Heinz Moser · Werner Sesink · Dorothee M. Meister Brigitte Hipfl · Theo Hug (Hrsg.) Jahrbuch Medienpädagogik 7
Heinz Moser · Werner Sesink Dorothee M. Meister Brigitte Hipfl · Theo Hug (Hrsg.)
Jahrbuch MedienPädagogik 7 Medien. Pädagogik. Politik
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. 1. Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008 Lektorat: Monika Mülhausen VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-15652-1
Inhalt
Heinz Moser, Brigitte Hipfl, Theo Hug, Dorothee Meister, Werner Sesink Medienpädagogik, Politik und politische Bildung – eine notwendige Standortbestimmung – Editorial –.............................................7
Teil I Medienpädagogik im politischen Spannungsfeld Anja Besand Alles in Watte packen? Politische Bildung zwischen medialer Über und medialer Unterforderung. ...................................................................13 Heinz Moser Die Medienpädagogik und der zweite Strukturwandel der Öffentlichkeit .........23 Christian Doelker Meinungsbildung zwischen Information und Unterhaltung. Anmerkungen zur publizistischen Lizenz bei Satire, Cartoon und Kunst..................................51 Arnold Fröhlich „Mission accomplished“ – Manipulierte Bilder machen Politik ........................63 Peter Holzwarth Bildpädagogik und Medienkompetenzentwicklung als politische Bildung .......97 Robert Ferguson Re-cognising the political in the pedagogy of media education: the carnival is over ...........................................................................................117
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Inhalt
Teil II Jugend, Medien und Politik Ingrid Paus-Hasebrink Zur politischen Partizipation von Jugendlichen im Kontext neuer Medien – Aktuelle Ansätze der Jugend(medien)forschung..............................133 Bernd Schorb Jugend, politische Sozialisation und Medien ...................................................151 Edith Blaschitz Zwischen re-orientation und „Kampf gegen Schmutz und Schund“. Österreichische Kinder- und Jugendmedien in der Nachkriegszeit (1945-1960)......................................................................................................169 Maren Würfel, Susanne von Holten Themenzentrierte aktive Medienarbeit: ein Ansatz zur Förderung der politischen Beteiligung Jugendlicher ...............................................................187 Katrin Döveling, Dagmar Hoffmann Emotional-personalisierte Vermittlung und Rezeption von Politik – Potenziale für die politische Ansprache von Jugendlichen ..............................205
Teil III Felder aktiver Medienarbeit Christian Berger Kindern eine mediale Stimme geben – Nachwuchs für den Citizen Journalism? ..........................................................231 Helmut Peissl Intercultural Media Literacy – Community Radios als Lernorte der Selbstermächtigung in der multikulturellen Gesellschaft.................................243 Barbara Waschmann, Renate Schreiber Verstehen um zu handeln. Kommentierte Dokumentarfilmvorführungen von normale.at.................................................257
Heinz Moser, Brigitte Hipfl, Theo Hug, Dorothee Meister, Werner Sesink
Medienpädagogik, Politik und politische Bildung – eine notwendige Standortbestimmung – Editorial –
Die Medienpädagogik als Disziplin entstand in den Sechziger- und Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts nicht zuletzt im Rahmen von Überlegungen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor den negativen Einflüssen der Massenmedien. Beeinflusst von der Kritischen Theorie der Sechziger- und Siebzigerjahre begann sie, dies mit Kritik an den Manipulationsmöglichkeiten der Medien zu verbinden. Damit setzte sie sich dem Trend einer aus den USA importierten Medienforschung entgegen, die – wie es damals Dieter Baacke (1973, S. 31) ausdrückte – im Wesentlichen dazu diente, die „Bedingungen für erfolgreiche Medienstrategien“ zu beschreiben. Dieser sich als „wertfrei“ verstehenden Forschung setzte Baacke eine Konzeption entgegen, nach welcher sich Aussagen über Massenmedien zugleich als Aussagen über die Gesellschaft verstehen: Beide werden nicht nur in ihrem Status quo beschrieben, sondern auf Veränderung hin analysiert. Diese Veränderung besteht nicht nur in einer Variation des Immergleichen. Sie muss radikaler sein, indem sie sich messen muss an der Möglichkeit aller sozialen Gruppen, Kommunikation sich nicht veranstalten zu lassen, sondern deren Inhalte und Ziele von den eigenen Bedürfnissen her mitzubestimmen. Dass diese Bedürfnisse sich nicht in der Anerkennung kommunikativer Deprivation und in der Unterwerfung unter fremde Herrschaft beschwichtigen lassen, ist Aufgabe einer Aufklärung, der auch die Massenmedien verpflichtet sind. (Baacke 1973, S. 35)
Dieses kritische Selbstverständnis der Medienpädagogik ist in der Folge eher in den Hintergrund getreten. Anstatt auf massenmediale Kritik setzte man auf die Betonung der aktiven Mitwirkung der Nutzerinnen und Nutzer bei der Konstruktion der Bedeutungen von Medienereignissen; und mit dem Vordringen des Computers und der Informationstechnologien traten Fragen einer konstruktiven Bewältigung der damit verbundenen Herausforderungen in Schule und Gesell-
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schaft in den Mittelpunkt. Dennoch blieb die ursprüngliche medienkritische Positionierung als Subtext in allen medienpädagogischen Diskussionen präsent. Medienkompetenz umfasst seit Baacke immer auch den Aspekt der Medienkritik – und auch in den Überlegungen zur Nutzung der Informationstechnologien in der Schule spielen Fragen der Chancengleichheit unter dem Begriff des „Digital Divide“ eine nicht zu unterschätzende Rolle. Dennoch ist die Frage der politischen Dimension der Medienpädagogik im Diskurs der letzten Jahre vernachlässigt worden. Nicht zuletzt aus diesem Grund nahmen die „Kommission Medienpädagogik in der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft“ und die „Sektion Medienpädagogik der Österreichischen Gesellschaft für Forschung und Entwicklung im Bildungswesen“ ihre gemeinsame Herbsttagung 2006 zum Anlass, diese Thematik als Diskussionsschwerpunkt aufzunehmen und in Referaten und Diskussionen aufzugreifen. Das vorliegende Jahrbuch umfasst die in Klagenfurt gehaltenen Referate, beinhaltet aber zusätzlich eine Reihe von Beiträgen, die aufgrund eines weiteren „Call for Papers“ eingereicht und aufgrund des anschließenden Peer Review Verfahrens in den Band aufgenommen wurden. Zusammengekommen ist ein breites Spektrum von Beiträgen, welche schlaglichtartig die komplexe Beziehung zwischen Medienpädagogik und Politik beleuchten: In einem ersten Teil geht es um grundlegende Überlegungen, welche die Medienpädagogik in den Kontext der Globalisierung stellen. Es stellt sich die Frage, ob diese mit einem Verfall der Politik oder mit neuen Möglichkeiten aktiver Partizipation verbunden ist. In mehreren Beiträgen wird dann aber auch das Verhältnis der Massenmedien zur politischen Manipulation beschrieben. Diese erfolgt nicht allein über die traditionellen Gefäße der Meinungspresse und der News-Sendungen, sondern auch über andere Textsorten wie Satire, Cartoon und Kunst. Angesprochen wird in diesem Zusammenhang die Bedeutung der in der Gesellschaft zirkulierenden visuellen Bilder. Da diese immer wichtiger werden, verlangt dies von den Heranwachsenden, neue Formen einer Bildkompetenz zu entwickeln – als Fähigkeit, Bilder aus dem gesellschaftlichen Symbolvorrat kritisch reflektieren bzw. dekonstruieren zu können. Ein zweiter Problemkreis betrifft die Frage nach Jugend und politischer Bildung – dies nicht zuletzt unter den Stichworten der „Politikverdrossenheit“ und der „Politikferne“, wie sie seit den Neunzigerjahren diskutiert werden. Dabei wird deutlich, dass Jugendliche meist von einem weiten Informationsbegriff ausgehen, der unter „informativen Fernsehangeboten“ nicht nur Berichte über Geschehnisse umfasst, welche die traditionelle politische Sphäre betreffen, sondern jede Art von auffälliger Neuigkeit und jede Sensation. Unter dieser Perspektive stellt sich die Frage, inwieweit Medienpädagogik sich auf den traditio-
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nellen Politikbegriff beziehen soll – oder ob es nicht fruchtbarer sein könnte, von dem auszugehen, was Jugendliche unter Politik verstehen und wie sie sich dabei politisch einbringen; insbesondere müssten in diesem Zusammenhang auch die Potenziale einer emotional-personalisierten Vermittlung verstärkt reflektiert werden. Im dritten Teil dieses Bandes werden Felder aktiver Medienarbeit vorgestellt – dies unter der Leitperspektive, Kindern und Jugendlichen über Medien eine eigene Stimme zu geben. Stichworte wie „Citizen Journalism“ oder „Community Radios“ markieren die Stossrichtung der hier formulierten Überlegungen, die Trends zusammenfassen, die ins letzte Jahrhundert verweisen, aber vor allem im Rahmen der Diskussionen um Web 2.0 neuen Auftrieb erhalten haben. Insgesamt ist es weniger eine abgewogene Bilanz, welche dieser Band leisten möchte; vielmehr werden Anstöße für eine Debatte formuliert, in der nach Spielräumen politischen Handelns im Medienzeitalter gesucht wird, wobei die Zeitdiagnose zwischen massenmedialer Macht und partizipativen Kulturen, wie sie im Web 2.0 zu entstehen scheinen, oszilliert.
Literatur Baacke, Dieter: Kommunikation und Kompetenz. Grundlegung einer Didaktik der Kommunikation und ihrer Medien, München 1973: Juventa.
Teil I Medienpädagogik im politischen Spannungsfeld
Anja Besand
Alles in Watte packen? Politische Bildung zwischen medialer Über- und medialer Unterforderung
1. Medien und Politik Dass Medien heute den Alltag von Politik und Gesellschaft prägen, gehört zu den gängigen Selbstverständlichkeiten und Allgemeinplätzen. Medien sind seit langem nicht wegzudenkender Bestandteil gesellschaftlicher wie politischer Kommunikation und üben auf diesem Weg erheblichen Einfluss aus. So drängen die Medien der Politik, wie Thomas Meyer in seinem Buch „Mediokratie“ eindrucksvoll beschrieben hat, ihre medialen Funktionslogiken auf (vgl. Meyer 2001) und zwingen sie, wie Dörner mit dem Begriff des ‘Politainment’ weiter ausführt, zum symbolischen Arrangieren und Inszenieren ihrer Inhalte (vgl. Dörner 2001). Politik muss immer mehr und immer stärker darauf achten, wie sie im medialen Spiegel erscheint und ihre Inhalte und Handlungen an diese mediale Erscheinung anpassen. Doch wie ist eine solche Entwicklung zu bewerten? Auf der einen Seite gibt es nicht wenige, die diese Mediatisierung, Inszenierung oder auch Ästhetisierung von Politik als Entpolitisierung, Entfremdung oder als politischen Verfall bewerten. Dazu müssen allerdings die Bürger als passive Empfänger von hochgradig inszenierten, medialen Informationen verstanden werden, die den Einflüssen und Suggestionen der ausstrahlenden Medien mehr oder weniger hilflos ausgeliefert sind. Werden jedoch auch andere Möglichkeiten der Medienrezeption unterstellt, so lässt sich die Mediatisierung des Politischen auch aus einer gänzlich anderen Perspektive diskutieren. Setzt man nämlich eine etwas weniger pessimistische Bewertung der MedienrezipientInnen bei der Mediennutzung voraus, müssen die Entwicklungen im Medienbereich nicht zwangsläufig einen Nachteil für Politik oder Demokratie bedeuten. Im Gegenteil: Es finden sich vielfältige Anhaltspunkte dafür, die zunehmende Verflechtung von Medien und Politik auch als Chance zu begreifen. Nie zuvor standen politische Institutionen und Akteure beispielsweise unter einem vergleichbaren Druck, ihr Handeln gegenüber einer Medien-Öffentlich-
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keit zu rechtfertigen und zu begründen, was durchaus als Gewinn an Transparenz und damit auch an Demokratie bewertet werden kann. Zudem stehen durch die Vervielfältigung medialer Kanäle den einzelnen RezipientInnen heute über jedes beliebige politische Problem nicht nur mehr Informationen zur Verfügung, sondern durch Medien wie das Internet werden auch Informationen aus extrem unterschiedlichen Standorten und Perspektiven zugänglich, womit nicht zuletzt dem Pluralismus funktional differenzierter Gesellschaften Rechnung getragen wird. Vor allem zu Beginn der medienwissenschaftlichen Debatte wurde deshalb der politische oder demokratische Gehalt von digitalen Medien wie dem Internet sogar überaus euphorisch eingeschätzt. Elektronische Marktplätze, globale virtuelle Diskursgemeinschaften u.ä. schienen zu Beginn der Auseinandersetzung basisdemokratische Ideale und weltumspannende Verständigung geradezu herbeiführen zu können (vgl. Bühl 1996: 234). Gegenwärtig werden die Potenziale des Netzes zwar vorsichtiger bewertet – ganz sind diese allerdings angesichts aktueller Entwicklungen wie beispielsweise dem so genannten Web 2.0 auch heute nicht von der Hand zu weisen. Denn auch wenn das Internet nicht als gänzlich schrankenlose und hierarchiefreie Struktur bewertet werden kann, zu der alle dieselben Zugangschancen haben, befördert es doch vor allem lockere Organisationsformen, bei denen Viele mit Vielen in Kontakt treten und sich abstimmen können. Das alte zum Reiz–Reaktions–Schema analoge Sender– Empfänger–Modell wird hier gründlich widerlegt, denn wie kein anderes Medium befördert das Internet breit angelegte Kommunikationsformen und dialogische Strukturen. Dabei bleiben heute solche Einflussmöglichkeiten nicht nur auf das Internet begrenzt, selbst bei an sich interaktionsarmen Medien wie dem Fernsehen lassen sich vielfache Unschärfen und Übergänge zwischen Sendern und Empfängern erkennen (vgl. Wehner 1997). Zu den Chancen der Entwicklungen im Medienbereich gehört es demnach, dass sich Wahrnehmungsräume der Individuen vergrößern, die politische Informationsmenge und -geschwindigkeit vervielfacht und die politischen wie sozialen Rückkopplungs- und Einflussmöglichkeiten der RezipientInnen sich medial vermehrt haben. Die Kehrseite dieser Entwicklung bleibt die Unübersichtlichkeit. Denn tatsächlich schafft die Vielfalt der (neuen) medialen Erscheinungsweisen von Politik weniger Übersicht als Unübersichtlichkeit, weniger Eindeutigkeit und Orientierung. Bei allen Darstellungs- und Inszenierungsbemühungen im Feld der Politik wird deshalb auch das Politische nicht fortlaufend deutlicher und klarer, sondern vielfach undurchsichtiger und unschärfer. So stehen durch die Vervielfältigung medialer Kanäle in Zeitungen, Fernsehprogrammen oder den unzähligen Seiten, Foren oder Plattformen des Internets zwar grundsätzlich betrachtet immer mehr Informationen und immer mehr Perspektiven zu einem Problem zur
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Verfügung, sie alle zu verfolgen kann den durchschnittlichen RezipientInnen aber kaum noch gelingen. Im Gegenteil: Da die Herausforderung heute nicht mehr darin besteht, zur Information zu gelangen, sondern in der Information das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden, entscheidet der Einzelne heute zunehmend selbst, was er wahrnehmen möchte und wann er es wahrnehmen möchte. Ein Klick und der Kanal ist weg, die Seite verschwunden oder die Sendung gewechselt. Das heißt, nicht nur auf der Seite der Medienangebote, sondern auch im Bereich ihrer Wahrnehmung kommt es zu einer Vervielfältigung von Perspektiven und Einschätzungen. Von einer Öffentlichkeit, noch dazu von einer politischen Öffentlichkeit zu sprechen, wird in diesem Zusammenhang immer schwieriger. Vielmehr kommt es zu einer Fülle von Öffentlichkeiten und Wahrnehmungswelten, die sich in ihren Einschätzungen, Meinungen und auch in deren Begründungen oft erheblich unterscheiden können. Der Politik bleibt nichts anderes, als sich in diesem Kaleidoskop medialer Reize mit immer schillernderen Inszenierungen und immer lauteren Aktionen Gehör zu verschaffen, womit die Mediatisierung von Politik allerdings nur weiter an Dynamik gewinnt.
2. Politische Bildung in der Mediengesellschaft Doch was bedeutet das für die politische Bildung? Muss unter diesen Bedingungen nicht wenigstens die politische Bildung versuchen, eine Grundlage für einen gemeinsamen gesellschaftlichen oder politischen Meinungsaustausch zu schaffen? Muss Politik nicht zumindest im politischen Unterricht von ihren medialen Verunstaltungen gelöst und unter nüchternen, rationalen Gesichtspunkten betrachtet werden? Muss sich nicht wenigstens die politische Bildung bemühen, ein Fundament gesicherten Wissens über Politik, ihre Institutionen, Kategorien und Funktionsweisen herzustellen, auf dessen Basis wir uns über das, was Politik ist (oder sein sollte) verständigen können? Oder müssen wir heute im Gegenteil nicht auch im Bereich des politischen Lernens damit beginnen, alles mit einem medienüblichen Zuckerguss zu überziehen? In diesen natürlich zugespitzt formulierten Fragen deutet sich ein Problem an, das für das Verhältnis von Medien und Politik in Bildungsprozessen erhebliche Brisanz besitzt. Zum einen ist die Verflechtung von medialen und politischen Logiken zwar seit Jahren überdeutlich geworden, zum anderen fördern diese Verflechtungen oder Interdependenzen zwischen dem politischen System und dem Mediensystem aber nicht gerade den rationalen Umgang mit dem Gegenstand Politik. Wie soll man sich nun in einem Bildungsbereich, der sich, insbesondere in der Bundesrepublik, traditi-
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onell der sachlichen und nüchternen Auseinandersetzung mit politischen Fragen gewidmet hat, mit diesen Phänomenen beschäftigen? Im Hinblick auf die politische Bildung in der Bundesrepublik lassen sich in diesem Zusammenhang zwei grundsätzlich unterschiedliche Tendenzen erkennen. Auf der einen Seite verhält man sich im Bereich der institutionalisierten politischen Bildung vor allem gegenüber den geschilderten massenmedialen oder noch spezieller audiovisuellen und unterhaltungsorientierten medialen Phänomenen vielfach skeptisch und vermeidet deren Integration und Nutzung in politischen Lernprozessen. Andererseits finden wir aber häufig da wo Medien im politischen Bildungsprozess eingesetzt werden, eine relativ indifferente und nicht selten auch ziemlich unkritische Haltung gegenüber Medien. Doch wenden wir uns zunächst der skeptischen Seite zu. Sucht man im Fachdiskurs der politischen Bildung nach Auseinandersetzungen zum Verhältnis von Medien, Politik und Bildung, so konnte man in diesem Zusammenhang lange Zeit eine eher medien- und kulturkritische Grundorientierung entdecken (vgl. Besand 2004: 134). Zwar wird das Problem der zunehmenden Abhängigkeit der Gesellschaft von medialer Erfahrung bereits 1985 von Hilligen als Herausforderung formuliert (vgl. Hilligen zit. nach Gagel 2005: 301), aber eben nur im Sinne eines Problems und damit als Kriterium für die inhaltliche Auswahl und Bearbeitung medienkundlicher Gegenstände, beispielsweise im Sinne des bis heute weit verbreiteten politikdidaktischen Standardthemas Medien als vierte Gewalt1. Findet dagegen eine methodische oder mediendidaktische Integration von Medien im politischen Bildungsprozess statt, geht es bis heute zumindest tendenziell darum, den richtigen Umgang mit politischer (Qualitäts-) Publizistik anzuleiten und Skepsis gegenüber audiovisuellen und vor allem unterhaltungsorientierten Medien zu vermitteln (vgl. dazu Massing 2001: 41f) Der mediale Charakter der Politik selbst, der in der politikwissenschaftlichen Diskussion unter den Schlagwörtern symbolische, theatrale, inszenierte oder mediale Politik diskutiert wird, findet innerhalb der politischen Bildung dagegen kaum Resonanz, denn die mediale Struktur von Politik wird hier in der Regel als Verschleierung und Ablenkung von Politik verstanden, die mit dem Wesen der Politik selbst nichts oder nur wenig zu tun hat und die deshalb am besten im Sinne eines Destillationsprozesses aus dem politischen Bildungsprozess herausgehalten werden muss (vgl. dazu Massing 2001: 48). So findet man noch immer Unterrichtsmaterialien oder auch Lehrpläne, in denen beispielsweise im Kontext des Themas Wahlen kaum bis keine Medien eingesetzt oder thematisiert werden müssen1. Dabei steht der Gegenstandsbereich Wahlen in der politikwissenschaftlichen Diskussion heute geradezu sinnbildlich für die Verflechtungen von medialem 1
Die Ergebnisse einer ausführlichen Lehrplananalyse zu dieser Fragestellung finden Sie in: Besand 2004, S 160.
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und politischem System und wird hier grundsätzlich auch unter medien- und kommunikationswissenschaftlichen Gesichtspunkten analysiert. Eine weitere deutliche Illustration dieser Haltung lässt sich aber auch in den klassischen Materialien und Medien der politischen Bildung selbst wieder finden. Betrachtet man beispielsweise die Schulbücher und Materialhefte dieser Domäne, wie z.B. die überaus bekannten und noch immer breit eingesetzten „Informationen zur politischen Bildung“, die von der Bundeszentrale für politische Bildung seit 1952 herausgegeben werden und die sich seit den 1970er Jahren in ihrem Erscheinungsbild kaum verändert haben, dann fällt sofort die demonstrative Nüchternheit dieser Materialien ins Auge (vgl. Besand 2004: 190ff). Gestaltung wird in diesem Kontext eher vermieden als bewusst eingesetzt. Dabei wird allerdings übersehen, dass auch diese Form der medialen Gestaltung natürlich eine Inszenierung ist. Betrachtet man das Material genauer wird sehr schnell deutlich, dass die Botschaft, die hier insgesamt vermittelt wird, lautet: Politische Bildung ist eine ernsthafte und komplizierte Sache, der man nur in umfangreichen, komplexen Texten und statistischen Werten gerecht werden kann und nicht mit ästhetischen, medialen oder symbolischen Strategien. Ob eine solche Form der medialen Selbstinszenierung im Kontext der Vermittlung von Politik nun nützlich oder schädlich ist, soll an dieser Stelle dahingestellt bleiben. Sicher ist, dass diese Form der doch recht deutlichen medialen Verweigerungshaltung nicht gerade als ein besonders reflektierter Umgang mit Medien gewertet werden kann. Neben bzw. gegenüber dieser skeptischen und kulturkritischen Deutungsperspektive, die Medien noch immer tendenziell als gefährliche Verblendungsinstrumente versteht, entwickelt sich aber vor allem in jüngster Zeit auch innerhalb der politischen Bildung eine zunehmend medienfreundlichere oder affinere Perspektive, die vor allem unter methodischen Gesichtspunkten für eine Öffnung des politischen Unterrichts gegenüber neuen, populären und auch unterhaltungsorientierten Medien plädiert. Das zentrale und durchaus wichtige Argument, das in diesem Kontext vorgetragen wird ist, dass wir uns in Bildungsprozessen den medialen Bedürfnissen und Gewohnheiten unserer Zielgruppen gegenüber nicht vollkommen verschließen dürfen und mit Hilfe von Medien einen interessanteren und anregungsreicheren Unterricht machen können, als es ohne sie der Fall wäre. Dass Medien in einer solchen Argumentationsweise allerdings leider auch nur als Garant für einen schülerorientierten, motivierenden Unterricht verstanden und ebenfalls von den zu vermittelnden Inhalten isoliert werden, lässt sich gut an verschiedenen Lehr- und Bildungsplänen zur politischen Bildung beobachten, in denen das Wort Internetrecherche im Zentrum beliebiger thematischer Vorgaben geradezu inflationär verwendet und grundsätzlich in eben dieser Weise legitimiert wird (vgl. Besand 2004: 163). Auch die I-
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dee, klassische institutionelle Grundkurse, in denen Schülerinnen und Schüler sich mit dem politischen Institutionengefüge der Bundesrepublik auseinandersetzen sollen, in Form von bunten, kleinen, computerbasierten Lernspielen anzubieten, in denen sich – entgegen der Komplexität tatsächlicher politischer Entscheidungsabläufe – die Spielerinnen und Spieler beispielsweise vom Bürgermeister oder von der Bürgermeisterin zum Bundeskanzler oder zur Bundeskanzlerin hinaufspielen können, illustriert diesen Zusammenhang überaus plastisch (vgl. Bevc 2006). So werden Medien auch hier lediglich als süßer Zuckerguss verstanden, in dem die bittere Pille Politik unsichtbar verpackt oder verborgen werden kann. Doch leider geht es hier unter der Oberfläche eines vielfach trivialen Medienverständnisses letztlich auch nur darum, institutionelles Faktenwissen über Politik auf der Grundlage einer geradezu behavioristischen Lerntheorie zu vermitteln und nur selten darum, sich mit der medialen Darstellung und Konstruktion von Politik im komplexen gesellschaftlichen Kommunikationsprozess aktiv und kritisch auseinanderzusetzten. Den verkürzten Medienbegriff, der sich hinter solchen Konzepten verbirgt, bringt Weisseno mit schlichten Worten auf den Punkt: „Medien sind Hilfsmittel des Lernens, ermöglichen den Lernprozess und erleichtern den Unterricht“ (Weisseno 2001: 21).
3. Zum Verhältnis von Medienpädagogik und politischer Bildung Doch warum schwankt die politische Bildung so unsicher zwischen der bewussten Verweigerung medialer Inszenierungsstrategien und der aktiven aber unreflektierten Nutzung derselben hin und her? Warum hat sie so große Schwierigkeiten, einen komplexeren Medienbegriff bzw. eine reflektierte medienpädagogische Position zu entwickeln und warum rezipiert sie die dazu zweifellos bereits vorhandenen Überlegungen aus dem Bereich der Medienpädagogik und Medienbildung bis heute kaum? Ist es denn beispielsweise möglich, dass zwischen medienpädagogischen und politikdidaktischen Überlegungen ein Konkurrenzverhältnis besteht und so eine fruchtbare Verbindung beider Bereiche nachhaltig verhindert wird? Ganz abwegig scheint dieser Gedanke nicht zu sein, denn einen ersten Hinweis in dieser Richtung finden wir bereits bei Giesecke, der in einem provokant formulierten Text bereits 1985 die Frage stellt, ob politische Bildung nicht tatsächlich durch Medienpädagogik ersetzt werden könnte oder vielleicht sogar sollte (vgl. Giesecke 1985: 443). Auch Formulierungen wie die Folgenden, die sich exemplarisch in einem Bericht der Bundesregierung zu Stand und Perspektiven der politischen Bildung in der Bundesrepublik finden, haben vermutlich die Theoriebildung zu medienbezogenen Themen im Bereich der politischen Bildung eher erstarren als befördern können. Dort heißt es: „Po-
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litische Informationen werden heute in erster Linie aus den Medien bezogen; sie sind schneller, aktueller und im Medium Fernsehen auch anschaulicher als politische Bildung.“ (vgl. Bericht der Bundesregierung, 10. Dez. 1991; 6). Kein Wunder, dass man sich im Bereich der institutionellen politischen Bildung, angesichts einer solchen Gleichsetzung zwischen politischen Vermittlungsprozessen mit Hilfe von Medien und politischen Bildungsprozessen, von der medialen Vermittlung von Politik abzugrenzen beginnt. Allerdings fällt der politischen Bildung diese Abgrenzung aufgrund des bereits geschilderten verkürzten Medienbegriffes gar nicht so leicht. Denn wenn Medien, wie Weisseno (2001) dargestellt hat, vielfach lediglich als Hilfsmittel des Lernens verstanden werden, dann ist damit zumindest implizit auch die Überzeugung verbunden: „Gute Medien führen selbstredend zu gutem Unterricht“ (Weisseno: ebd). Doch wie will man auf dieser Grundlage dem Argument begegnen, dass Politikvermittlung durch professionelle Mediengestaltung besser gelingen könnte als durch politische Bildung? Die einzige Abgrenzungsmöglichkeit, die der politischen Bildung letztlich bleibt, ist eine formale. Sie muss sich, was den Einsatz und Umgang mit Medien betrifft, von ihrer Konkurrenz deutlich unterscheiden und das ist ihr, wie bereits im Kontext der Informationen zur politischen Bildung erläutert, in den vergangenen Jahren auch deutlich gelungen. Wie weit der Graben zwischen beiden Bereichen geworden ist, lässt sich sehr schön mit einem Satz von Thomas Meyer illustrieren, der in seinem Buch „Politik als Theater“ Folgendes schreibt: „Es wäre vollkommen absurd (...) von Politik und politischer Kommunikation zu verlangen, nach dem kleinen Einmaleins der Didaktik für den politischen Unterricht zu verfahren und alles puristisch zu meiden, was an Rhetorik, Theater und Unterhaltung erinnert.“ (Meyer 1998: S. 9) Tatsächlich scheint es, als ob sich die politische Bildung gerade angesichts der schillernden und uneindeutigen Struktur des Politischen in zeitgenössischen Medien einer eher puristischen, nüchternen und sachlichen Auseinandersetzung mit politischen Fragen verpflichtet hat. Ihr geht es um die rationale Auseinandersetzung mit Politik und Gesellschaft, um den Blick hinter den Schleier oder auf die Hinterbühne der Politik und damit um die Vermittlung dessen, was wir jenseits medialer Erscheinungsweisen eigentlich über Politik wissen oder wissen sollten. Nun ist es zweifelsohne richtig, dass die politische Bildung angesichts der Vervielfältigung und Fragmentierung medialer Wahrnehmungswelten auch in Zukunft nicht um die Vermittlung basaler Kenntnisse, etwa der Grundfragen oder Kernprobleme des Politischen, herumkommt. Gleichzeitig muss sie sich aber auch davor hüten, das Politische angesichts der Flut medialer Erscheinungen einzig auf abstrakte, institutionelle oder rational steuerungstheoretische Aspekte reduzieren zu wollen und dabei die verwirrenden und uneindeutigen me-
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dialen Aspekte außen vor zu lassen. In der Mediengesellschaft kann Politik ohne ihre medialen Erscheinungen nicht mehr verstanden werden. Die Vermittlung von Institutionenkunde, politischen Zyklen und dem Idealbild demokratischer Repräsentation hat in diesem Zusammenhang zwar den Vorteil der Eindeutigkeit, doch wird sie der Vielfältigkeit und Vieldeutigkeit moderner Mediendemokratien schlichtweg nicht mehr gerecht. Denn in dem Maße, in dem Politik in den modernen, hochgradig fragmentierten Gegenwartsgesellschaften nicht mehr zu trennen ist von der medialen und symbolischen Vermittlung ihrer Inhalte, können auch die Medien selbst weder als oberflächliche, verfälschende Entfremdungs- noch als rein technologische Vermittlungsinstrumente verstanden werden und dürfen dementsprechend auch nicht aus der Beschäftigung mit Politik und damit aus der politischen Bildung ausgeklammert bleiben. Und mehr als das: Medien können unter diesen Bedingungen auch kein gesondertes Thema sein, das sich im politischen Unterricht in speziellen Unterrichtsstunden oder unter speziellen Überschriften betrachten lässt. Medien lassen sich im Rahmen politischer Bildungsprozesse kaum einsetzen und schon gar nicht durchnehmen. Im Medienzeitalter ist die Beschäftigung mit Politik vielmehr zu keiner Zeit von der Beschäftigung oder zumindest der Berücksichtigung ihrer medialen Aspekte zu trennen.
4. Politische Medienbildung Das alles heißt: Im Rahmen politischer Bildung kann in einer solchen Situation keine belehrende oder bewahrende und vor allem klar abgegrenzte Medienkunde, aber auch keine isolierte Mediendidaktik, sondern einzig eine auf Partizipation und Teilhabe gerichtete politische Medienbildung angemessen sein. In einer so verstandenen politischen Medienbildung geht es dann allerdings um mehr als um die Frage, warum, wann und welche Medien in den politischen Bildungsprozess aufgenommen werden müssen und wie dies am praktikabelsten geschehen kann. Es geht weder ausschließlich darum, die Veränderungen, die Politik und Gesellschaft durch neue Medien erfahren, zu thematisieren, noch allein darum, den Umgang mit alten wie neuen Medien technisch anzuleiten und zu trainieren. Vielmehr geht es darum, den Veränderungen, die sich sowohl für den Einzelnen als auch für Politik und Gesellschaft ergeben, neugierig und kritisch nachzugehen, und dies gilt natürlich nicht nur für die Zielgruppe, sondern auch für die politische Bildung selbst. Auch sie muss überlegen, wie sie ihre Inhalte und Ziele den Veränderungen im medialen und sozialen Bereich anpassen kann. Das heißt nicht, dass sie sich den Mechanismen des Mediensystems blind unterwerfen und ihre Inhalte in bunte Zuckerwatte packen muss oder auch nur
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sollte. Angesichts der Vervielfältigung von Wahrnehmungswelten geht es in der politischen Bildung heute mehr denn je darum, einen kritischen Umgang mit Medien zu ermöglichen. Aber auch diese Kritik darf den Medien nicht blind gegenüber stehen. Polare Konstruktionen von richtig und falsch sind hier vielfach fehl am Platz. Stattdessen geht es um die Förderung von Ambiguitätstoleranz und Perspektivwechsel, um Neugier auf Neues und das Aushalten kognitiver Dissonanzen. Im Hinblick auf die gewachsene Informationsmenge und -geschwindigkeit geht es um die Entwicklung von Flexibilität und Reaktionsfähigkeit, aber auch die Fähigkeit, Quellen schnell und sicher zu bewerten, sowie neue Themen und Probleme zu identifizieren und auf Politik und Gesellschaft beziehen zu können. Im Kontext der fachdidaktischen Diskussion über fachimmanente Zielvorstellungen wie politische Urteilsfähigkeit und politische Handlungsfähigkeit gilt es für die politische Bildung im Medienzeitalter, neben den bereits benannten eher rezeptiven Kompetenzen auch kommunikative, aktive oder gestalterische Kompetenzen zu berücksichtigen: So muss sich die politische Bildung auch im Kontext von Überlegungen zur politischen Handlungsfähigkeit einem komplexeren Begriff von Kommunikation öffnen, in dem die symbolische Struktur medialer Kommunikation nicht ausgespart bleibt und mit dem auch mediale Handlungskompetenzen gefördert werden können. Politische Bildung endet nicht beim Lesen und Sprechen. Vielmehr muss es im Rahmen politischer Bildung auch darum gehen, sich darzustellen, sich in Szene zu setzen, Aufmerksamkeit zu erregen, einen Skandal zu provozieren, zu irritieren, Erstaunen zu erwecken u.Ä.m. Ob man es nun mediale Inszenierungs-, Thematisierungs- oder Handlungskompetenz nennt, in jedem Fall geht es darum, Strategien zu erproben, die die Voraussetzung dafür schaffen, Aufmerksamkeit für eigene Anliegen zu erhalten. Aber am wichtigsten von allem bleibt: Medien dürfen im politischen Unterricht nicht als isoliertes Thema behandelt werden, obwohl dies in den Lehrplänen des Faches noch vielfach vorgeschlagen wird. Medien sind integrativer Bestandteil sozialer wie politischer Kommunikation und müssen bei jedem Thema des politischen Unterrichts mitgedacht und mitreflektiert werden (vgl. Sarcinelli 1995: 445). „Ohne die systematische Beschäftigung mit der Medialisierung von Politik steht die politische Bildung in der latenten Gefahr eines unpolitischen An-sich-Institutionalismus“ (Sarcinelli 1996: 205). Politische Bildung muss den vielfältigen Interdependenzen zwischen politischen Entscheidungen, medialen Erscheinungen und politischen Wirkungen viel ausdauernder nachgehen, sie muss Inhalte mit Formen ebenso in Beziehung setzen wie Erscheinungen mit Wirkungen. Wenn der politischen Bildung ihr Anspruch auf die Vermittlung von Urteils-, Orientierungs- und Handlungskompetenzen ernst ist, kommt sie um Medien – und das heißt auch digitale und unterhaltungsorientierte
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Medien – nicht herum. Vielmehr käme es angesichts der vielfältigen medialen Entwicklungen gerade darauf an, auch die Bildlichkeit und Sichtbarkeit von Politik zu thematisieren und so die neue Unübersichtlichkeit eben nicht übersichtlich oder durchsichtig machen zu wollen, sondern im medialen Spiel von Bildern, Symbolen, Zitaten, Inszenierungen und Andeutungen das Politische ernst zu nehmen und seine Vieldeutigkeit und Undurchsichtigkeit auszuhalten.
