre. Entsprechend können sich zwar verschiedene Beobachter verschiedene Bilder von der Wirklichkeit machen, ‘konstruieren’, der Vergleich eines solchen Bildes mit der Wirklichkeit ‘an sich’ ist aber prinzipiell unmöglich; Sinn macht lediglich ein Vergleich von verschiedenen Wirklichkeitsbildern untereinander. Entsprechend fragt der Konstruktivismus vor allem nach den Modi, nach denen die verschiedenen Bilder von Wirklichkeit konstruiert werden; Begriffe wie ‘Propaganda’, ‘Verzerrungen’, ‘Lügen’ zu verwenden, wird aus dieser Perspektive problematisch: “Dabei geht es nicht darum zu erkennen, wie die Massenmedien durch die Art und Weise ihrer Darstellung die Realität verzerren – solches wäre auch nur möglich, wenn wir einen besseren als den massenmedialen Zugang zur Realität der internationalen Politik vorweisen und eine unverzerrte Realität dagegenhalten könnten.”20 In der Diskussion über die Medienberichterstattung im Golfkrieg hat die konstruktivistische Perspektive eine eher untergeordnete Rolle gespielt.21 Der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt bietet in seiner Novelle Der Auftrag oder Vom Beobachten des Beobachters der Beobachter aus dem Jahr 1986 ein anderes, ein drittes Modell zum Verhältnis von Realität und Medienberichterstattung an. Der Auftrag erzählt die Geschichte der Journalistin F., die von dem Psychiater Otto von Lambert den Auftrag erhält, den Tod seiner Frau Tina aufzuklären, die aus dem häuslichen Eheleben nach Marokko geflohen und dort am Fuße der Al-Hakim-Ruine vergewaltigt und ermordet worden war. 19
Niklas Luhmann: Die Realität der Massenmedien. 2., erw. Aufl. Opladen 1996. S. 17. 20 Christoph Weller: Friedensforschung zwischen Massenmedien und Krieg – Von der Manipulationsforschung zur konstruktivistischen Friedenstheorie. In: Medien zwischen Krieg und Frieden. Hg. von Ulrich Albrecht und Jörg Becker. BadenBaden 2002. S. 27-44, hier S. 33. 21 Zu den eher seltenen Ausnahmen gehört in jüngster Zeit Weller: Friedensforschung (Anm. 20).
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F. nimmt den Auftrag an. Im Laufe ihrer Ermittlungen stellt sich heraus, dass die Ermordete gar nicht Tina von Lambert war, sondern die dänische Journalistin Jytte Sörensen, die mit Tina die Kleidung getauscht hatte, um unerkannt recherchieren zu können. Als Täter kann F. den wahnsinnig gewordenen Vietnam-Veteranen Achill dingfest machen, der gemeinsam mit den Fotografen Polyphem das Verbrechen begangen hat. Im ‘Showdown’ des Buches droht F. selbst den beiden Verbrechern zum Opfer zu fallen, bevor sie im letzten Moment durch Regierungstruppen gerettet wird. So kommt es zu dem für Dürrenmatt unüblichen, aber gattungstypischen Happy End – es handelt sich, wie deutlich geworden sein dürfte, um eine Variante des Kriminalromans bzw. des Polit-Thrillers. Dass Dürrenmatts späte Kriminalnovelle durchaus politische Relevanz für sich beansprucht, haben Kritik und Forschung früh erkannt. In welche Richtung allerdings eine mögliche politische Aussage des Texts tendiert, bleibt eher unklar. So kann etwa Lutz Tantow die Novelle einerseits als Dürrenmatts “marokkanisches Pamphlet gegen das Wettrüsten und die Waffenindustrie” betrachten,22 das die “Friedensbotschaft” des Autors formuliere;23 andererseits liest er sie gleichzeitig als eine Kritik des Überwachungsstaats: “Dürrenmatt entwirft die Schreckensvision eines Zeitalters, in dem kein unbeobachteter Schritt mehr möglich scheint, und er knüpft damit indirekt an Orwells Großen Bruder an”.24 Gerhard P. Knapp seinerseits kritisiert: “Zur Analyse und Erklärung des Phänomens moderner Kriege leistet die Erzählung wenig”25 – was ja wohl die Unterstellung impliziert, dass eine solche Analyse in der Intention des Autors gelegen habe. Auf das Unkonkrete der möglicherweise intendierten politischen Aussage stützt sich unter anderem auch das eher kritische Urteil, das die DürrenmattForschung heute mehrheitlich über den Auftrag fällt: Letztlich handle es sich doch wieder um eine Variante des alten Dürrenmattschen Themas, um die Behauptung einer grundsätzlichen Absurdität, einer grundsätzlichen Sinnlosigkeit der Welt und des menschlichen Lebens, eine Analyse konkreter historischer Vorgänge sei aus diesem gleichsam metaphysischen Ansatz heraus nicht zu bewerkstelligen, der alte Dürrenmatt wiederhole sich.26
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Lutz Tantow: Der Auftrag oder Vom Beobachten des Beobachters der Beobachter. In: Über Friedrich Dürrenmatt. Hg. von Daniel Keel. 4. Aufl. Zürich 1990. S. 347-351, hier S. 351. 23 Ebd. S. 347. 24 Ebd. S. 349. 25 Gerhard P. Knapp: Friedrich Dürrenmatt. 2. Aufl. Stuttgart, Weimar 1993. S. 145. 26 Vgl. etwa Jan Knopf: Friedrich Dürrenmatt. 4. Aufl. München 1988. S. 191f. Mit ähnlicher Tendenz Knapp: Dürrenmatt (Anm. 25).
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Der vorliegende Aufsatz wird versuchen, das politisch-gesellschaftliche Anliegen des Auftrags zu konkretisieren; er will zeigen, dass Dürrenmatts Buch eine implizite Medientheorie enthält, die – selbstverständlich eingebettet in einen umfassenden Realitätsentwurf – sich einerseits deutlich unterscheidet von den Darstellungen einer grotesk verzerrten Welt, wie sie Dürrenmatt in den fünfziger und sechziger Jahren produzierte, und damit sehr wohl einen neuen Akzent im Werk Dürrenmatts setzt. Andererseits sollte diese Medientheorie dem Buch gerade im Kontext der seit dem Golfkrieg geführten Debatte neue Aktualität verleihen. Im Zentrum einer solchen Medientheorie stehen die Ausführungen des Logikers D., dem sich F. im fünften Kapitel der Novelle offenbart. Es ist, so könnte man sagen, eine Theorie des Beobachtens und Beobachtet-Werdens. D. erzählt, dass er in seinem Haus in den Bergen ein Spiegelteleskop besitze, das er von Zeit zu Zeit auf einen gegenüberliegenden Felsen richte. Dort lebten Leute, die ihn ihrerseits mit Ferngläsern beobachteten. In dem Moment, in dem die beobachteten Beobachter erkennen, dass sie beobachtet werden, ziehen sie sich in ihre Häuser zurück; “die ihn Beobachtenden fühlten sich dadurch, daß er sie durch sein Spiegelteleskop beobachte, ertappt, ertappt zu werden erwecke Schmach, Schmach oft Aggression, mancher der sich verzogen hätte, sei zurückgekehrt, wenn er, D., sein Instrument weggeräumt habe, und habe Steine nach seinem Haus geworfen”.27 Die Menschen, die sich beobachtet fühlen, versuchen dieser Beobachtung, durch die sie sich verletzt, ertappt, bedrängt fühlen, zu entgehen. Sie richten ihre Aggression gegen den Beobachter; sie wehren sich gegen die Beobachtung. Allerdings, so D., sei, “was er da entwickelt habe, [...] natürlich nur die eine Möglichkeit, die andere bestehe im puren Gegenteil dessen, was er ausgeführt habe” (5, 463). Er selbst stelle an sich fest, dass ihn die Vorstellung, seine Gegenüber würden gar nicht ihn beobachten, sondern vielleicht Gämsen oder Bergsteiger hinter seinem Haus, mit der Zeit mehr quäle als das Beobachtet-Werden; “er würde die Steine gegen sein Haus geradezu herbeisehnen, nicht mehr beobachtet, käme er sich nicht beachtenswert, nicht beachtenswert nicht geachtet, nicht geachtet bedeutungslos, bedeutungslos sinnlos vor, er würde, stelle er sich vor, in eine hoffnungslose Depression geraten” (5, 463). Nur auf den ersten Blick stellen diese beiden Entwürfe – der Mensch, der sich der Beobachtung entziehen und der Mensch, der sich durch das Beob27
Friedrich Dürrenmatt: Der Auftrag oder Vom Beobachten des Beobachters der Beobachter. In ders.: Gesammelte Werke in sieben Bänden. Zürich 1991. Nachfolgend zitiert unter Nennung von Band- und Seitenzahl im fortlaufenden Text. Hier: 5, 461. Auch andere Textbelege aus Dürrenmatt folgen dieser Ausgabe und Zitierung.
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achtet-Werden seiner Bedeutsamkeit versichern will – widersprüchliche Modelle dar; auf einer übergeordneten Ebene lassen sich beide Entwürfe ohne weiteres auf einen Nenner bringen. Egal, aus welchen konkreten Motiven heraus: Was die Menschen tun, tun sie im Bewusstsein, beobachtet zu werden oder aus dem Wunsch heraus, beobachtet zu werden. Mit Blick auf die Frage nach dem Verhältnis von ‘wirklicher’ Wirklichkeit und beobachteter Wirklichkeit bedeutet das: Wirklichkeit entsteht erst aus dem Bewusstsein und aus dem Wunsch heraus, beobachtet zu werden. Die Bewohner der gegenüberliegenden Häuser hätten sich nicht zurückgezogen, wenn D. sie nicht beobachtet hätte, und sie hätten das Haus D.s nicht attackiert, wenn sie sich nicht beobachtet gefühlt hätten. Die Wirklichkeit verändert sich unter der Beobachtung; würde sie nicht beobachtet, wäre sie eine völlig andere. Damit kann man aber von einer primären, von einer von der Beobachtung unabhängigen Wirklichkeit nicht mehr sprechen. Die Wirklichkeit zu beobachten, wie sie wäre, wenn sie nicht beobachtet würde – das wird zur Unmöglichkeit, wenn die Beobachtung die Wirklichkeit verändert oder sie gar erst konstituiert. Und ein zweiter Aspekt, der an D.s Theorie des Beobachtens interessant ist: Das Beobachten ist ein gegenseitiges, jeder Beobachter ist gleichzeitig ein Beobachteter. Mit Blick auf die Wirklichkeit bedeutet das: Es gibt kein unbeobachtetes Agieren; also gibt es auch kein wirklichkeitskonstituierendes Handeln des Menschen, das nicht im Bewusstsein erfolgte, beobachtet zu werden. Das heißt: Nicht nur im konkreten Beobachtungsfall, sondern grundsätzlich gibt es keine Wirklichkeit, die unabhängig von und vor der Beobachtung existierte. Jedes Entstehen von Wirklichkeit – sofern sie von Menschen gemacht ist – impliziert bereits das Bewusstsein, beobachtet zu werden, und berücksichtigt dies. Schon jetzt sei darauf hingewiesen, dass das oben präsentierte Selektionsmodell der Nachrichtenauswahl damit hinfällig wird. Für D. ist seine Erfahrung durchaus verallgemeinerungsfähig: Der beobachtende und der im Bewusstsein beobachtet zu werden agierende Mensch wird zum Modell des modernen Menschen schlechthin; überhaupt sei, was sich zwischen denen, die ihn beobachteten, und ihm abspiele, der seine Beobachter beobachte, für unsere Zeit symptomatisch, jeder fühle sich von jedem beobachtet und beobachte jeden, der Mensch heute sei ein beobachteter Mensch, der Staat beobachte ihn mit immer raffinierteren Methoden, der Mensch versuche sich immer verzweifelter, dem Beobachtet-Werden zu entziehen (5, 461).
Und an anderer Stelle: “[D]ie Menschen, würde er dann zwangsläufig folgern, litten unter dem Unbeobachtet-Sein wie er, auch sie kämen sich unbeobachtet sinnlos vor. Darum beobachteten alle einander, knipsten und filmten einander aus Angst vor der Sinnlosigkeit ihres Daseins” (5, 463).
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Als Medientheorie formuliert bedeutet das: Die Medien schildern nicht eine Wirklichkeit, die es auch ohne sie gäbe, sondern allein die Allgegenwart der Medien determiniert den Gang der Wirklichkeit. Dass eine solche medientheoretische Deutung Dürrenmatts Erzählung durchaus gerecht wird, wird unten noch zu zeigen sein. Zunächst aber soll durch unterschiedliche Kontextuierungen noch deutlicher gemacht werden, was Dürrenmatts Konzeption meint – und was sie nicht meint. Wenig überzeugend erscheint etwa der Versuch Jan Knopfs, den Auftrag in eine Tradition psychoanalytischen Erzählens einzuordnen, wozu er offensichtlich durch die Dominanz des Topos ‘Beobachten’ verführt wird: “Was wie eine Kriminalstory beginnt, entpuppt sich psychoanalytisch als Reise der Frau zu ihrem eigenen unbekannten Ich [...]. Sie, die Filmemacherin, die andere beobachtend aufnimmt, wird gezwungen, sich ihrerseits der Beobachtung auszusetzen und schließlich zur Selbstbeobachtung zu gelangen”.28 Zweifellos gehört die Beobachtung durch den Psychoanalytiker und die dadurch angeleitete Selbstbeobachtung zu den Formen von Beobachtung, denen der moderne Mensch ausgesetzt ist – und als solche wird sie in Dürrenmatts Erzählung auch gestaltet, wenn der Psychoanalytiker von Lambert seine Frau lediglich als psychoanalytischen Fall beobachtet (und dabei von ihr für ihr Tagebuch beobachtet wird) (5, 475f.). Auch kommt es tatsächlich am Ende der Handlung zu einer eigenartigen Erfahrung authentischen Lebens durch die Hauptfigur. Es wird allerdings unten noch zu zeigen sein, dass es sich dabei nicht um eine psychoanalytisch zu erklärende Selbstfindung handelt. Insgesamt scheint es, als verabsolutiere Knopf einen Unteraspekt von Dürrenmatts Themenstellung, ohne damit einen Schlüssel für das adäquate Gesamtverständnis des Auftrags liefern zu können. Die geradezu exzessive Verwendung des ‘Beobachtungs-Topos’ durch Dürrenmatt, gerade auch die Potenzierung des Beobachtens zu einem Beobachten zweiter und dritter Ordnung (Vom Beobachten des Beobachters der Beobachter) legt es nahe, die Kontextuierung des Auftrags im Rahmen systemtheoretischer Ansätze zu versuchen. Niklas Luhmann gibt dem Terminus eine zentrale Bedeutung: Die Beobachtung gilt als eine Basisoperation sozialer Systeme, und seine ganze Medientheorie, wie er sie in dem Buch Die Realität der Massenmedien entwickelt, basiert auf diesem Begriff. Die Tätigkeit der Massenmedien erscheint als eine Sequenz von Beobachtungen. “Um dieses Verständnis von Massenmedien zu erreichen, müssen wir also ihr Beobachten beobachten [...], muß man die Einstellung eines Beobachters zweiter Ordnung einnehmen, eines Beobachters von Beobachtern.”29 28 29
Knopf: Dürrenmatt (Anm. 26). S. 191. Luhmann: Massenmedien (Anm. 19). S. 14f.
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Auch Luhmanns systemtheoretischer Ansatz verfährt konstruktivistisch, wie Luhmann ausdrücklich betont,30 und damit gilt, was dazu oben gesagt wurde: Auch die Systemtheorie kann keinen Vergleich von Bildern der Wirklichkeit und der Wirklichkeit selbst leisten; auch die Systemtheorie fragt letztlich, nach welcher systemimmanenten Logik und nach welchen Regeln Wirklichkeit konstruiert wird, sie fragt nach der Konstruktion von Wirklichkeit im menschlichen Bewusstsein. Über eine Wirklichkeit ‘an sich’ kann die Systemtheorie keine Aussagen machen, da sie zu ihr keinen erkenntnisunabhängigen Zugang besitzt. Dabei wird allerdings – anders als im radikalen Konstruktivismus – die Existenz einer Umwelt keineswegs bezweifelt: Die These des operativen Konstruktivismus führt also nicht zu einem ‘Weltverlust’, sie bestreitet nicht, daß es Realität gibt. Aber sie setzt Welt nicht als Gegenstand, sondern im Sinne der Phänomenologie als Horizont voraus. Also unerreichbar. Und deshalb bleibt keine andere Möglichkeit als: Realität zu konstruieren und eventuell: Beobachter zu beobachten, wie sie die Realität konstruieren.31
Die Funktion der Medien besteht darin, “einen Beitrag zur Realitätskonstruktion der Gesellschaft” zu leisten,32 die systemtheoretische Analyse interessiert sich vor allem für das ‘Wie’ dieser Konstruktion. Der Vergleich mit dem Beobachtungstopos der Systemtheorie, deren Terminologie der Dürrenmatts zunächst so verwandt schien, zeigt vor allem, was Dürrenmatts Konzeption nicht ist: Sie ist keine konstruktivistische Theorie. Zwar sind Dürrenmatt konstruktivistische Denkansätze durchaus vertraut, so etwa, wenn er den Logiker D. auf F.s Plan, in der Wüste Nachforschungen zum Tod Tina von Lamberts anstellen zu wollen, antworten lässt, sie wolle in die Wüste gehen, weil sie eine neue Rolle suche, ihre alte Rolle sei die einer Beobachterin von Rollen gewesen, nun beabsichtige sie, das Gegenteil zu versuchen, nicht zu porträtieren, was ja einen Gegenstand voraussetze, sondern zu rekonstruieren, den Gegenstand ihres Porträts herzustellen, damit aus einzelnen herumliegenden Blättern einen Laubhaufen anzusammeln, wobei sie nicht wissen könne, ob die Blätter, die sie da zusammenschichte, auch zusammengehörten, ja, ob sie am Ende nicht sich selber porträtiere (5, 468).
Die kriminalistische (Re-)Konstruktion des Geschehenen erfolgt durch den Detektiv, durch den Beobachter, und zwar auf Grund von Maßstäben und Entscheidungen des Beobachters. Die Regeln des Beobachters entscheiden über das entstehende Bild der Wirklichkeit, und im Beobachter selbst findet
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Vgl. ebd. S. 17. Ebd. S. 18f. 32 Ebd. S. 181. 31
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sich keine Instanz, welche die Operation objektiviert, welche über Validität und Adäquatheit der Rekonstruktion entscheiden kann. Gerade diese Passage zeigt aber zugleich, dass es primär um etwas anderes geht: Wenn die beobachteten Beobachter sich, die Beobachtung erkennend, zurückziehen, wenn sie Steine gegen das Haus D.s werfen, dann geht es nicht um das Bild, die Konstruktion von Wirklichkeit im Bewusstsein D.s, dann hat die Beobachtung zu einer Veränderung der realen Wirklichkeit, der Wirklichkeit erster Ordnung geführt. Die beobachteten Individuen, deren Handeln Wirklichkeit konstituiert, haben im Bewusstsein, beobachtet zu werden, anders gehandelt, als sie gehandelt hätten, wenn sie nicht beobachtet worden wären. Dürrenmatts Theorie des Beobachtens, seine Medientheorie, sie ist keine konstruktivistische Theorie, wie sehr sie sich auch von einer ‘realistischen’ Theorie der Nachrichtenselektion distanzieren mag. In welche Richtung Dürrenmatt denkt (und welche Konsequenzen sein Denken hat), wird vielleicht klarer, wenn man sich ähnliche Denkmodelle anschaut, die sich an einem Ort finden, wo man sie möglicherweise nicht unbedingt erwartet hätte: in der Quantenphysik, im Umfeld der Heisenbergschen Unbestimmtheitsrelation. Bei seinem Versuch, die Bewegung eines Elektrons messbar zu machen, war Heisenberg auf ein eigenartiges Problem gestoßen: Die Lage des Elektrons konnte ziemlich genau gemessen werden, indem ein Mikroskop mit sehr starkem Auflösungsvermögen benutzt wurde. Das heißt aber, dass das Elektron mit Licht von sehr kurzer Wellenlänge beleuchtet wird. “Je kürzer die Wellenlänge ist, desto größer ist aber die Energie des Lichtquants [...], das auf das Elektron auftrifft, und desto größer ist auch dessen Rückstoßgeschwindigkeit.”33 Das heißt aber: Die Geschwindigkeit des Elektrons wird verändert. Durch die Beobachtung des Elektrons wird der beobachtete Gegenstand so sehr modifiziert, dass es nicht mehr möglich ist, Aussagen darüber zu machen, wie das unbeobachtete Elektron ausgesehen hätte. Die Bewegung des Elektrons zu beschreiben, würde bedeuten, seinen Ort und seine Geschwindigkeit anzugeben. Durch die Einwirkung des Beobachtungsvorgangs ist es nicht mehr möglich, die Geschwindigkeit zu bestimmen, wenn der Ort bestimmt wird. Auch wenn Heisenberg immer wieder betont, dass diese Beobachtung nur im Bereich der Atomphysik relevant sei und ansonsten die Gesetze der klassischen Mechanik in Kraft blieben, so führten seine Überlegungen doch zu “einer tiefgreifenden Veränderung in der Physik, die in solcher Tragweite bis heute ohnegleichen geblieben ist”.34 Heisenbergs Befund bewirkte eine 33
David C. Cassidy: Werner Heisenberg. Leben und Werk. Heidelberg, Berlin, Oxford 1995. S. 284. 34 Ebd. S. 282.
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grundsätzliche Neubewertung naturwissenschaftlicher Erkenntnismöglichkeit. Die Physik, so Heisenberg, habe “bis hierher in einem Punkt an der ‘klassischen’ Idealisierung unverrückbar festgehalten: Sie hat die Vorgänge in der Natur nur insoweit betrachtet, als sie sich vollständig objektivieren, d. h. von uns weg als objektives Geschehen in Raum und Zeit projizieren lassen.”35 An anderer Stelle bezeichnet Heisenberg diese Annahme der klassischen Physik als die “Illusion [...], daß wir die Welt beschreiben können oder wenigstens Teile der Welt beschreiben können, ohne von uns selbst zu sprechen”.36 Dem gegenüber stellt er die Auffassung, “daß die Beobachtung eine entscheidende Rolle bei dem Vorgang spielt und daß die Wirklichkeit verschieden ist, je nachdem, ob wir sie beobachten oder nicht”.37 Und Heisenberg kommt zu radikalen Konsequenzen: Auch in der Naturwissenschaft ist also der Gegenstand der Forschung nicht mehr die Natur an sich, sondern die der menschlichen Fragestellung ausgesetzte Natur, und insofern begegnet der Mensch auch hier wieder sich selbst. [...] Das naturwissenschaftliche Weltbild hört damit auf, ein eigentlich naturwissenschaftliches zu sein.38
Damit kommt Heisenbergs Beobachtung dem Denken Dürrenmatts sehr nahe: Bei beiden handelt es sich nicht lediglich um eine Veränderung der Wirklichkeit ‘für uns’ durch das Beobachten, sondern um eine Veränderung der Wirklichkeit ‘an sich’. Der Einfluss der Beobachtung erstreckt sich nicht nur auf eine Konstruktion von Wirklichkeit, sondern auf die objektive Wirklichkeit; die Wirklichkeit selbst ändert sich durch die Beobachtung und ist eine andere, als sie unbeobachtet war. In gewisser Weise vollzieht Dürrenmatt eine Anthropologisierung der Heisenbergschen Unschärferelation. Dies ist für den späten Dürrenmatt kein singulärer Vorgang: Offenbar interessiert er sich sehr für naturwissenschaftliche Denkansätze (insbesondere aus dem Bereich der Astronomie und aus dem Umfeld der Chaostheorie) und transponiert sie in Modelle der Welt im Allgemeinen und der Gesellschaft im Besonderen. So mündet die chaotische Handlung von Justiz am Ende in das Bild einer chaotischen Geschichte und eines chaotischen Universums (vgl. 4, 797-801), und zu Recht schreibt Gerhard P. Knapp: Gerade in den späten Vorträgen und Essays beruft Dürrenmatt sich wieder und wieder auf bestimmte epistemologische bzw. naturwissenschaftliche Systeme. Tatsache ist jedoch, daß er über die Adaption populärer Grundgedanken kaum
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Werner Heisenberg: Ordnung der Wirklichkeit. München, Zürich 1989. S. 76. Werner Heisenberg: Physik und Philosophie. Stuttgart 1978. S. 38. 37 Ebd. S. 35. 38 Werner Heisenberg: Das Naturbild der heutigen Physik. Hamburg 1955. S. 18, 21. 36
341 hinausgelangt. Diese haben dann gleichsam Versatzstückcharakter in seiner gesellschaftspolitischen Argumentation.39
Eine ganz ähnliche Operation scheint er auch im Fall des Auftrags vorgenommen zu haben. Ob Dürrenmatt damit zugleich im Sinne Heisenbergs argumentiert, der seine Beobachtung ja eigentlich auf den ‘Mikrokosmos’ des Atoms bezogen hatte, ist schwer zu sagen. Immerhin spricht Heisenberg in seinem Werk Ordnung der Wirklichkeit auf eine Weise von der nun vorliegenden “neue[n] Erkenntnissituation”,40 die man als Begründung einer allgemein gültigen hermeneutischen Position auffassen könnte: Jetzt handelt es sich für ihn “um einen allgemeinen Zug der wissenschaftlichen Methode”, dass die “Vorgänge [...] im fließenden Zusammenhang der Natur grundsätzlich etwas anders [verlaufen] als dort, wo wir sie – mit den Mitteln des Experiments oder der gedanklichen Analyse – isolieren und unter die Lupe nehmen”.41 Und selbst für zwischenmenschliche und seelische Vorgänge gilt: “Ein wesentlicher Teil seelischen Geschehens wird sich bis zu einem gewissen Grad der objektiven Fixierung deswegen entziehen, weil der Akt der Fixierung selbst in die Vorgänge entscheidend eingreift.”42 Auf einem völlig anderen Weg kommt die zeitgenössische Publizistikwissenschaft zu ganz ähnlichen Modellen. Hans Mathias Kepplinger, dessen Kritik eines naiven Selektionsmodells zur Beschreibung des Verhältnisses von Wirklichkeit und Berichterstattung schon oben zitiert wurde, geht in seinen Überlegungen davon aus, dass “die Anwesenheit von Journalisten – vor allem des Fernsehens – nachweislich das Verhalten der Menschen, über die berichtet wird”, verändere.43 Er spricht hier von so genannten ‘reziproken Effekten’: “Reziproke Effekte machen bewußt, daß man Gegenstand der Beobachtung und Beurteilung von Tausenden oder Millionen von Menschen ist”.44 Die Folge: Die (massenmedial) Beobachteten verhalten sich im Bewusstsein, beobachtet zu werden; sie verhalten sich also zweifellos anders, als sie sich unbeobachtet verhalten würden. Sie inszenieren sich und sie inszenieren die Wirklichkeit, und zwar nach Modellen, die sie aus der Antizipation von Medien- und Zuschauererwartung gewinnen. Als inszenierte Ereignisse bezeichnen wir Geschehnisse, die eigens zum Zweck der Berichterstattung herbeigeführt werden und folglich ohne die Erwartung der
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Knapp: Dürrenmatt (Anm. 25). S. 19. Heisenberg: Ordnung (Anm. 35). S. 123. 41 Ebd. S. 124. 42 Ebd. S. 123. 43 Kepplinger: Ereignismanagement (Anm. 12). S. 48. 44 Kepplinger: Demontage (Anm. 15). S. 146. 40
342 Berichterstattung nicht geschehen würden. Ihre Ursachen liegen ausschließlich oder nahezu ausschließlich auf der Berichtsebene.45 Die Realität, die die Medien heute darstellen, ist in erheblichem Maße eine an den Medien orientierte bzw. durch die Medien geschaffene Realität [...]. Die Medien stellen heute nicht mehr nur dar, was ist. Das, was ist, ist auch ein Ergebnis ihrer früheren Darstellungen bzw. ihrer schieren Existenz.46
Entsprechend stellt Kepplinger dem oben kritisierten Selektionsmodell ein Inszenierungsmodell der Nachrichtenauswahl gegenüber: Die Medien wählen nicht die wichtigsten Ereignisse aus einer Realität aus, die sich auch ohne sie vollziehen würde; die Ereignisse der Realität werden vielmehr – im Bewusstsein, beobachtet zu werden – so inszeniert, dass sie für die massenmediale Beobachtung interessant werden. Ohne Massenmedien würden die Ereignisse nicht stattgefunden haben. Das Inszenierungsmodell betrachtet die Nachrichtenauswahl als einen von außen gesteuerten Prozeß. Dabei machen sich die gesellschaftlichen Akteure die Kenntnis journalistischer Selektionskriterien zunutze, um die Nachrichtengebung in ihrem Sinne zu beeinflussen. Sie betreiben Ereignismanagement. Die Ereignisse sind dabei ein Mittel zum Zweck der Berichterstattung.47
Es bleibt das Fazit: “Die Realität und ihre Darstellung bilden ein rückgekoppeltes System [...]. Die dargestellte Welt ist folglich eine Folge der Darstellung der Welt.”48 Damit dürfte das semantische Feld, innerhalb dessen sich das Denken Dürrenmatts vollzieht, umrissen sein: Der anthropologische Denkansatz Dürrenmatts, die naturwissenschaftlich-hermeneutische Fragestellung Heisenbergs und das publizistikwissenschaftliche Modell Kepplingers führen zu ganz parallelen Konstrukten: Das Beobachten der Wirklichkeit verändert die Wirklichkeit. Damit ist die beobachtete Wirklichkeit immer und grundsätzlich eine andere als die unbeobachtete. Die Vorstellung, eine unabhängig vom Beobachter sich vollziehende Realität beobachten und objektiv wiedergeben zu können, ist Illusion (und damit auch eine Medienkritik, die auf einer solchen Prämisse aufbaut). Dass sich dieses Denkmodell auf so viele verschiedenartige Bereiche anwenden lässt, gerade das dürfte für Dürrenmatt das Faszinosum ausgemacht haben.49 45
Kepplinger: Ereignisbegriff (Anm. 13). S. 126. Kepplinger: Demontage (Anm. 15). S. 173. 47 Kepplinger: Ereignismanagement (Anm. 12). S. 49. 48 Kepplinger: Ereignisbegriff (Anm. 13). S. 136. 49 In einem anderen Zusammenhang – aber hier durchaus passend – bemerkt er: “Nicht eine Erklärung ist der Sinn eines Gleichnisses, sondern alle seine möglichen Erklärungen zusammen, wobei die Zahl dieser möglichen Erklärungen zunimmt, das Gleichnis wird immer mehrdeutiger” (6, 81). 46
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Dieses Denkmodell strukturiert nun die gesamte Novelle Der Auftrag ; man kann es regelrecht als das Strukturmuster des Erzählens auffassen, das in unzähligen Varianten durchgespielt wird. So ist schon das erste Kapitel eine Exposition im eigentlichen Sinne; es führt in medias res, enthält das Thema der ganzen Novelle in nuce. Die Journalistin F. plant, “ein Gesamtporträt herzustellen, jenes unseres Planeten nämlich, indem sie dies durch ein Zusammenfügen zufälliger Szenen zu einem Ganzen zu erzielen hoffte” (5, 454). Deswegen geht sie auch zur Beerdigung Tina von Lamberts. Als jedoch der Witwer bemerkt, dass die Journalistin den Vorgang filmt, schließt er seinen Schirm, geht zu ihr und lädt sie für den Abend zu sich ein, um ihr den Auftrag für die Ermittlungen zum vermeintlichen Tod seiner Frau zu erteilen. Damit ist die Beerdigung durch die Anwesenheit des Fernsehteams anders verlaufen, als sie ohne es verlaufen wäre. F.s Plan, durch Zusammenfügung zufälliger Szenen zu einem Gesamtporträt des Planeten zu kommen, ist im Grunde schon jetzt gescheitert: Die Beobachtung verändert die beobachtete Wirklichkeit. Es wurde oben schon erwähnt, dass dieses Strukturmodell in Dürrenmatts Auftrag auf unterschiedliche Weise konkretisiert und aktualisiert wird: so scheitert Lamberts Versuch, seine Frau mit den Mitteln der Psychoanalyse zu beobachten, schon daran, dass Tina ihrem Ehemann davonläuft, um sich der Beobachtung zu entziehen. Auch Probleme der politischen Welt lassen sich als inszenierte Wirklichkeit betrachten, als Ereignisse, die nur stattfinden, weil der Handelnde sich beobachtet glaubt. So interpretiert Dürrenmatt etwa das Wettrüsten, das in der Zeit des Kalten Krieges ja als ein Abschreckungsszenarium aufgefasst wurde, als eine solche, erst durch die Beobachtung provozierte Wirklichkeit: Abschreckend können die Waffenarsenale ja nur wirken, wenn sie von jemandem beobachtet werden, der sich durch das Beobachtete abschrecken lässt. Und auch der religiöse Fundamentalismus wird verstanden als ein Verhalten, das durch die Vorstellung, von einem allmächtigen und allwissenden Gott beobachtet zu werden, erst hervorgerufen wird (vgl. 5, 464f.). Aber nicht nur die politische Welt, das gesamte Leben jedes Menschen steht unter dem Vorzeichen ständigen Beobachtet-Seins: “[S]ie bewegte sich durch dunkle, schluchtartige Gassen, immer erhellt von Blitzlichtern, da jederzeit irgendwer der Menschenmenge fotografierte” (5, 486), heißt es einmal. Das hat für das Verhältnis des Einzelnen zu der Welt, in der er lebt, umfassende und katastrophale Konsequenzen: Da die Welt, in der er sich bewegt, eine Welt ist, die von Handelnden konstituiert wird, die sich beobachtet wissen oder beobachtet werden wollen, muss der Einzelne davon ausgehen, dass die Welt, in der er lebt, eine inszenierte Welt ist. Nie kann er sicher sein, auf eine authentische Wirklichkeit zu stoßen, die nicht nur deswegen ist, weil sie von ihm beobachtet werden und bei ihm bestimmte
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Wirkungen hervorrufen will. So wird etwa der Begriff des Charakters, des Ich problematisch, wenn jeder sein Ich zusammenfingieren, sich in eine Rolle dichten würde, die er mehr oder weniger gut zu spielen versuche, demnach komme es auf die schauspielerische Leistung an, ob einer als Charakter dastehe oder nicht, je unbewußter, unbeabsichtigter er eine Rolle spiele, desto echter wirke er, sie begreife nun auch, warum Schauspieler so schwer zu porträtieren seien, diese spielten ihren Charakter zu offensichtlich (5, 467f.).
Dürrenmatt nutzt sehr geschickt die Gattungsgesetze des Kriminalromans – es gehört zum Wesen des Kriminalromans, dass der Täter ‘Scheinwelten’ aufbaut, Konstrukte, mit denen er den Detektiv zu verwirren sucht, mit deren Hilfe er ihn auf falsche Fährten locken, also: mit Hilfe inszenierter Wirklichkeit beim Beobachter bestimmte Wirkungen hervorrufen will. Auf diese Weise gerät F. immer weiter in eine Welt hinein, von der sie nie wissen kann, ob sie lediglich inszeniert und ihr eigenes Handeln lediglich die intendierte Wirkung dieser Inszenierung ist: “[S]ie kam sich vor wie eine Schachfigur, die hin- und hergeschoben wurde” (5, 512). Es ist offensichtlich, dass damit D.s ‘Beobachtungstheorie’ (auch) zu einer ‘existentialistischen’ Theorie wird, zu einem Bild, das die Situation des modernen Menschen in der Welt, in der er lebt, beschreiben soll: Eine authentische Wirklichkeitserfahrung gibt es kaum noch für einen Menschen, der in einer medial vermittelten Welt lebt. Die Wirklichkeit, die ihn umgibt, ist, so muss er annehmen, inszeniert, um bei ihm selbst bestimmte Wirkungen hervor zu rufen. Orientierung, Sinngebung, Sinnstiftung – all das ist in einer Welt nicht mehr möglich, deren Authentizität nicht einmal gesichert ist. Seit ungefähr dem Ende der siebziger Jahre wird für Dürrenmatt das Bild des Labyrinths immer wichtiger, wenn er die Situation des modernen Menschen beschreiben will.50 Auch hier scheint er ein Symbol gefunden zu haben, das ihn durch seine Vieldeutigkeit fasziniert: Er geht in seinen Vorstellungen immer aus von jenem Labyrinth, das nach dem antiken Mythos Dädalus für den Minotaurus konstruiert hatte – ein Labyrinth also, aus dem es keinen Ausweg gibt, ein Labyrinth, in das der Mensch verbannt ist ohne eigene Schuld. Dabei wird der Mensch manchmal mit dem Minotaurus selbst identifiziert, manchmal mit den Jungfrauen und Jünglingen, die dem Minotaurus regelmäßig zum Fraß vorgeworfen werden:
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Vgl. dazu ausführlicher Jürgen Kost: Geschichte als Komödie. Zum Zusammenhang von Geschichtsbild und Komödienkonzeption bei Horváth, Frisch, Dürrenmatt, Brecht und Hacks. Würzburg 1996. S. 158-162.
345 Zunächst ist es ein Bild für die Existenz des Menschen. Ich weiß nie, was hinter der nächsten Ecke auf mich lauert. Irgendwo ist der Minotaurus, ich weiß nicht, wann ich ihm begegne: Irgendwo lauert der Tod. Es ist auch ein Bild für unsere Welt, die, je mehr Gänge wir entdecken, desto verzweigter, desto unübersichtlicher wird. Je mehr wir wissen, desto mehr auch wissen wir nicht.51
Immer wieder versucht Dürrenmatt seit den späten Siebzigern dieses für ihn so zentrale Bild zu gestalten und aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten: Einmal wird die archaische Struktur des menschlichen Unterbewusstseins für den labyrinthischen Charakter der Welt verantwortlich gemacht, ein andermal die chaotischen Gesetze kapitalistischen Wirtschaftens und kapitalistischer Gesellschaften oder übermächtige Naturgesetze. Zweifellos kann man auch das Strukturmodell des Auftrags als eine solche Aktualisierung des Labyrinthbildes auffassen: Die medial vermittelte Wirklichkeit, die nur zustande kommt, weil sie sich beobachtet weiß und beobachtet werden will, sie verliert ihre Authentizität, sie wird undurchschaubar (weil inszeniert), sie wird unübersichtlich, sie wird labyrinthisch. Nicht umsonst taucht das Labyrinth auch als Motiv im Auftrag auf: Der unterirdische Bunker, in dem F. von Polyphem gefangen gehalten wird, entpuppt sich während ihres Fluchtversuchs als regelrechtes Labyrinth (5, 516f.). Es wurde oben formuliert: Es sei offensichtlich, dass D.s Beobachtungstheorie auch eine existentialistische Deutung des Menschen biete – aber eben nur ‘auch’. Darin zeigt sich wiederum die von Dürrenmatt intendierte Polyvalenz seines Bildes, dass sich unter dem gleichen Paradigma eine relativ konkrete Medientheorie und eine Theorie der medial vermittelten Wirklichkeit entwickeln lassen. Zu deutlich tritt das Medienmotiv in den Vordergrund, eine zu große Rolle spielen Medienleute im Allgemeinen und Fotografen im Besonderen, als dass man Dürrenmatts Darstellung nur zum abstrakt-metaphysischen Bild der entfremdeten menschlichen Existenz erklären könnte. Zweifellos ist sie das primär, und die Medienproblematik erscheint lediglich als ein Sonderfall der existentiellen Problematik – aber eben als einer, der mit überwältigender Deutlichkeit in den Vordergrund tritt: “Die Fototechnik spielt in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle. Angefangen mit der Fotoreporterin F. ist die Novelle ‘dichtbevölkert’ mit professionellen Beobachtern wie Kameraleuten, Photographen, Spionen.”52 Die inszenierte, nicht authentische Wirklichkeit ist eben vor allem
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Friedrich Dürrenmatt: Das “Labyrinth” oder Über die Grenzen des Menschseins. In ders: Über die Grenzen. Hg. von Michael Haller. Zürich 1990. S. 99-120, hier S. 100. 52 Florentine Strzelczyk: Im Labyrinth: Zum Verhältnis von Macht und Raum bei Bachmann und Dürrenmatt. In: Seminar 32 (1996). S. 15-29, hier S. 25.
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eine durch die Massenmedien vermittelte, beobachtete und zustande gekommene. In diesem Sinne wird auch die Politik des afrikanischen Landes, in dem die Novelle spielt, als ein weitgehend mit der Inszenierung von Wirklichkeit beschäftigtes System geschildert. Es tobt ein Machtkampf zwischen dem Polizeichef, dem Chef des Geheimdienstes und dem Generalstabschef, und jeder der drei versucht, seine Gegner zu kompromittieren und sich selbst als kompetenten und energischen Politiker zu präsentieren. Alle setzen – neben einer lückenlosen gegenseitigen Überwachung und Beobachtung – gezielt die Medien zur Durchsetzung ihrer Interessen ein: “[D]em Polizeichef gehe es darum, als der starke Mann zu erscheinen, der über die Polizei wie über eine Privatarmee verfüge” (5, 491). Deswegen werden – vor laufenden Kameras – inszenierte Verhöre angestellt, Schauprozesse, in denen alle Zeugen (offenbar unter Androhung von Gewalt) das Gleiche aussagen (vgl. 5, 479). Der Polizeichef plant, “außenpolitisch den Kurs zu ändern, die Ermordung Tinas einem fremden Geheimdienst zuzuschieben” (5, 491). Deswegen wird ein gefangener Skandinavier skrupellos als angeblicher Mörder hingerichtet (5, 482) – mit dem erklärten Ziel, dadurch eigene Handlungsfähigkeit zu demonstrieren und gleichzeitig die Journalistin F. von weiteren Ermittlungen abzuhalten: “[D]ie Exekution war nur vorgenommen worden, um sie an weiteren Nachforschungen zu hindern” (5, 485). Andererseits benutzt auch der Geheimdienstchef die Journalistin, um an kompromittierendes Material gegen seine Widersacher zu gelangen (5, 490f.). Durch ihre Existenz verführen die Medien die Machthaber dazu, eine Wirklichkeit zu inszenieren, die es ohne die Medien nicht gäbe. Diese Wirklichkeit ist gezielt mit Blick auf die mediale Wirkung inszeniert, und da die Inszenierenden die Selektionskriterien der Medien kennen, können diese gar nicht umhin, über die entsprechend inszenierte ‘Wirklichkeit’ zu berichten, entsprechen diese Meldungen doch exakt den Anforderungen, die die Medien an ihre Nachrichten stellen. Das ist Dürrenmatts Konzept von ‘Propaganda’: nicht Militärzensur, nicht Verschleiern und Verzerren von Wirklichkeit. So wird auch F. klar, dass “sie für den Fettwanst, der sich immer wieder den Schweiß mit seinem seidenen Taschentuch von der Stirne wischte, nur eine Gelegenheit darstellte, für sich und die ihm unterstellte Polizei Propaganda zu machen” (5, 474). Man kann schon fragen, ob dieses Modell Dürrenmatts (das dem Inszenierungsmodell Kepplingers ja sehr ähnlich ist) die Realität und die Medienberichterstattung im Golfkrieg nicht überzeugender erklärt als die oben dargestellten gängigen Erklärungsmuster in Publizistik und Soziologie. Auch im Zentrum der gigantischen Wirklichkeitsinszenierung des Auftrags steht ein grotesker Krieg. Auf den ersten Blick scheint das Land vor
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allem vom Fremdenverkehr und von der Ausfuhr pflanzlicher Stoffe zu leben. Tatsächlich aber ist “die Haupteinnahme [...] ein Krieg, den das Land mit dem Nachbarstaat um ein Gebiet in der großen Sandwüste führe, wo außer einigen verlausten Beduinen und Wüstenflöhen niemand lebe, wohin sich nicht einmal der Tourismus vorgewagt habe, ein Krieg, der nun schon seit zehn Jahren dahinmotte” (5, 520). Dieser Krieg, “der längst seinen politischen Sinn verloren habe” (5, 521), ist ein Scheinkrieg, ein inszenierter Krieg, dessen eigentliches Ziel es ist, neu entwickelte Waffensysteme zu erproben. Die Waffenindustrie aller Waffen exportierenden Nationen testet hier ihre neuesten Produkte auf Stärken und Schwächen hin und verbessert sie, damit sie dann in einem ‘wirklichen’ Krieg, wenn es zur Erprobung der Waffensysteme zu spät ist, funktionieren. Dafür bekommt die Regierung des nordafrikanischen Landes Devisen. Deshalb sieht sich die Regierung außer Stande, den Krieg zu beenden: “[A]uch die Regierung möchte ihn einstellen, möchte, stehe dann aber vor einem wirtschaftlichen Desaster” (5, 521). In Dürrenmatts Konstrukt ist dieser Krieg ein rein inszeniertes Ereignis, das überhaupt nur stattfindet, weil es beobachtet wird und um beobachtet zu werden. Ein Krieg, der praktisch nur als Testlabor für die internationale Waffenindustrie dient, hätte seinen Sinn verloren, wenn die Tests nicht beobachtet werden könnten; “denn sein Sinn liege ja nur darin, daß er beobachtet werden könne, nur so seien die Waffen zu testen und ihre Schwächen und Fehlkonstruktionen zu erkennen und zu verbessern” (5, 521). Die geradezu paradoxe Situation, in der sich die Medien gegenüber einer solchen Wirklichkeit befinden, gegenüber einer Wirklichkeit, deren Inszenierung ja gerade durch sie, die Medien, selbst veranlasst wurde, gegenüber einem Gegenstand, der sich durch die Beobachtung verändert und deswegen gar nicht authentisch, ‘so, wie er ist’, dokumentiert werden kann – diese paradoxe Situation der Medien kommt vielleicht am deutlichsten in der Figur Polyphems zum Ausdruck. Polyphem, der schon in unterschiedlichsten Krisenregionen als Fotograf gearbeitet hat, verfolgt ein (vom Standpunkt des Selektionsmodells) durchaus konsensfähiges journalistisches Ziel: Er will authentische Bilder der Wirklichkeit liefern, und das bedeutet im vorliegenden Zusammenhang: Bilder einer Wirklichkeit, die nicht erst durch das Beobachten konstituiert wird. Bei seinem Einsatz in Vietnam lernt er den Bomberpiloten kennen, der Achill genannt wird und der ihm als Einziger die Realisierung seines journalistischen Ideals, authentische Wirklichkeit zu dokumentieren, ermöglichte: “ein Einzelgänger, den er immer wieder fotografiert und gefilmt habe, das Beste, was ihm je gelungen sei, denn Achilles habe nie darauf geachtet, habe auch nie mehr als gleichgültige Worte mit ihm gewechselt” (5, 534f.). Als Achill Polyphem aus einer Gefahrensituation rettete, verunglückte er selbst und wurde durch diesen Unfall zum geistig und körperlich behinder-
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ten “Idioten” (5, 537). Polyphem fühlt sich aus Dankbarkeit verpflichtet, Achill immer wieder das einzige Erlebnis zu ermöglichen, das ihm noch Freude bereitet: junge Frauen zu vergewaltigen und zu ermorden. Auf diese Weise erklärt sich die Ermordung der dänischen Journalistin Jytte Sörensen, und die Reporterin F. hat sich das groteske Mörderpaar als nächstes Opfer auserkoren. Polyphem will nicht nur seinem Freund diesen perversen Wunsch erfüllen; er verliert auch sein journalistisches Ziel nicht aus den Augen. Er filmt die Verfolgung, Vergewaltigung und Ermordung des Opfers in der Hoffnung, auf diese Weise authentische Erfahrung, Menschen in Grenzsituationen, während ihrer Ermordung, dokumentieren zu können. In diesem Augenblick fühlt sich Polyphem als reiner Beobachter, nicht “der ekelhaften Wirklichkeit beigemischt”, sondern “von ihr abgehoben”: “[D]ie Wirklichkeit sei nur vermittels der Kamera objektiv erfaßbar, aseptisch, diese allein sei fähig, die Zeit und den Raum festzuhalten, worin sich das Ereignis abspiele” (5, 532). Um sich diesem Ziel zu nähern, sprengt Polyphem auch den Wagen eines dänischen Kameramanns in die Luft – und dokumentiert dies zugleich: “ein schreckliches Unglück, gewiß, aber dank der Kamera ein verewigtes Ereignis, ein Gleichnis der Weltkatastrophe, denn die Kamera sei dazu da, eine Zehntel-, eine Hundertstel-, ja eine Tausendstelsekunde festzuhalten, die Zeit aufzuhalten, indem sie die Zeit vernichte” (5, 532). Was Polyphem dabei gar nicht zu bemerken scheint, ist, dass er sich gerade in seinem Verlangen, Grenzsituationen zu dokumentieren, die Authentizität verbürgen, immer wieder auf Ereignisse konzentriert, die er selbst inszeniert. Auf groteske Weise entlarvt sich dieses Paradoxon, wenn Polyphem die angeblich authentisch-einmalige Grenzsituation wiederholen will, um die Qualität seines Dokuments zu verbessern: “[D]as Porträt über die Dänin weise Mängel auf, das Porträt über sie werde sein Meisterwerk” (5, 541). Gerade das – nach gängiger journalistischer Ethik ja durchaus zustimmungsfähige – Ziel, authentische Erfahrung zu dokumentieren, verführt zur Inszenierung. So reagiert Polyphem auch völlig verständnislos, als F. ihm vorwirft, “was er Wirklichkeit nenne, sei inszeniert” (5, 540). F.s Aussage trifft nicht nur die Situation genau; sie wird zum Schlüsselsatz für die ganze Erzählung und für deren implizite Medientheorie. Eine Annäherung an eine authentische Wirklichkeit ist dem Beobachter, der durch sein Beobachten die Realität zwangsläufig beeinflusst, unmöglich. Das Ende der Novelle gehört dann übrigens doch wieder dem ‘existentialistischen’ Dürrenmatt. Einmal, ein einziges Mal, wird innerhalb der Erzählung eine authentische Lebenserfahrung ermöglicht: Nicht dem Beobachter der Grenzsituation, aber dem Opfer gelingt in dieser Situation ein “Durch-
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bruch zur Authentizität”.53 F. erlebt den (schließlich erfolglosen) Vergewaltigungs- und Mordversuch Achills als glückhaften Augenblick. Als er sich auf sie stürzt, wurde sie vom ungeheuren Anprall der Gegenwart erfaßt, von einer noch nie gekannten Lust zu leben, ewig zu leben, sich auf diesen Riesen, auf diesen idiotischen Gott zu werfen, die Zähne in seinen Hals zu schlagen, plötzlich ein Raubtier geworden, bar jeder Menschlichkeit, eins mit dem, der sie vergewaltigen und töten wollte, eins mit der fürchterlichen Stupidität der Welt (5, 564).
In der existentiellen Grenzsituation gibt F. die Beobachterrolle auf, und die Wirklichkeit, der sie sich gegenüber sieht, steht nicht mehr im Verdacht, lediglich inszeniert zu sein (wiewohl sie willentlich herbeigeführt wurde). Selbst wenn diese Situation lebensbedrohlich ist, so vermittelt sie doch eine Intensität und Authentizität des Lebensgefühls, die als beglückend empfunden wird. Gleiches hat F. auch auf den Porträts der sterbenden dänischen Journalistin beobachtet (5, 541). Gerhard P. Knapp ist zuzustimmen, wenn er bemerkt, dass sich damit gewissermaßen ein Kreis schließe und Dürrenmatt zu einem Thema zurückkehre, das ihn schon seit seiner Jugend beschäftige: Auch hier, im Erleben subjektiven Daseins in extremis, manifestiert sich das Bewußtsein von Existenz. Wenn F. “vom ungeheuren Anprall der Gegenwart erfasst” [...] wird, dann gemahnt das wieder an den Existenzbegriff Kierkegaards, der Dürrenmatt seit seinen Studentenjahren beschäftigt hat, und auf den er wieder und wieder [...] zu sprechen kommt.54
Gleichzeitig muss aber auch bemerkt werden, dass Dürrenmatt mit dieser Konzeption Anschluss findet an Tendenzen, die sich in der neueren Erzählliteratur öfter beobachten lassen. So kommt etwa die Hauptfigur in Michael Kleebergs Roman Der saubere Tod aus einer vergleichbaren Problemanalyse – die generierte Wirklichkeit der Medien hat jede Authentizität verloren – zu ganz ähnlichen Gegenentwürfen: “Gewalt, echte Gewalt zwischen Menschen, das siehst du, das ist die Wahrheit. Wenn du in die Augen von jemandem blickst, der dich umbringen will, da ist alles drin, keine Lüge mehr, keine Käfige mehr, das ist der Moment von Nähe, Zuneigung fast, Wildheit, endlich wieder, ehrlich ist es, wahr, Leben ist es.”55
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Knapp: Dürrenmatt (Anm. 25). S. 155. Ebd. S. 156. 55 Michael Kleeberg: Der saubere Tod. München 1987. S. 189f. Vgl. hierzu: Christa Karpenstein-Eßbach: Medienkonzepte in deutscher Gegenwartsliteratur. Vorläufige Skizzen zu einem Forschungsprojekt. In: Krieg und Medien. Simulationen des Schreckens. Hg. von der Gesamthochschule Kassel, Wissenschaftliches Zentrum II. Kassel 1988. S. 207-215. 54
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Die medial vermittelte als durchgängig inszenierte Welt, als eine Wirklichkeit, die nur existiert, weil die Medien existieren, von denen sie sich beobachtet weiß; die medial vermittelte Welt als Sonderfall der existentiellen Situation des modernen Menschen in einer entfremdeten, einer labyrinthisch gewordenen Welt; ein Krieg den es nur gibt, weil es die Medien gibt, ein Krieg, der nur dazu da ist, beobachtet zu werden – so weit ist kaum einer der publizistischen und wissenschaftlichen Kritiker des Medienereignisses ‘Golfkrieg’ gegangen. Auch Kepplinger denkt, wenn er von inszenierten Ereignissen spricht, eher an Pressekonferenzen, die ja auch nur stattfinden, weil die Medien präsent sind. Sicherlich überspitzt Dürrenmatt sein Modell oft bis zum Grotesken; andererseits wirft sein Ansatz sehr bedenkenswerte Fragen auf – etwa dann, wenn in der Diskussion um die Medienberichterstattung zum Golfkrieg an die Journalisten implizit oder explizit die Forderung gestellt wird, hinter die Täuschungen der Propaganda zu blicken und (ganz im Stil Polyphems) die wirkliche, die authentische Wirklichkeit objektiv zu dokumentieren. Oder dann, wenn man liest, dass der Beginn der Kampfhandlungen im Golfkrieg gezielt auf die prime time des US-Fernsehens gelegt wurde, um den Abendnachrichten Live-Berichterstattung zu ermöglichen.56 Oder wenn Hans Mathias Kepplinger mit Blick auf das Verhältnis von Wirklichkeit und Medienberichterstattung, mit Blick auf die Tatsache, dass die Anwesenheit der Medien das Verhalten der Beobachteten und den Ablauf der Geschehnisse beeinflusst und mit Blick auf die Versuchung zur Inszenierung von Wirklichkeit, die von den anwesenden Medien ausgeht, notiert: “Dieser Sachverhalt ist weithin bekannt, wird jedoch von der Medienwirkungsforschung bisher praktisch kaum zur Kenntnis genommen. Deshalb verfehlt die Medienwirkungsforschung einen erheblichen Teil der Medienwirkungen.”57 Natürlich ist Dürrenmatts Auftrag nicht der ‘Roman zum Golfkrieg’ – schon allein deswegen, weil er vier Jahre vor dessen Beginn entstand. Dennoch könnte man – etwas pointiert – sagen: Von einer medientheoretischen Position aus, wie sie Friedrich Dürrenmatt in dieser Novelle bezieht, dürfte die mediale Präsentation des Golfkriegs keine Überraschung gewesen sein. Sie erscheint lediglich als Spezialfall der Situation, in der sich der moderne Mensch generell befindet. 56
Vgl. etwa Beham: Kriegstrommeln (Anm. 4). S. 109. Engelbert Washietl: Zurechtweisung und Zensuren: Journalistische Leistung und berufliche Zwänge. In: Medien im Krieg. Die zugespitzte Normalität. Hg. von der österreichischen Gesellschaft für Kommunikationsfragen. Salzburg 1991. S. 49-55, hier S. 49. Michael Kunczik: Kriegsberichterstattung und Öffentlichkeitsarbeit in Kriegszeiten. In: Medien und Krieg – Krieg in den Medien. Hg. von Kurt Imhof und Peter Schulz. Zürich 1995. S. 87-104, hier S. 98. 57 Kepplinger: Ereignisbegriff (Anm. 13). S. 128.
Thomas F. Schneider
“Giving a Sense of War As It Really Was”1 – Präformation, Marketing und Rezeption von Steven Spielbergs Saving Private Ryan 2 Steven Spielberg’s 1998 World War II film Saving Private Ryan has provoked a world-wide discussion on the genre ‘war movie’ and furthermore on the representation of war in the media in general. The movie appeared to have launched a revision of the former ‘effective’ traditional or ‘old’ image of war, or had launched an installation of a ‘new’ ‘realistic’ image of war. The article describes and analyses the preformations for the film’s reception, initiated by the marketing, and compares the discussion in the US and in Germany up to mid-2001. It becomes clear that the arguments in favour and against the film in the US as well as in Germany heavily depend on the marketing’s preformations and only deal with the amount of ‘reality of war’ the movie seems to provide. The preformations and other accompanying marketing efforts have succeeded in claiming Saving Private Ryan as the only adequate representation of World War II in the cinema and the only movie which ‘honours’ the US World War II soldier. Thus, the movie has become a virtual US World War II memorial, and moreover the movie’s pictures seem to have become a substitute for the ‘authentic’ historical D-day pictures, turning fiction into ‘reality’.
I. Vorüberlegungen Steven Spielbergs Spielfilm Saving Private Ryan (deutscher Titel Der Soldat James Ryan) bezeichnete die Zeit in einem ersten Resümee zum deutschen Kinostart am 8. Oktober 1998 als “gewaltiges Medienphänomen”.3 In der Rückschau muss selbst diese außergewöhnliche Einschätzung als untertrieben charakterisiert werden. Nicht nur, dass der Film bei $ 70 Millionen Produktionskosten bis November 1998 bereits mehr als $ 379,1
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Steven Spielberg zitiert nach David Ansen: Celluloid Soldiers. In: Newsweek vom 13. 07. 1998. S. 52-53, hier S. 53. 2 Ich danke John W. Chambers II (Rutgers University), Richard A. Kipphorn (St. Joseph’s University), Thomas Nagel (Bünde) und Adi Wimmer (Klagenfurt) sowie Matthias Thiele und Rolf Parr (Dortmund) für ihr Interesse und die Hilfe bei der Zusammenstellung der Materialien. 3 Alexander Horwath: Der Traumwerker und der Satyr. Das Lied vom kleinen Soldaten: Steven Spielbergs Saving Private Ryan und Joe Dantes Small Soldiers. In: Die Zeit vom 08. 10. 1998. S. 78.
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Millionen weltweit eingespielt hatte4 und damit auf der Spielberg internen Erlösrangliste zwischen Schindler’s List (USA 1993) und Jaws (USA 1975) anzusiedeln ist,5 auch dass ihn nach nur acht Wochen Laufzeit allein in Deutschland 3.477.458 Zuschauer gesehen hatten, ehe er aus der Bestenliste der zehn meist besuchten Filme fiel6 – Saving Private Ryan hat nicht allein in den USA, sondern weltweit eine Diskussion über das Genre ‘Kriegsfilm’ und in deren Fahrwasser über die Repräsentation von Krieg in den Medien entfacht, die ihn als Initiator einer Revision des bislang konsensuell ‘gültigen’ alten, respektive einer Installation eines ‘neuen’ Bildes vom Krieg erscheinen lassen. Darüber hinaus muss retrospektiv konstatiert werden, dass Saving Private Ryan eine Renaissance des Hollywood-Kriegsfilms initiiert hat, die, den aktuellen, global intendierten ‘Krieg gegen den Terror’ begleitend, in den Jahren 2001/2002 einen Höhepunkt erreicht hat; unter anderem mit Filmen wie: Behind Enemy Lines (John Moore, USA 2001), Black Hawk Down (Ridley Scott, USA 2001), Enigma (Michael Apted, USA 2001), Pearl Harbor (Michael Bay, USA 2001), Hart’s War (Gregory Hoblit, USA 2002), K 19: The Widowmaker (Katheryn Bigelow, USA 2002), We Were Soldiers (Randall Wallace, USA 2002) und Windtalkers (John Woo, USA 2002). Inwieweit diese Renaissance zur Rezeption des Spielberg-Films gerechnet werden muss, ist zumindest diskutabel, der Anstieg an KriegsfilmProduktionen im Vergleich zu den Jahren vor Saving Private Ryan ist jedoch signifikant. Doch auch ohne dies war die Rezeption des Films unüberschaubar geworden.
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Zahlen nach Adi Wimmer: Soldat Ryan. Der Anspruch auf cineastischen ‘Realismus’. In: Kriegserlebnis und Legendenbildung. Das Bild des ‘modernen’ Krieges in Literatur, Theater, Film und Photographie. Hg. von Thomas F. Schneider. Osnabrück 1999. S. 1063-1074. Wimmer nennt als Quelle Variety, im Netz unter www.variety.com. Die imdb-Datenbank verzeichnet andere Einnahmenzahlen: USA $ 216.119.000 (bis 23. 05. 1999), UK £ 18.740.000 (bis 28. 03. 1999), Non-USA $ 224.700.000 (bis 20. 12. 1998, also ohne die re-releases). Die Einnahmen des Films belaufen sich somit auf ca. ½ Milliarde € (ohne die re-releases, MerchandisingProdukte sowie die weltweite TV-, Video- und DVD-Verwertung). Vgl. www.us. imdb.com/Business? 0120815. 5 Nach Erich Follath: Sankt Stevens großer Kreuzzug. In: Der Spiegel vom 28. 09. 1998. S. 210-218, hier S. 214. 6 Nach Top Ten Kino. In: TV Spielfilm (1999). H. 1 (02.–15. 01. 1999). imdb nennt (25. 10. 2000) eine geringfügig andere Zahl: 3.411.604. Die Zuschauer des re-release ab 11. 03. 1999 sind hier nicht berücksichtigt. Vgl. www.us.imdb.com/Business? 0120815.
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Noch Anfang Januar 1999 ergab die Suche nach Rezeptionsdokumenten im Internet mit Hilfe einer der gängigen Suchmaschinen7 das Ergebnis von über 193.000 Sites, die sich explizit dem Stichwort “Saving Private Ryan Reviews” zuordnen ließen. In dieses Suchergebnis nicht einbegriffen waren die zahllosen Chats, in denen Veteranen mit jungen Kinogängern oder solchen, die nicht über direkte Erfahrungen mit dem Zweiten Weltkrieg verfügten, über den Film und die ‘Realität’ des Krieges sowie ihre eigenen Kriegserfahrungen und -erinnerungen diskutierten. Immerhin bot die Suchmaschine eine Spezifikation für den ‘eiligen’ Nutzer an: “Where can I read reviews in the net?”, die noch 193 direkt im Netz abrufbare Rezensionen vorschlug.8 Dass auch dieses Angebot wiederum nur eine recht unzulängliche Auswahl darstellte, darauf wiesen die vier dort aufgelisteten deutschen Rezensionen hin: Focus Online,9 zwei ‘private’ Homepages10 sowie die deutsche Homepage des Internationalen Komitees der Vierten Internationale, IKVI.11 Nicht erfasst wurden so die ‘nur’ im Druck erschienenen Rezensionen sowie die zahlreichen Beiträge auf vermutlich allen Kanälen in den US-amerikanischen und deutschen AV-Medien.12 Im September 1999 wurde die Anfrage wiederholt, mit einem niederschmetternden Ergebnis: 5.588.708 web pages ließen sich laut Suchmaschine AltaVista explizit dem Stichwort „Saving Private Ryan Review“ zuordnen.13 Kurz: Die Rezeption von Saving Private Ryan ist selbst über diesen extrem eingeschränkten Zeitraum von 15 Monaten seit den US-previews im Juni 1998 bis zum September 1999 in einem Forscherleben nicht zu überblicken, geschweige denn zu analysieren. Sie entzieht sich der Beobachtung, 7 www.altavista.com. Auf eine Suche mit leistungsfähigeren Suchmaschinen wie yahoo, lycos, goggle, tomorrow oder gar der Suchmaschine der Suchmaschinen, sleuth, wurde aufgrund des Ergebnisses bei AltaVista verzichtet. 8 Als link zu “Movie Review Query Engine: Saving Private Ryan (1998)”, Stand 05. 01. 1999. Noch am 25. 10. 2000 bot imdb eine Liste von 184 links zu im Netz abrufbaren Rezensionen sowie eine weitere Liste mit 70 sog. “Newsgroup reviews”. Vgl. www.us.imdb.com/TUrls?COM+0120815 und us.imdb.com/TUrls?REV+0120 815. 9 www.focus.de. 10
[email protected] und Ekkehard Knoerer bei www.knoererkompass.de. 11 David Walsh: Kleine Wahrheiten auf Kosten großer. Der Soldat James Ryan – ein neuer Spielberg-Film. In: (World Socialist Web Site) www.wsws.org. 12 Z. B. in Kulturzeit, 3Sat, eine Diskussion über filmische Repräsentationen des Krieges anhand von Saving Private Ryan und Terrence Malicks The Thin Red Line, 26. 02. 1999. 13 www.altavista.com, 16. 09. 1999. Angeboten wurden links zu “Where can I see a review of the current film Saving Private Ryan” und “Where can I find information about the movie Saving Private Ryan”.
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sind doch gerade die Chat-Diskussionen und die weiteren angebotenen Diskussionsforen im Anschluss an im Netz publizierte Rezensionen14 nur von kurzer Verweildauer; allein der Versuch der Dokumentation ist illusorisch. ‘Private’ Stellungnahmen mischen sich ununterscheidbar in ihrem Wirkungspotential und ihrer Multiplikationsfunktion mit ‘professionellen’ Kritiken – eine solche Differenzierung selbst ist obsolet geworden. Die Rezeption ist demokratisiert – was ‘früher’ an Wohnzimmer-, Kneipen- oder Stammtischen diskutiert wurde, findet sich jetzt dokumentiert und damit zugänglich im Netz. Die Rezeption spiegelt die Struktur des Netzes und verurteilt selbst eingeschränkte Analyseversuche wie beispielsweise “Die Rezeption von Saving Private Ryan im südwestniedersächsischen Raum” zu einem Konstrukt. Es existiert keine sinnvolle Unterscheidung mehr zwischen Detailstudie und holistischen Herangehensweisen – Die Rezeption von Saving Private Ryan (selbst ein globales Projekt) ist global, zirkulär und repetitiv. Immerhin scheint ein Anfang auszumachen zu sein: der US-Kinostart am 24. Juli 1998. Doch zeigt sich bereits bei der Betrachtung nur weniger Rezeptionsdokumente,15 dass diese ohne die Präformationen, die in der vorbereitenden und begleitenden Vermarktung des Films auf vielfältigen Ebenen (Werbematerialien, Interviews, Drucksachen, Trailer etc.) erfolgten, nicht denkbar sind. Die Rezeption steuert ‘sich’ zumindest in den inhaltlichen Schwerpunkten selbst und ist bereits gesteuert, ehe der Film auf das globale Publikum, die Kritiker inbegriffen, losgelassen wird. Die Rezeption ist zirkulär, da sie zu ihren Ursprüngen, dem Vermarktungskonzept mit den ihm immanenten Präformationen zurückkehrt und die ‘Ergebnisse’ der Rezeption aufnimmt und weiterverarbeitet – so zum erneuten US-amerikanischen, deutschen und weltweiten16 Kinostart nach der Oscar-Verleihung am 21. März 1999, zur Videovermarktung im September (USA) und Okto14
So z. B. im Anschluss an das special issue von Film & History 28 (1998), 3-4, das auch im Netz publiziert wurde: Join us in discussing the motion picture Saving Pvt. Ryan by film director Stephen [sic!] Spielberg! In: www.h-net.msu.edu/feature. html; mit 16, in der Regel ausführlichen Beiträgen (Stand 05. 01. 1999); und zur World Socialist Web Site (www.wsws.org) unter
[email protected]. 15 Im Folgenden unter diesem Begriff subsumiert: Dokumente in Printmedien, in AV-Medien und im Internet. 16 Aufgrund der Oscar-Verleihung wurde der Film in den USA ab 05. 02., in Island ab 10. 02., in Norwegen, Argentinien, Brasilien, Deutschland, Kolumbien, Portugal, Großbritannien und Süd-Korea ab März 1999 erneut in die Kinos gebracht. Vgl. www.us.imdb.com/ReleaseDates?0120815, 25. 10. 2000. Diese Liste ist jedoch unvollständig, da der Film ab Ende März 1999 z. B. auch in Slowenien erneut in den Kinos zu sehen war.
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ber 1999 (Deutschland) sowie den im Jahr 2000 zunächst im Pay-TV und dann in 2001 in den frei zugänglichen Kanälen erfolgenden Fernsehausstrahlungen. Diese Zirkularität erscheint zum einen kalkuliert, gerade weil einige Kritiker anmerkten, der zeitliche Abstand des Kinostarts zur Oscar-Verleihung werde Saving Private Ryan’s Chancen auf die Auszeichnung verringern: Überspitzt gesagt: Mit Der Soldat James Ryan bettelt Spielberg ziemlich offenkundig um einen zweiten Regie-‘Oscar’. Und dagegen spricht nur der frühe Starttermin in den USA, wo Saving Private Ryan (so der Originaltitel) mitten in der Sommersaison in die Kinos kam. Knapp acht Monate Zeit zwischen Erstaufführung und ‘Oscar’-Verleihung Ende März kommenden Jahres erscheinen ein bißchen zu lang, um der Academy dann noch im Gedächtnis zu sein.17
Vergessen wird bei dieser Argumentation die Verleihung der Golden Globes Mitte Januar 1999, die als Leitlinie für die Oscar-Verleihung gewertet wird und wo Saving Private Ryan als bester Film und für die beste Regie ausgezeichnet wurde. Anfang März folgte, ebenfalls kaum überraschend, die Verleihung des Directors Guild Award an Spielberg für den besten Film 1998.18 Anders gewendet ergibt sich mit dem ‘Erfolg’ des Films vielmehr die Möglichkeit einer recht ungewöhnlichen zweiten Kinoverwertung19 und – nebenbei bemerkt – der direkten Konkurrenz zum anderen ‘großen’ Kriegsfilm des Jahres 1998, Terrence Malicks James-Jones-Verfilmung The Thin Red Line.20 17
Andreas Schnadwinkel: Spielberg bettelt um einen ‘Oscar’. In: Westfalen-Blatt (Bielefeld) 234 (1999). 18 Vgl. Wolfgang Hübner: Den Oscar fest im Visier. Keine Überraschung: Zwei Golden Globes an Spielberg. In: Neue Osnabrücker Zeitung vom 26. 01. 1999. S. 18. Vgl. als Beispiel für die globale Verbreitung auch dieses ‘Ereignisses’: Nagrada režiserjev. In: Delo (Ljubljana) vom 10. 03. 1999. S. 24. Zu diesem Zeitpunkt lief Saving Private Ryan bereits in der Zweitverwertung in den slowenischen Kinos. 19 Kinozweitverwertungen, auch erhebliche Zeit nach der Erstverwertung, sind natürlich im Rahmen von Programmkinos, z. B. zu Beginn der Videovermarktung, die Regel. Der enorme Werbeaufwand für die Zweitverwertung von Saving Private Ryan ist allerdings mit einem der Erstverwertung vergleichbar. 20 Die amerikanische Premiere von The Thin Red Line (deutscher Titel Der schmale Grat) erfolgte erst wesentlich nach Saving Private Ryan (25. 12. 1998 bzw. 08. 01. 1999 in den USA; vgl. www.us.imdb.com/ReleaseDates?0120863), womit Malicks Film ein eindeutiger vergleichender Vorteil ermöglicht wurde. Mit der Kinozweitverwertung von Saving Private Ryan zwei Monate später wurde dieser ‘Vorteil’ wieder nivelliert und mehr noch revidiert: Im Werbeblock zur deutschen Kinoverwertung von The Thin Red Line (nach der Deutschland-Premiere bei den Berliner Filmfestspielen am 12. 02. 1999) war ein Trailer zu Saving Private Ryan enthalten, der mit stark verkürzten amerikanischen Kritikerurteilen warb (wie z. B. “Bester Film. New York Times” etc.).
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Ist die Rezeption zirkulär, so ist sie auch repetitiv – mit jedem Zirkel erscheinen die dem Film angehefteten Attribute wieder, allerdings nur jene, die den ‘Erfolg’ des Films (scheinbar) verursacht haben: die positiven Wertschätzungen. Mag die Diskussion um Saving Private Ryan auch kontrovers gewesen sein, die Zirkularität führt die Rezeption simplifizierend auf sich selbst zurück. Wurde die Rezeption zu Beginn der Vermarktung kalkuliert auf Inhalte hin gesteuert, die im Folgenden zu beschreiben sein werden, so erzeugt sie diese Attribute und Inhalte in einem anscheinend endlosen Kreislauf und in (ermüdender) Wiederholung selbst: Saving Private Ryan ist zweifellos ein ‘gewaltiges Medienphänomen’. Angesichts dieser Befunde ist eine wissenschaftliche, kritische Behandlung der Rezeption von Saving Private Ryan oder gar eine vergleichende Analyse der US-amerikanischen mit der deutschen Rezeption illusorisch. Sie wird in Ansatz, Methode und Ergebnis zu einer ‘Meinung’ im besten und schlechtesten Sinne des Wortes. Rezeptionsprozesse lassen sich hier mit dem Horror vor der großen Zahl nur noch behaupten, aber nicht mehr hinreichend belegen. Dies gilt insbesondere für Verfahren der Rezeptionsanalyse, die sich empirischer Methoden bedienen.21 Generell, das heißt für die Grundlagen geisteswissenschaftlichen Arbeitens, wäre zu überdenken: Wie ist es einerseits angesichts der enormen Zahl von Dokumenten noch möglich, Schwerpunkte der Rezeption belegt zu fixieren, woran sich unmittelbar andererseits die Frage anschließt, welche Dokumente als ‘relevant’ für einen Rezeptionsprozess klassifiziert werden und welche Kriterien einer solchen Klassifikation zugrunde gelegt werden können. Der bislang so ‘bequeme’ Rückzug auf a priori als ‘relevant’ oder ‘einflussreich’ deklarierte Dokumente aus entsprechend ‘angesehenen’ Medien (wie ausgewählten Periodika oder von ‘herausragenden’ Rezensenten), scheint angesichts der Demokratisierung der Rezeption im Internet nicht mehr gangbar, da der Nachweis der Multiplikationsfunktion oder des ‘Einflusses’ eines einzelnen Rezeptionsdokumentes wiederum die nachprüfbare Analyse sämtlicher Rezeptionsdokumente bedingen würde. Da dies – wie gezeigt – aus ‘forschungspraktischen’ Überlegungen heraus nicht mehr leistbar ist, schließt sich der Kreis zum unendlichen Regress. Dennoch möchte ich unter dem Aspekt der Repräsentation des Krieges, wie sie in der Rezeption ausgehend vom Film Saving Private Ryan aufscheint, die Präformationen und die Strukturen der Diskussion um den Film in den USA und Deutschland skizzieren, ohne auf einzelne Rezeptionsdo21
So zuletzt Klaus Naumanns eindrucksvolle Studie: Der Krieg als Text. Das Jahr 1945 im kulturellen Gedächtnis der Presse. Hamburg 1998.
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kumente detailliert einzugehen. Weder ist hiermit ein Anspruch auf Vollständigkeit verbunden, noch lassen sich ideologie-kritische Anmerkungen vermeiden. Die Basis bilden ca. 100 willkürlich und zufällig ausgewählte Dokumente der US-amerikanischen und der deutschen Rezeption. Da das Ziel dieses Beitrages nicht in einer vollständigen, lückenlosen oder gar periodisierendvergleichenden Darstellung der Rezeption in den USA und in Deutschland gesehen wird, sondern sich auf Strukturen konzentriert, erschien mir diese – angesichts der Gesamtzahl der Dokumente eher marginale – Basis ausreichend. Auf der Strecke bleibt das sicherlich bei ähnlichem Unterfangen anzustrebende Ideal der Repräsentativität und das der Überprüfbarkeit, verbunden mit der ‘Gefahr’, dass zusätzliche, mir nicht zugängliche oder bekannte Dokumente die Argumentation und die daraus gezogenen Schlüsse relativieren oder falsifizieren. Wenn im Folgenden generalisierend von ‘das Marketing’ und ‘die Rezeption’ die Rede ist, so sind die hier formulierten methodischen Einschränkungen stets mitgemeint und mitzudenken. Auch die Zitate aus den Rezeptionsdokumenten sind somit illustrativ und nicht repräsentativ. II. Präformationen Die Präformationen des Marketings (das ich hier personalisiere)22 strukturieren die Rezeption von Saving Private Ryan vorab. Sie setzen die inhaltlichen Schwerpunkte, an denen sich die Rezeption im wahrsten Sinne des Wortes abarbeitet, bis sie zu einem – wie oben angedeutet – wieder verwendbaren ‘Ergebnis’ kommt, das die Distribution des Produkts Saving Private Ryan weiter befördert. Aus der Sicht der Marketingstrategie ist das ‘Ergebnis’ dabei vorhersehbar und kalkuliert – andernfalls handelte es sich um einen Flop. Ökonomische und ideologische Interessen sind aus dieser Perspektive dabei nahezu ununterscheidbar verquickt, gerade weil das Marketing (und damit auch der Regisseur Spielberg) behaupteten, nicht auf einen Kassenerfolg bei der Produktion des Films aus gewesen zu sein oder mit ihm nicht gerechnet zu haben. Spielberg: [...] Ich wollte nicht einen weiteren glatten Hollywood-Film über den Zweiten Weltkrieg drehen, sondern endlich mal einen wahrheitsgetreuen... SPIEGEL: ... der die Kinokassen füllt? Ryan ist in den USA einer der erfolgreichsten Filme des Jahres. Spielberg: Damit hat keiner gerechnet, ich am wenigsten. Der Kriegsfilm gilt als ausgelaugtes unpopuläres Genre. Meine Berater hatten mir zudem eingeredet, 22
Bezeichnenderweise werden in den ca. 500 Personen auflistenden credits keine Verantwortlichen für das Marketing genannt.
358 dass Frauen wegen der Gewalttätigkeit nicht in die Kinos gehen würden. Jetzt zeigt sich, dass das Publikum in den Film strömt und dass es zur Hälfte aus Frauen besteht – Ryan hat sozusagen alle Regeln gebrochen.23
Das Dementi in Verbindung mit einer unbegründeten und zudem noch falschen Behauptung (“Der Kriegsfilm gilt als ausgelaugtes unpopuläres Genre”) fungiert hier als Rechtfertigung für einen Erfolg, der, falls kalkuliert, als ‘unmoralisch’ in der Rezeption bewertet werden würde. Die Struktur der Präformationen spiegelt sich hier im Detail. Diese Präformationen unterscheiden sich zumindest zwischen den USA und Deutschland nicht, sieht man einmal von der unterschiedlichen und deshalb auch different konnotierten Titelgebung ab.24 Das ‘kongenial’ illustrierte Begleitbuch zum Film erschien in identischen Ausgaben in den USA, Deutschland und Frankreich sowie vermutlich auch in anderen Ländern;25 die Interviews von Spielberg und seinem Hauptdarsteller Tom Hanks
23
“Jeder Krieg ist obszön”. Steven Spielberg über Der Soldat James Ryan, Patriotismus und sein Bild von den Deutschen. In: Der Spiegel vom 28. 09. 1998. S. 219222, hier S. 219. 24 Saving Private Ryan und Der Soldat James Ryan: Diesem Unterschied mögen Übersetzungsprobleme zu Grunde liegen. Die vielfältige Konnotation von ‘Saving’ im Geflecht der ideologischen Axiome, die mit dem Film speziell für die USA verbunden waren und sind, lässt sich im Deutschen mit ‘Rettung’ wohl nur unzureichend wiedergeben. Der Allgemeingültigkeitsanspruch, der mit dem Jedermann James Ryan verbunden ist, bleibt selbstverständlich auch im deutschen Titel erhalten. 25 Steven Spielberg, David James: Saving Private Ryan. New York 1998. Deutsche Ausgabe: Steven Spielberg, David James: Soldat James Ryan. Ein Film von Steven Spielberg. Fotografien von David James. Nürnberg 1998 (im folgenden SJR). Darin zahlreiche stills von David James, Aufnahmen von den Dreharbeiten, Zitate aus den als Quellen des Films bezeichneten historischen Werken zum D-day von Stephen E. Ambrose: D-Day: June 6, 1944. The Climatic Battle of World War II. New York 1994; und: Citizen Soldiers: The U.S. Army from the Normandy to the Buldge of the Surrender of Germany June 7, 1944 – May 7, 1945. New York 1997; sowie Statements (als ‘Interviews’ deklariert) von Spielberg, Hanks, Kameramann Janusz Kaminski sowie diverser Darsteller und staff-Mitarbeiter. Eine Analyse der Struktur dieses Druckwerkes allein ist lohnend: Die stills aus dem Film werden in Verbindung mit den ‘authentischen’ Zitaten aus den Büchern von Ambrose historisiert und zu Dokumenten stilisiert, obwohl Kaminski und Spielberg ausdrücklich auf die technischen Verfahrensweisen der ‘Historisierung’ der Filmbilder hinweisen. Die Omaha-Beach-Sequenz steht dabei vom Volumen her eindeutig im Vordergrund. Das Buch spiegelt so – auch in den Texten – nicht die Struktur des Films, sondern vor allem die Struktur und die Inhalte der Präformationen.
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in deutschen Printmedien nehmen sich wie simple Übersetzungen USamerikanischer Interviews aus.26 Auch das Bild vom Krieg, das der Film transportiert, ist global intendiert, was (um dies vorweg zu nehmen) zumindest in der deutschen Rezeption unwidersprochen bleibt. Dem Marketing gelingt es, eine weltweit akzeptierte Repräsentation des Zweiten Weltkrieges und in seiner Folge des ‘modernen’ Krieges allgemein zu erstellen, die nationale Spezifika – ihre Existenz vorausgesetzt – nivelliert. Dieser Prozess kann auf die Struktur der kausal verknüpften, aber zugleich zirkulär konstruierten Präformationen zurückgeführt werden, die unter den Schlagworten ‘Realismus’, ‘Intention: Ehrung des (einfachen) Soldaten’ und ‘Novität’ subsumiert werden können. II.1 ‘Realismus’ Das Marketing behauptet für die erste, 23-minütige Schlachtsequenz in Saving Private Ryan, die Landung auf Omaha-Beach (siehe unten), die ‘Realität’ des Krieges abzubilden, allerdings – und dies sei hervorgehoben – ausdrücklich nur für diese Sequenz und keinesfalls für den gesamten Film. Vielmehr wird speziell für die zweite abschließende, ca. 25-minütige Schlachtsequenz hervorgehoben, dass es sich um ein fiktives französisches Normandie-Städtchen handelt, das aus mehreren Originalschauplätzen der Invasion zusammengestellt und in der Nähe von London auf einem Flugplatzgelände erbaut wurde – ein Schauplatz, so wie er hätte sein können. Wir entschieden uns, daß es besser wäre einen Fluß zu bauen, da dieser gut in das Erscheinungsbild passen und weil er das Dorf aufgliedern würde. Wir begannen ganz von vorne, hoben ein Flußbett aus und bauten eine Brücke darüber. Die ganzen Gebäude mußten neu gebaut werden, da wir in ganz Europa keine dieser Art gefunden hatten. Alles ist historisch genau nachempfunden. Nach drei Aufenthalten in Frankreich bauten wir ein Modell eines französischen Dorfes.27
Dagegen wurden angeblich die europäischen Küsten über Monate abgesucht, um einen ‘authentischen’ Strand gleich Omaha-Beach zu finden, da dieser heute modernisiert und verändert sei und damit dem ‘Realismus’Anspruch nicht hätte genügen können.28 26
Man vergleiche die Aussagen in SJR (Anm. 25) mit Hendrik Hertzberg: Theater of War. The risks Steven Spielberg takes in his film about the invasion of Normandy are moral as well as commercial. In: New Yorker vom 27. 07. 1998. S. 30-33; “Wir mußten da durch”. manöver-report. der soldat james ryan. In: Cinema (1998). H. 11. S. 130-135; Spielberg: “Jeder Krieg ist obszön” (Anm. 23). 27 Tom Sanders, Produktionsleiter, in SJR (Anm. 25). Vgl. auch die Äußerungen in Cinema, “Wir mußten da durch” (Anm. 26). 28 Ebd.
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‘Realismus’ kann nicht einfach behauptet werden, sondern erfordert Legitimation. Dafür sorgt die Verpflichtung von Stephen E. Ambrose als historischem Berater, das Studium historischer Dokumente und Photographien (vor allem derer Robert Capas – wohl jedem am Zweiten Weltkrieg Interessierten vertraut) und der Verweis auf die ‘authentische’ Geschichte des Soldaten Fritz Niland.29 Darüber hinaus bemüht sich der Film (wieder ausschließlich für die Omaha-Beach-Sequenz) um eine Gleichsetzung von Darstellern und historischen Akteuren. Tom Hanks und die anderen Schauspieler durchliefen laut Marketing ein 10-tägiges militärisches Training unter der Leitung von Captain a. D. Dale Dye (das in Photographien dokumentiert wurde),30 um ihnen einen ‘Eindruck’ von den physischen und psychischen Anstrengungen und Erfordernissen der D-day Invasion an den einzelnen Soldaten zu vermitteln. Dies ist nun keine Novität in der Filmgeschichte,31 und militärische Berater gehören zum Stab jedes Kriegsfilms. Die Berichterstattung über dieses Training erfolgt jedoch im Hinblick auf die erwähnte Gleichsetzung: Wie in der realen Mission wollten im Film angeblich die jüngeren Darsteller, also die ‘Untergebenen’ von Capt. Miller, das Training wegen zu großer Anstrengungen abbrechen, doch Tom Hanks, alias Capt. Miller, konnte sie im Sinne des Films wie des historischen Auftrags zum Weitermachen bewegen: “Jeder in der Gruppe wollte schon früher wieder heimgehen, außer Tom Hanks, der als einziger vorschlug, wir sollten noch ein paar Tage dranhängen. Und er spielte auch noch den Captain, der die meiste Ausdauer hat.”32
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“The closest parallel to Spielberg’s tale is the true story of Fritz Niland, of the 101st Airborne, who lost three brothers in a single week in June 1944, two in Normandy on D-Day and a third in the China-Burma-theater. As Ambrose tells it in his 1992 book Band of Brothers, Niland’s mother got all three telegrams from the War Department on the same day, prompting the Army to send a chaplain, Father Francis Sampson, to get Fritz out of the combat zone. ‘Son’, the chaplain said, ‘you’re coming with me’. Sampson escorted Niland to Utah Beach, where he was flown to London, and then home.” Jon Meacham: Caught in The Line of Fire. In: Newsweek vom 13. 07. 1998. S. 49-52 und 54-55, hier S. 54. Genannt wird auch der Film The Sullivans / The Fighting Sullivans (Lloyd Bacon, USA 1943/44), der auf dem gleichzeitigen Tod von fünf Brüdern basiert. Siehe Jack Garner: Private Ryan makes our critic’s list of top WWII films. In: Democrat and Chronicle (Rochester, NY) vom 19. 07. 1998. S. 7c. 30 Siehe SJR (Anm. 25). 31 Siehe z. B. die Berichte über die Dreharbeiten zu James Whales The Road Back (USA 1937); vgl. Andrew Kelly: Cinema and the Great War. London, New York 1997. 32 Tom Sizemore, Schauspieler, in SJR (Anm. 25), weitere Äußerungen ebd. und in Cinema, “Wir mußten da durch” (Anm. 26).
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In den zahlreichen Äußerungen der Darsteller zum Film wird zwar nach diesem Training stets hervorgehoben, dass es immer noch ein Film sei, aber man einen ‘Eindruck’ davon bekommen habe, wie schwer es der ‘reale’ Soldat gehabt habe.33 Zusätzlich wird betont, dass die Omaha-BeachSequenz zu Beginn der Dreharbeiten gedreht, mehr noch der gesamte Film in der chronologischen Folge der (Film-) Ereignisse erarbeitet wurde. Die Story diktiert die Realität, um zirkulär wiederum die Story und ihren ‘Realitäts’-Anspruch zu legitimieren. Auf der filmtechnischen Ebene wird vor allem von Spielberg betont, dass er ohne Storyboard die Omaha-Beach-Sequenz gedreht habe und die Kameras ‘einfach’ mitten ins inszenierte Geschehen gesetzt habe. “The director didn’t storyboard this harrowing sequence. Instead, he approached it like the newsreel photographers who were present on that day in France, using handheld cameras that plunge us into the carnage.”34 Angesichts des hohen Grades an Strukturiertheit gerade dieser Sequenz auch in der choreographischen Gestaltung einzelner Einstellungen (siehe unten), ist eine solche Angabe natürlich barer Unsinn – in keinem Rezeptionszeugnis gibt es auch nur ansatzweise eine Kommentierung in dieser Hinsicht; Spielbergs Angaben werden unhinterfragt übernommen. Die weiteren technischen Maßnahmen, um den Film optisch und akustisch ‘authentischer’ zu gestalten,35 verblassen vor dieser Behauptung, denn sie suggeriert, dass es zwar eine an Irlands Küste nachgestellte Invasion gewesen ist, diese aber unter Verwendung von Mitteln des Dokumentarfilms, d. h. unter Einschluss von Zufälligkeiten und Unwägbarkeiten, simpel ‘abgefilmt’ worden sei. Der Film erzeugt sich mit filmtechnischen Mitteln seine eigene ‘Realität’, die mit der historischen ‘Realität’ gleichgesetzt wird und sie ersetzt.36 33
Vgl. SJR (Anm. 25) und Cinema, “Wir mußten da durch” (Anm. 26). Ansen: Celluloid Soldiers (Anm. 1). S. 52. 35 “Ich wollte einen ausgebrannten, leeren, trüben Himmel haben und benutzte verschiedene Techniken um diesen Effekt zu erhalten. So fertigte Panavision in Los Angeles einen speziellen Satz Linsen für mich. Sie entfernten die Schutzschicht in der Linse, damit die Bilder leicht unscharf wurden, Lichtreflexionen nicht herausgefiltert wurden und der Himmel grauer erschien. Das hinterließ einen weicheren Gesamteindruck der Bilder, ohne daß sie unfokusiert waren. Eine weitere Technik war die Arbeit mit Schatten. Damit erreichten wir, daß die Bewegungen der Schauspieler stakkato-ähnlich aussahen. Explosionen erschienen dadurch gewaltiger. Alles, was wir drehten, wirkte so ein wenig realistischer.” Janusz Kaminski, Kameramann, in SJR (Anm. 25); vgl. auch Spielberg in Cinema, “Wir mußten da durch” (Anm. 26). S. 135. 36 Einen vergleichbaren Fall, dass sowohl im Marketing als auch in der Rezeption gerade eine hochstrukturierte und hochartifizielle Filmsequenz als ‘realistisch’ 34
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Darüber hinaus formuliert Spielberg, er habe im Gegensatz zu “Hollywood”37 den ‘Krieg’ (respektive diesen herausragenden historischen Abschnitt) realistisch zeigen wollen im Angedenken an die ‘Leistung’ der (amerikanischen) Soldaten: “Most of the stories I heard from veterans were honest stories about palpable terror, almost blind terror. War is not about glory. I felt we needed to be truthful to do honor to those soldiers.”38 Dies suggeriert Novität und die Behauptung, die vorhergehenden Vertreter des Genres wären nicht ‘realistisch’ gewesen und – mehr noch – hätten dies auch gar nicht intendiert. Darüber hinaus ist ein derart abgegrenzter ‘Realismus’ unabdingbare Voraussetzung für die zweite grundlegende Präformation im Marketing des Films, das Angedenken: II.2 Intention: ‘Ehrung des (amerikanischen) Soldaten’ Spielbergs explizit, kohärent und durchgehend geäußerte Absicht bei Saving Private Ryan ist es, die ‘Leistung’ des einfachen (amerikanischen) Soldaten bei der Befreiung Europas vom Faschismus zu würdigen und zu “ehren”.39 ausgegeben und akzeptiert wurde (bis hin zur Verwendung von Ausschnitten in Dokumentationen), stellt Lewis Milestones All Quiet on the Western Front (USA 1930) dar. Vgl. John W. Chambers: ‘All Quiet on the Western Front’ (1930). The antiwar film and the image of the First World War. In: Historical Journal of Film, Radio and Television 14 (1994). H. 4. S. 377-401; sowie allgemein zur Problematik insbesondere bei Filmen zum Zweiten Weltkrieg die Beiträge in seinem zusammen mit David Culbert herausgegebenen Band World War II, Film, and History. New York, Oxford 1996. 37 “You hear from a veteran what it [the war] was like, and then you see Hollywood’s version of what it was like, and for many years I believed Hollywood.” Spielberg zit. in Hertzberg: Theater of War. (Anm. 26). S. 32. Diese Äußerung ist in mehrfacher Hinsicht symptomatisch: Spielberg stellt sich somit explizit außerhalb “Hollywoods”, obwohl er selbstverständlich ein nicht unwesentlicher Teil “Hollywoods” ist; er definiert mit Saving Private Ryan also nicht nur das Genre Kriegsfilm neu, sondern orientiert auch gleich “Hollywood” an seiner eigenen Person und seinem Werk. 38 Spielberg in Rick Lyman: True to the Timeless Fact That War Is Hell. In: New York Times vom 19. 07. 1998. 39 “Ich fühlte mich verpflichtet, die Tapferkeit dieser Männer und das, was sie durchgemacht haben, zu ehren. [...] Im Krieg geht es nicht um Ruhm. Wir mußten ehrlich sein, um diesen Soldaten gerecht zu werden. Ich hätte keinem Veteranen mit einem weiteren Film, der den Zweiten Weltkrieg verherrlicht, einen Gefallen getan.” Spielberg in Cinema, “Wir mußten da durch” (Anm. 26). S. 134. Auch andere Crew-Mitglieder folgen dieser Intention: “Wir wußten, daß es da draußen Leute gibt, die irgendwelche Fehler sofort bemerken würden. Wir wollten alles richtig machen. Ich wollte alles richtig machen. Mein Vater war in der zweiten Welle bei der Invasion dabei. Das war meine Art der Huldigung an ihn.” Joanna Johnston, Kostümbildnerin, in Cinema, ebd.