Literatur Besand, Anja (2004): Angst vor der Oberfläche. Zum Verhältnis ästhetischen und politischen Lernens im Zeitalter Neuer Medien. Schwalbach/Ts.:Wochenschau-Verlag Besand, Anja 2005: Medienerziehung. In: Sander (Hrsg.) (2005): 419-429 Bevc, Tobias 2006: Affirmation des Bestehenden. Konstruktion von Politik und Gesellschaft in Computerspielen. In: Telepolis, 07.12.2006. online unter: http://www.heise.de/tp/r4/ artikel/24/24129/1.html Bericht der Bundesregierung zu Stand und Perspektiven der politischen Bildung in der Bundesrepublik Deutschland, Drucksache 12/1773, 10. Dez. 1991. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 10. April 1992 Dörner, Andreas (2001): Politainment. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag Frenz, Wilhelm 1988: Medien in der politischen Bildung. In: Mickel, Wolfgang/Zitzlaff, Dietrich (Hrsg.) (1999): 359-365 Gagel, Walter (2005): Geschichte der politischen Bildung in der Bundesrepublik Deutschland 19451989/90. Wiesbaden: Giesecke, Hermann : Wozu noch Politische Bildung? In: Neue Sammlung 25..1985. 465-474 Grammes, Tilman (1998): Kommunikative Fachdidaktik. Opladen: Verlag Leske + Budrich Massing, Peter 2001: Bürgerleitbild und Medienkompetenz. In Weisseno (Hrsg.) (2001): 39-50 Meyer, Thomas (2001): Mediokratie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag Meyer, Thomas (1998): Politik als Theater. Die Neue Macht der Darstellungskunst. Berlin: AufbauVerlag Sarcinelli, Ulrich 1995: Politikvermittlung durch Massenmedien – Bedingung oder Ersatz für politische Bildung? In: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Verantwortung in einer unübersichtlichen Welt. 443-458 Sarcinelli, Ulrich 1996: Mediatisierung von Politik als Herausforderung für eine Neuorientierung – politische Bildung zwischen Antiquiertheit und Modernitätsdruck. In: Deutsche Vereinigung für Politische Bildung. Politische Bildung in der Bundesrepublik. 202-208 Wehner, Josef: Interaktive Medien – Ende der Massenkommunikation? In: Zeitschrift für Soziologie 26. 1997. Heft 2. 96-114 Weisseno, Georg (2001): Medien im Politikunterricht. In: Ders. (Hrsg.) (2001): 21-38
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Die Medienpädagogik und der zweite Strukturwandel der Öffentlichkeit
Die Entwicklung des medienpädagogischen Diskurses ist von allem Anfang mit politischen Motiven verknüpft gewesen. Im Wesentlichen ging es darum, dass Medien immer als Verführer angesehen wurden, denen es mit pädagogischen Maßnahmen entgegenzutreten galt. Gerade Kinder und Jugendliche schienen besonders gefährdet, den Verlockungen der Medien zum oberflächlichen Konsum, zu moralischer Verrohung und zum schlechten Geschmack zu unterliegen. Das mythische Vorbild zu dieser Gefahr einer emotionalen Verführung liefert Odysseus mit seiner Erfahrung der Vorbeifahrt an der Insel der Sirenen: Dort lebten Nymphen, die mit ihrem Gesang jeden Vorbeifahrenden verzauberten. Wer sich durch den lieblichen Gesang zu ihnen herüberlocken ließ, war verloren und musste sterben. Da Odysseus durch Kirke gewarnt wurde, verklebte Odysseus seinen Gefährten mit Wachs die Ohren, sobald sie sich der Insel näherten. Doch seine Neugier trieb ihn, selbst das Lied der Sirenen zu hören. So ließ er sich an den Mastbaum binden und befahl seinen Gefährten, ihn nicht eher zu befreien, bis sie an der Insel vorbeigesegelt wären. In der Odyssee heißt es dazu: Also sangen jene voll Anmut. Heißes Verlangen Fühlt' ich weiter zu hören, und winkte den Freunden Befehle, Meine Bande zu lösen; doch hurtiger ruderten diese. Und es erhuben sich schnell Eurylochos und Perimedes, Legten noch mehrere Fesseln mir an, und banden mich stärker. Also steuerten wir den Sirenen vorüber; und leiser, Immer leiser, verhallte der Singenden Lied und Stimme. Eilend nahmen sich nun die teuren Genossen des Schiffes von den Ohren das Wachs, und lösten mich wieder vorn Mastbaum (Projekt Gutenberg: http://gutenberg.spiegel.de/homer/odyssee/odyss121.htm)
Der Mythos vom Gesang der Sirenen zeigt eine Grundkonstellation jenes Denkens, das in den Medien vor allem die raffinierten Verführer wahrnimmt. Er wird über die Jahrhunderte immer dann beschworen, wenn ein neues Medium den Raum der Geschichte betritt. War es erst das Buch, welches junge Men-
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schen zu unnötiger Zerstreuung trieb, so wurden später ganz ähnliche Kampagnen gegen den Film und das Fernsehen, bzw. den Computer geführt (vgl. Moser 2000). Kritik an Schund- und Schmutzliteratur, Pornographie und Gewalt in den Bildmedien und am Computer prägen diesen Diskurs. Der Gesang der Sirenen weist aber auch darauf hin, dass die Angebote dieser Medien immer auch eine versteckte Attraktivität in sich trugen. Die moralische Empörung gegenüber den Medien, welche die Bewahrpädagogik häufig prägt, entspricht der Position des Odysseus, der sich selbst an den Mastbaum fesselt, um den Verlockungen nicht zu erliegen. Schon bei Odysseus war es die Stimme der Vernunft, die ihn dazu anhielt, sich trotz aller Neugier selbst zu fesseln. Diese Stimme der Vernunft, beziehungsweise der erwachsenen Moral, wird auch von all jenen in Anspruch genommen, welche die Seite einer bewahrpädagogischen Medienkritik vertreten: Wer sich der industriell produzierten Massenliteratur hingab, dem wurde unterstellt, dass er oberflächlichen Reizen erlag und keinen Zugang mehr zu ernster und anspruchsvoller Literatur fand. So setzte sich im deutschsprachigen Bereich ein Begriff der trivialen Literatur als Gegensatz zur ‘eigentlichen’ Literatur der Hochkultur durch, die mit einem hohen ästhetischen Anspruch verbunden war. Als repräsentative Beispiele für die Trivialliteratur werden in der germanistischen Fachliteratur (so Kreuzer:1975, S. 7) schon zur Goethezeit die Lieblingsbücher der gebildeten Stände, wie die “Familiengemälde” und Gesellschaftsromane August Lafontaines und August von Kotzebues genannt. Der Begriff ‘Trivialliteratur’ bezeichnete dabei die minderwertigen Vorlieben der Unterschicht in einem Zweischichtenschema der literarischen Wertung. Der Begriff – so Kreuzer – habe einen unbestritten pejorativen Akzent; er fungiere nicht nur klassifikatorisch, sondern als verwerfendes ästhetisches Verdikt. Ähnlich wird am Anfang des 20. Jahrhunderts gegen den Film argumentiert: Der Kinobesuch zerstöre die Fähigkeit, gute Bücher mit Genuss und Erfolg zu lesen. Die Jugendlichen erlägen der Faszination der Sensationen, die in rasendem Tempo verliefen und Knalleffekte anhäuften (vgl. Popert 1927, S. 121). Generell wird zu Beginn des 20. Jahrhunderts das sensationsheischende Bild der anspruchsvollen Literatur entgegengesetzt. In der Filmkampagne des angehenden 20. Jahrhunderts, wie sie bis hin zur sozialdemokratischen Seite und den Gewerkschaften geführt wurde, standen auch politische Argumente im Vordergrund: Wer sich den Verführungen der Filme und dem privaten Vergnügen hingab, konsumierte damit oberflächliche Reize; er war kaum mehr motivierbar zu politischer Arbeit. So schreibt D. Thomas 1911 in einer Broschüre der Frankfurter „Buchhandlung Volksstimme“ über „organisationsunfähige Massen“ in den Arbeiterquartieren:
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Träge, stumpfsinnig, gewissermaßen mit einer seelischen Ermüdung – ich finde kein bezeichnenderes Wort – lassen sie alles über sich ergehen, schreien „Hurra“, wenn eine Kriegervereinsfahne durch die Strassen getragen wird, und brüllen „Haut ihn“, wenn sich zwei streiten. (Thomas 1911, S. 19)
1. Medienkritik der Kritischen Theorie Medien, welche gezielt die Massen davon abhalten sich zu politisieren und damit im marxistischen Sinne ‚Opium für das Volk’ darstellen, sind nicht zuletzt im Umkreis der Frankfurter Schule ein Thema, das sich bis in die Siebzigerjahre weiterzieht. Je mehr sich die großen Medienkonzerne zu monopolartigen Gebilden zusammenschließen, desto stärker wird auch der Verdacht, dass Medienmacht mit dem Ziel verbunden ist, die Unterschichten zu pazifizieren und unter Kontrolle zu halten. Bezeichnend ist Horkheimer/Adornos Kritik an der Kulturindustrie, wie sie in der „Dialektik der Aufklärung“ (1969) zum Ausdruck kommt. Dieses Buch, das 1944 während der Emigration in den USA geschrieben wurde, prägte nicht zuletzt das medienkritische Bewusstsein der 68erBewegung. Es stellt dar, wie die Selbstzerstörung der Aufklärung durch die Dialektik der instrumentellen Vernunft erfolgt, die sich als Produkt dieser Aufklärung selbst in ihr Gegenteil verkehrt. Die Gesellschaft scheint zunehmend einem Mythos des Positivismus verpflichtet, der die blinde Anerkennung dessen verlangt, was der Fall ist. Zur Verdeutlichung dieses Zusammenhangs widmen die Autoren der Kulturindustrie ein ausführliches Kapitel, in welcher sich die Selbstzerstörung der Aufklärung am deutlichsten manifestiert. Nicht zuletzt mit Blick auf die technisch-ökonomische Herstellung von Kultur, die selbst als Ware behandelt wird, stellen Horkheimer/Adorno heraus, dass es ein Zirkel von Manipulation und rückwirkenden Bedürfnissen sei, in welchem sich das System immer dichter zusammenschließe. Dabei werde verschwiegen, dass der Boden, auf welchem die Technik Macht gewinnt, die Macht der ökonomisch Stärksten über die Gesellschaft ist. Technische Rationalität ist immer mehr zur Rationalität der Herrschaft selbst geworden: Sie ist der Zwangscharakter der sich selbst entfremdeten Gesellschaft. Autos, Bomben und Film halten so lange das Ganze zusammen, bis ihr nivellierendes Element am Unrecht selbst, dem es diente, seine Kraft erweist. Einstweilen hat es die Technik der Kulturindustrie bloß zur Standardisierung und Serienproduktion gebracht und das geopfert, wodurch die Logik des Werks von der des gesellschaftlichen Systems sich unterschied. (Horkheimer/Adorno 1969, S. 129)
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Die Überlegungen zur Kulturindustrie machen deutlich, wie stark sich die Kritische Theorie am Modell der Hochkultur und der damit verknüpften ‚ernsten’ Literatur und Musik orientierte – dies im Gegensatz zu einer technisch erzeugten Populärkultur, die alles nivelliert und lediglich standardisierte Serienprodukte produziert. Die kritische und widerständige Seite einer aufklärerischen Kritik wird in den Augen Horkheimer/Adornos durch den Konsum solcher Produkte in bloße Anpassung überführt. Individualität verkehrt sich in bloße Pseudoindividualität. Denn Individualität wird nur noch so weit geduldet, wie die rückhaltlose Identität mit dem Allgemeinen außer Frage stehe: Von der genormten Improvisation im Jazz bis zur originellen Filmpersönlichkeit, der die Locke übers Auge hängen muss, damit man sie als solche erkennt, herrscht Pseudoindividualität. Das Individuelle reduziert sich auf die Fähigkeit des Allgemeinen, das Zufällige so ohne Rest zu stempeln, dass es als dasselbe festgehalten werden kann. (Horkheimer/Adorno 1969, S. 165)
Als technisch erzeugte Individualität verbirgt es nur, was es in Wirklichkeit ist: genormte Serienproduktion, erzeugt durch das massenmediale System. Die Kritik an den Herrschaftsansprüchen der Medien war aber in den siebziger Jahren nicht allein eine Frage der Theorie: Der damalige Protest der Studentenbewegung richtete sich neben den Notstandsgesetzen und dem Vietnamkrieg vor allem auch gegen die Macht der Springer-Zeitungen, die in der Praxis der boulevardisierten Berichterstattung das verkörperten, was in der Kritik an der Kulturindustrie theoretisch vorformuliert war. Hier schien jene Wirkung der Medien Wirklichkeit zu werden, welche die Bedürfnisstruktur der Menschen zu manipulieren, selektieren und depravieren versuchte. Die Springer Presse schien Teil einer spätkapitalistischen Massenkultur, welche das Publikum an der Wahrnehmung und Erweiterung legitimer politischer Interessen und Bedürfnisse hinderte. Neben den Springer-Demonstrationen diskutierte die damalige Linke auch grundsätzlich über die Demokratisierung der Medien – mit einer Fokussierung auf die Frage, ob letztlich nicht auch jeder ‚Empfänger’ ein ‚Sender’ sein könnte. Theoretisch fanden diese Überlegungen Ausdruck in Enzensbergers Radiokritik, die in dem Vorwurf gipfelte, dass es immer noch nicht gelungen sei, aus Massenkommunikationsmitteln echte Kommunikationsmittel zu machen. Das Fehlen der Wechselwirkung zwischen Sender und Empfänger sei aber keine Frage der Technik: Im Gegenteil: die elektronische Technik kennt keinen prinzipiellen Gegensatz von Sender und Empfänger. Jedes Transistorradio ist, von seinem Bauprinzip her, zugleich auch ein potentieller Sender; es kann durch Rückkopplung auf andere Empfänger einwirken. Die Entwicklung vom bloßen Distributions- zum Kommunikationsmedium ist kein technisches Problem. Sie
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wird bewusst verhindert, aus guten, schlechten politischen Gründen. (Enzensberger 1970, S. 160)
2. Bürgermedien und offene Kanäle Aus dieser Kritik an den Massenmedien entwickelte sich ab den siebziger Jahren eine Tradition von ‚lokalem Bürgerfunk bzw. –fernsehen’, wo alternative Gruppierungen ihre eigenen Programme auf den Äther brachten. Offene Kanäle wie etwa das Zürcher Lokalradio LORA bestehen bis heute. In Deutschland gibt es gegenwärtig (Stand: Mai 2007) gemäß dem „Bundesverband Offener Kanäle e.V.“ 61 Offene Kanäle, die meisten in der Form von Fernsehkanälen. Daneben wurde dem Gedanken der ‚Bürgermedien’ auch in der staatlichen Gesetzgebung Raum gegeben. Im Landesmediengesetz von Nordrhein-Westfalen (2002) wurden die privaten kommerziellen Hörfunksender gesetzlich verpflichtet, bis zu fünfzehn Prozent ihrer Sendezeit für von Bürgern produzierte Beiträge zur Verfügung zu stellen. Offene Kanäle sind nach dem Bundesverband Offener Kanäle e.V. „Teil unserer demokratischen Kultur. Sie garantieren das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung in Radio und Fernsehen durch den freien und gleichberechtigten Zugang zu diesen Medien“ (vgl. http://www.bok.de; besucht: 25.5.2007). Wesentliche Merkmale von solchen Bürgermedien und Offenen Kanälen sind nach Ricardo Feigel vom Referat Bürgermedien der Medienanstalt Sachsen-Anhalt folgende Strukturmerkmale: x
Die Programmproduktion durch ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, wenn gewünscht unter Anleitung professioneller Helfer. x Die Bereitstellung eines offenen und niedrigschwelligen Zugangs zu Produktionsund Sendetechnik. x Die Gewährleistung des Rechts auf freie Meinungsäußerung in elektronischen Massenmedien. x Die Unterstützung interessierter Laien bei der Produktion von Sendungen und die Bereitstellung von entsprechenden Ausbildungseinheiten (Vermittlung von praktischer Medienkompetenz). x Die Integration in lokale und regionale soziokulturelle Netzwerke. x Gemeinnützigkeit und Verzicht auf kommerzielle Verwertungsmöglichkeiten (Feigel, auf: http://www.medienhandbuch.de/prchannel/details.php?callback= index &id=80 85; besucht: 12.5.2007).
Die Diskussion um die Bürgermedien verweist aber auch auf die Grenze von Konzepten einer Aufklärung durch alternative Medien. Letztlich waren es oft interessierte alternative Gruppierungen, welche unter Ausschluss einer breiteren Öffentlichkeit Programme produzierten. So wird denn auch kritisiert, dass über
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solche Medien Randgruppen eine Bedeutung erhielten, die ihnen vom Gedanken einer repräsentativen Vertretung von Interessengruppen in den öffentlichen Medien nicht zukäme. Im Gegensatz dazu betonen die Protagonisten der Bürgermedien, dass in diesen Medien auch Gruppen eine Stimme erhielten, die in ihrem begrenzten Publikumssegment gut verankert sind, und die sonst kaum Chancen hätten, sich in der massenmedialen Öffentlichkeit zu präsentieren. Aus dieser Perspektive tragen die Offenen Kanäle zugunsten gesellschaftlicher Gruppen, die sonst in den Massenmedien kaum zu Wort kommen, zur Verwirklichung des Grundrechts auf freie Meinungsäußerung bei. Feigel unterstreicht: Diese Leistung – in der Praxis angesichts des extrem breiten Spektrums interessierter Nutzer und ihrer dementsprechend stark ausgeprägten Partikularinteressen häufig nur unter Schwierigkeiten zu realisieren – ist in erster Linie eine Herausforderung an Offene Kanäle und ihre Zuschauer, die sich mit Programmen anfreunden können, die unter Umständen gewollt oder ungewollt die Standards tradierter Sehgewohnheiten brechen (Feigel, auf: http://www.medienhandbuch.de/ prchannel/details.php? callback=index&id=8085; besucht: 12.5.2007).
Als Fazit kann festgehalten werden, dass der Anspruch, wonach ein relevanter Bevölkerungsanteil sowohl Produzent wie Empfänger von massenmedialen Sendungen wird, in der Tradition des lokalen Bürgerfunks – und Bürgerfernsehens nicht in Erfüllung gegangen ist. Dazu mag beigetragen haben, dass professionelle journalistische Arbeit in einem Sendegefäß, das wesentlich von Laien getragen wurde, nur begrenzt realisiert werden kann. Gleichzeitig wurde seit den 80er Jahren der Gedanke von lokalen Informationen im Rahmen der Privatisierung von Rundfunk und Fernsehen von kommerziellen Anbietern übernommen, die kaum mehr dezidierte politische Ansprüche hatten, sondern lokale Service-Leistungen mit einem allgegenwärtigen Musikteppich verbanden.
3. Partizipation im Zeitalter von eVoting und eGovernment Hat die hier beschriebene gesellschaftliche Entwicklung den Anspruch, wonach Medien in Wechselwirkung zwischen Anbietern und Empfängern stehen (und damit auch die Empfänger als Produzenten von Medienangeboten aktiv werden können), widerlegt? Man könnte darauf verweisen, dass schon in den Arbeiten von Horkheimer/Adorno ein resignativer Unterton angelegt war, so dass die Aufklärung der Macht der Kulturindustrie von Anfang an unterlegen war. Heute würde es nicht einmal nützen, Odysseus an den Mastbaum zu binden, um ihn den Schalmeien und Gesängen der kommerziellen Medienmonopole zu entziehen; so eng sind wir ins System der Massenkommunikation integriert.
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Solche Resignation erscheint mir indessen nicht angebracht. Im Informationszeitalter haben Thesen, wonach alle an der gesellschaftlichen Kommunikation Beteiligten sowohl Sender wie Empfänger sein können, neue Nahrung erhalten. Der Züricher Soziologieprofessor Hans Geser (1996)1 hat in einem OnlineAufsatz die Möglichkeiten einer „Cyberdemokratie“ untersucht, wobei er darauf hinweist, wie die neuen Mittel der Netzkommunikation es auch kleineren Gruppen ermöglichen, ihre Anliegen wirksam zu vertreten. Denn damit fielen die aufwändigen Kosten für eine administrative Infrastruktur weg, welche bisher mit politischen Kampagnen verbunden waren, „so dass es auch kleinen Gruppen, ja sogar einzelnen Personen möglich wird, nicht nur als verantwortliche Träger, sondern auch als effektiv Ausführende einer politischen Kampagne zu fungieren.“ Was in den Überlegungen zu den lokalen Bürgermedien als bahnbrechende Idee erschien, nämlich die Möglichkeit, als Medienkonsument selbst Sender zu werden, scheint mit dem Internet nochmals eine weit größere Bedeutung zu erhalten: ‚Lokale’ Interessengruppen sind nicht mehr an einen physischen Ort gebunden; ihre Interessen können sich themengebunden in virtuellen Communities kondensieren, die als Knoten weltumspannender Netze operieren. So meint Geser: Neu ist vor allem, dass auch Interessengruppen mit äußerst dünn gesäten, unübersichtlich über die ganze Nation oder Erdkugel verteilten Anhängern die Fähigkeit erhalten, eine Identität zu gewinnen, sich ihres Umfangs innezuwerden und ein hohes Niveau an kollektiver Aktions(und rascher) Reaktionsfähigkeit zu entfalten (Geser 1996).
Als Beispiele nennt er die amerikanischen „Home schoolers“ (=Eltern, die ihre Kinder zu Hause unterrichten), die 1995 mittels elektronischer Botschaften bei Kongressabgeordneten Druck machten, um die Einführung einer staatlichen Lizenzierungspflicht zu verhindern. Oder er nennt die „Cybercampaign“ der Free Burma Coaliton, die 1995 in den USA ins Leben gerufen wurde und bis heute online existiert (http://www.freeburmacoalition.org, besucht 25.5.2007). Infolge der äußerst repressiven politischen Bedingungen innerhalb des Landes habe sich die öffentliche politische Diskussion über Burma weitgehend ins globale Internet verlagert. Aber auch Wahlen und Abstimmungen in den westeuropäischen Demokratien könnten nach den Verfechtern einer eDemokratie durch das Mittel der Netzkommunikation neue Impulse erhalten. eVoting ist hier als Stichwort zu nennen – eine Form der Wahlbeteiligung, die z.B. in einigen schweizerischen Gemeinden bereits unter realen Bedingungen erprobt wird. In einer Medienmit1
Der hier zitierte Online-Text ist im HTML-Code erfasst, was keine Zuordnung der Seitenzahlen zulässt.
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teilung des Kantons Zürich und der Stadt Bülach heißt es unter dem Titel „erfolgreiche Pilotabstimmung“: Das eVoting-System des Kantons Zürich kam heute Sonntag in der Stadt Bülach im Rahmen der kommunalen Abstimmung über eine Volksinitiative zur flächendeckenden Einführung von Tempo-30-Zonen zum Einsatz. Von den insgesamt 3919 abgegebenen Stimmen, gingen 1461 oder 37,28 Prozent über das eVoting-System ein. 1006 Stimmberechtigte stimmten dabei via Internet (Webbrowser) ab, 455 Stimmberechtigte nutzten die Möglichkeit, ihre Stimme per Handy beziehungsweise SMS abzugeben. Um elektronisch abstimmen zu können, benötigten die Stimmberechtigten einen PIN-Code, der auf dem Stimmrechtsausweis unter einem Siegel aufgedruckt war (Medienmitteilung vom 30. Oktober 2005).
Weshalb gerade das eVoting die politische Phantasie in der Schweiz beflügelt, hängt mit der hierzulande gepflegten Form der ‚direkten Demokratie’ zusammen, die darin besteht, dass die schweizerischen Stimmbürger immer wieder über eine Vielzahl von politischen Sachvorlagen abstimmen. Dabei liegt aber die Beteiligung bei solchen Abstimmungen häufig weit unter 50 % der stimmberechtigten Bevölkerung. Vor diesem Hintergrund erhoffen sich die Befürworter des eVoting, dass sich über den niederschwelligen Zugang des Netzes neue Bevölkerungsgruppen für die Beteiligung am demokratischen Prozess mobilisieren lassen. Getragen werden diese Überlegungen von der Auffassung, dass ein direktdemokratisch organisiertes System nur lebt, wenn dessen Mitglieder an der kollektiven Entscheidungsfindung mitwirken. Wie Geser betont, ist das Ideal der damit verknüpften Forderungen bislang nur beschränkt realisiert worden – dies nicht zuletzt aus technisch-organisatorischen Gründen: 1. 2.
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Aus Kosten- und Zeitgründen war es notwendig, die Zahl von Abstimmungen auf wenige‚ wesentliche Fragen zu beschränken. Die Kapazitäten zentraler Informationsverarbeitung waren derart gering, dass den teilnehmenden Bürgern nur Artikulationen mit äußerst begrenztem Informationsgehalt (typischerweise: Ja-Nein-Alternativen, also 1 bit) zugestanden werden konnten. Die Chancen der horizontalen Kommunikation und Koordination unter den Bürgern waren dermaßen begrenzt, dass meist sowohl die Selektion und Formulierung der Entscheidungsvorlagen ("agenda-setting") wie auch die der Abstimmung vorangehenden Kommunikationsprozesse sehr stark in den Händen der Machtzentren verblieben sind (Geser 1996).
Diese Beschränkungen könnten über die Möglichkeiten der elektronischen Kommunikation aufgehoben werden: Der Vorgang der Abstimmung wird nach Geser eine höchst unaufwendigen Aktivität, die von den Teilnehmern ohne Formalität im Wohnzimmer oder am Arbeitsplatz vollzogen werden kann und keine mit Auszählen und Weitermelden beschäftigten Abstimmungsbüros mehr
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nötig mache. Prinzipiell wäre es zudem auch möglich, den Bürgern viel weitergehende als bloße Ja-Nein-Alternativen zur Wahl vorzulegen. eVoting ist aber nur eine Teilstrategie in den Bemühungen des Staates, das Internet ‚bürgernah’ zu nutzen. Gegenüber der Intention, die Bürgerbeteiligung im demokratischen Entscheidungsprozess zu stärken, betonen Bestrebungen des eGovernments stärker die Interessen des Staates, um – wie es auf der Website der Schweizerischen Bundeskanzlei heißt – über eGovernment Transparenz zu schaffen und das Vertrauen in die Regierungs- und Verwaltungstätigkeit zu fördern. Wörtlich heisst es vor dem Hintergrund der von der Schweizer Regierung am 24. Januar 2007 verabschiedeten „eGovernment-Strategie Schweiz“: Deshalb will der Bund seine Dienstleistungen effizient, rund um die Uhr und in einwandfreier Qualität anbieten. Einfache und sichere elektronische Interaktionen und Transaktionen sollen den Verkehr zwischen staatlichen Stellen einerseits, zwischen Behörden und Bürgerinnen und Bürgern andererseits sowie Unternehmen und Behörden erleichtern. (vgl. http://www. bk.admin.ch/themen/egov/index.html?lang =de; besucht 25.5. 2007)
Franco Furger kritisiert in der „Neuen Zürcher Zeitung“ (NZZ), dass in der gegenwärtigen Debatte um eGovernment die Kriterien von Effizienz und Kostenreduktionen zu stark im Mittelpunkt stünden. Er betont die Möglichkeiten der neuen Medien im Vorfeld von Abstimmungen – etwa in der Form von Bürgerkonsultationen. Damit würde es möglich, das ‚Publikum’ – nämlich jene Bürger und Bürgerinnen, deren Ansichten und Interessen nicht bereits von organisierten Interessengruppen vertreten werden – über eine öffentliche Konsultation schon in der vorparlamentarischen Phase in die Entscheidungsfindung einzubeziehen (vgl. Furger 2007, S. 11). Die hier skizzierte politische Debatte um Chancen und Risiken von eDemocray und eGovernment und die in diesem Zusammenhang erfolgte Realisierung von konkreten Maßnahmen hat insgesamt einen zwiespältigen Charakter: x Einerseits ergeben sich neue Partizipationschancen, welche jene Utopie einer reversiblen Kommunikation, die Enzensbergers Baukastentheorie der Medien ausdrückt, auf einer neuen Stufe der gesellschaftlichen Medienentwicklung möglicherweise nachhaltiger zu realisieren vermag. Dabei gibt es auch Zweifel, wie weit die Netzpartizipation reichen wird. So meint Geser: „Allerdings ist bereits heute sichtbar, dass es sich bei dieser gleichzeitig inklusiven und dezentral-kommunikativen Öffentlichkeit um ein zerklüftetes Feld fragmentierter und widerstreitender ‘Teilöffentlichkeiten’ handeln wird, die wenig Neigung und Fähigkeit besitzen, eine massierte und konvergente (und damit: politisch relevante) ‘öffentliche Meinung’ aus sich heraus zu generieren“ (Geser 1996).
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Auf der anderen Seite ist eGovernment auch ein Mittel, um das Internet zur Verwaltung der Bürger einzusetzen. Und dies geht in manchen Fällen weit über das Angebot neuer Dienstleistungen hinaus. So wird dank der digitalen Vernetzung überall an großflächigen Überwachungssystemen gearbeitet – dies häufig unter dem Vorwand des Kampfes gegen den Terrorismus. „Heise Online“ berichtet z.B. über das besonders drastische Beispiel der britischen Stadt Middlesbrough, Überwachungskameras mit Lautsprechern auszustatten: „Damit können Menschen, die sich ungebührlich verhalten, lautstark ermahnt werden. Dabei geht es vor allem um die Bekämpfung des so genannten antisozialen Verhaltens, das die britische Regierung auch mit neuen Strafverordnungen, den Anti-Social Behaviour Orders (ASBOs), möglichst ‘ausrotten’ will“ (http://www.heise.de/newsticker/meldung/78326; besucht 25.5.2007). Und in der Stadt Zürich sollen mit 26 Kameras in Zukunft alle Autos überprüft werden, welche die Stadtgrenze passieren. Damit möchte man gestohlene Fahrzeuge, Leasing-Betrüger, oder solche, die ohne Versicherungsschutz unterwegs sind, sofort entlarven (vgl. http://www.20min.ch/tools/suchen/story/31224713; besucht: 25.5.2007). So wohlmeinend die jeweiligen Ziele formuliert sind: Insgesamt muten die sich damit am Horizont abzeichnenden Überwachungsmöglichkeiten eher orwellianisch an.
4. Die kulturelle Öffentlichkeit des Web 2.0 Im Folgenden soll der politische Diskurs im engeren Sinn um eDemocracy und eGovernment verlassen werden. Vielmehr soll die generelle Thematik der Partizipation im Zeitalter des Internets betrachtet werden, wie sie gegenwärtig mit dem Begriff des Web 2.0 diskutiert wird. Websites sind zunehmend nicht mehr nur statische Informationsspeicher, wie etwa Telefonbücher, die OnlineAusgabe einer Tageszeitung, Informationen zum Wetter etc. Vielmehr wird das Netz immer mehr zu einer Plattform, die von den Nutzern über einfache und selbsterklärende Tools mitgestaltet und kollaborativ bewirtschaftet wird. Seit einiger Zeit haben sich in einem rasanten Tempo Onlinegemeinschaften gebildet, die miteinander über Blogs, Wikis etc. kommunizieren. Das bekannteste Modell einer kollaborativen Wissensgenerierung ist wohl die Online-Enzyklopädie Wikipedia, welche von einer Gemeinschaft von Nutzern in den letzten Jahren aufgebaut wurde. Sie versteht sich als ‚freie’ Enzyklopädie in allen Sprachen der Welt, zu welcher jeder mit seinem Wissen beitragen könne (so in der Selbstdarstellung im Web: http://de.wikipedia.org/wiki/Hauptseite; besucht: 12.5.2007).
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Insgesamt kann das Web 2.0 durch folgende Merkmale beschrieben werden: x
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Neue Webdienste wie YouTube (Video), Flickr (Fotogalerien), MySpace (Kontakte) oder Facebook (soziales Netzerk an Universitäten) unterstützen einen aktiven Umgang mit dem Netz. Dazu kommen die schon etwas älteren Angebote wie Blogs, Wikis oder Messenger wie MSN. Auch Plattformen im Bereich des Bildungswesens wie educanet2 (Schweiz) oder lo-net (Deutschland) können unter diesem Aspekt des Web 2.0 betrachtet werden, wenn sie als Kooperations- und Austauschwerkzeuge verstanden werden und weniger als Instrumente, welche einer einseitigen Wissensvermittlung von der Lehrperson zum Schüler dienen. Die Trennung von lokalen und zentralen Daten schwindet generell: Als Benutzer speichert man seine Daten im Internet (Fotos, Termine etc.). Software-Programme aktualisieren sich selbstständig über die Verbindung ins Netz und laden Module bei Bedarf übers Netz nach. Der eigene Computer wächst ins Netz und das Netz verbindet sich immer enger mit dem privaten PC (bis hin zu netzbasierten Anwendungen über ThinClients). Medien verbinden sich immer stärker zu digitalen Systemen im Sinne einer umfassenden Medienkonvergenz: Man fotografiert unterwegs ein Bild mit dem Handy, überträgt es auf den Computer, wo man es bearbeitet. Dann schickt man es per Email einem Freund, der das Bild in seiner Internet-Fotogalerie veröffentlicht. Computer werden so zu Schaltzentralen, die viele früher getrennte analoge Medien nun auf digitaler Basis zu Medienverbünden integrieren. Das Internet wandelt sich von einem ‚Pull-System’, wo es darum ging, Informationen herunterzuladen und zu konsumieren, zu einem ‚PushSystem’, wo jeder auch Anbieter von Informationen werden und sich aktiv in die Gestaltung des Netzes einschalten kann. Dies kann auch schon auf einer ganz basalen Ebene passieren, indem ich Bilder von der letzten Party meinen Freundinnen und Freunden in einer Galerie zur Verfügung stelle oder für einen Chat-Raum mein eigenes Profil entwerfe. Der Wandel vom Pull- zum Push System bedeutet, dass die partizipativen Elemente des Netzes verstärkt werden – zumal es immer weniger Spezialkenntnisse braucht, um eigene Medienproduktionen im Web zu veröffentlichen – z.B. einen Film auf YouTube oder ein Bild in eine Bildergalerie zu stellen.
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Partizipation ist im Netz jenseits der Debatten um eVoting und eGovernment primär ein populärkulturelles und gruppenorientiertes Ereignis. Die Tools des Web 2.0 ermöglichen es den Usern, an der Gestaltung virtueller Netze teilzunehmen, sich aktiv einzubringen und eigene Daten für Freunde, Bekannte, und weitere Interessenten zu veröffentlichen. Es gibt aber auch Fälle, wo ‚Laienfotos’ oder ‚-videos’ öffentliche Schlagzeilen machen. So waren es am 11. September 2001 Amateurvideos, welche den Einschlag eines Flugzeugs in den Nordturm des World Trade Centers festhielten. Aber auch nach der Hinrichtung des irakischen Diktators Saddam Hussein gerieten Amateurvideos, welche die Hinrichtung und dann die Leiche zeigten, in die Schlagzeilen der internationalen Presse. Ein nach der Hinrichtung aufgetauchtes Video hatte bei den sunnitischen Arabern einen Aufschrei der Empörung hervorgerufen, weil darauf zu sehen war, wie Zuschauer Saddam beschimpften und den Namen des schiitischen Geistlichen Moktada al-Sadr riefen (vgl.: http://www.stern.de/ politik/ausland/ Extra-Saddam-Hussein-Urteil/579900.html? eid=575561; besucht: 25.5.2007). Zum Web 2.0 gehören auch die Weblogs, in denen Einzelne oder Communities tagebuchartig festhalten, was sie interessiert bzw. wozu sie sich in der Öffentlichkeit des Netzes äußern möchten. Erste Forschungen zur ‚Blogosphäre’ kommen zu folgender Einschätzung bezüglich des politischen Interesses der Blogger: Die Mehrzahl von ihnen publiziere Anekdoten und Episoden aus dem Privatleben, Bilder und Fotos sowie kommentierte Links zu anderen Quellen im Internet. Politische Themen spielen bei etwa einem Drittel eine Rolle. Zum Thema der ‚Politblogger’ schreibt Jan Schmidt aufgrund seiner Untersuchungen: Jeweils mehr als 80 Prozent der ‚Politblogger’ geben an, Beiträge zu nationalen sowie zu weltpolitischen Themen zu veröffentlichen. Etwa die Hälfte befasst sich auch mit lokalpolitischen Themen, während weniger als die Hälfte über Wahlkämpfe oder einzelne Politiker bloggt. Etwa ein Fünftel nannte zusätzlich in einer offenen Frage spezifische Politikfelder als Themen ihrer politischen Beiträge, darunter beispielsweise „Rechtsextremismus“, ‚Bildung’, ‚Wirtschaft’, ‚Umwelt’“, ‚Menschenrechte’ oder ‚Urheberrechte’ (Schmidt 2006 auf: http://www.politik-digital.de/edemocracy/netzkultur/blogger/jschmidt_politblogs_061120. shtml; besucht: 25.5.2007; vgl. auch Schmidt / Paetzolt / Wilbers 1996, Schmidt / Mayer 1996).
Aus den Ergebnissen dieser Untersuchungen geht hervor, dass die an politischen Themen interessierten Blogger politisch überdurchschnittlich interessiert sind. Es melden sich in Weblogs also Personen zu Wort, die sich oft bereits schon anderweitig am politischen Prozess beteiligen. Nach Schmidt tragen Weblogs denn auch nicht dazu bei, die Kluft zwischen politisch Interessierten und Desinteressierten zu schließen; es deutet sich eher eine Verstärkung bereits bestehen-
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der Ungleichheiten in der Beteiligung und dem Engagement im Sinne eines ‚Digital Divide’ an. Die Ergebnisse aus der Blogosphäre lassen sich verallgemeinern: Die explizit politischen Inhalte umfassen im Web 2.0 lediglich einen Bruchteil der dort dokumentierten Aktivitäten von Nutzern der Neuen Medien. Kollaboratives Handeln hat sich in einer Netzkultur niedergeschlagen, die sich sehr unterschiedlich und vielfältig ausgestaltet. Auftritte und Clips von Popsängern und Sängerinnen, die von Fans aufs Netz geladen wurden finden sich ebenso wie Fotos von Partys, Blogs über Computerprogramme und Automarken etc. Was mit Bezug auf politische Themen zudem auffällt, ist die Tendenz, dass die Sphären des Privaten und des Öffentlichen bzw. von Hobbys und Professionalität durchlässig geworden sind, wie es etwa am Beispiel der schweizerischen Gratiszeitung „20minuten“ deutlich wird, die sich wie folgt an ihre Leser/innen wendet: „Sie fotografieren gern und besitzen eine digitale Kamera? Wenn ja, dann liegen auf Ihrer Festplatte bestimmt zahlreiche schöne, witzige, skurrile und spannende Fotos. Teilen Sie diese doch mit der 20minuten Community“ (20minuten, 15.5.2007, S. 18). Offensichtlich wird hier das Private (ver-)öffentlich(-enswert), wie umgekehrt Politiker oft auch ihren ganz persönlichen Blog gestalten und dabei ebenfalls Politisches mit Privatem amalgamieren – etwa ‚hohe’ Politik mit Erbsenpüree und Zwiebelschaumcrème, wie im Blog des schweizerischen Bundesrates Leuenberger: Liebe Bloggerinnen und Blogger Letzte Woche war ich an einem Treffen der Energieminister in Paris. Dort wurde vor allem über Energieeffizienz, neue Technologien und internationale Abhängigkeiten von Energien, insbesondere Erdgas gesprochen. Letzteres geschah während eines Arbeitsdinners, an welchem unter anderem Erbsenpürée an Zwiebelschaumcrème serviert wurde. Nebst all den interessanten Voten hat mich das Rezept so fasziniert, dass ich es letzten Samstag einigen Freunden, die ich zum Abendessen einlud, nachgekocht habe. (http://moritzleuenberger.blueblog.ch; Eintrag vom 20.5.2007)
Der Mythos einer alternativen politischen Öffentlichkeit, der mit Blogs manchmal verbunden wird, erscheint jedenfalls ein eher naives Konzept. Oder wie es Alexa Weyrauch-Pung in der Online-Zeitschrift „Telepolis“ (19.5.2007) ausdrückt: „Im Deutschland der Blogger gibt es alles. Journalisten bloggen, Politiker und Konzernchefs bloggen oder lassen bloggen. Ganze Firmen bloggen via Pressestelle oder kaufen sich ein paar Blogger oder lassen ganz einfach ihre Mitarbeiter bloggen.“ (http://www.heise.de/tp/r4/artikel/25/25217/ 1.html; besucht: 25.5.2007). Dass der Mythos vom furchtlosen Widerstand gegen die Macht der Medienmonopole auch zur geschickt inszenierten Täuschung werden kann, belegt der weiter oben dargestellte Fall der ‚Laien’-Videos zur Hinrich-
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tung Saddam Husseins. Hier sind schnell Zweifel aufgekommen, ob es sich um einen privaten Akt des Widerstandes gegen die offizielle Hinrichtung handelt. So betont Christian Kortmann in der Süddeutschen vom 5. Januar 2007: Das Erscheinen dieses inoffiziellen Videos wurde als Versagen der Bildkontrolle über die Hinrichtung gedeutet. Doch die Analyse zeigt, dass das offizielle und das inoffizielle Video wie zwei Puzzleteile ineinander passen. Schon im offiziellen Video hatte man das Gesicht des einzigen unmaskierten Vollstreckers in der Postproduktion durch digitale Verpixelung unkenntlich gemacht: Die Kontrolle über diese Bilder ist also äußerst gründlich. (http://www. sueddeutsche.de/,Ple3Lar/kultur/artikel/147/97050; besucht: 25.5. 2007)
Die zum Schluss angedeuteten Fragen werfen ihren Schatten auf das Politische zurück. Man muss sich nämlich fragen, ob sich in der globalisierten Informationsgesellschaft nicht auch die Koordinaten gewandelt haben, innerhalb derer sich Öffentlichkeit und Privatheit verorten. Die These von der Reversibilität der Kommunikation in den Massenmedien greift denn auch m.E. zu kurz, wenn sie lediglich die neuen Mittel betont, welche die Menschen durch die Medien in der Informations- und Kommunikationsgesellschaft erhalten. Vielmehr soll im nächsten Teil dieses Beitrags die These entfaltet werden, dass Globalisierung und Medialisierung auch wesentlich mit dazu beigetragen haben, dass sich die Sphäre der Politik bzw. des öffentlichen Diskurses gewandelt hat.
5.
Die Globalisierung und die Veränderung der Politik: Strukturwandel der Öffentlichkeit
Wie Jürgen Habermas (1990) in seiner Studie zum Strukturwandel der Öffentlichkeit herausgehoben hat, bildete sich die bürgerliche Öffentlichkeit aus dem politischen Raisonnement von Privatleuten im 18./19. Jahrhundert heraus. Das Verhältnis von öffentlich-politischer und privater Sphäre erhielt dabei seine spezifische Ausformulierung: Die Privatsphäre umfasst die bürgerliche Gesellschaft im engeren Sinne, also den Bereich des Warenverkehrs und der gesellschaftlichen Arbeit; die Familie mit ihrer Intimsphäre ist darin eingebettet. Die politische Öffentlichkeit geht aus der literarischen hervor; sie vermittelt durch öffentliche Meinung den Staat mit Bedürfnissen der Gesellschaft. (Habermas 1990, S. 90)
Allerdings stellt dieses gesellschaftliche Modell der Koordination von Öffentlichkeit und Privatheit keinen Endzustand dar, der die Entwicklung demokratischer Strukturen einer Gesellschaft erreicht hat. Schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts – als dieses Modell faktisch erst in wenigen Staaten realisiert war – ging der Strukturwandel nicht zuletzt im Gefolge einer rasanten Medienentwick-
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lung weiter: Diese führte zu einer kommerziellen Massenpresse, und die Honoratiorenparteien verändern sich zu Organisationen auf Massenbasis. Sie wurden nun überlokal organisiert, entwickelten einen bürokratischen Apparat und waren auf ideologische Integration und die politische Mobilisierung der breiten Wählermassen ausgerichtet. Die Meinungsbildung verschob sich dadurch vom räsonierenden Publikum zu systematischer Propaganda. Habermas hat diese Entwicklungen als „Kolonialisierung der Lebenswelt“ beschrieben, wo die über Geld und Macht vermittelten Imperative von Wirtschaft und Verwaltung die Lebenswelt zu beherrschen beginnen. Damit ergibt sich eine Dominanz der Systemzwänge einer ökonomischen und bürokratischen Rationalität. Der Versuch, die Sphäre des Privaten zu kolonisieren entspricht zum Beispiel den Bestrebungen des ehemaligen Regierungschefs Berlusconi, über die Konzentration von Medienmacht, die gegen ihn gerichtete Kritik zu neutralisieren. Als Chef des größten italienischen Medienanbieters Mediaset erweiterte er seine Einflussnahme nach der Übernahme der Regierungsgewalt mit der Dominanz über das öffentlich-staatliche Rundfunkwesen. Aber auch ShoppingCentres und die großen internationalen Handelsketten sind Teil einer Kolonisierung der Lebenswelt durch den Verkauf von weltweit an einem ‚globalen’ Geschmack orientierten Gütern. Neben der Konsum-, Waren- und Medienwelt gibt es auch eine „innere Kolonialisierung“ – nämlich, dass im Wege der fortschreitenden Rationalisierung, Technisierung, Verrechtlichung, Mediatisierung usw. Wirtschaft und Staat mit ihren Markt- und Kontrollmechanismen „immer tiefer in die symbolische Reproduktion der Lebenswelt eindringen“ (Habermas 1981, 539). Alle Forderungen nach Mitbestimmung werden mit dem Hinweis auf geltende Verfahren abgewiesen, indem Expertenkulturen die praktischen Fragen des Lebens in technische Spezialfragen umdefinieren. Auch die weiter oben beschriebene Tendenz einer zunehmenden Videoüberwachung in Städten, Bahnhöfen und an öffentlichen Plätzen macht diesen Kolonialisierungsaspekt in fragwürdiger Weise deutlich.
6. Grenzen der Kolonisierung von Lebenswelten Es stellt sich jedoch die Frage, ob die These von der Kolonisierung der Lebenswelt nicht zu kurz greift. Sie hat mit den früheren Arbeiten zu Medienwirkungen gemein, dass die Konsumenten und Nutzer – also wir als Bürger und Bürgerinnen – vor allem als Opfer von gesellschaftlichen Entwicklungen gesehen werden. Man könnte hier denn auch auf den Gegenentwurf der Lesartenkonzepte der Cultural Studies (vgl. Hall 1999) verweisen, welcher Leser von Texten nicht
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als bloße Empfänger von Medienbotschaften, sondern als „active reader“ versteht, die mit Medien durchaus eigene Intentionen – auch gegen die Absichten der Macher – zu realisieren vermögen. Kampagnen und Versuche, die Medien zu instrumentalisieren – auch wenn dies von hochrangigen Politikern initiiert wird, beinhalten immer das Risiko, beim Publikum das Gegenteil von dem zu erzeugen, was sie erreichen wollten. Wenn etwa der damalige Bundeskanzler Schröder am Wahltag der Gegenkandidatin Angela Merkel ihren Sieg mit notorischer Männerarroganz streitig zu machen suchte, schaffte er damit nur einen Solidarisierungseffekt des Fernsehpublikums mit der eigentlichen Siegerin der Wahl. Aber auch die Propaganda der Bush-Administration, den Irak-Krieg als Erfolg auszugeben und herunterzuspielen, dass in diesem Land ein neuer Bürgerkrieg entstanden ist, scheiterte kläglich. Doch es geht in diesem Zusammenhang nicht allein um unterschiedliche Lesarten, sondern um die Frage, inwieweit sich die Kommunikationsstrukturen in einer Medien- und Informationsgesellschaft selbst geändert haben. So untersucht Geser in einem Aufsatz zum Handy – einer der jüngsten Errungenschaften des Medienzeitalters, inwieweit dieses neue Medium die These von der Kolonisierung der Lebenswelt unterstütze. In seinen Ausführungen kommt er dabei zum Schluss, dass das Mobiltelefon eher die Deregulierung des Lebens unterstütze. Denn in einer neuen fließenden Kultur der informellen sozialen Interaktion gehe es darum, dass jeder jederzeit erreichbar sei. Deutlich werde damit die wachsende Diskrepanz zwischen der Sphäre informeller interpersoneller Beziehungen und dem Bereich der formellen Organisationen und Institutionen, in welchem Terminpläne und formelle Regeln weiterhin rigoros gelten (vgl. Geser 2006, S. 30 ff.). Mit anderen Worten: Nach Geser unterminieren die Mobiltelefone die traditionellen gesellschaftlichen Funktionsmechanismen, indem sie zwischen den einzelnen Individuen direkte Verbindungen schaffen, die unabhängig von sozialer Rolle und Standort sind. Hinsichtlich der Habermasschen Kolonisierungsthese sieht Geser eher einen gegenläufigen Trend, bei dem sich die Lebenswelt zunehmend der systemischen Institutionen bemächtige. Ähnlich sind viele Angebote des Web 2.0 zu verstehen, welche bestehende traditionelle Kanäle der Informationsvermittlung unterminieren: Eine Reihe von Beispielen sind im Rahmen des Abschnittes zur kulturellen Öffentlichkeit des Web 2.0 dargestellt worden. Auf einer sozialphilosophischen Ebene kommt Zygmunt Baumann zum Fazit, dass heute weniger das „Öffentliche“ die Sphäre des „Privaten“ kolonisiert – sondern mittlerweile eher umgekehrt das Private die öffentliche Sphäre – indem alles verjagt und verdrängt werde, was sich nicht umstandslos im Jargon privater Anliegen, Sorgen und Interessen ausdrücken lässt (Baumann 2003, S.
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52). Was die Macht betreffe, so verflüchtigte sich diese, verschwinde aus dem öffentlichen Raum, von den Straßen und Marktplätzen, aus den Parlamenten und Versammlungsorten und aus der Sphäre der lokalen und nationalen Regierungen. Sie entziehe sich der Kontrolle der Bürger im Nirgendwo der elektronischen Netzwerke. Hatte die bisherige Politik die Aufgabe, private Sorgen in öffentliche Aufgaben zu überführen (und umgekehrt), so fehlt dies nach Baumann immer häufiger. Umgekehrt gelte vielmehr: „Es sind zunehmend die privaten Sorgen öffentlicher Figuren, die als öffentliche Angelegenheit wahrgenommen werden“ (Baumann 2003, S. 86). Eine solche Scheinöffentlichkeit entsteht oft aus einzelnen Ereignissen oder ‚Missständen’ im zivilgesellschaftlichen Rahmen, die über Boulevardmedien in einer Spirale von Skandalisierungsprozessen, zu generellen politischen Themen aufgeschaukelt werden, um dann wieder dazu zu dienen, einzelne Politiker persönlich als Sündenböcke ins Scheinwerferlicht der Politik zu ziehen. Politik wird damit zur Bühne für den Spektakel – und dieser personalisiert die Probleme der öffentlichen Sphäre bzw. das, was man einmal als ‚öffentliches Wohl’ bezeichnete. Politiker werden oft unvermittelt in den Verlauf solcher Skandalisierungsprozesse hineingerissen; es mag ihnen vorkommen, als ob sie vollkommen zufällig und ohne jedes aktive Zutun in Entwicklungen hineingerissen werden, die sie nicht mehr kontrollieren können. Dazu ein typisches Beispiel aus der Schweiz: Als 2007 an einer Schule der Stadt Zürich eine Schulklasse – wie es die Presse formulierte – sieben Lehrer „hintereinander fertig gemacht hatte“, wurde schnell der zuständige Stadtrat als Ursache der Probleme ausgemacht – obwohl dessen Handlungsspielraum in besagter Angelegenheit sehr eng gewesen war. Und weil sich die „Enthüllungen“ häuften, verschärfte sich die Kritik innert wenigen Tagen – um dann nach einigen Wochen wieder sang- und klanglos aus den Schlagzeilen der Presse zu verschwinden. Als Damoklesschwert bleibt indessen, dass diese Vorfälle jederzeit wieder für eine neue Kampagne gegen den betroffenen Stadtrat hervorgezogen werden können.
Für Politiker erhält damit die Formel von ‚gouverner ç’est prévoir’ eine ganz neue Bedeutung– nämlich sich möglichst so zu verhalten, dass man nicht in die Schusslinie einer aggressiven Presse kommt bzw. deren Kritik rhetorisch geschickt abfangen kann. Das Unwägbare ist dabei, dass man nie sicher sein kann, ob man nicht doch Gegenstand eines Skandals wird – und dass erwartet wird, dass man ‚persönlich’ für Dinge die Verantwortung übernimmt, die man nur sehr begrenzt zu steuern vermag.