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Diese Intention wird einerseits als durch das bisherige Fehlverhalten des Genres Kriegsfilm motiviert erklärt, andererseits aus der Bio- und Filmographie Spielbergs. Die häufige Erwähnung von Spielbergs Vater, Transportflieger in Burma während des Zweiten Weltkriegs,40 sowie von Spielbergs ‘Erstling’, eines mit Schulkameraden realisierten Super-8-Kriegsfilms, von dem die Öffentlichkeit bislang noch nichts vernommen hatte,41 legitimieren Spielbergs Intention persönlich. Als unmittelbarer Anlass kann alternativ auch folgende Erlebnisbeschreibung gesehen werden: 1972 war ich in Frankreich, um meinen Film ‘Duell’ zu promoten. An meinem ersten freien Tag setzte ich mich ins Auto und fuhr zum Omaha-Beach. [...] Ich sah etwas, das ich nie vergaß. Vor mir ging ein Mann mit seiner Familie. Beim Anblick all der Kreuze und Davidsterne begann er plötzlich, völlig unkontrolliert zu weinen. Er brach zusammen, und seine Familie mußte ihm wieder auf die Füße helfen. Die erste halbe Stunde des Films [sic!] ist genau das, was ich sah, als ich diesen Mann beobachtete.42
Auch hier wird der Bogen von den Anfängen Spielbergs mit Duel (USA 1971) bis zur Gegenwart geschlagen. Die “erste halbe Stunde des Films” ist entweder ein Übersetzungsfehler oder ein Hörversehen, da die entsprechende Sequenz ‘nur’ ca. fünf Minuten dauert – andernfalls hätte das ‘Genie’ Spielberg bereits damals mit dem Veteranen auf dem Kriegsgräberfeld zugleich auch dessen ‘reales’ historisches Schicksal imaginiert. Diese ‘Fakten’ geben in den Rezensionen den vorbestimmten Anlass, frühere Filme Spielbergs auf Krieg generell oder den Zweiten Weltkrieg im Besonderen zu beziehen, wobei die ‘Unzulänglichkeit’ der Behandlung des Themas in Spielbergs Oeuvre mit Ausnahme von Schindler’s List hervorgehoben wird.43 Saving Private Ryan steht somit am Ende einer konsequenten und widerspruchsfreien Entwicklung des Künstlers Spielberg seit seiner Kindheit, der, ‘getrieben’ von der biographisch motivierten Auseinandersetzung mit ‘Krieg’, nun zu einem, ähnlich wie bei Schindler’s List, ultimativen Abschluss für das Genre gekommen ist. Die ‘Ehrung’ des Vaters geht einher mit der ‘Ehrung’ aller US-Soldaten des Zweiten Weltkriegs, denen nun, zumeist postum, ‘Gerechtigkeit’ widerfahren soll. Auch hier ist damit 40
Siehe Hertzberg: Theater of War (Anm. 26). S. 32. Escape to Nowhere (USA 1961), vgl. Hertzberg: Theater of War (Anm. 26). S. 32. 42 Spielberg in Cinema, “Wir mußten da durch” (Anm. 26). S. 133. Notabene die politische correctness der Erwähnung von Kreuzen und Davidsternen, siehe dazu auch SJR (Anm. 25), Umschlaggestaltung innen. 43 So Hertzberg: Theater of War (Anm. 26). S. 32, oder bei Follath: Sankt Stevens großer Kreuzzug (Anm. 5). S. 214. Siehe auch Louis Menand: Jerry Don’t Surf. In: New York Review of Books vom 24. 09. 1998. S. 7-8. 41
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suggeriert, dass eine solche ‘Ehrung’ zuvor (in den USA) nicht stattgefunden hat oder eine Notwendigkeit besteht, diese ‘Ehrung’ von neuem vorzunehmen.44 Doch Spielberg rettet nicht nur den Soldaten des Zweiten Weltkriegs die Ehre, sondern – unter Hinweis auf Vietnamfilme wie Platoon (Oliver Stone, USA 1986), Hamburger Hill (Ted Kotcheff, USA 1987), Full Metal Jacket (Stanley Kubrick, GB 1987) oder Casualties of War (Brian de Palma, USA 1989) – auch den vielfach gescholtenen Vietnamveteranen, da er die desillusionierte Lesart des Krieges in diesen Filmen zur ‘authentischen’ erklärt und sie auf den Zweiten Weltkrieg, das heißt seinen eigenen Film, überträgt.45 Dass in diesem Kontext häufig auf Spielbergs Freundschaft mit dem Nicht-Kombattanten Bill Clinton hingewiesen wird (1998 von der Lewinsky-Affäre gebeutelt),46 mag erhellend, provokativ und natürlich in seinen Ursachen und Konsequenzen nur spekulativ sein. In diesem Sinne ist Saving Private Ryan ein Film, der sich schon im Marketing der Kriegs-/Antikriegsfilm-Dichotomie und ihrem Dilemma entzieht, indem er sie ignoriert. Bei Spielberg gilt, im Konsens mit der USÖffentlichkeit, der Zweite Weltkrieg als “The Big One” und “The Good War”,47 ein gerechter Krieg, in dem die Soldaten ihren ‘gerechten’ Job getan haben. Zum Niveau der Pazifismusdiskussion im Rahmen des Marketings lässt sich Tom Hanks beispielhaft anführen. Er erklärt in Cinema: “Als ich ein Kind war, sah ich Kriegsfilme wie Das dreckige Dutzend und Gesprengte Ketten. Abschließend gingen wir sofort raus und spielten unsere Version dieser Filme nach. Ich glaube nicht, dass die Kids rausgehen werden, um Der Soldat James Ryan zu spielen.”48
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“SPIEGEL: Sie lassen die amerikanische Flagge sehr demonstrativ am Anfang und am Ende Ihres Films wehen. / Spielberg: Das tue ich mit Absicht. Ich dachte, daß viele Zuschauer mit einem Neunziger-Jahre-Zynismus ins Kino kommen. Und ich hoffe, daß die Jüngeren am Ende die Stars and Stripes mit einem Respekt sehen, den sie so noch nie empfunden haben.” Spielberg: “Jeder Krieg ist obszön” (Anm. 23). S. 222. 45 Z. B. in Hertzberg: Theater of War (Anm. 26). S. 32f. Als Filme über den Zweiten Weltkrieg lässt Spielberg dagegen nur Propagandafilme gelten: “Spielberg credits wartime documentaries by filmmakers like John Huston and John Ford with giving him a sense of war as it really was.” Meacham: Caught in The Line of Fire (Anm. 29). S. 52. Gemeint sind The Battle of San Pietro (John Huston, USA 1944) und They Were Expendable (John Ford, USA 1945). Vgl. Ansen: Celluloid Soldiers (Anm. 1). S. 53. 46 So z. B. in Spielberg: “Jeder Krieg ist obszön” (Anm. 23). 47 Vgl. Wimmer: Soldat Ryan (Anm. 4) und Meacham: Caught in The Line of Fire (Anm. 29). S. 50. 48 Tom Hanks in Cinema. “Wir mußten da durch” (Anm. 26). S. 135.
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Auch diese Äußerung bezieht sich ausschließlich auf die Omaha-BeachSequenz, denn der zweite Teil des Films lässt sich durchaus ‘nachspielen’. Hanks sieht einen Antikriegseffekt lediglich in der Verhinderung von Imitation. Dies ist ebenso symptomatisch wie der Umstand, dass seine Äußerung quasi als Résumée den eindeutig dem Marketing zuzurechnenden Beitrag in Cinema abschließt. II.3 Novität Beide Präformationen suggerieren ex negativo Novität. Indem man ‘Realismus’ und ‘Ehrenrettung’ als Zielsetzung ausgibt, wird ihre vorherige Existenz im Genre Kriegsfilm und womöglich darüber hinaus in der (USamerikanischen) Gesellschaft generell geleugnet – bis zu Saving Private Ryan. Diese Präformationen schaffen zudem die Paradoxie, dass nur für einen Teil des Films, die Omaha-Beach-Sequenz, ‘Realismus’ behauptet wird, während die zweite Präformation nicht auf einen Teil des Films beschränkt wird. So ist es dem Rezipienten möglich, den ‘puren’ ‘Realismus’ zu goutieren, ohne die Ideologie, die sich wertfrei gibt, übernehmen zu müssen. Der ‘Realismus’ der Omaha-Beach-Sequenz bewegt sich laut Marketing intentional somit im ideologiefreien Raum, eben weil sie ‘Realismus’ anstrebt. Die im Produkt tatsächlich nachweisbare ästhetische Zweiteiligkeit des Films wird im Marketing nicht als Mangel begriffen und zugedeckt, sondern geradezu betont. Das Marketing ist somit zirkulär: Was es behauptet, erweist sich durch die Struktur, die den Film in genau diesen Teilen jeweils ideologisch auflädt, als zutreffend – und umgekehrt. Prinzipiell kann man dem Film nicht mehr widersprechen, weil er immer noch eine Argumentation als Rückzugsmöglichkeit und Hintertür bereit hält – eben die Omaha-Beach-Sequenz, deren ‘Realismus’ gegen die Ideologie der Intention gesetzt wird, aber zugleich in ihr begründet ist. Somit wird der Denkmalcharakter des Films, der bereits im Filmplakat offensichtlich ist,49 in doppelter Hinsicht manifest: explizit für den zweiten Teil und implizit für die Omaha-Beach-Sequenz.50 Doch ist dieser ‘Realismus’ selbst der Versuch, eine bestimmte Repräsentation des Krieges absolut zu setzen – und dies global. Ihre Synthetizität, die 49
Das Plakat zeigt in Untersicht einen im Gegenlicht stehenden GI in voller Ausrüstung auf einer Wiese vor einem Sonnenunter- oder -aufgang. Das Gesicht ist unkenntlich: der Unbekannte Soldat. Der Lauf des Gewehrs (keine Maschinenpistole) ist halb gesenkt, aber womöglich in einer Aufwärtsbewegung begriffen, jederzeit einsetzbar, ohne dabei bedrohlich zu wirken. 50 “I really feel that I made this movie as a memorial.” Spielberg zit. in Hertzberg: Theater of War (Anm. 26). S. 33.
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vom Marketing nicht geleugnet wird und deren Gewaltbild identisch ist mit dem von Nicht-Kriegsfilmen, wird dadurch gerechtfertigt, indem sie zur ‘Realität’ oder eingeschränkt zum authentischen ‘Abbild’ deklariert ist. Die Stoßrichtung dieser Repräsentation,51 die gemeinhin bislang als ‘militaristisch’ bezeichnet wurde, verdeutlicht letztlich jenes Detail, dass die Produktionsfirma Dreamworks ein ‘Geschenk’ verschickte: Es war eine dem Zweiten Weltkrieg nachempfundene Munitionskiste, darin ein Messer, ein ledergebundener Atlas, eine Feldflasche. Der Regisseur ließ dann zu Promotionszwecken noch speziell angefertigte silberne Militär-Erkennungsmarken versenden, so ähnliche, wie sie im Film – und in der Wirklichkeit – den toten Soldaten abgenommen wurden.52
Die – womöglich unfreiwillige – Symbolik dieses ‘Geschenks’ ist symptomatisch, ebenso wie der Umstand, dass in allen mir zugänglichen Rezeptionsdokumenten lediglich der Spiegel über diese ‘Marginalie’ berichtete.
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Das Bild des Krieges in Saving Private Ryan / Omaha-Beach-Sequenz ist weitgehend identisch mit dem Bild des Krieges, wie es in der deutschen nationalistischen Literatur zum Ersten Weltkrieg propagiert wurde. Es behauptet zunächst eine Tendenzlosigkeit der Schlacht und ihrer Repräsentation. Die in den Präformationen dem Bild des Krieges zugewiesenen Konnotationen wie ‘Grausamkeit’, physisches und psychisches ‘Leiden’, ‘Zufall’, ‘Überwindung der Angst’ als Auszeichnung und als Indiz / Initiation der Gruppenzugehörigkeit, ‘Ehre’ (durch bloße Teilnahme am Frontkrieg) und schließlich ‘Katharsis’, in Saving Private Ryan im “Earn it” am Schluss der zweiten Schlachtsequenz, sind weitgehend identisch mit denen in Ernst Jüngers In Stahlgewittern, Werner Beumelburgs Gruppe Bosemüller und anderen Texten der so genannten ‘konservativen Revolution’. Die ideologische Aufladung des ‘Fronterlebnisses’ in diesen Texten als Geburtsstätte einer neuen ‘Nation’ erfolgt in Spielbergs Film über die eingeforderte “Ehrung” der Veteranen. Ich verzichte an dieser Stelle auf die Auflistung der entsprechenden Forschungsliteratur von Bernd Hüppauf, Bernd Ulrich / Benjamin Ziemann, Karl Prümm und anderen zur deutschsprachigen Literatur zum Ersten Weltkrieg. In diesem Zusammenhang sehr aufschlussreich jüngst die Beiträge in: Der verlorene Frieden. Politik und Kriegskultur nach 1918. Hg. von Jost Dülffer und Gerd Krumeich. Essen 2002. 52 Follath: Sankt Stevens großer Kreuzzug (Anm. 5). S. 218.
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II.4 Exkurs: Anmerkungen zur Struktur und Intention der Omaha-Beach-Sequenz Die rund 23-minütige Omaha-Beach-Sequenz in Saving Private Ryan ist durch mehrfache Rahmensetzungen eingebettet und spiegelt diese intern. Die in der Rezeption angenommene und betonte ästhetische Differenz zum Rest des Filmes wird so tendenziell aufgehoben. Der gesamte Film verfügt über einen dreifachen strukturellen Rahmen: Zunächst die Einblendung der Stars and Stripes zu Beginn und vor dem Abspann, dann die Sequenzen mit dem Rentner Ryan auf dem SoldatenFriedhof in der Normandie und schließlich hierin eingebettet die ‘eigentliche’ Handlung des Films, die jeweils mit einer ca. 20-minütigen Schlacht-
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sequenz (Omaha-Beach und Normandiestädtchen) beginnt und endet. Auf der Diskursebene des Films fungiert die Sequenz einerseits als Grundlage und Voraussetzung des Fortgangs der Handlung; andererseits generiert sie die Affektionen des Leidens und Mitleidens, dem zum Ende des Filmes die Katharsis und Erlösung folgt. Ryan überlebt in der zweiten Schlachtsequenz, erfüllt damit die Mission Millers und seiner Gruppe und stiftet Sinn für das gebrachte Opfer durch das eigene ‘gute’ Leben nach Kriegsende, wie seine Frau verbürgt.
Die Omaha-Beach-Sequenz wird bezeichnenderweise durch eine Irreführung des Zuschauers an die vorangehenden zwei Rahmen angebunden: Die erste Sequenz auf dem Soldaten-Friedhof endet mit einem Close-up auf die Augen des (noch) namenlosen Veteranen; es folgt ein Umschnitt auf die Panzersperren am Strand mit einem Insert, das Ort und Zeit der Handlung festlegt, weiteren Umschnitten auf die anfahrenden LGs (zwei Einstellungen) und dem hier finalen Umschnitt auf die zitternden Hände eines Soldaten im LG, die eine Feldflasche halten. Die Hände werden zum Mund geführt, und das Gesicht von Tom Hanks wird sichtbar. Tom Hanks ist nun der (zum Produktionszeitpunkt) einzige ‘Star’ im Filmensemble, sodass der Zuschauer annehmen muss, 1. bei Tom Hanks handele es sich um die titelgebende Hauptperson des Films und 2., aufgrund seiner Seh-Erfahrungen mit vergleichbaren Umschnitten und Diskursführungen, die nun folgende Handlung repräsentiere die Erinnerungen des Veteranen. Doch erst nach Ende der Omaha-Beach-Sequenz, nach ca. 30 Minuten, wird erklärt, dass es sich bei Tom Hanks um Captain Miller handelt; nach ca. 2/3 des Films erst wird die titelgebende Figur ‘gefunden’, erst jetzt decken sich die – fiktiven – Erinnerungen des Veteranen Ryan mit der Filmhandlung.
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Da zwei Drittel der Filmhandlung nicht mit den Erfahrungen Ryans identisch sind, demnach kein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Friedhof-Sequenz und Omaha-Beach besteht, lassen sich retrospektiv die durch Close-up und Umschnitt angedeuteten Erinnerungen des Veteranen Ryan nur als kollektives Gedächtnis und kollektive Erfahrung interpretieren. Der Film abstrahiert durch diese Vorgehensweise von dem Einzelschicksal Ryan und dem Einzelereignis D-day auf das Kollektiv aller am Zweiten Weltkrieg beteiligten US-amerikanischen Soldaten. Strukturell schließt der scheinbare Fehler des Umschnitts die Omaha-Beach-Sequenz an den Anfang des Films an, diskursiv formuliert er einen Allgemeingültigkeitsanspruch. Struktur und Diskurs der Omaha-Beach-Sequenz spiegeln diese Merkmale des gesamten Films in mehrfacher Hinsicht. Auch die Sequenz besitzt mindestens zwei Rahmen: Der erste Rahmen etabliert ein Vorher / nachherSchema durch die Definition des Ortes und der Zeit über die Panzersperren am Strand. Die Sequenz endet mit drei Einstellungen auf tote GIs am Strand zwischen den Panzersperren sowie einer 40-sekündigen Fahrt auf einen dieser GIs, der auf seinem Tornister den Namen Ryan trägt. Erneut wird hier der Zuschauer verwirrt, bevor er in der nächsten Bürosequenz darüber aufgeklärt wird, dass es sich hier um einen von insgesamt vier RyanBrüdern gehandelt hat. Für den Zuschauer ist in diesen wenigen Sekunden der Titel des Films, Saving Private Ryan, ad absurdum geführt; auf der Basis dieser (letzten) Einstellung des großen Sterbens gibt es nichts mehr zu retten: Ryan ist bereits tot. Der zweite Rahmen kennzeichnet nicht Zeit und Ort (nach dem Abschluss des ersten Rahmens kehrt der Film nicht mehr direkt an den Strand zurück), sondern charakterisiert die Hauptfigur der Sequenz und letztlich des gesamten Films: Capt. Miller. Seine zitternden Hände, die eine Feldflasche halten, sie zum Mund führen und so ein Portrait in extremer Nahaufnahme ermöglichen, erscheinen sowohl zu Beginn der Sequenz, im anfahrenden LG, als auch am Ende der Sequenz, nach der Eroberung des Strandes und unmittelbar vor den Einstellungen mit den toten GIs am Strand. Doch hat die zweite Einstellung einen retrospektiven Aspekt: Sie endet mit einem Close-up auf Hanks’ Augen und verweist damit doppelt auf den Beginn der Sequenz. Die Einstellung schließt den Rahmen und weist weiter zurück auf den Close-up auf die Augen des Veteranen auf dem Friedhof – die Irreführung des Zuschauers wird verstärkt, und sofort danach folgt die Irritation durch den von den Wellen an den Strand gespülten, toten Ryan, womit die zuvor ‘zusammengeführten’ Figuren wieder differenziert werden: Der Allgemeingültigkeitsanspruch des Films wird exemplarisch auf ein Einzelschicksal übertragen.
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Die von diesen zwei Rahmen markierte Omaha-Beach-Sequenz besteht aus 197 Einstellungen; bei einer Gesamtdauer von 23’04’’ bedeutet dies alle 7 Sekunden eine neue Einstellung. Werden die 12 längeren Einstellungen (über 20 Sekunden) abgerechnet, ergibt sich ein Einstellungswechsel alle 5,3 Sekunden. Vielleicht hat dies bei vielen Rezensenten und Zuschauern zu dem Eindruck geführt, einem Chaos beizuwohnen, das kaum Orientierung zulässt. Doch pendelt die Sequenz geschickt zwischen Irritation und einer streng linearen Konstruktion, die eine übergeordnete Geschichte beinhaltet, der mehrere ebenfalls lineare Geschichten untergeordnet sind. Die Sequenz ist keinesfalls unstrukturiert oder gar chaotisch; dieser Effekt wird vielmehr durch schockartige Irritationen erzielt,53 die mit Fortgang der Sequenz zurückgenommen werden. Da diese ‘Beruhigung’ der Sequenz einhergeht mit der Erfüllung der ‘Mission’ – der Eroberung des Strandes – wird somit zugleich suggeriert, dass ein erfolgreicher Kampf in der Lage ist, das Chaos zu überwinden. Auf die ideologischen Konsequenzen dieses Vorgehens möchte ich an dieser Stelle nicht näher eingehen. 53
Vor allem durch die Akkumulation von detailliert gezeigten Verwundungs- und Todesarten, die jedoch jeweils nur in sehr kurzen Einstellungen von maximal fünf Sekunden Dauer vermittelt werden: z. B. ein ertrinkender GI; ein durch eine Explosion in die Luft geworfener GI; ein verwundeter GI, der durch eine Explosion in zwei Stücke gerissen wird; ein Offizier, der nach seinem abgerissenen Arm sucht und ihn findet; eine Flammenwerfereinheit, die durch einen Schuss in den Napalmbehälter in Brand gesetzt wird; ein GI, dessen Gedärme aus einer Wunde quellen und der nach seiner Mutter ruft; ein von Sanitätern versorgter Verwundeter, der durch Kugeln getötet wird; ein GI, dem durch einen Granatsplitter das Gesicht weggeschossen wurde; ein GI, den zunächst sein Helm rettet, der jedoch Sekunden später bei der Betrachtung seines Helmes durch einen Kopfschuss getötet wird; etc. Im weiteren Verlauf des Films wird auf amerikanischer Seite ausschließlich und ausführlich das Sterben der Mitglieder der Gruppe Millers gezeigt, auf deutscher Seite ein im Verhältnis zur Omaha-Beach-Sequenz ‘sauberes’, schnelles Sterben.
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Auf – zugestanden – brillante Art und Weise stürzt die Sequenz den Zuschauer zunächst ins Chaos, um ihn dann nahezu ‘heimisch’ werden zu lassen an Omaha-Beach. Bereits im LG werden sämtliche Mitglieder des späteren Ryan-Suchtrupps eingeführt (mit Ausnahme des Übersetzers Upham), allerdings eingebettet in eine Reihe von weiteren GI-Portraits. Deutlich wird jedoch in Einstellung 6 und 7 die Kommandostruktur: Zunächst Miller befehlend, dann Sergeant Horvath, der den Befehl wörtlich wiederholt. Es folgt die Portrait-Galerie der GIs, die mit dem das Kreuz küssenden Jackson endet (Einstellung 14). Natürlich kennt der Zuschauer zu diesem Zeitpunkt keinen der portraitierten, aber zumindest Miller, sein Untergebener Sergeant Horvath sowie (der noch namenlose) Jackson werden eindeutig typisiert oder mit Attributen versehen. Bislang hat die Kamera mit Ausnahme der 3 Eingangseinstellungen, die den Ort und das Transportmittel definierten, das LG nicht verlassen. In den folgenden 6 Einstellungen resp. 15 Sekunden bricht das Chaos aus: Die Landungsklappe wird geöffnet und ungezählte GIs sterben im Kugelhagel eines Feindes, der bislang nicht sichtbar war, obwohl die Einstellungen sowohl die Perspektive innerhalb als auch außerhalb des LG (allerdings aus dem sicheren Wasser in Untersicht) einnehmen. Die 7. und letzte Einstellung (6 Sekunden) dieser Minisequenz ‘erlöst’ zwar den Zuschauer, jedoch nicht die GIs: Unerwartet (und gemäß Nachfragen unter Zuschauern auch unbemerkt) wechselt die Perspektive des Films und nimmt die Sicht der deutschen Gegner ein. War der Zuschauer noch Sekunden zuvor ein ‘Schlachtopfer’ im LG, so sitzt er jetzt hinter einem deutschen MG und feuert auf das LG. Er ist nun orientiert: Die ‘Gegner’ befinden sich in einer erhöhten Position, sie haben freies Blick- und Schussfeld auf den Strand (mit den Panzersperren). Diese Einstellung wird im Verlauf der Sequenz noch fünfmal wiederholt. So wird es dem Zuschauer ermöglicht, den Geländegewinn der amerikanischen Soldaten am Strand zu definieren: Er steht gewissermaßen auf dem Feldherrnhügel. Bezeichnenderweise ist es diese ‘deutsche’ Perspektive, die zu Beginn einer langen Einstellung – 51’’, gegen Ende der Sequenz – den Sieg der amerikanischen Truppen markiert. Die Einstellung beginnt mit dem vorigen Blick über den nun von toten GIs übersäten Strand, um dann ohne Schnitt zur ‘Ausräucherung’ des eroberten Bunkers mit Handgranaten und Flammenwerfer zu schwenken. So zeigt der Film nicht nur auf der narrativen, sondern auch auf der filmtechnischen Ebene den Erfolg der Landungstruppen. Doch zurück zum Eingangschaos: Nach der ‘deutschen’ Perspektive schneidet der Film wieder zurück in das LG zu einem Portrait Millers / Hanks, der das Schlachten demnach überlebt hat. Aus seiner Sicht, dem ersten Einsatz einer subjektiven Kamera, sieht der Zuschauer nun die entgegengesetzte Perspektive – den Blick aus dem LG auf den Bunker auf der
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Anhöhe des Strandes. Damit ist das Schlachtfeld für den Zuschauer in doppelter Hinsicht abgegrenzt und zugleich das Geschehen auf ein Duell reduziert: amerikanische LG-Mannschaft gegen deutschen Bunker. Und trotz aller Abweichungen und Abschweifungen wird in der Sequenz nichts anderes erzählt als die Eroberung des Bunkers durch die in den Eingangseinstellungen im LG ‘bekannt’ gemachten individuellen GIs. Doch nun folgt die erste gezielt manipulierende, jedoch von den meisten Zuschauern nur unterbewusst (?) registrierte Irritation: Die subjektive Kamera (also Hanks / Miller) stürzt zunächst, da der Weg über die Landungsklappe durch Tote und feindliches Feuer versperrt ist, über die rechte Wand des LGs und ins Wasser – es folgt ein nicht eine Sekunde anhaltender Black. Die nächste Einstellung: gleiche Perspektive, Sturz über die linke Wand des LG ins Wasser, kein Black, dafür unter Wasser sterbende, ertrinkende, erschossene GIs. Die erste Einstellung mit dem Sprung über die rechte Wand ist ein dead end im wahrsten Sinne des Wortes: Die durch die subjektive Kamera repräsentierte Person, die zugleich das Auge des Zuschauers ist, stirbt. Die Geschichte wird zurückgespult, zurück in das LG und mit einer anderen Option (linke Wand) fortgesetzt. Vielleicht mag dies einer jener Schocks gewesen sein, der tatsächlich physisches Unbehagen beim Zuschauer auslöste, nämlich ihn mit seinem eigenen Tod zu konfrontieren, auch wenn dies nur 5 Sekunden dauert: ein in der Filmgeschichte ausgesprochen seltenes Vorgehen. Eingeschoben wird nun eine jener Kleinstgeschichten, die im Verlauf der Sequenz häufig strukturierend wirken. Die (subjektive) Kamera befindet sich unter Wasser, drei orientierungslose Einstellungen, ehe eine (!) Kugel durch ihren Einschlagwinkel ins Wasser (von rechts oben) Orientierung ermöglicht. Es folgt eine Schachtelstruktur: ein offensichtlich wegen seiner schweren Ausrüstung ertrinkender GI, erneut mehrere (!) von rechts oben einschlagende Kugeln, GIs und schließlich der nun ertrunken nach unten sinkende GI, danach GIs, die unter Wasser dem Strand zulaufen über die am Meeresboden liegenden Körper hinweg. Die nun folgende Einstellung schließt für 11 Sekunden an den Sprung über die Wand des LGs an, indem sie zwischen über und unter Wasser pendelt und das Ziel – den Bunker – erkennen lässt; die Phase der Orientierungslosigkeit ist vorüber. Diese vielleicht marginal erscheinende Kleinsequenz ist in der Hinsicht für den weiteren Verlauf der gesamten Sequenz von Bedeutung, als die einschlagenden Kugeln das Schlachtfeld erneut strukturieren und zwar in Relation zum Standort der Kamera: Bis zur Eroberung des Bunkers wird die Kamera entweder den Bunker in einem 0°-Winkel im Auge haben oder aber den Vormarsch der GIs von der rechten Seite filmen. Die ‘positive’ Bewegung im Bild ist demnach in der Sequenz eine von links nach rechts oder von hinten nach vorne; Gegenbewegungen signalisieren ‘feindliche’ Aktio-
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nen oder ein Nachlassen der Motivation.54 Ein zentrales Beispiel hierfür sind die Einstellungen 71-78: Der verwundete Soldat (laut Cast: Lieutenant) Briggs ruft Miller um Hilfe, Miller kriecht zurück (von rechts nach links), um Briggs zu helfen, ein Offizier erscheint und fordert Miller zum Vormarsch auf, Miller gehorcht und wendet sich um. Doch in der Diskurssprache des Films kann Miller sich nicht dafür entscheiden, dem Befehl bedingungslos zu gehorchen und Briggs dort liegen zu lassen, wo er ist, sondern er wählt den Kompromiss, geht vor (links nach rechts) und zieht den Verwundeten mit sich; es folgt jene Explosion, nach der Miller nur noch den halbierten Körper Briggs’ hinter sich her schleift; danach schließt unmittelbar die zweite Slow-motion Mini-Sequenz mit gedämpftem Ton an, die jedoch, anders als die erste, lediglich 22’’ dauert und von einer Einstellung 54
Ein ähnlich starres Bewegungsmuster verwendete Lewis Milestone in der berühmten Schlachtsequenz seiner Verfilmung von Remarques Im Westen nichts Neues (All Quiet on the Western Front, USA 1930): Totale Aufnahmen des Schlachtfeldes zwischen den Gräben zeigen die zunächst angreifenden französischen Soldaten stets in einer Bewegung von links nach rechts. Zwischengeschnitten sind Kamerafahrten über den deutschen Graben von vorne nach hinten sowie Nahaufnahmen der Protagonisten, die dem von links kommenden Angriff entgegensehen. Die ‘französische’ Bewegung links-rechts wird selbst in den Kamerafahrten wiederholt, die aus der Kamera-Position hinter den deutschen Maschinengewehren im Graben das massenweise Abschießen der französischen Angreifer zeigen. Die Umkehr in der Kampfhandlung wird durch eine Serie von Granatexplosionen markiert, die von hinten nach vorne auf die im rechten Winkel zur Angriffsbewegung stehende Kamera zulaufen. Es folgt die – zeitlich halbierte – Wiederholung der zuvor gezeigten Kampfhandlungen, wobei die nun angreifenden Deutschen sich von rechts nach links im Bild bewegen und auch von den französischen Maschinengewehren in einer rechts-links Kamerafahrt abgeschossen werden. Darüber hinaus ist auch diese Sequenz durch einen – allerdings inhaltlichen – Rahmen strukturiert: Vor Beginn des französischen Angriffs beschäftigen sich die deutschen Soldaten im Unterstand ausschließlich mit dem Problem der Ernährung. Die Sequenz endet im deutschen Graben mit dem Verzehr der in den französischen Gräben erbeuteten Nahrungsmittel (Brot und Cognac). Ein weiteres inhaltliches Moment ist die Parallelität der Tötung von Ratten durch Spatenhiebe im Unterstand vor dem französischen Angriff und dem Töten französischer Angreifer durch Spatenhiebe im Grabennahkampf. Die Sequenz vermittelt über die visuelle Strukturierung des Kampfgeschehens hinaus somit zwei Aussagen: 1. Angriff und Gegenangriff werden um Nahrungsmittel und nicht um Geländegewinn geführt (auf deutscher Seite); 2. Es besteht kein Unterschied zwischen der Tötung von Ratten und Menschen. Vgl. Hans Beller: Gegen den Krieg: Im Westen nichts Neues (All Quiet on the Western Front, 1929). In: Fischer Filmgeschichte. Band 2: Der Film als gesellschaftliche Kraft 1925–1944. Hg. von Werner Faulstich und Helmut Korte. Frankfurt/M. 1991. S. 110-129, hier S. 117f. Spielberg hat sich bei der visuellen Strukturierung einer Kampfhandlung durch die eindeutige Definition und Zuordnung von Bewegungen im Bild zu den jeweiligen Truppen von Milestones Film zumindest inspirieren lassen.
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mit subjektiver Kamera abgelöst wird, in der Miller hinter einem Flammenwerfertrupp hinterherläuft und sein Atem die Kampfgeräusche übertönt. Miller hat sich durch Briggs von seinem Auftrag ablenken lassen, er fällt damit aus dem filmischen Bewegungsmuster heraus und verliert anschließend beinahe die Orientierung. Hat er sie wieder, sind auch die Zuschauer wieder hautnah dabei. Dies korrespondiert mit der ersten Slow-motion Mini-Sequenz (Einstellung 44-54; Länge 1’02’’), welche ebenfalls Millers Desorientierung demonstriert, die von einem durch eine Explosion zerrissenen GI ausgelöst wird. Auch hier distanziert sich die Kamera, insgesamt vier dieser Einstellungen sind halbnahe Portraits Millers, der durch die Explosion seinen Helm verloren hat, eine fünfte Einstellung zeigt Miller halbtotal von der Seite, im Hintergrund ein in Flammen aufgehender LG, aus dem brennende GIs stürzen. Auch hier ist der Ton dumpf, die Kampfgeräusche ‘verschwommen’. Die Desorientierung endet in zwei Schritten: zunächst mit dem Aufsetzen des Helms und dann endgültig mit einem GI, der Miller nach Befehlen (!) fragt. Miller erinnert sich seiner Mission, und es folgt unmittelbar ein Dialog zwischen Captain und Sergeant Horvath über das weitere Vorgehen. In beiden Mini-Sequenzen, in denen das Erlebte den Soldaten funktionsunfähig zu machen droht, fungiert das Militärische als Rettung. Der Auftrag hat lebenserhaltende Funktion, und so spiegelt sich der ideologische Diskurs des gesamten Films in diesen Mini-Sequenzen.55 Mit dem Erreichen der direkt unterhalb des Bunkers gelegenen flachen Düne durch Miller beginnt die konkrete Erfüllung der Mission, die durch keine ‘Abschweifungen’ mehr unterbrochen wird. Hier erfährt der Zuschauer auch die Namen sämtlicher Mitglieder der Gruppe von Miller, wobei 55
Auch hier besteht eine Parallele zu All Quiet on the Western Front, allerdings mit divergenten ideologischen Implikationen: In Milestones Film hockt der als klassischer Kasernenhofschinder eingeführte Unteroffizier Himmelstoß während eines Angriffs leicht verwundet in einem Granattrichter und verweigert das weitere Vorgehen. Erst durch den Befehl eines Offiziers wird er aus seiner Verweigerungshaltung gerissen und stürmt nun, stets den Befehl „Vorwärts“ wiederholend und keine Deckung suchend, über das Schlachtfeld: ein durch das militärische BefehlGehorsam-Denken zum Automaten Mutierter. Dies wiederum korrespondiert mit einer Textstelle in Im Westen nichts Neues: “Oh, dieses Umwenden! Man hat die schützenden Reservestellungen erreicht, man möchte hindurchkriechen, verschwinden; – und muss sich umdrehen und wieder in das Grauen hinein. Wären wir keine Automaten in diesem Augenblick, wir blieben liegen, erschöpft, willenlos. Aber wir werden wieder mit vorwärts gezogen, willenlos und doch wahnsinnig wild und wütend, wir wollen töten, denn das dort sind unsere Todfeinde jetzt, ihre Gewehre und Granaten sind gegen uns gerichtet, vernichten wir sie nicht, dann vernichten sie uns!” Erich Maria Remarque: Im Westen nichts Neues. Berlin 1929. S. 118.
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bereits hier Private Reiben (der später die offene Konfrontation suchen wird) als renitent charakterisiert wird. Die Situation wird durch Miller und die Soldaten klar analysiert, die Lösung des Problems in einer rechts vom Bunker liegenden deutschen MG-Stellung erkannt. Die Positionierung des MGs rechts vom Bunker erlaubt es dabei dem Regisseur, auch die weiteren Bewegungen im Bild stets von links nach rechts zu strukturieren. Die Eroberung des gesamten Strandes wird hier nun strategisch auf die Vernichtung der MG-Stellung reduziert – die Vernichtung der MG-Stellung wiederum auf die Tat eines einzelnen Soldaten. Die zu Beginn der Sequenz behauptete Deindividualisierung wird hier nun vollständig negiert und in ihr Gegenteil verkehrt. Es ist der Scharfschütze Private Jackson, der als einziger in der Lage ist, aufgrund seiner Fähigkeiten die MG-Stellung zu vernichten. Wie bereits erwähnt, gehörte nur Jackson, neben Miller und Sergeant Horvath, zu den eindeutig individualisierten GIs im LG, hier durch das Küssen des Kreuzes. Dieses Attribut wird nun durch eine rasche Schnittfolge zu einem Ideologem aufgebaut. Nachdem Jackson eine günstige Schussposition erreicht hat, folgen sieben kurze Einstellungen (153-159; insgesamt 33’’), wobei das Bewegungsschema eingehalten wird (Jackson schießt von links nach rechts): 1. Nahaufnahme des zielenden Jackson; 2. Detailaufnahme des Gewehrabzuges; 3. getroffener deutscher Soldat in der MGStellung; 4. einem Verwundeten die Absolution erteilender Priester am Strand; 5. betender GI am Strand; 6. extreme Nahaufnahme des Mundes des betenden Jackson und der Schuss; 7. Treffer in der MG-Stellung und deren Zusammenbruch. Religiosität liefert die (zynische) Legitimation für die Tötung der deutschen Soldaten, wobei die Absolution des Priesters präventiv auf Jackson zu übertragen ist; zugleich entsteht der Eindruck, als würden sowohl der Priester als auch der einzelne GI für den Erfolg von Jacksons Schuss die Unterstützung Gottes suchen; und da der Schuss ‘erfolgreich’ ist, wurde die Unterstützung offensichtlich gewährt. Retrospektiv erscheint das Küssen des Kreuzes durch Jackson im LG nun nicht mehr als allgemeine Bitte um Unterstützung, sondern, da der ‘Erfolg’ des gesamten Geschehens am Strand auf ihn als Individuum, resp. einen einzigen Schuss von Jackson reduziert wird, als Bitte um göttliche Unterstützung für den Erfolg der Mission. Gott ist auf der Seite der amerikanischen Truppen. Entgegen den Behauptungen, die Omaha-Beach-Sequenz würde die “Realität” des Krieges abbilden, erscheint die Sequenz aufgrund einer hier nur angedeuteten Mikroanalyse56 der ästhetischen Mittel als mit ideologischen 56
Auf eine Analyse der folgenden Einstellungen (Steilküste) nach Eroberung des Bunkers soll hier verzichtet werden. Hinzuweisen wäre beispielsweise auf die
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Inhalten extrem aufgeladen: Sie propagiert eindeutig militärisches Denken; sie vermittelt letztlich ein extrem konservatives Kriegsbild durch die Reduktion von Erfolg oder Misserfolg von militärischen Aktionen auf die Fähigkeiten eines Einzelnen und eine einzelne Tat; sie definiert klar und eindeutig die Präferenzen bzw. die ‘Parteilichkeit’ einer übergeordneten, metaphysischen Instanz und erklärt damit den gezeigten Krieg zu einem im wahrsten Sinne des Wortes ‘abgesegneten’, ‘gerechten’ Krieg. Für den Rest des Filmes sind diese Ideologeme durch die Kritik eindeutig identifiziert worden, und es scheint auch nicht die Intention des Regisseurs gewesen zu sein, diese dort zu verdecken. Für die Omaha-Beach-Sequenz jedoch wird der Anspruch erhoben, die ‘Realität’ des Krieges abzubilden, und sämtliche filmtechnischen Mittel werden auf einer ersten Ebene diesem Anspruch untergeordnet. Auf der Meta-Ebene operiert der Film jedoch mit filmtechnischen und -ästhetischen Mitteln, um die ‘Realität’ zu strukturieren, um Desorientierung und Orientierung in stetem Wechsel zu erzeugen und um schließlich bei einer zutiefst konventionellen Erzählung zu enden, die auf ein klassisches Duell reduziert wird. Kurz: Auch die Omaha-BeachSequenz entspricht damit, entgegen allen anders lautenden Behauptungen, der konventionellen Struktur von Propaganda. III. Rezeption in den USA und Deutschland bis zur Kino-Zweitverwertung 1999 Sofern die US-amerikanische Rezeption den Präformationen des Marketings nicht widerspruchslos folgt, bleibt sie innerhalb des von ihnen gesteckten Rahmens. Das Gegenbild des “John-Wayne-Kriegsfilms”, wie er paradigmatisch ausgerechnet in der multinationalen Produktion The Longest Day (Darryl Zanuck et al., USA, Frankreich, Deutschland 1961) erblickt wird,57 in dem John Wayne nur eine kleinere Rolle spielt, ist abgesteckt und wird
filmästhetische Entschuldigung der Ermordung sich ergebender deutscher Soldaten (die tschechisch sprechen!) durch die Zuweisung der ‘negativen’ Bewegung für die verantwortlichen GIs (Einstellung 182-186); ebenso wird das Plündern der Leichen mit der ‘negativen’ Bewegung klassifiziert, wobei das hier von Carpazo ‘erbeutete’ Messer, der es an Mellish weiterreicht, in der zweiten Schlachtsequenz jenes Messer sein wird, mit dem Mellish von einem SS-Mann erstochen wird. Zwischen diese beiden Szenen geschnitten ist ein Portrait Millers, das exakt denen vor den zwei Slow-motion Mini-Sequenzen entspricht; doch an dieser Stelle verliert Miller nicht die Kontrolle (demnach ist die Ermordung der deutschen Soldaten also eine ‘ertragbare’ Grausamkeit), sondern der Rahmen der zitternden Hände wird geschlossen. Krieg ist schließlich Krieg. 57 Siehe Ansen: Celluloid Soldiers (Anm. 1). S. 52.
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bestätigt. Erwähnt als paradigmatisch für das Genre wird auch58 The Sands of Iwo Jima (Allan Dwan, USA 1949) mit John Wayne in der Hauptrolle. Mitgemeint ist vermutlich der von John Wayne selbst realisierte Film The Green Berets (John Wayne / Ray Kellogg, USA 1967), womit zum einen der Bezug zum Vietnamkriegs-Trauma hergestellt und andererseits die Dichotomie zwischen als ‘realistisch’ deklarierten Vietnamkriegsfilmen wie Platoon (siehe oben) und der vormals ‘patriotischen’ (John-Wayne-) Lesart implizit wiederholt wird. Kritisiert und als Gegenbild definiert wird zudem die Gewaltdarstellung in den Filmen von Sam Peckinpah, insbesondere die Slow-motion. Spielberg dagegen habe das Genre sozusagen neu erfunden oder – insbesondere in Bezug auf die Omaha-Beach-Sequenz – zumindest zu neuen Ufern geführt. Zudem sei es ihm gelungen, die Darstellung der Gewalt ihres Voyeurismus zu entkleiden.59 Der Einsatz modernster Filmtechniken zur synthetischen Erzeugung von ‘Realismus’ wird hervorgehoben, die Paradoxie dieses Vorgehens im Begriff des ‘Authentischen’ jedoch aufgehoben. Der Zuschauer werde emotional in den Film hineingezogen und spüre das Ausgeliefertsein des Einzelnen. I was practically standing on my seat and yelling at Tom Hanks to kill more Germans, and then, when he had finished killing Germans, to kill more Germans. If anything, the heroism in Saving Private Ryan is all the more startling for not being rigged or haloed; it seems to bloom out of the shapeless dreck of fighting like a madman for your life.60
Mit Spielberg sei das im Grunde ‘tote’ Genre Kriegsfilm so wiedererweckt worden. Einzig die Frage der Darstellung der Gewalt und ihres (behaupteten) Faszinosums ist noch Thema der Diskussion, die jedoch in diesem Punkt vom Gegenstand abstrahiert und zur generellen Frage übergeht, ob Gewalt in Kriegsfilmen überhaupt zum ‘Realismus’ beitrage.61 Wenn ein58
Vgl. Hertzberg: Theater of War (Anm. 26). S. 31. Siehe auch James Wolcott: Tanks for the Memories. In: Vogue (August 1998). S. 70-78, hier S. 78. 59 So Janet Maslin: By Being Honest About Violence, Spielberg Wins. In: New York Times vom 02. 08. 1998. Obwohl Spielberg gleiche Gewaltmotive verwende wie z. B. Starship Troopers (Paul Verhoeven, USA 1997) oder Armageddon (Michael Bay, USA 1998), seien diese wegen ihres ‘Realismus’ akzeptabel: “Saving Private Ryan opens a window onto real men in real turmoil and leaves us sharing every nuance of their experience.” Hier hat Janet Maslin, kein Einzelfall, offenbar Realität und Film verwechselt. 60 Anthony Lane: Soldiering On. In: New Yorker vom 03. 08. 1998. S. 77-79, hier S. 79. Kritisch zu diesem Aspekt Vincent Canby: Saving a Nation’s Pride of Being. The Horror and Honor of a Good War. In: New York Times vom 10. 08. 1998. 61 So z. B. Andrew M. Greeley: Gratuitous violence in Saving Private Ryan. StarLodger (Newark, N. J.) vom 23. 08. 1998.
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zelne Veteranen (sowohl des Zweiten Weltkriegs als auch des Vietnamkrieges) ihre persönliche Antwort auf diese Frage radikal dahingehend beantworten, ‘Realismus’ im Kino sei eine explodierende Handgranate im Zuschauerraum,62 so treffen sie zwar immerhin den Kern der Ideologie, die hinter Spielbergs Intention steckt: Manipulativ zu behaupten, Krieg sei prinzipiell abbildbar, es bedürfe nur entsprechend ausgereifter technischer Mittel. Doch diese ‘Angry Voices’ – deren ‘Lösungen’, so sei angemerkt, wiederum im Diskurs stehen, weil sie den Endpunkt Spielbergscher Anstrengungen markieren – bilden die Ausnahme in einer Rezeption, die sich zunehmend einerseits der Intention anschließt, den US-Veteranen des Zweiten Weltkriegs ihre vorenthaltene Ehre im Andenken zurückzugeben, andererseits diskursintern gegen den ‘Realismus’-Anspruch polemisiert, indem ein an historischen ‘Fakten’ orientiertes Gegenbild entworfen wird.63 So werden den Nicht-Omaha-Beach-Teilen von Saving Private Ryan historische Fehler nachgewiesen, obwohl hierfür ‘Realismus’ nie behauptet worden ist.64 Eine andere Definition von ‘Realismus’, die allerdings der traditionellen Dichotomie von Faktizität und Authentizität folgt, eröffnet James Bowman noch kurz vor der Oscar-Verleihung: Like too many other Hollywood writers and directors, he [Spielberg] will spend millions in order to make an explosion look real while assuming that no one will notice or care about even the most glaring historical phoniness about the way people thought. Yet it is this kind of historical truth – the truth of mind and feeling, not mere factual accuracy – that both historians and critics should always insist upon.65
Dieser Forderung nachzukommen, ist wohl prinzipiell nicht möglich, da geeignete mediale Repräsentationen nicht zur Verfügung standen und
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So William D. Ehrhard, zitiert bei Wimmer: Soldat Ryan (Anm. 4). Michael Marino: Bloody But Not History: What’s Wrong with Saving Private Ryan. In: Film & History, www.h-net.msu.edu/~filmhis. Marino kommt dennoch zu dem positiven Urteil: “Obviously the film deserves the plaudits it receives for its brutal realism being one of the few war movies that dares depict the horrible wounds and terrible damage caused by modern weaponry.” Siehe auch Wimmer: Soldat Ryan (Anm. 4). 64 Marino: Bloody But Not History (Anm. 63) und Wimmer: Soldat Ryan (Anm. 4). Eine vergleichbare, leer laufende Strategie verfolgt Walsh: Kleine Wahrheiten auf Kosten großer (Anm. 11), mit dem Hinweis auf sowjetische Verluste im Zweiten Weltkrieg: “Es ist falsch, so zu tun, als ob amerikanische Soldaten ‘die Welt befreit’ hätten, selbst wenn man annimmt, dass der Sieg der alliierten, nicht nur der amerikanischen Truppen, über den Faschismus so etwas gewesen sei.” 65 James Bowman: The Oscar for Historical Accuracy Goes to ... Not Private Ryan. In: Wall Street Journal vom 19. 03. 1999. S. A18. 63
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stehen.66 Somit sind ideologischen Interventionen bei der Forderung nach “truth of mind and feeling” Tür und Tor geöffnet, da diese ‘Wahrheit’ an die Erwartungshaltungen der Rezipienten kausal geknüpft ist. Ebenso diskursintern ins Leere laufen jene sachkundigen filmhistorischen Versuche, nachzuweisen, dass auch vor Saving Private Ryan Kriegsfilme zum Zweiten Weltkrieg existierten, die auch heute noch Aufmerksamkeit für sich beanspruchen können, wenn man auf die Entstehungsumstände verweist, insbesondere auf den jeweils herrschenden Konsens bei den Möglichkeiten der Darstellung von Gewalt.67 So kenntnisreich derartige Einwände sind, sie sind zum einen von den Präformationen initiiert, zum anderen bestätigen sie diese, indem sie sie akzeptieren und gewissermaßen entschuldigend auf den Zeitraum und die kulturellen, politischen, sozialen und sonstigen Zwänge der Entstehung der ‘positiven’ Beispiele des Genres Kriegsfilm verweisen. Das Genre wird so gerettet, retrospektiv aber neu definiert mit dem Ausgangspunkt Saving Private Ryan, der weiterhin die Maßstäbe setzt. Die Geschichte des Genres wird umgedreht: Spielbergs Film steht nicht nur an seinem Ende, sondern auch am Anfang des Genres, denn es gibt nunmehr nur noch ‘Vorläufer’.68 Zur Verfestigung der Präformationen innerhalb der Rezeption tragen auch jene Aussagen von Veteranen bei, die dem Film ‘Realismus’ attestieren, indem sie das Medium ausblenden und ‘Realität’ dafür einsetzen; zugleich verwechseln sie ihre eigenen Erlebnisse – die prinzipiell nicht rekonstruierbar sind, da sie eines Mediums bedürfen – mit ihren Erinnerungen: The bulletin boards on America Online are full of veterans’ testimonials of gratitude for the film: accounts by a niece who now understands her uncle, or a son who now pays tribute to his father. This kind of sentiment has become rare in America, where even Memorial Day parades are often treated as quaint selfcongratulatory gatherings.69
Wenn Spielberg in Interviews berichtet, dass sowohl HolocaustÜberlebende nach Schindler’s List als auch Veteranen nach Saving Private Ryan auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen erinnerter Realität und 66
Siehe die Diskussion um den Quellenwert von Feldpostbriefen und Tagebüchern aus dem Ersten Weltkrieg bei Bernd Ulrich: Die Augenzeugen. Deutsche Feldpostbriefe in Kriegs- und Nachkriegszeit 1914–1933. Essen 1998. Bes. S. 245-254. 67 So Jeanine Basinger: Translating War: The Combat Film Genre and Saving Private Ryan. In: Perspectives 36 (1998). H. 7. S. 1 und 43-47. 68 Eine Analyse der Struktur der Rezeption von Schindler’s List würde vermutlich zu einem ähnlichen Ergebnis für das Genre des ‘Holocaust-Films’ kommen. 69 In diesem Tenor insgesamt Edward Rothstein: Rescuing the War Hero From 1990s Skepticism. In: New York Times vom 03. 08. 1998.
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Repräsentation mit “It was worse” antworten und Spielberg erklärend hinzufügt, der Holocaust sei wohl nicht darstellbar,70 wird sein Anspruch in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg gefestigt, weil er zwar mit Schindler’s List, nicht aber mit Saving Private Ryan ‘gescheitert’ sei. ‘Realistisch’, ‘authentisch’, ‘wahrhaftig’ meint stets das im Rahmen des Mediums Realisierbare, und dem ist Spielberg mit der Weihe durch die Veteranen näher gekommen, wenn er es nicht gar ultimativ erreicht hat. Saving Private Ryan dient als Hilfe zur Erinnerung an die eigenen Kriegserlebnisse: “For decades, many old soldiers, now in their 70s and 80s, were reluctant to discuss the war even with their own families. But in the twilight of their lives, their numbers dwindling, they are finally speaking up.”71 Dagegen eine der wenigen kritischen Veteranen-Stimmen: I watched Private Ryan’s extraordinarily photographed battle scenes, and I was thoroughly taken in. But when the movie was over, I realized that it was exactly that – I had been taken in. And I disliked the film intensely. I was angry at it because I did not want the suffering of men in war to be used – yes, exploited – in such a way as to revive what should be buried along with all those bodies in Arlington Cemetery: the glory of military heroism. [...] Our culture is in deep trouble when a film like Saving Private Ryan can pass by, like a military parade, with nothing but a shower of confetti and hurrahs for its color and grandeur.72
Spielberg ist es nicht nur in der amerikanischen, sondern auch in der deutschen Rezeption gelungen – wie schon bei Schindler’s List – seine emotional manipulierende Repräsentation eines historischen Ereignisses absolut zu setzen und auf der damit verbundenen Werte-Skala die Spitze für sich zu reklamieren. Die US-amerikanische Rezeption (und die deutsche) misst nicht nur nahezu sämtliche Beispiele des Genres nunmehr retrospektiv an Saving Private Ryan und löst sie damit aus ihrem historischen Kontext, sondern entkleidet sie damit auch ihrer Intentionen. Denn mit Spielbergs ‘Realismus’-Anspruch, der seinen Film gerade von den John-Wayne-Filmen abgrenzen soll, wird ein gleicher Anspruch unhinterfragt auch für jene früheren Filme behauptet, mehr noch: Er wird als dem Genre immanent erklärt. Die in den Präformationen anscheinend ihrer ideologischen Inhalte entledigte Omaha-Beach-Sequenz wird so zum Leitbild der ‘Realität’ des Krieges, bzw. aller Möglichkeiten, Krieg im Film abzubilden, mimetisch, 70
“You can get closer to combat, because combat is a physical clashing of projectiles moving in opposite directions. [...] I believe that the Holocaust is ineffable. I do not believe that combat is.” Spielberg zit. in Hertzberg: Theater of War (Anm. 26). S. 32; ebd. auch das “It was worse”-Zitat. 71 Meacham: Caught in The Line of Fire (Anm. 29). S. 51. 72 Howard Zinn: Private Ryan Saves War. In: The Progressive (1998). S. 38-39, hier S. 38.
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tendenzlos:73 “Whether a masterpiece of American cinema or something less. Saving Private Ryan takes the history of combat seriously. It may not be the greatest war film ever made, but military historians, at least, owe Spielberg a debt. And for those who never saw a battle, Spielberg has enriched the imagination.”74 Die Rezeption ist zirkulär, ihre Präformationen gewähren kein Entkommen.75 Die deutsche Kritik folgt im Wesentlichen dieser zirkulären Struktur, 73
Am weitesten geht Frank J. Wetta: Private Ryan’s Celluloid War. In: Headquarters Gazette 9 (1998). H. 3. S. 2-4. Somit gibt es für Spielberg auch die Weihen der Society for Military History (als Herausgeber der Headquarters Gazette). 74 “[...] authenticity, in the re-creation of a great and terrible historical episode”. Hertzberg: Theater of War (Anm. 26). S. 31. So auch die sonst sehr kritische Rezension von David McReynolds: Antiwar Film of the Decade – Not! In: War Resister’s Leasure (September / October 1998). S. 45-46, hier S. 45: “And Saving Private Ryan shows, to a degree a film can, the reality of the war.” Enthusiastisch Janet Maslin: Panoramic and Personal Views of War. In: New York Times vom 24. 07. 1998. 75 Aufschlussreich wäre in diesem Kontext natürlich die Suche nach Spielbergs Vorbildern bei der filmischen Gestaltung der Omaha-Beach-Sequenz, die es laut dieser Argumentation logisch nicht geben dürfte, da die Sequenz singulär ist. The Longest Day als der Film über die Invasion wurde vom Marketing zum negativen Gegenbild erklärt und damit ausgeschlossen. ‘Übernahmen’ in den anderen Teilen des Films existieren reichlich, fallen aber nicht unter den ‘Realismus’-Anspruch, sind also ‘erlaubt’: So folgt z. B. die Inszenierung des Todes des Private Caparzo im ersten Normandie-Dorf bis in die Details einer entsprechenden Szene aus Kubricks Full Metal Jacket ; das Motiv der Brücke in der zweiten Schlachtsequenz kann als Stereotyp des Genres bezeichnet werden, auch in seiner multiplen symbolischen Konnotation, genannt seien lediglich The Bridge on the River Kwai (David Lean, GB 1957), The Bridge at Remagen (John Guillermin, USA 1968), A Bridge Too Far (Richard Attenborough, USA 1976) und als Prototyp Bernhard Wickis Die Brücke (Deutschland 1959). ‘Vergessen’ hat das Marketing offensichtlich Cornel Wildes Beach Red (USA 1966), der bis in (filmtechnische) Details (wie subjektive Kamera, optische und akustische Fokussierung) hinein von Spielberg für die Omaha-BeachSequenz ‘verwendet’, besser noch: ‘ausgeschlachtet’ wurde – allerdings spielt dieser Film im Pazifik. Den visuellen Grausamkeiten der Omaha-Beach-Sequenz sind in einzelnen Einstellungen verwandt Samuel Fullers The Big Red One (USA 1980), Catch-22 (Mike Nichols, USA 1970) sowie der in den Rezeptionsdokumenten unerwähnte deutsche Joseph Vilsmaier-Film Stalingrad (1992), lediglich James J. Ward hat sich vergleichend mit der Rezeption beider Filme beschäftigt: James J. Ward: Remembering World War II: The Differing Reception Histories of Steven Spielberg’s Saving Private Ryan and Joseph Vilsmaier’s Stalingrad. In: film & history 2000 Annual CD. Bei entsprechender Ausdauer ließen sich sicherlich weitere ‘Vorgänger’ und ‘Vorbilder’ finden, die in der Omaha-Beach-Sequenz summiert und auf den Schock-Effekt reduziert Verwendung finden. Vgl. auch die Beiträge von Pascal Nicklas und Paul Goetsch zur Gewalt- und Schmerzdarstellung im Kriegsfilm. Pascal Nicklas: The Disappearance of the Body: Pain and the representation of war. In: War on Stage and Screen. Hg. von Wolfgang Görtschacher und Holger M.
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auch weil sie den ‘Nachteil’ hat, der US-amerikanischen zeitlich nachgeordnet zu sein. Hier wie dort wird die kalkulierte strukturelle Zweiteiligkeit des Films in die Bewertung übernommen: ein konventioneller Film mit durchsichtiger, zumeist ablehnend beurteilter Intention im zweiten Teil, “hyperrealistisch[e]”76 Kriegsdarstellung dagegen im ersten. Die deutsche Rezeption aber blendet den Komplex der ‘Ehrung’ der Veteranen vollständig aus; nicht ein Versuch ist erkennbar, etwa die Behandlung deutscher Veteranen des Zweiten Weltkrieges vergleichend einzubeziehen.77 Damit geht der Film jedoch seiner Eingebundenheit in die Gegenwart, die Spielberg und das Marketing so ausdrücklich betonen, verlustig. Falls man Saving Privat Ryan kritisch beurteilt, so wird der zweite Teil des Films in der deutschen Rezeption abgelehnt, um mit umso größerer Verve auf die technische Brillanz und die ‘Authentizität’ der Omaha-BeachSequenz zu verweisen. Der Film wird so von 175 Minuten auf 23 Minuten reduziert und damit eine für die deutsche ästhetische Tradition doch recht außergewöhnliche Vorgehensweise gewählt, ein Kunstwerk lediglich aufgrund eines geringen Teiles zu bewerten und zu kanonisieren. Bemerkenswert in dieser Hinsicht verfährt der Kritiker Andreas Kilb – enthusiastisch schreibt er in Cinema:
Klein. Lewiston, New York 1997. S. 523-540; Paul Goetsch: Atrocities in Vietnam War Movies: the direction of sympathies in Casualties of War. Ebd. S. 149-161. Die (von der Kritik in ihrem Potenzial unterschätzte) Parodie auf das KriegsfilmStereotyp der einen Auftrag erfüllenden, nach Gesichtspunkten der Repräsentativität zusammengesetzten GI-Gruppe mit Brian G. Huttons Kelly’s Heroes (GB 1969) denunziert Spielberg vorsichtshalber persönlich. Vgl. Hertzberg: Theater of War (Anm. 26). S. 32. 76 Entnommen der in Bezug auf die Darstellungsmodi kritischen Rezension von Daniel Kothenschulte: Tragbares Kriegerdenkmal. Anmerkungen zu Steven Spielbergs Der Soldat James Ryan. In: film-dienst vom 29. 09. 1998. S. 4-5. Hier auch der Vorwurf, der Film sei nicht pazifistisch, was Spielberg auch nicht intendierte und an keiner Stelle behauptet. Das Pazifismus-Argument ist in der Tat nicht diskursintern (aber siehe oben die zitierte Äußerung von Tom Hanks), wird aber aufgehoben durch den Veteranen-Strang und die nicht explizierte Voraussetzung, der Zweite Weltkrieg sei aus amerikanischer Sicht ein “gerechter” Krieg gewesen. Die Diskussion müsste also, folgte man der Präformation, auf die Ebene der grundsätzlichen Frage nach ‘gerechten’ und ‘ungerechten’ Kriegen verlagert werden. 77 Trotz der ZDF-Serie Hitlers Krieger und anderer Restitutionsversuche in den Jahren 1998ff. scheint die Ausstellung Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht den Diskurs hier nachhaltig verändert zu haben. Vgl. Stephan Balkenohl: Die Kontroverse um die Ausstellung “Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944” in Münster. Eine qualitative Auswertung der Reaktionen. Münster 2000.
383 Steven Spielberg hat mit Der Soldat James Ryan im Grunde zwei Filme gedreht: ein zwanzigminütiges Meisterwerk der Kriegsdarstellung, und einen ordentlichen, zweieinhalbstündigen Soldatenfilm. Den einen, längeren Film kann man sich anschauen, wenn man will; den anderen, kürzeren darf man auf keinen Fall verpassen.78
Für die ‘intelligentere’ Leserschaft der Zeit resümiert Kilb: “Das Niegesehene hat Spielberg gezeigt, jetzt bringt er das Gewohnte [...]. Alle acht sterben für den einen, und Spielbergs Ehrgeiz stirbt für einen guten Zweck: Erfolg.”79 Die Darstellung der Deutschen als gesichtslose ‘beasts’, die reihenweise ‘niedergemäht’ werden und denen im Gegensatz zu den GIs kein individueller Tod ‘gegönnt’ ist, wird in keinem amerikanischen und nur in wenigen deutschen Rezeptionsdokumenten diskutiert. Dort steht dann außer Zweifel, “dass nur ein toter Deutscher auch ein guter Deutscher ist”;80 allerdings findet sich auch hier die Teilung in ‘gute’ Omaha-Beach-Sequenz und ‘schlechten’ Rest. Einige (amerikanische) Kritiker scheinen einen anderen Film gesehen zu haben: “There is no effort to demonize the Germans, who are shown as soldiers trying to do what soldiers do [...]. The black-and-red iconography of Nazi evil is absent.”81 Dem ist hinzuzufügen, dass es SSEinheiten sind, gegen die Millers Truppe in der zweiten Schlachtsequenz kämpft. Lohnend wäre in diesem Kontext vermutlich auch eine integrative Interpretation, die Schindler’s List als Innenperspektive und Saving Private Ryan als Außenperspektive auf ein historisches Ereignis versteht: Die Verfolgung der Juden und den Holocaust sowie die Befreiung Europas vom Faschismus mit dem Ziel der Installierung eines US-amerikanischen Freiheits- und Demokratieverständnisses. Saving Private Ryan, respektive die Omaha-Beach-Sequenz, wird in Deutschland zur idealen Repräsentation des Krieges schlechthin.82 Von Ideologie, Tendenz oder ‘Meinungsmache’ angeblich frei, scheint im puren ‘Realismus’ der synthetischen ersten Schlachtsequenz paradoxerweise das ‘Authentische’ auf,83 das bis hin zu Kreislaufzusammenbrüchen Jugendli78
Andreas Kilb: Der Soldat James Ryan. In: Cinema (Oktober 1998). S. 56-60. Andreas Kilb: Der Tod am Omaha-Beach. In: Die Zeit (1998). S. 33; www.ZEIT. de/archiv/1998/33/199833.spielberg_.html. 80 Horwath: Der Traumwerker (Anm. 3); Rico Pfirstinger: Der Soldat James Ryan. In: Focus Online,
[email protected]. 81 Hertzberg: Theater of War (Anm. 26). S. 33. 82 Einzig Walsh, Kleine Wahrheiten auf Kosten großer (Anm. 11), wagt den Hinweis auf eine ‘andere’ filmische Repräsentation des Krieges: Richard Lesters How I Won the War (GB 1966). 83 Der film-dienst spricht von einer “Dokumentation des Massentodes”. Franz Everschor: Der Soldat James Ryan. In: film-dienst vom 29. 09. 1998. S. 22-23. Für 79
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cher führt, die eine derartige Überfütterung mit scheinbar realer Gewalt nicht verkraften.84 Spielbergs Repräsentation des Krieges ist in der Tat ein ‘gewaltiges Medienphänomen’: Es schafft sich seine Rezeption selbst, indem es ihrem tendenziell kritischen Teil Fluchtmöglichkeiten bereithält, die jedoch nicht aus dem vorgegebenen Rahmen fallen. Und indem es die Reflexion verbannt und die Reaktionen des Zuschauers auf das Emotionale reduziert – eine Erfahrung, die wohl an den tagtäglichen Umgang mit ‘Realität’ zu erinnern vermag –, lässt die Suggestivität der Bilder die ‘Realität’ Leinwand dann endgültig verschwinden. IV. Die Rezeption und Kontextualisierung nach Ende der Kino-Erstverwertung Von elf Nominierungen erhielt Saving Private Ryan am 21. 03. 1999 fünf Oscars für Regie, Kamera, Ton, Schnitt und Toneffekte. Unschwer lassen sich diese, im Wesentlichen auf den technischen Bereich beschränkten Kategorien auf die Omaha-Beach-Sequenz des Films beziehen – selbst in diesen Auszeichnungen setzen sich die Präformationen fort: Auch hier wird lediglich ein Teil des Filmes ‘geehrt’. Die deutsche Presse wertete dieses Ergebnis weniger als ‘Niederlage’ Spielbergs, denn als Überraschung. John Maddens Shakespeare in Love erhielt sieben Oscars und andererseits Roberto Benignis La vita è bella drei Oscars. Der eigentliche ‘Verlierer’ ist aber, im Kontext der ‘richtigen’ Repräsentation des Zweiten Weltkrieges, The Thin Red Line, der bei der Oscarverleihung leer ausging. In den USA initiierte das Ergebnis der Oscar-Prämierungen jedoch eine recht ungewöhnliche Diskussion über die Rolle der Werbung bei der Beeinflussung der 5.500 Mitglieder der Motion Picture Academy of Arts and Sciences. Die Produktionsfirma Miramax, die sowohl Shakespeare in Love als auch La vita è bella produzierte, habe – so der Vorwurf der Saving Private Ryan-Produktionsfirmen Dreamworks und Paramount – durch eine groß angelegte Kampagne kurz vor der Verleihung die stimmberechtigten Mitglieder zum bekannten Ergebnis geführt und Saving Private Ryan als den anerkannt besten und vorab mit Lorbeeren überhäuften Film in letzter
Follath: Sankt Stevens großer Kreuzzug (Anm. 5), S. 210, ist “die Filmsequenz [Omaha-Beach] beklemmend authentisch”. 84 (fan): Brutale Szenen riefen Notarzt auf den Plan. Der Soldat James Ryan rüttelt Kinobesucher auf – Film sorgt für unterschiedlichste Reaktionen. In: Neue Osnabrücker Zeitung vom 26. 10. 1998. S. 9.
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Minute geschlagen.85 In einem kritischen Artikel zu diesen Anschuldigungen vertrat Vincent Canby erneut die Meinung, dass die erste Schlachtsequenz zwar durchaus auszeichnungswürdig gewesen sei, aber Spielberg “simplifies and sentimentalizes. He has a child’s-eye view of the universe. [...] To hail him as an Eisenstein is to mislead him and the public”. Daher sei die Oscar-‘Verteilung’ letztlich zu Recht erfolgt.86 Diese eher ‘kleinlichen’ Rangeleien konnten den Erfolg von Saving Private Ryan, seine Zementierung als einzig gültige Repräsentation des Krieges im Film sowie die ‘korrekte’ Kontextualisierung nicht beeinträchtigen. Zum Videostart in Deutschland im Juli 1999 publizierte Cinema einen Sonderdruck zum Film87 – eine exakte Reproduktion der bereits in diesem Periodikum publizierten Artikel, als hätte es die Auseinandersetzung um den Film nie gegeben. Die Plakatwerbung für die Video-Edition verwies dagegen nachdrücklich auf die Rezeption, vor allem in den USA, mit Zitaten aus der New York Times oder Newsweek, welche die genreprägende Qualität des Films hervorheben. Zuvor war in den USA bereits eine neue, womöglich die ursprünglich intendierte Kontextualisierung initiiert und vermittelt worden: Hauptdarsteller Tom Hanks posierte in Zivil auf einer ganzseitigen Anzeige in der New York Times, aufgegeben von der “American Battle Monuments Commission”:88 “Yet unbelievable there is no national memorial to honor their sacrifice / It is time to say thank you.” Die in den Präformationen angelegte Intention des Films, die Veteranen zu ehren, hatte nun ihre Entsprechung in der Realität gefunden. Tom Hanks, als der fiktionale Jedermann des Zweiten Weltkriegs, tritt auf als Unterstützer des Programms zur Errichtung eines “National World War II Memorial”. Nach dem Ende des ‘gerechten’ und ‘erfolgreichen’ Kosovo-Krieges wurde der vermeintliche ‘Antikriegsfilm’, der nie einer sein wollte, offiziell 85
Siehe Bernard Weintraub: Shakespeare Best Picture But Spielberg Best Director. In: New York Times vom 22. 03. 1999; und Bernard Weintraub: Mogul in Love ... With Winning. Monday Morning Quarterbacking After Miramax’s Big Night. In: New York Times vom 23. 03. 1999. Vgl. ebenso www.geocities.com/Hollywood/ Studio/3469: Auf zehn Seiten werden Nominierungen und Auszeichnungen von Saving Private Ryan aufgelistet mit dem einleitenden Hinweis: “Against all logic – did Saving Private Ryan loose the Best Picture award at this year’s Oscars.” Den aktuellen Stand bietet www.us.imdb.com/Towards?0120815. 86 Vincent Canby: Hollywood’s Shocked and Appalled by Miramax? Oh, Please! In: New York Times vom 25. 03. 1999. S. 1 und 3, hier S. 3. 87 Der Soldat James Ryan. Steven Spielbergs Oscar-Gewinner jetzt auf Video. In: Cinema (Juli 1999). 12 Seiten. Enthält die oben erwähnten Beiträge aus Cinema vom Oktober und November 1998 sowie ein Vorwort des Cinema-Chefredakteurs Helmut Fiebig: Spielberg setzt neue Maßstäbe. Ebd. S. 3. 88 In der New York Times vom 31. 05. 1999. S. A9.
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durch das Militär vereinnahmt. Am 11. / 12. August 1999 erhielt Spielberg vom damaligen US-Verteidigungsminister William S. Cohen persönlich die höchste zivile Auszeichnung des US-Militärs, den “Department of Defense Distinguished Civilian Public Service Award”, die Medaille für außerordentliche Verdienste um das Gemeinwesen. Spielbergs “masterpiece poignantly captured the stirring sacrifices of America’s World War II heroes, and paid living tribute to their indomitable fighting spirit”. Der Film sei “a historic contribution to the national consciousness, reminding all Americans that the legacy of freedom enjoyed today endures in great measure because of their selfless and courageous actions.”89 Doch mit dieser vordergründigen Vereinnahmung des Films durch das Pentagon kam das Marketing des Films noch nicht zur Ruhe; es schien sogar vielmehr verstärkte Aktivitäten auszuüben. Noch im September 1999 bot die offizielle Saving Private Ryan-Homepage eine dreiseitige Liste von Links an, die zuvor nicht erhältlich waren.90 Neben den fan-sites auch der Nebendarsteller befand sich hierunter auch ein Link zur einzigen sarkastischen Parodie, die in den eingesehenen Dokumenten zu finden war 91 – selbst die Gegner werden vereinnahmt. Erhältlich sind nunmehr – neben den ‘üblichen’ Merchandising-Produkten wie Soundtrack auf CD und Laserdisc, dem Buch zum Film (“a novel”),92 einem Computerspiel mit dem Titel Medal of Honor – seit November 1999 eine zwei Kassetten umfassende Sonderausgabe des Videos, inhaltlich identisch mit der ebenfalls im November publizierten DVD. Die specials bieten ein “behind-the-scenes”, Trailer sowie eine “director’s message” Spielbergs, in der er die historische Bedeutung der D-day-Invasion hervorhebt und die Notwendigkeit eines “National D-day Memorials” erläutert – im Einklang mit der bereits erwähnten Anzeige mit Tom Hanks in der New York Times.
89
Zit. nach www.ojc.org/NL/aug99/spielberg.html. Vgl. auch (dpa): Pentagon ehrt Steven Spielberg. In: Neue Osnabrücker Zeitung vom 13. 08. 1999. S. 18. Dort folgendes Zitat: Spielberg habe mit Saving Private Ryan “einen ‘historischen Beitrag zum Bewußtsein der Nation’ geleistet. Das Werk führe die Bedeutung von Werten, Disziplin, Entschlossenheit und Opferbereitschaft vor Augen”. 90 www.spielberg-dreamworks.com. 91 Rod Hilton: Saving Private Ryan: The abridged script. In: www.ter.airOday.com/ savingprivateryan.shtml.imdb verzeichnet eine achtminütige filmische Parodie des Regisseurs Craig Moss, Saving Ryan’s Privates. Vgl. www.us.imdb.com/Title?0221 532. 92 Max Allan Collins: Saving Private Ryan: a novel. New York 1998. Deutsch: Der Soldat James Ryan. Der Roman zum Film. München 1998. Für den Schulgebrauch: Jacqueline Kehl: ‘Saving Private Ryan’ adapted from the novel by Max Allan Collins, based on the screenplay by Robert Rodat. Harlow 2000.
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War es Spielberg mit Schindler’s List und seinem nach dem Kinoerfolg installierten Holocaust-Projekt bereits gelungen, als Künstler den Alleinvertretungsanspruch für die ‘korrekte’ Repräsentation eines historischen Ereignisses in der Öffentlichkeit einzufordern (wobei die wissenschaftliche Öffentlichkeit hier ausdrücklich auszunehmen ist), so verfolgte das Marketing diese Strategie auch mit Saving Private Ryan: nunmehr aber nicht nur für den D-day, sondern für die (amerikanische) Weltkrieg-II-Erfahrung im Allgemeinen. Die Bilder des Films selbst erscheinen nicht mehr als Legitimationsbelege, die zuvor noch historischen Aufnahmen gegenübergestellt wurden, so in einem special issue der populär-historischen Zeitschrift After the Battle im September 1999.93 Der Film ist zum Signum, zum nicht mehr zu hinterfragenden Symbol für eine heroisierende Interpretation des Zweiten Weltkrieges geworden, mit dem Filmplakat als Logo. Die Zusammenarbeit zur Realisierung dieses Projekts erfolgt auf allen Ebenen: Paramount, Amblin entertainment und Dreamworks für die Filmwirtschaft, AOL für das Internet und die New Yorker Newmarket Press für den Buchhandel. Diese Konzerne gemeinsam publizierten im Herbst 1999 den Band “Now You Know”. Reactions after Seeing ‘Saving Private Ryan’, in dem ca. 100 von über 30.000 e-mails an AOL abgedruckt wurden.94 “Now You Know” bezieht sich selbstverständlich auf die historische ‘Wahrheit’ – der Film als Auslöser einer ‘korrekten’, und in diesem Fall ausnahmslos ‘ehrenden’, Rückbesinnung der Nachkriegsgeneration auf die Kombattantengeneration. Das Buch enthält keine Bilder aus dem Film, sondern ausschließlich historische Aufnahmen aller Truppenteile und Kampfschauplätze, die nun den aktuellen Stellungnahmen gegenübergestellt werden. Die Erlöse aus dem Verkauf des Buches gehen an das “National D-day Museum” in New Orleans.95 Kritiklos und unhinterfragt wird der Film hier als Ersatz für väterliche oder großväterliche Stellungnahmen zum Krieg genommen oder als deren Auslöser. Der Krieg erscheint zwar als grausam und mit ungeheuren Anstrengungen verbunden, geführt jedoch für eine nicht näher definierte ‘gerechte’ Sache von Männern, die durchweg als ‘Helden’ zu betrachten seien.
93
Vgl. After the Battle (1999). H. 103: special issue: “Spielberg’s D-Day”. Introduction. “Now You Know”. Reactions after Seeing ‘Saving Private Ryan’. Hg. von Jesse Kornbluth und Linda Sunshine. New York 1999. 95 Ebd., Impressum. 94
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V. Schluss Es war nicht das Ziel des Films und seiner Präformationen, die Hintergründe des Zweiten Weltkrieges zu verdeutlichen, ihn zu kritisieren oder zu hinterfragen – Saving Privat Ryan und “Now You Know” dienten und dienen einzig der Intention, einen generationenübergreifenden Konsens über die Geschichte und die Gegenwart zu schaffen, in dem der Krieg als grundsätzlich ‘gerechte’, vom Individuum nicht zu beeinflussende Schicksalsmacht dargestellt und das von ihm verursachte Leid heroisch stilisiert wird. Die deutsche Rezeption hatte und hat dem wenig entgegenzusetzen, und es sind keinerlei Anstrengungen erkennbar (so sie denn möglich wären), ein Gegenbild zu diesem massenhaft konsumierten, in allen Mediengenres verbreiteten, global intendierten Kriegsklischee, das von einem einzigen Künstler propagiert wurde, zu entwerfen. Was bleibt ist Ratlosigkeit, die sich in Verwirrung äußert: “Lustige Soldatensuche in der Normandie à la Hollywood”, fasste TV-Spielfilm in den “Top Ten Video” den Inhalt des Films Anfang November 1999 zusammen96 – und eine Woche später an gleicher Stelle: “Historie à la Hollywood, doch das dafür vom Feinsten, dank Herrn Spielberg!”97 Mehr als vier Jahre nach dem Kinostart hat Saving Private Ryan für einen Teil der Öffentlichkeit den Platz einer authentischen Quelle zur Geschichte des D-day und weiterer Aspekte des Zweiten Weltkrieges eingenommen; diese ‘Quelle’ wird lediglich auf geringfügige Unstimmigkeiten ‘abgeklopft’, jedoch nicht mehr generell in Frage gestellt. Auf der unmittelbar mit der eigentlichen Film-Homepage verknüpften Site “Saving Private Ryan. Errors and Boo Boo’s in the Movie”98 kann beispielsweise die Erörterung der Fragen nachgelesen werden, ob jener Soldat in einer der Einstellungen der Omaha-Beach-Sequenz, der nach seinem abgeschossenen Arm sucht, auch wirklich seinen eigenen Arm aufnimmt, ob MG-42s in der Lage sind, 25 Schüsse in der Sekunde abzugeben, und ob die amerikanischen Truppen im Juni 1944 bereits mit transparenten Plastiktüten ausgerüstet waren, die ihre Waffen vor Wasser und Sand schützen sollten. Die endgültige Vermischung von Fiktion und Realität findet schließlich in der umfangreichen ‘Saving Private Ryan’ Online Encyclopedia statt, die sich damit brüstet, “not affiliated or endorsed by DreamWorks L.L.C., Paramount Pictures or Amblin Entertainment” zu sein und demnach außerhalb des Medienkonsortiums zu stehen, das die mit dem Film verknüpften Attribute kreierte. Die Enzyklopädie lässt keine Fragewünsche offen, betreffen sie nun den Film 96 97 98
TV Spielfilm (1999). H. 22 (23. 10.– 05. 11. 1999). S. 298. TV Spielfilm (1999). H. 23 (06.–19. 11. 1999). S. 298.
www.geocities.com/savingprivateryan0/omaha.html.
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oder die Realität. Dass für ‘Informationen’ über deutsche Soldaten, Waffen etc. stets eine Hakenkreuzfahne als Icon steht, wird mit folgender, eventuelle Nazismus-Vorwürfe entgegen tretender Bemerkung begründet: “Germany is represented by the Nazi flag because the German national flag was not used by the Nazi party during World War II.”99 So erscheint die als Metaservice konzipierte Encyclopedia mit dieser einen Authentizitätsanspruch suggerierenden Bemerkung von ihrem Gegenstand eingefangen: Über ein historisches Ereignis zu berichten bedeutet letztlich, die Perspektive und den Kenntnishorizont dieses Ereignisses einzunehmen, um ‘Authentizität’ zu gewährleisten. Eine reflexive Ebene wird erst gar nicht zugelassen. Diesen Prozess der Umsetzung von Fiktion in (historische) Realität hat eine der wenigen kritischen Stimmen bereits im Januar 2000 auf den Punkt gebracht. Unter dem Titel Worthy of the Slaughter? schreibt Eric Schlosser: Saving Private Ryan is nothing but a demonstration of cinematographic skills in a totally inappropriate context. Why film documentary style (the ultimate idiosyncrasy in ’90s movies) with a shoulder-held camera to capture the chaos, yet so formally stage the scenes, with bodies perfectly falling into full frame, dying perfect deaths? Everything onscreen tells you what came first in the making of the movie: more than the war, its aesthetics possibilities. Spielberg and his skilled band of technicians studied the photo archives and documentaries very carefully. Then they carefully re-created the settings, the shootings, the sounds and furies. And on the seventh day, they decided to superimpose some silhouettes.100
Zu konstatieren bleibt, dass diese Vorgehensweise außerordentlich erfolgreich ist und einen der zentralen Punkte unserer Vorstellungswelt, der in der Regel außerhalb unserer Erfahrungswelt liegt – das Bild des Krieges –, zu besetzen und verfügbar zu machen droht. Oder, wie Joseph Roth bereits 1929 für seinen Helden Friedrich formulierte, er unterschätze die geheimnisvolle Technik der defensiven Methode der Gesellschaft, die darin bestand, das Außergewöhnliche durch Übertreibung wie durch Detaillierung gewöhnlich zu machen und durch tausend wohlinformierte Quellen bestätigen zu lassen, daß die Rätsel der Zeitgeschichte aus authentischen Vorgängen bestehen. Er wußte nicht, [...] daß die Technik sich der legendären Stoffe bemächtigen konnte, um ewige Wahrheiten in aktuelle zu verwandeln. Er vergaß, daß die Grammophone da waren, um die Donner der Geschichte wiederzugeben[,] und der Film, um die Blutbäder wie die Pferderennen aufzunehmen.101
99
www.sproe.com/sprmain.htm. Eric Schlosser: Worthy of the Slaughter? On Saving Private Ryan. It’s not just Ryan who needs saving. In: Bright Lights Film Journal 27 (2000). Vgl. www. brightlightsfilm.com/27/savingprivateryan.html. 101 Joseph Roth: Ein Kapitel Revolution. In: 24 neue deutsche Erzähler. Hg. von Hermann Kesten. Berlin 1929. S. 11-20, hier S. 20. 100
Horst Domdey
Über die Darstellung kriegerischer Gewalt in Goethes Faust Und hört ihr donnern auf dem Meere? Dort widerdonnern Tal um Tal, In Staub und Wellen, Heer dem Heere, In Drang um Drang, zu Schmerz und Qual. Und der Tod Ist Gebot, Das versteht sich nun einmal. (V. 9884-90) Belligerent violence in the fourth act ( Faust, Second Part ) is neither mythically nor aesthetically charged, but humorous. Its context is power-politics. The Roman dynamic from ‘civil war to dictatorship’ describes Faust’s own development from the fourth to the fifth act. Goethe builds on his own experiences which were drawn from the July-uprisings in 1830, associating – contrary to popular opinion – revolutionary with reactionary movements.
I. Biografische Vorbemerkung Was kriegerische Gewalt bedeutet, kennt Goethe aus eigener Anschauung: An den Stellen, wo die Kanonade hingewirkt, erblickte man großen Jammer: die Menschen lagen unbegraben, und die schwer verwundeten Tiere konnten nicht ersterben. Ich sah ein Pferd, das sich in seinen eigenen, aus dem verwundeten Leib herausgefallenen Eingeweiden mit den Vorderfüßen verfangen hatte und so unselig dahin hinkte.1
Dieser Feldzug gegen das revolutionäre Frankreich, der seinen Höhepunkt in dem Artilleriegefecht bei Valmy fand (auf beiden Seiten werden annähernd 10.000 Kugeln verschossen)2 und der mit einem verlustreichen Rückmarsch endet (Tausende sterben an Typhus und Ruhr), war nicht das einzige kriegerische Unternehmen, an dem Goethe beteiligt war. Ein Jahr später ist er Augenzeuge und Berichterstatter der Belagerung von Mainz. 1806, nach der preußischen Niederlage von Jena, erlebt Goethe die Plünderung Weimars durch französische Truppen. Umgang mit Offizieren und das Militärwesen 1
Johann Wolfgang von Goethe: Campagne in Frankreich 1792. In: Goethes Werke. Hamburg 1960. Bd. 10. S. 238f. Die Hamburger Ausgabe der Werke Goethes, hg. von Erich Trunz, im Folgenden kurz als HA. 2 So die von Goethe angegebene Zahl. Ebd. S. 233.
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generell waren Goethe vertraut, seit Herzog Carl August sich 1787 von Friedrich Wilhelm II. zum Generalmajor hatte ernennen und ein Kürassierregiment zuordnen lassen.3 Goethe begleitet den Herzog gelegentlich in die preußischen Garnisonen. Als 1790 eine kriegerische Auseinandersetzung zwischen Preußen und Österreich droht, nimmt Goethe an dem Feldlager in Schlesien teil. Und schon auf der Berlinreise 17784 besucht Goethe nicht nur das berühmte Waisenhaus in Potsdam, sondern auch ein “Manöver” (auf dem Berliner Königsplatz), die “Potsdamer Wachtparade” und die “Königliche Gewehrfabrik” (die das gesamte preußische Heer beliefert). Die Rekrutenaushebung von 1779, an der er selbst beteiligt war, nennt er “ein unangenehmes verhasstes und schaamvolles Geschäfft” und fixiert das Ereignis in jener berühmt gewordenen Zeichnung von eigener Hand.5 Dass Goethe dem Militär wenig und dem Krieg überhaupt nichts abgewinnen konnte, ist bekannt.6 Krieg widersprach seiner Vorstellung eines produktiv tätigen Lebens. Zu gut kannte Goethe sich in der Kriegsführung aus, die rasch zerstört, was in Jahren erarbeitet war, um Krieg einen Sinn abgewinnen zu können. Ein Erlebnis aus dem Kriegsalltag (eine Papiergeldepisode, dem Fauststoff nicht fremd) erinnert Goethe an ein “einfach tief Ergreifendes” griechischer Tragödien, obwohl in diesem Fall niemand stirbt – nur Schafe: Also kamen nun Preußen und Österreicher und ein Teil von Frankreich [die Emigranten], auf französischem Boden ihr Kriegshandwerk zu treiben. In wessen Macht und Gewalt taten sie das? Sie konnten es in eignem Namen tun, der Krieg war ihnen zum Teil erklärt, ihr Bund war kein Geheimnis; aber nun ward noch ein Vorwand erfunden. Sie traten auf im Namen Ludwigs XVI., sie requirierten nicht, aber sie borgten gewaltsam. Man hatte Bons drucken lassen, die der Kommandierende unterzeichnete, derjenige aber, der sie in Händen hatte, nach Befund
3
Nach der Belagerung von Mainz und den sich anschließenden Kämpfen gegen die Franzosen in der Pfalz scheidet der Herzog Anfang 1794 aus den preußischen Diensten aus, nach dem Thronwechsel tritt er erneut ein und wird im August 1798 von Friedrich Wilhelm III. zum Inspekteur der Magdeburgischen Kavallerie ernannt. HA (Anm. 1). Bd. 10. S. 712. 4 Preußen hatte mobil gemacht, um in dem erwarteten Bayerischen Erbfolgekrieg gegen Österreich gegebenenfalls loszuschlagen. Sachsen-Weimar sondierte in Berlin den Ernst der Lage und die Bündnisfrage. Otto Pniower: Goethe in Berlin und Potsdam. Berlin 1925. S. 68, 80, 84f. 5 Johann Wolfgang von Goethe: Die Rekrutenaushebung. Zeichnung. Februar, März 1779. In ders.: Zeichnungen. Hg. von Petra Maisak. Stuttgart 1996. S. 99. 6 Gero von Wilpert: Goethe-Lexikon. Stuttgart 1998 (dort die Stichworte Krieg und Kriegskommission); Ekkehart Krippendorff: Goethe Handbuch. Stuttgart, Weimar 1998. Bd. 4 (Artikel Krieg / Frieden); Ekkehart Krippendorff: Politik gegen den Zeitgeist. Franfurt/M., Leipzig 1999; Dieter Kühn: Goethe zieht in den Krieg. Eine biographische Skizze. Franfurt/M. 1999.
393 beliebig ausfüllte; Ludwig XVI. sollte bezahlen.7 [...] Ich war selbst bei einer solchen Szene gegenwärtig, deren ich mich als höchst tragisch erinnere. Mehrere Schäfer mochten ihre Herden vereinigt haben, um sie in Wäldern oder sonst abgelegenen Orten sicher zu verbergen, von tätigen Patrouillen aber aufgegriffen und zur Armee geführt, sahen sie sich zuerst wohl und freundlich empfangen. Man fragte nach den verschiedenen Besitzern, man sonderte und zählte die einzelnen Herden. Sorge und Furcht, doch mit einiger Hoffnung, schwebte auf den Gesichtern der tüchtigen Männer. Als sich aber dieses Verfahren dahin auflöste, daß man die Herden unter Regimenter und Kompagnien verteilte, den Besitzern hingegen, ganz höflich, auf Ludwig XVI. gestellte Papiere überreichte, indessen ihre wolligen Zöglinge von den ungeduldigen fleischlustigen Soldaten vor ihren Füßen ermordet wurden; so gesteh’ ich wohl, es ist mir nicht leicht eine grausamere Szene und ein tieferer männlicher Schmerz in allen seinen Abstufungen jemals vor Augen und zur Seele gekommen. Die griechischen Tragödien allein haben so einfach tief Ergreifendes.8
Für Desperados freilich war der Krieg immer schon die große Chance. Und entsprechend macht Faust im vierten Akt (Zweiter Teil) sein Kriegsglück. II. Reduktion auf ein Interesse: Erwerb von Herrschaft und Eigentum Der vierte Akt ist ein später Text Goethes, 1831 geschrieben. Alle großen Teile des Zweiten Teils waren so gut wie fertiggestellt; auch der letzte, der fünfte Akt mit Fausts Tod. Es fehlte nur noch der vierte Akt, in dem Mephisto und Faust Krieg führen. Goethe schreibt ihn nach der Julirevolution, nach dem Bürgerkrieg in Paris, der Louis Philippe an die Macht bringt und mit ihm die französische Bourgeoisie. Faust führt Krieg. Wie kommt es dazu, was ist sein Motiv? Nachdem Mephisto / Faust mit der Erfindung des Papiergelds die kaiserliche Finanzkrise gelöst und die große Welt durchschritten, Faust in der mittelalterlichantiken Mythenwelt Helena gefunden und wieder verloren hatte, nimmt seine Entwicklung im vierten und fünften Akt eine entschiedene Wendung. Der Horizont seiner Interessen reduziert sich auf eine einzige Obsession: die unbeschränkte Ausübung von Herrschaft. Wissenschaft, Liebe, Natur, Kunst, Welterfahrung, und “was der ganzen Menschheit zugeteilt ist, / [...] in meinem innern Selbst genießen” (1770f.) – alles vergessen. Jetzt zielt Faust auf ein eigenes Reich. Über sich hinauswachsen will er nur noch in dem einen Trieb, im Erwerb von Eigentum. Faust ist reif für die stärkste aller Versuchungen (10128-31): 7
Ludwig XVI. lebte seit Oktober 1789 als Gefangener in den Tuilerien, ohne Hof, abgeschnitten von der Bevölkerung. Zu dem Zeitpunkt der Episode (Ende August 1792), die Goethe erzählt, ist die Monarchie bereits abgeschafft. Ludwig XVI. wird unter verschärfter Bewachung im Gefängnis des Temple gefangengehalten (seit dem 10. August 1792), praktisch in der Erwartung eines Hochverratsprozesses. 8 Campagne in Frankreich 1792. HA (Anm. 1). Bd. 10. S. 200f.
394 Meph. Doch, daß ich endlich ganz verständlich spreche, Gefiel dir nichts an unsrer Oberfläche? Du übersahst, in ungemeßnen Weiten, Die Reiche der Welt und ihre Herrlichkeiten.