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7.
Die Auflösung des öffentlichen Raumes als zweiter Strukturwandel der Öffentlichkeit
Es wäre dennoch viel zu einfach, die Ursache der zunehmenden Auflösung der klassischen Auffassung einer Politik, die im öffentlichen Raum stattfindet und sich mit demokratischer Handlungslegitimation am Wohl der Polis orientiert, einseitig den Medien zuzuschreiben. Zur Verdeutlichung dieses zweiten Strukturwandels der Öffentlichkeit soll hier nochmals die Bedeutung des Raumes hervorgehoben werden, auf den sich der Diskurs der politischen Öffentlichkeit im 19. und 20. Jahrhundert bezogen hatte. Er bezeichnete ein klar abgegrenztes Territorium, wie es über das Konzept der Nationalstaaten verwirklicht war. In einer globalisierten Welt, wo transnationale Konzerne und Institutionen eine immer größere Bedeutsamkeit erhalten, verlieren dagegen die auf nationalstaatliche Territorien bezogenen Regeln an Bedeutung. Insbesondere betrifft dies jene Sphäre der Politik, welche in der Vergangenheit diesen (national-) staatlichen Raum als Einheit erst definierte. Besonders deutlich wird dies überall dort, wo man globale Probleme mit den ‚alten’ Mitteln der nationalstaatlichen Kontrolle zu regeln sucht – etwa beim Klimaschutz, bei der Regulierung von Warenströmen, bei Fragen des Urheberrechts oder der Internetkriminalität, beim Missbrauch von Kindern etc. Zwar hat sich die Zusammenarbeit zwischen den Staaten in den letzten Jahren verstärkt, doch gerade dort, wo erste Erfolge zu verzeichnen sind, bedeutet dies letztlich nur, dass diese zu Lasten der nationalen Autonomie gehen. Denn wo nationale Sonderrechte beansprucht werden, wächst sehr rasch der Druck von außen, da sonst der supranationale Erfolg einer Durchsetzung von globalen Regelungen durch den Widerstand der unbotmäßigen Länder ausgehebelt würde. Dieser neue globale Raum, der die traditionellen staatlichen Grenzen überwölbt, ist vor allem dadurch charakterisiert, dass er über kein wirksames zentrales Machtzentrum mehr verfügt, nachdem die Teilung der Welt in Ost und West überwunden ist und die USA und der Westen immer wieder auf die Grenzen ihrer Einflussmöglichkeiten stoßen. In diesem globalen Raum (inter)agieren verschiedenste Akteure und Institutionen: Es werden Waren und Ideen verbreitet und ausgetauscht; jeder Ort der Welt soll ohne Einschränkung des Zugangs jederzeit erreicht werden können. Die neue global-kulturelle Ökonomie ist – so Appadurai (1996, S. 32) eine komplexe, sich überlappende und disjunktive Ordnung, die nicht mehr länger in Begriffen der überkommenen ZentrumsPeripherie-Modelle gefasst werden kann. So sind die strukturierenden Bereiche gesellschaftlichen Handelns nicht mehr als abgegrenzte ‚geographische’ Räume organisiert. Appadurai spricht in diesem Zusammenhang von Sphären („scapes“ in Analogie zu „landscapes“). Diese
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Sphären sind nicht an bestimmte Orte fixiert; zu ihnen gehören auch die virtuellen Landschaften des Internets. Das Suffix -scape, so Appadurai (1996, S. 33), erlaubt es, die fluiden und irregulären Formen dieser Landschaften herauszuheben; Formen, welche das internationale Kapital so tiefgründig charakterisieren wie die internationalen Modestile. Diese Landschaften sind für ihn die Bausteine dessen, was er als imaginierte Welten bezeichnet: Es sind multiple Welten, die sich über die historisch situierten Imaginationen von Personen und Gruppen konstituieren und über den Globus verstreut sind. Konkret benennt Appadurai fünf Sphären, die gesellschaftlich immer wichtiger geworden sind: x
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die Ethnosphäre als Landschaft der Personen in Bewegung, welche die sich verändernde Welt konstituieren, in welcher wir leben: Touristen, Immigranten, Flüchtlinge, Gastarbeiter und andere Gruppen als Ströme, welche die Politik von und zwischen Nationen beeinflussen. die Technosphäre als jene fließende Konfiguration eines globalen technologischen Netzwerkes, welches sich in einer globalen Ökonomie von multinationalen Unternehmungen manifestiert. die Finanzsphäre eines globalen Kapitals mit seinen schnellen und manchmal auch spekulativen Finanzflüssen auf einer weltweit vernetzten Ebene. die Mediasphäre, welche sich auf die weltweite Distribution der elektronischen Kapazitäten zur Produktion und Verteilung der Medien und auf die Vorstellungen einer imaginierten Welt, die dadurch geschaffen wird, bezieht. die Ideosphäre, als Verknüpfung von Vorstellungen, die häufig eine direkte politische Bedeutung haben. Es handle sich, so Appadurai, um Elemente eines aufklärerischen Weltbildes, das Begriffe wie Freiheit, Wohlstand, Rechte, Souveränität und Repräsentation umfasse (Appadurai 1996, S. 36).
Diese fünf Sphären sind miteinander eng vernetzt, indem z.B. das Modell einer politischen Ökonomie mit zutiefst unterschiedlichen Beziehungen zwischen menschlicher Bewegung in der Ethnosphäre, technologischen Einflüssen, finanziellen Strömen, medialen Vorstellungen und politischen Ideen zu rechnen habe. Eine eigenständige politische Sphäre ist in diesem Modell höchstens noch in der Form einer symbolischen Sphäre der politischen Ideen vorhanden, die aus den übrig gebliebenen Bruchstücken der Aufklärung besteht. Wenn sich die ‚Meister-Erzählung’ der Aufklärung in den letzten Jahrzehnten über die Welt verbreitet hat, so bedeutet dies nach Appadurai, dass sie nur noch eine lockere Synopse der Politik darstellt, die als Legitimation für ganz unterschiedliche poli-
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tische Kulturen dient. Politische Macht als zentrale und übergeordnete Kategorie der Herrschaft, die einem bestimmten räumlichen Territorium seinen autonomen Gestaltungswillen aufzuzwingen vermag, hat sich dagegen immer stärker verflüchtigt – oder bleibt auf die Ebene einer personalisierten Politik reduziert, die Medienpräsenz mit realer Macht und Einflussnahme verwechselt. Damit bleibt konkretem politischem Handeln vor allem noch die Funktion, Folgeprobleme aus dem Handeln der fünf Sphären zu koordinieren. Regieren wird zur ‚Governance’ – zum prekären Versuch, das Handeln staatlicher Institutionen, privatwirtschaftlicher und non-profit Organisationen zu steuern. Der Erfolg solcher Bemühungen bleibt letztlich unwahrscheinlich, indem die oft unvorhersagbaren Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Sphären kaum mittel- und langfristig kontrollierbar sind. Was übrig bleibt, ist der Versuch einer Schnittstellenbewirtschaftung – um die Einflüsse der globalen Sphären auf einen geografisch definierten Raum so weit abzugleichen, dass mögliche destruktive Auswirkungen abgefangen werden können. Die Dynamik solcher Prozesse ist für die vorliegenden Überlegungen vor allem im Hinblick auf die Mediensphäre relevant. In einem Interview mit der österreichischen Zeitschrift „Die Springerin“ hat Appadurai betont, dass die Prozesse der Globalisierung die Beziehungen zwischen Subjektivität, Örtlichkeiten, politischer Identifikation und sozialer Imagination radikal verändert hätten: Wie ich es in meinem Buch „Modernity at Large“ ausdrücke, treffen sich bewegende Bilder auf ein mobiles Publikum. Deshalb übersehen Theorien, die auf einer Art räumlicher oder territorialer Stabilität beruhen, welche Ökonomie, Gesellschaft und Subjektivität verbindet, die Zirkulation von (massen mediatisierten) Bildern und Botschaften (zit. nach: http://www. translocation.at/d/ appadurai.htm; besucht 21.5.2007).
In diesem Sinne eines fluiden Wechselspiels können auch Skandalisierungseffekte interpretiert werden, die zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Sphären spielen, Thematiken problematisieren und aufschaukeln – und dann plötzlich wieder verschwinden lassen. Aus dem Nichts kam vor einigen Jahren aus der Ökosphäre die Thematik des Waldsterbens auf die Agenda der Politik, was durch eine schrille Medienaufmerksamkeit in die Schlagzeilen der Massenmedien führte. Die hektische Betriebsamkeit, die einige Zeit herrschte, führte aber auch dazu, dass sich – weil wenig neue sensationelle Informationen hinzukamen, das Thema rasch verbrauchte. Ähnlich rätselt man heute, ob die Vogelgrippe als alarmierendes Problem einer weltweiten Grippeepidemie als faktische Bedrohung existiert, oder ob es auch hier um ein Thema geht, wo sich Einflüsse aus verschiedenen Sphären gegenseitig aufschaukelten – weil
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die Medien Interesse an sensationellen und emotional verwertbaren Meldungen haben, Wirtschaft und Forschungsinstitute sich finanzielle Förderung zur Abwehr einer gesellschaftlichen Katastrophe versprechen; Ökoaktivisten die Bedrohung der Umwelt an einem neuen Beispiel gerechtfertigt sehen; Politiker publikumswirksam ihren symbolischen Einsatz für das Wohl ihrer Wähler demonstrieren konnten (etwa indem sie sich für den Kauf von Impfstoffen einsetzen, auch wenn deren Wirksamkeit weithin im Dunkeln liegt) etc.
Gerade weil es keine zentrale Steuerungsinstanz gibt, scheinen solche Krisen, wie ein natürliches Schicksal plötzlich – und vermittelt über die Massenmedien – aufzutauchen, sich wie die Bahn der Sonne einem Zenit zu nähern und ‚irgendwie’ wieder unterzugehen und zu verglühen. Wenn Politiker sich dann mit markigen Worten in Szene setzen und versprechen, alle Probleme zu lösen, so verbirgt sich dahinter meist nur das Fehlen wirksamer politischer Instrumente. Politik wird zum symbolischen Kampf um Bedeutungen, der demonstrieren soll, dass politische Macht ihr Terrain und ihre Möglichkeiten trotz aller offensichtlichen Gegenbelege noch nicht verloren hat. Was bedeuten solche Globalisierungsthesen indessen für den gelebten Alltag, der gegenüber den zirkulierenden Bildern und Botschaften der Medienwelt trotz allem als Lebenswelt lokal gebunden bleibt? So hat James Lull (2000) darauf verwiesen, dass die Imperative der globalen Sphären in den lokalen Lebensräumen verändert und umgearbeitet werden, indem sie synkretistische Formen annehmen. In diesem Sinne spricht er von Prozessen der „Glokalisierung“. Das lokale Ambiente mit seinen Nuancen und Färbungen ist einerseits Ausgangspunkt, der Medienereignisse mit ihren globalen Bedeutungshorizonten erst schafft; und es ist andrerseits der Ort, wo die globalen Zeichenströme persönliche Bedeutung erlangen. Damit aber stellt sich die Frage, ob nicht gerade in dieser Sphäre des Lokalen neue Möglichkeiten einer ubiquitären ‚Citizenship’ liegen, die mit einer Partizipation verbunden ist, welche nicht mehr nach dem Muster der Teilnahme an formalisierten politischen Prozessen (Wahlen, plebiszitäre Abstimmungen etc.) funktioniert und über das Modell der Schnittstellenbewirtschaftung hinausweist. Mit anderen Worten: Die Ebene des Lokalen verschwindet im Zeitalter der Globalisierung nicht, sondern erhält als Ort, wo sich das alltägliche Leben abspielt, eine neue Bedeutung.
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8. Die Position der Medienpädagogik Der zweite Strukturwandel der Öffentlichkeit, wie er hier mit Bezug auf die Globalisierung und den Wandel der Politik zur Schnittstellenbewirtschaftung beschrieben wurde, hat auch Auswirkungen auf die medienkritische Programmatik der Medienpädagogik. Wenn Baacke (1973, S. 337) die Aufgabe der Massenmedien darin sah, die Spannung zwischen öffentlichem und privatem Interesse so auszutragen, dass die Medien weder als Instrumente der Realitätsflucht, noch lediglich zur Minderung kognitiver Dissonanz genutzt werden, so entsprach dies dem Programm klassischer politischer Aufklärung. Die Massenmedien haben danach selbst einen bildungspolitisch festgeschriebenen Bildungsauftrag, wie er im öffentlich-rechtlichen Rundfunk bis heute explizit formuliert ist. Medien sollen helfen, die Spannung zwischen öffentlichem und privatem Interesse auszutragen; sie haben eine Sozialisationsfunktion, eine Orientierungsfunktion, eine Kritik- und Kontrollfunktion und die Aufgabe, das Bildungssystem durch spezifische Lernprogramme zu unterstützen. Herstellung von Öffentlichkeit bedeutet für Baacke in diesem Zusammenhang, wie er wörtlich schreibt, „nicht nur eine gezielte Meinungslenkung durch Verwaltung der öffentlichen Meinung in den Medien im Rahmen einer allgemeinen Konsumsphäre, sondern Ausnutzung der Partizipationschancen auch in einer marktrational organisierten Massendemokratie“ (Baacke 1973, S. 338). Deutlich wird hier, wie stark diese Überlegungen in den 70er Jahren noch auf ein öffentlich-rechtlich abgestütztes Mediensystem bezogen sind und damit auch in der ‚marktrational organisierten Massendemokratie’ auf einen Bildungsauftrag der Massenmedien Bezug nehmen können. Diese hat in dieser Konzeption einen eigenständigen Auftrag, bei welchem es um die ‚öffentliche Sache’ geht, die es über demokratische Teilhabe und Aufklärung zu verteidigen gilt. Schon mit der Privatisierung der Medienlandschaft in den 80er- und 90er Jahre ist aber diese medienpolitische Konzeption geschwächt worden. Denn wenn Souveränität und Rationalität des politischen Systems bei der Gestaltung des öffentlichen Raumes in Frage gestellt werden, greift auch eine medienpädagogische Aufklärung, die sich an der Differenz von Öffentlichkeit und Privatheit orientiert, zu kurz. Im Hinblick auf die Veränderungen des politischen Diskurses hat Mc Guigan (1997) die Frage gestellt, ob sich der gesellschaftskritische Diskurs – wenn er sein politisches Territorium verloren hat – sich heute nicht besser an einer kulturellen Ebene orientieren würde. Denn der traditionelle politische Diskurs habe vor allem auf der kognitiven Ebene funktioniert, indem es um ein Wissen ging, das politische Entscheidungen informierte. Aufklärung über politische Mechanismen und Kritik an politischen Zuständen, wo die demokratischen Re-
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geln nicht eingehalten wurden, sollten als Effekt die Partizipationschancen eines ‚mündigen’ Bürgers erhöhen. Wo aber Politik vor allem Schnittstellenbewirtschaftung betreibt, ergeben sich für politische Aufklärung zwei zentrale Probleme: x
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Einmal sind die Fronten im politischen Streit oft nicht so klar, wie es die politische Aufklärung postulierte. Denn die systembezogenen Perspektiven der verschiedenen gesellschaftlichen Sphären legen häufig unterschiedliche Lösungen und Lesarten nahe. In systemtheoretischer Sicht wäre sogar zu bezweifeln, ob sich die nach unterschiedlichen Regeln formierten Systeme überhaupt verstehen (können). Die im Rahmen der Schnittstellenbewirtschaftung relevanten komplexen Abgleichungsprobleme sind möglicherweise nicht jene ‚politischen’ Fragen, welche die Bürger interessieren und sie zu mobilisieren vermögen.
McGuigan (2005) meint deshalb, dass eine Reflexion von gesellschaftlichen Verhältnissen sich weniger am politischen als am literarischen Diskurs orientieren sollte. Denn der aus der literarischen Öffentlichkeit entstandene kulturelle Diskurs war zwar immer nur mittelbar „politisch“ gewesen; anstelle der flüchtigen „News“ bezog er sich auf eine differenzierte Reflexion zu den überdauernden Grundproblemen des Lebens. Er berührte die Menschen dabei aber umso intensiver in ihren lebensweltlichen Interessen: Affektive Kommunikationen helfen den Menschen reflexiv über ihre eigenen lebensweltlichen Situationen nachzudenken und sich über ihren Weg im und durch die Systeme Rechenschaft zu geben, die auf dem Terrain des alltäglichen Lebens jenseits der eigenen Kontrolle sein mögen. (McGuigan 2005, S. 435)
In diesem Rahmen ist die kulturelle öffentliche Sphäre ein Vehikel für Gedanken und Gefühle, für Imaginationen und kontroverse Auseinandersetzungen. McGuigan exemplifiziert dies am Beispiel des Todes von Diana, der Prinzessin von Wales im Jahr 1997. Dieses affektive berührende Ereignis habe schnell zu Grundsatzdiskussionen über die Stellung des Hauses Windsor in England geführt – ob das Königshaus und damit die Monarchie in Großbritannien überhaupt noch eine Funktion habe, aber auch zu Fragen nach der Rolle der Geschlechter im Verhältnis zwischen Männern und Frauen. Analog zu dieser Diskussion haben Mikos/Töpper (2006, S. 14 f.) in der Zeitschrift „TELEVIZION“ darauf hingewiesen, dass populäre Fernsehformate, welche in jugendlichen Cliquen, Szenen und Milieus eine Rolle spielten und ihre politischen Einstellungen mitformten, in der Lage sein könnten, zwischen der
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staatlichen und der lebensweltlichen Situation der Jugendlichen zu vermitteln. Die Autoren sehen darin eine Chance, das von bildungsfernen Jugendlichen eingeklagte politische Basiswissen in die populären Formate zu integrieren und im Rahmen von Talks, Serienhandlungen und Spielen zu vermitteln. Politische Bildung könne in diesem Sinne als „Entertainment-Education“ verstanden werden: „Wichtige politische Werte und ethische Prinzipien der demokratischen Gesellschaft werden dabei in die Handlungen von Daily Soaps, Familien- oder Zeichentrickserien und Animes sowie Musiksendungen integriert“ (Mikos/Töpper 2006). Soll dieser politische Gehalt herausgearbeitet werden, sei es notwendig, die Orientierungen der Jugendlichen, die sie durch populäre Fernsehformate erworben haben, als politische kenntlich zu machen, und das Bewusstsein dafür zu schärfen. Für Mikos/Töpper drücken sich in den Haltungen zur Popmusik und zu Reality-Shows auch politische Orientierungen aus, da hier Fragen der Authentizität und des Konsums, von Widerstand und von Inkorporation verhandelt werden. Insgesamt kommen sie zum Schluss: „Gerade für die jugendliche Sozialisation, die immer auch eine Politisierung ist, haben jugendaffine Fernsehformate wie Dails Soaps, Reality-Shows, Serien und insbesondere für bildungsferne Jugendliche auch Daily Talks und Boulevardmagazine eine große Bedeutung“ (Mikos/Töpper 2006, S. 15). Mit der Betonung der Bedeutung der populärkulturellen Sphäre für politische Bildung treffen sich Mikos/Töpper mit den Überlegungen von McGuigan zur kulturell-öffentlichen Sphäre. Jugendliche gehen jedoch häufig selbst noch von einem engen Politikbegriff aus, indem sie diesen auf Formen institutioneller Politik beziehen, die von ihrer Lebenswelt weit entfernt ist. Mikos/Töpper kommentieren dazu eine von ihnen durchgeführte Studie: Es zeigte sich, dass die befragten Jugendlichen sich eher wenig für Politik im traditionellen, institutionalisierten Sinn interessieren. Sie beschäftigen sich zwar mit gesellschaftlichen Problemen, politischen Institutionen und ihren Handlungsträgern stehen sie jedoch eher ablehnend gegenüber. (Mikos/Töpper 2006, S. 12)
Dies ist indes nicht so zu verstehen, dass die von Mikos/Töpper festgestellten Energien mittels „Entertainment-Education“ in ein Interesse an traditioneller institutioneller Politik umgewandelt werden sollten (oder auch nur: könnten). Nicht nur dürfte es schwierig sein, Jugendliche dafür zu gewinnen; es ist auch in Zweifel zu ziehen, ob ein solcher Politikbegriff im Zeitalter des zweiten Strukturwandels der Öffentlichkeit noch Sinn macht. Denn die Exponenten der Politik haben sich selbst immer mehr ins massenmediale Ensemble der populärkulturellen Events integriert. Die Medien bieten ihnen eine Bühne an, wo „politische Aufführungen“ stattfinden, die vor allem von ihren symbolischen Gehalten leben – und die jenem Bild der literarischen Öffentlichkeit entspricht welche
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Mc Guigan charakterisiert hat. So sind Politiker allgegenwärtig in Talkshows, in Unterhaltungssendungen des Fernsehens, als Überraschungsgäste im BigBrother Haus, Lifestyle-Sendungen etc. Und die Aufmachung des politischen Personals ist nicht mehr viel anders als diejenige von Popstars, Firmengründern, Fotomodellen oder Gewinnern von Casting-Shows. In der Schweiz gibt es heute kaum mehr Bundesräte, die sich nicht in Homestories von der Zeitschrift „Schweizer Illustrierte“ porträtieren lassen. Und manche Berichterstattung in der Presse gleicht eher dem Modell einer Soap Opera wie demjenigen herkömmlicher politischer News. Angesichts dieser Veränderungen muss sich politische Bildung fragen, was mehr zählt: x x
die formellen politischen Debatten im Parlament, die sich aber auch bereits medienwirksam verändern, wenn sie im Scheinwerferlicht des Fernsehens direkt übertragen werden oder die kritische Reflexion populärkultureller Ereignisse, die in den Medien und in der Öffentlichkeit stattfinden.
Im zweiten Fall – für welchen wir hier plädieren – geht es um jene Form der medienkritischen Betrachtung, wie sie Mikos/Töpper (2006) vorschlagen: Hier stehen nicht mehr die traditionellen Newssendungen und politischen Diskussionen im Mittelpunkt, sondern die populären Formate der boulevardisierten Medien bzw. die Produkte einer (populär-)kulturellen Öffentlichkeit, da sich in ihnen verschiedenste Anstöße zur Diskussion gesellschaftlicher Probleme finden, welche durch ihre affektive Darbietungsweise oft noch verstärkt werden. Einige Merkmale einer solchen Form medienorientierter politischer Bildung sollen zum Schluss explizit herausgehoben werden: x
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Das Konzept einer ‚politischen Bildung’ über Medien greift über traditionelle staatsbürgerliche Belehrung weit hinaus – im Sinne einer Zuwendung zu jenen disparaten gesellschaftlichen Sphären, die Appadurai herausgearbeitet hat. Hier sind es nicht mehr formell-demokratische Abläufe und Rechte bzw. Pflichten, die im Mittelpunkt stehen; vielmehr geht es um implizite Dissonanzen und herausfordernde Konflikte des Zusammenlebens, die an Medienereignissen deutlich werden, welche mit ganz anderen Intentionen produziert wurden. Wenn traditionelle Muster des politischen Handelns sich angesichts der Globalisierung zur Schnittstellenbewirtschaftung hin auflösen, so sind im globalen Netz auch neue Räume der Einflussnahme und Partizipation entstanden, die im Sinne einer populär(kulturellen) globalen Öffent-
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lichkeit genutzt werden können. Über mediale Netze einer transantionalen Kooperation kann so auch auf bestehende politische Strukturen der einzelnen Staaten Einfluss genommen werden. Gesellschaftliche Reflexion ist dabei ‚glokal’ zu verstehen – indem Lokales und Globales eng ineinander greifen. Grundlegende Fragen des Zusammenlebens lassen sich an lokalen Fällen auf illustrative Weise aufzeigen – wobei oft sehr rasch deutlich wird, dass die damit verbundenen Probleme an den Staatsgrenzen nicht Halt machen. Lokale Auswirkungen des Klimawandels machen auf die globalen Zusammenhänge aufmerksam und umgekehrt. Der Spitalaufenthalt, wie er in einer US-amerikanischen Serie dargestellt ist, weist auf Fragen zu unserem eigenen Gesundheitssystem, die Frage nach dem Herunterladen von mp3-Daten auf dem eigenen Computern auf allgemeine Fragen des Status der Urheberschaft im globalen Netz zurück. Medienkritik sollte zudem nicht allein analytisch ausgerichtet sein. Gerade das Web 2.0 gibt eine Vielzahl von Möglichkeiten, die Teilnahme am kulturell-politischen Diskurs auch praktisch werden zu lassen. Im Sinne von ‚Communities of practice’ können sich Schulklassen international zusammenschließen und über das Internet Themen gemeinsam bearbeiten – etwa indem man sich zusammen mit amnesty international für einen politischen Gefangenen einsetzt, mit andern Klassen zusammen Klimabeobachtungen anstellt und daraus politische Forderungen stellt etc. Die Schule erhält ganz generell die Möglichkeit, sich aktiv an der Netzkultur des Web 2.0 zu beteiligen – über Bilder, Videos, Blogs zu politischen Themen und Aktionen. Partizipatives Handeln als Grundhaltung ist auch dort erstrebenswert, wo es nicht bereits um gesellschaftliche Einflussnahme im großen Stil geht, sondern wo Kinder und Jugendliche dazu motiviert werden, sich im kleinen Kreis zu äußern, eine eigene Meinung im Netz zu publizieren, oder sich mit einem Clip selbst öffentlich vorzustellen. Wie die Arbeit von Schmidt, Paetzolt und Wilbers (2006) zeigt, könnte ein Engagement von Schulen oder außerschulischen Institutionen hier auch dazu dienen, einen Digital Divide zu schließen, der dadurch zu entstehen droht, dass sich nur diejenigen an politischen Diskursen im Internet beteiligen, die aus höheren Schichten kommen und ohnehin schon politisch hochmotiviert sind. Medienkritische Arbeit heißt aber nicht allein, Medien einzusetzen, um die eigenen Reflexionen zu veröffentlichen; vielmehr geht es wesentlich auch darum, aufzuzeigen, welchen Anteil die Medien an der Konstruktion von Lebenswelt haben – wie Medien uns dabei beeinflussen,
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und wie wir den dominierenden Lesarten unsere eigenen entgegensetzen können. Insofern Medienkritik auf einer kulturellen Ebene geschieht, ist sie in die performativen Arrangements erlebnisgesellschaftlicher Lebenswelten eingebunden. Es geht dabei nicht um rein kognitive Reflexionen, vielmehr gehören Rollenspiele, Fotos, Videos, Performances etc. mit ihren ästhetischen Qualitäten wesentlich dazu. Mediengestaltung und Medienkritik gehörten schon bei Baacke notwendigerweise zusammen. So schreibt er in einem Beitrag für das „Handbuch Medien“ (1999): „Medienkompetenz umfasst die Fähigkeit zu Medienkritik. Diese ist deshalb vorangestellt, weil die edukative Dimension der pädagogischen Verantwortung als reflexive Rückbesinnung auf das, was über sozialen Wandel lebensweltlich und medienweltlich geschieht, Grundlage für alle weiteren Operationen ist“ (Baacke 1999, S. 35). Allerdings wäre diese Aussage aus der Perspektive einer performativen (Medien-)Gesellschaft umzudrehen: Mediengestaltung bzw. der performative Umgang mit Medien ist jene Dimension, die einer kulturell-politischen Medienkritik ihre fundierende Grundlage gibt und zur Ausbildung von Medienkompetenz als Ressource aufgenommen werden kann.
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Christian Doelker
Meinungsbildung zwischen Information und Unterhaltung. Anmerkungen zur publizistischen Lizenz bei Satire, Cartoon und Kunst
Ohne Medien keine Demokratie. Die handelnden Bürgerinnen und Bürger sind auf Information angewiesen. Und zwar auf korrekte und umfassende Information. Um die Verlässlichkeit der medialen Information zu gewährleisten, sind von Verfassung, Gesetz und Konzessionen her bestimmte Richtlinien und Maßnahmen vorgegeben. Der folgende Beitrag will zeigen, dass Meinungsbildung weitgehend auch über andere Textsorten wie Satire, Cartoon und Kunst erfolgt, für welche keine entsprechenden Regulierungen bestehen, respektive bestehen können. Damit werden auch neue Anforderungen an die Medienbildung gestellt. Der Autor bezieht sich vornehmlich auf schweizerische Verhältnisse und Fallbeispiele.
1. Medienfreiheit und ihre Regulierung In den Demokratien westlichen Zuschnitts gehört zu den wichtigsten Gütern die Pressefreiheit, die Freiheit der Medien. Da bekanntlich Freiheit auch missbraucht werden kann, sind verschiedene Sicherungen eingebaut. Bei der Presse wird im Großen und Ganzen auf Selbstregulierung abgestellt, zu deren Funktionieren der Pressekodex (mit der Monierungsinstanz Presserat) und die Medienkritik (die allerdings in der heutigen Marktsituation immer mehr abgebaut wird) beitragen. Für Radio und Fernsehen gilt die so genannte regulierte Selbstregulierung oder Co-Regulierung (Jarren u.a. 2002). So sind z.B. bei der SRG über Verfassung, Gesetz, Konzession und Ausführungsbestimmungen die Voraussetzungen für eine verlässliche Informationsleistung geschaffen. Zur Etablierung und Ausformulierung solcher einschlägiger Bestimmungen fand verschiedentlich ein breit angelegter gesellschaftlicher Diskurs unter Einbezug aller zuständigen Instanzen statt. Das hohe Gut einer zuverlässigen Information war also der Gesellschaft einen namhaften Aufwand wert. Entspre-
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chend hielt man das Postulat einer qualifizierten Meinungsbildung als Bedingung für eine funktionstüchtige Demokratie für erfüllt. Ist dies auch tatsächlich der Fall? Ein Risiko ist nicht auszuschließen, dass weite Kreise (bis hinauf in zuständige Bildungsbehörden) einer diesbezüglichen Selbsttäuschung unterliegen, ausgelöst und genährt durch zirkulierende Schlagworte wie ‚korrigierender Wettbewerb’, ‚Deregulierung’, ‚Medienvielfalt’ u.a.m. Man wiegt sich in der fälschlichen Sicherheit, dass das ‚System’ genügend Korrektive aufweist, um allfällige Lücken bei der Regulierung auszugleichen. Zwei Aspekte bleiben dabei häufig außer Betracht. Der eine betrifft die Medienkonsumierenden, der andere die produzierenden Akteure.
2. Unabdingbare Rezipientenqualifizierung Zunächst: Wenn die zur Sicherung eines tauglichen Informationsprozesses vorgesehenen Regulierungen versagen, also bestehende Kontrollinstanzen unterlaufen werden und Medien Informationen lückenhaft oder verzerrt verbreiten, ist notwendig die kritische Wachheit des Rezipienten gefordert, den desinformativen Charakter solcher Inhalte zu erkennen. Es wird somit nach wie vor die klassische Zielsetzung der Medienpädagogik, nämlich eine kritische Position gegenüber Medienaussagen, vorausgesetzt. Bezeichnenderweise stand Mitte der siebziger Jahre das erste größere Multimedia-Lernsystem Presse, Fernsehen, Film (Institut für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht FWU, Grünwald/München) unter dem Titel „Meinungsfreiheit oder werden wir manipuliert?“ Bei der Initiierung solcher Lehrmittel wurde richtigerweise von der Annahme ausgegangen, dass man nicht ‚von Natur aus’ oder ‚automatisch’ kritischer Rezipient wird, sondern dass auch hierzu eine entsprechende Ausbildung notwendig ist. Deshalb ist die Institution Schule gehalten, bei der Vermittlung der Kulturtechniken unter Lesen und Schreiben auch kritisches Lesen und monierendes Schreiben zu subsumieren. Verschiedentlich habe ich dieses Mandat der Gesellschaft an die Schule dahin formuliert, dass Bürgerinnen und Bürger zur Kontrolle der so genannten Vierten Gewalt, der Medien also, als Fünfte Gewalt auszubilden seien. Wenn dies – wie als gegenwärtiger Trend festzustellen ist – immer weniger geschieht (Moser 2005), klafft im Informationskonzept der Gesellschaft eine empfindliche Lücke.
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3. Um- und Irrwege bei der Meinungsbildung Eine zweite Problematik besteht darin, dass Meinungsbildung nicht nur via Information erfolgt, sondern weitgehend auch durch Unterhaltung und Werbung sowie durch Kunst. In der Unterhaltung gibt es der Information nahe stehende Textsorten wie Cartoon und Satire, informationsaffin insofern, als diese weitgehend mit Informationsmedien amalgamiert sind. Als von den klassischen Informationstexten abweichende Textsorten unterliegen sie aber nicht den gleichen mediengesetzlichen oder medienethischen Regelungen. Und sehr weitgehende Freiheit besteht im Bereich der Unterhaltung. Fast unbeschränkte Freiheit schließlich darf die Kunst in Anspruch nehmen. Um abschätzen zu können, in welcher Richtung sich entsprechende Medienangebote auswirken, ist auf eine kommunikationstheoretische Erscheinung hinzuweisen, die als ‚Asymmetrie-Syndrom’ bezeichnet werden kann. Gemeint ist damit, dass intendierte Aussagefunktionen wie Information, Unterhaltung, Bildung und Werbung nicht im Sinne der kommunikativen Absicht, also symmetrisch, sondern abweichend bis konträr genutzt werden. Das heißt beispielsweise, dass Informationssendungen nicht als Information, sondern als Unterhaltung, und anderseits Unterhaltung als Information genutzt wird. Banales Beispiel: Aufnahmen der Tagesschau von Kriegsschauplätzen werden als Action konsumiert, oder aus dem Geschehen eines Serienfilms wird auf eine bestehende Wirklichkeit geschlossen. Da die Anbieter um dieses ‚Asymmetrie-Syndrom’ wissen, wird einer entsprechend abweichenden Nutzung auch willentlich Vorschub geleistet, indem beispielsweise für Informationsformate Anleihen aus der Fiktion gemacht werden. Im Hinblick auf Politik wird dieser ganze Komplex von Ulrich Saxer (2007) in seinem neusten Buch „Politik als Unterhaltung“ untersucht. Einerseits gibt es von vorneherein publizistische Mischformen wie Infotainment, Politainment, Edutainment, und andererseits können klassische Unterhaltungsformate wie Soaps in politische Werbung umschlagen, z.B. indem bekannte Politiker als Akteure auftreten. In solchen Fällen vermögen Kontrollinstrumente wie der erwähnte Pressekodex oder Vorschriften wie „sachgerechte Darstellung“ nicht zu greifen. Die Medienpädagogik kennt für die Erscheinung, aus fiktionalen Angeboten falsche Einschätzmodelle für die Wirklichkeit zu übernehmen, den Begriff der Illusionsbildung. In der Literaturtheorie ist sie bekannt mit Beispielen wie „Don Quijote“ oder „Madame Bovary“ (Doelker 1991: 87-90). Illusionsbildung findet aber auch über andere Textsorten, z.B. Werbeangebote, statt, aus denen falsche und unter Umständen fatale Vorstellungen, beispielsweise über eine un-
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eingeschränkte Geländegängigkeit bestimmter Autos oder sexistische Frauenbilder, abgeleitet werden. Entsprechend weit soll deshalb das medienpädagogische Postulat einer ‚kritischen’ Einstellung gefasst werden, indem griechisch kritikos, in der Bedeutung von „unterscheidend“, „unterscheidungsfähig“, auch im Hinblick auf das Auseinanderhalten der verschiedenen Textsorten verstanden werden soll.
4. Darf Satire alles? Diese 1919 vom Satiriker Kurt Tucholsky im „Berliner Tagblatt“ gestellte – und in der Schlussfolgerung bejahte – Frage wird von Peter Studer, als damaliger Präsident des (schweizerischen) Presserats, mit zwei grundsätzlichen Einwänden relativiert (NZZ, 8. März 2002, Nr. 56: 75): einerseits hinsichtlich des Schutzes der Menschenwürde und der Privatsphäre und andererseits in Berücksichtigung des strafrechtlichen Persönlichkeitsschutzes. Zur weiteren Differenzierung legt Studer einen Raster vor, den Gerichte und Rechtslehre für die Beurteilung von Satiren entwickelt haben. Dabei wird „das Gemeinte“, der Tatsachenkern, von der „satirischen Einkleidung“, der typisch überspitzten gestalterischen Form, unterschieden. Das zweite Kriterium tangiert den Bereich Kunst, der weiter unten näher zu untersuchen sein wird und übrigens – gemäß den von Studer behandelten Beispielen – teilweise auch schon den Cartoon umfasst. Historisch gesehen, z.B. in der Zeit der römischen Kaiser, ist Satire eine literarische (also künstlerische) Form, um „ridentem dicere verum“, also „das Wahre als ein Lachendes zu sagen“ und dient dazu, „die Erfahrung faktischer gesellschaftlicher Ohnmacht durch geistige Freiheit subjektiv zu überwinden“ (Metzler-Literatur-Lexikon, Stuttgart 1990: 409). In der Neuzeit waren Höhepunkte der satirischen Literatur z.B. Jonathan Swifts „Gulliver’s Travels“ (1726), Voltaires „Candide“ (1759) und George Orwells „Animal Farm“ (1945). Neben dem Roman wird heute die Satire vor allem im kabarettistischen Chanson, Sketch und Vortrag gepflegt, und von dort fand sie auch Eingang in die Massenmedien (Literatur-Brockhaus, Mannheim 1988: 287): „Im Zuge dieser Popularisierung wird aber auch die Tendenz erkennbar, den Begriff Satire aus einer Bindung an literarisch-ästhetische Formen zu lösen und ihn auf jede kritische und polemische Äusserung anzuwenden“ (a.a.O.). So wird aber auch möglich, dass ein Text als Satire anmutet, der gar nicht als solche konzipiert worden ist. Das ist der Fall bei der so genannten Realsatire. Umgekehrt kann ein als Satire intendierter Beitrag oder Teil eines Beitrags als nicht-satirischer Text aufgefasst, also eine allfällige Überspitzung von Sachlagen zum Nennwert gelesen werden. Ein solches Kippen in der kategorialen
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Einschätzung des Textes tritt umso leichter ein, als im Gedächtnis des Mediennutzers mit wachsendem zeitlichem Abstand ohnehin ein Zusammenfließen von verschiedenen Textsorten stattfindet. Das Quellgebiet für die Entstehung von bestimmten Vorstellungen – Primärerfahrung mit eingeschlossen – lässt sich im Nachhinein selten mehr verlässlich ausmachen. Aus solcher Perspektive sollte der Journalist das Stilmittel Satire, insbesondere als undeklarierte Beimischung zu ‚normalen’ pragmatischen und dokumentarischen Texten, nur mit Zurückhaltung anwenden und das Etikett „satirisch“ keinesfalls als carte blanche für Übertreibungen und subjektive Einfärbungen benutzen.
5. Textform Cartoon als Freipass? Eine ähnliche Ambivalenz besteht bei der Rezeption von Cartoons. Da der Cartoon recht häufig als journalistisches Mittel eingesetzt und zudem oft nahtlos in einen verbalen Textbeitrag (z.B. in einen Leitartikel) eingebaut wird, sind auch hier grundsätzliche medienpädagogische Überlegungen erforderlich. Von der Form, also von der ‚satirischen Einkleidung’ her, ist die Textsorte offengelegt und damit explizit als Überspitzung deklariert. Von der visuellen Modalität her ist indes zu berücksichtigen, dass ein Bild nicht anders als affirmativ gelesen werden kann. Eine allfällige Relativierung in der Legende vermag die visuelle Aussage nicht abzuschwächen. Die Bildwirkung findet zudem vornehmlich auf emotionaler Ebene statt. Dies heißt wiederum, dass der dargestellte ‚Tatsachenkern’ trotz zeichnerischer Übertreibung oder verbal modifizierter inhaltlicher Version einen gewissen Realitätsgehalt, also eine Art von Faktizität vorspiegelt. Auch hier kann beim Rezipienten ein für die Interpretation der Wirklichkeit problematischer Kippeffekt stattfinden. Beim Cartoon wie bei der Satire sind deshalb die bereits erwähnten Beschränkungen zu berücksichtigen, wie sie von der Rechtssprechung her auferlegt sind. Ein besonders repräsentatives Beispiel zitiert Studer im eingangs erwähnten NZZ-Artikel (a.a.O.). 1988 bildete der Karikaturist Nico im „Tages-Anzeiger“ den damaligen Bundesratsgatten Hans W. Kopp ab, der sich hoch über einer Gasse aus dem Fenster lehnte und nasse Tausendernoten an die Wäscheleine hängte. Unten sagten Leute zueinander: „Das muss der Kopp in Neapel gelernt haben“ – nämlich eindeutig das Geldwaschen. Solches durfte sich Kopp, weder je angeklagt noch verurteilt wegen Geldwaschens, laut Bundesgericht nicht gefallen lassen. Es erkannte Persönlichkeitsverletzung durch den „Tages-Anzeiger“.
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Da der geschilderte Cartoon aber nachhaltig zur öffentlichen Meinungsbildung beitrug, die schließlich zum Rücktritt einer Bundesrätin führte, muss vom erwähnten Kippeffekt ausgegangen werden. Ein ebenso sprechendes Beispiel sind die im Herbst 2005 in der dänischen Tageszeitung „Jyllands-Posten“ publizierten Mohammed-Karikaturen. Aufgrund des teilweise blutig verlaufenen weltweiten Proteststurms muslimischer Kreise wurde eine breite Diskussion ausgelöst. Dieser öffentliche Diskurs war dominiert durch die Güterabwägung von „Recht auf freie Meinungsäusserung“ vs. „öffentliche Beleidigung einer Personengruppe aufgrund ihrer Religion“ (so die Anklage muslimischer Organisationen (NZZ, 27. März 2007, Nr. 72: 44)). Wiewohl z.B. in der Schweiz die Meinungsäußerungsfreiheit durch andere Rechtsvorschriften wie das Rassismusgesetz bereits eingeschränkt ist, wird sie im westlichen Kulturraum, seit der Aufklärung im 18. Jahrhundert, als unverzichtbare Errungenschaft hochgehalten. Eine Grenze ist allerdings dort erreicht, wo eine falsche Faktizität suggeriert wird. So hält der Bericht des Pariser Strafgerichts zwar einerseits fest, dass sich die in diesem Streit beanstandeten Karikaturen eindeutig nicht gegen die gesamte Gemeinschaft der Muslime, sondern ausschließlich gegen Terroristen richten. Problematisch sei aber anderseits die Zeichnung, die Mohammed mit einem Turban in Form einer Bombe mit brennender Lunte zeige: „Diese Karikatur könnte so verstanden werden, dass sie alle Anhänger des Propheten als Terroristen designiert“ (a.a.O.).
6. Freiheit der Kunst: Narrenfreiheit inklusive? Wenn von Information und Meinungsbildung in der Demokratie und den damit verbundenen Leistungen der Medien die Rede ist, scheint Kunst zunächst außerhalb dieses Themenkomplexes zu stehen. Alltägliche Berührungspunkte von Kunst und Medien ergeben sich z.B. durch Berichterstattung über Kunstereignisse. Die Kunst ihrerseits steht indessen nicht für Aktualität, vielmehr ist sie ihrem Wesen nach weitgehend zeitlos, insofern nämlich, als sie eine den gegenwärtigen Moment überdauernde Gültigkeit beansprucht. Auch ist sie in der Regel nicht als lineare Kommunikation mit eindimensionaler Botschaft zu lesen, sondern als „offenes Kunstwerk“ (Umberto Eco). Dieser Status gilt ebenso für Medienkunst wie Video- oder Computerkunst – ein weiterer Berührungspunkt von Medien und Kunst –, indem die verwendeten medialen Elemente als Gestaltungsmittel und nicht als Transportmittel für Informationen und Meinungen eingesetzt sind. Insofern operieren also die Medien in ihrem Kommunikationsauftrag nicht primär mit dem Format Kunst. Das schließt nicht aus, dass gewisse Produktio-
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nen der Medien im Nachhinein einen Kunststatus erlangen, indem sie beispielsweise als Exponate in Museen aufgenommen werden. In diesem Zusammenhang ist nun nochmals auf die Textsorte Cartoon zurückzukommen, da Cartoons nicht selten einen hohen Grad von künstlerischer Gestaltung aufweisen. Vom primären Auftrag eines Mediums her ist aber der Cartoon in den betreffenden kommunikativen Kontext eingebunden und kann deshalb nicht eine ‚künstlerische Immunität’ und damit publizistische Unbelangbarkeit beanspruchen, wenn an die Informationsleistung des betreffenden Mediums die geltenden Maßstäbe angesetzt werden. Deshalb kann es nicht angehen, im Falle einer Verletzung des Pressekodex’ (oder beim Fernsehen einer Konzessionsverletzung) gegen die für die Information gültigen Regelungen die verfassungsmäßige Gewährleistung der Freiheit der Kunst anzuführen und sich damit aus der journalistischen Verantwortung zu stehlen. Das schließt indessen nicht aus, dass Cartoons, auch wenn sie journalistische Regeln bei ihrem primären Auftritt verletzt haben, post festum ein künstlerischer Status zugebilligt wird.
7. Sonderfall Politische Kunst Ein besonderes Problem besteht bei der so genannten Politischen Kunst, die von vornherein den Kunststatus beansprucht, aber primär eine öffentliche Meinungsbildung beabsichtigt. Ein Beispiel hierfür aus jüngster Vergangenheit bildet die als Event konzipierte Ausstellung „Swiss Swiss-Democracy“ von Thomas Hirschhorn, die im Centre Culturel Suisse in Paris im Dezember 2004 stattfand (Pietrasanta 2006). Die Installation setzte sich aus den für Hirschhorn typischen Requisiten von Occasionsmöbeln, bemaltem und beschriebenem Karton und üppig appliziertem braunen Klebeband zusammen. Die schon im Titel ersichtliche politische Ausrichtung verstand sich als Kritik an der (schweizerischen) direkten Demokratie. Als Einladungskarte zur Vernissage figurierte das Bild einer Folterszene im irakischen Gefängnis Abu Ghraib mit darunter gesetzten Wappen der drei Urkantone Uri, Schwyz und Unterwalden. Zur Ausstellung gehörte auch eine täglich stattfindende Performance, bei der in eine Abstimmungsurne erbrochen und auf das Foto eines bürgerlichen Mitglieds des Bundesrats uriniert wurde. Eine diskursive Auseinandersetzung fand nicht statt. Dass dieses eher konfuse Sammelsurium ein großes Medienecho fand, hing auch damit zusammen, dass die eidgenössische Kulturstiftung Pro Helvetia die Ausstellung finanzierte und der steuerzahlende Durchschnittsbürger daran Anstoß nahm, dass jemand, der die Schweiz in dieser relativ fantasie- und niveaulosen Art kritisierte, sich gleichzeitig vom schweizerischen demokratischen
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Staat finanzieren ließ. Eine heftige Debatte fand als Folge auch in den eidgenössischen Räten statt, mit dem Ergebnis, dass das Budget der Stiftung Pro Helvetia um eine Million gekürzt wurde. Nun ist, gemäß Artikel 21 der Bundesverfassung „die Freiheit der Kunst gewährleistet“. Und mit Georg Kohler, Professor für politische Philosophie an der Universität Zürich, kann man vertreten: „Im Zweifel sollte man sich für die Freiheit der Kunst entscheiden.“ (Swissinfo, 7. Dez. 2004). Die breite Diskussion, die in der Öffentlichkeit stattfand, drehte sich im Wesentlichen um die Frage, ob nicht auch der Kunst – wie für die Satire in Bezug auf Schutz der Menschenwürde und der Privatsphäre sowie hinsichtlich des strafrechtlichen Persönlichkeitsschutzes – gewisse Grenzen gesetzt seien. Schliesslich ist die Medienfreiheit ebenfalls durch die Verfassung gewährleistet, und gleichwohl bestehen rechtliche und moralische Regelungen zu ihrer Einschränkung. Solche Vorkehren sind übrigens von einer Auffassung von Freiheit her inspiriert, wie sie Montesquieu in seinem Werk „De l’esprit des lois“ vertreten hat: „La liberté politique ne consiste point à faire ce que l’on veut.“ Keine grenzenlose Freiheit also, sondern: „Dans un Etat, c’est-à-dire dans une société où il y a des lois, la liberté ne peut consister qu’à pouvoir faire ce que l’on doit vouloir.“ Die Freiheit des Wollens findet also ihre Begrenzung im Sollen, in den geltenden ethischen und gesellschaftlichen Normen. Im Falle des angeführten Beispiels müsste auch die weiter oben vorgenommene Unterscheidung von Kunstkommunikation und pragmatischer Kommunikation mitbedacht werden, wonach Kunst eben nicht auf eine lineare eindimensionale Aussage reduzierbar ist. Ohne hier das Problem allfälliger für die Politische Kunst generell bestehender Grenzen abschließend zu beurteilen, sei aber im Falle der Hirschhornschen Installation auf die merkwürdigerweise nicht aufgeworfene Frage hingewiesen, ob überhaupt ein solches Konstrukt als Kunst bezeichnet werden könne. Auffällig ist nämlich, dass ähnlich laufende Aktionen von Politischer Kunst mit noch ausfälligerer und obszönerer Verbal-Aggression – so die Darbietungen der beiden Rapper Stress und Gimma (vgl. Weltwoche Nr. 8.07: 13) – nur ein geringes öffentliches Echo auslösten. Erklärbar wäre diese Diskrepanz dadurch, dass der musikalischen Seite dieser Aktionen eine offenbar höhere künstlerische Qualität zugebilligt wurde als dem Hirschhornschen Konglomerat. Zwar ist die allgemeine Frage, was Kunst ausmache schon oft gestellt und in mannigfacher Weise beantwortet worden, meistens allerdings dahin, dass Kunst nicht definiert werden könne. Und kaum einer möchte eines Banausentums bezichtigt werden, etwa wie des Ausrufs des Kindes in Andersens Märchen „Des Kaisers neue Kleider“: „Der Kaiser ist ja nackt!“ Im Kontext von Bildbeurteilung für den Status Bild-Literarität (Bild als Kunst) bieten sich fol-
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gende sechs Kriterien an: 1. Technisches und handwerkliches Know-how, 2. Innovation, 3. Relevanz, 4. Repräsentativität, 5. Symbolhaftigkeit und 6. bleibende Wirkung (Doelker 2002: 151-153). Wenn man jedoch eine reduktionistische Betrachtungsweise vertritt, werden lediglich zwei Kriterien als notwendig erachtet: einerseits die Absicht, Kunst zu produzieren, und anderseits als Korrelat die Akzeptanz, d.h. der produzierende ‚Künstler’ muss auch auf (mindestens) einen Empfänger abstellen können, der sein Produkt als Kunst anerkennt. Dass die beiden genannten – fragwürdigen – Minimalkriterien noch unterboten werden können, hat kürzlich der bekannte Performance-Künstler und Popmusiker Dieter Meier postuliert: „Künstler ist jeder, der mit seiner Betätigung beabsichtigt, Kunst zu schaffen, und das in dieser Absicht Hervorgebrachte ist in jedem Fall Kunst.“ (NZZ, 23. März 2007, Nr. 69: 47). In dieser Definition ist also selbst der Abnehmer überflüssig geworden, und es genügt die schiere Intention, Kunst herzustellen. Was bei dieser Definition verblüfft, ist der hohe Anteil von Autismus und das fast rührende Risiko einer Selbstüberschätzung. Brisant ist indessen an dieser beliebig dehnbaren Öffnung des Kunstbegriffs, dass es in letzter Konsequenz nichts geben kann, was nicht (auch) den Status Kunst beanspruchen darf. Mit Blick auf die weiter oben erörterte notwendige Begrenzung der Medienfreiheit würde jedem Kommunikator die Ausweichmöglichkeit eingeräumt, sein Produkt als Kunst zu etikettieren und damit die verfassungsmäßig gewährleistete Kunstfreiheit zu beanspruchen.
8. Der „Ricochet“-Effekt Ob Kunst oder Nicht-Kunst – provokative Aussagen und Events lohnen sich für den Veranstalter meistens insofern, als sie – jenseits der Qualitätsfrage – über die Medien eine größere Anzahl Empfänger erreichen. Lohnend auch deshalb, weil es neben dem besagten ‚Direktschuss’ auch Prellschüsse, Abpraller – französisch ricochets – absetzt. Ricochet heißt entsprechend auch „Rückwirkung“, und par ricochet meint „auf Umwegen“. D.h. mit andern Worten, dass eine Botschaft, die unter Berufung auf Kunstfreiheit journalistische ‚Immunität’ erlangt hat, als Information in die offizielle Berichterstattung zurückfließen kann. Damit wird die ursprünglich manipulative Botschaft aber journalistisch nicht mehr belangbar, wenn sie als solche journalistisch korrekt wiedergeben wird. Die publizistische Leistung wird dann lediglich an der Richtigkeit der Übermittlung und nicht an der Richtigkeit des übermittelten Inhalts gemessen. Ein Parallelbeispiel aus der Werbung mag diese Strategie noch besser veranschaulichen. Über eine längere Zeit operierte die Benetton-Werbung mit pro-
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vokativen Bildkonfigurationen von Oliviero Toscani (z.B. blutbeflecktes Hemd eines gefallenen Soldaten, küssende Nonne, sterbender Aidskranker, etc.). Diese Botschaft gelangte zunächst zu den Konsumenten als die intendierte Textsorte Werbung. Gleichzeitig erregte sie aber einzelne Gemüter und fand deshalb Eingang in die Berichterstattung der Medien, die ja schließlich gehalten sind, über einen Anlass von öffentlicher Empörung zu berichten. So erreichte Benetton in zweiter Auswertung und erst noch gratis einen erweiterten Kreis von Kunden. Wenn dann im Nachhinein einer Darstellung Toscanis der Status von Literarität zugebilligt wurde und das Bild Eingang in ein Kunstmuseum fand, musste über dieses Event in der Kulturberichterstattung abermals informiert werden: dritte Staffel der Auswertung – und ebenfalls ohne Kosten für teure Werbemittel. Auf ähnliche Weise kann nach den oben dargelegten Ausführungen eine rein politische unsachliche Botschaft unter der Tarnkappe ‚Kunst’ wirksam verbreitet werden, ohne dass man sich dabei dem Vorwurf von Desinformation aussetzt.
9. Fazit und Perspektiven In der Medienbildung, d.h. der Qualifizierung von Konsumenten als kritische Mediennutzer, ist deshalb vermehrt das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass es für den Kommunikator über das Ausweichen in andere Textsorten Mittel und Wege gibt, die bestehenden Regelungen zur Gewährleistung einer korrekten Berichterstattung zu umgehen. Bei der Handhabung klassischer Formen wie der Satire fallen zudem Unterschiede gegenüber der älteren publizistischen Tradition auf: Diente früher die Textsorte Satire noch dazu, „das Wahre als ein Lachendes zu sagen“, verkommen heutige ‚satirische’ Formen nicht selten zur Variante, „hämisch Unwahrheiten zu verbreiten“. Und waren einmal ironisierende und parodierende Stilmittel Möglichkeiten, „faktische gesellschaftliche Ohnmacht durch geistige Freiheit subjektiv zu überwinden“, scheut sich heutzutage eine geballte Macht von Medienkonzernen nicht, sich mitunter auf verfemende Kampagnen einzulassen (Forster 2005). Und die spitze, aber elegante Feder früherer Kolumnisten wird zunehmend durch die Verbalkanone von grobschlächtigen persönlichen Beleidigungen ersetzt. Das hohe Gut der Medienfreiheit hätte Besseres verdient. Es wäre indessen ungerechtfertigt, aus diesem negativen Befund, der ja längst nicht alle Medien und erst noch nicht in gleichem Ausmaß betrifft, die weitere Entwicklung linear zu extrapolieren. Zum einen braucht es zwar wie immer Monierungen von außen (was der vorliegende Beitrag versucht), zum andern ist aber eine Gegenbewegung schon im System selber eingebaut.
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Wenn also die bekannten Gründe für abnehmende Qualität der Medienangebote – Medien als Ware, Verdrängungswettbewerb, Konkurrenz und Beschleunigung durch Internet, mangelnde Zeit für Verifizierung, zunehmende Vermischung von Information, Unterhaltung und Werbung, Beimengung von blogähnlichen Texten zu professionell beschafften Nachrichten und Informationen – dazu führen, dass die oben signalisierten Problemlagen weiterhin noch zunehmen sollten, wird es einen Punkt in dieser Entwicklung geben, an dem die vorgelegten Medienprodukte dem Publikum nicht mehr länger als akzeptable Beiträge zur Meinungsbildung, sondern als Parodie ihrer selbst, just also als Realsatire erscheinen. Ein solches Umschlagen eines allgemeinen Rezeptionsverhaltens wird es – auch für den Markt! – wieder lohnend machen, einen qualitativ befriedigenden Journalismus, inbesondere auch im Bereich der Printmedien, zu reinstallieren. Besonders um das Schicksal der Zeitungen machen sich Verleger bekanntlich Sorgen; eine neue Verlässlichkeit von Akteuren, die Gewähr für eine qualifizierte Meinungsbildung bieten, mag dann als maßgebender Faktor für die Schaffung einer zukünftigen Medienkultur wiederentdeckt werden.
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Arnold Fröhlich
„Mission accomplished“ – Manipulierte Bilder machen Politik
Die Macht funktioniert ohne Argumente, sie braucht Bilder. Peter Bichsel (Schriftsteller), 2007 Die bewusste und intelligente Manipulation der Angewohnheiten und Meinungen der Massen ist ein wichtiges Element in einer demokratischen Gesellschaft. Diejenigen, welche die versteckten Mechanismen einer Gesellschaft manipulieren, stellen eine unsichtbare Regierung dar und sind die echte herrschende Macht. Edward Bernays, Propaganda, 1928 (zit. nach Barben 2006: 9)
Welche Bedeutung transferiert ein Bild ins Bewusstsein des Betrachters? Das ist die zentrale Frage dieses Beitrags, der aufzuzeigen versucht, mit welchen inhaltlichen, technischen und durch die Bildwahl bestimmten Maßnahmen diese Bedeutung seitens der Medienproduzenten beeinflusst und gesteuert werden kann. Aus den kommunikationswissenschaftlichen Erkenntnissen, die darlegen, wie Produzenten und Rezipienten massenmedialer Aussagen asymmetrisch kommunizieren, ist bekannt, wie ein medialer ‘Text’ – der aus verbalen, visuellen oder auditiven Elementen bestehen kann – von Rezipienten nie in völliger Kongruenz zur vom Produzenten intendierten Textaussage interpretiert wird (Doelker 2005: 59). Diese in zahlreichen Publikationen dargelegte wahrnehmungspsychologische Gesetzmäßigkeit, die hier darum nicht weiter ausgeführt werden soll, trifft insbesondere für die Informationsvermittlung mittels Bildern und Filmen zu. Denn im Gegensatz zu einer Semiotik und Grammatik der gesprochenen und geschriebenen Sprache existiert eine solche in vergleichbarer Verbindlichkeit für die visuelle Kommunikation nicht. Ebenso fehlt uns ein verbindlicher „Thesaurus des Bildes“ (a.a.O. 88), der uns helfen würde, im Folgenden einer Systematik möglicher Einteilungskriterien für die Bewertung von Bildern und ihrer Bedeutungen zu folgen. Ein Bild, auch ein bewegtes, ist immer eine Re-Konstruktion einer Realität, was uns dazu verleitet, das mit den Sinnen Erfasste als die Wirklichkeit selbst zu nehmen. Mit der Erfindung der Fotokamera schien erstmals eine präzise Reproduktion der Wirklichkeit, ein „objektives Abbild“ der vorgegebenen Realität
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möglich geworden zu sein (Skov 2004: 6). Die in zahlreichen Studien bei der Bevölkerung nachgewiesene erhöhte Glaubwürdigkeit von dokumentarischen Aufnahmen im Fernsehen gegenüber gedruckten Texten scheint dem Auge eine objektive Wahrnehmung der Realität zuzubilligen. Doch schon Kant spricht davon, wie unsere Welt-Wahrnehmung lediglich ein Ergebnis der Informationsverarbeitung unserer Sinne darstellt. Eine „objektive Erkenntnis der Welt“ über den Sehsinn ist daher nicht möglich, weil es einen deutungsfreien Zugriff auf die Realität über ein Medium nicht gibt. „Das, wozu unsere Sinnesorgane in der Lage sind, in für uns lesbare Informationen zu übersetzen, entspricht unserem Wirklichkeitsempfinden und wird daher als wirklich wahrgenommen. Dies ist aber keineswegs die Realität.“ (Röll 1998: 49). Für die folgenden Ausführungen ist diese Erkenntnis von Belang, weil selbst in der Analyse und Infragestellung einer medial vermittelten Realität sich uns eine objektivierte dahinter, also die „wirkliche Realität“, nie mit letzter Gewissheit erschließt. Jede textgebundene oder visuelle Informationsvermittlung geschieht immer über einen technischen Verarbeitungsprozess, der offensichtlich macht, wie der idealistische Glaube vieler Rezipienten und Rezipientinnen an die Wiedergabe einer „objektiven Realität“ durch die Medien illusionistisch bleiben muss. Nun besteht allerdings ein fundamentaler Unterschied zwischen den Möglichkeiten der Bedeutungsvermittlung von Texten und Bildern. Fotografierte oder gefilmte Bilder brauchen eine „abbildbare“ Realität, womit sie sich grundsätzlich von der Herstellung rein fiktiver Texte unterscheiden, die unter Umständen überhaupt keine Entsprechung mit einer tatsächlichen Realität aufzuweisen brauchen. So waren zum Beispiel die zahlreichen Interviews mit Prominenten, die der Journalist Tom Kummer in den Neunzigerjahren so renommierten Organen wie SPIEGEL, ZEIT, SÜDDEUTSCHE ZEITUNG und TIMES, anzudrehen verstand, von A bis Z erfunden (Pohr 2005; Vogel 2007). Und die unter der falschen Identität Binjamin Wilkomirski in einem angesehenen Verlag veröffentlichten Erinnerungen an dessen Kindheit in einem deutschen Konzentrationslager, mit denen der Autor jahrelang zu Lesungen von Schule zu Schule reiste, gab es, gerichtlich festgestellt, nur in dessen Fantasie.
1. Bilder als Ikonen von Ideologien Auf Grund unserer Lebenserfahrung und unserem jeweiligen soziokulturellen Umfeld, in dem Bilder eine lange Tradition haben, ist diesen immer auch eine konnotative Bedeutung immanent. Darauf hat Roland Barthes hingewiesen, indem er darauf aufmerksam gemacht hat, wie mit der Flagge einer Nation emoti-
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onale Werte – wie Heimatgefühle, Ehre, Patriotismus, nationaler Zusammenhalt usw. – mit zum Bedeutungsgehalt ihres Abbilds gehören, also konnotiert sind. Bereits in der Antike wurden Standbilder von Herrschern in den Dienst ihrer Macht gestellt. Römische Kaiser ließen Statuen von sich aufstellen, um sich als sieghafte Feldherren in den Köpfen der Untertanen zu repräsentieren. Dass zwei- und dreidimensionale Abbildungen von Persönlichkeiten noch heute auf einer symbolischen Ebene mit der inkarnierten Person identifiziert werden, beweisen die aus den Medien bekannten Bilder, auf denen zu erkennen ist, wie das Volk bei Umstürzen mit diesen Abbildern umgeht: Triumphierend zogen 1956 Aufständische den abgeschlagenen Kopf einer überlebensgroßen Stalin-Statue an Seilen durch die Straßen Budapests. Anlässlich des zweiten Golfkriegs markierte 2003 in Bagdad der Sturz einer Bronzestatue Saddam Husseins von ihrem Sockel für die Weltöffentlichkeit bildlich das Ende seines Regimes. Auch die von den Taliban vorgenommene Zerstörung der in Afghanistan in den Fels gehauenen Buddhastatuen, die zum Weltkulturerbe erklärt worden waren, beruhte letztlich auf der Annahme, mit der Vernichtung des Abbilds die darin inhärente Ideologie zu beseitigen. Wie stark und folgenreich Konnotationen selbst in nicht realistischen Bildern wirken, hat sich 2006 anlässlich des sog. Karikaturenstreits gezeigt: Weil in einer dänischen Zeitung einige Karikaturen abgebildet worden sind, die nach Auffassung muslimischer Gläubiger den Propheten Mohammed verhöhnten, ist in zahlreichen arabischen Städten die dänische Fahne öffentlich verbrannt worden. Diese symbolische „Vernichtung“ eines angeblich feindlich gesinnten Landes mutierte im Laufe weniger Tage mit dem Plündern und Abfackeln dänischer Botschaftsgebäude schließlich zu einer realen physischen Zerstörung (Schapira 2007: 5). Diese Eskalation beweist die Macht, die Bilder – zusammen mit dem Aufputschen der Massen durch fundamentalistische Drahtzieher – über das Denken und Handeln der Menschen auszuüben vermögen. Selbstverständlich ist diese Affäre nicht losgelöst vom Zusammenhang mit den kriegerischen Auseinandersetzungen im Irak, in Afghanistan und im Libanon zu werten. Sie dokumentiert zudem den „Zusammenprall der Zivilisationen“, wie er sich in Kulturen mit einem eingeschränkten Bildercode in Konfrontation mit den modernen Medien ergibt. Diese Beispiele für den ideologischen Stellenwert von Ikonen der Macht und von Bildern sollen darauf aufmerksam machen, wie infolge der heute technisch möglich gewordenen massenhaften Verbreitung von Bildern und Filmen kulturelle oder religiöse Vorstellungen aufgebrochen und dramatisch verändert werden. Entsprechend entwickeln und modifizieren sich gesellschaftliche Normen und Werte durch den Einsatz von Bildern in einem publizistischen Kontext – sowie letztlich unter Umständen auch die jeweiligen Machtverhältnisse. Am
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deutlichsten wird das spürbar in Ländern, in denen bis vor wenigen Jahren die Verbreitung von Bildern über die Massenmedien kaum oder lediglich in einem eingeschränkten Rahmen stattfand. Viele Menschen, die in ihrer Soziokultur mit gewissen religiös begründeten Einschränkungen bezüglich visualisierter Darstellungen leben, erhalten nun via der überall vorhandenen Satellitenschüsseln die Abbilder einer ihnen fremden kulturellen Welt frei Haus geliefert.
Abb. 1: Satellitenschüsseln auf den Dächern von Aleppo (Syrien) Die über Satelliten konsumierten Bildinhalte konfrontieren die Bevölkerung in islamischen Ländern mit kulturellen Phänomenen und einem Bilderrepertoire, die den autochthonen ethischen Normen nicht selten zuwiderlaufen. In westlichen Demokratien ist die Informationsfreiheit ein verfassungsmäßiges Grundrecht, das zum Beispiel im Iran nicht gilt. Dort haben die Regierenden immer wieder Anläufe unternommen, ihrer Bevölkerung den Empfang von Fernsehprogrammen über Satellitenschüsseln zu verbieten (Taheri 1994 und 1995), wobei Verstöße sogar Todesurteile zur Folge hatten (BLICK 1995). „Die von ihm [Präsident Achmadinedschad, A.F.] als bedrohlich empfundene westliche Kultur will er bekämpfen, indem er Tausende von Satellitenschüsseln in Teheran konfiszieren lässt.“ (DIE WELTWOCHE 2005). Allerdings treibt die Herrschenden und Glaubenswächter nicht allein die vor dem entsprechenden kulturellen Hintergrund nachvollziehbare Sorge um die Verletzung religiöser Gesetze durch Darstellungen von Pornografie oder westlicher Lebensart zu derart drakonischen Maßnahmen. Dahinter stand und steht nicht zuletzt die Absicht, die von der Be-
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völkerung konsumierten Bilder aus politischen und religiösen Gründen zu kontrollieren, was in totalitären Gesellschaftssystemen schon immer ein Mittel zur Herrschaftssicherung darstellte. Die flächendeckende Kontrolle über die (Fernseh-)Bilder funktioniert in Kuba noch 2007 über ein totales Satellitenschüsselverbot für die einheimische Bevölkerung, das von der Polizei scharf überwacht und wo der illegale Besitz getarnter Antennen rigoros bestraft wird (Leuthold 2007: 20).
2. „Gefundene“ und „erfundene“ Bilder: Montagetechniken Selbstverständlich gibt es auch in demokratischen Staaten mit einer freiheitlichen Informationsgesetzgebung eine gewisse „Kontrolle“ über das in den Medien verbreitete Bildmaterial. Diese Kontrolle findet dort – mit einigen bemerkenswerten Ausnahmen, die noch darzulegen sind – allerdings nicht über eine institutionalisierte oder faktische Zensur, als vielmehr über Techniken einer mehr oder weniger subtilen Manipulation statt. Ihre Mechanismen sollen im Folgenden aufgezeigt werden. Dazu muss allerdings zunächst definiert werden, was hier unter „Manipulation“ verstanden wird. Insofern als sich der Begriff vom lateinischen „manus“ ableitet, verweist er auf die „Handarbeit“, der notwendigerweise jede mediale Bedeutungsvermittlung unterliegt (Doelker 2005: 82). Für Enzenberger (1970: 124) setzt daher „jeder Gebrauch von Medien (...) Manipulation voraus“. Derart allgemein interpretiert, lässt sich hingegen nicht mehr unterscheiden zwischen der „normalen“ Wiedergabe eines Bildes und seiner absichtsvollen Inszenierung oder nachträglichen Veränderung durch die Kommunikatoren. Ich schließe mich daher hier der Definition von Zöchbauer (1975: 74) an, der die Manipulation als indirekte Steuerung der Meinungen oder Verhaltensweisen von Personen definiert, wobei ihnen selbst diese Steuerung verborgen bleibt. Diese beiden Aspekte, dass nämlich eine lenkende Einflussnahme auf den Inhalt eines Kommunikats einerseits intentional mit dem Ziel einer Täuschung geschieht sowie andererseits vom Rezipienten nicht erkannt werden soll, sind konstitutiv für die hier verwendete Definition von Manipulation. Die betrügerische Absicht, die hinter einer zielgerichteten Veränderung „objektiver“ Realitäten vor Ort oder in nachträglichen Eingriffen in das Informationsmaterial besteht, setzt Manipulation daher mit „ethisch unkorrektem Handeln“ gleich (wikipedia 2007: Fotomanipulation). Wenn also beispielsweise die absichtsvolle Veränderung eines Bildes offensichtlich ist, so handelt es sich gemäß Zöchbauers Definition demnach nicht um Manipulation. So sind die als Bildcollagen erkennbaren „argumentierenden
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Fotomontagen“ eines John Heartfield (Diederich 19773; Siepmann 1977), der mit seinen Karikaturen, Plakaten und Postkarten die Nazis lächerlich machte und bereits vor dem Zweiten Weltkrieg deren menschenverachtende Ideologie demaskierte, keine Manipulation. Schon beim 1924 von Ernst Friedrich hergestellten Antikriegs-Pamphlet „Krieg dem Kriege“ war die Technik der mit einer provokativen Kontrastmontage erreichten Botschaft transparent und daher nicht manipulativ. Friedrich stellt – erstmals in der Geschichte der Fotoreproduktion – in seinem Buch Bilder und Texte einander gegenüber, die die Meinung des Betrachters im Sinne der „Nie-wieder-Krieg!“-Bewegung beeinflussen sollen: Das Bild des im holländischen Exil Tennis spielenden deutschen Kronprinzen wird dem Bild eines Kriegsverletzen gegenübergestellt, dem für seine Arbeit in der Fabrik eine Prothese aus Metallstäben den amputierten Arm ersetzen muss. Unter diese Fotos setzt Friedrich die Legende: „Der deutsche Kronprinz als Schwerarbeiter (...), (...) und der kriegsverletzte Proletarier bei seinem täglichen Sport.“ (Ernst 198416) Mit ihren politischen Fotomontagen und visuellen Parodien haben seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts Klaus Staeck und Jürgen Holtfreter (19772) die Meinung der Bevölkerung im Sinne einer antikapitalistischen und antifaschistischen Propaganda zu beeinflussen versucht. Wenn Holtfreter im berühmten Bild der amerikanischen Soldaten, die 1945 auf einer eben eroberten Pazifikinsel die Flagge der USA aufrichten, diese in seiner Collage durch eine Coca-Cola-Fahne ersetzt, so ist das Ziel der Aussage und die dafür angewandte Technik für jeden Betrachter klar erkennbar. Die Technik und Absicht Holtfreters sind offensichtlich und seine Fotomontage daher auch keine Manipulation. Die Frage, inwiefern eine Fotografie eine vorgefundene Wirklichkeit abbildet oder eine solche vom Fotografen „inszeniert“ ist, stellt sich seit ihren Anfängen. Bereits die älteste bekannte Daguerrotypie, eine Aufnahme des Boulevard du Temple in Paris von 1838 ist eine Inszenierung. Der als Erfinder der Fotografie geltende Louis-Jacques Mandé Daguerre postierte für seine Aufnahme einen Assistenten, der sich dort während der gesamten Belichtungszeit von zwanzig Minuten in regungsloser Pose den Schuh putzen ließ (Sachsse 1988: 44). Demgegenüber ist das erste Nachrichtenbild, eine Aufnahme der Hamburger Innenstadt nach dem großen Brand von 1842 (Höpker 1988: 20), ein „vorgefundenes“ Motiv. Durch die ganze Geschichte der dokumentarischen Fotografie zieht sich diese Unterscheidung: Die Tätigkeit des „findenden“ Fotografen und Filmers kann als perzeptuell, als sinnlich-empfangendes Verhältnis zur Außenwelt bezeichnet werden, das diese auf vorhandene Gegebenheiten hin absucht (Müller-Pohle 1988: 12). Dieser Haltung gegenüber steht jene des „Erfinders“, die auf einem konzeptionellen Ansatz gründet, der von einer bewussten und inszenierten Bilderherstellung ausgeht.
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Hier interessiert uns das Spektrum der möglichen Stationen und Techniken der Bildmanipulation, die bei der Entstehung visuellen Materials vor Ort oder im Nachhinein vorgenommen werden.
3. Die „richtige Perspektive“: Bildermanipulation vor Ort Ein besonders deutliches Beispiel, wie mit einem Bild bei den Leserinnen und Lesern von Printmedien ein bestimmter Eindruck erweckt werden soll, lieferte 1998 die schweizerische Zeitschrift DER BEOBACHTER. Unter dem Grauen erregenden Titel „Gralsbewegung – Kindsmord im Sektenwahn“ vermittelten fünf rot eingefärbte Bilder von Häusern einiger Sektenmitglieder den Eindruck einer gefährlichen und geheimen Sekte, die sich hinter hohen Gittern und Drahtzäunen verschanzt. Wie ein Augenschein vor Ort durch eine Lokalzeitung ergab (Osswald 1998), entstand der Eindruck der massiven Vergitterung einzig durch die Froschperspektive der Kamera.
Abb. 2: Basellandschaftliche Zeitung, 08.02.1998, S. 19 Dieses Musterbeispiel für den konzeptionellen Ansatz illustriert die absichtsvolle Bildherstellung und ist exemplarisch für die oben wiedergegebene Definition von Manipulation: Die Leserschaft kann die Mechanismen der Bildgestaltung, mit denen ihre Meinung beeinflusst werden soll, nicht erkennen, weil ihr die realen Gegebenheiten vor Ort nicht bekannt sind. Der Fall hat insofern auch eine
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politische Dimension, weil er – zusammen mit offensichtlich manipulierten Textzitaten in der erwähnten Zeitschrift – zu einer Gerichtsklage und zur öffentlichen Diskussion über gesetzliche Maßnahmen gegen das Sektenwesen in der Schweiz führte. Von politisch weiter reichender Bedeutung war indessen ein Bild, in dem ebenfalls ein Zaun eine entscheidende Rolle spielt. Es ging im August 1992 um die ganze Welt und hat wesentlich dazu beigetragen, den Krieg gegen Serbien gegenüber der Weltöffentlichkeit zu legitimieren. Die Fotografie eines ausgemergelten Mannes hinter dem Stacheldraht eines Lagers der bosnischen Serben kam in die Nachrichtensendungen der Fernsehsender sowie auf die Titelseiten von Zeitungen und Magazinen in Europa und in den USA.
Abb. 3: Die Weltwoche, 09.01.1997, S. 4 Versehen wurde das Bild auf den Titelseiten mit folgenden Kommentaren: „Must it go on? – The Balkan Muslim prisoners in a Serbian detention camp“ (TIME; zit. nach Deichmann 1997), „Der Beweis: Szenen wie aus fünfzig Jahre alten Filmen über Konzentrationslager der Nazis.“ (THE GUARDIAN; Übersetzung Deichmann). Dieser für die ganze Welt hochgradig konnotierte Vergleich mit dem Holocaust ganzer Bevölkerungsgruppen durch die Nazis war es schließlich, der in der öffentlichen Meinung mehrheitsbildend für einen militärischen Einsatz gegen Serbien wirkte (Vulliamy 1994: 202). Auf Grund der an
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den Kriegsverbrecherprozessen in Den Haag zutage getretenen Fakten können Massaker bosnischer Serben an der muslimischen Bevölkerung heute zweifelsfrei nachgewiesen werden. Trotzdem: Das bekannteste Bild aus dem Bosnienkrieg ist eine durch den Kamerastandpunkt erwirkte „Fälschung“. Recherchen, die Jahre später veröffentlicht worden sind (Deichmann a.a.O), haben ergeben, dass der abgebildete Mann kein Muslim, sondern ein seit über zehn Jahren tuberkulosekranker Serbe ist. Die abgebildeten Männer befinden sich auch nicht hinter einem Stacheldraht. Vielmehr hat das britische Journalisten- und Reporterteam aus der Umzäunung eines Materiallagerplatzes heraus mit einem Teleobjektiv die Männer eines Flüchtlingslagers gefilmt, die neugierig dem Tun der Reportergruppe zuschauten. Dass der Maschen- und Stacheldrahtzaun an der „falschen“ Seite der Pfosten angebracht ist, machte andere Journalisten stutzig und die Entstehung des Bildes wurde daher mehrfach recherchiert. Die 1992 in Bosnien entstandenen Fotos und Filmaufnahmen wurden 1996 am Kriegsverbrechertribunal in Den Haag als Beweisstücke der Anklage vorgeführt. Der als Zeuge der Anklage anwesende Reporter, der die Aufnahmen gemacht hatte, wollte allerdings die Szene mit dem Stacheldraht nicht vorführen, „weil sie zu falschen Schlüssen führen könnte“ (Deichmann a.a.O).
4. Fotografien als Waffe: Inszenierungen vor der Kamera Wie Gerhard Paul (2004) in seinem Standardwerk „Bilder des Krieges – Krieg der Bilder“ dokumentiert, wird die Fotografie seit ihren Anfängen als Waffe zur Beeinflussung der Öffentlichkeit eingesetzt. Dazu gibt es Hunderte von bekannten Beispielen (Yapp 1996), viele davon sind nachträglich der Inszenierung verdächtigt oder als solche entlarvt worden. Dazu gehören das „legendärste und meistveröffentlichte Kriegsbild der Geschichte“ (Koetzle 2002: 21) von Frank Capa vom fallenden Spanienkämpfer, der eben von einer Kugel getroffenen worden ist oder das Original des bereits erwähnten Bilds der amerikanischen Soldaten, die 1945 auf einer Pazifikinsel die amerikanische Flagge hissen. Ebenfalls inszeniert und nachträglich retuschiert ist das millionenfach reproduzierte, den Sieg der Sowjets über Nazideutschland symbolisierende Foto mit der Aufpflanzung der sowjetischen Fahne über den Ruinen des Berliner Reichstags im Mai 1945 (Ankowitsch 2006: 32). Die Inszenierung von Bildern zwecks politischer Beeinflussung der öffentlichen Meinung geht bis in die Anfänge der Fotografie zurück. Mit gestellten und auf Cartes-de-visite massenhaft verbreiteten Bildern von der Erschießung von 62 Geiseln durch die Kommunarden in Paris am 26. Mai 1871 gelang es den bürgerlichen Kräften, den Hass gegen die Revolutionäre zu schüren (Yapp
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1996: 46). Die dem heute an fotografische Bilder gewöhnten Auge schnell einmal erkennbare Inszenierung profitierte vor anderthalb Jahrhunderten noch vom fast uneingeschränkten Glauben an die Realitätsabbildung durch das neue Medium Fotografie. Heute sind Inszenierungen raffinierter, manchmal nicht nachzuweisen und daher umstritten. Als Beispiel dafür mag ein Bild gelten, das im Juni 2006 um die Welt ging und das die öffentliche Meinung aufgewühlt hat.
Abb. 4: Tages-Anzeiger, 21.06.2006, S. 7 (Original in Farbe) An einem Strand von Gaza detonierte eine mit Metallkugeln gefüllte Mine oder Artilleriegranate inmitten einer achtköpfigen Familie, die sich an einem Feiertag dort zu einem Picknick niedergelassen hatte. Einzig die zehnjährige Tochter überlebte die Explosion, weil sie in diesem Moment gerade im Meer gebadet hat. Das blutige Picknick machte Huda Ghalija innerhalb von wenigen Stunden weltweit bekannt. Das hat sie dem Kameramann Zakarjia Abu Harbed zu verdanken. (...) Seine Agentur Ramattan News Agency, die über Büros in Ramallah und Gaza City verfügt, verkaufte die herzzerreissenden Bilder der hysterisch und in Tränen aufgelösten Huda Ghalija an Fernsehsender in der ganzen Welt. (...) In der arabischen Welt stand die Ursache der Tötung der GhalijaFamilienmitglieder schon am Freitag fest: Israel. Zu dieser Behauptung beigetragen haben auch Archivbilder von israelischen Soldaten, die Artilleriegeschosse abfeuern, die manche arabische Fernsehsender in den Film von Kameramann Harbed hineinschnitten. (Schmitz 2006).
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Der Nahost-Korrespondent des TAGES-ANZEIGERs, die neben einem Boulevardmedium auflagenstärkste Tageszeitung in der Schweiz, zählt in seinem Artikel indessen eine ganze Reihe von Fakten auf, die die Interpretation, die Familie sei durch eine israelische Granate ums Leben gekommen, unglaubwürdig machen sollten. Auf der Grundlage des abgedruckten Bilds sind die meisten der von Schmitz angeführten Argumente – wie ein offenbar fehlender Explosionskrater, die trockene Straßenkleidung des Mädchens, Hamas-Männer, die Trümmer wegräumen statt zu helfen usw. – für uns in Europa unüberprüfbar. Doch das im Tages-Anzeiger reproduzierte Bild wirft tatsächlich einige kritische Fragen auf: Welches ist der Standort des Fotografen am Sandstrand von Gaza, da er aus einer Höhe von mindestens drei Metern gefilmt haben muss? Warum ist die Leiche des Vaters nur bis zur Brust bedeckt, da doch toten Personen normalerweise auch im Nahen Osten, was zahlreiche andere Fotos beweisen, das Gesicht bedeckt wird? Schmitz mutmaßt daher, am Strand von Gaza sei eine von den Palästinensern vergrabene Landmine explodiert resp. die Explosion sei gar von den Palästinensern inszeniert und die Opfer bewusst in Kauf genommen worden, um die Weltöffentlichkeit gegen Israel aufzubringen. Auf Grund verschiedener Bilder, die über die palästinensische Nachrichtenagentur an die Weltöffentlichkeit gelangten, tauchte in Internet-Blogs (eureferendum.blogspot, 2007) im August 2006 der Verdacht auf, einige Fotos über die Folgen israelischer Luftangriffe könnten inszeniert sein. Blogger haben herausgefunden, wie ‘zufälligerweise’ an verschiedenen Orten immer die gleichen zwei palästinensischen ‘Helfer’ tote Kinder in die Kameras halten (Eigenmann 2006a und 2006b; Schmid J. 2006). Unter der angegebenen Website und youtube (detaillierte Angaben in der Bibliografie) belegen Fotos und Filme diese These eindrücklich. Die beiden inzwischen als Hizbollah-Aktivisten identifizierten Männer heißen in den Blogs Mr. Green Helmet und Mr. White Tee-Shirt. Haben die Blogger Recht, dann präsentiert der Erstgenannte den Pressefotografen schon seit 1996 immer wieder tote Kinder.
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Abb. 5: Tages-Anzeiger, 02.08.2006, S. 6 (Original in Farbe) Obwohl diese Erkenntnisse Thorsten Schmitz’ Verdacht stützen würden, das Unglücks am Strand von Gaza könnte von palästinensischer Seite inszeniert worden sein, wurde diese These einen Monat später widerlegt. Eine Delegation der unabhängigen Organisation Human Rights Watch kam nach einer Untersuchung des Vorfalls zum Schluss, dass ein früherer israelischer Blindgänger die Ursache der Explosion gewesen ist (NZZ 2006).
5. Das nackte Elend in Person: Bildauswahl Bildinhalte brauchen indessen nicht in böswilliger Absicht in Szene gesetzt zu werden, um bei den Rezipienten und Rezipientinnen eine bestimmte Interpretation auszulösen. Dafür ein Beispiel: Im Spätsommer 2005 wurde die Zentralschweiz von einer Unwetterkatastrophe heimgesucht, die in den schweizerischen Medien während Tagen das Hauptthema ihrer Berichterstattung war. Dabei wurde unter anderem der schweizerische „Umweltminister“, Bundesrat Moritz Leuenberger fotografiert, wie er das Katastrophengebiet besucht.
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Abb. 6: Tages-Anzeiger, 27.08.2005, S. 3 (Original in Farbe) Dieses Bild, das auf den ersten Blick durchaus als perzeptuell, als Abbild der Wahrnehmung einer vor Ort vorgefundenen Realität durchgehen mag, hat in der Öffentlichkeit eine Welle von Reaktionen ausgelöst, die sich in Leserbriefen niederschlug. Moritz, mir graut vor dir. Das also ist das Bild eines unserer Landesväter, der uns verzagte Schweizer aus dem Elend herausführen soll. Uns Mut machen müsste in schweren Zeiten? Ein Moritz Leuenberger, der wie ein begossener Pudel hilflos im Schlamm steckt? Symbolträchtiger geht’s wohl nimmer. Ich sehe einen Jammerlappen, einen Ritter von der traurigen Gestalt, Sinnbild einer verzagten Schweiz – kurz das Zagen, Zaudern und Zögern in einer Person. (TAGES-ANZEIGER 2005)
Oder: Da steht ein klapperdürrer Leuenberger im Regenmantel verloren als Katastrophentourist knietief im Wasser. Mit einem Gesicht, das seine ganze Ratlosigkeit zum Ausdruck bringt. (...) Das nackte Elend in Person. Was will uns dieses Bild sagen? Lasset alle Hoffnung fahren. Wir, die Regierung, können gar nicht regieren. (a.a.O. 2005)
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Ich kann nicht beurteilen, ob die Redaktion der Zeitung ihren Leserinnen und Lesern mit diesem Bild das sagen wollte. Eine Betrachtung der hier eingesetzten fotografischen Mittel lässt hingegen schnell erkennen, wie ein Teil der offenbar negativen Wirkung auf die Verwendung eines starken Weitwinkelobjektivs zurückzuführen ist, das die Proportionen zwischen Unter- und Oberkörper verzerrt. Die im gleichen Verlag wie die erwähnte Tageszeitung erscheinende Wochenzeitschrift FACTS hat nur vier Tage später in einem Bericht über die nämliche Unwetterkatastrophe ein Bild des rechtsbürgerlichen Verteidigungsministers und damaligen Bundespräsidenten Samuel Schmid veröffentlicht, der wie sein Amtskollege Leuenberger ebenfalls das Katastrophengebiet besucht hat (Fahmy/Schmid 2005: 16). Wie wird der Magistrat hier dargestellt? Angeflogen mit einem imposanten Militärhelikopter, steht er – ganz Chef und Herr der Situation – im ArmeeRegenmantel da und scheint den Umstehenden Anweisungen zu erteilen.
Abb. 7: FACTS, 01.09.2005, S. 16 (Original in Farbe) Seine vom Fotografen festgehaltene – „imperiale“ – Geste markiert seit Tausenden von Jahren den Herrschaftsanspruch: Eine Statue des „göttlichen“ Kaisers Augustus sowie viele Standbilder von Lenin oder die Monumentalstatue des „Grossen und Geliebten Führers“ Kim Il Sung in der nordkoreanischen Haupt-
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stadt stellen den Herrscher mit ausgestrecktem Arm und der hinweisenden rechten Hand dar, die den „rechten Weg“ weist. Der von FACTS vermittelte Eindruck eines gegenüber dem Umweltminister souveränen Bundespräsidenten entsteht durch die von der Redaktion getroffene Bildauswahl. Dafür standen dieser bestimmt Hunderte von Fotografien über die Naturkatastrophe zur Verfügung und so stellt sich die Frage, mit welcher Intention schließlich gerade dieses Bild seinen Weg ins Heft gefunden hat. Denn die bewusste „Inszenierung“ des Fotos sowohl durch den Protagonisten als auch den Bildreporter lässt sich anhand folgender Punkte nachempfinden: x x x x
der Auftritt per großem und daher imponierendem Militärhelikopter, der Befehlsgewalt insinuierende Armee-Regenmantel (gegenüber dem farbigen Original ist in der s/w-Reproduktion sein Tarnfarbenmuster nur schlecht zu erkennen), die als Befehlsempfänger des Bundespräsidenten wirkenden lokalen Honoratioren, die „freie Gasse“ die wie in einer Theaterinszenierung geöffnet wird, um den Blick auf den Verteidigungsminister im visuellen Zentrum und auf das Fluggerät im Hintergrund – einem der Insignien seiner Macht über die Armee – zu lenken.