Und anders als Jesus9 greift Faust zu. Nur soll es ihm nicht in den Schoß fallen. Der Gewinn soll ihm als die eigene Leistung erscheinen, indem Faust dem Meer Land abgewinnt, es sich aneignet und dann als Magnat in die Welt ausgreift. Landgewinn als Resultat der “großen Tat” (10182), so konzipiert Faust sein Unternehmen (10187): “Herrschaft gewinn’ ich, Eigentum! / Die Tat ist alles, nichts der Ruhm.” Zwar zeigt Goethe Faust nun nicht als den Workaholic, als den rastlosen Unternehmer an der Börse, am Schreibtisch, im Kontor, im Hafen, auf den Dämmen. Das Management, die eigentliche Organisationsarbeit, leistet Mephisto (wie immer). Aber die Dynamik des Kolonisators und Neureichen tritt ins Bild. Faust plant, befiehlt, reagiert gereizt auf jedes Hemmnis und geht über Leichen. Er wird im fünften Akt zur Charaktermaske eines Bourgeois, wie ihn das 18. / 19. Jahrhundert kennt. Doch die Voraussetzung für diese Karriere erreichen Mephisto und Faust, indem sie den Krieg des Kaisers an sich reißen (10304-06): Erhalten wir dem Kaiser Thron und Lande, So kniest du nieder und empfängst Die Lehn von grenzenlosem Strande.
Der private Gewinn ist das Motiv. Wollte Faust seinen Kriegseinsatz irgendwie legitimieren, etwa im Sinn einer Ordnungspolitik, hätte er sich vielleicht auf die Seite des Gegenkaisers schlagen können. Denn unter dem alten Kaiser “zerfiel das Reich in Anarchie, / Wo groß und klein sich kreuz und quer befehdeten / Und Brüder sich vertrieben, töteten” (10261-63). Das Gewaltmonopol ist verletzt, die Einheit des Reichs gefährdet. Die Partei des Gegenkaisers führt denn auch als ihren Kriegsgrund das Gemeinwohl an. Doch Faust und Mephisto verzichten auf solche Legitimation und beschränken sich darauf, die Position des Gegenkaisers als geheuchelt zu diskreditieren. In Wahrheit sei auch sie nur auf den materiellen Vorteil bedacht (10277-88): Meph. Doch war’s zuletzt den Besten allzutoll. Die Tüchtigen, sie standen auf mit Kraft Und sagten: Herr ist, der uns Ruhe schafft. Der Kaiser kann’s nicht, will’s nicht – laßt uns wählen, 9
Matth. 4,8f.: “Wiederum führte ihn der Teufel mit sich auf einen sehr hohen Berg und zeigte ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit und sprach zu ihm: Das alles will ich dir geben, so du niederfällst und mich anbetest.”
395 Den neuen Kaiser neu das Reich beseelen, [...] Fried und Gerechtigkeit vermählen. Faust. Das klingt sehr pfäffisch. Meph. Pfaffen waren’s auch, Sie sicherten den wohlgenährten Bauch. Sie waren mehr als andere beteiligt. Der Aufruhr schwoll, der Aufruhr ward geheiligt […].
Die Entscheidung, auf eine Zusammenarbeit mit den “Besten” und “Tüchtigen” (mit der Partei des Gegenkaisers also) zu verzichten, ist taktisch klug und stützt sich auf die früheren Erfahrungen mit dem Kaiser. Faust und Mephisto schätzen ihn als schwach ein. Er lebe in der illusionären Vorstellung, regieren und genießen zu können. Als naiv (“er war so gut und offen”, 10291), korrumpier- und täuschbar ist er ihnen vertraut (“Du kennst ihn ja. Als wir ihn unterhielten, / Ihm falschen Reichtum in die Hände spielten”, 10244f.). Faust und Mephisto nutzen die Situation des führungsschwachen Staats; im Grunde eine Situation der Erpressung. Sie geben vor, das Reich zu retten, agieren aber wie Mafiosi, die einem maroden Staat zuarbeiten, um in einem Klima allgemeiner Korruption das eigene Geschäft zu betreiben. III. Bellum civile summum malum est Durch Fehde und Mord ist das Gewaltmonopol geschwächt, vom Gegenkaiser wird es massiv gebrochen. Dessen Unternehmen, “Fried und Gerechtigkeit zu vermählen”, entfesselt ein Äußerstes an Gewalt, den Bürgerkrieg. Es ist die Gelegenheit zuzugreifen, wie Mephisto erkennt (10235-39): Faust. Schon wieder Krieg! Der Kluge hört’s nicht gern. Meph. Krieg oder Frieden. Klug ist das Bemühen, Zu seinem Vorteil etwas auszuziehen. Man paßt, man merkt auf jedes günstige Nu, Gelegenheit ist da, nun, Fauste, greife zu!
Goethe imaginiert hier Bürgerkrieg in einer politisch substanzlosen, desillusionierten Welt, die heillos in Partialinteressen zerfällt. Hoffnung auf eine neue Weltordnung erscheint nur als Propaganda. Das ist nicht der Kampf um die Gerechtigkeit, um die alte Reichsordnung wie im Götz von Berlichingen, nicht der Kampf gegen die Tyrannei einer Fremdherrschaft wie im Egmont. Es ist auch nicht die Konstellation von Pharsalos, als Römer gegen Römer standen und Cäsar den Konkurrenten Pompejus schlägt; jener Bürgerkrieg, der seither als der Sieg der Diktatur über die Republik beklagt wird, als
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Entscheidungsschlacht für die Etablierung des römischen Kaisertums.10 Prononciert erinnert Goethe im zweiten Akt (Faust, Zweiter Teil) an diesen Sieg Cäsars. Die erste Szene der Klassischen Walpurgisnacht trägt den Titel Pharsalische Felder. Und in der Tat, in Erichthos “Nachgesicht” (7011) ist das Schlachtfeld von Pharsalos vorgestellt, das Heer- und Zeltlager des Pompejus in der Nacht vor der Schlacht: “Der Boden haucht vergoßnen Blutes Widerschein” (7026). Die Grausamkeit dieser Schlacht habe den Schrecken von Cannae verblassen lassen, schreibt Lukan. Als Pompejus’ Heer in Panik geriet, “begann ein Schlachten ohne Maß, und das Folgende war keine Schlacht, nein, hier führte man sterbend, dort tötend Krieg, und das eine Heer vermochte nicht so viele Menschen niederzustrecken, wie vom anderen fallen konnten”.11 So endete der Tag von Pharsalos, schreibt Mommsen, “die feindliche Armee war nicht bloß geschlagen, sondern vernichtet. 15.000 der Feinde lagen tot oder verwundet auf dem Schlachtfeld, während die Caesarianer nur 200 Mann vermißten.”12 Die historische Erinnerung an Pharsalos hat Gewicht. Es ist die einzige Stelle13 im Gesamtdrama (Erster und Zweiter Teil), wo Goethe offen auf ein realhistorisches Ereignis Bezug nimmt (in Hexenküche und Walpurgisnacht in Teil I gibt es nur maskierte Anspielungen auf die Französische Revolution).14 Es ist Homunculus (als ‘Kenner der Weltgeschichte’), der das Schlachtfeld von Pharsalos als Reiseziel bestimmt. Mephisto opponiert – der ewige Streit zwischen “Tyrannei und Sklaverei” langweile ihn (6957f.), beide Parteien seien letztlich Knechte des Neid- und Hadergotts “Asmodeus” (6961) –, doch aus Neugier auf thessalische Hexen willigt er ein und trägt den ohnmächtigen Faust auf seinem Zaubermantel nach Griechenland, hinweg aus dem Laboratorium, in dem Wagner soeben die Kreation des Homunculus gelungen war. Homunculus, nach seiner Schöpfung sofort tätig, blickt auf den ‘schlafenden’ Faust, ‘sieht’ und erzählt dessen Traum, den Mythos von der göttlichen Zeugung Helenas durch die Begegnung der Königin Leda mit dem Schwan, mit Zeus, und versteht, dass Faust Helena begehrt. Doch bleibt sie in der Unterwelt nicht auf ewig unerreichbar? Nicht 10
“Daß der Tag gekommen war, der auf ewig das Los der Menschenwelt bestimmen sollte, und daß in jener Schlacht das Wesen Roms zur Frage stand, war deutlich.” So Lukan in seinem Epos, bekannt unter dem Titel Pharsalia. Lucanus: Bellum civile. Der Bürgerkrieg. Hg. und übers. von Wilhelm Ehlers (Prosaübersetzung). München 1973. S. 301. Goethes Lukan-Lektüre ist für April 1826 nachgewiesen (Goethe arbeitet zu dieser Zeit am Zweiten Teil). 11 Lucanus: Bellum civile (Anm. 10). S. 325. 12 Theodor Mommsen: Römische Geschichte [1854 –1856, 1885]. Vollständige Ausgabe in acht Bänden. 5. Aufl. München 1993. Bd. 5. S. 94. 13 Zum Schlachtfeld von Pydna (Verse 7465-68) s. u. 14 Heinz Hamm: Der Einfluß der Französischen Revolution auf Goethes Arbeit am Faust von 1797 bis 1801. In: Goethe Jahrbuch. Bd. 107. Weimar 1990. S. 173-178.
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Troja oder Sparta wählt daher Homunculus als Reiseziel, sondern Pharsalos. Da mögen Römer gegen Römer gestritten, Krieg, Zeit und Ort mit der Welt Helenas nichts zu tun haben, entscheidend ist die Nähe zum Olymp. Denn der Hades, Helenas Aufenthalt, liegt in “des Olympus hohlem Fuß” (7491). Aus dem Mythos des Trojanischen Kriegs rückt Goethe das Geschehen in die historische Welt des Römischen Reichs, führt Mythos und Geschichte zusammen und bestimmt ein Schlachtfeld als den Ort der Annährung an Helena. “Hier fragt sich’s nur, wie dieser kann genesen”; so entscheidet Homunculus gegen Mephisto: “Hast du ein Mittel, so erprob’ es hier, / Vermagst du’s nicht, so überlaß es mir.” (6967-69) IV. Zwei Schlachtfelder oder Wo sich der Hades öffnet “Das Fest der klassischen Walpurgisnacht”, eine Zusammenkunft mythischer Figuren, Dämonen und Hexen (thessalisches Pendant zur nördlichen Walpurgisnacht auf dem Brocken), sei “seit Anbeginn der mythyschen Welt” in Pharsalos gefeiert worden (so die Erfindung des Autors), und zwar in der Nacht vom 8. zum 9. August. (Der 9. August ist das Datum der Schlacht von Pharsalos.) Dieses uralte Fest aber, so die Vorstellung, sei “Ursache” der verheerenden Schlacht. Als habe diese Feiernacht das Unglück gleichsam angezogen,15 als würde an diesem Ort um diese Zeit Blutzoll verlangt. Erichtho spricht vom “Schauderfeste” (7005), der “sorg- und grauenvollsten Nacht. Wie oft schon wiederholt’ sich’s!” (7011f.). Doch erscheinen Ort und Zeit zugleich wie eine Chance für Faust. In dem Entwurf vom 17. Dezember 1826 eröffnet die Seherin “Manto” ihrem Gast, Faust, dass der Weg zum Orkus sich auftun werde “gegen die Stunde wo ehmals, um so viele große Seelen hinabzulassen, der Berg klaffen müssen.”16 Klassische Walpurgisnacht und Schlacht auf den Pharsalischen Feldern stehen bei Goethe in einem übergreifenden mythologischen Zusammenhang: Die ‘mythische Welt’ macht sich durch wilde Träume bemerkbar. Sie deuten auf die kommende Schlacht, die die Erde mit Blut tränken wird – Opferblut für die
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Goethe in einem Entwurf zu dieser Szene: “Wie er [Homunculus] denn auch zur Probe sogleich verkündet daß die gegenwärtige Nacht gerade mit der Stunde zusammentreffe wo die pharsalische Schlacht vorbereitet worden und welche sowohl Caesar als Pompejus schlaflos zugebracht [...] zu gleicher Zeit das Fest der klassischen Walpurgisnacht hereintrete das seit Anbeginn der mythyschen Welt immer in Thessalien gehalten worden und, nach dem gründlichen durch Epochen bestimmten Zusammenhang der Weltgeschichte, eigentlich Ursach an jenem Unglück gewesen.” In Anne Bohnenkamp: “... das Hauptgeschäft nicht außer Augen lassend ”. Die Paralipomena zu Goethes ‘Faust’. Frankfurt/M., Leipzig 1994. S. 438f. (Paralipomena H P123C). 16 H P123C, Bohnenkamp: ... das Hauptgeschäft (Anm. 15). S. 448.
398 Chthonier, geleistet für Macht, Herrschaft, für Politik und Geschichte. Daher sind die Tore des Hades in dieser Nacht weit geöffnet; in Erwartung der Totenmasse des kommenden Tages, des Opferblutes der Schlacht, ist Proserpina, die Gattin Plutos, ansprechbar für Fausts Wünsche. Daß die Wiederkehr Helenas in Goethes Konzeption in solchem Zusammenhang erfolgt, wird oft übersehen. Die Existenz der mythischen Welt ist nur über den stetigen Blutstrom an die Mächte der Erde gewährleistet. Die Verwandlung des Opfers in den ‘Eingeweiden der Erde’ bildet die lebendige Schönheit. Vereinfacht formuliert, lautet die These für diese Verwandlungslogik: die Opferung Gretchens bringt Helena aus dem Hades.17
Mit dem Auftritt der Erichtho zu Beginn der Szene spielt Goethe auf Lukan an und auf Dante. Beide Autoren erzählen von der Höllenfahrt eines Sendboten der thessalischen Hexe, die mit der geglückten Rückkunft einer toten Seele endet. Bei Dante ist es Vergil, der einen Geist aus dem untersten Bezirk der Hölle zu Erichtho bringt.18 Bei Lukan beschwört Erichtho einen Gefallenen von Pharsalos, indem sie gegenüber der Unterwelt geltend macht, dessen Geist sei noch nicht bis in die Tiefen hinabgestiegen, sondern “am Eingang jener Stelle, wo sich das Geisterland des Orkus auftut.”19 Die Beschwörung gelingt, der Geist des Toten tritt erneut in seinen Körper ein und der wiederbelebte Krieger kann dem Sohn des Pompejus wie gewünscht wahrsagen. Goethe überträgt zwar die Funktion, Faust in den Hades zu geleiten und Helena ins Leben rückzurufen, der heilkundigen Priesterin Manto.20 Doch indem Goethe die Szene auf den Pharsalischen Feldern mit dem Auftritt der Erichtho eröffnet, nutzt er die mit dieser Figur verbundene literarische Tradition, um ein Bildfeld zu setzen, in dem Höllenfahrt, Wiederbelebung und Rückkehr auf die Erde als möglich erscheinen.21 Die Figur der Erichtho stimmt ein auf das mythische Großereignis, die Öffnung des Orkus. 17
Michael v. Engelhardt: Der plutonische Faust. Eine motivgeschichtliche Studie zur Arbeit am Mythos in der Faust-Tradition. Basel, Frankfurt/M. 1992. S. 378. 18 Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie, Inferno, IX. Gesang. Die Höllenfahrt Vergils hat offenbar Dante erfunden. Jedenfalls ist sie auch in den mittelalterlichen Vergil-Legenden nicht verbürgt. Die allgemein hohe Wertschätzung Lukans geht aus dem vierten Gesang (Inferno) hervor. Hier treffen Vergil und Dante auf Lukan. Er erscheint in Begleitung der (für Dante und seine Zeit) bedeutendsten Autoren der Antike: Homer, Horaz und Ovid. Der vierte Gesang des Inferno erinnert zu Beginn an die ‘Höllenfahrt Christi’ (nach 1. Petrus 3, 18-20 und dem apokryphen Evangelium des Nikodemus). 19 Lucanus: Bellum civile (Anm. 10). Sechstes Buch, V. 714f. S. 285. 20 Goethe verzichtet hier auf die Wiederbelebungskraft der schrecklichen Erichtho ebenso wie auf die Figur des “Jüngeren Pompejus”, obwohl dessen Auftritt in den Entwürfen geplant war. Prolegomena II H20, H P124, H P125. In Bohnenkamp: ... das Hauptgeschäft (Anm. 15). S. 488, 490, 508. 21 Manto erinnert ihren Abstiegskandidaten an den missglückten Versuch des Orpheus (7493f.).
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Es gibt ein zweites historisches Schlachtfeld, das Faust aufsucht, bevor er in den Hades steigen und Helena gewinnen kann. Der Gefährte “Chiron” informiert Faust über den schließlich erreichten Zielort ihres Ritts. Es ist das Schlachtfeld von Pydna, in Thessalien gelegen wie Pharsalos, beide in der Nähe des Olymp. Hier endlich findet Faust den Tempel der Manto. In der Schlacht von Pydna (168 v. Chr.) hatten die Römer den letzten makedonischen König besiegt und damit das Reich Alexanders des Großen vernichtet: “Das größte Reich, das sich im Sand verliert” (7467). Aus römischer Sicht war es ein Grenzsicherungskrieg; Rom erzwang in dem unterworfenen Makedonien die Abschaffung der Monarchie: “Der König flieht, der Bürger triumphiert” (7468). Doch diese Niederlage war radikal. Das makedonische Land, schreibt noch Mommsen, “ist übrigens von jener Zeit bis auf den heutigen Tag ohne Geschichte geblieben”. In Pharsalos wurde die Alleinherrschaft Cäsars besiegelt, in Pydna ein Königreich ausgelöscht. Politisch gesehen ist das Resultat beider Schlachten konträr, gemeinsam ist ihnen das Ausmaß der Opfer: Die 3000 erlesenen Phalangiten [der Makedonier] ließen sich niederhauen bis auf den letzten Mann; es war, als wolle die Phalanx, die ihre letzte große Schlacht bei Pydna schlug, hier selber untergehen. Die Niederlage war furchtbar; 20.000 Makedonier lagen auf dem Schlachtfeld, 11.000 wurden gefangen. Der Krieg war zu Ende. [...] So ging das Reich Alexanders des Großen, das den Osten bezwungen und hellenisiert hatte, 144 Jahre nach seinem Tode zugrunde.22
Um den Zugang zum Hades zu erreichen, den Weg zu Helena, braucht Faust zwei magische Territorien. Die Priesterin mag die helle Gegenfigur zur düsteren Erichtho sein, ohne ein Schlachtfeld kann offenbar auch sie keine Verwandlung bewirken. Als wolle Goethe den Gedanken betonen, dass zur ‘Verwandlung in die lebendige Schönheit’ Opfer von unerhörtem Ausmaß erforderlich seien, positioniert er auch Mantos Tempel auf blutgetränktem Boden. Doch ohne weiteres Zögern geht es jetzt von ihrem Tempel in den Hades: “Tritt ein, Verwegner, sollst dich freuen! / Der dunkle Gang führt zu Persephoneien.” (7489f.) Nur vermittelt über die Opfer von Pharsalos und Pydna öffnet sich in der Walpurgisnacht der Hades. Indem er an dieser Opferkonstellation partizipiert, gewinnt Faust Helena. In seinen Entwürfen vom Dezember 1826 lässt Goethe den Homunculus phosphoreszierende “Atome” vom Boden des Schlachtfelds in eine Phiole sammeln, von Wagner schütteln, und es “erscheinen Kohortenweis Pompejaner und Cäsareaner um zu legitimer Auferstehung sich die Bestandtheile ihrer Individualitäten wieder zuzueignen.”23 Auch wenn Goethe diesen 22
Mommsen: Römische Geschichte (Anm. 12). Bd 2. S. 296f. H P123B und H P123C. In Bohnenkamp: ... das Hauptgeschäft (Anm. 15). S. 427, 443.
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Verweis auf eine “legitime Auferstehung” der großen Zahl für die Endfassung verwirft, die Exklusivität der Auferstehung Helenas ist durch die drastische Gegenüberstellung mit den Schlachtfeldern scharf profiliert: als die Auferstehung der einen gegenüber dem Opfer der vielen. Warum Goethe den Plan, Fausts Descensus und die Audienz bei Persephone zu gestalten, fallen ließ, ist viel diskutiert worden.24 Jedenfalls ist das Resultat dieser Entscheidung, dass der Blick in die Unterwelt fehlt und so die historische Anspielung auf die beiden Schlachten an Bedeutung gewinnt. In der Gemengelage von Mythos und Geschichte drängt sich kein Bild der Hölle auf, es dominiert die Erinnerung an Pharsalos und Pydna. Goethe hatte noch in den Schemata von 1830 (6. Februar und 18. Juni) Fausts Abstieg und die Begegnung mit Proserpina skizziert: “Geheimer Gang / Manto und Faust / Einleitung des Folgenden” – und dann folgte das Stichwort “Medusenhaupt”.25 Im Hades eine Konfrontation mit Medusa? Die Gefahr eines Stupor passt zum Schrecken der Schlachtfelder. Aber Goethe verlegt den Auftritt im Hades hinter die Bühne. Und auch der Schrecken der beiden Schlachten ist nicht ‘dargestellt’, sondern nur als historische Erinnerung benannt. V. Kriegsgewinnler Faust Vor der Pharsalos-Reminiszenz im zweiten Akt erscheint das Kriegstheater im vierten als die Farce eines Bürgerkriegs, erschreckend auch, doch jenseits aller Tragik. Das Modell Pharsalos bietet aber die ernste Folie für den sarkastischen Blick auf ein zerrüttetes Reich, das eine Krise übersteht, aufatmet und sich an die Konsumtion der Beute macht. Da stehen sich keine Kräfte gegenüber, die um eine bessere, um die angemessene Weltordnung kämpfen. Vielmehr ein Rebell, der es unternimmt, das Reich in das Elend eines inneren Kriegs zu stürzen. Und ein Kaiser, der dank Mephistos Hilfe die schlechte Ordnung wiederherstellt: Machtanmaßung und Vorteilsnahme wie gehabt. Alles verläuft wie auf dem Spielbrett, die Regel heißt enrichissez-vous. Täuschung des Feinds, Täuschung des Kaisers. Jeder weiß, dass nichts mit rechten Dingen zugeht; doch entscheidend sind Sieg und Beute, nicht die Mittel zu deren Gewinn. Die Rede von höheren Gütern ist nichts als die taktisch eingesetzte Lüge. Es gibt in dieser Handlungsabfolge keine personale Zuspitzung auf Leben und Tod, keine wirklichen Opfer und – das gehört zur Ästhetik des Spiels – keine sichtbare Wunde, kein Blut. Und nirgends
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Das Schicksal des Homunculus z. B. sei in der Klassischen Walpurgisnacht zu stark in den Vordergrund getreten. 25 H P157 (18. Juni 1830). In Bohnenkamp: ... das Hauptgeschäft (Anm. 15). S. 525.
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ein “einfach tief Ergreifendes”. Die Generalität wird gedemütigt und rehabilitiert. Der Gegenkaiser betritt erst gar nicht die Szene und verschwindet nach der Niederlage sang- und klanglos. Der Kaiser belehnt die Vasallen; und wie erwartet, wird die Personalunion von Kanzler und Kirche bestens bedient (die nachgereichte Lizenz für die Magie hat ihren Preis). Im Reich bleibt alles beim Alten, niemand zieht eine Konsequenz. Nach diesem Durchlauf könnte das Spiel von neuem beginnen.26 Eingeschlossen in ihrer Rolle haben die Figuren keinen Raum zur Entwicklung. Freiheit ist hier der Spielraum, den die besseren Tricks eröffnen, das schärfere Kalkül, der Bluff. Mephisto, Champion unter den Falschspielern, kontrolliert die Szene und sichert dem Vasallen, der neu ist im Kreis, den gewünschten Anteil, macht Faust zum erfolgreichen Kriegsgewinnler. Aber Faust, und das unterscheidet ihn von seinen Konkurrenten bei Hofe, verlässt diese Feudalwelt, zieht sich an deren Rand zurück, an den endlosen Strand des Reichs, wo die Welt offen ist, und wuchert mit seinen Pfründen auf moderne Art. Nicht das Genießen ist seine Sache, der Konsum, sondern Produktion und Akkumulation: “Nur mit zwei Schiffen ging es fort, / Mit zwanzig sind wir nun im Port.” (11173f.) In seiner griffigen Formel bringt Mephisto die Entgrenzung auf den Punkt: “Das freie Meer befreit den Geist.” (11177) Das meint nicht nur frei von Zunft- und Handelszwängen, von der Enge nationaler Grenzen, sondern frei auch von moralischen und rechtlichen Bindungen: “Man hat Gewalt, so hat man Recht.” (11184) Wenn es sich anbietet, betreiben Fausts Seeleute auch Piraterie. In jeder Hinsicht grenzüberschreitend lässt Faust die Produktionsmittel arbeiten: Land, Hafen, Flotte, ein Heer an Arbeitskräften, eine militärisch geschulte Ordnungstruppe und nicht zuletzt, Motor des Ganzen, ein dynamisches Management. Doch bevor Faust im großen Stil kolonisiert, muss er sich durch den Kriegseinsatz das Startkapital verdienen – mit List, Täuschung und natürlich mit Gewalt. Welcher Art ist diese Gewalt? Bevor die zentrale Frage nach der Darstellung der Kriegsgewalt gestellt wird, sei zunächst beobachtet, wie denn Gewalt generell im Faust erscheint. Zwei Beispiele. VI. Mord auf offener Bühne (Valentins Tod) Als Valentin Faust hindert, Gretchen zu besuchen, wird er von Faust erstochen. Mephisto (für Valentin nicht sichtbar) pariert Valentins Ausfallstoß, neutralisiert für einen Moment dessen Degen und in diesem Augenblick 26
“Aus dem Kreislauf von Raub und Wieder-Raub scheint es kein Entrinnen zu geben.” So Heinz Hamm: Julirevolution, Saint-Simonismus und Goethes abschließende Arbeiten am Faust. In: Weimarer Beiträge. Berlin, Weimar. 28. Jg. (1982). H. 11. S. 70-91, hier S. 83.
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sticht Faust zu (“Meph. Nun ist der Lümmel zahm”, 3711). Zwei gegen einen. Gretchens Bruder, obwohl Soldat, hat keine Chance, zumal Mephisto dessen Arm wie durch Zauberkraft lähmt. Diese Exekution lässt sich nicht als Totschlag werten und schon gar nicht als fairer Zweikampf. Aber sie ist auch nicht langfristig abgekartetes Spiel wie bei Hamlets Tod, sondern ein gemeiner Mord, wie beiläufig ausgeführt, lässig, gekonnt; routiniert im technischen Ablauf, skrupellos entschlossen. Und passgenau funktioniert die Zusammenarbeit der Täter. Faust fügt sich perfekt in Mephistos Handlungsvorgabe: rasch, ein Zuruf genügt, und der tödliche Stoß sitzt. Die Gewalt trifft hier – wie so oft im Faust – den Schwächeren. Und sie will nicht kampfunfähig machen, sondern töten. Sie zielt auf Vernichtung (die Mutter, der Bruder, das Kind, am Ende Gretchen selbst). Valentins Tod zeigt die Gewalt Mephistos in Reinform: tückisch, professionell und gleichgültig gegenüber dem Opfer. Valentins Tod für sich genommen erscheint denn auch, als wäre er ohne tragische Dimension. Doch gewinnt der Mord an Bedeutung im Blick auf den eigentlichen Mörder, Faust. Der Ermordete ist der Bruder seiner Geliebten.27 Darin liegt das Kalkül Mephistos, diese Konstellation zu gewinnen. Gretchen bleibt damit für alle Zeiten von Faust getrennt.28 Das Resultat der Gewalt ist die fundamentale Zerstörung einer menschlichen Beziehung; der Mord vernichtet die Liebe und isoliert Faust. Übrigens ist der Mord an Valentin die einzige Tötung im Drama (Teil I und II), an der Faust unmittelbar beteiligt ist. Und die einzige Tötung auf offener Bühne überhaupt. Mord, Totschlag, Hinrichtung, Sieg und Niederlage im Krieg – alles spielt sich wie im antiken Drama hinter der Bühne ab. Es wird berichtet oder wie im vierten Akt (Zweiter Teil) als Mauerschau vorgestellt. Die Exekution von Gewalt wird erzählt, aber nicht gezeigt. Valentins Ermordung auf offener Szene ist die Ausnahme. VII. Die Androhung tödlicher Gewalt (Helenas Unterwerfung) Doch tödliche Gewalt ist keineswegs nur in den Berichten lebendig. Der Auftakt des dritten Akts (Zweiter Teil) zeigt exemplarisch, wie Goethe Gewalt im Spiel der Figuren konkretisiert: durch das spannungsgeladene Moment der Bedrohung. Die Täterfigur traktiert die Phase vor dem tödlichen Schlag, zögert ihn hinaus und entfaltet den Imponiergestus der Drohung. So wird vor dem Palast des Menelaos, auf offener Bühne, Helenas 27
“Meuchelmörder ihres Bruders”, sagt Theodor W. Adorno: Zur Schlußszene des Faust [1959]. In ders.: Noten zur Literatur. Frankfurt/M. 1974. S. 134. 28 “Welches Motiv hat Gretchen zum Kindsmord veranlaßt? Die Tötung des Kindes ist zwar eine spontane Verzweiflungstat, aber in ihr verbirgt sich die Logik, daß sie unmöglich ein Kind von dem Mann behalten kann, der ihre Mutter und vor allem ihren Bruder ermordet hat.” Engelhardt: Der plutonische Faust (Anm. 17). S. 379f.
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Hinrichtung vorbereitet: Die Instrumente werden präsentiert und das Ritual verbal durchgespielt. Natürlich bleibt es in diesem Fall bei der Drohung. Diese Inszenierung ist ja Teil der Erpressung, um Helena gefügig zu machen. Aber auch wenn hier die Androhung einer Hinrichtung nur vorgetäuscht ist (der Regisseur der Szene, Mephisto, erscheint in der Drohgestalt der “Phorkyas”), der Todesschrecken entfaltet die erwünschte Wirkung. Die Beobachtung lässt sich generalisieren. Die Darstellung von Gewalt auf der Bühne ist bei Goethe nicht der brachiale Akt physischer Überwältigung, sondern die Aktivierung eines Drohpotentials. Wobei oft gerade das Zusammenspiel von Bericht und Bedrohung die Wirkung steigert. Der Bericht grundiert die Drohung der Täterfigur auf der Szene, macht deren Dimension für das Opfer glaubhaft. Und umgekehrt: Der Drohgestus der Täterfigur intensiviert den Bericht. Man denke an die Teichoskopie des “Türmers”, der die Ermordung des Wanderers und der beiden Alten nicht sieht, sondern lediglich das Abbrennen der Hütte (was aus dieser Sicht auch ein Unfall sein könnte). Doch der vorhergehende Auftritt der “drei gewaltigen Gesellen” macht diese Mauerschau, die nur den letzten Teil der Gewalttat erzählt, für den Zuschauer zur eindeutig gerichteten Aussage über den eigentlichen Schlag, den dreifachen Mord. VIII. Massaker als Drohung Das dramaturgische Prinzip der Rücknahme faktischer Gewalt zugunsten ihrer Drohung gilt insbesondere für die Darstellung kriegerischer Gewalt. Gerade für sie ist das Zusammenspiel von Bericht und Drohgestus typisch. Im vierten, im Kriegsakt, beschreibt die Teichoskopie die Phasen der Schlacht, während die “drei Gewaltigen” ihre Schlagkraft auf der Bühne präsentieren: nicht indem sie zuschlagen, sondern indem sie ihr Potential verbal ausstellen (10331f., 10511f., 10515-18): Raufebold. Wenn einer mir ins Auge sieht, Werd’ ich ihm mit der Faust gleich in die Fresse fahren, [...]. Wer das Gesicht mir zeigt, der kehrt’s nicht ab Als mit zerschlagnen Unter- und Oberbacken; [...] Und schlagen deine Männer dann Mit Schwert und Kolben, wie ich wüte, So stürzt der Feind, Mann über Mann, Ersäuft im eigenen Geblüte.
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“In die Fresse fahren, zerschlagne Unter- und Oberbacken”29 ist nur vermeintlich Maulhuberei. Das Grobianische ist nicht die Äußerung einer Übertreibung, vielmehr bestätigt die Mauerschau, was “Raufebold” androht. Da wütet ein Riese, der die Truppe in eine Kampfmaschine verwandelt (10577-83): Meph. Die rechte Flanke hält sich kräftig; Doch seh’ ich ragend unter diesen Hans Raufbold, den behenden Riesen, Auf seine Weise rasch geschäftig. Kaiser. Erst sah ich einen Arm erhoben, Jetzt seh’ ich schon ein Dutzend toben; Naturgemäß geschieht es nicht.
Dieses Vernichtungspotential funktioniert ohne die Selbstbindung an zivilisierte Normen der Kriegsführung. Es fällt zurück hinter die Versuche, den Krieg einzuhegen.30 Selbst anthropologische Grundmuster sind negiert. Demutshaltung und Flucht lösen hier keine Hemmung aus; im Gegenteil (10333f., 10513f.), Gefangene werden nicht gemacht: Raufebold. Und eine Memme, wenn sie flieht, Fass’ ich bei ihren letzten Haaren. [...] Wer mir den Rücken kehrt, gleich liegt ihm schlapp Hals, Kopf und Schopf hinschlotternd graß im Nacken.
Dieses Töten, das für Erbarmen nicht erreichbar ist, erinnert an Cäsars Soldateska bei Pharsalos, wie sie Lukan beschreibt.31 “Raufebold” will nicht 29
Plutarch über den Angriff der Kohorten Cäsars in der Schlacht von Pharsalos: “Sie benutzten ihre Speere nicht wie üblich als Wurfgeschosse, stießen auch nicht nach den Schenkeln oder den Schienbeinen der Feinde, sondern zielten nach den Augen und verwundeten die Feinde im Gesicht. So hatte es sie Caesar geheißen, weil er darauf baute, daß diese jungen Männer, nicht gewöhnt an Krieg und Verwundungen und stolz auf ihre jugendliche Schönheit, solche Hiebe am meisten scheuen und ihnen nicht standhalten würden. Sie würden neben der gegenwärtigen Gefahr auch noch die spätere Verunstaltung fürchten. Und so traf es auch ein. Sie konnten den Stoß der erhobenen Speere nicht aushalten und hatten keinen Mut mehr, wenn sie das Eisen in Augenhöhe sahen, sondern drehten um und deckten sich, um ihr Gesicht zu schützen. Dadurch gerieten sie völlig außer Reih und Glied, ergriffen schließlich ganz schmählich die Flucht und rissen durch ihr schändliches Verhalten alle übrigen mit ins Verderben.” Plutarch: Alexander Caesar. Übers. und hg. von Marion Giebel. Stuttgart 1990. S. 165f. 30 “Das ganze Recht, das der Krieg über Gefangene gewähren kann, besteht darin, sich ihrer Person so zu versichern, daß sie nicht mehr schaden können.” Montesquieu: Vom Geist der Gesetze [1748]. Tübingen 1992. S. 330. 31 “Selber reichte er [Cäsar] Schwerter nach […] und hieß die Züge des Gegners mit dem Stahl verwüsten.” Lucanus: Bellum civile (Anm. 10). Siebentes Buch. S. 327.
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etwa kampfunfähig machen, sondern vernichten. Ohne dass “die Gewaltigen” als pervers psychologisiert wären, erscheint deren Gewalt als eine Art Exzess. Es sind Schergen, die mit Vergnügen bei der Sache sind. Sie haben Teil an der Lust zu erniedrigen, die ausleben zu dürfen seinerzeit Mephisto erbat: “Erlaubt ihr mir Triumph aus voller Brust. / Staub soll er fressen.” (333f.) Vor allem aber teilen sie Mephistos “eigentliches Element” (1344), den Wunsch zu zerstören. Es ist die Normlosigkeit der Gewalt, die sie als Terror erscheinen lässt, als total im Einsatz gegen ihre Opfer. In ihrer militärischen Funktion scheint Mephistos Spezialtruppe verwandt mit Albas Besatzungsarmee im Egmont. Allerdings agieren die Spanier jenseits des Lustprinzips (“diese Kerle aber sind wie Maschinen, in denen ein Teufel sitzt”).32 Anders dagegen die Gewaltfiguren im Faust; sie leben ihre Killerund Beutementalität aus, mit Lust am Schlagen, Rauben, Festhalten. Bereits im Namen sind sie kenntliche Personifikationen, gewollte Allegorien.33 Andererseits geben sie dank der entfesselten Aggression lebendige Figuren ab; das Ensemble der “Gewaltigen” repräsentiert den Soldaten als Mörder und Marodeur. Was ihnen abgeht im Vergleich mit dem alten Teufel ist der melancholische Aspekt, die Annahme einer gewissen Vergeblichkeit, die Mephisto meint registrieren zu müssen, wenn er die Dimension seiner Vernichtung am Großen und Ganzen bemisst (1369-72): Und dem verdammten Zeug, der Tier- und Menschenbrut, Dem ist nun gar nichts anzuhaben: Wie viele hab’ ich schon begraben! Und immer zirkuliert ein neues, frisches Blut.
Dem jungen “Raufebold” fehlt solch historisches Bewusstsein. Er exekutiert die Vernichtungsarbeit ohne Anflug einer Hemmung. Es ist der Typus einer Gewalt, die Schwache bereitwillig totschlägt. Vielleicht hatte Goethe seine frühere Sicherheit im Glauben an die Unverwüstlichkeit von Mensch und Natur, die in Mephistos Klage anklingt (“Und dem verdammten Zeug ...”), 1830 längst verloren. Er war Zeitgenosse der Modernisierung der Artillerie: Verbesserung der Schrapnellgeschosse mit hoher Verwundungseffizienz (ausgehöhlte Kugeln, gefüllt mit Pulver, zerhacktem Blei und einer Sprengladung), Perfektionierung der Mörserbomben und Brandgeschosse, die eine Stadt an jedem Punkt der Zerstörung preisgeben, auch wenn die Mauern gehalten werden. Goethe erlebt als Augenzeuge, wie die Stadtmauer ihre Schutzfunktion verliert: „Mich wan32
Goethe: Egmont. HA (Anm. 1). Bd. 4. 5. Aufl. 1962. S. 416. “Meph. [...] Und, allegorisch wie die Lumpe sind, / Sie werden nur um desto mehr behagen.” (10329f.)
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delt in meiner jetzigen Lage eine Art Stupor an und ich finde den trivialen Ausdruck: der Verstand steht mir still, trefflich um die Lage meines Geistes auszudrucken. / Die Hälfte der schönen und wohlgelegnen Stadt mag nun wohl schon verbrannt sein […].“ 34 Für den Interpretationszusammenhang des vierten Akts ist entscheidend, dass nicht Mephisto, sondern Faust diese Truppe der kaiserlichen Armee zur Verfügung stellt (Mephisto ist nicht anwesend), und zwar Faust jetzt als Militär (“geharnischt, mit halbgeschloßnem Helme”, 10422, 10507f., 10523f.): “Erlaube denn, daß dieser muntre Held / Sich ungesäumt in deine Reihen stellt.” Und die Gewaltigen nehmen – kriegsentscheidend – sofort führende Positionen ein (“Habebald. Ich ordne mich dem Phalanx an die Spitze.” 10530). Faust präsentiert sich hier als Chef dieses Kommandos, als unmittelbar verantwortlich für den Einsatz der “Gewaltigen”; er macht sich als deren Befehlshaber mit der Mordgewalt gemein. Was auch immer an Massaker exekutiert wird, es geht auf sein Konto. Aber auch die Kriegsführung im Ganzen verantwortet Faust. Mephisto steuert zwar den Schlachtverlauf; so folgt der Kaiser in der Krise Mephistos Bitte (“Befehlt, daß ich befehlen darf”, 10692) und setzt ihn als Oberkommandierenden ein (10705). Aber Mephisto befiehlt im Auftrag Fausts. Im Prinzip ist die Arbeitsteilung zwischen Faust und Mephisto nicht neu, seit sich Faust der Hilfe Mephistos bediente, um Valentin zu beseitigen, seit Fausts erstem Mord also. Ähnlich die Struktur bei der Erpressung Helenas: Faust ist Auftraggeber und Nutznießer, Mephisto der dienende Helfer. Diese Konstellation entspricht dem Stoff schon im Volksbuch. Hier, im vierten Akt, wird die kriminelle Energie auf eine neue Stufe gehoben, indem Faust / Mephisto ein militärisches Kommando führen, das aber (anders als im dritten Akt, in dem Feldzug gegen Menelaos) das ganze Reich betrifft. Die Dimension militärischer Tatkraft geht jetzt ins Große. Und Faust führt den Krieg effektiv, indem er den Gegner skrupellos verfolgen lässt. Der Mord an Valentin hat Faust von Gretchen isoliert, der Krieg – so zeigt der Verlauf des fünften Aktes – radikalisiert die Isolation. Fausts Kontakt mit den Menschen reduziert sich auf das Arbeitsverhältnis, vermittelt über die Befehlsstruktur seines obersten Dieners. Mephisto ist im fünften Akt der einzige Gesprächspartner Fausts (sieht man von der allegorischen Figur der “Sorge” ab).
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Goethe: Brief an Christian Gottlob Voigt (3. 7. 1793) über die Belagerung von Mainz. In Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. München, Wien 1986. Bd. 4,2. S. 838. Die Münchner Ausgabe, hg. von Karl Richter, im Folgenden als Sigle MA.
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IX. Keine Nobilitierung durch Tragik Dass im gesamten vierten Akt der Blick auf die Opfer fehlt, wahrt den komischen Charakter dieses Kriegstheaters. Die Leerstelle macht deutlich, dass Goethe jeden Hauch von Tragik vermeidet. Schauder beteiligter Figuren ist zugelassen, die Aura des Erhabenen oder gar Tragischen wird diesem Krieg verweigert. Kriegerische Gewalt ist in den Reden der “Gewaltigen” und im Fernblick ausgestellt, aber zugleich entrückt. Der vierte Akt ist Spiel, Comic, Groteske, Pharsalos-Parodie: eine Gegenwelt diabolischer Gewalt, in der jedoch Faust als Täter an Kontur verliert. Faust übernimmt zwar die Rolle als Kriegsherr, setzt ohne Zögern “die Gewaltigen” ein, beobachtet, wie Mephisto den Krieg inszeniert, erfreut sich schaudernd am Schauspiel: “Den Wasserfräulein müssen unsre Raben / Recht aus dem Grund geschmeichelt haben / [...]. / Um jener Sieg ist es getan / [...]. / Die mächtige Woge strömt, sie wegzuschwemmen. / [...] / Da droben klappert’s, rasselt’s lange schon, / Ein wunderbarer falscher Ton.” (10717-67). Doch werden ihm im Ernst keine (sichtbaren) Opfer zugestanden; er ist weder der große Kriegsheld noch der große Verbrecher. Vor solchem Hintergrund erscheint der dreifache Mord zu Beginn des fünften Akts, den Faust durch seinen Deportationsbefehl auslöst,35 als dramatische Veränderung. “Wandrer”, “Philemon” und “Baucis” sind Opferfiguren, an deren Schicksal der Zuschauer unmittelbar Anteil nimmt; und damit erneut an Faust als Täterfigur. Bezeichnend auch, dass im vierten Akt jede Spur einer Existenz von Zivilbevölkerung fehlt,36 die zwischen feindlichen Heeren zumeist ihr böses Schicksal erlebt.37 Es gibt keine versteckte Nachricht von einer brennenden Stadt, einem geplünderten Dorf, einem sterbenden Krieger oder gar einem Schlachtfeld, das zum Hades führt. Dieser Krieg ist entmythisiert, trotz Mephistos Zauberei, die zu durchsichtig Spiel mit der Metapher ist und auf die Gegenwart verweist. Und realistisch ist natürlich die Moral dieser Parabel: Krieg sei das ideale Jagdrevier räuberischer Naturen, ob ‘unten’ oder ‘oben’. Es käme nur darauf an, wer das größere Messer hat, um seinen Schnitt zu machen. Mit Hohn weist “Habebald”, das Zelt des Gegenkaisers plündernd, den Vorwurf der Unredlichkeit zurück: “Ihr alle seid auf glei35
“So geht und schafft sie mir zur Seite! – / Das schöne Gütchen kennst du ja, / Das ich den Alten ausersah.” (11275ff.) 36 Goethe hatte in Entwürfen zum vierten Akt Volksszenen vorgesehen. Sie wurden alle getilgt. 37 “Franzosen und Klubisten, wie man wohl bemerken konnte, daß es Ernst werde, veranstalteten, dem zunehmenden Mangel an Lebensmitteln Einhalt zu tun, eine unbarmherzige Exportation gegen Kastel, von Greisen und Kranken, Frauen und Kindern, die ebenso grausam wieder zurückgewiesen wurden. Die Not wehr- und hülfloser, zwischen innere und äußere Feinde gequetschter Menschen ging über alle Begriffe.” Goethe: Belagerung von Mainz. HA (Anm. 1). Bd. 10. S. 374.
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chem Fuß: / Gib her! das ist der Handwerksgruß”. (10829f.) Eine Aussage, die in der Belehnung der Vasallen umgehend ihre Bestätigung findet. In den Kontrastfiguren “Habebald / Eilebeute” auf der einen und “Erzbischof” auf der anderen Seite ist die Differenz zwischen Wahrheit und Ideologie profiliert. Je ‘höher’, desto griffiger die Lüge; je ‘tiefer’, desto offener der Zynismus: Die Marketenderin, sich an “Habebald” anschmiegend (10531-36): Eilebeute. Bin ich auch ihm nicht angeweibt, Er mir der liebste Buhle bleibt. Für uns ist solch ein Herbst gereift! Die Frau ist grimmig, wenn sie greift, Ist ohne Schonung, wenn sie raubt; Im Sieg voran! und alles ist erlaubt.
Wie eine Standarte feiert “Eilebeute” ihren Leitspruch “Im Sieg voran! und alles ist erlaubt”. Doch ihre Parole gilt nicht minder für den Erzbischof; vor allem aber ist sie das Feldzeichen Fausts. “Dieser Erdenkreis”, so tönt Faust kurz vor dem Eintritt in den Krieg, gewährt “noch Raum zu großen Taten” (10181f.). Dann engagiert er die “Gewaltigen”, den Abschaum, schickt sie ins Feld und macht seinen Schnitt. Goethe distanziert hier die Faustfigur wie selten sonst. Zwar hatte Faust noch nie Berührungsängste gegenüber elementaren Urkräften, wie die Szene Hexenküche oder die beiden Walpurgisnächte zeigen. Doch indem Faust die Barbarei militärisch in seinen Dienst stellt, tritt er zum Nichtzivilisierten in ein neues Verhältnis; er wird politisch extrem. Goethe zeigt, zu welchen Mitteln der Bürger greift, wenn er sich entschließt, in großem Stil Herrschaft zu gewinnen. “Im Anfang war die Tat” (1237), so hatte Faust das Evangelium des Johannes übersetzt. Zur Phrase verkommen, erschöpft sich Tat darin, Beute zu machen.38 Mit welchen Mitteln, auf wessen Kosten? Der Faust im Harnisch ist gegen Skrupel gepanzert, ihn interessiert der Erfolg. (Die Niederlage der anderen hat für ihn Unterhaltungswert.) Die Frage nach Fausts Erlösung kann hier nicht diskutiert werden. Aber mit dem vierten und fünften Akt wird deutlich, dass der Autor den Bogen scharf spannt. “Wer immer strebend sich bemüht, / Den können wir erlö-
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Das positive Kontrastbild einer “unerhörten Tat” hat Goethe in der Figur der Iphigenie entworfen. Vgl. Heinz-Peter Preußer: Die Iphigenien. Zur Metamorphose der ‘unerhörten Tat’. Euripides – Goethe – Berg – Braun. In: Mythen in nachmythischer Zeit. Die Antike in der deutschsprachigen Literatur der Gegenwart. Hg. von Bernd Seidensticker und Martin Vöhler. Berlin, New York 2002. S. 19-43, insb. S. 26-30.