Im Gegensatz zu den Meinungen des Publikums über die „traurige Gestalt“ des Umweltministers gab es bei diesem Bild offensichtlich keine negativen Reaktionen. Die gouvernementale PR-Aktion im Katastrophengebiet ist im – sicher unabgesprochenen – Zusammenspiel zwischen Bundespräsidenten, Fotografen und Redaktion jedenfalls geglückt. Die Vermutung liegt auf der Hand, dass der medienwirksame Auftritt des Bundespräsidenten von Spin Doctors in seinem Departement angerissen und betreut worden ist. Je nach Quelle sind in Bern zwischen 275 bis 750 Public-Relations-Experten (Barben 2006: 9) für die Kommunikation der Bundesräte mit der Öffentlichkeit und der Vermittlung ihrer Politik im Lande zuständig. Es ist ihnen gelungen, die Presse und das ebenfalls vor Ort präsente Fernsehen für die Pflege des politischen und persönlichen Images des Bundespräsidenten sowie seines Militärdepartements in der Bevölkerung zu instrumentalisieren. Signifikant für die Wirkung, die mit der bewussten Auswahl von Bildern hervorgerufen werden kann, ist folgendes Beispiel. Mit nur einem Tag Unterschied berichteten zwei in der gleichen Region erscheinende Zeitungen (Gerber 2002; Walthard 2002) über einen Konflikt in einer Kantonsregierung. in der sich eine Regierungsrätin mit Anklagen gegenüber
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ihren Kollegen in der Exekutive exponiert hatte. Die Redaktionen der Zeitungen nahmen dabei unterschiedlich Partei für resp. gegen die einzige Frau im Regierungsrat, was sich auch in der Wahl des jeweiligen Porträts manifestierte, mit dem die Magistratin abgebildet wurde. Wie entscheidend die jeweilige Bildwahl für den subjektiven Eindruck über eine Person ist, zeigt ein kleiner Test, den ich mit Studierenden der PH der Fachhochschule Nordwestschweiz durchgeführt habe. In unabhängigen Gruppen hatten sie den Auftrag, mit individuell formulierten Adjektiven die Wirkung zu beschreiben, die die – ihnen mit ganz wenigen Ausnahmen nicht bekannte – abgebildete Person auf sie macht. Von total 68 unterschiedlichen Adjektiven wurden folgende am häufigsten genannt (Reihenfolge nach Anzahl der Nennungen):
Abb. 8: Basler Zeitung 24.07.02 25.07.02
Abb. 9: Basellandschaftliche Zeitung
- arrogant - nachdenklich - distanziert - ernst - hochnäsig - unsympathisch - abwesend - traurig - konzentriert
- freundlich - offen - nett - sympathisch - herzlich - liebenswürdig - fröhlich - liebevoll - aufgeschlossen
Eine Nennung („unsicher“) wurde einmal für beide Bilder gemacht, sonst gab es keine einzige Übereinstimmung in der subjektiven Bewertung der gleichen Person!
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6. Bildtexter machen Geschichte: Kommentierung Wie eingangs dieses Beitrags erwähnt, existiert keine verbindliche Semiotik des Bildes. Das bloße Erkennen des Ab-Bilds muss vom Rezipienten interpretiert, mit Bedeutung geladen und in einen für ihn nachvollziehbaren Zusammenhang gestellt werden. Erst dann kann es zur „Nachricht“ werden (Röhl o.J.: 2). Zur Interpretation eines Bildes ist daher häufig die Bild-Text-Kombination von entscheidender Be-Deutung, oder mit anderen Worten: Die einem Bild unterlegte Legende leitet seine kognitive Interpretation, indem auf dem Bild das wahrgenommen wird, was der Text suggeriert. Das lässt sich am Beispiel einer 1997 in zahlreichen schweizerischen Printmedien veröffentlichten Fotografie belegen, welche die öffentliche Meinung damals stark beeinflusst hatte. Das Bild gelangte auf dem Höhepunkt der Diskussion um die schweizerische Flüchtlingspolitik während des Zweiten Weltkriegs an die Öffentlichkeit und wurde ihr als „erschüttendes Dokument“ (Titel im BRÜCKENBAUER, 1997) präsentiert. Im Hinblick auf die seitens der Politik bei der Bevölkerung angestrebte Akzeptanz der später tatsächlich erfolgten schweizerischen Zahlungen in der Höhe von rund 2 Millionen Franken an Holocaustopfer war das Bild innenpolitisch hochbrisant.
Abb. 10: Brückenbauer, 26.03.1997, S. 79
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Der Inhalt der Bildlegenden (zit. nach SCHWEIZERZEIT 1997) zu dieser Fotografie war in den verschiedenen Presseorganen inhaltlich ziemlich übereinstimmend: x x x
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BLICK (Auflage: 25.5.000): „Das Boot ist voll: Jüdische Flüchtlinge bitten im Zweiten Weltkrieg an der Schweizer Grenze um Asyl – vergebens.“ FACTS (Auflage: 73.000): „Das Boot ist voll: Flüchtlinge bitten über den Stacheldraht hinweg vergeblich um Asyl.“ BRÜCKENBAUER (Auflage: 1.658.000): „Flüchtlinge von drüben stehen Armeevertretern, durch den Stacheldraht getrennt, gegenüber. Mehr als 30.000 meist jüdische Flüchtlinge wurden im Zweiten Weltkrieg an unserer Grenze zurückgewiesen.“ SCHWEIZER ILLUSTRIERTE (Auflage: 232.000): „Schweizer Grenze im Zweiten Weltkrieg: Menschen in Todesangst bitten über den Stacheldraht um Asyl. Umsonst. Das Boot ist voll.“
Entsprechend schuldbewusst, empört und betroffen über die schweizerische Flüchtlingspolitik reagierte die Öffentlichkeit auf dieses Bild, was sich in entsprechenden Leserreaktionen ausdrückte (BRÜCKENBAUER 1997). Nun ist aus historischer Sicht unbestritten, dass während des Zweiten Weltkriegs einige Tausend Asylsuchende an der Schweizer Grenze zurückgewiesen worden sind. Die millionenfach wiedergegebene Fotografie aber taugt nicht als Bildbeweis für diese traurige Tatsache: Einer der abgebildeten Militärangehörigen informierte die Medien über den genauen Ort und das Datum der Aufnahme und legte entsprechendes Beweismaterial vor (SCHWEIZERZEIT 1997). Demnach entstand die Fotografie nicht 1942, wie z.B. vom BRÜCKENBAUER völlig frei erfunden behauptet, sondern im April 1945, als die Kampfhandlungen im süddeutschen Raum schon seit Wochen beendet waren. Die jenseits des Stacheldrahts abgebildeten Männer sind denn auch befreite Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene aus deutschen Lagern neben einem Zollübergang an der Grenze zu Deutschland. Entsprechende Berichtigungen publizierten einzig FACTS und BRÜCKENBAUER. Dazu merkte die mit über 1,6 Millionen Exemplaren auflagenstärkste Publikumszeitschrift der Schweiz an, „in der Bildlegende ist einzig die Jahreszahl unrichtig – das Foto ist tatsächlich 1945 entstanden“ (BRÜCKENBAUER 1997). Die Hauptaussage der Bildlegende, die Zurückweisung jüdischer Flüchtlinge, wird in der „Richtigstellung“ hingegen nochmals wiederholt, obwohl die Fotografie inhaltlich damit keinen Zusammenhang aufweist.
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7. Die Realität ist virtuell: Digitale Bildbearbeitung Die nachträgliche Verfälschung von Fotos durch Retuschieren der Negative, durch Kolorieren, durch Montage, Abdunkeln oder Aufhellen von Bildteilen, Kopieren und Einsetzen einzelner Bildelemente (Cloning) sowie durch weitere „analoge“ Eingriffe, machen im wesentlichen das aus, was landläufig unter „Bildmanipulation“ verstanden wird. Die Beispiele, die sich über 150 Jahre hinweg nachweisen lassen, sind unzählig: Viele davon sind in der bekannten Literatur (Haus der Geschichte der BRD: „Bilder, die lügen“ 20033; Jaubert: „Fotos, die lügen“ 1989; sowie: Kirschenmann/Wagner 2006; Müller-Pohle 1988.; Sachsse 1988) aufgeführt und auch im Internet (www.rhetorik.ch; www.photoshop-weblog.de) jederzeit abrufbar. Ich verzichte daher hier auf die Wiedergabe von allgemein bekannten „klassischen“ Bildmanipulationen, die in die Hunderte gehen. Mit der Entwicklung und massenhaften Verbreitung digitaler Bildbearbeitungsprogramme ist selbst Amateuren jede Art der nachträglichen Veränderung von Fotos möglich geworden. Erst recht werden diese Programme von professionellen Anwendern täglich genutzt. Dass auf den Titelseiten von Magazinen Prinzessinnen per Photoshop Babys in den Arm gelegt oder Stars aus unterschiedlichen Aufnahmen zusammen auf ein Bild gebracht werden (Vonarburg 2007), gehört mittlerweile zum Allgemeinwissen und ist in der Yellowpress gängige und akzeptierte Praxis. Öffentlich thematisiert werden digitale Retuschen oder Montagen allenfalls noch, wenn sie einen politischen Aussagewert haben, wie die Beispiele aus dem Libanonkrieg im August 2006 zeigen. Damals haben sogar so renommierte Nachrichtenagenturen wie REUTERS weltweit Fotos verbreitet, auf denen Rauchsäulen über Beirut oder Leuchtraketen in Bilder hineinkopiert waren (TAGES-ANZEIGER 2006). Die Diskussionen um „echt“ oder „Fake“ entzündeten sich erneut am „Pressebild des Jahres 2006“ des Fotoreporters Spencer Platt, das aus 78.083 eingereichten Fotos siegreich hervorging und im Februar 2007 daher rund um die Welt publiziert worden ist. Es zeigt fünf schick angezogene junge Leute, von der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG als „Schnösel in der Trümmerlandschaft“ übertitelt, (zit. nach TAGES-ANZEIGER 2007), die auf einer scheinbar frivolen Spritztour mit einem Cabriolet durch die Trümmer von Beirut unterwegs sind. Spezialisten zweifelten auf Grund unterschiedlicher Lichtverhältnisse sowie des Standpunkts des Fotografen sofort die Echtheit des Bildes an (Lob 2007). Die Agentur bekräftigte hingegen: „Das Foto ist echt“ (Titel in: a.a.O) und die im Internet (www. pdnonline.com) veröffentlichte Recherche des Journalisten Van Langendonck (2007) scheint die Authentizität der „wahren Geschichte des roten Mini Coopers von Beirut“ (Titel im TAGES-ANZEIGER 2007) zu bestätigen.
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Die Diskussion um Bildmanipulationen dreht sich heute in erster Linie um technische Fragen, darum also, wie nachträgliche Eingriffe mit Bildbearbeitungsprogrammen erkannt werden können. Dazu wurde 2007 an der Jahrestagung der Amerikanischen Vereinigung für Wissenschaftsförderung eine Software vorgestellt, mit der die digitale Bearbeitung von Fotos, wie beispielsweise das sog. Klonen, also Einsetzen von Bildteilen, erkannt werden soll (www. cs.dartmouth. edu/farid). Mag auch die Presse mit dem Titel „Computer entlarvt Bildfälscher!“ (Vonarburg 2007) diese informationstechnologische Entwicklung begrüßen, sie wird nicht davor gefeit sein, in Zukunft noch vermehrt mit digital manipuliertem Bildmaterial konfrontiert zu werden. Unter dem konstanten Druck der Quote wird sie Material selbst dann publizieren, wenn sie um seine manipulative Bearbeitung weiß.
8. No Dead Bodies: Die Kontrolle über die Bilder Schon vor der Erfindung der Fotografie war es das Bestreben von Herrschern und Regierenden, eine Kontrolle über die Bilder auszuüben, die der Öffentlichkeit gezeigt werden. Schlachtendarstellungen, militärische Operationen (von Arx 2000), die in zahlreichen Geschichtsbüchern abgebildete Kaiserproklamation von 1871 in Versailles (Kirschenmann/Wagner 2006: 43) waren immer politische Ikonen, deren Funktion es war, eine bestimmte Sicht des dargestellten Ereignisses zu evozieren. Seit Fotoreporter professionell Bilder herstellen und erst recht seit Jede und Jeder die Medien mit Fotos und Filmen zu beliefern in der Lage ist, die mit dem omnipräsenten Mobiltelefon aufgenommen werden, ist die faktische Kontrolle über publizierte Bilder verloren gegangen. Die Erfahrung des Verlusts einer zentralisierten Kontrollinstanz über die Veröffentlichung von Bildern und mithin eines Verlusts ihrer Macht und ihres Einflusses musste die amerikanische Regierung bereits in den Sechzigerjahren im Vietnamkrieg machen. TV-Crews brachten der amerikanischen Bevölkerung jeden Tag die Bilder ihrer verwundeten oder toten Söhne, Brüder oder Väter auf den heimischen Bildschirm. Nicht zuletzt diese Bilder waren dafür verantwortlich, dass sich die öffentliche Meinung in den USA von einer anfänglichen Befürwortung schließlich gegen das militärische Engagement in Südostasien wendete. Daraus haben kriegführende Nationen später gelernt. Auf den britischen Schiffen, die 1982 auf die abgelegenen Falklandinseln im Südatlantik Kurs nahmen, um diese öden Eilande den Argentiniern wieder zu entreißen (Nünlist 2007), befanden sich lediglich einige handverlesene Reporter. Daher erinnert sich heute auch kein Mensch an eine Foto-Ikone aus dem Falklandkrieg. „No Dead Bodies!“ schon damals. Wenrich (2006: 79f.) weist dieses Motto allerdings bereits für 1855 nach, als die
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Engländer einen Fotografen in den Krimkrieg beorderten, um das dortige Geschehen aus der Sicht der Briten mit dem neuen Medium zu dokumentieren. Diese Fotos wurden indessen nie publiziert, weil sie erstmals die Schrecken eines modernen Krieges „realistisch“ darstellten, was nicht im Interesse des britischen Kriegsministeriums lag. Der französische Kunsthistoriker und Kulturanalytiker Georges DidiHuberman beschäftigt sich in seinem Essay „Bilder trotz allem“ (2007) intensiv mit der Frage, welche Bedeutung Bildern für die Erinnerung der Menschen an historische Ereignisse zukommt. Nach ihm sind Bilder maßgeblich für kollektive Erinnerungsprozesse verantwortlich, was er anhand des öffentlichen Bewusstseins über den Holocaust nachweist. Eine ähnliche These vertritt auch der englische Schriftsteller Martin Amis (2007), indem er feststellt, dass sich über die 20 Millionen Opfer Stalins weniger emotionale Betroffenheit eingestellt hat, weil es vom Gulag keine Bilder gab und die Leiden der Menschen daher im Wortsinn unvorstellbar waren. Bilder sind „Bausteine bei der Konstruktion von Geschichte“ (Basting 2007) und worüber es keine Bilder gibt, ist auch die Erinnerung der Menschen unbeständig und flüchtig. Bilder bestimmen daher in einem hohen Ausmaß die Art und Weise, in der historische Ereignisse vergegenwärtigt und interpretiert werden. „No Dead Bodies!“ ist daher die strikte Devise, die das USAußenministerium im April 2004 für die Bildberichte aus dem Krieg im Irak erlassen hat (Staub 2004). Die Angestellte einer privaten Firma, die auf einem Flugplatz in den USA das Ausladen von Särgen toter Soldaten fotografiert hatte, wurde auf Druck des Pentagons entlassen, nachdem ihr Foto in der SEATTLE TIMES publiziert worden war (a.a.O.). Transportflugzeuge mit toten und verwundeten Soldaten aus dem Irak treffen in Amerika jeweils im Schutze der Dunkelheit ein. Diese Maßnahmen installieren eine faktische Zensur der Regierung über die mediale Berichterstattung in Bezug auf die amerikanischen Kriegsopfer. Für die Bilder aus dem Kriegsgeschehen selbst wirkt bei den Medienleuten eine die Zensur antizipierende „Schere im Kopf“ als Regulativ für ihre Reportagen. In der Regel gelangen zudem nur jene Reporter zu den Brennpunkten des Geschehens, deren Berichterstattungen eine regierungsfreundliche Tendenz haben. Schon im ersten Irak-Krieg 1991 sind sogenannte „embedded journalists“ tätig gewesen, die mit Unterstützung und im Schutze des Militärs ihre Bilder für die amerikanischen Medien produzierten (S3 1992a). Ihre Aufgabe war der Aufbau des Mythos eines High-Tech-Krieges ohne (amerikanische) Leichen. Zu diesem Zweck wurden auch fiktionale Kampfhandlungen fernab der Front inszeniert und gefilmt, die dem Publikum als das angeblich reale Geschehen im Irak präsentiert wurden.
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Derartige Inszenierungen sind Teil einer Strategie, in welcher von der Regierung bezahlte PR-Agenturen gezielte Desinformationskampagnen aushecken, um die öffentliche Meinung zu täuschen. Eine besonders groteske Lügengeschichte einer solchen PR-Agentur war der von allen US-Fernsehkanälen übertragene Auftritt einer angeblich kuwaitischen Säuglingsschwester im amerikanischen Kongress. Sie berichtete detailliert und unter Schluchzen, wie irakische Soldaten in einem kuwaitischen Spital Babys getötet hätten. Dieser medienwirksame Auftritt hat nachweislich und maßgeblich zur Sanktionierung des ersten Irakkriegs durch das US-Parlament geführt. Tatsächlich war die „Säuglingsschwester“ die Tochter des kuwaitischen Botschafters in den USA und seit Jahren nie mehr in ihrem Heimatland (ZDF 1991). Die manipulative Auslegung von Luftaufnahmen der Geheimdienste, mit denen die amerikanische und britische Regierung der Weltöffentlichkeit das Vorhandensein angeblicher Massenvernichtungswaffen im Irak vorspiegelten, um 2003 den „präventiven“ zweiten Irakkrieg zu legitimieren, ist mittlerweile allgemein bekannt. Ein bis heute wenig bekanntes Beispiel einer betrügerisch aufgebauten Inszenierung trug sich 1915 im ersten Weltkrieg zu. Ein deutsches Unterseeboot versenkte vor der irischen Küste das von den USA kommende britische Passagierschiff Lusitania, weil die deutsche Seite berechtigte Gründe zur Vermutung hatte, dass es – kriegsrechtwidrig – auch Munition transportierte. Dieser Torpedoangriff kostete 1198 Menschen das Leben, darunter rund hundert US-Bürgern und -Bürgerinnen. Diese menschliche Tragödie wurde von der britischen Regierung propagandistisch ausgeschlachtet, weil sie damit die USA zum Kriegseintritt bewegen wollte. Die Empörung über den Angriff auf ein Passagierschiff entstand erst richtig nach der Veröffentlichung von Filmaufnahmen, die den Bug der sinkenden Lusitania und Ertrinkende zeigten. Vom realen Untergang des Schiffes existierten keine Filmaufnahmen, aber trotzdem wurden solche einer britischen und amerikanischen Bevölkerung vorgeführt, die damals, nur wenige Jahre nach der Erfindung des Kinos, die lebenden Bilder noch weitgehend als Abbild der Realität verstand.
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Abb. 11-13: Screenshots aus: ZDF (2001), Es begann mit einer Lüge, 08.02.2001 Die letzten Augenblicke der Lusitania wurden in einem Ententeich bei London für die Filmkamera nachgestellt. In Wochenschauberichten präsentierte man die Bilder als „echte Dokumentaraufnahmen“, um den Hass auf Deutschland weiter anzuheizen. Tatsächlich, Winston Churchill hatte schon lange auf einen solchen Vorfall gewartet. Nun hoffte er die Vereinigten Staaten zum Kriegseintritt zu bewegen. In geheimen Mitteilungen hatte er schon Monate zuvor darauf hingewiesen, wie überaus wichtig der transatlantische Handelsverkehr zwischen England und den USA sei. „Je mehr Schiffe uns anlaufen, desto besser“, notierte er, und: „sollte eines davon in Schwierigkeiten geraten, noch besser.“ (Originalkommentar ZDF 2001)
Gelegentlich passiert auch das Umgekehrte: Reporter wären vor Ort, aber das Ereignis, auf das sie warten, tritt nicht ein. Ein Mitarbeiter des Schweizer Fernsehens räumte in einem selbstkritischen Essay (Schmid H. 1993) ein, wie Medienleute vor Ort ein Ereignis zu beeinflussen in der Lage sind. So hatten TVTeams keine Skrupel, für einen Bericht über die rechtsradikale Szene in den neuen Bundesländern selber Hakenkreuze auf Hauswände zu malen oder bei einem neofaschistischen Aufmarsch in Dresden Teilnehmer mit aufmunternden Zurufen oder gar Geldzahlungen zum Hitlergruss zu veranlassen, um die „richtigen“ Bilder in den Kasten zu bekommen. Eine Analogie zu solchen Machenschaften gab es auch in der Schweiz, als Fernsehmitarbeiter eine Straßenbarrikade errichteten in der Hoffnung, an diesem Ort dann die Konfrontation von Demonstrierenden mit der Polizei filmen zu können.
9. Das Bild als „strategisches Werkzeug“: Inszenierungen von „Realität“ Am sichersten wird die Beeinflussung der öffentlichen Meinung dadurch betrieben, indem die Regierenden die Informationen gleich selber produzieren oder produzieren lassen. Wie 2005 die NEW YORK TIMES enthüllte (Kilian 2005), haben mehrere Regierungsstellen in den USA Videonachrichten erstellt, die sie über bezahlte, als Reporter fungierende Agenten den Fernsehstationen zukommen ließen. Mit einem satten PR-Budget von über 200 Millionen Dollar pro
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Jahr werden von der Bush-Administration Informationen kreiert, um Eigenlob zu verbreiten oder über Pseudoereignisse zu rapportieren, die eigens zum Zwecke einer regierungskonformen Information inszeniert werden (Kilian 2007). In diese Kategorie fällt auch ein Beitrag, der 2004 nach dem Fall von Bagdad auch in Europa von Fernsehsendern wie der ARD (2004) ausgestrahlt worden ist. Die hier mit Screenshots sämtlicher Einstellungen dokumentierte Filmsequenz wird bildanalytisch kommentiert und in einen Zusammenhang mit anderen Bilddarstellungen gebracht. Bild (Screenshots) und Originalton der ARD
Kommentar / Konnotationen Der Präsident kommt von oben, vom Himmel herab. („Vom Himmel hoch, da komm ich her.“) Die spektakuläre Landung eines Kampfflugzeugs auf einem Schiff ist eine Imponiergeste. Das mit einem rasanten Kameraschwenk verfolgte perfekte mittengenaue Aufsetzen der Maschine nötigt dem Zuschauer Respekt für die fliegerische Leistung ab.
Abb. 14: Die Kulisse ist perfekt. Helfer rennen sofort zum Flugzeug und drum herum. Als Vergleichsgröße machen sie hier nun sichtbar, dass es sich bei der Maschine nicht um ein Personenflugzeug, sondern um einen veritablen Kampfjet handelt, wie er für Flugzeugträger gebaut wird: Die Flügel sind – in filmischer Zeit eine Sekunde nach der Landung – bereits eingeklappt.
Abb. 15: Von Profis geplant und umgesetzt. Ein Medienspektakel
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Trotz der Namensinschrift am Unterrand des Cockpits ist unklar, ob der Präsident das Flugzeug selber pilotiert hat. Die Person am Steuer ist nicht identifizierbar. Sie macht die Andeutung eines Grußes in Richtung der Kamera. Wie der Präsident aus dem Kampfjet steigt, wird nicht gezeigt.
Abb. 16: Unübersehbar unter dem Cockpit der Name: George W. Bush, Commander in Chief, Oberkommandierender der Weltmacht USA.
Abb 17.: In der Uniform der Mari-
Er begrüßt nach der Landung in der Montur eines Jetpilots mit Handschlag Repräsentanten des Personals auf dem Flugzeugträger. Warum nur nimmt ihm niemand den Helm ab, den der Präsident auch in den nächsten Einstellungen unentwegt unter dem linken Arm mit sich herum trägt? Die Geste erinnert an den bei Feldgottesdiensten üblichen Befehl „Helm ab zum Gebet“, bei dem der Helm vorschriftgemäß am Körper zu halten ist.
nepiloten hat er sich auf den vom Golfkrieg heimkehrenden Flugzeugträger Abraham Lincoln fliegen lassen. In Vogelperspektive sieht man, wie der Präsident über das Deck zu weiteren Personen schreitet, um auch diese zu begrüßen. Bei einer ersten Visionierung ist nicht erkenntlich, dass die Aufnahme hier mit einer leichten Zeitlupe erfolgt! Das gibt dem Gang des Präsidenten etwas gravitätisches und er scheint durch diesen Filmtrick zudem an Körpergröße gewonnen zu haben.
Abb 18: Die kalifornische Küste, nur 30 Meilen entfernt – ein Flug mit dem Hubschrauber wäre weniger aufwändig…
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Abb 19: … aber die Top-Gun-
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In der klassischen Begrüßungsgeste mit der offenen Hand gegenüber einem im Bild nicht sichtbaren Publikum wird Bush von zwei Offizieren (seinen Piloten?) flankiert, die in ihren Anzügen den eigentlichen Zweck von Uniformen offenbaren: Sich durch identische äußere Merkmale vom Feind unterscheiden und zeigen, wer zusammengehört,. Eine starke Konnotation der Uniform ist das Gemeinschaftsgefühl: „ich bin einer von euch“.
Geste zählt: Der siegreiche Feldherr besucht seine Truppen. Gegenüber der letzten Einstellung wurde mit einem harten Schnitt die Zeit überwunden, in der der Präsident in einen dunklen Anzug mit Krawatte gewechselt hat. Von unten her, aus einer für die Zuschauer nicht sichtbaren Öffnung im Flugzeugdeck, tritt der Präsident ans Rednerpult. Die Parallelen zu den liturgischen Vorbildern der Inszenierung sind offensichtlich: Die Kanzel mit dem Emblem der präsidialen Macht sowie...
Abb 20: Als Präsident tritt er Minuten später ans Mikrophon ... die applaudierenden Personen im Hintergrund, die den Chor repräsentieren. Im buchstäblichen und übertragenen Sinne des Wortes stehen diese farblich homogen aussehenden Militärangehörigen „hinter dem Präsidenten“. Startbereite Flugzeuge mit geöffnetem Cockpitdach und der gewaltige Kommandoturm des Flugzeugträgers markieren Wehrbereitschaft.
Abb 21: Im Drehbuch nicht vorgesehen, für Augenblicke zeigt George W. Bush Rührung, ist überwältigt von der historischen Bedeutung der Stunde. Doch die Botschaft, die er dann verkündet…
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Abb 22: ...und die die Mannschaft in großen Lettern hinter ihm am Kommandoturm aufgezogen hat, ist medienwirksam wie die Kulisse, aber weit entfernt von der Realität in Irak. [Rede übersetzt und übersprochen] „Die wesentlichen Kampfhandlungen im Irak sind beendet. Die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten haben obsiegt. (…) In diesem Krieg haben wir für die Freiheit und den Frieden auf der Welt gekämpft. Unsere Nation und unsere Verbündeten sind stolz auf diese Leistung.“
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Der Turm, seit der Antike ein zentraler Teil eines Bollwerks gegen den Feind, wird wirkungsvoll ins Bild gezoomt. „Mission accomplished“ (Auftrag erfüllt) steht auf einem am Turm befestigten Transparent. Es gemahnt an das ähnlich große Schriftband „Totaler Krieg – kürzester Krieg“ bei der berühmten Berliner Sportpalastrede von Nazi-Propagandaminister Joseph Goebbels im Januar 1943. Der ehemalige Jesuitenschüler hatte seine Rede choreographisch in ganz ähnlicher Manier inszeniert: Als Redner hinter einer Kanzel, flankiert von und vor Parteibonzen in Uniform, die ihm „den Rücken decken“. Wandte sich Goebbels mit seiner Rede in seinem raffiniert geschnittenen und manipulierten Film an das Publikum der deutschen Wochenschauen, so spricht G.W. Bush hier zum Millionenpublikum vor den amerikanischen Fernsehern.
Screenshots aus: ARD (2004), Auftrag ausgeführt, 28.04.2004 Senatoren und die Geschäftsprüfungsstelle des Kongresses, das General Accounting Office, monierten im Parlament die Produktion solcher Nachrichtensendungen durch die Administration und sprachen von „einer bewussten Täuschung des amerikanischen Volkes.“ Karen Hughes, eine PR-Beraterin des Präsidenten verteidigte vor einem Kongressausschuss derartige Praktiken mit der Begründung, „die Regierung Bush verstehe Videos mit positiven Nachrichten als mächtige strategische Werkzeuge“ (Kilian 2007).
10. Das „mediale Jahrhundertereignis“: Vom Bildmonopol zum Usergenerated Content Zu diesen Werkzeugen gehören die sogenannten Photo-Ops (Durrer 2005), mit denen Anlässe wie Bushs Flug auf den Flugzeugträger bezeichnet werden, die
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einzig dazu dienen, eine Plattform zu schaffen, um eine Botschaft in den Medien verbreiten zu können. Pressekonferenzen und Staatsbesuche, Statements von Parteichefs und Parteitage sind die üblichen Photo-Opportunities, also Gelegenheiten, die Medien mit Bildern zu beliefern. „Ereignisse“ werden gezielt organisiert und genutzt, um sich und seine Polit-Statements in die Presse oder ins Fernsehen zu bringen (Knieper 2006: 62). Neben der Berichterstattung über Unglücksfälle und Katastrophen firmieren in den Tagesschauen deutschsprachiger Sender in der Regel weit mehr als die Hälfte aller innenpolitischen Nachrichten unter der Rubrik Photo-Ops. Spin Doctors entwickeln und choreografieren solche medienwirksamen Anlässe als eine effiziente und kostengünstige Form, eine Meinung zu verbreiten. Die Akteure wissen um die Macht der Bilder, und so können sich erfolgreiche Politikerinnen und Politiker diesem InSzene-Setzen nicht entziehen. Zum Schluss sei noch das für mich eindrücklichste Beispiel genannt, mit dem die ganze Welt durch eine mediale Berichterstattung an der Nase herumgeführt und verschaukelt worden ist. Es handelt sich um den „Télé-Revolution“ genannten Putsch einer Politclique gegen den rumänischen Diktator Nicolea Ceauçescu in den letzten Tagen des Jahres 1989. Die angebliche Stürmung des Fernsehstudios in Bukarest und die scheinbare Übernahme der Fernsehberichterstattung durch das Volk wurde damals zum „atemberaubenden historischen Dokument des Jahrzehnts oder gar Jahrhunderts“ (Doelker 1989) hochstilisiert. Die ganze Welt solidarisierte sich mit den Aufständischen, die mit einer heroischen Verteidigung des Fernsehstudios gegen die Panzer der Geheimpolizei die freie Berichterstattung sicherstellten, damit das eigene Volk und die gesamte Weltöffentlichkeit über den blutigen Kampf gegen den verhassten Diktator informiert werden konnte. Die in Timisoara angerichteten Massaker mit Tausenden von Toten; das unterirdische Kanalsystem unter der Hauptstadt, von dem aus die Geheimpolizei Securitate ihre Attacken auf die Menschen unternimmt; die Flucht des Diktators mit dem Helikopter vom Dach seines Palastes; die mit den neusten Schreckensmeldungen ins TV-Studio und vor die Kamera stürmenden einfachen Soldaten; der menschliche Schutzschild vor dem Studiogebäude; das Fernsehen als Sprachrohr des nach jahrzehntelanger Unterdrückung nun befreiten Volkes: Nichts als Lüge und Inszenierung, wie sich später herausgestellt hat (Frefel 1990; Martin 1990; Mihailescu 1990; Rudolphini 1990; SCHWEIZER ILLUSTRIERTE 1990; S3 [SWF] 1992b; 3sat 1994; Carpentier/Comanescu 2005). Welchen Zweck verfolgten die Putschisten mit ihrer manipulierten Inszenierung der „Télé-Revolution“? Die katastrophale Versorgungslage der Bevölkerung in Rumänien führte Mitte Dezember 1989 zu Protesten der hungernden und frierenden Bevölkerung gegen das kommunistische Regime und den reali-
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tätsverneinenden Diktator. Mit der Vorspiegelung, gegen die Ceauçescus zu kämpfen, verschafften sich die neuen Führer quasi die Legitimation durch das Volk, das sich, wenige Wochen nach dem Fall der Berliner Mauer, eine Öffnung und Demokratisierung des Landes wünschte. Tatsächlich hatten die neuen Machthaber aber bereits vor dem Putsch sichergestellt, dass die Geheimpolizei auf ihrer Seite steht. Daher war auch die widerstandslose Verhaftung des Diktatoren-Ehepaars in ihrem Palast sowie seine anschließende Hinrichtung irgendwo draußen in der Provinz eine unkomplizierte Angelegenheit von wenigen Stunden. In der Publizistikwissenschaft und ihren Veröffentlichungen ist dieses „mediale Jahrhundertereignis“ vergleichsweise mager dokumentiert, was nicht zuletzt damit zusammenhängt, dass die Beweise für seine Inszenierung fast ausschließlich auf dem flüchtigen Medium Fernsehen basierten. Da sich das Geschehen um die Télé-Revolution innerhalb weniger Tage abspielte, existieren sozusagen keine Fotos oder Berichte ausländischer Journalisten. In Rumänien selbst waren damals weder eine entsprechende Infrastruktur noch die Medienschaffenden für eine unabhängige Information vorhanden. Die Kontrolle der Putschisten-Kamarilla über die Fernsehbilder ihrer „Revolution“ war total, auch wenn sich in diesem Meisterstück der Desinformation bereits von Anfang an einige Ungereimtheiten eingeschlichen hatten, die von der Welt zunächst negiert worden waren: Verdächtig war nicht nur der fehlende Ton auf den Videoaufnahmen vom kurzen Prozess gegen das Diktatoren-Ehepaar und die lückenhaften Bilder seiner hastigen Hinrichtung, welche als Ikonen des Triumphs über das Regime fast wie in einer Endlosschlaufe ausgestrahlt wurden. In höchstem Masse erstaunlich und völlig unglaubwürdig war, dass eine angeblich dem Diktator hörige Geheimpolizei, die mit – nie stattgefundenen – Massakern den Volksaufstand und mit ihren Panzern die Berichterstattung darüber bekämpfen will, nicht auf die für sie kaum schwierig zu realisierende Idee kommt, dem einzigen TV-Studio im Land, das die angeblichen „Revolutionäre“ in ihrer Hand haben, den Strom zu kappen. Das Beispiel der possenhaften rumänischen Télé-Revolution macht die seither eingetretenen Änderungen in der Übermittlung visueller Informationen anschaulich: Die zwischenzeitlich erfolgte technologische Entwicklung digitaler Kommunikationsmittel würde einen derartigen Betrug heute unmöglich machen. Das Internet und die mit den Mobiltelefonen von jedermann zu bewerkstelligenden Foto- und Filmaufnahmen hätten ihn schnell aufgedeckt und der Welt präsentiert. Die Verbreitung dieser neuen interaktiven Medien führt dazu, dass die etablierten Massenmedien das Publikum als Zulieferer von Material ermuntern (Kopp/Schönhagen 2007). Der sowohl in den publizistischen Medien, als auch in unzähligen Internetforen veröffentlichte „User-generated Content“, ver-
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ändert die Distribution und die Inhalte von verbalen und visuellen Informationen in einem nie da gewesenen Ausmaß. Als Beispiel dafür mag die mediale Berichterstattung über den Bombenanschlag in der Londoner U-Bahn im Juli 2005 gelten. Die einzigen von der Situation nach der Explosion vorhandenen und nachträglich weltweit veröffentlichten Bilder waren jene, die ein überlebender Passagier mit seiner Handykamera aufgenommen hatte. So sehen wir uns im Bereich der medialen Bildübermittlung zwei im Grunde gegenläufigen Tendenzen gegenüber: Auf der einen Seite werden „dank“ des Einsatzes von immer leistungsfähigeren Bildbearbeitungsprogrammen und als Folge der zunehmend ausgeklügelten PR-Strategien von Spin Doctors die Methoden der Manipulation raffinierter und schwerer durchschaubar. Auf der anderen Seite bildet die allgemein verbreitete Verfügungsgewalt über die Bilderproduktion mittels billiger digitaler Aufnahmegeräte ein quasi demokratisches Korrektiv zu den Manipulationsversuchen der öffentlichen Medien. Der Fall der entlassenen Flughafenangestellten, die Fotos von Särgen toter amerikanischer Soldaten gemacht hatte, ist letztlich ein hilfloses Rückzugsgefecht des Anspruchs, eine Kontrolle über die veröffentlichten Bilder auszuüben. Die von den Boulevardmedien regelmäßig publizierten Aufrufe an Leserinnen und Leser, ihnen als sog. Mobile-Reporter „Bilder und Videos von spektakulären, bewegenden oder kuriosen Ereignissen“ auf ihre Websites hochzuladen (20Minuten, 2007), bedeutet selbstverständlich nicht, auf diese Weise durchweg unmanipulierte Bilder in den medialen Informationsfluss einzuschleusen. Zudem werden Amateurbilder mit einer politischen Relevanz die Ausnahme bleiben. Dennoch werden wir Rezipienten uns in Zukunft noch häufiger mit den sich zunehmend stärker ausformenden Gegensätzen in der Entwicklung von einerseits „offiziellen“ und andererseits „unkontrollierbaren“ Bildproduktionen konfrontiert sehen.
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„Mission accomplished“ – Manipulierte Bilder machen Politik
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Arnold Fröhlich
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Peter Holzwarth
Bildpädagogik und Medienkompetenzentwicklung als politische Bildung
„Die Fotografie ‘demokratisiert’ das visuelle Wissen von der Welt.“ (Schuster 1996: 188) „Bildungs-, Lern und Sozialisationsprozesse werden heute viel stärker als früher durch Bilder beeinflusst.“ (Marotzki & Niesyto 2006: 7) „Er weiss, um eine Nachricht zu verbreiten braucht es ein Bild.“ (Ludovic Vigogne, Journalist und Sarkozy-Biograph über Nicolas Sarkozy, 10 vor 10, Schweizer Fernsehen SF1, 16.5.2007)
Politik und politische Kommunikation bedeutet neben dem Diskurs mit Worten immer auch Argumentation mit Bildern (Bilder in den Fernsehnachrichten, Bilder in Zeitungen, Karikaturen etc.)1. Auch im Kontext sprachlicher Kommunikation spielt das Visuelle in Form von Metaphern und Vorstellungsbildern eine Rolle (z.B. „Einwanderungswelle“, „das Boot ist voll“, „Reichskristallnacht“, „der eiserne Vorhang“, „blühende Landschaften“, „world wide web“). Schon immer bedienten sich politische Akteure der Bildmedien um ihre Botschaften wirkungsvoll vermitteln zu können (Portraits, Wahlplakate, Wahlwerbefilme, Wahlprogramme, Wappen, Flaggen und Symbole). Es besteht ein komplexes Wechselverhältnis zwischen den physisch wahrnehmbaren (äußeren) Bildern, sprachlichen Bildern und den (inneren) Bildern, die im Kopf entstehen (vgl. Tschopp & Weber 2007: 101)2. Oft wurde das Verhältnis von Bild und Politik kritisch diskutiert (z.B. der Diskus um faschistische Ästhetik in den Filmen von Leni Riefenstahl).
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Wenn im Folgenden von „Bild“ die Rede ist, soll das bewegte Bild im Sinne von Film und Video auch mitgemeint sein. Jeder Mensch befindet sich in einem Fluss von Bildern. Die äußeren Bilder (z.B. Fotografien über Migranten) können Vorbilder für die Entwicklung innerer Bilder sein (z.B. Vorstellungen von Migranten), die inneren Bilder wiederum sind Vorbilder für die Produktion von äußeren Bildern (z.B. Fotografien über Migranten).
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Bildkompetenz schließt die Fähigkeit ein, Bilder aus dem gesellschaftlichen Symbolvorrat kritisch reflektieren bzw. dekonstruieren zu können und selbst Bilder als Artikulationsmöglichkeit nutzen zu können. Dies ist wichtiger Teil politischer Partizipation und unverzichtbarer Bestandteil einer jeden Demokratie3. Medienkritikfähigkeit kann in diesem Kontext als Teil von Mündigkeit und ‘Citizenship’ verstanden werden. Auf der einen Seite steht das Ideal einer kritischen, umfassenden Medienberichterstattung im Sinne einer vierten kontrollierenden Instanz im Staat, auf der anderen Seite erscheinen Medienakteure als „Meinungsmacher“ und „Manipulatoren“, die Bilder auf oberflächliche Weise als „eye catcher“ einsetzten4. Lehrpersonen und Eltern besitzen heute nicht mehr ein Monopol was die Vermittlung von Weltwissen, Weltbildern und Weltdeutungen angeht. Kinder und Jugendliche haben viele Aspekte der Welt schon in medialer Form gesehen und gehört, bevor sie gelernt bzw. angeeignet werden können. Auch politische Bildung und die alltägliche Meinungsbildung vollziehen sich zu einem sehr großen Teil über Bildmedien (Fernsehen) und bildgestützte Medien (Zeitungen, Zeitschriften). Im Folgenden werden rezeptive und produktive Bildungsprozesse und Lernchancen im Zusammenhang mit Bildern reflektiert. Dabei werden insbesondere die Aspekte ‘Manipulation von Bildern’ und ‘Manipulation durch Bilder’ in den Blick genommen.
1. Didaktische Chancen im Kontext politischer Bildung Im Rahmen politischer Bildung bieten Bilder vielfältige Chancen: Historische Aufnahmen geben Einblicke in vergangene Zeiten und machen Geschichte anschaulich. Manche Fotografien, die wichtige historische Ereignisse repräsentieren werden zu so genannten „Ikonen“5, die sich in das kollektive visuelle Gedächtnis einprägen (z.B. fliehende Kinder in Vietnam, Willy Brandts Kniefall vor dem Mahnmal des Warschauer Ghetto-Aufstandes 1970, brennende twin towers in New York am 11. September 2001, Folterbilder aus dem Gefängnis
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Vgl. in diesem Zusammenhang das Konzept „Gegenöffentlichkeit“ (Schell 1997: 16) bzw. „Give-them-a-voice“ (Empowerment durch Medienkompetenz). Vgl. in diesem Zusammenhang Diskurse um Medienmacht, Globalisierung und Medienkonzentration (z.B. im Zusammenhang mit Silvio Berlusconi). Zum Thema Bildjournalismus und Pressefotografie vgl. Grittmann 2007. „Ikonen“ können Bilder genannt werden, die durch häufige Darbietung eng mit einem Ereignis oder einem Lebensgefühl verbunden wurden und so fest verankerter Teil des visuellen Gedächtnisses einer großen Gruppe von Menschen werden.
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Abu Ghuraib 2004) (vgl. Kirschenmann & Wagner 2006).6 Auch historische Malereien und Zeichnungen aus anderen Epochen sind wichtige Quellen. Bilder und bildgestützte Berichte aus anderen Ländern machen Regionen der Welt zugänglich, die man nicht bereisen und mit eigenen Augen sehen kann. Bilder dienen als visuelle Anker und erleichtern das Verstehen und Erinnern (z.B. Karikaturen als Komprimierung und Zuspitzung komplexer Phänomene). Politische Karikaturen können ein wichtiges Mittel der Meinungsbildung und der Kritik darstellen. (z.B. http://www.friedenspaedagogik.de/service/karikatur _der_woche/2006/interkulturelle_begegnung_2006 [Zugriffsdatum: 27.4.2007]) Lernprozesse können durch geeignete Bilder emotionalisiert und intensiviert werden. Auch Motivation und Aufmerksamkeit kann geweckt werden. Visuelle Darstellungen dienen auch als Mittel der Maximierung von Information je Zeiteinheit: „Bilder bieten pro Zeiteinheit viel mehr Informationen, als Sprache das je könnte.“ (Straßner 2002: 14) Ob jedoch alle Bilder mehr als 1000 Worte zu sagen vermögen ist fraglich7. In Bildungskontexten ist es oft fruchtbarer, Bild und Text als komplementäre Quellen zu verstehen. Es hängt vom konkreten Umgang mit Bildern ab, ob politisch-historische Ereignisse auf motivierende Weise thematisiert und im Sinne einer besseren Erinnerung und Kontextualisierung verankert werden können, oder ob komplexe Zusammenhänge lediglich auf ein Foto reduziert werden. Im folgenden Zitat wird dem verbalen Kontext eine erklärende Funktion zugeschrieben bzw. zugetraut: Mit Worten kann man auf Missstände aufmerksam machen. Doch bleiben sie öfters ungehört, solange keine entsprechenden Fotos an die Öffentlichkeit gelangen. Schockierende Bilder erhöhen den politischen Druck erheblich. Doch ohne erklärenden Kontext sind sie missverständlich oder gar irreführend. Sie bleiben begriffslose Anschauung. (Durrer 2004: 51)
Die interkulturelle Lesbarkeit von Bildern ist ein weiteres wichtiges Potenzial: Während Sprachlaute und Schriftzeichen an Sprachgrenzen scheitern, ermöglichen Bilder oft weltweite Bedeutungsproduktion8. Nicht nur im Kontext von Prozessen des Zweitspracherwerbs bieten Bilder eine wichtige zusätzliche Ebene des Zugangs und des Verstehens (vgl. Borgini & Crivelli 2003). Symbole bzw. bildliche Darstellungen können entweder durch ihre starke Ähnlichkeit zum Bezeichneten bzw. Gemeinten kulturübergreifendes Verstehen ermögli6 7 8
Wolfrum & Arendes sprechen in diesem Kontext von „Schlagbildern“. Zum Thema Kriegsbilder vgl. Sontag 2005, Werckmeister 2005, Gerhard 2004 und Fabian & Adam 1983. Dürer (2004: 51) geht davon aus, dass wir fast 1000 Worte brauchen um ein Bild verstehen zu können. Vgl. das Bildlexikon „point it. Traveller’s language kit“ für weltweite Kommunikation durch Fotografien von Graf (1999).
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chen, oder aber durch grenzübergreifende Konventionen (z.B. rotes Kreuz als Zeichen für medizinische Hilfe). So können Symbole einerseits im Spannungsfeld von abstrakt (geringe Ähnlichkeit zum Bezeichneten bzw. Gemeintem) und konkret (hohe Ähnlichkeit) verortet werden und andererseits zwischen den Polen kulturspezifisch und kulturübergreifend (bzw. partikulär und universell).
2. Bildmanipulation – Manipulation durch Bilder Zu einem kompetenten Umgang mit Bildern gehört auch das Wissen um Manipulationsmöglichkeiten: Wie können Menschen durch Bilder manipuliert werden? Und wie können Menschen Bilder manipulieren? Sowohl rezeptive als auch produktive Ansätze sind wichtig für die Dekonstruktion von künstlichen Bildwelten (vgl. Borgnini & Crivelli 2003; Tomforde & Holzwarth 2006; Holzbrecher/Oomen-Welke/Schmolling 2006; Widmann et al. 2001). Bildern wird häufig eine Beweisfunktion zugeschrieben. Passfotos in amtlichen Dokumenten sollen die Identität einer Person dokumentieren, Bilder aus automatischen Blitzgeräten sollen beweisen, wer eine Geschwindigkeitsüberschreitung oder das Überfahren einer roten Ampel zu verantworten hat. Bilder aus Kriegs- und Krisengebieten sollen zeigen, dass politischer Handlungsbedarf besteht (z.B. Völkermorde, Bürgerkriege, Hungersnöte, Naturkatastrophen) 9. Doch sehr oft zeigen Bilder nicht das, was wir uns als „Wirklichkeit“ vorstellen. Schon lange vor dem digitalen Zeitalter wurden Fotografien retuschiert (vgl. Jaubert 1989; Miener 2004; Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 2005). Zu Zeiten von Stalin und Trotzki wurden Menschen, die sich zu politischen Gegnern entwickelt hatten, im Nachhinein von Fotografien entfernt. So wurde Geschichte gleichsam neu konstruiert. Parallelen zu George Orwells Roman „1984“ werden deutlich: Einen Tag um den anderen und fast von Minute zu Minute wurde die Vergangenheit mit der Gegenwart in Einklang gebracht. (...) Die ganze Historie stand so gleichsam auf einem auswechselbaren Blatt, das genausooft, wie es nötig wurde, radiert und neu beschrieben werden konnte. (Orwell 1990: 39)
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Im Sinne von „impression management“ kann ein Staat den Versuch unternehmen, über die Kontrolle von Kriegsbildern die Einstellungen der Bevölkerung zu steuern. Bilder von getöteten oder verletzten Soldaten sowie Bilder von zivilen Opfern wirken anders als Bilder von Siegern und dankbaren Menschen, die sich befreit fühlen.
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Abb. 1: Nikolai Yezhov und Stalin10 Mithilfe digitaler Bildbearbeitungsprogramme ist es heute möglich, pixelgenau Veränderungen am Bild vorzunehmen, so dass wir bei jedem Foto radikal die Frage stellen müssen „Ist es so gewesen?“11. Der Film „Evolution” (Dove) zeigt, wie Schönheit durch Inszenierung vor der Aufnahme und digitaler Veränderung nach der Aufnahme konstruiert wird: Eine durchschnittlich attraktive junge Frau wird ausgiebig geschminkt frisiert und später fotografiert. Die Aufnahmen werden mit Hilfe eines Bildbearbeitungsprogramms verändert (Hals, Augenbrauen, Lippen). Am Ende ist ihr Bild 10 11
Quelle: http://en.wikipedia.org/wiki/Photomanipulation [Zugriffsdatum: 1.4.2007] Im Sinne einer physikalischen Abbildung könnte in Anlehnung an Roland Bartes über Fotografie gesagt werden: „Es-ist-so-gewesen“ (Barthes 1985: 87). Fotografische Apparate bilden das ab, was sich zum Zeitpunkt der Aufnahme vor der Linse befunden hat, ob es sich um eine Inszenierung handelt oder nicht.
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auf einer grossen Plakatwand zu sehen. Folgender Text wird eingeblendet: „No wonder our perception of beauty is distorted.“ („Kein Wunder, dass unsere Vorstellung von Schönheit verzerrt ist.“)12
Abb. 2: Linke Hälfte: nach dem Schminken und der digitalen Bearbeitung Rechts: vor dem Schminken und der digitalen Bearbeitung13 Diesem Film könnte zum Vorwurf gemacht werden, dass ähnlich wie bei vielen Benetton-Werbefotos eine gesellschaftskritische Haltung zur Maximierung von Verkaufsumsätzen genutzt bzw. missbraucht wird. Gleichzeitig könnte man fragen: „Warum sollte Werbung nicht mit sozialer Bewusstmachung kombiniert werden dürfen?“ Während der Film im zweiten Teil klar die Manipulationsmöglichkeiten digitaler Techniken und die Künstlichkeit von Schönheitsidealen aufdeckt, zeigt er im ersten Teil, wie die Attraktivität einer Frau durch den Einsatz von Kosmetikprodukten verstärkt werden kann. Auch unabhängig von digitalen oder sonstigen Veränderungen am Bild muss konstatiert werden: Jedes Bild stellt allein durch die Bildauswahl nur einen Teil der Wirklichkeit dar. Dies mag banal und selbstverständlich klingen. Das folgende Beispiel zeigt, dass in manchen Fällen der Bildausschnitt, der dem Betrachter zugänglich gemacht wird, für die Bedeutungsproduktion entscheidend ist:
12 13
Zum Thema Medienbilder und Körperbilder vgl. Holzwarth 2006. Quelle: www. campaignforrealbeauty.ca/flat2.asp?id=6852 [Zugriffsdatum: 1.4.2007]
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Abb. 3: Zwei verschiedene Bildausschnitte eines Fotos (Originalunterschrift: „Brutales Vorgehen oder Mitgefühl in der Not? Der Ausschnitt bestimmt die Aussage.“)14
Monika Breuer zeigt in ihrem Buch „Fotografie macht Schule“ ein Beispiel für den aktiven fotografischen Umgang mit dem Themenbereich „Bedeutungsproduktion durch Ausschnittwahl“:
Abb. 4: Beispiel für die medienpraktische Aneignung des Themas: „Bedeutungsproduktion durch Ausschnittwahl“ bzw. „Lügen mit Bildern“15
14
Quelle: www.museumsmagazin.com/archiv/4-2003/ausstellung/bilder.php [Zugriff: 1.4.2007]
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Häufig werden den Zuschauern Inszenierungen von Macht vorenthalten:
Abb. 5: Gerhard Schröder auf dem Podest16 Es stellt sich die Frage: Wann ist die Bildausschnittwahl durch ein gezieltes und bewusstes Weglassen von Kontextinformationen motiviert und wann ist sie lediglich eine Auswahl ohne intendiertes Vorbehalten von Informationen? Auch Bildunterschriften bzw. Beschriftungen können die Aneignung eines Fotos in bestimmte Bedeutungsrichtungen lenken (vgl. Rehren 2001; Knieper 2006). Die folgende Darstellung zeigt drei Dimensionen der Wirklichkeitskonstruktion im Überblick:17 Dimensionen der Wirklichkeitskonstruktion zu unterschiedlichen Zeiten im Bildproduktionsprozess: 1) vor der Aufnahme - Inszenierung Beispiel: Zwei Politiker inszenieren durch Händeschütteln und Lächeln Konsens vor der Kamera bzw. für die Kamera 2) bei der Aufnahme - formalästhetische / bildsprachliche Aspekte (z.B. Bildausschnitt, Perspektive, Belichtungszeit, Blende etc.) Beispiel: ein Politiker wird im Interview so aufgenommen, dass man das Podest nicht sieht, welches ein ungünstiges Grö15 16 17
Quelle: Breuer 2006: 67 Quelle: Buchcover von Bergmann & Pörksen 2007 Auf http://www.rhetorik.ch/Bildmanipulation/Bildmanipulation.html [Zugriffsdatum: 29.5.2007] sind weitere Beispiele für Bildmanipulationen zu finden.
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3) nach der Aufnahme (bildimmanent und kontextbezogen)
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ßenverhältnis ausgleicht, s.o. - Retusche, digitale Nachbearbeitung Beispiel: ein politischer Dissident wird im Nachhinein aus Fotografien entfernt, s.o. - Kontextuelle Verortung (z.B. Bildunterschrift, Nachbarschaft zu anderen Bildern etc.) Beispiel: ein Politiker auf einer Demonstration: harmlose Objekte werden so beschrieben, dass sie als etwas anderes wahrgenommen werden, s.o.
Dimension 2 spielt bei jeder fotografischen Abbildung eine Rolle, sie ist dem Medium Fotografie quasi inhärent. Dimension 1 kann in unterschiedlichen Graden von Bedeutung sein, 3 nur bei manchen. Die drei Dimensionen können auch miteinander kombiniert sein. Es stellt sich die Frage, ob jede Art von Bildproduktion generell auch Manipulation bedeutet. In meinen Augen macht es Sinn, sich der generellen Konstrukthaftigkeit von symbolischen Äußerungen und der Ambivalenz von „Wahrheit“ und „Lüge“ bewusst zu sein, gleichzeitig jedoch nur dann von Manipulation zu reden, wenn der Bildproduzent bzw. die Bildproduzentin in Kontexten, in denen Wahrhaftigkeit erwartet wird, bewusst eingreift, um sich oder den Auftraggebenden durch die erzeugte Botschaft einen Vorteil zu verschaffen. Albrecht unterscheidet neben „Materialfälschung“ und „Kontextfälschung“ auch den Aspekt „Interpretationsfälschung“. Diese definiert er folgendermaßen: „die – meist unbewusste – Verfälschung der Interpretation von Bildern, indem eine Deutung anderen Deutungen gleichen Plausibilitätsranges vorgezogen wird“ (Albrecht 2007: 31).
3. Visuelle Stereotypen Neben Manipulation stellen visuelle Stereotype einen Themenbereich dar, der in pädagogischen Kontexten bearbeitet werden kann. Viele Aspekte der Wirklichkeit liegen uns in Form von visuellen Repräsentationen vor. Diese medial geprägten Vorstellungsbilder sind oft prototypisch oder klischeehaft und einseitig. Pörksen (1997) spricht in diesem Kontext von „Visiotypen“. Oft sind diese ‘visuellen Gemeinplätze’ wichtig, um Gemeinschaft und Gemeinsamkeit erfahren zu können. Beim Stichwort „Vogel“ denken wir beispielsweise nicht an einen Kolibri oder Vogel Strauß, sondern an einen mittelgroßen Vogel wie beispielsweise eine Amsel. Problematisch werden verallgemeinernde Vorstellungsbilder dann, wenn sie bestimmten Personengruppen zum Nachteil gereichen, indem sie beispielsweise als Begründung für soziale Ausgrenzung ge-
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nutzt werden. In diesem Zusammenhang steht die Diskussion um Vorurteile, Stereotype und Rassismus (vgl. Auernheimer 2003). Immer wieder versuchen Bildproduzenten visuelle Stereotype zu durchbrechen, indem sie andere Bilder zeigen, Klischeebilder in Frage stellen oder karikieren. Der Imperativ „Du sollst dir kein Bildnis machen.“18 (Max Frisch, Tagebuch 1946-1949) steht einem grundlegenden Bedürfnis nach Orientierung in einer unübersichtlichen Welt gegenüber. Menschen müssen sich Bilder im Sinne von Vorstellungsbildern und visuellen Repräsentationen machen, um die Komplexität der Wirklichkeit reduzieren zu können. Auch das soziale Leben beruht zu einem großen Teil auf gemeinsam geteilten verallgemeinerten Vorstellungen und Bildern von Wirklichkeit19. Heikel werden visuelle Stereotypen dort, wo Bilder zu einer Reduktion der Wahrnehmung auf das Vorgebildete führen und eine eigenständige Auseinandersetzung mit dem Neuen bzw. Fremden unmöglich wird20. Bilder haben immer auch die Funktion gehabt, etablierten Bevölkerungsgruppen den Machterhalt zu erleichtern und peripheren Gruppen einen randständigen Status zu erhalten. (Vor-)Bilder sollten vorläufige Bilder sein, die Offenheit für neue Eindrücke ist wichtig. Piagets Begriffspaar Assimilation und Akkomodation eignet sich zur Beschreibung der Informationsverarbeitung von neuen Informationen auf der Grundlage bestehender Vorstellungsbilder: Assimilation: Wirklichkeit wird gemäß der bestehenden Vorstellungsbilder interpretiert, (Anpassung der neuen Informationen an bestehende Deutungsmuster)
Akkomodation: Wirklichkeit wird so interpretiert, dass die bestehenden Bilder erweitert bzw. angepasst werden (Anpassung der Deutungsmuster an die neue Information)
4. Aktive Produktion mit Bildern – Adbusting Neben der rezeptiven Analyse und Dekonstruktion von Manipulationen und visuellen Stereotypen spielt die aktive Produktion eine wichtige Rolle. Produktive und rezeptive Methoden sollten durchaus kombiniert werden. In Anlehnung an die kritische Praxis des „Adbusting“ können Kinder und Jugendliche im Rah18
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Vgl. auch die 10 Gebote der Bibel (2. Mose 20). Frisch bezieht sich mit seinem Satz auf Liebende, die sich ein Bild voneinander machen und dadurch einengend und festlegend wirken (Frisch 1985: 27 f.). Vgl. in diesem Kontext Roland Barthes’ Konzept „Mythen des Alltags“ (Barthes 2003). An dieser Stelle ist der Aphorismus „Man sieht nur, was man kennt.“ (Johann Wolfgang von Goethe) zu nennen.
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men medienpädagogischer oder kunstpädagogischer Settings die Möglichkeit bekommen, Printwerbung auf kreativ gestalterische Weise neue Bedeutungen zu geben21. Werbeanzeigen aus Zeitschriften können übermalt, kollagiert oder am Computer digital verändert und verfremdet werden. Auch Werbefilme oder Videoclips können als Vorlage für eine eigene karikierende Produktion benutzt werden. Das Wissen um Manipulationsmöglichkeiten kann durch konkretes Handeln und durch konkrete Erfahrung besonders nachhaltig vermittelt werden: „Sage es mir, und ich werde es vergessen. Zeige es mir, und ich werde es vielleicht behalten. Lass es mich tun, und ich werde es können.“ (Goethe zit. nach Berner & Zimmermann 2005: 110) Auch „offizielle“ Werbekampagnen arbeiten mit „Adbusting“-Methoden: Eine Kampagne gegen die Verschlechterung der Position von Menschen mit Behinderung zeigte Bilder, auf denen Schweizer Politiker durch Kollagen als Menschen mit Behinderung dargestellt wurden:
Abb. 6: Schweizer Bundesräte als Menschen mit Behinderung dargestellt „Lieber Herr Bundesrat Merz, Stellen Sie sich vor behindert zu sein – und kein Arbeitgeber will Sie beschäftigen, obwohl Sie geistig noch voll leistungsfähig und auch arbeitswillig sind. Wie würden Sie am 17. Juni abstimmen?“ 21
Auch die Arbeiten des Grafikers und Karikaturisten Klaus Staeck können als Anregung für Adbusting-Projekte dienen. Eine seiner Kollagen zeigt beispielsweise ein Bild von Jesus Christus am Kreuz, darüber der Coca-Cola-Schriftzug und „presents“. (http://www.klausstaeck.de [Zugriffsdatum: 8.8.2007]).
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„Lieber Herr Bundesrat Blocher, Stellen Sie sich vor behindert zu sein, und ein populistischer Politiker begründet die unsoziale IV-Revision damit, dass es zu viele Scheininvalide gebe. Wie würden Sie am 17. Juni abstimmen?“ Quelle: http://www.zslschweiz.ch/ [Zugriffsdatum: 5.5.2007].
Die Bedeutung bzw. die Botschaft von Printwerbung kann auf verschiedenen Ebenen verfremdet werden:22 x Änderung des Begleittextes bzw. des Webeslogans (vgl. Beispiel 1) x Änderungen am Bild (Beispiel 2) x Sprechblasen bzw. Denkblasen mit Text aufkleben bzw. aufmalen23 (vgl. Beispiel 3) x bekannte Werbeslogans oder Logos mit anderen Fotos kombinieren (Beispiel 4) x bekannte Werbeslogans oder Logos mit einem Foto der eigenen Person kombinieren (Beispiel 5) x bekannte Werbeslogans oder Logos mit selbst gemachten Fotos kombinieren x Hinzufügen von neuen visuellen und/oder sprachlichen Elementen (vgl. Beispiel 6) x Eigenständige Zitate von Bildern oder Logos (vgl. Beispiel 7) x Werbung als neue Version nachmalen bzw. nachgestalten (vgl. Beispiel 8)
Abb. 7: Beispiel 1: „Fliegen Sie zum Spezialtarif bis es keine Jahreszeiten mehr gibt. Buchbar bis 3. Oktober 2011.“ 24 22 23
Ich danke den Studierenden der Veranstaltung „Allgemeine Medienpädagogik“ (Pädagogischen Hochschule Zürich, WS 2006) herzlich für ihre Bildbeispiele. Weitere Beispiele und Anregungen sind am Ende des Beitrags zu finden.
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Abb. 8: Beispiel 2: „Bodyrepair“/„Selected Styles“25
Abb. 9: Beispiel 3: „Für ein bisschen Anerkennung und Aufmerksamkeit tue ich alles...“26
24 25
Kollage mit Filzstift, Studentin, Pädagogische Hochschule Zürich, 2006 Kollage, Sylvia Schurter, Studentin, Pädagogische Hochschule Zürich, 2006
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Abb. 10: Beispiel 4: „Nokia Connecting People“ 27
Abb. 11: Beispiel 5: „United Colors of Benetton“; Bild mit Benetton-Logo und eigenem Foto28
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Kollage, Studentin, Pädagogischen Hochschule Zürich, 2006 Kollage, Peter Holzwarth, 2006 digitale Kollage, Peter Holzwarth, 2006
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Abb. 12: Beispiel 6: „20% Happy“/„Made in China“ Zürich, Bürkliplatz, 1.9.2006 (Kollage mit Filzstift)
Abb. 13: Beispiel 7: „Enjoy Capitalism” Gent, 17.7.2005 (weißes Schablonengraffiti (Pochoir) auf rotem Schild)
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Peter Holzwarth
Abb. 14: Beispiel 8: „Misty“ – „Misery“29
Auf diese Weise kann der Schritt von der Rezeption zur Produktion vollzogen werden, ‘action’ und ‘reflexion’ gehen Hand in Hand. Durch eine ganzheitlichere, durch eigenes ästhetisch-reflexives Handeln intensivierte thematische Auseinandersetzung können verschiedene gestalterische und kommunikative Kompetenzen angeeignet werden. Wichtig ist, bei der Einführung eines AdbustingProjekts ein der Zielgruppe gemäßes Verhältnis von Offenheit und Struktur zu wählen. Beispielsweise können bereits vorbereitete leere Denk- oder Sprechblasen verteilt werden, die dann auf frei gewählte Werbebilder geklebt und mit eigenen Texten gefüllt werden. Oder es können bereits aus Zeitschriften ausgeschnittene Logos (z.B. Benetton, Adidas, Nokia, H&M, Tommy Hilfinger etc.) verteilt werden, die mit frei gewählten Bildern kombiniert werden. Auch die Auswahl des Bildmaterials ist wichtig. Werden beispielsweise lediglich Modebilder oder nur Nachrichtenbilder angeboten, kann es schwierig sein, kreative Neukombinationen zu entwickeln. Das Spektrum sollte möglichst breit sein. In manchen Kontexten kann es sinnvoll sein, kritische bzw. politisch korrekte Produkte zu fordern, in anderen ist es produktiver, für jede Art von Bedeutungsneuschöpfung offen zu sein. Ein einseitig kulturpessimistischer bzw. me29
Quelle: http://lessons.ctaponline.org/~bchavanu/ [Zugriffsdatum: 1.4.2007]
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dienfeindlich-reduktionistischer Impetus kann hinderlich sein. Wird ein Projekt so eingeführt, dass lediglich der antizipierte Geschmack von Pädagoginnen und Pädagogen realisiert werden kann, vergibt sich diese Methode einen Teil ihres Potenzials. Diskursive Kompetenzen spielen im Kontext politischer Bildung eine zentrale Rolle. Ebenso wichtig sind jedoch auch Kompetenzen im Aneignen und Produzieren von Bildern. Für die Orientierung in einer immer komplexer werdenden Weltgesellschaft müssen Sprachkompetenzen und visuelle Kompetenzen Hand in Hand gehen.
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Peter Holzwarth
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Weiterführende Literatur zum Thema Bildpädagogik: Doelker, Christian (1997): Ein Bild ist mehr als ein Bild. Visuelle Kompetenz in der MultimediaGesellschaft. Stuttgart: Klett-Cotta Doelker, Christian (1998): Bilder lesen – Bildpädagogik und Multimedia. Bayrisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus. Basisbaustein. Donauwörth: Auer
Filme zum Thema Medienmanipulation: Hat Kohl Madonna geküsst? – Wie man mit Bildern manipulieren kann. Dokumentarfilm BRD 1996 (Bernd Dost) Der Dokumentarfilm zeigt, wie durch Bildmanipulation und Kuss zwischen Helmut Kohl und Madonna entstehen kann. Wag the Dog – Wenn der Schwanz mit dem Hund wedelt, Spielfilm USA 1997 (Barry Levinson) Um von einer Affäre des Präsidenten abzulenken wird für die Bevölkerung der USA ein virtueller Krieg inszeniert. Forrest Gump, Spielfilm USA 1994 (Robert Zemeckis) Der Schauspieler Tom Hanks wird mit digitalen Mitteln in historische Aufnahmen mit J F. Kennedy montiert. Toy Story, Spielfilm USA 1995 (John Lasseter) Der erste vollständig am Computer erstelle Kinofilm verdeutlicht, wie echt virtuelle Welten bereits Mitte der 90er Jahre aussehen konnten Jurassic Parc, Spielfilm USA 1993 (Steven Spielberg) Der Film zeigt künstlich geschaffene Dinosaurier zusammen mit realen Schauspielern.
Internetseiten: Hinweise zum Einsatz von Karikaturen im Unterricht http://www.friedenspaedagogik.de/service/karikatur_der_woche/karikaturen_in_der_bildungs arbeit [Zugriffsdatum: 1.4.2007] Datenbank mit Karikaturen http://www.friedenspaedagogik.de/service/karikatur_der_woche [Zugriffsdatum: 1.4.2007] Beispiele für Adbusting http://www.adbusters.org/home/ [Zugriffsdatum: 1.4.2007] http://members.aon.at/antiglobe/ADBUSTING_im%20deutschsprachigen%20Raum.HTML [Zugriffsdatum: 1.4.2007] http://germany.indymedia.org/2004/07/87547.shtml [Zugriffsdatum: 1.4.2007] Internetseite mit Adbusting-Produktionen aus Schulprojekten http://lessons.ctaponline.org/~bchavanu/ [Zugriffsdatum: 1.4.2007] Anregungen für Eigenproduktionen http://adbusters.org/spoofads/printad/ [Zugriffsdatum: 1.4.2007]
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Peter Holzwarth
Kampagne mit Schweizer Politern, die durch Bildkollagen als Menschen mit Behinderung dargestellt werden (Kontext: Abstimmung zur IV-Revision 17.6.2007) http://www.zslschweiz.ch/ [Zugriffsdatum: 5.5.2007] Kampagne gegen Unfälle durch überhöhte Geschwindigkeit (mit Lehrmittel) http://www.ist-rasen-maennlich.ch/ [Zugriffsdatum: 5.5.2007] Internetseite mit Calvin Klein Werbebildern http://pobox.upenn.edu/%7Edavidtoc/calvin.html [Zugriffsdatum: 5.4.2007] Internetseite gegen sexistische Werbung mit negativen und positiven Beispielen http://www.freie-sicht.ch/ [Zugriffsdatum: 3.4.2007] http://www.freie-sicht.ch/index.php?id=pfui# [Zugriffsdatum: 3.4.2007] http://www.freie-sicht.ch/index.php?id=bravo# [Zugriffsdatum: 3.4.2007] Beispiele für Bildmanipulationen http://en.wikipedia.org/wiki/Photomanipulation [Zugriffsdatum: 16.5.2007] http://en.wikipedia.org/wiki/Digital_image_editing [Zugriffsdatum: 16.5.2007] http://www.euphoria-imaging.com/portfolio.html [Zugriffsdatum: 16.5.2007] http://homepage.mac.com/gapodaca/digital/bikini/bikini1.html [Zugriffsdatum: 4.2.2008] http://www.photoshop-weblog.de/?p=444 [Zugriffsdatum: 16.5.2007] http://www.newseum.org/berlinwall/commissar_vanishes/vanishes.htm [Zugriff: 16.5.2007] http://www.rhetorik.ch/Bildmanipulation/Bildmanipulation.html [Zugriffsdatum: 16.5.2007]
Robert Ferguson
Re-cognising the political in the pedagogy of media education: the carnival is over
Education should never be reduced to a single subject. A curriculum should never be reduced to a single field, period or academic discipline. Media Education, likewise, has to be committed to a plurality of approaches and fields of interest. It has to deal with the seemingly trite and the unambiguously significant, whether in relation to fashion, history, science, religion, national and personal identities, gender, age, ethnicity, class and a myriad of other fields of representation. It has also to allow for the critical exploration of the relationships between representation and lived existence. Media Education, initially, has to be about the way things are, the way things are represented, and how the ways in which things are represented have an impact on the way things are. It is a process which requires at least two conditions to be met. The first is that those engaged with Media Education, whether as students, researchers or teachers have to undergo a constant, demanding and open-ended period of skill acquisition, of intellectual development and a willingness to doubt and to act in the world. The second condition is that all involved in Media Education have to recognise and accept that we inhabit a fragile, delightful, horrific, challenging, beautiful, ugly, insecure, contradictory world, and it is the only one we have. That, at least, is a beginning. Acceptance of these conditions does not sit comfortably beside the bureaucratisation of education and the managerialism which sustains the bureaucracy. But these two conditions are, to adopt the language of the planner, prerequisites. This paper is being written in a time of international turmoil. There are wars and rumours of wars, famines and droughts in many parts of the world and the lucky ones are those who see, hear or read about what is happening, rather than those who are directly caught up in the carnage or suffering. The privileged revel in or weep over simulacra. For others it is a question of coming to terms with a changed and often devastated material existence. Writing in “The Guardian” newspaper on 3rd August 2006, the scientist Stephen Hawking confesses that he does not know whether the human race can sustain another 100 years. He
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Robert Ferguson
thinks that nuclear annihilation is still a strong possibility, whether by intent or accident. He also reminds us of the melting of the Arctic and Antarctic, the rise in sea temperature releasing carbon dioxide which will add to the greenhouse effect, the possibility of the release of a genetically engineered virus and the likely need that we should ‘spread out into space and then to the other stars’. Finally, in something approaching irony, Hawking says: “Perhaps we must hope that genetic engineering will make us wise and less aggressive.” This is also a period of fundamentalisms. Each fundamentalism, whether economic, religious, national, sexual or dietary, regards other fundamentalisms with suspicion, distrust or downright hatred. Of course fundamentalisms cannot do anything themselves. They are carried, vectored, composed and structured by human beings. Meanwhile there is much talk from public figures of the need to increase our tolerance of others, to work for peace, to kill for peace, to devastate for freedom. It is not an easy world and it is one which can begin to look back on the twentieth century as one which could at least, from time to time, engage in the crucial and sustaining concept of hope – or for Camus a hope beyond despair. So where are we now? I will defer this question until the end of the paper, because it is time to turn to my main subject, the political in Media Education. When considering the presence or absence of the political in Media Education a range of critical metaphors come to mind. For those who decide that they do not wish to re-cognise the central importance of the political in Media Education, these metaphors would include burying one’s head in the sand, fiddling while Rome burns, and rearranging the chairs on the decks of the Titanic. For those who are dedicated to re-cognising the political in Media Education, another set of critical metaphors may be relevant. They come as a set of caveats. These include not wanting to teach Granny to suck eggs, or whistling in the wind, or preaching only to the converted. This political approach is one with a tempestuous and not particularly successful history. Nevertheless, it remains my aim to argue for the wholehearted espousal of a political approach to Media Education. So where might we begin? It is important for the Media Educator to establish a productive relationship with those being taught. This relationship has to be based upon mutual respect and an avoidance of patronisation of students. This is an obvious point, but it is one most likely to be forgotten as the well-meaning or zealous teacher decides to engage with the political in the media and the world being re-presented. Teachers are not there to preach; they are there to encourage and develop the capacity for thought, critique and action. This is not an unpleasant process, though it can and should involve some hard work. It has to evolve from a pedagogy based upon questioning. The accompanying feature of a pedagogy of questioning has to be the capacity to doubt. In this context, doubting is not a negative
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or neurotic activity, but a positive and determined attempt to understand. Hence I have referred to it in the past as productive doubt. The other key feature of a Media Education which is concerned with the political is the development of a concept of critical solidarity. I have argued for this approach as a development of Masterman’s earlier suggestion that critical autonomy was a key aspiration of Media Education. But one does not in any way negate the other. Indeed I would argue that it is the development of critical autonomy in our students which will facilitate their engagement in a variety of solidarities as they progress through their education and their lives as citizens in democracies. For those whose temperature rises when they hear of politics anywhere near education, I would only say that the time is past when we can afford to leave politics out of education. It was a futile hope anyway, because all education was, is and will be political. Our challenge is to be able to come out into the open about this and to decide upon the kind of politics which we wish to espouse and the ways in which education in a democracy should be politically engaged. I will stress just once more here that this has nothing directly to do with party politics. It is about fostering in young people a wish to engage with the political and on occasion to take action over specific issues. This is what democracy is all about. In the past, most efforts at including the political dimensions of life have failed in education for one specific reason over all others – the fact that it seemed to have very little or nothing to do with the students’ lives! The term political was a soporific which was designed to lead all and sundry into a life of political inactivity. The analysis, enjoyment of, critique and practical engagement with the media are key to a development of political awareness. It is to some of these that I will now turn to offer modest examples of what might be possible. I will not be concerned conceptual issues at this point, though they inevitably overlap with the pedagogical. Before proceeding, it might also be helpful to clarify what is understood, in this approach to education, by the concept of critique. The term has, like so many educational buzzwords, had a variegated history. At its least helpful, critique, in the educational context, has degenerated into a kind of knowing cynicism, or a carping and a negative raking over of the past. This, however, is an anaemic and anodyne version of what should be a dynamic and forward-looking concept. It would be helpful if media educators adapted the concept of speculative thought suggested by Marcuse, and moved towards speculative critique. This would suggest that one spends as much time considering how media representation might be different as one does considering how it got to be as it is. If we are convinced (and I know it is a big if for many teachers) that we should recognise the significance of the political in relation to Media Education, the first thing we should do is to restrain ourselves from dragging out our soap
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box. The political should not be introduced with speeches but, as I have said, with questions. And these questions can take their place in the overall context of Media Education and its concern with key concepts which have usefully but inadequately informed developments in Media Education. Just as a reminder, these key concepts were originally described as ‘areas of knowledge and understanding’. They have been evolved by many teachers and educators and are formalised in various British Film Institute documents. They are presented here with their associated ‘signpost questions’: Media Agencies Media Categories Media Technologies Media Languages Media Audiences Media Representations
Who is communicating and why? What type of text is it? How is it produced? How do we know what it means? Who receives it, and what sense do they make of it? How does it present its subject?
I have suggested that these categories are useful but inadequate. They are inadequate where they have led to complacency bordering on smugness in some ‘media educators’ hands. They are inadequate where they have become part of a new, somewhat genteel, orthodoxy. The reason for this, I suggest, is because they do not stress a key factor in all media representations which is that of power. It is the power to please us as well as the power to outrage us or to send us to sleep which the media possess. No self-respecting Media Education curriculum can exist in the twenty first century without placing power at the core of its interests. This is hardly a new suggestion, but I hope that the way in which it is argued here will provide the concept with a renewed and relevant vigour. Analysing forms of power is a way into the concept of the political which does not rely upon the use of the term ‘political’ in order to begin. These forms of power can be identified using a typology, or some kind of coherent conceptual structure. For instance, there are representations of political and military power. There are also representations of power relationships in fields as diverse as sport and fashion. There are representations of power in a myriad of fictional programmes, and there are representations of power in the fields of current affairs and documentary. And there is the power represented in advertising. But please note that the categories I have identified here might imply something which has to be questioned from the beginning. They might imply that we simply have to identify what is being shown, broadcast, written about, and then move into our analyses. This is very far from being the case. What we actually have to do will take us back to those inadequate but now quite helpful key con-
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cepts: Agencies, categories, technologies, languages, audiences, representations. We do need to ask who made whatever the media product is. Is it an individual, a corporation, a publishing house? What do we know or can we find out about that individual, corporation or publishing house? We need to ask under which generic category the media message we are analysing may be identified. So for instance, is it a documentary, an advertisement, a newspaper editorial? We need to ask which technological means has been used to produced – electronic or other, print or audio, digital or other. We need to ask about the kind of media language and the kind of representations used – which will take us into the crucial realms of discourse and semiotics (Ferguson 2004). Finally we need to ask about the intended audience(s) for the message. All these questions have to be asked with the issue of power in mind. We can also make good investigative use of the internet for our purposes. There are many sources of information available to us and our students which can be very helpful I will cite just one example here, which is from the journal called “The Nation” (http://www.thenation.com/special/bigten.html). The Big Ten, in 2002, were AOL/Time Warner, AT&T Corporation, General Electric, News Corporation, Viacom, Inc., Walt Disney Company, Liberty Media Organisation, Bertelsmann, Vivendi Universal and Sony. The realisation that ownership of so many of the world’s media is in the hands of so few people is something which is important background information for all media education students. It is also interesting to note how influential figures are often on the boards of many different companies, which in turn are linked with other companies1. This kind of power is often unnoticed, but it is certainly significant. However, we have to guard against simplistic notions of conspiracy theory when we consider questions of ownership and control. Not all media owners are plotting together – not all of the time. But we also have to guard against a wilful naivety which pretends that such things as ownership do not matter. It is the basis for much future work in media studies and is a fine way of providing our students with investigative and analytical skills. From my earlier comments it will be clear that I believe there are many different ways in which power and the political overlap and intertwine. I am just as concerned with the study of representations of the local exercise of power in domestic life as international politics. There is, for instance, the power to convince people to part with their money so that they can look as good as the society in which they live tells them to look. The reason, ostensibly, is because the customer is ‘worth it’. To be told by a carefully groomed and sculpted television 1
A useful site for information at this level can be found at http://www.theyrule.net/.
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figure that ‘you’re worth it’ is to miss the key point. What the advertiser is actually doing is trying to make all the effort worth it – for the advertiser and the producer and shareholders of the product. This is a very interesting kind of displaced power. It seems, in this case, to be concerned with beauty, rejuvenation, endless youth. In fact it is concerned with offering a product and a way to help people to part with their money. All the promises would amount to nothing without profit. But with profit it is possible to generate more – promises. Better homes, better clothes, better cars, better fridges, better washing machines. The list could go on and on. The media have the power (whether it is exercised benevolently is not the issue here – it is still power) – they have the power to keep our interest. We do not escape, not any of us, from the power exercised through the media as they attempt to sell us our identities. And the identities they sell have political implications. One of my favourite advertisements which has, I would argue, profound political implications, is one for a soft drink2. This commercial brings together the world’s once richest man, Bill Gates, and the company which aspires to be the soft-drink provider of the world, Coca Cola. For the media researcher there would be two kinds of implications to investigate. The first would be economic and increasingly geographic. How much money is involved in the selling of Coca Cola and how is it spread across the world? Where does the wealth generated through Coca Cola actually go and who benefits from it? Bill Gates, we know, is now offering to do all kinds of good work with his money. For the democrat a polite question to ask would be who elected Bill Gates to his role. It would also raise questions about the ideological representation of wealth, and the coming of the sloppy sweatered multibillionaire replacing the now discarded image of the factory owner with top hat and tailcoat. One may also compare Bill Gates’ media persona with that of the somewhat lesser Richard Branson. The friendly, boy next door look is one which certainly does much to obfuscate relations of power and subordination in some parts of the world. With Coca Cola there is also much to study. The normalisation of Coca Cola as an integral part of global everyday life is a political fact. Coca Cola goes to war with the American Army, and its signs adorn the most humble and the most prestigious institutions in the world. Coca Cola is a fact of life in many languages and typescripts, from Arabic to Hebrew, from Georgian to Japanese. So our second question would have to be: how do we recognise and study the ways in which advertisements establish or sustain a particular lifestyle, a sense of personal and shared identity? Addressing these questions brings us closer to developing appropriate pedagogies through which such issues can be studied. It is not the purpose of 2
It can be found at http://video.google.com/videoplay?docid=2428643356101239067& sourceid=docidfeed&hl=en.
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this paper to go into these issues in any depth. But I will attempt to offer one example of how representations of ‘national identity’ can be studied and debated. The example I have chosen is one which can demonstrate how a sense of British identity can be represented and then studied utilising what may be termed a media education approach. It is from a programme which was made in 1991 and shown on British Television. This is a little while ago – but not in any kind of historical perspective, when it is little more than the blink of an eye. Why is it significant? Well first of all because it was part of a series in which different figures were invited to offer their views on England. In this case it was Roger Scruton, a prominent figure in the field of conservative thinking. He is the author of numerous books on philosophy and philosophers, as well as having written about the nature of conservatism. His programme is elegiac. He misses something and he wants to share this with his audience. I am interested as a media educator in two aspects of his ‘representations’. The first is the structure and presentation of his thoughts. The second is the mode of signification and the kinds of discourses he employs. I will try to illustrate this as briefly as possible. The documentary is entitled “A Green and Pleasant Land”. The opening sequence makes use of the slowly undulating red cross of the flag of St George, in each segment of which we see different moving images. These images include such examples of Englishness as people Morris dancing, or Bobby Moore holding aloft the World Cup, cricket being played in whites and rowing. This is just the title. We then move into the film, with Roger Scruton as our guide around what it means to be English. Much of the film is shot in the countryside, because for Scruton that is where Englishness resides. There is a short passage in the famous old city of Salisbury and some discussion of the English painter John Constable. The film looks at the quality of life of tenant farmers, and at the culture of the brass band – excluding the trades union and mining bands. There is a lingering engagement with the qualities of the landscape and the relationship between private ownership and the care of the countryside. The general sense the film exudes is that of loss and regret. Things do become a little more hopeful when we come to the final segments, which deal with fox hunting and the breeding of hounds. It is the latter which I will highlight here as an illustration of a conservative discourse in action. Scruton is speaking of the virtues of breeding – both animal and human: Scruton: “It [hunting] is also an institution, with its own calendar of festivals, such as the summer puppy show. A pack of hounds is bred, not bought. These puppies will be hunting with us next season. Local people have trained them, walked them, and now submit them for judgement.”
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Abb. 1: Bred not bought Captain Ronnie Wallace: “What we’re looking for, in a word, is the one which will go fastest and furthest. We’re looking for speed and stamina. (…) They’ve got to be brave as well as well conformed. (…) We love quality, we love activity, and balance“. Scruton: “Annual shows give rise to an unfashionable thought, which is that breeding matters. The virtues and vices of the parent tend to be inherited by the child. Races may flourish. They may also decline. Apply these self-evident maxims to the human species and you’ll find yourself in trouble. But our country life has involved the breeding not of horses and hounds only, but of a race of people – the English.”
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Abb. 2: Nature or Nurture? One can see here something of the modes of signification adopted in this movie. It is one of gentle, sometimes almost melancholic persuasion. Scruton and his film want the viewer to see the world and his/their interpretation as self-evident, allowing the inclusion of nonsensical ‘self-evident maxims’ which are jumbled up in Scruton’s commentary. The use of music and carefully composed imagery is the signifying practice designed to elicit a certain response. Whether that response is forthcoming is not as immediately significant for the media educator as understanding how the response is called up. How does a specific medium attempt to suggest a specific reading of a specific message which it offers? One has a chance with A Green and Pleasant Land’ to study in depth the construction of a sincere and clearly delivered discourse. It is offered by a key figure in debates over Englishness, but it is a film which is flawed in its argument. It is also steeped in the philosophy of a kind of populist, sentimental conservatism. As such it is excellent material for study and reflection. This is the point of the example. Each of us may have to find our own appropriate examples, but the key issue for the media educator is to recognise the rich and complex unravelling of the ideological which media studies facilitates.