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sen”, versichern die Engel, “Faustens Unsterbliches tragend” (11936f.)? Gewicht behält wohl nur Vers 12103, “Göttin, bleibe gnädig!”39 Der Kriegsakt ‘ohne’ Opfer zeigt die Exekution von Herrschaft in einem dramatischen Spiel, das nicht auf Tragik zielt. Kriegerische Gewalt ist in Formen des Komischen ausgestellt, distanziert, ohne Mitleid für die Opfer zu formulieren, Entsetzen über die Grausamkeit oder Empörung über die Raubgier. Es gibt keinen Ansatz für Identifikation (es sei denn in der Form der Schadenfreude).40 Der Schrecken kriegerischer Gewalt fasziniert hier nicht und die Schuld schlägt nicht in Bann. Der Figur des Täters wird jede Art einer Überhöhung verweigert. X. Die Überschwemmungsmetapher Kriegsentscheidend ist neben den “Gewaltigen” Mephistos Magie, die Entfesselung von Naturgewalten und Dämonen. So steckt Mephisto “manch Gespenst” und “Teufelchen” (10561, 63) in leere Rüstungen, lässt diese “in unserm Rücken eine Mauer bilden” (10552) und den oberen Pass sichern. Er aktiviert mit Hilfe der “Undinen” der “Fluten Schein” (10713), vertreibt die Feinde, sie derart täuschend, von den Bergen; irritiert sie durch ein Feuerund Blendwerk des “Gezwergvolks” (10745) und lässt ein “Schreckgetön” (10763) erschallen [...] wider-widerwärtig panisch, Mitunter grell und scharf satanisch, Erschreckend in das Tal hinaus. Kriegstumult im Orchester [...]. (10780-82)
Der Kaiser sieht, wie die drei Gewaltigen geradezu unheimlich kämpfen, die “Flämmchen” an den Lanzenspitzen (10595f.) “tanzen”, die Raben Meldung erstatten – und ihm “schaudert” “vor dem garstigen Kunden / Und seiner Rabentraulichkeit” (10701f.). Selbst Faust, mit der Magie doch seit Jahren vertraut, reagiert ähnlich, wenn er sieht, wie Mephistos Zauber wirkt (10725-33): Faust. Schon rauscht ein Bach zu Bächen mächtig nieder, Aus Schluchten kehren sie gedoppelt wieder, Ein Strom nun wirft den Bogenstrahl; [...]. 39
“Faust is saved not because of his final state, but in spite of it: the conciliation is not an ethical or political statement, but a poetic – specifically, an ironic – effect.” Nicholas Boyle: The Politics of Faust II : Another look at the stratum of 1831. In: Publications of the English Goethe Society. New Series Vol. LII. Leeds 1983. S. 38. 40 Anders die hier zitierten Prosatexte Goethes, die den Blick auf die Opfer richten.
410 Und rauscht und schäumt nach der und jener Seite, Und stufenweise wirft er sich ins Tal. Was hilft ein tapfres, heldenmäßiges Stemmen? Die mächtige Woge strömt, sie wegzuschwemmen. Mir schaudert selbst vor solchem wilden Schwall.
Schauder empfinden die Figuren angesichts einer Kriegsführung, die sich mit den Elementen verbündet. Etwas Ungeheures ereignet sich, jenseits kriegerischer Konvention. Doch wird hier ein Schauder empfunden, der sich nicht zum Erhabenen steigert.41 Die Macht, die sie am Werke sehen, ist nicht nur allbezwingend, deren Status bleibt ungeklärt. Sie ist intentional, greift gezielt ein, und deren Erfolg ist für Kaiser und Faust von höchstem Interesse. Sie müssen die Niederlage der Feinde wünschen. Es gibt nicht die Position einer freien Wahrnehmung dieser grandiosen Elementargewalt, nicht die Chance einer Überhöhung zum Erhabenen, es bleibt beim Schauder vor “solchem wilden Schwall”.42 Die Wassermassen steigern sich zu kraftvollen Wogen, um die Feinde “wegzuschwemmen”. Täuschung ist, dass die Soldaten die Ursache ihrer gewaltsamen Verdrängung im anschwellenden Wasser sehen. Insofern unterscheidet sich die Woge von jenem Wasserschwall, der die Ägypter des Alten Testaments verschlang, “daß nicht einer aus ihnen übrigblieb”.43 Im Roten Meer war die göttliche Überschwemmung real, hier dagegen ist sie halb Schein, halb Realität. In Wahrheit gibt es den Wasserschwall nicht, doch das Faktum bleibt: “tapfres heldenmäßiges” Entgegenstemmen ist auch in diesem Fall, wie Faust sieht, vergeblich; das feindliche Heer wird vom Kriegsschauplatz wie weggespült. Und was geschieht dann? Wird das feindliche Heer in seiner Panik von den Gewaltigen und den Soldaten des Kaisers vernichtet? “Stürzt der Feind,
41
“Alles, was dieses Gefühl in uns erregt, wozu die Macht der Natur gehört, welche unsere Kräfte auffordert, heißt alsdann (obzwar uneigentlich) erhaben; und nur unter der Voraussetzung dieser Idee in uns und in Beziehung auf sie sind wir fähig, zur Idee der Erhabenheit desjenigen Wesens zu gelangen, welches nicht bloß durch seine Macht, die es in der Natur beweist, innige Achtung in uns wirkt, sondern noch mehr durch das Vermögen, welches in uns gelegt ist, jene ohne Furcht zu beurteilen und unsere Bestimmung als über dieselbe erhaben zu denken.” Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Hg. von Karl Vorländer. Leipzig. 4. Aufl. 1913. S. 110 (§ 28). Originalhervorhebungen gesperrt, hier kursiv wiedergegeben. Im Folgenden so durchgehend angeglichen, ohne weitere Erwähnung. 42 Wollte man Kant folgen, so wäre es schon deshalb ausgeschlossen, dass Kaiser und Faust das Kriegsgeschehen als erhaben empfinden, weil mit Mephisto im Bunde der Krieg regellos geführt wird. Die “bürgerlichen Rechte” seien die Voraussetzung, Krieg erhaben empfinden zu können: “Selbst der Krieg, wenn er mit Ordnung und Heiligachtung der bürgerlichen Rechte geführt wird, hat etwas Erhabenes an sich”. Kant: Kritik der Urteilskraft (Anm. 41). S. 109. 43 2. Mose 14, 28.
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Mann über Mann, / Ersäuft im eigenen Geblüte” (10517f.), wie “Raufebold” ankündigt, dem Modell Pharsalos entsprechend? Der Text hält diese Frage offen. Es gibt keine Opfer, keine Verwundeten, keine Toten, die sichtbar oder in einer Mauerschau benannt wären. Es gibt die Niederlage des Gegenkaisers,44 doch keine geschlagene Armee. Lediglich von fern wird die wilde Arbeit “Raufebolds” honoriert oder mit Befremden wahrgenommen. Und Mephisto delektiert sich an der Wehrlosigkeit der “hellen Haufen” (1073641): Und mich ergetzt der wunderliche Fall. Sie stürzen fort zu ganzen hellen Haufen, Die Narren wähnen zu ersaufen, Indem sie frei auf festem Lande schnaufen Und lächerlich mit Schwimmgebärden laufen. Nun ist Verwirrung überall.
Faust siegt und gewinnt das Lehen – um welchen Preis? Dass seine Truppe barbarisch kämpft, ist angedeutet, gestaltet ist es nicht. Oder wirkt der Untergang der Pompejaner auf den “Pharsalischen Feldern” wie ein Modell, wie eine Vorausdeutung auf die Vernichtung des Heeres auch des Gegenkaisers? Den Text so zu lesen, liegt nahe. Goethe vermeidet es im Zweiten Teil generell, Opfer auszustellen.45 Im vierten Akt wirkt deren Absenz geradezu demonstrativ. Doch unbenannt bleibt nur, was allzu offensichtlich ist: “Und der Tod / Ist Gebot, / Das versteht sich nun einmal.” (9888-90) “Wie oft schon wiederholt’ sich’s!” (7012). Dagegen betreibt der Autor Bildaufwand, wenn es um Mephistos Wasserzauber geht. Er setzt mit einer entscheidenden Manipulation ein, der Trennung von Sein und Schein. Mephisto veranlasst diesen Natureingriff und macht sich damit den Schein verfügbar: “Durch Weiberkünste, schwer zu kennen, / Verstehen sie vom Sein den Schein zu trennen, / Und jeder schwört, das sei das Sein.” (10714-16.) Doch das Bild der Woge, die wegschwemmt, was ihr entgegentritt, hatte 1831 längst seinen festen ikonographischen Stellenwert. Es ist eines der beiden Naturbilder, in denen Zeitgenossen seit 1789 das Unfassbare der 44
“Die drey Bursche thun Wunder / Völlige Niederlage der Feinde. Scherzhafte Fälle bey dieser Gelegenheit”. IV H22. In Bohnenkamp: ... das Hauptgeschäft (Anm. 15). S. 681f. 45 Eine Bildfolge wie Gretchen im Kerker ist im Zweiten Teil nicht annähernd gestaltet, vielmehr strikt vermieden. Als “Euphorion”, Fausts und Helenas Sohn, tödlich abstürzt (“Ikarus! Ikarus! / Jammer genug”, so der Chor, 9901f.), lautet die Regieanweisung: “Ein schöner Jüngling stürzt zu der Eltern Füßen, man glaubt in dem Toten eine bekannte Gestalt zu erblicken; doch das Körperliche verschwindet sogleich [...]”. Es folgt “Euphorions Stimme aus der Tiefe”: “Laß mich im düstern Reich, / Mutter, mich nicht allein!” (9905 f.). Kein Leichnam, keine Pietà, nur ein Schrei des Verlassenseins im Tod.
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Französischen Revolution zu fassen suchen (das andere Bild ist das Erdbeben, der Vulkanausbruch, der nach oben bringt, was unten war). Ähnlich wie Faust die von Mephisto inszenierte Schlacht beschreibt, skizziert Goethe 1802 seinen Eindruck vom Geschehen der Französischen Revolution (in Bewunderung und Skepsis, ob denn der Eine, der offenbar die Woge beherrscht, auch fernerhin standhält): Im ganzen ist es der ungeheure Anblick von Bächen und Strömen, die sich, nach Naturnotwendigkeit, von vielen Höhen und aus vielen Tälern, gegeneinander stürzen und endlich das Übersteigen eines großen Flusses und eine Überschwemmung veranlassen, in der zugrunde geht wer sie vorgesehen hat so gut als der sie nicht ahndete. Man sieht in dieser ungeheuern Empirie nichts als Natur und nichts von dem was wir Philosophen so gern Freiheit nennen möchten. Wir wollen erwarten ob uns Bonapartes Persönlichkeit noch ferner mit dieser herrlichen und herrschenden Erscheinung erfreuen wird.46
Mit anderen Worten: Mephistos Überschwemmungszauber zitiert eine der Revolutionsmetaphern. Verräterisch ist schon, wenn sich Mephisto zu Beginn des vierten Aktes als Fachmann (“Ich war dabei”, 10107) für vulkanische Aktivitäten einführt: “So daß gar bald der Länder flache Kruste, / So dick sie war, zerkrachend bersten mußte. / [...] Was ehmals Grund war, ist nun Gipfel” (10085-88). In der Tradition Luzifers präsentiert sich Mephisto im vierten Akt als Experte für ‘Revolution’. Anders formuliert: In Mephistos Überschwemmungsaktion erlaubt sich der Autor den Scherz, die Metapher wörtlich zu nehmen, sie in Dramenhandlung rückzuübersetzen. Revolution ist Überschwemmung, sagt die Metapher; und Mephisto überschwemmt ‘tatsächlich’, als wäre sein Krieg eine ‘Revolution’. Genauer gesagt: als wäre seine Kriegsgewalt von revolutionärer Art und Weise. In den Überschwemmungsbildern bedient sich Mephisto der schockartig erlebten Erfahrung, die Revolution sei unaufhaltsam. Es ist dieser Schein, den Mephisto vom Sein der Revolution gleichsam ablöst, um ihn handhabbar zu machen; einsetzbar für was auch immer, in diesem Fall für einen Bürgerkrieg. Die Faszination der Revolution, den Anschein einer alles ein- und mitreißenden Kraft, trennt Mephisto vom konkreten historischen Ereignis. Er formt den Schein zum Drohpotential, das dem Feind die Angst einjagt, einer ‘übernatürlichen’ Naturkraft gegenüberzustehen. (Mit solchem Trick hatte er schon den Arm des Valentin
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Brief an Schiller vom 9. 3. 1802. In: Goethes Briefe. Hamburger Ausgabe. Bd. 2 1786–1805. Hg. von Karl Robert Mandelkow. München 1988. S. 431. In dieser Textpassage fasst Goethe seinen Leseeindruck von Soulavies Mémoires historiques et politiques du règne Louis XVI zusammen. Die Briefstelle gilt als die älteste Anspielung Goethes auf Napoleon; vgl. Pierre Grappin: Goethe und Napoleon. In: Goethe Jahrbuch 107. Weimar 1990. S. 71.
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gelähmt.) Das erinnert an die Wirkung von Propaganda, der es gelingt, das Imaginationsvermögen zu okkupieren. Eine Massenhysterie ergreift das Heer des Gegenkaisers. Und selbst Kaiser, Generalität und Faust bleiben von der Phantasmagorie nicht unberührt. Doch es ist der Teufel, der den Wahn inszeniert, der als Lügengeist wirkt. Nicht (nur) zur Unterhaltung von Kaiser und Hof wie im ersten Akt, sondern jetzt zur militärischen Vernichtung eines Gegners. Vor der Französischen Revolution, im Egmont, nutzt Goethe die Überschwemmungsmetapher, um (aus der Sicht des Protagonisten) den Sieg der Niederländer zu legitimieren: “Schreitet durch! Braves Volk! Die Siegesgöttin führt dich an! Und wie das Meer durch eure Dämme bricht, so brecht, so reißt den Wall der Tyrannei zusammen und schwemmt ersäufend sie von ihrem Grunde, den sie sich anmaßt, weg!”47 Die Dammbruchvariante der Metapher honoriert den Volkskrieg als Mobilisierung einer Naturkraft, die, in normalen Zeiten durch Dämme gezähmt, gegen die Tyrannei ausbrechen darf. Und selbstverständlich wird die Naturkraft, als sie dann realiter ausbricht, von ihren Akteuren in dem bewährten Bild gefeiert. Ein “vulkanischer Ausbruch, eine Überschwemmung begraben Tausende”, konstatiert Büchners St. Just. Soll denn die moralische Natur, so fragt er, in ihren Revolutionen mehr Rücksicht nehmen als die physische? Die Menschheit werde “aus dem Blutkessel wie die Erde aus den Wellen der Sündflut mit urkräftigen Gliedern sich erheben, als wäre sie zum Erstenmale geschaffen”.48 Die Überschwemmungsmetapher begleitet seitdem die europäischen Revolutionen; und selbst ein historischer Materialist wie Friedrich Engels kommt nicht umhin, von einem Naturphänomen zu sprechen und nach der einschlägigen Metapher zu greifen. Bei ihm ist es – aus der Sicht des Intellektuellen, der in der Kollision den Überblick behalten will – die gefürchtete Strudelvariante: Eine Revolution ist ein reines Naturphänomen, das mehr nach physikalischen Gesetzen geleitet wird, als nach den Regeln, die in ordinären Zeiten die Entwicklung der Gesellschaft bestimmen ... Und sowie man als der Repräsentant einer Partei auftritt, wird man in diesen Strudel der unaufhaltsamen Naturnotwendigkeit hineingerissen. Bloß dadurch, daß man sich independent hält, indem man der Sache nach revolutionärer ist als die andern, kann man wenigstens eine Zeitlang
47
Goethe: Egmont. HA (Anm. 1). Bd. 4. S. 453. Georg Büchner: Dantons Tod. In ders.: Werke und Briefe. München, Wien 1980. S. 41f.
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414 seine Selbständigkeit gegenüber diesem Strudel behalten, schließlich wird man freilich auch hineingerissen.49
Werner Krauss, der diese Briefpassage Engels’ 1953 zitiert, fügt den Satz hinzu, Marx habe niemals gezögert (und darin liege seine Größe), “diese letzte Konsequenz zu ziehen und im Angesicht eines naturhaften Vorganges das Opfer des Intellektes zu bringen”. Revolution wird zum Mythos, der das sacrificium intellectus einfordert. Mephistos Überschwemmung dagegen setzt das Lügenhafte am Revolutionären ins Bild – die Vermengung von Schein und Sein – und nährt das Misstrauen gegenüber der Revolution. Gegen die Überschwemmung, verstanden als Angstbild einer alles ergreifenden historischen Gewalt, vertraut Goethe auf eine bewährte Gegenkraft, die Kunst. Unbeirrt arbeitet er in diesen Monaten an dem Abschluss des Faust. In einem Brief an Zelter beschwichtigt er die Sorge um einen gemeinsamen “jungen Freund”: “Für den ist nun weiter nicht zu sorgen, das schöne Schwimmwams seines Talents wird ihn auch durch die Wogen und Brandungen der zu befürchtenden Barbarei hindurchführen.”50 Gemeint ist Felix Mendelssohn-Bartholdy, der im Süden italienische Revolutionswirren erlebt. XI. Unter dem Schock der Julirevolution “Der Eindruck, den diese blitzschnelle Revolution auch hier gemacht, ist unbeschreiblich. Keine größere Krisis haben wir gehabt. Goethe spricht, er könne sich nur dadurch darüber beruhigen, daß er sie für die größte Denkübung ansehe, die ihm am Schlusse seines Lebens habe werden können.”51 Seit Ausbruch der Julirevolution liest Goethe regelmäßig Zeitungen (vor allem Le Globe und Le Temps), führt einen lebhaften Austausch mit dem Hof, mit Freunden und Besuchern und versucht, ein realistisches Bild von der Situation in Frankreich zu gewinnen. Er registriert die Aufstände in Belgien, in Brabant, die Unruhen in Dresden, Leipzig und Braunschweig,52 49
Friedrich Engels an Karl Marx: Brief vom 13. 2. 1851. Zit. bei Werner Krauss: Karl Marx im Vormärz [1953]. In ders.: Das wissenschaftliche Werk. Band Literaturtheorie, Philosophie und Politik. Hg. von Manfred Naumann. Berlin, Weimar 1984. S. 477. 50 Goethe: Brief an Zelter (vom 31. 3. 1831). MA (Anm. 34). Bd. 20.2. Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter in den Jahren 1799 bis 1832. München, Wien 1998. S. 1460. 51 Kanzler Friedrich v. Müller an Joh. Friedr. Rochlitz (4. 9. 1830). In: Goethes Gespräche. Eine Sammlung zeitgenössischer Berichte aus seinem Umgang. Hg. von Wolfgang Herwig. Zürich, Stuttgart 1972. Bd. 3. Zweiter Teil 1825–1832. S. 664. 52 Goethe, Brief an August v. Goethe (17. 9. 1830): “In Leipzig haben sie Häuser gestürmt, in Dresden das Rathaus verbrannt und die Polizeiarchive zerstört. [...] In Braunschweig geschah das Absurdeste; die Feuerlustigen manövrierten neben den
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München und Warschau, kümmert sich intensiv um die Ereignisse in Jena53 und die Entwicklung in Gera, Altenburg, Eisenach und Ilmenau. Goethe befürchtet eine “Reprise der Tragödie von 1790”54 und spricht von dem “gewaltige[n] Pariser Erdbeben, das ganz Europa erschüttert”.55 Auf mehr als vierzehn engbedruckten Seiten versammelt Gottlieb C. L. Schuchard tabellarisch Stellungnahmen Goethes zur Julirevolution aus dem Zeitraum August 1830 bis April 1831.56 Es sind Monate, in denen Goethe an den letzten Textpassagen zum Faust schreibt. Die Zitate aus dem Tagebuch, aus Briefen und überlieferten Gesprächen widerlegen die These, der späte Goethe habe sich nicht für Politik und schon gar nicht für die Julirevolution interessiert. Das Gegenteil ist der Fall. Schuchard schreibt den Aufsatz 1935 (in New York). Er stand im Widerspruch zur Forschung damals, die seine Arbeit nachhaltig negierte, obwohl der Beitrag in der Zeitschrift für deutsche Philologie nicht zu übersehen war. Schuchards Forschung wurde ignoriert, weil dessen Erkenntnisse zu dem Schluss führen, Goethe habe seine Kritik an der späten Faustfigur verschärft, deren Idealisierung erschwert. Doch seit den siebziger Jahren wird mehr und mehr zur Kenntnis genommen, dass zwischen Goethes Studium des Saint-Simonismus (begonnen 1825, erneut aufgenommen in den Wochen nach der Julirevolution, intensiv betrieben im Mai / Juni 1831) und den Schlussarbeiten zum Faust (Januar bis Juli 1831) eine enge Beziehung besteht.57 Goethe sieht im Saint-Simonismus die stärkste intellektuelle Kraft der revolutionären Bewegung. Er würdigt dessen gesellschaftskritische Diagnose und den Ansatz, Verhältnisse schaffen zu wollen, die die ‘Produktionsmittel’ steigern und das Leistungsprinzip zur Geltung bringen. Doch er kritisiert ein Programm, das die bestehenden Eigentumsverhältnisse aufheben und eine administrative Zentrale errichten will, in der Führungsfiguren das Eigentum nach Leistung neu verteilen, um derart die Gesamtproduktion zu steuern. Goethe hält diese Idee für eine
Kanonen vorbei, die man gegen sie aufgeführt hatte, und brannten die eine Seite des Schlosses ganz ruhig und ungestört nieder.” In: Goethes Briefe (Anm. 46). Bd. 4. S. 396. Hervorragend informiert ist Goethe vor allem durch die ständigen Gespräche mit Staatsminister von Gersdorff. 53 Am 29. September 1830 werden Truppen nach Jena entsandt. 54 Goethe: Brief an Karl Ludwig v. Knebel (12. 9. 1830). In: Goethes Briefe (Anm. 46). Bd. 4. S. 394. 55 Goethe: Brief an Jakob v. Willemer und Marianne (8. 10. 1830). In: GoetheWillemer. Briefwechsel. Hg. von Hans-J. Weitz. Frankfurt/M. 1986. S. 239. 56 Gottlieb C. L. Schuchard: Julirevolution, St. Simonismus und die Faustpartien von 1831. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie. Stuttgart 1935. S. 243-257. 57 Hamm: Julirevolution (Anm. 26). S. 70-91; Boyle: The Politics of ‘Faust II’ (Anm. 39). S. 4-43.
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aberwitzige Anmaßung gegenüber dem Individuum.58 Schuchard sieht hier den Zusammenhang mit dem fünften Akt.59 Die Forschung geht heute davon aus, dass Goethe nicht nur die Philemon und Baucis-Szene (erst) 1831 verfasst,60 sondern auch Fausts ‘Schlussmonolog’ im fünften Akt (noch) 1831 ergänzt hat,61 vor allem um die Verse (so konstatiert Boyle), “Grün das Gefilde, fruchtbar; Mensch und Herde / Sogleich behaglich auf der neusten Erde” (11565-66) und “Im Innern hier ein paradiesisch Land” (11569).62 Goethe habe den Eindruck verstärken 58
Goethe, Brief an Zelter (28. 6. 1831). MA (Anm. 34). Bd. 20.2. S. 1496f. Darin Kritik Goethes am Saint-Simonismus: “Die Narren bilden sich ein die Vorsehung verständig spielen zu wollen und versichern jeder solle nach seinem Verdienst belohnt werden, wenn er sich, mit Leib und Seele, Haut und Haar, an sie anschließt und sich mit ihnen vereinigt. [...] Wer unterstünde sich den Wert der Zufälligkeiten der Anstöße, der Nachklänge zu bestimmen [...]. Genug wer sich untersteht zu schätzen was der Mensch ist, der müßte in Anschlag bringen, was er war und wie er’s geworden ist. Solche allgemeine Unverschämtheiten haben wir gar oft schon erlebt [...].” Die maßgebliche Schrift über den Saint-Simonismus, Doctrine de SaintSimon. Exposition, Première année 1829, war im August 1830 erschienen; Goethe liest sie im Mai 1831; Hamm: Julirevolution (Anm. 26). S. 90. Im Dezember 1830 publizierte Fr. W. Carové seine Kritik an der Doctrine de Saint-Simon (Der SaintSimonismus und die neuere französische Philosophie, 1831): Man könne die Not der ärmeren Klassen nicht durch “eine Staatseinrichtung” beheben, die “drückendste Willkür von souveränen Gutsverteilern” zur Folge hätte. An anderer Stelle spricht Carové vom “Simonistischen Despotismus”; Schuchard: Julirevolution (Anm. 56). S. 273, 363. Zum Verhältnis Goethe / Carové vgl. Schuchard ebd. S. 267. 59 “Der Einzelne geht auf in der Masse. Die Individuen werden zusammengeballt, koordiniert, zu savants, artistes, industriels etc. An deren Spitze steht der Père, dessen Wort in allen Fragen ausschlaggebend ist. – In Fausts Reich, so wie es uns am Anfang des fünften Akts gezeigt wird, wohnen zwar viele Menschen, doch von Individuen ist nichts zu sehen noch zu hören.” Schuchard: Julirevolution (Anm. 56). S. 273. Entsprechend sieht Schuchard in Fausts Schlussmonolog “eine Satire auf die St. Simonisten”, S. 381. 60 “The scenes ‘Offene Gegend’, ‘Palast’ und ‘Tiefe Nacht’ make up a single unified episode, the destruction of Philemon and Baucis (first mentioned by Goethe on 9 April 1831), which was put together between (at the earliest) 12 February and (at the latest) 7 June 1831.” Boyle: The Politics of ‘Faust II’ (Anm. 39). S. 16. 61 “Vom 26. Juni bis 12. Juli 1831 erhielt Fausts Schlußmonolog die Fassung letzter Hand”. So bereits Gottfried Wilhelm Hertz 1932: Zur Entstehungsgeschichte von Faust II Akt 5 (1825. 1826. 1830). In: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte 33 (1932). S.°249. 62 “At any rate we should note that it is to the last stages of Goethe’s work on the scenes showing Faust’s death, to the stages after his aquaintance with Saint-Simon’s life and ideas, that two important additions to the characterization of Faust must be dated: the vision of a future Golden Age in his last speech (especially lines 1156566, 11569); and the quatrain that concludes the scene ‘Mitternacht’ (lines 11507-10). It is probable that both these additions were made in 1831.” Boyle: The Politics of ‘Faust II’ (Anm. 39). S. 14.
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wollen, Faust spreche von einem Goldenen Zeitalter. Das berühmte Motto der Saint-Simonisten versprach: “l’age d’or du genre humain n’est pas derrière nous, il est au-devant; il est dans la perfection de l’ordre social.”63 Solche Vision sei in Fausts Rede als phrasenhaft ironisiert. Und in der Tat, Goethe sah kein Goldenes Zeitalter anbrechen, vielmehr die Gefahr, dass unter saint-simonistischem Vorzeichen eine Gesellschaftsordnung etabliert werde zugunsten weniger Reicher und einer dubiosen Staatsführung. So karikieren die vier Schlusszeilen der Szene Mitternacht im fünften Akt (ebenfalls 1831 ergänzt)64 das Konzept eines autoritären Leitungssystems (11507-10): Auf strenges Ordnen, raschen Fleiß Erfolgt der allerschönste Preis; Daß sich das größte Werk vollende, Genügt ein Geist für tausend Hände.
Wenn der Bürger an die Macht komme, so fasst Heinz Hamm Goethes Sicht zusammen, werde er alle Eigenständigkeit und Andersartigkeit vernichten. Der “Patron” (11170) Faust dulde nur das eine Verhältnis völliger Unterordnung: Er ist der “Herr” (11091, 11169) und alle anderen Menschen sind seine “Knechte” (11091, 11503). Faust könne “unmöglich” neben sich unabhängige, eigenständige Menschen “ertragen” (11237). Wer ihm nicht “untertänig sein” wolle (11134), müsse “weichen” (11239). Doch Hamm verabschiedet die traditionelle Idealisierung der Faustfigur nicht ganz. Er beendet seinen Artikel mit einer Perspektive, die Goethes Horizont für eine nichtbürgerliche Zukunft offen sieht, wie das in der Tradition der marxistischen Faust-Rezeption seit Lukács üblich war:65 Goethe lehnt das Angebot der Saint-Simonisten, in die bestehenden Besitzverhältnisse einzugreifen, als untauglich ab, kann jedoch selbst kein anderes, besseres vorbringen. Er weiß es wirklich nicht. Der zweimalige Gebrauch des Attributs ‘frei’ in der entscheidenden Verszeile 11580 [“Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn”], zu dem sich Goethe in letzter Bearbeitung entschließt, verfolgt ganz
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Le Globe vom 26. Oktober 1830. Vgl. Boyle: The Politics of ‘Faust II’ (Anm. 39). S. 15. Goethe hat im September und Oktober 1830 regelmäßig Le Globe gelesen, das Zentralorgan der Saint-Simonisten. Im Übrigen war die Formel vom Goldenen Zeitalter natürlich gängige Münze. 64 Boyle: The Politics of ‘Faust II’ (Anm. 39). S. 14-16. 65 Der Grundwiderspruch zwischen der geschichtlichen Notwendigkeit des kapitalistischen Fortschritts und dessen inhumanen Seiten sei im Faust gerade in der ‘Ungelöstheit’ adäquat ausgedrückt.
418 offensichtlich den Zweck, zukünftiger Rezeption einen breiten Spielraum des Supplierens66 bewußt offenzuhalten.67
Das ist die Schwundstufe der Utopievariante. In der offiziellen Literaturgeschichtsschreibung der DDR fungierte Faust noch als Inbegriff bürgerlicher Emanzipation ‘bis an die Schwelle des Sozialismus’: Aber freilich konnten diese Ideale [‘tätige Gemeinschaft, freies Volk, in paradiesischem Land, auf freiem Grund’] niemals in der kapitalistischen Klassengesellschaft realisiert werden. Enthalten sie auch nichts spezifisch Sozialistisches, so sind sie doch von der Art, daß der wissenschaftliche Sozialismus von Karl Marx und Friedrich Engels sie auf seine Weise in sein Gedankensystem aufnehmen konnte.68
Cesare Cases ironisiert solche Position als das “unbewußte Mitwirken der Dichtung an der providentiellen Entstehung des historischen Materialismus”.69 In seinem Schlusswort zur Tagung Deutsche Klassik und Revolution (1978) sichtet Cases auch Westinterpretationen des ‘Schlussmonologs’ aus
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Hamm: Julirevolution (Anm. 26), spielt auf Kurt Mays Interpretation des ‘Schlussmonologs’ an, die, “aus der Sprachform gedeutet”, zu dem Resultat kommt, Faust sei nicht geläutert. May sieht aber einen offenen Horizont, gleichsam eine Lizenz für Deutungen: “Nach strenger Prüfung des Textes kann niemand leugnen, daß eine volle Verwandlung Fausts – nach dem Frevel an Philemon und Baucis, nach gefaßter Absicht, sich von der Magie zu lösen, nach der Abwehr der Sorge – zur ethisch-sozialen Läuterung seines Tatwillens und Herrschaftsstrebens darstellungsmäßig durchaus nicht realisiert ist, also jedenfalls nicht gegeben ist; vielmehr sind die letzten Wendungen Fausts in der Richtung auf neue Ziele hin stark unvermittelt aneinandergefügt, wobei auch die Begründungen, welche sie erzeugen, dem Leser oder Zuschauer zum ‘Supplieren’ aufgegeben sind.” Kurt May publiziert seine Arbeit 1936. In seinem Nachwort (vom 1. Nov. 1936) weist er darauf hin, von der Person Goethe sei kaum einmal und “vom deutschen Menschen überhaupt nicht” die Rede gewesen “und doch zugleich von beiden in jeder Zeile”. “In der kompromißlosen Einstellung auf das poetische Werk als Gewirktes und Wirkendes ist auf eine nachdrücklich schweigende Art mit der Interpretation zugleich ein Beitrag zur nötigen Kritik am Faustischen gegeben; zum mindesten scheint jetzt erst die Bahn zur kritischen Auseinandersetzung frei, die Grenze der Reichweite, der Bedeutung, der Größe des Faustischen mit seiner Größe zusammen sichtbar geworden.” Kurt May: Faust II. Teil. In der Sprachform gedeutet. Berlin 1936. S. 252f. und 276. Neuauflage München 1962 (hg. von Oda Carola May). Hervorhebungen im Original gesperrt. 67 Hamm: Julirevolution (Anm. 26). S. 86f. 68 Thomas Höhle, Hans-Georg Werner: Geschichte der deutschen Literatur 1789 bis 1830. In: Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Siebenter Band. Hg. von Hans-Dietrich Dahnke. Berlin 1978. S. 732f. 69 Cesare Cases: Fausts ‘Schlußmonolog’: Eine Diskussion und ihre Folgen. In: Deutsche Klassik und Revolution. Texte eines literaturwissenschaftlichen Kolloquiums. Hg. von Paolo Chiarini und Walter Dietze. Rom 1978. S. 302.
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den siebziger Jahren70 und charakterisiert sie als “Ausfluß der Richtungskämpfe nach dem Scheitern der Studentenbewegung”. Doch als Resultat hält Cases fest, Fausts Schlussmonolog sei nicht die Utopie einer befreiten, demokratischen oder gar sozialistischen Gesellschaft, sondern die letzte, von Goethe nicht geteilte und objektiv ironisierte “Illusion eines Verblendeten”, die Illusion, die kapitalistische Entwicklung stelle trotz ihrer inhumanen Seiten “einen Fortschritt ad infinitum” dar.71 XII. Vom Bürgerkrieg zur Diktatur Der Krieg spielt im Kostüm des 16. Jahrhunderts; man kämpft mit Lanze, Schwert und Kolben und die Spekulation auf das Lehen motiviert Fausts Kriegsbeteiligung. Doch Goethe schreibt den vierten Akt zwischen April und Juli 1831, während er sich mit der Entwicklung in Frankreich auseinandersetzt und für Europa das Schlimmste befürchtet, sollten die Dämme der Monarchien brechen. Befürchtet wird nicht nur revolutionäre Gewalt, sondern ein Zusammenbruch zivilisatorischer Standards mit verheerenden Folgen; ein Prozess, für den die Geschichte Roms das immerwährende Modell liefert. So sendet Niebuhr am 17. Dezember 1830 dem einundachtzigjährigen Goethe den zweiten (überarbeiteten) Band seiner Römischen Geschichte mit einem beschwörenden Begleitbrief: Mögen Sie uns lange, lange erhalten bleiben! So lange Sie, als gegenwärtige Gottheit, in unserer Mitte verweilen, steht der Barbarey und Ausartung eine Macht entgegen, nach deren Verschwinden alles unter ihre Gewalt fallen würde. Das Urtheil in meiner Vorrede über die Zukunft hat vielen Ärgerniss gegeben, die da glauben, es sey eine herrliche Zeit: ich glaube nicht dass Sie es irrig finden, noch zweifeln, dass wir der rohsten und widerlichsten Barbarey grade entgegen gehen.72
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Argument-Sonderband 3, 1976; Das Argument 99, 1976; Fragen der Klassikrezeption. Hg. von Hans Christoph Buch. Reinbek 1974. 71 Cases: Fausts ‘Schlußmonolog’ (Anm. 69). S. 318f. Der Kommentar der Münchner Ausgabe, MA (Anm. 34). Bd. 18.1. S. 1129, widerspricht solcher Lesart. “Eröffn’ ich Räume vielen Millionen” (11563) sei “die Utopie neuen freien Lebens einer ganzen Menschheit”. Als eine Vorwegnahme des von Faust “Erstrebten kennzeichnet sie nicht ihn als Sich-Täuschenden, sondern sein Leben (Streben) immer schon als unendliche Annäherung an ein ‘Höchstes’.” Der Satz meint offenbar Annäherung an ein Höchstes objektiv, nicht nur subjektiv (Faust täusche sich nicht). Aber gilt dieses “immer schon” auch für den vierten Akt? 72 Barthold Georg Niebuhr: Briefe. Neue Folge. 1816 –1830. Hg. von Eduard Vischer. Band 4. Bern, München 1984. S. 157f. In einem Brief an Zelter (17. 1. 1831) bezieht sich Goethe auf diesen zweiten Band der Römischen Geschichte. MA (Anm. 34). Bd. 20.2. S. 1430ff. Goethe hatte sich in seiner Niebuhr-Lektüre intensiv mit den Passagen über die Ackergesetze beschäftigt, mit dem “Labyrinth von Sein und
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In seiner Vorrede spricht Niebuhr vom “Wahnwitz des französischen Hofs”, der “den Talisman zerschlug, welcher den Dämon der Revolution gebunden hielt”: “Jetzt blicken wir vor uns in eine, wenn Gott nicht wunderbar hilft, bevorstehende Zerstörung, wie die römische Welt sie um die Mitte des dritten Jahrhunderts unsrer Zeitrechnung erfuhr: auf Vernichtung des Wohlstands, der Freyheit, der Bildung, der Wissenschaft. ”73 Zwei Phasen römischen Niedergangs stehen gemeinhin Modell, wenn es um die Formulierung kollektiver Untergangsängste geht: der innere Zerfall im dritten (und vierten) Jahrhundert (der schließlich zum Zusammenbruch des Römischen Kaiserreichs führt, worauf Niebuhr anspielt) und der Verfall der Römischen Republik. Mit den Gracchen setzte eine fast hundertjährige Periode von bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen ein, die mit Cäsar in Diktatur und Kaisertum übergeht. Pharsalos markiert in dieser Entwicklung den Höhe- und Wendepunkt. Goethe spielt offenbar mit beiden Modellen. In der Aufeinanderfolge vom vierten zum fünften Akt liegt die Richtung des Abstiegs auf der Hand: vom Bürgerkrieg zur Diktatur. Krieg zwischen ‘Kaiser und Gegenkaiser’ ist aber auch eine Konstellation, typisch für die letzten zwei Jahrhunderte des Römischen Reichs. Beide Verfallsmodelle überlagern sich, doch dominiert mit dem fünften Akt die Diktaturvariante. Der Krieg ist nicht nur das Mittel, durch das Faust sein Lehen gewinnt, er ist auch das Medium, durch das Faust herrschen lernt. Der Kriegseinsatz auf höchster Ebene disponiert zur Herrschaft im künftigen Reich. Die ungehemmte Gewalt im Bürgerkrieg konditioniert für die spätere Willkür – beides bedeutet Krieg gegen das eigene Land. Die Übernahme der “Gewaltigen” in den fünften Akt (dort heißen sie “die drei gewaltigen Gesellen”) ist Ausdruck dieser Kontinuität.
nicht Sein, von Legenden und Überlieferungen, von Märchen und Zeugnissen, von Gesetzen und Revolutionen”. Wie schon die Revolutionäre von 1789 beriefen sich in der aktuellen Diskussion von 1830 die Saint-Simonisten auf die Gracchen. Die Landverteilung an die Plebejer betraf aber nur das Staatsland, während das Privateigentum der römischen Großgrundbesitzer verschont blieb. Nicholas Boyle diskutiert den illusionären Charakter des saint-simonistischen Bezugs auf die römische Geschichte, der Goethe durch die Niebuhr-Lektüre offensichtlich deutlich geworden war. Boyle: The Politics of ‘Faust II’ (Anm. 39). S. 17-23. Niebuhr (Jahrgang 1776) hatte übrigens schon früh begonnen, die Schlagworte der Revolutionäre von 1789 auf ihre historische Stichhaltigkeit hin zu überprüfen. In Dithmarschen aufgewachsen, hatte er einen realistischen Blick für bäuerliche Freiheit entwickelt. 73 Barthold Georg Niebuhr: Römische Geschichte. Neue Ausgabe. Hg. von M. Isler. Zweiter Band. Berlin 1873. S. VIII f. Niebuhr datiert seine Vorrede zur zweyten Auflage des zweyten Theils auf den 5. 10. 1830.
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Das barbarische Potential, die Sondertruppe, wird transferiert und ist in Fausts neuem Reich nach Bedarf einsetzbar (Philemon und Baucis-Szenen). Kriegerische Gewalt bestimmt den Charakter dieser Gesellschaftsordnung auch nach außen: “Ich müßte keine Schiffahrt kennen: / Krieg, Handel und Piraterie, / Dreieinig sind sie, nicht zu trennen.” (11186-88) Das ist nicht nur ein allgemeines Räsonnement über den Lauf der Welt (das ist es auch), sondern ein zutreffendes Resümee der maritimen Praxis, die Mephisto in seinem Bericht über die erfolgreiche Ausfahrt vorträgt (11173-85). Die Gewalt, die diese Herrschaft prägt, hat nicht die Qualität von potestas, legitimer Machtausübung, sondern erscheint als violentia. So gibt es keine Beschränkung, wo und wie die Gewalt im Innern eingesetzt werden darf; sie ist unumschränkt.74 Mephisto und Faust befürchten keine Sanktion einer übergeordneten Instanz.75 Faust redet – auf sich bezogen – von “des allgewaltigen Willens Kür” (11255); er übt das Gewaltmonopol aus. Die alte Rechts- und Reichsordnung scheint außer Kraft gesetzt und damit die Sicherheit des Eigentums und der Person (polizeilich / militärischer Einsatz ohne gesellschaftliche Kontrolle wird Terror). Mit anderen Worten: Fausts Herrschaft ist nicht aufgeklärter Absolutismus, sondern Despotie. In Produktion und Handel dagegen repräsentiert sein Reich den Fortschritt. Es sind alte Feudalkräfte, die sich mit dem modernen Bürger Faust arrangieren und sein Reich zulassen. Und die reale Welt erlebt 1830/31, wie im Zuge der Julirevolution die französische Großbourgeoisie mit Louis Philippe im Bündnis ein Regime durchsetzt, das ihr weiten Raum lässt, sich zu entfalten: Die Regierung gleicht einer korrupten Aktiengesellschaft (Tocqueville). Das Studium des Saint-Simonismus schärft in dieser Lage Goethes Blick für die Frage, zu welcher Konsequenz eine großbürgerliche Autonomie führen kann, die sich revolutionär leiten lässt. Denn Goethe sieht eine verhängnisvolle Affinität von Revolution und Reaktion.76 Die Umwälzung im Faust vom Feudalsystem zur freien Wirtschaftszone ist modern, stellt triumphierend den ökonomischen Fortschritt aus. Politisch ist sie reaktionär; und zugleich modern, insofern diese Herrschaft frei von feudalen
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So auch Heinz Hamm: “De facto unterliegen jedoch Fausts ‘Eigentum’ und ‘Herrschaft’ keinerlei Beschränkung. Im Text fehlt jeder Hinweis, daß der Kaiser in irgendeiner Weise, zum Beispiel durch Erhebung der dem Erzbischof versprochenen Abgaben, nach der Belehnung noch in Fausts Reich hineinregiert.” Hamm: Julirevolution (Anm. 26). S. 83. 75 Anders nach der Tötung Valentins, als Mephisto mit dem Verweis auf Polizei und Blutbann sofort zur Flucht drängt. 76 Zu ‘Reaction als Fortschritt’ vgl. Mazzino Montinari: Aufklärung und Revolution: Nietzsche und der späte Goethe. In: Deutsche Klassik und Revolution (Anm. 69). S. 277-286.
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Bindungen ist.77 Egmont bejaht kriegerische Gewalt, weil sie von der Tyrannei befreit, Faust praktiziert sie, weil sie nach dem Bürgerkriegs sieg sein Expansionsinteresse sichert. Im Blick auf die Totalitarismen des zwanzigsten Jahrhunderts entfaltet Goethes Faustmodell prognostische Kraft.78 Man herrscht totalitär und rechtfertigt die Gewalt im Verweis auf die Bestandssicherung von Klasse, Rasse, Volk und Partei. Faust verweist auf das große Projekt und stimuliert – wie jede Diktatur – die Hoffnung auf eine glänzende Zukunft. Als Schüler Mephistos kennt er die Kraft von Befreiungsideologien und traktiert das einschlägige Adjektiv: “Auf freiem Grund ...”. Goethe dagegen sieht die neuen Despotien: Das Beispiel von Napoleon, sagte Goethe, hat besonders in den jungen Leuten von Frankreich, die unter jenem Helden heraufwuchsen, den Egoismus aufgeregt, und sie werden nicht eher ruhen, als bis wieder ein großer Despot unter ihnen aufsteht, in welchem sie das auf der höchsten Stufe sehen, was sie selber zu sein wünschen. Es ist nur das Schlimme, daß ein Mann wie Napoleon nicht sobald wieder geboren wird, und ich fürchte fast, daß noch einige hunderttausend Menschen darauf gehen, ehe die Welt wieder zur Ruhe kommt.79
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“Die ihm wohlbekannten Ansichten der St. Simonisten halfen ihm dabei, den grundlegenden Gedanken, der diese Szenen beherrscht, klar und scharf zu erfassen, den Gedanken, daß der dritte Stand auf den Trümmern der Revolution, des Kaiserreichs und der Restauration seine merkantile und industrielle Herrschaft errichtet und über den Erdball verbreitet hat.” Schuchard: Julirevolution (Anm. 56). S. 383. 78 Nach Abschluss des hier vorliegenden Aufsatzes erschien Michael Jaegers umfangreiche Habilitationsschrift mit dem Titel: “Fausts Kolonie”. Goethes kritische Phänomenologie der Moderne. Würzburg 2004. In der Gesamtsicht, aber auch in zahlreichen Einzelbefunden gibt es Überschneidungen, auf die hier aber nicht mehr ausführlich eingegangen werden kann. 79 Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. MA (Anm. 34). Bd. 19. S. 438f. (21. 3. 1831).
Christian Jäger
Kriegsmaschinen. Zur politischen Theorie von Gilles Deleuze und Félix Guattari 1. Axiom: Die Kriegsmaschine ist dem Staat äußerlich.1 Referring to the concept of war machines used by French philosophers Gilles Deleuze and Félix Guattari in their opus magnum, Mille Plateaux, this text attempts to explain the concept by showing different functions of its use. Unique is the first definition as a non-state apparatus, a thesis which is historically based on the first machines of war, which were formed by nomads. Other definitions outline the difference between tools and weapons as differences between strongly determined functions and free or multiple possibilities of usage. Those first machines of war were later perverted into state-owned machines of war with different functions aiming at total war. Astonishingly enough, Deleuze / Guattari hint at an intimate connection with capitalism and a new kind of global repression, allowing us to take a new look at the events of September 11th, thereby demonstrating how useful this concept might be with respect to actual politics.