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I mentioned earlier in this paper the importance of asking questions. The devising of pertinent questions is a skill which needs to be acquired over time. Addressing these pertinent questions requires the skills of ‘reading’ in the widest possible sense. Media education is, in part, concerned with fostering and encouraging appropriate questions and reading skills. I have three other points to make in this paper. It will bring me not to an end but to a beginning. These points are concerned with democracy and production and the carnival mentioned in my title. Let me address them one at a time. I suggest that the study of the media in a democracy should be a duty not an option for all its citizens. This means that in education a process should begin which will continue throughout the life of the democratic citizen. This aspiration also requires that we study the nature of democracy, its strengths and weakness, freedoms and obligations. This has to become part of our engagement with the political through media education. It may result in the taking of examinations, but it must result in a broader understanding of the ways in which the world is structured and represented. Such an understanding needs to be critical in a positive and productive sense. This leads me to the second issue. This is concerned with the concept of production. A great deal needs to be said here, but I must restrict myself to a couple of points. Production implies the making of messages. The making of messages should be a responsibility of all citizens in democracies. In school it means that pupils and students will need to acquire and put into practice skills of analysis, of commentary and of (media) production. This implies much more than a simple benign form of literacy. It implies the encouragement of a multimodal literacy which is committed to the extension and understanding of democratic values and of democratic practices. Just how this can be taken forward is the subject for another paper. For the moment it has to be noted that media education requires an engagement with the world as well as a study of it. That engagement may take many forms, but a central one would be the production of messages which arise from analysis and move via understanding to action. In part, that action may take the form of research. We and our students have to choose what to study about the media. Our research choices immediately raise issues which are of a broadly political nature. We know that cultural studies has been and continues to be fascinated by, if not in thrall to, consumerism. Many of us have been spending valuable research hours studying issues which may allow us to turn away from inconvenient material conditions. I am reminded of the words of Keith Tester, who wrote: “What is interesting about shops today is not what is in them but who sleeps in their doorways.” (Tester, 1994:11) Finally, I want to refer to the carnival. It is perhaps an odd way to end this paper, but I think not. There has been much discussion over the last couple of dec-
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ades of the place of the carnival and the carnivalesque in relation to the media and culture. Writers of the stature of Bakhtin (1984) and De Certeau (1988) have been shamelessly invoked to provide arguments in favour of enjoying the ways in which through the carnival certain forms of oppositional practice might occur. This, in the Latin American context, has been interpreted as a means of somehow dealing with inhuman exploitation or intolerable existences. The carnival is then invoked, via Bakhtin and Rabelais, as the time, usually once a year, when the rules are reversed and when the beggar can become king for a day. Linked to this has been the celebration of aspects of popular culture, including the vulgar, and the bawdy. I do not remark on these issues in order to make any kind of moral condemnation. My condemnation is purely educational. I wish to suggest that emphasis on the carnival in relation to media education has often been little more than a means, intentional or not, of ignoring the blatantly political character of life in a democracy. The British cartoonist Steve Bell is well aware of the value of vulgarity in making a political analysis, as the following cartoon demonstrates:
Abb. 3: You are all coming with me
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A nuanced semiotic analysis of this cartoon would demonstrate what is also pretty obvious from a cursory glance. The political cartoon occupies dangerous territory and articulates a discourse inviting action in the form of response. Prime Minister Blair is shown as a person with fanatical beliefs and someone who is willing to take everyone with him when he goes. Learning to articulate a response to such imagery, as well as establishing where to locate oneself in relation to its message is part of the political function of media education. Such work is not prescriptive in terms of outcome, but is demanding and rigorous. Students will have to learn about the importance of satire and irony, and how to place contemporary political cartoons in relation to their histories and contexts. But here we are already moving toward the importance of the political in relation to media education. It does indeed have something to do with a form of carnival – but it is not about the once yearly reversal of roles in order for a little relief from oppression. Education is about recognising, in the word of the North American group The Band that “Life is a carnival, Believe it or not.” And life, as long as it exists, goes on seven days a week. We have to be concerned with the kind of carnival we are going to take part in, the ways in which we can influence it, argue with it, re-structure it. In a democracy, this kind of participation is crucial. And finally, with apologies to Harold D Lasswell (1947), I offer some important political questions for media educators to address: Who – a person, an organisation, a party, a business? Says what – is it a message of love, of hate, of conciliation, of commercial import, of authority or what? In which semiotic register? – are we being cajoled, seduced, harangued, harassed, rationally engaged, patronised, or what? In which channel – and who owns it? With which specific discourse – can we recognise a discourse when we see one, and are we aware that discourses do not only describe topics, they also structure them? With what intended effect – and how would we know? And what are we, as citizens of a democracy, going to do about it? This will provide us with an educational beginning for the re-cognising of the political in media education. Now we have to organise our pedagogies to make this a possibility – in the spirit of democracy and open enquiry. I return to the title of this paper and the significance I place upon media education as core dimension of the building of a healthy democracy. When I argue that the carnival
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is over, I am referring to the once a year variety. Education can make a better carnival than that.
References Bakhtin, M. (1984), Rabelais and His World, trans. Hélène Iswolsky, Bloomington: Indiana University Press. Certeau, M. De (1988), The Practice of Everyday Life. London: University of California Press. Lasswell, H. D. 1947: TheAnalysis of Political Behaviour. London: Routledge and Kegan Paul Ferguson, R. (2004) The Media in Question, London: Arnold. Tester, K. (1994) Media, Culture and Morality, London: Routledge.
Teil II Jugend, Medien und Politik
Ingrid Paus-Hasebrink
Zur politischen Partizipation von Jugendlichen im Kontext neuer Medien – Aktuelle Ansätze der Jugend(medien)forschung
1. Zur Einordnung des vorliegenden Beitrags Der vorliegende Beitrag versteht sich – dies soll zum Verständnis und zur Einordnung vorweg deutlich gesagt werden – als ein Plädoyer für Veränderungen in der Jugend(medien)forschung, um Veränderungen im Jugendalltag auch im Hinblick auf den Umgang Heranwachsender mit neuen Medien gerecht werden zu können. Dies gilt auch und in besonderer Weise, wenn es um politische Partizipationschancen Jugendlicher mit Hilfe von Online-Medien wie dem Internet1 geht. Um adäquate Strategien zur Unterstützung junger Menschen im Aufbau von Partizipation anbieten zu können, bedarf es genauer Erkenntnisse, wie Jugendliche mit Politik umgehen, welches Verständnis von Politik sie haben und mit welchen Mitteln sie sich in den gesellschaftlichen Diskurs einbringen – eine Herausforderung auch für die Jugend(medien)forschung. Sie ist aufgefordert, theoretische und methodologische Zugänge zu entwickeln, die ein adäquates Verständnis junger Menschen im Umgang mit Politik und eigenen Formen von gesellschaftlicher Partizipation – und dies im Kontext ihrer Umgangsweisen mit neuen Medien, allen voran dem Internet –, erlaubt. Im folgenden Text wird in fünf Schritten ein Vorschlag2 zur Diskussion gestellt, der helfen soll, medienpädagogisch relevante Fragen nach Fördermöglichkeiten Jugendlicher neu zu diskutieren. Im Vorliegenden soll dies mit Blick auf 1
2
Das Internet ist bei den Jugendlichen heute nahezu als ein omnipräsentes Medium zu bezeichnen. (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2006). So nutzen derzeit 90 Prozent der 12- bis 19-Jährigen in Deutschland das Internet zumindest gelegentlich. Diese Zahl liegt weit über der Nutzungszahl der gesamten Internetnutzer, die bei 59,5 Prozent liegt (van Eimeren/Frees 2006: 403). Der hier diskutierte Vorschlag zur Jugend(medien)forschung wurde bereits im Rahmen einer anderen Publikation (siehe dazu Paus-Hasebrink 2005) diskutiert; im Folgenden wird er im Hinblick auf das Themenfeld Partizipation von Jugendlichen im Kontext neuer Medien angewendet.
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Ingrid Paus-Hasebrink
ihre politische Partizipation sowie zur Vermittlung von Strategien zum Lehren und Lernen demokratischen Engagements geschehen. 2. Zur Ausgangslage: Jugendliche und ihr Umgang mit Politik3 In jüngerer Zeit ist häufig das Lamento über das Desinteresse Jugendlicher an Politik zu vernehmen, gar von Politikverdrossenheit ist die Rede (Pickel 2002). So gaben in der 15. Ausgabe der Shell-Studie (2006), der zentralen Langzeitstudie in Deutschland seit den fünfziger Jahren im Hinblick auf Einstellungen, Werte und Sichtweisen junger Menschen4, im Jahr 2006 tatsächlich nur 39 Prozent der jungen Menschen zwischen 15 and 25 Jahren an, sich für Politik zu interessieren. Bezieht man noch die Altersgruppe der zwölf bis 14-Jährigen mit ein, so sinkt der Wert auf 35 Prozent; als stark interessiert bezeichnen sich davon nur 5 Prozent der Jugendlichen, die anderen nur als interessiert. In der Vorgängerstudie 2002 waren es lediglich 34 Prozent (bzw. 30 Prozent), die sich insgesamt für Politik interessierten; damit wurde eine, wie es in der aktuellen Ausgabe heißt, Talsohle markiert, die „kaum noch unterboten werden konnte“ (Schneekloth 2006: 105). 1991, nach der Wende in Deutschland, interessierten sich immerhin noch 57 Prozent für Politik. In der Zwischenzeit war die Zahl kontinuierlich gesunken. Erhoben wurde das Interesse an Politik – wie in den Jahren zuvor – lediglich auf Basis einer einzigen Single-Item-Frage (Schneekloth 2003; 2006). Auch in der aktuellen Ausgabe bestätigt sich, dass Jungen generell mehr Interesse für Politik aufbringen als Mädchen, und ältere Jugendliche mehr als jüngere; bei den zwölf bis 14-Jährigen äußerten 2002 nur elf Prozent deutliches Interesse für Politik, im Jahr 2006 waren es immerhin 16 Prozent. Offenkundig wird auch der nicht unvermutete Zusammenhang zwischen dem politischen Interesse der Jugendlichen mit dem ihrer Eltern: Je stärker sich Eltern für politische Themen interessieren, umso mehr Interesse findet sich auch bei ihren Kindern5. Auch die formale Bildung spielt in diesem Zusammenhang eine große Rolle. So zeigen Gymnasiasten mit 39 Prozent ein 3 4 5
Siehe zum Folgenden: Hasebrink/Paus-Hasebrink (2007). Sie bezieht sich auf standardisierte mündliche Interviews mit einer repräsentativen Stichprobe von 2.532 Jugendlichen zwischen zwölf und 25 Jahren. Dieses Ergebnis lässt sich mit Blick auch auf Daten der von der EU finanzierten EUYOUPART-Studie (SORA 2005) bestätigen; auch dort wird ein starker Zusammenhang zwischen dem politischen Engagement Heranwachsender und dem ihrer Eltern evident. EUYOUPART wird von einem Konsortium von Forschungsinstituten aus Österreich, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Italien, der Slowakei und Großbritannien organisiert. Die nationale repräsentative Stichprobe von 1000 Jugendlichen pro Land bezieht sich auf junge Menschen zwischen 15 und 25 Jahren. Die Daten basieren auf einer Befragung im Jahr 2004.
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deutlich höheres Interesse an Politik als Haupt- und Realschüler mit jeweils nur 14 Prozent. Ebenso ist eine gewisse Unzufriedenheit der Jugendlichen mit der aktuellen Politik von Relevanz. Deutlich wird insgesamt, „dass es sich bei den politisch Interessierten um eine besondere Gruppe handelt, die nicht den Mainstream der Jugendlichen darstellt“6 (Schneekloth 2006: 106). Diese Ergebnisse legen allerdings nicht den Schluss nahe, dass Jugendliche in Deutschland sich per se nicht für Politik interessieren; sie weisen jedoch deutlich darauf hin, dass junge Menschen das Interesse für und die Beschäftigung mit Politik nicht mehr für ein erstrebenswertes Ziel halten. Deutlich wurde aber auch, dass sich Jugendliche sehr wohl für Politik interessieren, wenn Politik in einem breiteren Sinne verstanden wird (vgl. Gensicke 2003): Jugendthemen (bei 51 Prozent der Fall), wie auch Umweltthemen und Tierschutz (37 Prozent), soziale Benachteiligung (34 Prozent), ebenso das Thema Migration (34 Prozent) z.B. stoßen auf ihr Interesse, um nur einige wenige zu nennen. Die Interessen Jugendlicher beziehen sich zudem – dies bestätigt die Shell Jugendstudie 2006 (Schneekloth 2006: 126) – nur selten auf klassische politische Institutionen bzw. politische Parteien; auch im Vordergrund ihrer eigener Aktivitäten stehen vielmehr Aktivitäten in Sportvereinen, in Schule oder Hochschule sowie in Jugendorganisationen. Für Österreich liegt mit dem vom Bundesministerium für Soziale Sicherheit, Generationen und Konsumentenschutz (BMSG) (2003) in Auftrag gegebenen und finanzierten 4. Bericht zur Lage der Jugend in Österreich vergleichbares Datenmaterial vor7. Auch diese Studie basiert auf einer Single-Item-Frage: „Interessieren Sie sich für Politik?“ Die österreichische Untersuchung lässt ein ähnliches Bild erkennen wie die deutsche Shell-Studie (Zentner 2003). 2003 gaben 37 Prozent der Befragten zwischen 14 und 30 Jahren an, sich sehr für Politik zu interessieren; bei den Jungen waren es 39 Prozent, bei den Mädchen 34 Prozent. Auch in Österreich ließen die älteren Probanden (25 bis 30 Jahre) mit 45 Prozent das größte Interesse erkennen; von den 14- bis 19-Jährigen hingegen waren nur 26 Prozent an Politik interessiert. Wie in Deutschland bezieht sich das politische Engagement nicht auf etablierte politische Institutionen wie die Europäische Kommission, die eigene Regierung, Gewerkschaften oder politische Parteien, sondern vielmehr auf so genannte „Grass-Roots“-Bewegungen, lokale und selbst initiierte Aktivitäten (Zentner 2001).
6 7
So spielt zum Beispiel das Thema Gläubigkeit eine Rolle: Politisches Interesse findet sich weniger bei gottesgläubigen Jugendlichen (Schneekloth 2006: 106). Es enthält eine repräsentative Studie mit jungen Menschen zwischen 14 und 30 Jahren (n=1.549).
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Ein Blick auf die qualitativen Fallstudien mit zwanzig ausgewählten Jugendlichen8, die im Rahmen der Shell-Studie 2003 nach speziellen Kriterien – zivilgesellschaftliches Engagement sowie Aktivitäten mit bzw. über das Internet (Picot/ Willert 2003)9 – ausgewählt wurden, lässt weiter aufhorchen: In den Fallstudien konnten gar – allerdings im Kontext mit dem Internet – neue Formen von politischen Interessen, Strategien und Ausdrucksformen Jugendlicher identifiziert werden. Die Art, wie diese Jugendlichen Politik wahrnehmen und bewerten, weist folgende zentrale Merkmale auf: x x x x x
Jugendliche schätzen in ihren politischen Partizipationsformen eher Aktion anstatt Organisation. Sie nehmen zumeist eine globale Perspektive ein und wählen eher eine pragmatische statt einer ideologisch ausgerichteten Strategie. Sie tun sich öffentlich im Internet kund, gestalten politische Auseinandersetzung und Partizipation über Internet-Foren und wählen Public Relations-Strategien als spezielle Form von öffentlichem Engagement.
Diese jungen Menschen bedienen sich in vielfältiger Weise des Internets – auch zur Planung ihrer öffentlichen, im weitesten Sinne politisch getragenen Interessen. Gerade das Internet scheint für sie ideale Bedingungen einer gleichberechtigten Partizipation in Form direkter Demokratie bereit zu halten. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich die Muster des politischen Engagements Jugendlicher mittlerweile ebenso wie die ihres Umgangs mit Medien als stärker individualisiert erweisen, als flüchtig und geprägt von Spontaneität. Aktivitäten dieser Art werden aber in den großen empirischen, quantitativ ausgelegten Untersuchungen zur politischen Partizipation Jugendlicher kaum bis 8
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Mit Hilfe von Leitfadeninterviews wurden die Jugendlichen sowohl nach ihren lebensweltlichen Bedingungen, ihren aktuellen Aktivitäten und den Verbindungen dieses Engagements und dem Internet ebenso befragt wie nach ihrer Einstellung zu Politik und Globalisierung; sie wurden auch um ihre Meinung zu Gesellschaft, Demokratie und die Zukunft der Gesellschaft gebeten. Der Schwerpunkt der Fallstudien 2006 war dem Thema „Jugend in einer alternden Gesellschaft“ gewidmet (Picot/ Willert 2006: 241). Doch auch im Rahmen dieser Fallstudien findet sich ein Portrait einer 19-jährigen Abiturientin mit dem Titel: „Politik fängt an, wenn man sich für etwas einsetzt“ (ebda: 313); es bestätigt das breite Politikverständnis junger Menschen. So erklärt Katharina: „Ich finde Politik fängt an, wenn man sich für etwas einsetzt, wenn man Sachen, die vielleicht nicht gut sind, anspricht oder Sachen unterstützt“ (ebda: 318). Katharinas Definition von Politik entspricht ihre große Skepsis politischen Parteien gegenüber; sie steht auch keiner politischen Partei nahe, sondern möchte sich gerade ihre Unabhängigkeit bewahren.
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gar nicht erfasst. Und auch in einigen Fallstudien wie etwa der vorletzten ShellStudie, in denen immerhin die oben genannten politischen Partizipationsaktivitäten einiger weniger Jugendlicher erfasst und beschrieben wurden, erscheinen sie eher als ein singuläres buntes Phänomen einer kleinen Minderheit. Wirft man nun – über spezielle Studien zur politischen Partizipation hinaus – einen Blick auf die großen neueren Jugendstudien zu Jugendgruppen und Jugendstilen in Deutschland (Eckert et al. 2000; Hitzler, zit. nach Scherr 2004) so zeigt sich dort, dass diese ihr Interesse vor allem auf „die Abgrenzungen und Spezifika von Szenen und Stilen“ (Scherr 2004: 232) richten. Sie blicken damit vor allem auf die „bunten Kühe“ (Paus-Haase: 2000; Paus-Hasebrink: 2005) unter den Jugendlichen. Größere Gruppierungen Jugendlicher – eher die Grauabstufungen – fallen dabei tendenziell aus dem Blickfeld, ein Ausfluss nicht zuletzt der theoretischen und methodischen Grundlagen der Studien, die auf bekannten Ansätzen der Jugendmedienforschung basieren.
3. Zur theoretisch-methodischen Ausgangslage der Jugendforschung heute Im Kern kreist die aktuelle Jugendforschung um die Frage nach der Identitätsbildung junger Menschen; im Zentrum stehen dabei aktuell Begriffe wie ‘Patchwork-Identitäten’ oder ‘fragmentierte Identitäten’; sie beschreiben die subjektive Seite veränderter Identitätskonzepte und sind entstanden aus dem von Beck proklamierten Spannungsverhältnis von Individualisierung und Integration (Beck/Sopp 1997) einer von reflexiven Modernisierungsprozessen gekennzeichneten Gesellschaft. Dieser Ansatz gilt nahezu als ein universelles Erklärungsmodell für generelle Entwicklungen, er bietet gewissermaßen Folie und Rahmung aktueller Forschung, dominiert diese geradezu. Auch der wichtige aktuelle Ansatz der Selbstsozialisation (Müller et al. 2004), der von einer hohen Autonomie- und Wahlfähigkeit von Heranwachsenden ausgeht und die Eigenleistungen der Individuen im Sozialisationsprozess akzentuiert und ihre Agency betont, bezieht sich in zentralen Anteilen auf die Individualisierungshypothese. Er umfasst nach McDonald (1999) jugendkulturelle Praktiken aller Art und versteht diese als „struggles for identity“, „in denen es darum geht, unter Bedingungen einer fragmentierten Sozialität das Gefühl subjektiver Kohärenz und eigener Handlungsfähigkeit herzustellen bzw. aufrechtzuerhalten.“ (Scherr 2004: 231) Hintergrund dieser These ist, dass Jugendliche in einer Phase von Veränderungen und Erosionen von Institutionen (auch politischen) darum bemüht sind, Unsicherheit zu reduzieren und den vielfältigen Erfahrungen Sinn abzugewinnen, um eine „halbwegs kohärente Selbstbildung“ (ebda) zu erreichen.
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Dieser theoretischen Fundierung gegenüber ist allerdings einige Skepsis angebracht (Scherr 2004). Denn die im Kontext von Überlegungen zur so genannten Risikogesellschaft entstandenen und von einer „radikalen Enttraditionalisierung“ ausgehenden theoretischen Fundierungen im Hinblick auf deutliche Individualisierungstendenzen werden nur einem Teil jugendlicher Alltagswelten sowie jugendlicher Umgangsweisen mit Medien, auch und gerade in Bezug auf ihre Partizipation an der Gesellschaft, gerecht. Zudem findet sich neben der Hypothese erweiterter Spielräume und Handlungsoptionen durch Individualisierungsprozesse in der Jugendforschung noch die Annahme, dass Jugendliche zwar individualisierte Ich-Identitäten ausbilden, jedoch nicht alle Heranwachsenden gleichermaßen über die entsprechenden Handlungskompetenzen zur Bewältigung ihres Alltags verfügen. Es ist die Rede von Ungleichheiten beim Zugang zu ‘begehrten Lebenschancen’. Diese Sichtweise entspricht der in seiner Untersuchung zu rechtsextremistischen Orientierungen bei Jugendlichen getroffenen Feststellung Wilhelm Heitmeyers (1987), dass nur die Starken den fortschreitenden Individualisierungstendenzen gewachsen sein werden. Dem Theorem der Individualisierung ist also das Theorem der ‘sozialen Segmentierung’ hinzuzufügen.
4. Desiderata der Jugendforschung Die genannten Perspektiven gründen auch heute noch weitgehend auf die von Klaus Hurrelmann in die Sozialisationsforschung eingeführten Begriffe ‘innere Realität’ und ‘äußere Realität’ (Hurrelmann 1983; 1990; Hurrelmann/Ulich 1991a; b): Auf der einen Seite, der ‘inneren Realität’, stehen die subjektiven Faktoren, auf der anderen, der ‘äußeren Realität’, ist von den gesellschaftlichstrukturellen Bedingungen, den sog. ‘objektiven’ Faktoren, die Rede. Es ist festzustellen, dass es also einerseits um die proklamierten Ausgangsbedingungen, also die ‘äußere Realität’, geht, und andererseits um die Konzepte von Patchwork-Identitäten, Freiheitsoptionen und Wahlnotwendigkeiten als Beschreibung der sog. ‘inneren‘ Realität’. Diese Zweiteilung führt oft zum Blick auf spezielle Szenen und Stile subkulturell geprägter Gruppen. Alltagskommunikation kommt darin nur marginal vor, so dass – dies sei ein weiteres Mal betont – die Lebensweisen breiter Jugendgruppen tendenziell aus dem Blickfeld fallen und die Zusammenhänge von Medien und Medienumgang im Jugendalltag, Individuum und Gesellschaft sowie die konkrete Aneignung im Hinblick auf den Umgang Heranwachsender mit Medien, etwa im Kontext von Sozialisationsverläufen Jugendlicher, oft nur unzureichend erfasst werden.
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Hinzu kommt, dass auch die methodische Herangehensweise bereits eine Engführung mit sich bringt: Kuhn und Schmidt (2004) weisen darauf hin, dass sich die meisten empirischen Untersuchungen zur politischen Einstellung Jugendlicher im Hinblick etwa auf die Erhebung der Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen auf die oben bereits erwähnte Single-Item-Frage: „Interessieren Sie sich ganz allgemein für Politik“ beschränken. So wird in der Vorgabe einer zweistufigen Ja/Nein- bzw. einer vierstufigen Antwortskala (sehr stark bis gar nicht interessiert) geradezu nahe gelegt, dass Jugendliche mit dem Single Item ein Indikator klassischer Politikfelder wie Wirtschaftspolitik, Außenpolitik Verteidigungspolitik, Politik der Parteien etc. assoziieren10. Auf diese Weise werden jedoch politische Felder benannt, von denen sich Frauen und Mädchen tendenziell eher ausgeschlossen fühlen. Sie interessieren sich stärker für andere, „neue“ politische Felder wie Gesundheits- und Umweltpolitik. Breit angelegten repräsentativen Untersuchungen gelingt es zudem nur unzureichend, einen (vermeintlichen) Überblick über die Lebensweisen und, daran geknüpft, die Umgangsweisen, auch die medialen, von Jugendlichen zu erfassen. Sie bleiben letztlich allzu oft bei den Rückverweisen auf soziodemographische Aspekte als Erklärungspotential stehen, können zwar sozio-kulturelle Phänomene aufzeigen, sie aber nicht ausreichend erklären. Die Frage ist daher, ob nicht bereits die theoretischen und methodischen Ausgangspunkte für die Jugendforschung und damit auch für Konzepte der Jugendbildung, etwa im Hinblick auf politische Partizipation, Vor-Prägungen darstellen, die eine adäquate wissenschaftliche Erforschung und Reflexion ebenso erschweren wie die Diskussion um adäquate Praxiskonzepte, denn die Zusammenhänge zwischen Identität und Lebenswelt sind nur schwer in ihrer engen Verflochtenheit und Komplexität zu erfassen – eine unbefriedigende Situation. Vor dem Hintergrund einer auch in modernen oder postmodernen Gesellschaften nach wie vor unterschiedlichen Verteilung kultureller und sozialer Ressourcen und einer damit unmittelbar verbundenen eingeschränkten Wahlfähigkeit in der Gestaltung eigener Lebenswege (Niesyto 2004: 10) gewinnt diese Feststellung weiter an Brisanz. So lassen sich in der Jugend(medien)forschung sowohl theoretisch als methodisch deutliche Desiderata – und dies vor allem im Hinblick auf den Umgang Jugendlicher mit neuen Medien – feststellen. Wie könnte eine Veränderung innerhalb der Jugendmedienforschung aus-sehen, die in der Lage ist, den aktuellen Veränderungen im Alltag Jugendlicher und dem darin inhärenten Umgang mit neuen Medien besser nachzuspüren?
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Vgl. dazu auch die Shell-Studien.
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Vorschläge für eine veränderte Jugendmedienforschung: Soziales Milieu – Habitus – Erleben – Orientierung – Identität
Veränderungen in der Jugendmedienforschung setzen eine stärkere sozialisationstheoretische Verknüpfung von makrosozialen Strukturen und mikrosozialen Entwicklungsprozessen voraus (Hoffmann/Merkens 2004); denn der Blick auf die eine Seite – die ‘subjektiven’ Faktoren – sowie auf die andere Seite – die ‘objektiven’ Faktoren – zeitigt trotz allen theoretischen Wissens um dynamische Interaktionsprozesse (Oerter/Montada 1998: 324-325) zumeist einen Hiatus. Diesen gilt es zugunsten einer Perspektive zu überwinden, die den Gegensatz zweier einander gegenüberstehender Perspektiven zwischen beiden Polen überwindet. Eine derartige Weiterentwicklung der Jugend(medien)forschung kann in der Zusammenschau und Reflexion folgender fünf Begriffe liegen: Soziales Milieu – Habitus – Erleben – Orientierung – Identität. Mit dem Rückgriff auf Bourdieus „Theorie der Praxis“ (1979) kann das soziale Feld, in dem jeweils bestimmte Handlungsziele und bestimmte Ressourcen wirksam werden, sowie bestimmte Handlungsmuster jeweils „am Platz“ (Weiß 2000: 47) sind, bestimmt werden11. Es geht also um die sozialen Räume oder, um einen Begriff von Bourdieu einzuführen, um das soziale Milieu. Denn mit dem Blick auf das soziale Milieu und auf seine phänomenologische Ausprägung, den Habitus, wird ein zentraler Lebensgrund reflektierbar, die Verflochtenheit der genannten Aspekte kann besser erfasst werden. Es sind keine ständigen Problematisierungen des Signifikanten (Lash 1996: 269) mehr nötig. Diese Perspektive hilft die Beziehung zwischen den Einflussgrößen Wandel von Sozialisation – Medien – soziales Milieu theoretisch besser zu erfassen und Veränderungsprozesse im medialen Umgang von Jugendlichen zu beschreiben. Die hohe Bedeutung lebensweltlicher Faktoren rückt in das Zentrum der Aufmerksamkeit12. 11
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Vgl. zu den folgenden Überlegungen Ralph Weiß’ Ausführungen zum „praktischen Sinn“ und seine Relevanz für eine adäquate Fernsehrezeptionsforschung (Weiß 2000); sie dienten als Anregung für die im vorliegenden Beitrag diskutierte neue Perspektive auf die Jugend(medien)forschung. Diese Betrachtungsweise geht zurück auf Husserl; er verlangte in seiner phänomenologischen Perspektive auf die ‘Lebenswelt’ (verstanden als „Boden“ und zugleich „Horizont“ allen Wissens) nach mehr Lebensnähe in der Forschung und legte damit die Grundlage für das ‘Lebenswelt-Konzept’ (vgl. Störig 1987: 587 f.). Das Postulat ‚Lebensnähe’ griff Alfred Schütz auf und rückte eine eingehende Betrachtung der alltäglichen Lebenswelt in das Zentrum soziologischer Theorie (1960). Schütz verstand die ‘Lebenswelt’ als „grundlegendes Koordinatensystem zeitlicher, räumlicher, sozialer Relevanzen“ (Schweizer 2007: 287) und legte damit den Grundstein für die phänomenologische Soziologie, in deren Mittelpunkt die Zielsetzung steht, universale Strukturen der alltäglichen Lebenswelt aufzudecken, die eine gemeinsame kommunikative Umwelt erst konstituieren. Auch im Sozialkonstruktivismus von Ber-
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Als Ausgangspunkt der Überlegungen dient die Erkenntnis, dass Gemeinschaft in geteilten Bedeutungen und selbstverständlichen lebensgeschichtlichen Praktiken gelebt wird (ebda). Diese stellen sich im gemeinsamen Erleben her, sind eingelagert in gemeinsame Gewohnheiten13. Gemeint sind damit auch „körperlich eingeschriebene“, „nicht gedachte“ Kategorien, die im Begriff des Habitus miterfasst und als „gemeinschaftliches Wissen“ bezeichnet werden können (ebda: 268). Diese „nicht-gedachten Kategorien“, die die Einbettung des Selbst in ein Geflecht lebensgeschichtlicher Praktiken beschreiben14, unterliegen der Notwendigkeit gemeinsamer Bedeutungsherstellung, der Interpretation, heute geprägt von der zentralen Kategorie Erleben im Zusammenspiel der PeerGroups in unterschiedlichen Ausprägungen von ‘Jugendkultur’. Dies zu beachten könnte ein wichtiges Moment für Konzepte der Jugendbildung sein. Um handlungskompetent zu sein, Sinn im Alltag herstellen, den Alltag bewältigen zu können, also partizipieren zu können, benötigen nun besonders junge Menschen Orientierungen. Sie bedienen sich dabei vor allem nichtangeleiteter, attraktiv-emotional besetzter (medialer) Orientierungsmöglichkeiten und schaffen sich – auch und in besonderer Weise mit Hilfe des Internet – entsprechende Räume und Foren. Insgesamt sind Orientierungsmuster kulturell tradiert; sie verweisen auf den gesellschaftlichen Standort und steuern, zu Alltagswissen geronnen, das individuelle Handeln von Menschen mit. Sie helfen, soziale und personale Identität auszubilden, also den eigenen Standort zu finden, Handlungskompetenz zu erlangen. Der Blick richtet sich also wiederum auf die ‘objektiven’ sowie die ‘subjektiven’ Faktoren: Erneut tut sich die Gefahr eines Hiatus auf. Mit dem Blick aber auf die Methoden der Sinngebung, das Tableau alltagspraktischer Orientierungsmuster, d.h. wie Menschen ihren Handlungen im Alltag Sinn geben, stellt sich nunmehr aber die Frage weder aus einer ‘subjektiven’ noch ‘objektiven’ Perspektive. Sie stellt sich vielmehr aus der Perspektive des „praktischen Sinns“, mithin der ‘Praxeologie’. Ins Visier gefasst wird zwar nach wie vor das je individuelle, aber dennoch über die subjektive Repräsentation hinaus weisende Lebensumfeld, der Blick gilt nun dem sozialen Milieu, also den sozialen Räumen, die dem Einzelnen tatsächlich oder symbolisch zur Verfügung stehen,
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ger/Luckmann sowie im Habitus-Konzept von Bourdieu geht es „um die Beschreibung der gesellschaftlichen Bedingungen der sozialen Konstitution von ‚sozialen Tatsachen’“ (Schweizer 2007: 265) in der Lebenswelt von Menschen. Zur weiteren Differenzierung des Begriffs ‘Lebenswelt’ siehe z.B. Schweizer 2007: 287ff. In diesem Zusammenhang sei auch an die von Karl Mannheim herausgestellte prägende Bedeutung von Generationen und Kohorten gedacht; siehe dazu weiter: Mannheim (1964). In diesem Kontext spielt die Körperlichkeit von Heranwachsenden, ihre Selbstwahrnehmung und Selbstkonstruktion, die in der Ausbildung ihrer Identität zentral ist, eine wesentliche Rolle; siehe dazu ausführlicher: Busch et al. (2001) sowie Hipfl et al (2005).
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den Räumen also, in denen der Einzelne seine ‘Kapitalien’ möglichst sinnvoll einsetzt. Im Zentrum der „Theorie der Praxis“, mithin des praktischen Sinns, steht der ‘Eigennutz’ und entsprechend dazu das ‘Taxieren’. Es geht also darum zu taxieren, wie man Chancen in den von Habermas benannten Sphären alltagspraktischen Handelns wie Erwerbsleben (Arbeit, Verdienst, Vermögen), Politik und Recht (gesellschaftliche Ordnung, Recht, Moral) und Privatleben (Liebe, Beziehung, Glück) (Habermas 1988: 473) nutzen kann, um eine individuelle Erfolgsperspektive zu gewährleisten. Der Einzelne, auch bereits der Jugendliche, legt sein praktisches Handeln als einen Versuch an, kraft seiner ‚Kapitalien‘ die ins Auge gefassten Chancen des jeweiligen sozialen Ortes zu verwirklichen. Dabei, das muss man im Auge behalten, handelt es sich keinesfalls um einen klar bewussten Vorgang, sondern einen komplexen, von vielen Faktoren, wie etwa der formalen Bildung, dem Geschlecht und der damit verbundenen Körperlichkeit der Heranwachsenden mitbestimmten Prozess. Ebenso gilt es im Blickfeld zu behalten, dass der ‘Schatz der subjektiven Kapitalien’ sehr ungleich verteilt ist. Im Mittelpunkt der Frage nach dem ‘praktischen Sinn’ steht die Frage nach den unterschiedlichen sozialen Milieus und ihren Habitusausprägungen; das heißt nach den unterschiedlichen Möglichkeiten des Einzelnen oder einzelner Gruppen, Identität auszubilden und Handlungskompetenz zu erwerben. Mit dem Blick auf den ‘praktischen Sinn’, die Praxeologie, kann es gelingen, eine Brücke zwischen sog. ‘subjektiven’ und ‘objektiven’ Faktoren zu schlagen und psychologische und soziologische Ansätze, die die Jugendforschung prägen, zu vereinen. Im Kontext der Methoden der Sinngebung, des praktischen bzw. alltagspraktischen Sinns, kann nunmehr die sich jeweils spezifisch vollziehende Entwicklung folgender drei Bereiche zusammen gedacht werden: x x
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der Bereich der Handlungsoptionen. Darunter sind die gesellschaftlichstrukturell bedingten Faktoren zu verstehen, der Bereich der Handlungsentwürfe. Sie stellen die subjektiven Wahrnehmungen dieser Struktur im Zusammenspiel der Verzahnung von Praxis und handlungsleitender Anschauung dar, verbunden mit dem jeweiligen sich aus diesem Zusammenspiel entwickelnden ‘Eigensinn’ des Einzelnen und der Bereich der jeweiligen Handlungskompetenzen. Darunter sind die subjektiven Ausprägungen dieses Konglomerats, also sowohl der Handlungsoptionen und der vor ihrem Hintergrund möglichen Handlungsentwürfe, auf der Handlungsebene zur sinnvollen Alltagsgestal-
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tung zu verstehen, was der Einzelne also tatsächlich von seinen Handlungsentwürfen unter den gesellschaftlich-strukturellen Bedingungen in der Lage ist umzusetzen. Mit der Zusammenschau dieser drei Ebenen lässt sich eine Zweiteilung, wie noch im Modell der produktiven Realitätsverarbeitung von Hurrelmann angelegt, überwinden15. Mit dem Blick auf den „praktischen Sinn“ (Weiß 2000: 57ff.) lassen sich die unterschiedlichen Handlungsoptionen erklären und vor diesem Hintergrund die Handlungsentwürfe sowie die damit verbundenen sehr unterschiedlichen Handlungskompetenzen von Jugendlichen in den Blick nehmen.
6.
Politische Partizipation und Jugend(medien)forschung: Konsequenzen und Herausforderungen
Um handlungskompetent zu sein, um Sinn im Alltag herzustellen, den Alltag zu bewältigen, bedarf es also Orientierungen. Dazu bedienen sich Kinder, Jugendliche und Erwachsene in ihrem Alltag, eindrucksvoll empirisch belegt, des viel-
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Zur Erläuterung des genannten Modus der – auch methodisch mittels des Modells der Triangulation unterschiedlicher aufeinander bezogener Methoden (Programmanalyse, repräsentative Fragebogenerhebung, qualitative Gruppendiskussionen, Leitfadeninterviews mit TalkshowFans und gelegentlichen Nutzern und intensive Fallstudieninterviews mit Fans) ermöglichten empirischen – Zusammenschau soll, an dieser Stelle zwangsläufig verkürzt, auf ein Fallbeispiel aus der Studie „Talkshows im Alltag von Jugendlichen“ (Paus-Haase et al. 1999) zurückgegriffen werden. Die 12-jährige Julia lebt nach den Erosionen der Wende (hohe Arbeitslosigkeit, Desillusion und Verunsicherung in breiten Teilen der Bevölkerung, Schließung alternativer Freizeitmöglichkeiten wie Jugendclubs und Kinos etc.) in einer Großstadt SachsenAnhalts in hoch belasteten lebensweltlichen Bedingungen: Ihre Eltern sind geschieden, an der Scheidung gibt sie sich selbst die Schuld. Da sie die unstete Lebensweise ihrer Mutter mit wechselnden Partnern ablehnt, fehlt Julia in der Frühpubertät eine feste Vorbild- und Orientierungsfigur. Julia sucht Halt in Daily Talks, insbesondere der Talkshow „Sonja“, die sie naiv und hoch involviert zur Orientierung und als Plattform für ‘Gutes’ und für ‘Gerechtigkeit’, auch für Kinder, nutzt. Julias lebensweltliche Bedingungen, in Folge der Wende gesellschaftlich-strukturell in besonderer Weise geprägt, bieten mit Blick auf die oben genannten Ebenen einen spezifischen Humus für ihre Handlungsentwürfe, ihre subjektive Wahrnehmung dieser Struktur, ihre Einschätzungen darüber, was sie selbst kann, was ihr gelingt oder vielmehr nicht gelingt. Julia greift in dieser Situation in einer ganz spezifischen ‘eigenwilligen’ Art auf die Moderatorin Sonja, ein mediales Umweltangebot, zurück. In der Überhöhung der Moderatorin zu einer ‘weisen Frau’, zu einer ‘hilfreichen Fee’, gelingt es ihr (es steht zu vermuten, nur vorübergehend), Handlungskompetenz zu gewinnen, ihren Alltag zu leben, oder eher: ihn zu überstehen.
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fältigen Medienangebots16. „Im Medienhandeln vollzieht sich die für die ‘Alltagskultur’ konstitutive Vermittlung des Sinngehalts der quasi industriell produzierten ‘Objekte’ der ‘Massenkultur’ mit dem Eigensinn der subjektiven Aneignung im Horizont alltagsweltlicher Orientierungen.“ (Weiß 2003: 25) Im Umgang mit dem Internet kann es Jugendlichen gelingen, frei von den Zwängen des Alltags und seinen Herausforderungen, Orientierungsangebote kennen zu lernen, sie im Erleben zu genießen – also ganz ohne Handlungsdruck. Im Medienhandeln als Teil von Alltagskultur geschieht „die Vermittlung der auf die Struktur der Alltagspraxis eingestellten Orientierungen des ‘praktischen Sinns’ mit der Kreativität, Selbstzweckhaftigkeit und Emphase kulturellen Handelns“ (Weiß 2003: 25-26). 16
Zur Erklärung, wie sich das Medienhandeln im Alltag vollzieht, bieten die Forschungsarbeiten von Michael Charlton und Klaus Neumann (-Braun) zur „strukturanalytischen Rezeptionsforschung“ (1986) sowie insbesondere von Ralph Weiß zum „praktischen Sinn“ (2000; 2001) Erklärungsansätze an. Beide Ansätze setzen bei der Betrachtung der Alltagsbewältigung mit Hilfe von Medien an. Der Blick gilt also den Rezipienten, in diesem Fall den Jugendlichen als Menschen, die ihre Identität ausbilden und vor dem Hintergrund der Fülle von Alltagsherausforderungen auch kohärent halten wollen und müssen. Charlton und Neumann-Braun haben im Kontext des Ansatzes der strukturanalytischen Rezeptionsforschung im Hinblick auf die Auseinandersetzung von Kindern mit Medien deutlich gemacht, dass diese mit medialen Symbolangeboten vor dem Hintergrund ihrer Entwicklungsaufgaben, geprägt von ihren „handlungsleitenden Themen“, umgehen. Insbesondere der von Ralph Weiß speziell im Hinblick auf das Fernsehen entwickelte Ansatz zum „praktischen Sinn“, der als Anregung für die oben vorgeschlagene Verbindung subjektiver und objektiver Faktoren des Sozialisationsprozesses für die Jugend(medien)forschung diente, bietet einen wesentlichen Schritt in Richtung einer Konkretisierung des Umgangs von Menschen auch mit anderen relevanten Medien im Alltag, in diesem Fall das Internet, an. Weiß’ Ansatz gelingt es, dem individuellen Alltag und dem sozialen Kontext bei der Mediennutzung gleichermaßen gerecht zu werden. Er setzt bei der oben beschriebenen Theorie der Praxis von Bourdieu an und entwickelt unter dem Stichwort „Muster der Praxeologie“ eine theoretisch gut abgeleitete Systematik von Orientierungen, die als generative Prinzipien das Alltagshandeln von Menschen organisieren. Weiß entwickelt zudem eine Charakteristik unterschiedlicher visueller Wahrnehmungsformen, mit der „die Art und Weise, in der sich der Fern-Sehende den Sinngehalt des Angeschauten innerlich und gegenwärtig macht“ (Weiß 2001: 249). Diese sind: Anschauen, Einstimmenlassen, Vorstellen, Fühlen, Entziffern, ästhetisches Genießen und Begreifen (Weiß 2001: 249). Indem sich die Form der visuellen Wahrnehmung durch den Rezipienten auf kommunikative Gattungen, etwa des Fernsehprogramms, einstellt, etablieren sich bestimmte „Ordnungsformen“ für den Zugriff auf das Dargestellte. „Programmgattungen oder Genres sind durch je typische Muster bestimmt, nach dem sie die lebensweltlich relevante Materie behandeln“ (ebda: 250). Weiß folgert daher, dass Genres bestimmte „Diskurstraditionen“ repräsentieren, so dass die spezifische Erfahrung mit dem Fernsehen dem Rezipienten ein bestimmtes Genrewissen verschafft. Dieses hilft ihnen bei der Orientierung darüber, worauf sie sich beim Fern-Sehen einlassen wollen, wie die „Leseanweisungen“ der Produzenten beschaffen sind, wie also das Angebot „zu nehmen ist“ (ebda). Fernsehen wird damit in der Kombination aus alltagspraktischem Sinn und den oben genannten Wahrnehmungsformen zur Tätigkeit Fern-Sehen (vgl. Hasebrink 2003: 120); siehe zu diesen Ausführungen ausführlicher Paus-Hasebrink (2006).
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Das Internet mit seinen vielfältigen Anwendungen dient als Teil von Alltagsund speziell als Teil von Populärkultur17 seinen jugendlichen Usern in unterschiedlicher Weise dazu, Bedeutung(en) zu stiften, sich selbst wahrzunehmen, den eigenen Standort zu reflektieren, zu klären oder (neu) zu bestimmen. Es kann damit zu einer neuen Form der Teilhabe an der Kultur, insbesondere populärer Kultur werden. Dies gilt umso mehr als insbesondere das Internet jungen Menschen zum Austausch dient, Internet-bezogene Aktivitäten können zum Indikator für ‘in’ oder ‘out’ in Peer-Groups werden. Das Internet hält weniger hürdenreiche, einfachere Wege zur politischen Information und Partizipation auch für diejenigen bereit, die aufgrund ihrer (niedrigeren) formalen Bildung und ihrer speziellen Milieuzugehörigkeit keine oder nur wenige Bezüge zu Produkten der Hochkultur, wie etwa zur Qualitätspresse, haben bzw. Politik als eine Sphäre wahrnehmen, die mit ihren speziellen Anliegen, Bedürfnissen und vor allem Ausdrucksweisen nichts oder nur wenig zu tun hat. Insbesondere neuere Entwicklungen wie das interaktionsbasierte Web 2.018 mit einer Reihe von sozialen Softwareapplikationen bietet sich für selbstbestimmte Aktivitäten, zur Information, zum Aufbau sozialer Netzwerke, zur Recherche und zur Verbreitung eigenen Wissens sowie zur Veröffentlichung eigener Sichtweisen und Meinungen, zum Austausch und zur Diskussion über (politische) Sachverhalte an (vgl. Gräßer/Pohlschmidt 2007): Über Videoplattformen wie etwa youtube, über podcasts, Wikis, Weblogs, social bookmarking tools zur gemeinsamen Sammlung von Links, bis hin zur flickr Fotosammlung hält es eine Fülle von ästhetisch unterschiedlich organisierten Möglichkeiten zur Organisation und Dokumentation (politischer) Aktivitäten sowie zur Bildung und zum Austausch eigener (politischer) Meinungen und Interessen bereit. Insbesondere Weblogs – auch wenn man nicht so weit gehen sollte, ihnen gleich den Status als „revolutionäres Werkzeug“ zuzuschreiben (andere bezeichnen es hingegen als „Ausdruck der Banalisierung öffentlicher Kommunikation“ (Schmidt 2006: 172) – lassen sich im Hinblick auf „das Wechselspiel von technischen Optionen, routinisierten Verwendungsweisen und daraus resultierenden Netzwerken (…) als Instrument des Identitäts- und Informations- und Beziehungsmanagements deuten, das in unterschiedlichen Situationen eingesetzt werden kann“ (ebda). Die oben geschilderte theoretische Fundierung der Jugend(medien) forschung lenkt die Aufmerksamkeit auf einen auch für das Lernen demokratischer Partizipationsmöglichkeiten sowie für entsprechende Konzepte der Jugendbil17 18
Siehe dazu ausführlicher Weiß (2003) sowie Paus-Hasebrink (2006). Es wird medienpädagogisch sorgfältig zu beobachten und empirisch zu überprüfen sein, in wieweit und vor allem unter welchen Voraussetzungen Web 2.0 auch formal schlechter gebildeten Jugendlichen eine Chance auf mehr Freude am Lernen bzw. zur Teilhabe an öffentlichen Diskussionen bzw. als Ausdrucksmittel eigener Interessen dienen wird.