Dass die Kriegsmaschine dem Staat äußerlich sei, schreiben Gilles Deleuze und Félix Guattari im Abhandlung über die Nomadologie überschriebenen Kapitel ihrer Tausend Plateaus, und bereits mit dieser ersten (axiomatischen) Setzung ziehen sie eine Differenz zu den gängigen Theorien des Krieges von Clausewitz bis Carl Schmitt ein, die den Krieg dem Staat und dessen Verfügungsgewalt zurechnen. Wenn Schmitt seinen Begriff des Politischen 2 zu Beginn der 60er Jahre um die Theorie des Partisanen 3 ergänzt, so ist die Einführung dieses nichtstaatlichen Kriegers gleichbedeutend mit der Invasion des ungehegten Krieges und seiner Schrecken. In Mille Plateaux 4 wird der Versuch unternommen, den Krieg von vornherein als Schrecken einer staatlichen Ordnung zu denken, denn der Krieg “löst Bindungen und bricht Abkommen”.5
1
Gilles Deleuze / Félix Guattari: Tausend Plateaus. Übers. von Gabriele Ricke und Ronald Voullié. Berlin 1992. S. 482. Zum Kontext innerhalb des Werkes vgl. Christian Jäger: Gilles Deleuze – Eine Einführung. München 1997. 2 Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen [1932]. Berlin 1963. 3 Carl Schmitt: Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen. Berlin 1963. 4 So der französische Titel der Tausend Plateaus. Paris 1980. 5 Deleuze / Guattari: Tausend Plateaus (Anm. 1). S. 483.
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Begreift man die staatliche Ordnung als eine auf Dauer gestellte und auf einer gewalttätigen Machtergreifung beruhende Fixierung historischer Machtverhältnisse, so impliziert sie eine Vielzahl von Hierarchisierungen und strukturell festen Machtverteilungen. Krieg durchbricht Hierarchien und Festlegungen, und insofern die Kriegsmaschine die bestehenden Strukturen aufhebt, ermöglicht sie ein Werden. Die Kriegsmaschine wird also zunächst begriffen als anti-staatliche Organisationsform von anti-hierarchischen Kräften. Nicht zuletzt wegen dieser anti-hierarchischen Kraft bemüht sich der Staat, sich die Kriegsmaschine anzueignen. Eine Erinnerung daran findet sich in Thomas Hobbes’ Leviathan,6 worin sich der Staat auf einem Vertragsschluss aller gründet, um den Krieg aller gegen alle zu verunmöglichen. Damit ist der Staat nicht als Gegensatz zum Krieg gesetzt, sondern er wird exklusiv zu Kriegführung und Tötung berechtigt. Dieser theoretische Gründungsakt des staatlichen Gewaltmonopols geht von einem archaischen Naturzustand aus und wendet die Fragestellung so ins Historische: Wieso sind überhaupt Kriegsmaschinen entstanden und nicht vielmehr keine? Deleuze /Guattari zufolge besitzen die Kriegsmaschinen ihren außerhalb des Staates gelegenen Ursprung bei den Nomaden, die eine andere Form der sozialen Organisation, der Korporation entwickelt haben. Nomaden erlangen ihren sozialen Status weniger durch die Zugehörigkeit zu einer territorialen Einheit oder einer bestimmten Familie, sondern durch genealogische Mobilität. Das heißt es wird nicht versucht, Abstammungslinien abzugrenzen; im Gegenteil findet ein dynamisches Orientieren auf Verknüpfungspunkte zwischen Clans statt, das die praktische Solidarität begründet. Dazu gehört auch, dass die Führungspositionen nicht mit Macht im Sinne von Sanktionierungsmöglichkeiten ausgestattet sind. Der Lebensform entspricht die Gesellschaftsform als wesentlich auf Beweglichkeit ausgerichtete, in der weder die Familien, noch die Machtbeziehungen dauerhaft fixierte sind.7 Den nomadischen oder staatlichen Gesellschaftsordnungen korrelieren Denk- und Wissenschaftsformen: einerseits die nomadische oder ambulante Wissenschaft, andererseits die staatliche oder Königswissenschaft. Für Deleuze / Guattari gibt es keine Frage, welche Position man einzunehmen habe. Sie fordern: “Das Denken in eine unmittelbare Beziehung mit dem Außen, mit den Kräften des Außen stellen, kurz gesagt, aus dem Denken eine Kriegsmaschine machen”.8 Somit ist klar, dass eine Kriegsmaschine 6
Thomas Hobbes: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates [1651]. Übers. von Walter Euchner. Frankfurt/M. 1984. 7 Vgl. Deleuze / Guattari: Tausend Plateaus (Anm. 1). S. 503. 8 Ebd. S. 518.
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etwas recht Abstraktes sein kann, eine Art zu denken. Fragt man sich nun, wie dies Denken mit dem Nomadisieren zusammenhängt, so erscheint der einsame Denkprozess hier als einer, der sich in den Schatten eines künftigen Volkes stellt9 – das Denken wird zum Fürsprecher werdender Nomaden – und dazu gehört praktisch, dass es nicht davon ablässt, neu einzusetzen, Schaltstellen zu folgen und zu beschreiben, statt Festlegungen zu treffen, die einer Totalität zuarbeiten, vielmehr diese immer wieder hinterfragt, keine Antworten gibt, sondern Probleme aufwirft. Gegen den gekerbten Raum einer hierarchischen, ausdifferenzierten Wissenschaftslandschaft bewegt sich das Denken als Kriegsmaschine in einem glatten Raum ohne Anfang und Ende, in dem Strategien vollzogen und bestimmt werden. Damit erscheint die Kriegsmaschine nun endgültig als eine Bewegungsform, die Freiheit verspricht und zugleich diese Freiheit nicht als die des Einzelnen auffasst, sondern als Freiheit solidarischer Einzelner einer grundlegenden Egalität zuordnet. Das Außen der Kriegsmaschine ist dabei an erster Stelle das Außen des Staates, ein nichtstaatlicher Bereich und nicht eine Ebene der Transzendenz. Es geht vielmehr um eine Immanenz, die sich auf verschiedene Aspekte der nomadischen Kriegsmaschine bezieht: den räumlich-geographischen, den algebraischen und den affektiven Aspekt.10 Banal zu sagen, dass die Nomaden wesentlich unterwegs sind und dass sie weniger auf Ziele orientiert sind, die sekundär den Notwendigkeiten folgen, sondern primär die Existenz zwischen Punkten ihnen wesentlich ist. Weniger banal, dass die Bewegung eine völlig andere Funktionalität besitzt als bei Sesshaften. Letztgenannte bewegen sich durch den Raum, um ihn aufzuteilen, Nutzungs- und Besitzverhältnisse dort einzurichten. Die Nomaden verteilen hingegen Menschen und Tiere im offenen Raum. Letztlich, und dies ist nun nicht mehr banal, bewegt sich der Nomade nicht: Er ist immer an seinem Ort. Nur aus der Perspektive der Standhaften ist die Geschwindigkeit, mit der er den Raum vermeintlich durchmisst, gleich einer Bewegung. Für den Nomaden ist es ein Verharren im glatten Raum. Der Staat, und das heißt zunächst der Stadtstaat, setzt gegen die Glätte des Raums Verkehrswege samt ihrer Kontrollen und Städte samt ihrer Befestigungen. Dagegen richtet sich die Kriegsmaschine auch in dem ursprünglichen, nicht-kategorialen Sinn jener materiellen Kriegsmaschinen, die wie Rammböcke, Katapulte oder andere Apparaturen dazu dienten, Festungen einzunehmen oder zu zerstören. Die nomadische Kriegsmaschine beschwört immer wieder die Festungsstrategien der staatlichen Macht herauf. Als 9
Vgl. Gilles Deleuze / Fèlix Guattari: Was ist Philosophie? Übers. von Bernd Schwibs und Joseph Vogl. Frankfurt/M. 1996. S. 260. 10 Deleuze / Guattari: Tausend Plateaus (Anm. 1). S. 522.
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naheliegendes Beispiel mag man an die Befestigung des Stadtkerns von Genua anlässlich des G8-Treffens 2001 denken, in dessen Vorfeld denn auch die durch das Schengener Abkommen weggefallenen innereuropäischen Kontrollen wieder in Kraft gesetzt wurden. Die Globalisierungsgegner als umherschweifende, diffuse, nicht-hierarchische Kampftruppe können als deutliches Beispiel einer gegenwärtigen nomadischen Kriegsmaschine gelten. Der Raum und seine Kerbung sind, wie das Beispiel zeigt, etwas Relatives. Die Stadt ist nicht per se gekerbt, wohingegen Landschaft an sich gleich glattem Raum wäre. Entscheidend für Glätte oder Gekerbtheit sind die Möglichkeiten des unkontrollierten Verschwindens und Auftauchens einer freien Bewegung: Die Absperrungen der italienischen Ordnungskräfte belegen, dass Genua noch zu glatt war, so wie zuvor die in Göteborg möglichen Ausschreitungen dasselbe für die schwedische Stadt zeigten. Die bisherigen Gegenüberstellungen von glattem und gekerbtem Raum, von Nomaden und Staat, absoluter Geschwindigkeit und relativer Bewegung oder celeritas und gravitas, sind natürlich idealtypische Formulierungen, analytische Konzepte, die der Erfahrungswirklichkeit, in der die Kriege eben von Staaten geführt werden, weitgehend zu widersprechen scheinen. Was ist also passiert? Die nomadischen Kriegsmaschinen wurden augenscheinlich von den Staaten angeeignet und damit werden die Gegensätze zum Verschwinden gebracht. So geht es in der neueren Kriegstechnik und den korrelierenden Strategien immer auch um ein Entkommen in einen glatten Raum aus den Kerbungen, die Satellitenüberwachung, Radar- und Sonarsysteme des Gegners Luft, Wasser und Erde beigebracht haben. Zwischen den staatlichen Kriegsmaschinerien der letzten Jahrzehnte gab es eine Dialektik, in der die Weiterentwicklung der Überwachungsmaschinerien die Tarnungstechniken und Taktiken ebenso anreizten wie die Geschwindigkeit der Maschinen, die sich nicht in den Koordinaten der gekerbten Räume fangen lassen sollten.11 Ihrerseits befördern die technischen und taktischen Versuche, den Kontrollen zu entgehen, die Entwicklung derselben. Von daher ist evident, “dass der glatte Raum und die Form der Exteriorität keine revolutionären Ziele an sich sind, sondern im Gegenteil ihre Bedeutung je nach den Interaktionen, an denen sie beteiligt sind, und nach den konkreten Bedingungen ihrer Anwendung ändern”.12 So weit der räumlich geographische Aspekt. Um diese konkreten Bedingungen angemessen erfassen zu können, muss das duale Modell weiter ausdifferenziert werden: So eignet den nomadischen Kriegsmaschinen eine eigenartige numerische Ordnung, die die 11 12
Vgl. ebd. S. 534. Ebd.
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Krieger zahlenmäßig verteilt – wie dies im Militär immerfort tradiert wird als Kohorte, Zenturie, Legion etc. – und damit deren Gruppierungen von Kriterien wie Besitz und Genealogie ablöst. Der zahlenmäßigen Abstraktion korreliert aber bei den Nomaden stets ein Zahlenkörper, das heißt aus einigen Angehörigen der quantifizierten Gruppen wird nach Abstammungslinien eine Sondergruppe formiert, eine Garde, in der die Zusammengehörigkeit der Quantitäten Anschaulichkeit gewinnt, also eine sichtbare Qualität wird und durch diese qualitative Repräsentation auch die Quantifizierung ermöglicht, insofern zwei widerstreitende Kräfte zusammengespannt werden, die sich wechselseitig in Bewegung halten und verhindern, dass sich entweder eine bürokratische oder eine genealogische Aristokratie herauszubilden vermag.13 Dies der algebraische Aspekt. Betrachteten wir die Kriegsmaschine bisher vor allem als einen Begriff, der eine Vielzahl von Beziehungen unterschiedlicher Art in sich schloss, so kann nun das entstandene Begriffsgefüge in Bezug auf sein klassisches Verständnis als Waffe befragt werden. Versucht man zu bestimmen, was eine Waffe ausmacht, was Waffen spezifisch ist, liegt es nahe, dies in Abgrenzung zum Werkzeug zu unternehmen. Nehmen wir als zwiespältiges Beispiel einen Gegenstand, der Waffe und Werkzeug sein kann wie die Axt: Die Werkzeugaxt steht in einem engen Bindungsverhältnis zu dem Gegenstand, den sie bearbeitet. Nur in einer bestimmten Bewegung und Bewegungsabfolge kann sie sich ihm nähern – sonst fällt der Baum nicht. Die kriegerische Axt hingegen erschließt eine Vielzahl von Bewegungsvarietäten, einen multidirektionalen Bewegungsraum und dies mit Notwendigkeit, da sie allen Anforderungen der Verteidigung und des Angriffs Genüge leisten muss. Deshalb ist die kriegerische Axt zur doppelschneidigen geworden, deren Äquilibristik sich so in alle Richtungen öffnet, sie aus der Fallrichtung der Werkzeugaxt zu einem Projektil werden lässt – die Kriegsaxt kann auch geworfen werden. Das Werkzeug steht hingegen in einem definierten Arbeitszusammenhang, der es an das Objekt bindet. Das Werkzeug ist und bleibt Arbeitsmittel. Die Waffe dagegen muss einen möglichst großen Raum erschließen, wird projektiv, insofern sie im Krieg eine Vielzahl von Bewegungsvarietäten realisieren können muss. Hier ließe sich einwenden, dass die Waffe aber auch im spezifischen Arbeitsprozess der Jagd eingesetzt wird, wo sie wie ein Werkzeug funktioniert und an das Objekt – die Beute – gebunden ist, selbst wenn dies hier beweglich ist. Mithin ist zu fragen, wie sich Waffen im Krieg und auf der Jagd voneinander unterscheiden lassen? Darauf antworten Deleuze / Guattari mit einem Zitat Paul Virilios:
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Vgl. ebd. S. 543.
428 Das Blutvergießen, die sofortige Tötung stehen im Gegensatz zum unbegrenzten Gebrauch der Gewalt, das heißt zu ihrer Ökonomie. [...] Die Ökonomie der Gewalt ist nicht mehr die des Jägers im Züchter, sondern die des gejagten Tieres: im Reittier erhält man die kinetische Energie, die Geschwindigkeit des Pferdes und nicht mehr bloß Proteine [...].14
In der Ökonomie der Gewalt tritt die Waffe wieder aus dem engen Bezugssystem Jäger-Beute heraus und wird mit einem Antrieb ausgestattet, der die vorherige Argumentation wiederholt: Denn auch hier geht es darum, dass das gejagte Tier in der Kriegsmaschine eine Bewegungsvarietät freisetzt, während es in der Jagd die Bewegungsabläufe festlegt. Die Waffe verbindet sich so einem Modell der freien Tätigkeit in einem wirbelnden Raum, während das Werkzeug einem Modell der Arbeit mit linearen Bewegungsabläufen zugehört. Diese Modelle werden von soziokulturellen Kollektiven realisiert, die im Zusammenhang mit den Objekten von Deleuze / Guattari gemeinhin als Gefüge bezeichnet werden oder spezifizierend als Maschinentypen: Das Gefüge, in dem die Waffe funktioniert, heißt Kriegsmaschine, das in welches das Werkzeug eingebunden ist, heißt Arbeitsmaschine. Der Treibstoff dieser Maschinen fließt aus dem Begehren, einem Begehren, das als soziales zu denken ist. Wie die Vielzahl verkannter, zeitweilig ungenutzter Erfindungen zeigt, braucht die Technik, um ein funktionales Gefüge zu bilden, ein gesellschaftliches Begehren, das die Technik wünscht und mit ihr etwas anzufangen weiß, andererseits modifizieren in die Gesellschaft eingegangene technische Apparaturen auch die Begehren. Wenn dem so ist, was ist dann das Begehren, das positive Ziel der nomadischen Kriegsmaschine? Im Nachgang der Frage gelangt man zu überraschenden Feststellungen: Aber wir haben auf einer abstrakteren Ebene gesehen, dass die Kriegsmaschine eine nomadische Erfindung war, weil sie in ihrer Eigenart das konstitutive Element des glatten Raumes, der Besetzung dieses Raumes, der Verlagerung in diesem Raum und der entsprechenden Zusammensetzung der Menschen war: Dies ist ihr einziger und wahrhafter positiver Zweck (Nomos). Die Wüste, die Steppe wachsen lassen, nicht sie entvölkern, ganz im Gegenteil.15
Das ist schließlich der dritte Aspekt der Kriegsmaschine: das Affektive. Der Krieg und mit ihm die Schlacht erscheint dementsprechend als Supplement der Kriegsmaschine. Erst die Folge der Begegnung der Nomaden mit den Staaten oder Städten, die sich der nomadischen Kriegsmaschine entgegenstellen und dieser damit die Zerstörung der Staatsform und die Vernichtung der staatlichen Kräfte aufgeben, führt zum Krieg als Sekundärphänomen. 14
Paul Virilio: Metempsychose des Passagiers. Zit. nach Deleuze / Guattari: Tausend Plateaus (Anm. 1). S. 547. 15 Deleuze / Guattari: Tausend Plateaus (Anm. 1). S. 577. Übersetzung geändert.
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Zerstören die Nomaden Form und Kräfte nicht, besteht die Gefahr, dass sie sich in den Staat integrieren, dass sich der Staat die Kriegsmaschine aneignet, woraufhin sich ihr Charakter verändert. Sie mutiert und erhebt den Krieg samt Schlacht zum Ziel, wird gegen Nomaden und alle Zerstörer des Staats ausgerichtet und “drückt die Beziehungen zwischen Staaten aus, insofern als ein Staat nur beansprucht, einen anderen zu zerstören oder ihm die eigenen Ziele aufzuzwingen”.16 Somit ist der Krieg das erste Ziel der vom Staatsapparat angeeigneten Kriegsmaschine geworden und den Zielen des Staates untergeordnet. Eine Unterscheidung, die für diese staatliche Kriegsmaschinerie von zentraler Wichtigkeit ist, ist die zwischen totalem und begrenztem Krieg oder, in der Diktion Carl Schmitts, gehegtem und ungehegtem Krieg. Ausgehend von dieser Unterscheidung machen Deleuze / Guattari eine eigenartige Dynamik aus, die sie mit einem noch eigenartigeren Antrieb versehen: Die Faktoren, die aus dem Krieg des Staates einen totalen Krieg machen, sind eng mit dem Kapitalismus verbunden: es geht um die Investition von konstantem Kapital in Material, Industrie und Ökonomie des Krieges und um Investition von variablem Kapital in die Bevölkerung (die Krieg führt und Kriegsopfer ist) unter physischen und moralischen Aspekten.17
Anders gesagt: Der totale Krieg ist nur denkbar, wenn die kapitalistische Ökonomie die politische Zielsetzung transformiert. Dabei stellt sich der totale Krieg zwar unter die Zwecksetzung eines Staates, der ihn entfacht wie beispielsweise das Dritte Reich, wird aber für sich ziellos, das heißt er überschreitet den Zweck, emanzipiert sich vom politischen Staat, der damit zum Teil einer weltweiten Kriegsmaschine wird. Während wir uns die faschistische Gestalt dieser weltweiten Kriegsmaschine, in der der Krieg sich selbst zum Zweck geworden ist, nach dem Zweiten Weltkrieg ganz gut vorstellen können, wird es bei der von Deleuze /Guattari ausgemachten postfaschistischen Gestalt schon schwieriger. Von dieser heißt es, dass sie “direkt den Frieden zum Ziel hat, den Frieden als Terror oder Überleben ”.18 Die Kriegsmaschine schafft erneut einen glatten Kriegsraum als eine weltweite Ordnung, in der der Feind beliebig ist, das heißt alle, die gegen die geschaffene Ordnung sind, werden als solche bekriegt, nicht weil sie einer Nation, einer Ethnie oder einem Glauben angehören. Der Terror des Friedens besteht darin, dass er andere Ordnungen unmöglich macht, dass er die bestehende Ordnung festschreibt, die augenscheinlich keine zum Wohle aller ist. Wenn der globale Terror der weltweiten Kriegsmaschine mit dem Überleben gleichgesetzt wird, dann meint dies, dass das Leben seiner Quali16
Ebd. S. 578. Übersetzung geändert. Ebd. S. 581. 18 Ebd. S. 582; kursiv im Original. 17
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tät, lebenswert zu sein, entkleidet wird, und an die Stelle einer Besinnung, was das schöne oder gute Leben ist, der antiken Frage nach der eudaimonia, und der konsequenten Anschlussfrage, wie es herzustellen und einzurichten wäre, dass an die Stelle dieser Fragen also die Reduktion auf eine Funktionalität tritt. Es geht dann nur noch um das nackte physisch-biologische Überleben; auch in Umständen, die schrecklich sind – ob nun als Frau im Afghanistan der Taliban, als Zapatist in Mittelamerika, als Palästinenser in den autonomen Gebieten, als Aidskranker in Zentralafrika oder als Obdachloser in Berlin. Diese Umstände gehören zum status quo, und der ist aus Sicht der globalisierten Kriegsmaschine nicht grundsätzlich in Frage zu stellen. Dieser Zustand besitzt eine neue Qualität, seit die Zeit der Blockkonfrontation vergangen ist, die sozusagen eine Sperre in die Führung von Kriegen, selbst noch der Stellvertreter-Kriege, einbaute und Schutzräume für die jeweiligen Systemgegner offen hielt. Seit dem auf den 11. September 2001 folgenden Angriff auf Afghanistan ist augenfällig, dass diese Schutzräume nunmehr abgetragen und zerstört werden, dass der “beliebige Feind” Anti-Guerilla-Einheiten und Sonderkommandos ausgeliefert wird. Fragen, warum diese Feinde überhaupt entstehen und sich relativ sinnlos gegen überlegene Mächte auflehnen, werden kaum mehr gestellt oder mit dem Verweis auf Irrationalität und Fanatismus weniger beantwortet denn ausgesetzt. In dieser Axiomatik der Vermeidung – wir können nicht verstehen, was den anderen bewegt, weil es nicht verstehbar ist – zeigt sich das Insistieren auf dem Standpunkt der Macht oder der qualitativen Majorität, die nicht allein die Deutungs- sondern auch die Definitionshoheit besitzt, festzulegen, wer oder was Minderheit ist und diese darin festzuschreiben. Genau darin produziert sie aber die Wiederkehr des Terrors: einen Widerstand, der angesichts der globalen Kriegsmaschine kein schöpferischer mehr ist, keine Fluchtlinie eröffnet, sondern sich in eine destruktive Todeslinie verwandelt, die wiederum den Ausbau der Überwachungen und Kontrollen, der strukturellen und unmittelbaren Gewalt gerechtfertigt erscheinen lassen. Die Macht der Majorität und der Widerstand dagegen stehen in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis, das ausweglos wirkt. Doch der Schrecken der Alternativlosigkeit, des Endes der Geschichte vergeht, führt man sich die eingangs angeführte Möglichkeit vor, dass das Denken, die Theorie, die Philosophie eine Kriegsmaschine sein kann und dementsprechend schöpferische Fluchtlinien zu entwerfen vermag oder, wie es an einer anderen Stelle heißt, einen Krieg ohne Schlacht zu führen.19 Das heißt nicht, dass sie – die Philosophie – Macht im Sinne einer Verfügungs19
Gilles Deleuze: Unterhandlungen. Übers. von Gustav Roßler. Frankfurt/M. 1993. S. 7.
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gewalt besäße. Es meint lediglich die Möglichkeit, Konzepte zu entwickeln, Zweifel zu wecken und Fragen zu lancieren: “Und da sich die Mächte nicht damit begnügen, äußerlich zu bleiben, sondern in jeden von uns hineinreichen, findet sich jeder von uns ständig in Unterhandlungen und einer Guerilla mit sich selbst, dank der Philosophie.”20 Welche Konzepte entwickeln nun Deleuze / Guattari aus dem zunächst eher analytisch oder deskriptiv anmutenden Instrumentarium? Zunächst schlagen sie sich auf die Seite der Minoritäten, erklären deren Positionen zum Ausgangspunkt des politischen Denkens, was ja bereits in der geschilderten Verortung des Kriegsmaschinenursprungs bei den Nomaden zum Ausdruck kommt. Der Begriff der Minderheit ist dabei kein quantitativer, sondern ein qualitativer, geht es doch auch um die numerischen Mehrheiten der Frauen oder der Nicht-Weißen. Den reflexiven Ausgangspunkt bei solchen Minderheiten zu nehmen, meint nun aber nicht, sich in der Differenz einzurichten und die Minderheit festzuschreiben, insofern deren Identität quasi-natürliche Beteiligungsansprüche oder gar Superioritätspostulate begründete, vielmehr geht es darum, diese Minderheit zu öffnen für ein universelles Werden, um eine verallgemeinerbare Formel: “Das ist die Formel der Mannigfaltigkeiten. Minderheit als universelle Gestalt oder als Jedermann-Werden. Wir alle müssen Frau werden, ob wir nun männlich oder weiblich sind. Wir alle müssen Nicht-Weißer werden, ob wir nun gelb oder schwarz sind.”21 Dieses Werden vom Minderheitlichen aus geht auf eine eigenartige Weise ins Universelle, löst damit den Universalitätsanspruch der Majorität nicht in diffuse Differenzlosigkeit auf, sondern in etwas, das als bloße Anerkennung zu wenig wäre, vielmehr die Emphase der Mannigfaltigkeit verlangt. Damit ist offensichtlich nicht die Gleichgültigkeit tolerierter Multikulturalität gemeint, sondern ein viel stärkeres Postulat eingeschlossen: nämlich in die Intensitätszonen des vermeintlich Anderen zu treten, nicht allein das vermeintlich Unverständliche zu verstehen, sondern es auch affektiv nachzuvollziehen. Andernfalls wäre das Verständnis ein äußerliches, das sich in einer Distanz hält, die das Verstandene als Fremdes bestehen lässt. Stattdessen geht es um eine Praxis der fraternité, die allerdings vom Bruder genau das Verständnis und die Rücksicht erwarten darf, die ihm entgegengebracht wird. Die Verehrer bin Ladens zu Fanatikern außerhalb der abendländischen Vernunft zu erklären, heißt genau, sich von einer Vernunft zu verabschieden, die historisch universell geworden ist und die auch noch den letzten Fanatiker erklären kann, indem sie die Ursachen aufzeigt, die historischpolitisch eine Konstellation geschaffen haben, in der der Terror manchen als 20 21
Ebd. Deleuze / Guattari: Tausend Plateaus (Anm. 1). S. 652.
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letzter Ausweg erscheint. Diese Art des Verstehens multipliziert die Wahrnehmungsmöglichkeiten und ist in diesem Sinne auch Waffe. – Und es ist im alten Sinn ‘Aufklärung’, die in der Vielfalt von Möglichkeiten den Schrecken der Reduktion auf den Status der Minderheit überwinden kann. Das Begehren nach einer unverwechselbaren Identität, nach Authentizität wird damit unterlaufen und öffnet sich tatsächlich zum Universellen hin. Was von eminenter Wichtigkeit ist in einer Konstellation, die den Betroffenen die Alternative stellt: nacktes Überleben oder Terror. Eine Option, die mit immanenter Notwendigkeit auf die Verursacher zurückschlägt. Und so lange völkerrechtlich immer wieder das absurde Selbstbestimmungsrecht der Völker in Anschlag gebracht wird – absurd, weil sich Völker erst im Hinblick auf dieses Recht konstituieren – solange also dieses Angebot ethnisch nationale Einheit – und das heißt immer auch Reinheit – herzustellen, als Lösungsweg offeriert wird, werden sich die Benachteiligten immer Identitäten ethnischer oder religiöser Art suchen, über die sie sich definieren und ihren Glücksanspruch in Differenz zu anderen Ethnien oder Religionen artikulieren. Der Alltag formuliert es viel schlichter: Wenn wir die Katholiken erst los sind, wird es uns allen gut gehen; wenn die Amerikaner vertrieben sind und islamisches Recht herrscht, werden wir dem irdischen Paradies nahe sein; in einem nur von Kroaten bevölkerten Kroatien wird Friede herrschen; etc. p.p. Solange derartige Phantasmagorien Aussicht auf Erfolg haben – also auf die Bildung einer anerkannten politischen Einheit –, werden Religionskämpfe, ethnische Säuberungen sowie religiös und rassistisch motivierte Verfolgungen kein Ende finden. Statt dessen muss ein anderer Raum geschaffen werden, der die Kerbung dieser Identitäten und der ökonomischen Differenzen aufhebt, ein glatter Raum, der allen vor dem Hintergrund einer existentiellen Sicherheit den Freiraum kultureller Entwicklung überlässt, der es gestattet, andere Identitäten zu erfinden, die nicht der Festlegung auf einen minoritären oder majoritären Status entsprechen. ‘Nomadische Identitäten’ meint solche, die sich im steten Werden befinden. Denn natürlich ist beispielsweise die Konstruktion eines radikalislamischen Fundamentalismus eine Erfindung, ein artifizielles Gebilde, das nichts mit Authentizität zu tun hat, sondern einen Fluchtpunkt (wenn auch einen katastrophischen) entwirft, der die leere Allgemeinheit 22 dahinter abschirmen soll. Bekanntlich ist das Afghanistan auch der Taliban eines der großen Drogen herstellenden und exportierenden Staatengebilde gewesen, war auf diesem Markt einer der global player, was zeigt, das hier nichts natürlich zugeht in dem Sinne, dass ein muslimisches Land sich mittels einer islamischen Heilsordnung ins Mittelalter zurückkatapultiert. 22
Vgl dazu. Slavoj Žižek: Die Tücke des Subjekts. Übers. von Eva Gilmer, Andreas Hofbauer, Hans Hildebrandt und Anne von der Heiden. Frankfurt/M. 2001. S. 299.
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Vielmehr ist das historisch lokale Angebot zur Behauptung einer politischen Subjektivität im Islam nahegelegt, dessen Pervertierung aber der pervertierten Situation geschuldet. Es handelt sich eben um keine halbwegs normal in das globale Marktgeschehen integrierte Gemeinschaft, vielmehr um ein weitgehend zerstörtes Land, das sich nicht auf eine politische Form unter Beteiligung der vorhandenen gesellschaftlichen Kräfte geeinigt hat, sondern sich von inneren und äußeren Kräften dazu gezwungen sah, diese von den Taliban angebotene und durchgesetzte Hülle anzunehmen. Der Konflikt ließe sich auch als ödipales Drama verstehen, in dem der ungeratene Sohn – die von früheren US-Regierungen mittelbar und unmittelbar bewaffneten und bevorzugten Taliban – sich gegen die Vaterfigur, die ihn in die Welt gesetzt hat, auflehnt und versucht, eine eigene Identität zu behaupten. Und gemessen an ihren Verhaltensweisen sind beide politischen Formen keine verallgemeinerbaren, selbst wenn sie von vergleichbarer Modernität sind, insofern sich die gesellschaftlichen Werte weitgehend von den ökonomischen Bedingungen abgelöst haben.23 Es bedarf also anderer Angebote und anderer Vermittlungsformen und dies eben in einem weltweiten Maßstab, um zu anderen Inkorporationen politischer Macht und anderen Modi der Inkorporation zu gelangen. Diese von einem minderheitlichen Standpunkt ausgehend zu entwickeln, sie weltweit attraktiv zu machen und ihre Umsetzbarkeit zu gewährleisten, sind, Deleuze / Guattari zufolge, die Aufgaben, die bereits 1980 anstanden. Sie fanden zu jener Zeit keine andere Formulierung dafür als folgende Wendung: “Es geht also für die Minderheiten [...] darum, den Kapitalismus abzuschaffen, den Sozialismus neu zu definieren und eine Kriegsmaschine zu schaffen, die sich mit anderen Mitteln gegen die weltweite Kriegsmaschine wehren kann.”24 Nun ist diese Terminologie historisch belastet, und es klänge zugestandenermaßen ein wenig ketzerisch, die alten Utopien hervorzuzaubern – wenn es denn die alten Utopien wären. Doch es geht ja eben um eine Neudefinition, und an Utopien ist prinzipiell nichts Schlechtes, meint es doch nichts anderes als den Horizont, in den sich eine Politik stellt. Auch die Allianz gegen den Terror tritt für eine Utopie ein – nämlich die Wirtschaft der Welt vom Eigeninteresse her bestimmen zu können und dafür von den Benachteiligten nicht belangt zu werden –, während die Taliban für die Utopie ihres islamischen Staats eintreten. Angesichts dessen geht es immer um die inhaltliche Füllung der Utopie, kann man an der Wahl zwischen exklusiven und nicht-exklusiven Utopien festhalten. Fragt man nun, was an einem neu 23
So jedenfalls lässt sich Modernität aus einem bestimmten Blickwinkel bestimmen. Vgl. Žižek: Die Tücke des Subjekts (Anm. 22). S. 297. 24 Deleuze / Guattari: Tausend Plateaus (Anm. 1). S. 654.
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zu definierenden Sozialismus das ist, was es rechtfertigt, am Begriff festzuhalten, sei an die schlichte – und in ihrer Schlichtheit sowohl schöne wie einleuchtende – Definition von Louis Althussers erinnert: In einer Klassengesellschaft ist die Ideologie das Vehikel, durch welches, und das Element, in welchem das Verhältnis der Menschen zu ihren Existenzbedingungen sich zum Nutzen der herrschenden Klasse regelt. In einer klassenlosen Gesellschaft ist die Ideologie das Vehikel, durch welches, und das Element, in welchem das Verhältnis der Menschen zu ihren Existenzbedingungen sich zum Nutzen aller Menschen lebt.25
Unabhängig davon, ob man diese Gesellschaft, die dem Nutzen aller verpflichtet ist, nun Sozialismus nennt oder nicht, scheint dies doch eine Zielvorgabe, die niemanden ausschließt und daher wünschens- und erstrebenswert ist. Zumal sich nach dem 11. September und der folgenden Bombardierung Afghanistans doch der Eindruck einstellt, dass weder der entwickelte Kapitalismus der westlichen Welt, noch die derzeitigen Gegner ein Konzept zur Überwindung der Konfliktsituation besitzen. Zwar sind die staatlichen Unterstützer des Terrors abgestraft und nun von einer Staatsmacht wieder zur Guerilla geworden, doch wird der Kampf dann mit denselben, nämlich terroristischen Mitteln weitergeführt werden und dies zudem verstärkt, nachdem dieser Krieg in der arabisch-islamischen Welt dem Terrorismus wiederum neue Rekruten gewonnen hat. Und so wird das weitergehen, wenn nicht eine Alternative entwickelt wird, die allen offen steht – wie beispielsweise ein neu zu definierender Sozialismus. Diese Option ist aber auch faktisch eine: Niemand zwingt irgendjemanden dazu, sich für das eine oder andere zu entscheiden, keine Parteiführung und kein Konzern, kein ökonomischer Determinismus und kein Kulturkampf, letztlich kann sich jeder zu dieser Alternative verhalten, wie es ihm richtig scheint – die eine Seite oder die andere wählen, sich gar nicht verhalten oder bestreiten, dass sich die Alternative so stellt. Andererseits setzten die Ereignisse des Jahres 2001 eine Zäsur und hinterfragten unerwartet vermeintliche Sicherheiten – bis hin zur Existenz der von Krieg und Terror Betroffenen, sodass schon die Frage auf der Tagesordnung steht: Welche Entwürfe haben wir für ein funktionierendes Zusammenleben aller? Denn was sich nicht mehr bestreiten lässt, ist, dass wir nicht unterschiedliche Zonen des Zusammenlebens, nette Separees und schäbige Kaschemmen auf Dauer einrichten und getrennt halten können, wenn der minoritäre Terrorismus sich globalisiert und der majoritäre Terrorismus den globalen Zugriff anstrebt. Die Frage nach dem friedlichen und glücklichen Zusammenleben ist allerdings die nach einer Utopie, eine von der Wirklichkeit 25
Louis Althusser: Für Marx [1965]. Übers. von Karin Brachmann und Gabriele Sprigath. Frankfurt/M. 1974. S. 187.
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gestellte, die in ihrem Gestelltsein schon sagt: So kann es nicht weitergehen! Sie ruft mithin dazu auf, einen Horizont zu entwerfen, den man wahrscheinlich nicht erreicht, der aber einen gangbaren Weg bereitet, einen glatten Raum mit anderen Verteilungen schafft. Wie es der slowenische Philosoph Slavoj Žižek in seiner psychoanalytischen Adresse an die Amerikaner formulierte: “Willkommen in der Wüste des Realen!”26 Wie Deleuze /Guattari ergänzen würden: Werdet Nomaden!
26
Slavoj Žižek: Willkommen in der Wüste des Realen. Übers. von Eike Schönfeld. In: Die Zeit 39 (2001).
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V ANHANG
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Verzeichnis der Abbildungen Abb. 0.1. (Titelbild). Anonym: Ramses II. erschlägt seine Feinde. 19. Dynastie. Relief auf der rechten Eingangswand des Großen Tempels von Abu Simbel. Fotografie des Herausgebers.
Zu Manuel Köppen Abb. 3.1. Ernest Meissonier: 1807 – Friedland. 1875. Quelle: Marc J. Gotlieb: The Plight of Emulation. Ernest Meissonier and French Salon Painting. Princeton, New Jersey 1996. S. 51. Abb. 3.2. Alphonse de Neuville: Défense de la porte de Longboyau (21. Oktober 1870). 1879. Quelle: Anton von Werner. Geschichte in Bildern. Hg. von Dominik Bartmann. München 1993. S. 65. Abb. 3.3. Felix Emmanuel Henry Philippoteaux: La Défense de Paris. 1871. Quelle: Sehsucht. Das Panorama als Massenunterhaltung des 19. Jahrhunderts. Hg. von der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland. Frankfurt/M., Basel 1993. S. 154. Abb. 3.4. Anton von Werner: Sedan-Panorama. 1883. Quelle: Anton von Werner. Geschichte in Bildern. Hg. von Dominik Bartmann. München 1993. S. 273. Abb. 3.5. Der Höhepunkt identifikatorischer Nähe zum Helden – sein begeistertes Gesicht vor Augen, während er die Todeszone zwischen den Gräben durchquert. Standbilder aus David W. Griffith: Birth of a Nation. USA 1914/15.
Zu Jürgen Wilke Abb. 4.1. Newe Zeytung aus dem Türkenkrieg 1576. Abb. 4.2. Die Mörderische Schlacht bei Silistria – ein Gefecht zwischen Russen und Bulgaren im Jahre 1854 auf einem Neuruppiner Bilderbogen. Abb. 4.3. Die Illustrierte Kriegszeitung (Nr. 108, 1916) berichtet über “Filmer bei unseren Seehelden”.
Zu Heinz-Peter Preußer Abb. 7.1. Jagd mit der “fotografischen Flinte” des Etienne-Jules Marey. Das Objektiv befand sich im Lauf, die umgehängte Box diente als Plattenwechsler. Innerhalb einer Sekunde wurden 12 Fotos in Intervallen von je 1/720 Sekunde “geschossen”. © Deutsches Technikmuseum Berlin. Abb. 7.2. Die Unschlagbaren. Werbung für Nikons F4. Quelle Siegfried Zielinski: Medien/Krieg. Ein kybernetischer Kurzschluss. In: Medien im Krieg. Die zugespitzte Normalität. Hg. von der Österreichischen Gesellschaft für Kommunikationsfragen. Red. Peter A. Bruck u. a. Salzburg 1991. S. 12-20. © Kiefer Mosimann Kommunikation AG, Zürich.
440 Abb. 7.3. Inversion des Fotografen: Die Bilder erwecken zum Leben. “Somoza Dice: Rafael Ha Muerto.” Aber die Aufnahme ‘belegt’ das Gegenteil. Standbild aus Roger Spottiswoode: Under Fire. USA 1982. © MGM Home Entertainment, Frankfurt/M. Der Film ist dort als DVD und als Video-Tape erhältlich. Abb. 7.4. Die äußere Zerstörung beschreibt zugleich die des Georg Laschen. Wir sehen die Granaten einschlagen, und die Narben der Stadt sind wie die auf dem Gesicht des Bruno Ganz. Standbild aus Volker Schlöndorff: Die Fälschung. BR Deutschland / Frankreich 1981. © Bioskop Film GmbH, München. Abb. 7.5. Eine Erschießung im Gefangenenlager: für die Presse. “Meine Kamera hat einen Menschen getötet.” Standbild aus Milcho Manchevski: Vor dem Regen. England / Frankreich / Mazedonien 1994. © Universal Studios Media Licensing, Universal City, CA, USA. Abb. 7.6. Propaganda und Kriegssimulation mit allen Mitteln. Standbild aus Emir Kusturica: Underground. Frankreich / Deutschland / Ungarn 1995. © Pandora Film, Köln. Abb. 7.7. Nach der Blickverweigerung bleibt nur noch Trauer. A. beugt sich, selbst umhüllt von Nebel, zu den Leichen der soeben Erschossenen nieder. Standbild aus Theo Angelopoulos: Der Blick des Odysseus. Griechenland / Frankreich / Italien 1995. © Paradis Films, Paris.
Zu Ole Frahm Abb. 12.1. Verkehrtes Spiel zwischen Katze und Maus oder: Schützenhilfe im Grabenkrieg. 30. Juni 1918. Wieder abgedruckt in George Herriman: Krazy & Ignatz. The Sunday Pages Volume 3. 1918. The Limbo of Useless Unconsciousness. Hg. von Bill Blackbeard. Forestville 1989. © King Features Syndicate, Inc., Orlando, FL, USA. The Hearst Corporation. Abb. 12.2. “All was not well.” Harvey Kurtzman: Rubble! Comicheft-Serie TwoFisted Tales. Entertaining Comics (E. C.). Heft 24. November / Dezember 1951. © William M. Gaines, Agent, Inc. Contact: Jack N. Albert, Attorney, Boca Raton, FL, USA. Abb. 12.3. Eine Erzählung der vielfachen Leiden und Tode. Jacques Tardi: C’était la guerre des tranchées. Comicalbum. 1993. In der Übers. von Michael Hein. Jacques Tardi: Grabenkrieg. Zürich 2002. S. 107. © 2002 Edition Moderne, Zürich (dt.). 1993 Casterman, Belgien (frz.).
Der Herausgeber dankt auch an dieser Stelle ausdrücklich den Rechteinhabern, welche die Genehmigung zum Abdruck der oben genannten Bilder erteilten. Wurde auf schriftliche Anfrage bei den zuständigen Institutionen nicht reagiert, gehen wir von einem stillschweigenden Einverständnis aus. Sollten weitere Ansprüche für Abdrucklizenzen bestehen, die nicht zu ermitteln waren, bittet der Herausgeber um Benachrichtigung. Bei den Abbildungen selbst wird das Copyright nochmals vermerkt.
Zu den Autorinnen und Autoren Horst DOMDEY, Prof. Dr., lehrte an der Freien Universität Berlin im Fachgebiet Neuere deutsche Literatur. Fritschestraße 26, 10623 Berlin. Neuere Buchpublikation: Produktivkraft Tod. Das Drama Heiner Müllers. Köln, Weimar, Wien 1998. Ole FRAHM, Dr. des., Jan van Eyck Academie, Academienplain 1, 6211 KN Maastricht, Niederlande. Neuere Veröffentlichungen: “THESE PAPERS HAD TOO MANY MEMORIES FOR ME... SO I BURNED THEM” – Genealogical Remembrance in Art Spiegelman’s MAUS. In: The Graphic Novel. Hg. von Jan Batens. Leuven 2001. S. 61-78. Von Holocaust zu Holokaust. Guido Knopps Aneignung der Vernichtung der europäischen Juden. In: 1999 – Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts. Heft 2. September 2002. S. 128-138. Mit Friedrich Tietjen: Die fotografische Kontrolle der Stadt. In: Sight.Seeing. 4. Österreichische Triennale zur Fotografie. Hg. von Werner Fenz. Graz 2003. S. 82-91. Matteo GALLI, Dr., o. Professor für deutsche Sprache und Literatur am Dipartimento di Scienze Umane der Università di Ferrara, Via Savonarola 27, I–44100 Ferrara. Neuere Veröffentlichungen: L’officina segreta delle idee. E. T. A. Hoffmann e il suo tempo. Firenze 1999. “Schließlich sind wir mit denselben Serien aufgewachsen”: Jurek Beckers Wir sind auch nur ein Volk. In: Zehn Jahre nachher. Poetische Identität und Geschichte in der deutschen Literatur nach der Wiedervereinigung. Hg. von Fabrizio Cambi und Alessandro Fambrini. Università degli Studi di Trento 2002. S. 57-76. “Der geistig verwirrte Spätheimkehrer aus der Ex-DDR”: l’ironico archivista Jens Sparschuh. In: La prosa della riunificazione. Hg. von Anna Chiarloni. Alessandria 2002. S. 271-290. Heinz-B. HELLER, Prof. Dr., Philipps-Universität Marburg, Institut für Neuere deutsche Literatur und Medien. Arbeitsschwerpunkte: Mediengeschichte und Medienästhetik, insbesondere Film und Fernsehen. Letzte Buchveröffentlichungen: Der Körper im Bild: Schauspielen – Darstellen – Erscheinen. Mitherausgeber. Marburg 1999. Über Bilder sprechen. Positionen und Perspektiven der Medienwissenschaft. Mitherausgeber. Marburg 2000. Christian JÄGER, PD Dr., Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für deutsche Literatur, Unter den Linden 6, 10099 Berlin. Neuere Publikationen: Gilles Deleuze. Eine Einführung. München 1997. Mit Erhard Schütz: Städtebilder zwischen Literatur und Journalismus. Wien, Berlin und das Feuille-
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ton der Weimarer Republik. Wiesbaden 1999. Minorität und Chromatik. Überlegungen zu einer Ästhetik des Werdens bei Deleuze. In: Kulturtopographie deutschsprachiger Literaturen. Perspektivierungen im Spannungsfeld von Integration und Differenz. Hg. von Michael Böhler und Hans Otto Horch. Tübingen 2002. S. 97-113. Manuel KÖPPEN, Dr., Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für deutsche Literatur, Unter den Linden 6, 10099 Berlin. Arbeitsschwerpunkt: Literatur und Medien. Neuere Veröffentlichungen: Bilder des Holocaust. Literatur – Film – Malerei. Hg. mit Klaus R. Scherpe. Köln, Weimar, Wien 1997. Die andere Stimme. Das Fremde in der Kultur der Moderne. Hg. mit Alexander Honold. Köln, Weimar, Wien 1999. Passagen. Literatur – Theorie – Medien. Hg. mit Rüdiger Steinlein. Berlin 2001. Jürgen KOST, HD Dr., lehrt als Hochschuldozent Neuere deutsche Literaturgeschichte am Deutschen Institut der Johannes Gutenberg-Universität, 55099 Mainz. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen die Weimarer Klassik und das Drama des 19. und 20. Jahrhunderts. Neuere Veröffentlichungen: Geschichte als Komödie. Würzburg 1996. Klassik-Rezeption. Hg. von Peter Ensberg und Jürgen Kost. Würzburg 2003. Wilhelm von Humboldt – Weimarer Klassik – Bürgerliches Bewusstsein. Würzburg 2004. Klaus KREIMEIER, Prof. Dr., Universität Siegen, Fachbereich 3, Medienstudiengang, 57068 Siegen. Neuere Veröffentlichungen: Die Ufa-Story. Geschichte eines Filmkonzerns. Frankfurt/M. 2002 (Wiederauflage der Ausgabe von 1992). “Das Seiende im Ganzen aber steuert der Blitz”. Anmerkungen zu Alexander Kluges Magazinen. In: Kluges Fernsehen. Alexander Kluges Fernsehmagazine. Hg. von Christian Schulte und Winfried Siebers. Frankfurt/M. 2002. S. 39-51. Fernsehen. In: Handbuch Populäre Kultur. Hg. von Hans-Otto Hügel. Stuttgart, Weimar 2003. S. 177-184. Michael KUNCZIK, Prof. Dr., Institut für Publizistik der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Neuere Buchpublikationen: Gewalt und Medien. Köln, Wien, 4. Aufl. 1998. Publizistik. Ein Studienhandbuch. Köln, Weimar, Wien 2001. Public Relations. Konzepte und Theorien. Köln, Weimar, Wien, 4. Aufl. 2002. Jochen MEISSNER, Hörfunkkritiker. Kurfürstenstraße 3, 10785 Berlin. Neuere Veröffentlichungen: Von der Schrift zum Hypertext. Typographie in der Schule der Atheisten. In: »Alles=gewendet!«. Zu Arno Schmidts »Die Schule der Atheisten«. Hg. von Horst Denkler und Carsten Würmann. Bielefeld 2000. S. 219-252. Das Mittel in Zentrum. Zur Intermedium 2. Deutschlandfunk, 6. 4. 2002, 41:30 Min. Vom öffentlichen Gebrauch des Humors. Rundfunk Berlin Brandenburg, 21. 6. 2003, 59:32 Min.
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Heinz-Peter PREUSSER, Prof. Dr., Fachbereich 10, Sprach- und Literaturwissenschaften der Universität Bremen, Postfach 33 04 40, 28334 Bremen. Arbeitsgebiet: Neuere und neueste Literaturgeschichte, Literaturtheorie. Jüngere Buchpublikationen: Mythos als Sinnkonstruktion. Die Antikenprojekte von Christa Wolf, Heiner Müller, Stefan Schütz und Volker Braun. Köln, Weimar, Wien 2000. Letzte Welten. Deutschsprachige Gegenwartsliteratur diesseits und jenseits der Apokalypse. Heidelberg 2003. Weiblichkeit als politisches Programm? Sexualität, Macht und Mythos. Hg. von Bettina Gruber und Heinz-Peter Preußer. Erscheint Würzburg 2005. Thomas F. SCHNEIDER, PD Dr. habil., Leiter des Erich Maria RemarqueFriedenszentrums, Universität Osnabrück, Postfach 4469, 49069 Osnabrück. Neuere Veröffentlichungen: Kriegserlebnis und Legendenbildung. Das Bild des ‘modernen’ Krieges in Literatur, Theater, Photographie und Film. Hg. Osnabrück 1999 (= Krieg und Literatur / War and Literature III–IV, 1997– 1998). Von Richthofen bis Remarque. Deutschsprachige Prosa zum I. Weltkrieg. Hg. mit Hans Wagener. Amsterdam 2003. Pazifistische Kriegsutopien in der deutschen Literatur vor und nach dem Ersten Weltkrieg. In: Utopie, Anti-Utopie und Science-Fiction im deutschsprachigen Roman des 20. Jahrhunderts. Hg. von Hans Esselborn. Würzburg 2003. S. 12-28. Erhard SCHÜTZ, Prof. Dr., Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für deutsche Literatur, Unter den Linden 6, 10099 Berlin. Neuere Buchpublikationen: Erhard Schütz und Eckhard Gruber: Mythos Reichsautobahn. Bau und Inszenierung der ‘Straßen des Führers’ 1933–1941. Berlin, 2. Aufl. 2000. Reflexe und Reflexionen von Modernität 1933–1945. Hg. von Erhard Schütz und Gregor Streim. Bern, Berlin u. a. 2002. literatur.com. Tendenzen im Literaturmarketing. Hg. von Erhard Schütz und Thomas Wegmann. Berlin 2002. Mirjana STANýIû, PD Dr., Literaturwissenschaftlerin und Autorin. Institut für Deutschlandforschung an der Ruhr-Universität Bochum, Universitätsstraße 150, 44780 Bochum. Jüngste Buchpublikation: Manès Sperber. Leben und Werk. Basel 2003. Gregor STREIM, Dr., Wissenschaftlicher Assistent an der Freien Universität Berlin, Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften, Institut für Deutsche und Niederländische Philologie, Habelschwerdter Allee 45, 14195 Berlin. Buchpublikationen: Das ‘Leben’ in der Kunst. Untersuchungen zur Ästhetik des frühen Hofmannsthal. Würzburg 1996. Berliner und Wiener Moderne. Vermittlungen und Abgrenzungen in Literatur, Theater, Publizistik (gem. mit Peter Sprengel). Wien, Köln, Weimar 1998. Reflexe und Reflexionen von Modernität 1933–1945. Hg. von Erhard Schütz und Gregor Streim. Bern, Berlin u. a. 2002.
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Niels WERBER, PD Dr., Ruhr-Universität Bochum, Germanistisches Institut, Universitätsstraße 150, 44780 Bochum. Neuere Veröffentlichungen: Raum. Wissen. Macht. Hg. von Rudolf Maresch und Niels Werber. Frankfurt/M. 2002. “Der Gott der Materie”. Amerika als Phantasma deutscher Autoren. In: Komparatistik. Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft 2002/03. S. 107-121. Liebe als Roman. Zur Koevolution intimer und literarischer Kommunikation. München 2003. Jürgen WILKE, Prof. Dr., Institut für Publizistik der Johannes GutenbergUniversität Mainz, 55099 Mainz. Jüngste Buchveröffentlichungen: Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte, Hg. Köln, Weimar, Wien 2000. Unter Druck gesetzt. Vier Kapitel deutscher Pressegeschichte, Hg. Köln, Weimar, Wien 2002. Fischer Lexikon Publizistik / Massenkommunikation. Frankfurt/M., 4. Aufl. 2002 (zus. mit E. Noelle-Neumann und W. Schulz). Juli ZEH, LL. M. Eur. Künstlerisches Diplom des Deutschen Literaturinstituts Leipzig, Magister des Europarechts. Schriftstellerin und Volljuristin, lebt in Leipzig. Derzeit arbeitet sie an ihrer juristischen Dissertation. Buchpublikationen: Adler und Engel. Roman. Frankfurt/M. 2001. Die Stille ist ein Geräusch – Eine Fahrt durch Bosnien. Frankfurt/M. 2002. Recht auf Beitritt? – Ansprüche von Kandidatenstaaten gegen die Europäische Union. Baden-Baden 2002. Spieltrieb. Roman. Frankfurt/M. 2004.
Personenregister Berücksichtigt wurden nur Personen im Haupttext und die wichtigsten Verweise in den Fußnoten: Autor vor Herausgeber, Regisseur vor Stab etc. Nennungen allein in den Anmerkungen erscheinen kursiv.
Aberdeen, George Hamilton-Gordon 94 Adair, Gilbert 20 Adam, Armin 145 Adam, Hans Christian 252 Adams, Valerie 243 Adenauer, Konrad 309 Adorno, Theodor Wiesengrund 297f., 301, 402 Aischylos 31 Alba, Fernando Álvarez de Toledo, Herzog von A. 405 Albert, Herzog von Sachsen-CoburgGotha, Prinz von Großbritannien 252 Alembert, Jean le Rond d’ 313 Alexander, der Große 242, 399 Allen, Richard 77 Althusser, Louis 434 Ambrose, Stephen E. 358, 360 Ammer, Andreas 181, 183, 194-197, 201 Andersen, Lale [eigtl. Lise-Lotte Helene Berta Beul] 167 Anderson, Frederick Lewis jr. 322 Andriü, Ivo 222 Andriü, Maja 220 Angelopoulos, Theo[doros] 150, 169, 171, 440 Anschütz, Ottomar 155 Ansen, David 351, 361, 364, 376 Apted, Michael David 352 Arendt, Hannah 216 Aristoteles 32 Arnett, Peter 22, 103 Arnheim, Rudolf 178f., 193 Arnold, Karl 34 Arsenijeviü, Vladimir 223, 225
Artaud, Antonin 312 Asendorf, Christoph 145 As-Sabah, Nayirah 255f. Attenborough, Sir Richard 381 Aumont, Jacques 78 Bachler, Karl 136 Bacon, Lloyd 360 Baker, James A. 260 Balkenohl, Stephan 382 Balzer, Jens 268 Barker, Adam 74, 78 Barkhausen, Hans 98f. Barthes, Roland 16, 20, 155, 158 Bartmann, Dominik 68 Basinger, Jeanine 379 Baudelaire, Charles 56f. Baudrillard, Jean 22, 79, 107, 149, 151 Baudry, Jean-Louis 76f. Baumann, Dieter 235 Baumann, Timo 129 Baumgart, Reinhard 303, 311f. Bay, Michael Benjamin 352, 377 Baylis, Trevor 175 Becher, Johannes Robert 127, 135f., 143-145 Becker, Jörg 332 Beers, Charlotte Lenore 262 Beethoven, Ludwig van 81 Beham, Mira 17, 83, 100, 204, 259, 260, 330f., 350 Beller, Hans 373 Bender, Klaus 86 Benigni, Roberto 384 Benjamin, Walter Benedix Schönflies 55, 82, 297, 303 Benn, Gottfried 311, 316 Bergson, Henri 69-71
446 Berlichingen, Götz [Gottfried] von 395 Beumelburg, Werner 366 Bierce, Ambrose Gwinett 61 Biermann, Karl-Wolf [Wolf] 295 Biga, Vesna 217 Bigelow, Kathryn 352 Biller, Maxim 295 Bin Laden, Osama Muhammad 29, 194, 261f., 281, 283-289, 431 Blair, Anthony [Tony] Charles Lynton 228, 230, 249, 261 Blix, Hans Martin 230 Bobiü Mojsiloviü, Mirjana 218 Böcklin, Arnold 18 Bockwitz, Hans H. 85 Bohnenkamp, Anne 397-400, 411 Boileau-Despréaux, Nicolas 32 Böll, Heinrich 219 Bolz, Norbert 109-112, 114, 118, 123 Bondartschuk, Sergej Fjodorowitsch 32 Boning, Wigald 192 Boog, Horst 138f. Boot, William 255 Booth, John Wilkes 80 Born, Nicolas 150, 158-162 Borovnik, Silvija 215 Bosnawi Salihbeg, Melika 220 Bosse, Ulrike 316f. Bowman, James 378, 416 Boyle, Nicholas 409, 415, 416, 417, 420 Brady, Mathew B. 95 Braese, Stephan 294, 296 Brecht, Eugen Berthold Friedrich [Bertolt] 175-179, 182, 197, 202, 227, 260, 311 Breil, Joseph Carl 80 Brezinski, Zbigniew 125f. Briegleb, Klaus 297f. Broad, H. S. 127-129, 147 Browne, Malcolm W. 255 Bruck, Peter A. 24 Brückner, Christian 190 Bruhns, Wibke 192 Brunner-Traut, Emma 9f. Buch, Hans Christoph 419
Bücher, Karl 248 Büchner, Georg 413 Buhlert, Klaus 193 Buhrow, Tom 231 Bullard, Frederic Lauriston 252 Bullivant, Keith 298 Bülow, Hans von 130 Burkhardt, Johannes 88 Busch, Bernd 155 Bush, George Herbert Walker [Senior] 256, 260 Bush, George Walker [Junior] 13f., 227, 229-231, 235f., 261, 283, 289 Canby, Vincent 377, 385 Canetti, Elias 286f. Capa, Robert [eigtl. Andrei Friedmann] 17, 164, 360 Carl August, Herzog von SachsenWeimar-Eisenach 392 Carl, Horst 18 Carové, Friedrich Wilhelm 416 Carp, Stefanie 313 Carstensen, Margit 199 Cartier-Bresson, Henri 155 Cartlidge, Katrin 163 Caruso, Enrico 182 Cäsar, Gajus Julius [Gaius Iulius Caesar] 395f., 397, 399, 404, 420 Cases, Cesare 418f. Cassidy, David C. 339 Castorf, Frank 312 ýehok, Ivan 219 Chambers II., John Witheclay 351, 362 Chaplin, Sir Charles Spencer [Charlie] 81 Cheney, Richard B. [Dick] 239 Chiari, Bernhard 20 Chirac, Jacques René 230 Christie, Debbie 162 Churchill, Sir Winston Leonard Spencer 142, 243, 247 Cicero, Marcus Tullius 241 Ciulli, Roberto 224 Clapton, Eric 41 Clausewitz, Carl von 29, 241, 244f., 315, 317f., 423
447 Clinton, William [Bill] Jefferson [eigtl. William Jefferson Blythe] 123, 364 Cohen, William Sebastian 386 Colin, Grégoire 163 Collins, Max Allan 386 Comolli, Jean-Louis 76 Cotten, Joseph 189 Coudenhove-Kalergi, Richard Nikolaus Graf von 136 Cramer, Sibylle 311 Crane, Stephen 63f., 68 Crary, Jonathan 55, 69 Creveld, Martin van 24 Cromwell, Oliver 248 Culbert, David 362 Cummings, Edward Estlin 267f. Cutlip, Scott M. 257 Dallontano, E. R. 305, 311 Danquart, Didi 162 Dante Alighieri 195, 197, 398 Dao, James 13 Daschle, Thomas 230 Daubner, Susanne 231 De Palma, Brian 364 Dear, I. C. B. 247 Dehning, Jens 97 Delacampagne, Christian 10 Deleuze, Gilles 33, 69-71, 79, 423433 Delius, Friedrich Christian 160 Derrida, Jacques 228 Détaille, Édouard 67, 68 Detje, Robin 106 Dewitz, Bodo von 95 Dickens, Charles 75 Dickson, William Kennedy Laurie 72 Diderot, Denis 313 Dietrich, Marlene [eigtl. Maria Magdalena von Losch] 167 Diller, Ansgar 99 Dixon, Thomas 79 Djajiü, Azra 219 Döblin, Alfred 146, 311 Dombrowski, Lothar 190 Domdey, Horst 32 Dos Passos, John Roderigo 311 Douhet, Giulio 127, 129-132, 138
Drakuliü, Slavenka 203, 209, 216, 223f. Dukovski, Dejan 220, 222 Durkheim, Émile 122 Duroc, Geraud Christophe Michel [General] 66 Dürrenmatt, Friedrich 30f., 329, 333350 Dutschke, Alfred Willi Rudolf [Rudi] 197 Dwars, Jens-Fietje 136 Dyle, Dale 360 Eagleburger, Lawrence 260 Eckermann, Johann Peter 422 Eco, Umberto 78 Edison, Thomas Alva 71, 182 Egmont, Lamoraal Graf von 395, 405, 413, 422 Ehrhard, William D. 378 Eichendorff, Joseph Freiherr von 117 Eichmann, Karl Adolf 216 Einheit, FM [eigtl. Frank-Martin Strauss] 181, 183, 194-197 Eisenstein, Sergej Michajlowitsch 75, 385 Eisert, Gisela 154f. Elsaesser, Thomas 74, 77, 78 Engelhardt, Michael von 398, 402 Engels, Friedrich 413f., 418 Ensslin, Gudrun 318f. Enzensberger, Hans Magnus 313f. Erhard, William D. 378 Ernst, Max 18 Everschor, Franz 384 Everth, Erich 243 Faas, Horst 164 Fabian, Rainer 252 Fassbinder, Rainer Werner 318 Faßler, Manfred 112, 114, 118 Faulstich, Werner 190f., 192f. Fechner, Gustav Theodor 68 Felderer, Brigitte 183 Felix, Jürgen 24 Felsecker, Wolfgang Eberhard 88 Fenton, Roger 58, 72, 95, 252 Ferber, Christian [eigtl. Georg Seidel] 305
448 Feriü, Zoran 218 Fernau, Joachim 144f. Fiebig, Helmut 385 Fielding, Raymond 71 Filz, Walter 176, 183, 193f. Findahl, Theo 146 Finkielkraut, Alain 165 Finn, David 257-261 Fiore, Quentin 23 Fischer, Gotthilf 235 Fischer, Joseph Martin [Joschka] 260 Fisher, Peter Steven 131 Fitzel, Thomas 305 Fleischer, Ari 230, 264 Flessenkemper, Gabriele 198 Flottau, Heiko 13, 17 Follath, Erich 352, 363, 366, 384 Fontane, Theodor 57f., 62 Foot, M. D. R. 247 Ford, John [eigtl. Sean Aloysius O’Fearna] 364 Förster, Stig 132 Forte, Dieter 294, 295 Foster, Geoff 164 Foucault, Michel 76 Frahm, Ole 29, 267, 271 France, Richard 187 Franklin, Benjamin 256 Franks, Tommy Ray 236 Frederic, Harold 63 Frei, Christian 164 Frey, Fritz 234f. Freyermuth, Gundolf S. 168 Freytag, Gustav 117f., 122 Friedrich II., der Große, König von Preußen 90 Friedrich Wilhelm II., König von Preußen 392 Friedrich Wilhelm III., König von Preußen 92, 392 Friedrich, Caspar David 170 Friedrich, Ernst 17f. Friedrich, Jörg 142, 147, 294 Friedrichs, Hanns Joachim 195 Fritzsche, Peter A. 141 Fröhder, Christoph Maria 236-238, 240 Fuller, Samuel 381
Furneaux, Rupert
252
Galilei, Galileo 260 Galli, Matteo 30 Gansera, Rainer 162, 164, 166, 170 Gantz, Walter 101 Ganz, Bruno 161 Gardiner, Sir Alan Henderson 11 Gardner, Alexander 58, 73 Garner, Jack 360 Garvens, Oskar 128 Gautier, Théophile 65 Genscher, Hans Dietrich 126 Gerhold, Hans 157-160, 162 Géricault, Jean Louis André Théodore 66, 415 Gersdorff, Ernst Christian August Freiherr von 415 Gerster, Petra 227, 231, 233, 240 Gide, André 316 Giedion, Sigfried 155 Giesen, Rolf 168 Giesenfeld, Günter 157 Gobsch, Hanns 127, 136f., 143 Goebbels, Heiner 193f. Goebbels, Paul Joseph 177, 183, 186f. Goethe, August von 414 Goethe, Johann Wolfgang von 32f., 182, 242f., 391-403, 405-409, 411422 Goetsch, Paul 382 Göllner, Carl 85 Gordon, Ian 266 Gore, Albert [Al] 125, 260 Gotlieb, Marc J. 66 Göttert, Karl-Heinz 176f. Goya y Lucientes, Francisco José de 18, 94f. Gracchus, Gaius Sempronius 420 Gracchus, Tiberius Sempronius 420 Grappin, Pierre 412 Grass, Günter 295 Graves, Robert von Ranke 105f. Gréard, Valery C. O. 64 Greeley, Andrew M. 378 Greenberg, Bradley S. 101
449 Griffith, David Wark 26, 55, 72-75, 78-82 Gros, Antoine Jean Baron [Jean] 66 Großklaus, Götz 79 Grosz, George [eigtl. Georg Ehrenfried Grosz] 18 Grzimek, Martin 161 Guattari, Félix 33, 423-429, 431, 433, 435 Guillermin, John 381 Gulbransson, Olaf 141 Gunning, Tom 75 Günther, Joachim 139 Gutenberg, Johannes [eigtl. Johannes Gensfleisch zur Laden] 84 Guys, Constantin Ernest Adolphe Hyacinthe 57 Habermas, Jürgen 115f., 228 Hackmann, Gene 158 Hadamovsky, Eugen 187 Hage, Volker 147, 293-301, 303, 304, 306, 311 Hägele, Ulrich 281, 283, 285, 287 Hagemann, Walter 85 Hagen, Wolfgang 16, 158, 178-180, 182, 187f., 191 Hahnemann, Andy 127 Haile Selassie I., Kaiser von Äthiopien 128, 187 Hall, Peter Christian 102 Haller, Michael 93 Hallin, Daniel C. 100 Hamm, Heinz 396, 401, 415-418, 421 Hammond, William M. 243 Handke, Peter 28, 165, 167f., 203, 205, 209f., 212-214 Hanks, Tom 358, 360, 364f., 368f., 371f., 377, 382, 385, 387 Harbou, Thea von 301 Hardt, Michael 110, 117, 125 Harff, James 259 Harris, Edward Allen [Ed] 156 Harsdörffer, Georg Philipp 176 Hartmann, Eduard von 116 Hattusilis III. 12 Haucke, Gert 190 Haushofer, Karl Ernst 114, 120
Hawkes, John Clendennin Burne jr. 311 Hearst, William Randolph 96f. Hein, Michael 267, 275 Heine, Heinrich [bis 1825 Harry Heine] 51, 121 Heisenberg, Werner Karl 31, 329, 339-342 Helders, Major [eigtl. Robert Knauss, s. d.] Heller, Heinz-B. 28 Heller, Joseph 311 Helmholtz, Hermann Ludwig Ferdinand von 68f. Hemingway, Ernest Miller 269 Hennig, Richard 254 Heraklit 150 Herder, Johann Gottfried von 119 Hermand, Jost 121 Hermann, Kai 159 Hermlin, Stephan [eigtl. Rudolf Leder] 61 Herodot 241 Herriman, George Joseph 265f., 268271, 275 Hersh, Seymour 15 Hertz, Gottfried Wilhelm 416 Hertzberg, Hendrik 359, 362-365, 377, 380-383 Hesketh, Roger 247f. Hess, Manfred 193 Hildebrandt, Dieter 225 Hill, John Wiley 255f., 261 Hillegaart, Heinz 195 Hilton, Rod 386 Hindenburg, Paul von Beneckendorff und 187 Hirohito, Tenno [Kaiser] von Japan 187 Hitler, Adolf 142, 166, 175, 177, 181, 183, 186, 382 Hobbes, Thomas 424 Hoblit, Gregory 352 Höffe, Otfried 115, 118, 123 Hofmann, Gunter 17 Hofmann, Michael 298 Höhle, Thomas 418 Homer 20, 169, 241, 398
450 Hooper, Alan 243 Horaz [Quintus Horatius Flaccus] 398 Hornung, Peter 305, 310 Horst, Karl August 305, 310 Horwarth, Alexander 351, 383 Hosny, Halim 233 Hötger, Kai 198 Hötzendorf, Franz Graf Conrad von 319 Hoye, Dr. 195 Hübner, Wolfgang 355 Hume, Brit 263 Hume, David 248, 252 Hüppauf, Bernd 366 Hussein [Husain], Saddam 12-15, 25, 103, 230, 239, 284, 286f., 329, 331 Husserl, Edmund 69 Huston, John 364 Hutton, Brian G. 382 Huyssen, Andreas 296, 299f. Ignatieff, Michael 17, 24 Imhof, Christiane 87 Imhof, Kurt 24 Isaacson, Walter Seff 264 Iser, Wolfgang 170 Iten, Andreas 19, 23 Ivekoviü, Rada 209 Izetbegoviü, Alija 258, 260 Jackson, Mick 22 Jackson, Peter 32 Jaeger, Michael 422 Jäger, Christian 33, 423 Jakobson, Roman Ossipowitsch 78 Jakoviü, Mirjana 166 James, David 358 Jary, Alfred 221 Jaucourt, Chevalier Louis de 315 Javal, Emil 68 Jeger, Rujana 217 Jergoviü, Miljenko 205, 216 Jessen, Hans 90 Jesser, Peter 84, 100 Jesus von Nazareth [Jesus Christus] 9, 394, 398 Johann Friedrich I., Kurfürst von Sachsen 85
Johannes, Evangelist 195, 408 Johanning, Wiebke 34 Johnson, Arthur 141 Johnson, Hiram Warren 264 Johnson, Uwe 298 Johnston, Joanna 362 Jones, James 355 Jünger, Ernst 58, 61, 82, 153, 366 Just, Gottfried 319 Kadare, Ismail 222 Kamenjew, Leo Borrisowitsch [eigtl. L. B. Rosenfeld] 208 Kaminski, Janusz 358, 361 Kant, Immanuel 115, 116f., 122, 410 Karahasan, Ĉevad 205, 222 Kardorff, Ursula von 146 Karl II., König von Spanien 88 Karl V., römischer Kaiser und König von Spanien 85, 243 Karl VIII., König von Frankreich 85 Karpenstein-Eßbach, Christa 349 Karzai, Hamid 252 Kasack, Hermann 301 Kästner, Erich 135 Kaufmann, Stefan 82 Keegan, Sir John 56 Kegel, Sandra 227 Kehl, Jacqueline 386 Keil, Christopher 164 Keitel, Harvey 169 Keitel, Wilhelm 248 Keller, Wilfried 323 Kellogg, Ray 377 Kelly, Andrew 360 Kemner, Gerhard 154f. Kempelen, Wolfgang von [eigtl. Johann Wolfgang Ritter von Kempelen de Pázmánd] 183 Kempf, Wilhelm 24, 101 Kempowski, Walter 297 Kennedy, Paul Michael 253f. Kepplinger, Hans Mathias 332, 341f., 346, 350 Kessler, Harry Graf 122 Kierkegaard, Søren Aabye 349 Kilb, Andreas 383 Kipling, Joseph Rudyard 153, 251
451 Kipphorn, Richard A. 351 Kitchener, Horatio Herbert [Colonel] 72 Kittler, Friedrich 27, 149f., 153-155, 168, 182, 282 Kleeberg, Michael 349 Kleine-Brockhoff, Thomas 154 Kleist, Heinrich von 31 Kloss, Stephan 231f., 238 Klubertz, Frank 165 Kluge, Alexander 30, 301-303, 310, 313-327 Klüger, Ruth 295f. Kluth, Hans 248f. Knapp, Gerhard P. 334, 340f., 349 Knauss, Robert 127, 137-139, 143, 145 Knebel, Karl Ludwig von 415 Knightley, Phillip 93 Kniphausen, General-Lieutenant 91 Knoerer, Ekkehard 353 Knopf, Jan 334, 337 Knopp, Guido 294, 312 Knowlton, Donald 255f., 261 Koch, Howard 188f. Koþovska, Ljupka 220 Koebner, Thomas 169f. Kohl, Helmut 83 Köhler, Margret 151 Kohlmann, Theodor 96 Kokelj, Nina 215 Konstantinoviü, Radomir 210f., 221 Köppen, Manuel 26, 59, 305, 312 Kortüm, Hans-Henning 18 Koslowski, Nikolai von 216 Kost, Jürgen 30, 344 Koštunica,Vojislav 219 Koszyk, Kurt 96 Kotcheff, Ted 364 Kothenschulte, Daniel 382 Koydl, Wolfgang 17 Kracauer, Siegfried 155, 168f. Kraus, Karl 31f., 106, 318 Krause, Peter 20 Krauss, Werner 414 Kreimeier, Klaus 29 Krese, Maruša 215, 222 Kresnik, Johann 32
Kreye, Andrian 15 Krippendorff, Ekkehart 392 Kubin, Alfred 18 Kubrick, Stanley 364 Kühn, Dieter 392 Künast, Renate 229 Kunczik, Michael 29, 153, 248, 251, 350 Kurt Imhof 24 Kurtzman, Harvey 265f., 271-277 Kusturica, Emir 150, 165-168, 209f., 224 Kutusov [-Golenischtschev], Michail Illarionowitsch 59 Lacan, Jacques Marie 77f., 150, 215 Lafontaine, Oskar 202 Lane, Anthony 377 Langewiesche, Dieter 18 Lanoye, Tom 31 Lauer, Reinhard 204, 213 Lauria, Thomas 262 Le Carré, John [eigtl. David J. Moore Cornwell] 261 Lean, David 381 Ledig, Gert 30, 293f., 296, 303-311 Lee, Robert Edward [General] 73 Lefèvre, Pascal 267 Lehfeldt, Werner 204 Lehmann, Armin 24 Lenger, Friedrich 18 Leo XIII, Papst [eigtl. Vincenzo Gioacchini Pecci] 182 Lepel, Bernd 162 Lessing, Erich 10 Lessing, Gotthold Ephraim 64 Lester, Richard 383 Lethen, Helmut 304 Levy, David 71 Lewinsky, Monica Samille 364 Liebig, Christian 238 Liebs, Holger 17 Lincoln, Abraham 13, 75, 80f., 227 Lindqvist, Sven 128 Link, Werner 117 Lippmann, Walter 119, 120 Liverpool, Lord [Robert Banks Jenkinson, Earl of L.] 243
452 Löffelholz, Martin 83, 257 Löffler, Sigrid 302 Loquai, Franz 302 Löser, Claus 165f. Louis Philippe, König von Frankreich 393, 421 Lovrenoviü, Ivan 223 Lucas, George 32 Ludwig XIV., König von Frankreich 88 Ludwig XVI., König von Frankreich 392f., 412 Luhmann, Niklas 106, 107f., 110112, 114, 124, 202, 333, 337f. Lukács, György [Georg] 417 Lukan [Marcus Annaeus Lucanus] 396, 398, 403 Lunenfeld, Peter 16, 158 Lux, Joachim 32 Luxembourg, Duke of 258 Lyman, Rick 362 Maak, Niklas 13 MacArthur, John R. 100, 254, 256 Machiavelli, Niccolo 245f. Mackert, Gabriele 16f., 18, 19 Mackinder, Halford J. 121 Madden, John 384 Mahler, Horst 318 Malick, Terence 353, 355 Manakis, Brüder [d. s. Yannakis und Miltos Manakis] 169, 171 Manchevski, Milcho 150, 162-165, 168f. Mankiewicz, Frank 256 Mann, Dieter 193 Manojloviü, Miki 166 Manstein, Erich von [eigtl. Erich von Lewinski] 318 Marey, Étienne Jules 69, 154-156 Marinetti, Emilio Filippo Tommaso 145 Mariniü, Jagoda 217 Marino, Michael 378 Markoviü, Predrag 222 Marschewski, Erwin 288 Marx, Karl Heinrich 414, 418 Maslin, Janet 377, 381
Massing, Michael 255 Masterman, John C. 247 Matanoviü, Julijana 217 Matiü, Veran 102 Matt, Gerald 16, 19 Matthäus, Evangelist 394 Mattioli, Aram 128 Mattl, Siegfried 20 Matussek, Matthias 256 Maximilian I., römischer König und Kaiser 242 May, Karl 284 May, Kurt 418 McKinley, William 97 McLeish, Archibald 188 McLuhan, Herbert Marshall 21, 23, 111f., 180 McReynolds, David 381 Meacham, Jon 360, 364, 380 Meade, Geoff 237 Medenica, Ivan 218 Medicus, Thomas 304, 306, 311 Mehrtens, Herbert 20 Meidner, Ludwig 18 Meier, Viktor 223 Meinhof, Ulrike 181, 193, 194f. Meins, Holger Klaus 195 Meißner, Jochen 28, 196, 201f. Meissonier, Jean Louis Ernest 59, 6466, 68, 69 Méliès, Georges 71, 168 Melly, John 128 Menand, Louis 363 Mendelssohn, Peter de 301 Mendelssohn-Bartholdy, Jakob Ludwig Felix 414 Menes, König von Ägypten 10 Menzies, William Cameron 129 Merleau-Ponty, Maurice 70 Merlino, Jacques 259 Metz, Christian 76f. Mey, Reinhard 229 Meyer, Eva 201 Mießgang, Thomas 19, 22 Milestone, Lewis 362, 373f. Miljaniü, Ana 218 Miloševiü, Slobodan 102, 207, 211, 218, 222, 224
453 Mitevska, Labina 163 Mitscherlich, Alexander 300 Mitscherlich, Margarete 300 Modelski, George 114 Moissi, Alexander 182 Moltke, Helmuth von 57 Mommsen, Theodor 396, 399 Monaco, James 155 Montagu, Ewen E. S. 247 Montesquieu, Charles de Secondat, Baron de la Brède et de 404 Montinari, Mazzino 421 Moore, John 352 Morris, Neil 9 Morrison, Herbert 175, 184 Moses [Mose, Moscheh, Musa] 410 Moss, Craig 386 Motti, Gianni 19 Mühl-Benninghaus, Wolfgang 72 Müller, Adam Heinrich 176 Müller, Friedrich von 414 Müller, Heiner 31, 33 Müller, Lothar 305, 312 Müller-Wallraff, Martina 196 Münch, Peter 17, 154 Münch, Richard 115 Münkler, Herfried 13, 18, 24 Münsterberg, Hugo 75f. Müntefering, Franz 235 Murawski, Erich 99 Muwatallis II., König der Hethiter 11 Muybridge, Eadweard [eigtl. Edward James Muggeridge] 66, 69, 154, 155 Nachtwey, James 18, 164 Nagel, Thomas 351 Nagl, Manfred 131 Napoleon I. Bonaparte, Kaiser der Franzosen [eigtl. Napoleone Buonaparte] 59, 65f., 92, 94, 242-244, 315, 412, 422 Narmer, König von Ägypten 9f. Naumann, Friedrich 117-119, 121123 Naumann, Klaus 356 Nebel, Gerhard 146 Negri, Antonio 110, 117, 125
Negt, Oskar 319, 325 Neuville, Alphonse de 67, 68 Nichols, Mike [eigtl. Michael Igor Peschowsky] 381 Nicklas, Pascal 382 Nicklaus, Hans Georg 185 Niebuhr, Barthold Georg 419f. Nietzsche, Friedrich Wilhelm 163, 421 Nikodemus, apokrypher Evangelist 398 Niland, Fritz 360 Nixon, Richard Milhous 243 Nolte, Nick 158 Norstedt, Stig-Arne 101 Nossack, Hans Erich 146, 302 Novak, Maja 215 Obhodjas, Safeta 225 Ogilvy, David 262 Ohliger, Ernst 141 Omeragiü, Sukrija 162 Ophuls, Marcel [eigtl. Marcel Oppenheimer] 162 Oraiü Toliü, Dubravka 217 Ortega y Gasset, José 116, 119 Orwell, George [eigtl. Eric Arthur Blair] 261, 263, 334 Ostermeier, Thomas 222 Ottosen, Rune 101 Ovid [Publius Ovidius Naso] 398 Paget, Rhoda 258 Palmer, Frederick 259 Panmure, Lord [eigtl. Fox MauleRamsey] 252 Parker, Geoffrey 87 Parr, Rolf 351 Pasolini, Pier Paolo 14 Patton, Paul E. 151 Paul, Gerhard 20 Paulus, Apostel [eigtl. Saulus] 176 Paulus, Friedrich 318 Paviþiü, Josip 216 Peckinpah, Samuel [Sam] 377 Peirce, Charles Sanders 15f., 19, 70, 157 Perceval, Luk 31 Percy, Lord 91f.
454 Peres, Shimon [eigtl. Shimon Persky] 84 Pétain, Henri Philippe 141 Petersen, Wolfgang 32 Petrus, Apostel [eigtl. Simon] 398 Pfarr, Kristina 85 Pfeiffer, Jochen 306, 308 Pfirstinger, Rico 383 Philipp II., König von Spanien 86 Philippoteaux, Félix Emmanuel Henry 67 Picasso, Pablo [eigtl. Pablo Ruiz y Picasso] 18 Plievier, Theodor 307, 310 Plutarch 404 Pniower, Otto 392 Poe, Edgar Allen 183 Pollmann, Tessel 250f. Pompejus [Gnaeus Pompeius Magnus] 395-399, 411 Ponsonby, Sir Arthur 245 Pont Carrera, Ernando de 86 Porombka, Stephan 145 Porter, Edwin Stanton 74 Postman, Neil 23, 230, 262 Powell, Colin Luther 18, 230, 262 Powers, Bruce R. 21 Pralle, Uwe 306, 311 Preußer, Heinz-Peter 27, 408 Prose, Francine 17 Proust, Marcel 105 Prümm, Karl 366 Pulitzer, Joseph 96 Pynchon, Thomas 311 Rack, Jochen 189 Raglan, Lord [eigtl. Fitzroy James Henry Somerset] 94 Rajakoviü, Nataša 217, 222 Rakuša, Ilma 222f. Rameau, Jean-Philippe 184 Ramses II., König von Ägypten 9-15, 25 Rather, Dan 263 Ratzel, Friedrich 119f. Rauh, Reinhold 163 Raulff, Ulrich 14
Reck-Malleczewen, Friedrich Percyval [eigtl. Friedrich Reck] 142, 146 Reeves, Nicholas 73 Reinhardt, Fritz 186 Reinhardt, Stephan 306 Reitz, Edgar 318 Remarque, Erich Maria [eigtl. Erich Paul Remark] 306, 373f. Rembrandt [eigtl. R. Harmensz van Rijn] 205 Reuter, Paul Julius Freiherr von [eigtl. Israel Beer Josaphat] 254 Richter, Gerhard 18f. Richter, Nicolas 15 Ristoviski, Lazar 167 Ritter, Hans 133f. Robespierre, Maximilien de 184f. Robichon, François 67 Robinson, Henry Crabb 243 Robnik, Drehli 21 Rochlitz, Johann Friedrich 414 Rodat, Robert 386 Rogg, Matthias 20 Rogin, Michael 79-81 Rohrwasser, Michael 208 Roos, Peter 303, 306, 311 Roosevelt, Franklin Delano 187, 189 Roselius, Ludwig 248 Rosenberger, Bernhard 97 Roth, Joseph 390 Rothstein, Edward 379 Rousseau, Jean-Jacques 184f. Roy, Arundhati 261 Rüb, Matthias 103 Ruder, Bill 257-261 Rühle, Alex 164 Rumsfeld, Donald H. 229, 236, 239 Rüsen, Jörn 208 Russell, William Howard 93f., 96, 252 Rystad, Göran 88 Saadi, Amir el 240 Saint-Just, Louis Antoine Léon de 413 Saint-Simon, Claude Henri de Rouvroy, Graf von 401, 415-417, 420, 421f.
455 Salewski, Michael 242 Salinger, Jerome David 36 Sanders, Tom 359 Sassen, Saskia 120 Saussure, Mongin Ferdinand de 19f. Savage, William W., Jr. 266 Scarre, Chris 10 Schaerf, Eran 199-202 Schäfli, Roland 20 Scharping, Rudolf 16, 258f. Scheidemann, Philipp 183 Scherer, Wolfgang 24 Scherpe, Klaus R. 305 Schickel, Richard 73 Schiller, Johann Christoph Friedrich von 182, 325, 412 Schilling, E. 141 Schimmelpfennig, Roland 192, 199 Schindler, Oskar 352, 363, 379, 380, 383, 387 Schlanstein, Beate 228 Schleyer, Hanns-Martin 318, 326 Schlingensief, Christoph 197-199, 202, 312 Schlögel, Hermann A. 11f. Schlöndorff, Volker 150, 158f., 161f., 318 Schlosser, Eric 390 Schmid, Georg 332 Schmidt, Arno Otto 149 Schmidt, Harald 235 Schmidt, Wolfgang 20 Schmitt, Carl 109f., 112-114, 120f., 124, 125, 126, 145, 423, 429 Schmölders, Claudia 186f. Schmolke, Michael 330 Schnadwinkel, Andreas 355 Schneersohn, F. 249 Schneider Thomas F. 31 Schnell, Ralf 156 Schoeller, Wilfried F. 306 Schöfbänker, Georg 124 Scholl-Latour, Peter Roman 235 Schonauer, Franz 305 Schönenborn, Jörg 234f. Schöning, Klaus 189-191, 196, 199, 201 Schorlemmer, Friedrich 229
Schramm, Wilhelm Ritter von 139f. Schröder, Gerhard Fritz Kurt 229, 235, 253 Schröder, Thomas 87 Schröter, Erasmus 19 Schuchard, Gottlieb Carl Ludolf 415f., 422 Schult, Johann 141 Schulte, Christian 293 Schulz, Charles Monroe 267 Schulz, Dietmar 84 Schulz, Peter 24 Schulz, Regine 9 Schütz, Erhard 27, 160 Schwarte, Max 132f. Schwarzer, Alice 235 Schwarzkopf, H. Norman 243, 255 Schwelling, Birgit 20f. Schwilk, Heimo 17 Scott, Sir Ridley 352 Sebald, Winfried Georg 30, 147, 293296, 299-304, 322 Seidel, Matthias 9 Seidlmayer, Stephan 10 Šerbedzija, Rade 163 Shakespeare, William 31, 384f., 402 Shea, Jamie 102, 243, 249f., 256 Sherman, William Tecumseh 73 Siebers, Winfried 317 Siedenberg, Sven 303 Silajdžiü, Haris 260 Simmel, Georg 246 Simon, Claude 311 Simpson, General 252 Sinowjew, Grigori Jewsejewitsch [eigtl. G. J. Radomylskij] 208 Sizemore, Tom 360 Slapšak, Svetlana 222 Šnajder, Slobodan 209, 224 Sobeck, Alexander von 103 Sodann, Peter 229 Somoza Debayle, Anastasio 156, 158 Sontag, Susan 14f., 18 Sösemann, Bernd 144 Soulavie, Jean-Louis-Giraud 412 Sparrow, Bartholomew H. 97 Speer, Albert 142 Sperber, Manès 205, 213
456 Spielberg, Steven 31f., 311, 351-367, 369, 373, 377-390 Spínola, António Sebastião Ribeiro de 320f. Sporry, Bob Tadema 9, 12 Spottiswoode, Roger 150, 156-158, 161, 169 Squires, James Duane 245, 253 Srbljanoviü, Biljana 203, 206, 214, 218-225 Stadler, Heiner 150f. Stalin, Jossif Wissarionowitsch [eigtl. J. W. Dschugaschwili] 136 Stallmann, Robert Wooster 63 Stanþiü, Mirjana 28 Stanford, Leland 66 Staudt, Arnim 231, 234 Steger, Thobias 86 Stein, George J. 124 Steinle, Matthias 228 Stendhal [eigtl. Marie Henri Beyle] 56, 61 Sterling, Oberst Lieutnant 91 Stichweh, Rudolf 113f., 118 Stieler, Karl 96 Stieler, Kaspar von 88f. Stingelin, Martin 24 Stöckmann, Ingo 145 Stollmann, Rainer 317 Stone, Oliver 364 Stötzner, Ernst 166 Streidel, Adelheid 202 Streim, Gregor 30 Strubbe, Cirsten 34 Strübel, Michael 20 Strzelczyk, Florentine 345 Sturminger, Alfred 241, 242 Sukarno, Achmed 250 Sun Tsu 245 Swartz, Richard 207f. Tadiü, Radovan 162 Talbot, William Henry Fox 157 Tantow, Lutz 334 Tardi, Jacques 265f., 275-279 Taylor, Philip M. 100 Thatcher, Margaret Hilda 260 Theißen, Hermann 214
Thiele, Matthias 351 Thierse, Wolfgang 229 Thoma, Dieter 190 Thompson, J. Walter 262 Thormann, Jürgen 190 Thorn-Prikker, Jan 19 Thukydides 241 Thutmosis III., König von Ägypten 12 Tilgner, Ulrich 231, 233, 236-238, 240 Tito, Josip [eigtl. J. Broz] 41, 166, 217 Tocqueville, Charles Alexis Henri Clérel de 421 Todorova, Maria 209 Toliü Oraiü, Dubravka 217 Tolkien, John Ronald Reuel 32 Toller, Ernst 206 Tolstoi, Leo [ Lew] Nikolajewitsch Graf 21, 26, 55, 59-64, 68 Tönnies, Ferdinand 248f. Trittin, Jürgen 229 Truffaut, François 189 Tudjman [Tuÿman], Franjo 216, 258 Turpin, Ian 18 Uecker, Matthias 320 Ugrešiü, Dubravka 203, 209, 216, 224 Ulrich, Bernd 366, 379 Valverde, Marc-Antoine 234 Vandenberg, Philipp 11 Veit, Peter 199 Velikowsky, Immanuel 11 Vergil [Publius Vergilius Maro] 398 Verhoeven, Paul 377 Vernet, Émile-Jean-Horace 57, 66 Victoria, Königin von Großbritannien und Irland und Kaiserin von Indien 252 Vidmar, Maja 215 Viereck, George Sylvester 242 Vilsmaier, Joseph 381 Virilio, Paul 22, 27, 62, 107, 111, 114, 118, 123, 125, 149-154, 427f. Vischer, Friedrich Theodor 58 Visser, Anthonya 34
457 Voigt, Christian Gottlob Vondung, Klaus 18 Vonnegut, Kurt 311 Vukiþeviü, Sonja 218
406
Wagener, Hans 306 Wagner, Wilhelm Richard 80 Wahrig, Gerhard 315 Waldron, Karl 257 Wallace, Randall 352 Walser, Martin Johannes 295 Walsh, David 353, 378, 383 Walsh, Edmund A. 119 Ward, James J. 381 Warner Brothers [d. s. Albert, Harry, Jack und Samuel W.] 189 Washietl, Engelbert 350 Washington, George 246 Waszak, Tomasz 137 Watzlawick, Paul 246f. Waugh, Evelyn Arthur St. John 263 Wayne, John [eigtl. Marion Michael Morrison] 376f., 380 Weaver, Kevin 254 Weber, Max 110, 124 Wecker, Konstantin Amadeus 229 Wedel, Hasso von 98 Weintraub, Bernard 385 Weischenberg, Siegfried 330 Weiss, Peter Ulrich 301, 302f. Weithmann, Michael W. 209 Welke, Martin 90 Weller, Christoph 333 Welles, Orson 28, 175, 187-191, 202 Wellington, Duke [Arthur Wellesley, Herzog von W.] 243, 245 Wells, Herbert George 127, 129, 145f., 188-190, 251 Wember, Bernward 23 Werber, Niels 27, 111f., 116, 120f. Werner, Anton von 67f. Werner, Hans-Georg 418 Westerbarkey, Joachim 246 Wetta, Frank J. 381 Whales, James 360 Wicki, Bernhard 381 Wieczorek-Zeul, Heidemarie 229 Wiener, Robert 22
Wiesflecker, Hermann 242 Wilde, Cornel 381 Wildenhahn, Klaus 162 Wilhelm I., deutscher Kaiser und König von Preußen 67 Wilhelm II., deutscher Kaiser und König von Preußen 181f., 187 Wilink, Andreas 167 Wilke, Jürgen 26, 83, 88, 91f., 97, 242 Willemer, Johann Jakob von 415 Willemer, Marianne Anna Katharina Therese von 415 Williams, Pete 255 Williams, Robert W. 323 Willke, Helmut 114f., 118, 124 Wilpert, Gero von 392 Wilson, Robert [Bob] 31 Wilson, Thomas Woodrow 79f. Wimmer, Adi 351f., 364, 378 Witzler, Anja von 32 Wolcott, James 377 Wolff, Bernhard 98 Wolff, Otto 98 Woo, John 352 Wright, Bradford W. 266 Wüllner, Ludwig 182 Wundt, Wilhelm Max 69 Wyschinskij, Andrej Januarjewitsch 208 Young, Peter
84, 100
Zanuck, Darryl 376 Zeh, Juli 25 Zelter, Carl Friedrich 414, 416, 419 Zielinski, Siegfried 149f., 156, 330 Ziemann, Benjamin 366 Zimmermann, Peter 24 Zinn, Howard 380 Žižek, Slavoj 205, 215, 222, 432f., 435 Zola, Émile 63f.