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dung zentralen Aspekt, nämlich die spezifischen, jeweils unterschiedlichen Handlungskapitalien und -kompetenzen junger Menschen: Mit einem derartigen Ansatz ist der Schritt über eine allzu häufige Verengung des Blickwinkels hinaus über die entweder gesellschaftlich-strukturelle Ebene getan, etwa in der Fokussierung auf die Gefährdung durch das Medienangebot, oft populistisch verbunden mit entsprechenden bewahrpädagogischen Sorgen und (Verbots-) Forderungen, oder die Ebene der Handlungsentwürfe und Handlungskompetenzen mit dem Blick auf die subjektiven Umgangsweisen Jugendlicher mit dem Angebot, etwa in der Richtung, Jugendliche seien kompetent, aus ‘Medienmüll’ ‘Brauchbares’ zu gestalten. Der Blick auf die Methoden der Sinngebung, damit auch auf das soziale Milieu, bietet die Möglichkeit19, dem induktiven Schluss aus einer zu stark verfeinerten subjektiven Perspektive zu entgehen; diese führt zur Beschreibung subkultureller Szenebildungen oder auch vor allem ästhetisch geprägter Lebensstilorientierungen. Denn nunmehr steht die Rekonstruktion des Sinns, den junge Menschen vor dem Hintergrund ihres sozialen Milieus einzelnen Vorgängen in ihrer Umgebung zu geben suchen, um ihre persönliche und soziale Identität auch im Hinblick auf ihre politischen Sichtweisen und ihre Partizipation so gut wie möglich zu sichern, ihr Kohärenz zu geben und sie für sich erlebbar zu gestalten, im Mittelpunkt der Forschung. Die Forschung zur politischen Partizipation Jugendlicher hat sich im Hinblick auf die Rolle neuer Medien zwei Herausforderungen zu stellen: x
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Zum einen erscheint es nötig zu erkennen, dass Politik nicht länger nur als ‘offizielle Politik’ von so genannten ‘hard news’, denen auch eine traditionelle Form der Vermittlung entspricht, begriffen werden darf; sie ist nicht länger als eine separate Sphäre außerhalb der Alltagskultur Jugendlicher zu verstehen. Zum anderen ist ein konzeptioneller Ansatz von Nöten, der in der Lage ist, komplexe Strukturen zu erfassen und dies aus der Perspektive der Jugendlichen selbst. Das Modell der Triangulation (Denzin/Lincoln 1994; Flick 2003; Paus-Hasebrink 2004), das bereits in der Jugend(medien)forschung vielfach erprobte wurde, erscheint hier Erfolg zu versprechen, da es auf eine valide und dennoch kontextuelle Betrachtung eines Gegenstandes aus unterschiedlichen Perspektiven bzw. auf unterschiedlichen Ebenen zielt.
Vgl. hierzu auch das Vorgehen innerhalb der rekonstruktiven Sozialforschung von Ralf Bohnsack (1991).
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Dies bedeutet ernst zu nehmen, dass Jugendliche insgesamt, und Mädchen und Jungen, in unterschiedlicher Weise, in Abhängigkeit von ihrem jeweiligen sozialen Milieu, in dem sie aufgewachsen sind bzw. in dem sie sich bewegen, und damit vom jeweiligen Habitus, einen weniger formal-kognitiv geprägten, dafür stärker ästhetisch-erlebnisorientierten20 Stil des Umgangs und Zugangs auch mit politischen Themen pflegen. Diesen Stil zu realisieren, bietet ihnen das Internet insbesondere mit seinen oben geschilderten neueren Entwicklungen durch Web 2.0 sinnlich vielfältigere und ästhetisch reizvolle Aktivitäten und Ausdrucksund Partizipationsformen an. Mit Blick auf den ‘praktischen Sinn’ menschlichen Handelns und seine jeweilige Verankerung im sozialen Milieu kann es gelingen, Jungen und Mädchen in ihren medialen Umgangsweisen besser zu verstehen. Voraussetzung dafür ist es, mit Forschung an der Lebenswelt von Jugendlichen anzuknüpfen.
7. Fazit Jugendforschung sollte von dem ausgehen, was Jugendliche als Politik verstehen und wie sie sich politisch einbringen21, was sie wirklich tun – mit und im Internet, das sie in der „Dynamik jugendkultureller Identitätssuche“ (Baacke et al. 1988: 229) mittlerweile als ein zentrales ‘Forum’ nutzen. Der eigene Stil der Jugendlichen, geprägt von ihren selbst entwickelten Formen des politischen Engagements und einer eigenen Art der Partizipation – mit und über das Internet – sollte Ausgangspunkt sein und dann in einem weiteren – praxisrelevanten – Schritt auch im Hinblick auf die politische Erziehung Heranwachsender ernst genommen werden, um nicht an den Jugendlichen vorbei zu gehen. Schließlich bedarf Demokratie, um lebendig zu bleiben, um gelebt werden zu können, der lebendigen Partizipation junger Menschen. Noch aber vermissen Jugendliche heute weitgehend auch in der politischen Erziehung die Berücksichtigung ihrer Perspektiven, ihrer auch medial geformten Praktiken und ihrer Sichtweisen auf soziale Partizipation. Hierfür eine verlässliche Basis zu bieten, ist eine zentrale Herausforderung der Jugendforschung.
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Wichtig dabei ist anzumerken, dass ästhetisch in diesem Kontext im Sinne von Aisthesis breit als auf die Wahrnehmung bezogen definiert und keinesfalls mit Kategorien des ‘Schönen’ gleichgesetzt wird. Aisthesis umfasst nach einer Definition Hartmut von Hentigs sowohl die „Fähigkeit, die Wahrnehmung und Gestaltung der eigenen Umwelt zu genießen, zu kritisieren, zu verändern als auch das Verständnis der gesellschaftlichen Bedingungen und Wirkungen ästhetischer Phänomene und die Ich-Stärkung durch Sensibilisierung der Perzeption“ (von Hentig 1975: 29). Siehe dazu auch: Vinken (2004).
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Bernd Schorb
Jugend, politische Sozialisation und Medien
1. Zur Forschungslage Jugend ist eine Quelle aus der nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche schöpfen möchten. Die Jugend zu gewinnen ist für viele gesellschaftliche Bereiche eine Überlebensnotwendigkeit, für die Gewerkschaften ebenso wie für das Kapital, für die Kirchen ebenso wie für die Politik. Auch wenn man weiß, dass es Jugend als homogene Gruppe nicht gibt, sucht man sie doch, erforscht sie und richtet pädagogisches wie politisches Handeln an ihrem Wohl aus. Dieses Wohl ist die Extrapolation der jeweiligen gruppenspezifischen Ideologien und zur Übernahme derselben sucht man sie zu gewinnen. In diesem sozialen Prozess kommt den Medien Bedeutung zu. Sie werden als wichtiger Einflussfaktor angesehen, der den je eigenen Interessen dienlich aber auch hinderlich sein kann, je nachdem welchen Medienangeboten die Jugendlichen sich zuwenden. Dabei ist die Annahme einer meinungs- und handlungsbildenden Funktion der Medien allgemein und unumstritten. Diese Funktion wird einerseits gezielt genutzt, um Einfluss auf die Jugend zu nehmen. Dies ist sowohl offensichtlich im Bereich des Kommerzes, aber auch in den anderen gesellschaftlichen Segmenten in unterschiedlicher Intensität . Auf der Basis empirischer Beobachtungen sind die „Jahre der frühen Adoleszenz, von zwölf bis sechzehn, (...) die entscheidenden Jahre für das politische Denken” (Adelson 1980, S. 272). Der Einfluss der Medien wird aber andererseits auch gefürchtet und immer dann laut und öffentlich artikuliert und problematisiert, wenn – meist monokausale – Zusammenhänge zwischen abweichendem jugendlichen Verhalten und Medien hergestellt werden. In den letzten Jahren war dies meist die Konstruktion eines Zusammenhanges zwischen Tötungsdelikten amoklaufender junger Menschen und ihrer Nutzung violenter Computerspiele. Welche Funktion die Medien für die politsche Sozialisation Jugendlicher tatsächlich haben, das wird nachvollziehbar, wenn wir den Prozess ihrer Medienaneignung betrachten. Allerdings ist einschränkend festzuhalten, dass im Gegensatz zur Bedeutung, die den Medien für die politische Sozialisation zugemessen wird, es nur wenige über die Jahrzehnte verstreute Untersuchungen
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Bernd Schorb
zur politischen Sozialisation durch Medien gibt. So steht beispielsweise seit Jahren die Veröffentlichung einer von der Medienanstalt des Landes Nordrhein Westfalen beauftragten empirischen Studie an. Der Mangel an empirischen Befunden gilt in besonderer Weise für das Medium Internet. Zwar ranken sich zwischenzeitlich Lehrstühle und Forschungsverbünde um dieses ‘neue’ Medium und der Bezug auf das ‘Web 2.0’ ist für medienwissenschaftliche Veröffentlichungen schon fast ein Muss, aber zum Einfluss des Netzes auf die politische Meinungs- und Willensbildung liegen keine einschlägigen empirischen Untersuchungen vor, obwohl „die Jugendmedienforschung ihren Schwerpunkt gegenwärtig weniger auf die TV-Nutzung , sondern mehr auf die neuen Medien gelegt hat – insbesondere auf die Internet- und Mobilfunknutzung.“ (Hoffmann 2006, S. 20) Dies mag mehrere Gründe haben. Zum ersten wurde und wird das Internet im Gegensatz zum Rundfunk als ein interaktives und ein Individualmedium betrachtet, in dem sich das jeweilige Subjekt bewegt und sich mit anderen austauscht, das ihm daher keine beeinflussenden inhaltlichen Offerten macht. Nur der Einfluss rechtsradikaler Internetangebote auf Jugendliche ist erforscht, allerdings nicht durch Befragung der Nutzer solcher Seiten, sondern durch Inhaltsanalyse der Angebote. Im Blickfeld der Untersuchungen zum Netz sind meist die manifesten Angebote des Internet, die analysiert werden oder die Motive und das interaktive Verhalten von Nutzern. Zum zweiten sind im Netz eine nicht überschaubare Anzahl von politischen Seiten abgelegt, die es fast unmöglich machen politische Haltungen Jugendlicher auf bestimmte Angebote rückzubeziehen und umgekehrt von den Inhalten bestimmter Seiten auf Beeinflussungseffekte rückzuschließen. Allerdings wäre es unter dem Aspekt der Konvergenz geraten nach den politischen Sozialisationseffekten zu fragen, allerdings nicht nur nach denen des Internet, sondern nach dem Verbund aus digitalen Einzel- und Massenmedien, der die Nutzer durch Verweise und Vorgaben durch die verschiedenen Medien leitet, ebenso wie es wichtig wäre, nach den Pfaden zu suchen, die sich Jugendliche für ihre politische Willens- und Meinungsbildung durch die Medien suchen. Und es wäre schließlich zu bedenken, dass sich auch das Internet in wichtigen Teilen zu einem Massenmedium entwickelt, auch im Bereich politischer Information. Nur drei Hinweise mögen dies belegen. Die Online Nachrichten der großen Zeitungen werden inzwischen von mehr Menschen gelesen als die gedruckten Zeitungen. Die interaktiven Plattformen wie My Space und You Tube werden, wenngleich von den Nutzern selbst mit Inhalten gefüllt, ebenso genutzt wie Massenmedien, d.h. sie werden von der großen Mehrheit aufgrund von gezielter Suche oder personalen Verweisen aus der Freundesgruppe primär rezeptiv genutzt. Der angeeignete Inhalt besteht weitgehend aus Versatzstücken des Massenmediums Fernsehen, die wiederum von den wenigen diese Plattform tatsächlich produktiv Bestückenden
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dort hineingestellt werden. Und schließlich ist die Mediennutzung Jugendlicher generell konvergent, d.h. die Rezeption des Internet und der Massenmedien sind nicht voneinander zu trennen, beide verweisen aufeinander und duplizieren oder variieren gleiche Inhalte (vgl. Wagner& Theunert 2006).
2. Medienaneignung und mediale Sozialisation Medienaneignung stellt grundsätzlich soziales Handeln dar. Aneignungsprozesse sind als soziale Handlungen zu begreifen, die in die Routinen alltäglicher Lebensbewältigung eingebettet, von deren Bedingungen motiviert sind und wieder auf sie zurückwirken (vgl. Schorb 1995). Medienaneignung ist in seinem Sinn deshalb nur zu erschließen, wenn die Handlungsbedingungen und –gründe der Aneignenden analysiert werden. Dem äußeren Kontext von Medienaneignung wird also konstituierende Bedeutung beigemessen. Bezogen auf die Frage nach medialer Sozialisation lässt sich dies präzisieren in dem Sinne, dass diese als ein Prozess zu kennzeichnen ist, der in zwei Richtungen läuft, einmal als Beeinflussung der Subjekte durch die Medien und die von ihnen transportierten Inhalte und zum anderen als Wahl oder Ablehnung der Medien und ihrer Inhalte durch die Subjekte. Das bedeutet auch, dass sich Heranwachsende Medien aneignen, indem sie Programme nach inhaltlichen Kriterien auswählen bzw. nach bestimmten Inhalten suchen und die medialen Botschaften im Kontext ihrer Handlungsmöglichkeiten nutzen. Heranwachsende sind in diesem Sinne keine ‘bewußtlosen’ Konsumenten von Fernsehprogrammen, sondern greifen im Kontext ihres handlungsleitenden Interesses auf bestimmte Programmangebote und – vor allem – innerhalb dieser Angebote auf bestimmte Inhalte zu. Die Medien wiederum präsentieren ihre Inhalte nicht autonom, sie sind selbst Bestandteil sozialer Realität und somit auch Speicher und Spiegel gesellschaftlicher Wissensbestände, Normen und Bewertungen (vgl. Schorb, Mohn & Theunert 1991). Im Prozess der jugendlichen Identitätsfindung sind heute die elektronischen Medien – und hier weiterhin an erster Stelle das Fernsehen – die vorherrschenden Angebote, aus denen sich Heranwachsende Wissen und Orientierungen für ein erfolgreiches Hineinwachsen in die Welt heraussuchen. Der Prozess des Aufbaus einer eigenen Identität, ist ja heute weder vorgegeben durch einen für alle verbindlichen Wertekanon, noch wird er von den Sozialisationsinstanzen Eltern, Schule oder wertragenden Institutionen wie Kirche oder auch Parteien gestaltend begleitet. Er ist eine weitgehend eigenständige und erhebliche Leistung, die die Jugendlichen herausfordert, sich aller zugänglichen Informationsquellen zu bedienen, um Orientierungen für ein je eigene möglichst konsistente und ‘alltagstaugliche’ Ichidentität zu entwickeln (Keupp 2005). Die Aus-
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formung dieser Ichidentität ist, geschuldet den pluralen Vorgaben im sozialen Umfeld, nicht einheitlich sondern höchst unterschiedlich, eine Brikolage aus all den verschiedenen zugänglichen Informationen. Hier kommt den Medien eine herausragende Bedeutung zu, die in der Sozialisationsforschung bislang nur wenig beachtet wird (Lange & Schorb 2006). Im Folgenden soll der Prozess der medialen Sozialisation entlang eines Forschungsprozesses nachvollzogen werden (Schorb & Theunert 2000), der die Frage nach der Information stellte, die Jugendliche suchen, um sich persönlich wie politisch zu orientieren. Konkret ging es um die Frage, welche Informationen Jugendliche in Ost- und Westdeutschland als für sie bedeutende auswählen und wie sie sich diese aneignen und verarbeiten. Die vorherrschenden Tendenzen dieses Prozess wurden per halbstandardisiertem Fragebogen mit 210 Jugendlichen im Alter zwischen 12 und 17 Jahren in face-to-face Interviews erfasst. Das geschah an alltagsüblichen Treffpunkten und Aufenthaltsorten (an Schulen, Konsum- und Freizeitorten) in den Bundesländern Bayern (Kempten und Umgebung), Hamburg und Sachsen (Leipzig und Umgebung). Mit 23 ausgewählten Jugendlichen wurden Tiefeninterviews durchgeführt in denen auf die Inhalte der face-to-face Interviews Bezug genommen wurde. Betrachten wir anhand der wichtigsten Ergebnisse dieser Untersuchung welche Rolle die Medien als Informationsträger bei der politischen Sozialisation Jugendlicher spielen.
3. Meinungen bilden und festigen sich auch durch Fernsehinformation Der Hauptträger von Informationen sind für Jugendliche die Medien. Nahezu alle Jugendlichen geben an, sich durch die Medien zu informieren, neben Freunden, der Schule, den Eltern und den Geschwistern. Was die Wichtigkeit angeht, rangieren die Medien an erster Stelle, in der Glaubwürdigkeit werden sie von den Eltern übertroffen.
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W e lc h e d e r g e n u tz te n In fo rm a tio n s q u e lle n s in d fü r J u g e n d lic h e a m w ic h tig s te n /g la u b w ü rd ig s te n ? 40%
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Abb. 1: Die wichtigsten/glaubwürdigsten Informationsquellen für Jugendliche (210 Jugendliche, geschlossene Fragen) Neben personalen Informationsquellen stellen die Medien also die zentrale Instanz zur Herausbildung von Wissen und Orientierungen dar. Unter den Medien wiederum nimmt das Fernsehen den ersten Rang als Informationsträger ein. Die meisten aller befragten Jugendlichen beziehen die für sie wichtigen Informationen aus dem Fernsehen, drei Viertel täglich, ein weiteres Fünftel wöchentlich. Auf das Fernsehen, als nach wie vor beherrschendem Informationsträger konzentrieren sich auch die Ergebnisse des Projektes. Betrachten wir den Zugang Jugendlicher zu Information im Altersverlauf der von uns untersuchten Gruppe der 12- bis 13-Jährigen. Anders als Kinder, die wir in einer Vorläuferstudie untersucht hatten (vgl. Theunert & Schorb 1995), akzeptieren die Jugendlichen das Informationsprogramm des Fernsehens in all seinen Varianten. Sie lassen sich nicht mehr von drastischen Bildern in der Informationsdarbietung schrecken und abschrecken. Sie betrachten sie – auch wenn sie Kritik daran haben – als zur Fernsehinformation gehörig. Politisches wird von dieser Altersgruppe, ebenso wie von den Kindern noch kaum und offizielle Politik so gut wie gar nicht beachtet. Letztere wird vorwiegend über Personen wie den Bundeskanzler oder in einfachen Strukturen wie Regierung und Parteien wahrgenommen und mehrheitlich als uninteressant abgelehnt. Politisches Geschehen wird, so es realisiert wird, in Bezug zum eigenen Leben, zum erlebten Alltag und zur unmittelbaren Umgebung gesetzt. Die Frage, ob und wie Politik in das eigene Umfeld hineinwirkt, hat auf der einen Seite Einfluss auf die Wahrnehmung von politischen Maßnahmen und dient auf der anderen Seite als
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Bewertungsmaßstab für Politik. Politische Informationssendungen im Fernsehen werden von den Jüngsten der von uns untersuchten Jugendlichen ebenfalls nur am Rande wahrgenommen. Als primäre Quellen für seriöse Information gelten die Nachrichten, die sowohl bewusst ausgewählt als auch ‘mitgenommen’ werden, weil sie vor oder nach einer unterhaltenden Sendung kommen. Informationen, die sich auf das Alltägliche beziehen und unterhaltsame Elemente integrieren, werden bevorzugt gesehen. Ab dem 14. Lebensjahr verfestigen sich die Sehgewohnheiten der Jugendlichen ebenso wie ihr Interesse an Information und Politik. Das Medium Fernsehen ist für sie der wichtigste Informationsträger. Bei der Bewertung von Information und Politik geben für diese Altersgruppe die eigene Bildung und das Anregungsmilieu des sozialen Umfeldes, also die Familie ebenso wie die Peergroup, den Ausschlag. Mit einem hohen Anregungsmilieu und einer höheren Schulbildung ist in der Regel ein verstärktes Interesse an seriöser Information und an Innen- ebenso wie an Außenpolitik verbunden. Dieses Interesse wird angeregt und gestützt durch die Schule, die Eltern, den Freundeskreis und die Geschwister. Mit einem niedrigeren Anregungsmilieu und einer grundständigen Schulbildung verlagert sich das Informationsinteresse eher auf Infotainment und damit auf die Art von Informationen, die in Beziehung zum eigenen Alltag stehen oder als solche betrachtet werden. Dieses Interesse wird vor allem von Personen des sozialen Umfeldes, der Familie und dem Freundeskreis unterstützt.
4. Das Politikverständnis Jugendlicher Die Jugendlichen trennen zwischen ‘Politik’ einerseits und ‘Politischem’ andererseits. ‘Politik’ ist für sie verbunden mit der Struktur, die repräsentiert durch Politiker, unser Staatswesen regiert. Hieran haben sie kein Interesse (vgl. auch Baethge & Pelull 1993, S. 23, sowie Ferchhoff 1999, S. 244). ‘Politisches’ umfasst hingegen gesellschaftliche und soziale Inhalte und Zielsetzungen, die perspektivisch zu erfüllen und zu erreichen sind. ‘Politisches’ wird eher ideell als Zukunftsorientierung und Zielsetzung für eine soziale Entwicklung in nationalen und internationalen Dimensionen verstanden. Damit beschäftigen sich die Jugendlichen sehr wohl. Wie bei der Gesamtbevölkerung steht Sport an der Spitze des Interesses Jugendlicher, aber zählt man die erhobenen Einzelinteressen der Heranwachsenden zusammen, so zeigt sich, dass fast dreiviertel der untersuchten Jugendlichen Interesse an gesellschaftspolitischen Inhalten äußern. Dagegen steht nur ein knappes Drittel, das keine politischen Interessen artikuliert.
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Themen, die Jugendliche beschäftigen 40%
31% 30%
21% 20% 16% 14%
13%
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8%
8%
7%
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Abb. 2: Themen, die Jugendliche beschäftigen (210 Jugendliche, offene Frage, Mehrfachantworten möglich)
Der Begriff Politik wird von den Jugendlichen verwendet zur Kennzeichnung des pragmatischen Handelns der Regierenden bzw. als Synonym für den Staat. Er wird gleichgesetzt mit dem politischen System, den politischen Strukturen und den ‘Köpfen’, die Politik repräsentieren. Diese offizielle Politik manifestiert sich für die Jugendlichen am deutlichsten in Wahlen als der indirekten Partizipationsmöglichkeit der Bevölkerung. Eine Mehrheit der Jugendlichen begreift Politik als ihnen und ihrer Generation äußerlich und rechnet sie eindeutig der Erwachsenenwelt zu. Nicklas (16 Jahre) bringt die Meinung der meisten Jugendlichen auf den Punkt, wenn er sagt: „Die Politik, sie kommt nicht bei mir an, sie kommt einfach nicht bei den Jugendlichen an.“ Und der gleichaltrige Daniel benennt die Gründe: Daniel (16 Jahre) erklärt, (…) die Themen sind nicht für die Jugend. Also, die Jugend interessiert sich nicht dafür, was sind Steuern. (…) und das ist dann auch im Fernsehen dann so dargestellt, so trocken. Man sieht, wie sie diskutieren, wie sie vorne sich gegenseitig, was weiß ich, halb totschlagen oder (…) mit Wörtern auf jeden Fall. Und dann sagt man lieber, guck ich, sag mal jetzt auf ProSieben jetzt den Film, ist interessanter als diese Politik da halt.
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Hintergrund dieser Sicht ist auch der Umstand, dass Jugendlichen im Gegensatz zu den Volljährigen periodische Wahlmöglichkeiten noch nicht offen stehen. Ausdrücklich positiv bewertet und sogar aktiv unterstützt wird das politische System nur von einer Minderheit Jugendlicher. Diese Jugendlichen sind an gesellschaftspolitischen Fragen sehr interessiert und entstammen meist Familien, in denen Eltern und ältere Geschwister politisch engagiert oder parteipolitisch aktiv sind. Die Mehrheit der Jugendlichen, die Ablehnung gegenüber dem politischen System äußert, unterteilt sich in zwei Gruppen: Die erste Gruppe lehnt Politik ab, weil sie das System in seiner aktuellen Ausformung analysieren kann und als Ergebnis zu einer negativen Bewertung gelangt. Mit dieser Ablehnung kann allerdings durchaus gesellschaftliches Engagement verbunden sein, auch im politischen Bereich, zum Beispiel als Mitglied einer antifaschistischen Jugendgruppe. Diese kritische, ablehnende Haltung gegenüber Politik geht bei den betreffenden Jugendlichen meist, aber nicht notwendig, mit einem hohen Anregungsmilieu im familiären und sozialen Umfeld und mit höherer Bildung einher. Die zweite Gruppe ist nicht in der Lage, die Komplexität des politischen Systems nachzuvollziehen. Sie lehnt die Politik des Staates ab, weil sie ihr bedrohlich erscheint und weil Politikerinnen bzw. Politiker sich nicht durch einfache Erklärungs- und Handlungsmuster auszeichnen. Diese Form der Ablehnung von Politik jedoch ist nicht gleichzusetzen mit Ignoranz. Politik wird sehr wohl wahrgenommen, aber eben als Äußerliches nicht mit der eigenen Person in Beziehung stehendes. An die anonyme Instanz Politik werden folgerichtig primär Forderungen gestellt. „Die Politik soll mehr für die Jugend tun“ lautet beispielsweise eine häufige Forderung für die eigene Generation. Politik wird, zugespitzt formuliert, als Dienstleisterin empfunden, die gegenüber dem Einzelnen eine ‘Bringschuld’ hat. Besonders deutlich ist diese Auffassung von Politik bei Jugendlichen aus niedrigerem Anregungsmilieu ausgeprägt. Sie findet sich als materialistisches Politikverständnis, aber auch in der gesamten Breite der ostdeutschen Jugend. Die offizielle Politik hat nach der Auffassung dieser Jugendlichen die Aufgabe der materiellen Absicherung der Bevölkerung: bezogen in erster Linie auf Arbeitsplätze, Löhne und soziale Sicherung. Einer Politik im Sinne politischer Inhalte steht die Mehrzahl der Jugendlichen nahe. Das Themenspektrum an Inhalten, das Jugendliche hierunter fassen, ist sehr breit. Es beginnt beim eigenen Umfeld, beispielsweise dem Umgang mit Drogen und reicht bis zu globalen Themen wie Umweltzerstörung oder Hunger. Wo Jugendliche politische Themen ansiedeln, mit denen sie sich beschäftigen, ob im persönlichen Nahraum oder eher weiträumig, hängt in erster Linie ab von persönlichen und lebensweltlichen Faktoren.
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Eher eng und auf den persönlichen Nahraum bezogen ist das Blickfeld der Jüngeren im Alter von zwölf bis vierzehn. Sie realisieren Politisches primär im Kontext ihrer unmittelbaren Umgebung, betrachten es als Problem oder als etwas diffus Bedrohliches wie beispielsweise Krieg oder Umweltzerstörung. Außer bei Jüngeren zeigt sich ein eher kleinräumiges Blickfeld auch bei Jugendlichen aus niedrigen Anregungsmilieus. Soweit sie Politisches beachten, binden auch sie es an ihren Lebensraum und sehen Bedrohungen für sich selbst. So fürchten sie beispielsweise Ausländer, die ihnen ihren zukünftigen Arbeitsplatz streitig machen könnten. Ein weiträumiges Blickfeld findet sich meist bei Jugendlichen, die höher gebildet sind und einem hohen Anregungsmilieu entstammen. Ihr Blick richtet sich sowohl auf die Probleme des Nahraums als auch auf solche, die gesellschaftlicher und/oder struktureller Art sind, etwa Obdachlosigkeit in der eigenen Stadt, Armut in Deutschland und Hunger in der Welt.
5. Das Informationsverständnis der Jugendlichen Information wird von nahezu allen Jugendlichen im Angebot des Fernsehens wahrgenommen, genutzt und auch ausgewählt. Jugendliche beachten jedoch nicht das gesamte Informationsangebot, sondern nur einige wenige Sendungen. Dabei zeigt sich durchgehend, dass sie am ehesten Informationsangebote bei ‘ihren’ Sendern, das sind in erster Linie die beiden kommerziellen Anbieter ProSieben und RTL, suchen und finden. Der Informationsbegriff der Jugendlichen umfasst ein weites Spektrum. Es reicht von einem auf den Alltag und das Ego eingegrenzten Blick bis hin zu einer umfassenden Sicht auf Geschehnisse, die gesellschaftlich relevant sind. Mit dieser Breite weicht er von dem gängigen Informationsbegriff ab, der unter medialer Information hauptsächlich die Übermittlung von Sachverhalten versteht, die im gesellschaftlichen Konsens als bedeutsam für die Allgemeinheit angesehen werden. Ein zentrales Kriterium, das Jugendliche an die Informationen des Fernsehens anlegen, ist deren Beziehung zur Lebenswelt. Der Bezug zur persönlichen Umwelt und den eigenen Erfahrungsräumen wird entweder als Forderung an Informationsangebote gestellt, um deren Verständnis und Gewichtung zu ermöglichen, oder er wird als Voraussetzung genannt, um einem Sachverhalt überhaupt den Status einer Information zuzubilligen. Jugendliche, deren Informationsbegriff sich auf gesellschaftlich relevante Bereiche erstreckt, fassen unter informativen Fernsehangeboten Berichte über Geschehnisse, die für den eigenen Staat bis hin zur gesamten Welt von Bedeutung sind. Dies sind die Themen, mit denen sich Nachrichten und politische
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Magazine auseinandersetzen. Über den politisch-gesellschaftlichen Zusammenhang hinaus verstehen diese Jugendlichen Informationen als Wissen und Erklärung, die benötigt werden, um das gesellschaftliche Leben zu verstehen. Dazu zählen sie beispielsweise Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung oder auch Dokumentationen über den Nationalsozialismus und seine Hintergründe. Neben diesem klar bestimmbaren Informationsbegriff, der dem gängigen Informationsverständnis entspricht, finden wir in unserer Altersgruppe einen weiteren, eher unbestimmten Begriff von Information. Hier wird jede Art von auffälliger Neuigkeit und jede Sensation als Information gefasst. Die einzige Anforderung, die an Information in diesem Sinne gestellt wird, ist, dass sie nach subjektiven Kriterien interessiert und dass sie potentiell für das eigene Leben nützlich sein kann. Die Jugendlichen, die konsequent ihren eigenen Horizont als Bestimmungskriterium verwenden, erweitern den Begriff Information bis hin zu den nachmittäglichen Talkshows. Generell hängen die Bewertung medialer Information und die individuelle Bestimmung des Informationsbegriffs ab vom Alter und vom Anregungsmilieu, in dem die Jugendlichen heranwachsen. Näher betrachtet gilt das für die drei Genres, die für die Jugendlichen insgesamt gesehen am wichtigsten sind: Die Nachrichten, die Boulevardmagazine und die Talkshows. Denn die beiden anderen in der Untersuchung berücksichtigten Genres, die Politmagazine oder PolitTalks, sind nur einer verschwindenden Minderheit der Jugendlichen gegenwärtig. Nahezu alle untersuchten Jugendlichen bewerten die Nachrichten als bedeutende und wichtige Informationsmittler. Die meisten erklären, Nachrichten häufig als aktuellen Überblick zu nutzen. Eine wichtige Rolle spielt für einige Jugendliche bei diesem Genre der ‘Mitnahmeeffekt’. Nachrichten, vor allem die der kommerziellen Anbieter, werden von ihnen dann gesehen, wenn davor oder danach ein für sie attraktives fiktionales Angebot kommt.
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Bewertung informativer Fernsehangebote 50%
40%
39%
37%
gut
30%
29%
30%
schlecht 24% 22%
20%
10% 10%
6%
0% Boulevardmagazine
Nachrichtensendungen
Talkshows
politische Magazine
Abb.3: Bewertung informativer Fernsehangebote (210 Jugendliche, offene Frage, Mehrfachantworten möglich) In ihrem Informationswert nicht so anerkannt wie die Nachrichten sind die Boulevardmagazine. Wiewohl sie von fast allen Jugendlichen mehr oder weniger regelmäßig gesehen werden. Eine wichtige Rolle spielt auch hier der Mitnahmeeffekt, denn sie sind meist eingebettet zwischen Seifenopern und ‘Comedies’. Sehen heißt aber nicht unbedingt auch wertschätzen und so wird der Informationswert dieser Angebote insbesondere von bildungsmäßig und sozial privilegierten Jugendlichen in Zweifel gezogen bzw. negiert. Anerkennung als Information finden Boulevardmagazine eher bei Jugendlichen aus niedrigem Anregungsmilieu. Jugendliche mit diesem Hintergrund sehen beispielsweise die Infotainmentangebote „Explosiv“ fast doppelt und „taff“ mehr als dreimal so häufig wie Gleichaltrige aus intellektuell anregenderen Milieus. Die Vermutung, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen Boulevardmagazine als Information schlechthin rezipieren, lässt sich auch für bestimmte Jugendliche äußern. Vor allem gilt sie für Jugendliche, deren Horizont auf den eigenen Lebensraum begrenzt ist. Ihnen bieten diese Magazine subjektiv relevante Informationen. Boulevardmagazine sind gleichsam die „Bildzeitung“ auf dem Fernsehschirm. Sie bedienen
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Informationsbedürfnisse, die auf Sensationen, Katastrophen und Einzelschicksale gerichtet sind. Bei der Beurteilung des Informationswertes von Talkshows sind die Meinungen deutlich geteilt. Zwar werden auch diese nachmittäglichen Angebote von fast allen Jugendlichen gesehen, was angesichts der Platzierung und der Anzahl kaum verwundert. Aber als relevante Information werden sie wie andere Talkshows auch nur von einem kleinen Teil anerkannt. Die anderen Jugendlichen ordnen diese Angebote entweder dem Bereich Unterhaltung zu und negieren jeden Informationswert, oder sie betrachten sie zwar als informativ, halten die Informationen jedoch für irrelevant – persönlich wie gesellschaftlich. Jugendliche, die diese nachmittäglichen Shows als subjektiv wichtige Information im Sinne von Lebenshilfe begreifen, sehen diese Funktion vor allem in den Angeboten erfüllt, die ein ‘junges’ Image haben (vgl. auch Eberle 2000; Paus-Haase 1999).
6. Die Informationskluft zwischen den Jugendlichen Die häufiger geäußerte Annahme, Jugendliche verweigerten sich pauschal der Fernsehinformation, kann mit den Ergebnissen dieser Untersuchung nicht untermauert werden. Legt man den subjektiven Informationsbegriff der Jugendlichen zugrunde, dann holen sich zunächst einmal alle Jugendlichen Informationen aus dem Fernsehen. Unterscheidet man die angeeigneten Informationen allerdings nach ihrer gesellschaftlichen Relevanz und auch nach ihrer Verallgemeinerbarkeit und Verwertbarkeit, so wird zweierlei deutlich: Zum ersten ist die Nutzung der unterschiedlichen Informationsangebote alters- und herkunftsabhängig. Zum zweiten, und mit dem ersten verbunden, lassen sich die Jugendlichen bezüglich ihrer Zuwendung zu Informationsinhalten in die Weitsichtigen und die Nahsichtigen unterteilen. Zwischen diesen beiden Gruppen ist eine ‘Informationskluft’ zu konstatieren, die sich auch niederschlägt im Wissen, über das der Einzelne verfügen kann. Die Weitsichtigen sehen die Welt – bildlich gesprochen – von der eigenen Nasenspitze bis an ihr Ende. Sie haben im Blick, was ihren Sinnen unmittelbar und mittelbar zugänglich ist. Die Nahsichtigen sehen die Welt von ihrer eigenen Nasenspitze bis zum nächsten Gartenzaun. Ihr Horizont ist auf das faktisch Sichtbare begrenzt. Als Weitsichtige sind diejenigen Jugendlichen bezeichnet, die umfassend das Spektrum seriöser Information nutzen, also Nachrichten, Nachrichtenmagazine und – vereinzelt – auch politische Magazine und Polit-Talks. Weitsichtige haben klare Kriterien, um relevante Informationen von irrelevanten zu trennen. So amüsieren sie sich, wie die anderen Jugendlichen auch, bei Boulevardmagazinen und Daily Talks, sind sich jedoch im Klaren darüber, dass es sich bei diesen
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Angeboten um Unterhaltung und nicht um Information handelt. Andreas (14) setzt Information mit der Darstellung von Fakten gleich: Das ist eigentlich für mich Information. Und so Talkshows und so gelten für mich eigentlich nicht dazu. Weil das halt nur Meinungen sind die da ausgetauscht werden (…) (Und Boulevardmagazine), das macht Spass zu gucken manchmal, aber ist eigentlich völlig unwichtig. Ob da jetzt ’ne Katze aus dem fünften Stock gesprungen ist.
Das Kriterium der Weitsichtigen für Relevanz ist nicht an ihr subjektives Interesse für bestimmte Sachverhalte gebunden, sondern an die Interessen der Allgemeinheit. Selbst wenn die Weitsichtigen einzelne Informationen (zum Beispiel in den Nachrichten) nicht verstehen und ihrem Leben zuordnen können, weisen sie dem Genre Relevanz zu. Stimmen bei den Nachrichten Relevanzzuweisung und Nutzung insofern überein, als Nachrichten von den Weitsichtigen relativ regelmäßig gesehen werden, so fallen sie bei politischen Magazinen und Polit-Talks auseinander. Beide Genres sind den Weitsichtigen zwar bekannt, sie erachten sie auch als relevante Fernsehinformation, aber sie sehen sie sich nicht an. Die Machart, die Langatmigkeit und Komplexität sind die Gründe für das Meiden. Die Weitsichtigen sind eher unter den älteren Jugendlichen zu finden, da die Jüngeren unabhängig von Herkunft und Bildung noch stark an die Wahrnehmung ihrer unmittelbaren Umgebung gebunden sind. Unter den Älteren wiederum gehören sie zu der Gruppe, die auch ein differenziertes Politikverständnis hat, nämlich Mädchen und Jungen aus einem hohen Anregungsmilieu und mit höherer Schulbildung. Mehr als doppelt so viele von ihnen nutzen, gegenüber den Jugendlichen aus niedrigerem Anregungsmilieu, regelmäßig Nachrichtensendungen. Für diese Gruppe lohnt es sich auch, informiert zu sein. Die Weitsichtigen tauschen in der Gleichaltrigengruppe ihr Wissen aus und verwerten es in der Schule. Formuliert in den Termini des Nutzenansatzes informieren sich die Weitsichtigen auch deshalb, weil sie mit Ansehen im Freundeskreis oder mit guten Noten in der Schule belohnt werden. Als Nahsichtige werden diejenigen Jugendlichen bezeichnet, die Informationen aus den Bereichen des absonderlichen und sensationellen Alltags bevorzugen, wie sie in den Boulevardmagazinen und den nachmittäglichen Talkshows geboten werden. Ihr Relevanzkriterium ist die faktische oder vermeintliche Zuordbarkeit von Information zu ihren alltäglichen Lebensräumen und Belangen. Sie nutzen und verstehen das als Information, was sie aus eigener Anschauung kennen bzw. was ihnen einfache Erklärungen für soziale Phänomene im Bereich ihrer unmittelbaren Anschauung liefert. Carlo (13) erläutert dies am Beispiel des Boulevardmagazins „taff“: „Da erzählen die, was mit einer Familie passiert ist, oder was einer ganzen Stadt passiert ist. Da tun sie es dir zeigen.“ Auf komple-
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xere Zusammenhänge stoßen sie allenfalls in den Nachrichten, die sie vor und nach Unterhaltungssendungen mitnehmen. Subjektiv relevante Informationen finden sie primär im breiten Angebot des Infotainment. Das wiederum wird ihnen von den privaten Sendern, sowohl in den Themen wie in der Gestaltung geboten. In den Boulevardmagazinen und den Daily Talks finden sie die Themen, die sie selbst und auch ihren Freundeskreis beschäftigen. Für diejenigen unter ihnen, die Daily Talks der Information zurechnen, kommt, nach eigenen Aussagen, noch der Vorteil hinzu, dass diese ihnen auch Lebenshilfe anbieten, vor allem für den Umgang mit Gleichaltrigen und dem anderen Geschlecht. Dass die Nahsichtigen generell unter den Jüngeren zu finden sind, lässt sich aus deren Entwicklungsstand erklären, der ihnen eine weiträumige Perspektive noch nicht möglich macht. Bei den älteren Jugendlichen sind wiederum niedriges Anregungsmilieu und niedrige Bildung mit der Bevorzugung des Infotainment gekoppelt. Dass mehr ostdeutsche als westdeutsche Jugendliche den Nahsichtigen zuzurechnen sind, hat möglicherweise etwas mit dem elterlichen Vorbild und einer anderen Rezeptionsgeschichte zu tun. Auch Erwachsene im Osten nutzen Infotainmentangebote in weit stärkerem Maße als Erwachsene in Westdeutschland. Fernsehen war im Osten auch vor der Wende eher mit Unterhaltung als mit Information verbunden (vgl. Schorb & Stiehler 1991). Vom subjektiven Nutzen her betrachtet, erhalten die Nahsichtigen innerhalb ihrer Freundesgruppe am ehesten Zustimmung und haben zugleich gemeinsame Kommunikationsinhalte, wenn sie Infotainmentangebote nutzen und die dort gewonnenen Informationen austauschen. Abgesehen von der hohen Komplexität seriöser Information, die von vielen dieser Jugendlichen nicht nachvollzogen werden kann, haben sie auch kaum Möglichkeiten, ein entsprechendes Wissen – so wie die Weitsichtigen – anzuwenden, weiterzugeben, zu diskutieren.
7. Mediale politische Sozialisation Mediale Sozialisation als politische Sozialisation ist, so zeigen die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung, eingebettet in einen Komplex von Bedingungen. Da ist zum einen der direkte Zusammenhang von Menschen und Medien, der in der Wahl der Programme ebenso deutlich wird wie in den Einstellungen und Handlungskonsequenzen, die daraus gezogen werden. Das Interesse an Information und politischen Zusammenhängen, das ja ein bereits entstandenes, im Prozess des Heranwachsens u.a. mit Medien generiertes ist, bestimmt aber nicht allein die Zuwendung zu medialen Inhalten sondern zugleich sind die medialen Inhalte in der Weise gestaltet, dass sie das Interesse ansprechen bzw. sich an das Interesse am Unterhaltungsgenre anlehnen. Die Verwendung von Stilmitteln des
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Unterhaltungsgenres wie Hintergrundmusik, Slow Motion etc. bindet den Seher in doppelter Weise über den Inhalt und über seine ästhetischen Präferenzen. Zum anderen ist die mediale Sozialisation moderiert und in ihrer Richtung mitbestimmt durch personale Faktoren in erster Linie die Eltern und die Freundesgruppe. Wenn die Programmpräferenzen der Eltern denen ihrer jugendlichen Kinder gleichen, so lässt dies mehrere Schlüsse zu. Sie belegen die prägende Funktion des Elternhauses. Wo personale Bindungen vorhanden sind, wird das Medium Fernsehen keine eigenständige Wirkkraft entfalten, sondern im Kontext dieser Bindungen, in erster Linie der familiären, angenommen und ausgewählt. Zugleich ist anzunehmen, dass Familien zur Herstellung innerer Konsonanz neigen und mediale Inhalte hierzu nutzen. Vereinfacht gesagt führt bzw. hält das Medium die Familie in ihrer Weltsicht zusammen. Mehr noch, die Eltern setzen das Medium ein, um ihre Sicht auf Probleme in der Welt zu tradieren. Ist diese Sicht beschränkt, naiv und kleinräumig, so ist dies zugleich zurückzuführen auf elterliche Präformationen und auf die Medien. Die Eltern selbst beziehen und bestätigen ihr Weltbild aus und mit dem Fernsehen. Das Fernsehen wiederum bietet und propagiert die Inhalte einer kleinräumigen Sicht als angebliches Reality TV, das meist nicht mehr ist als zusammengeklaubte Sensationen des Alltags. Im engen Zusammenspiel von Subjekt, Familie und Medium werden die Menschen- und Weltbilder der Subjekte herausgebildet. In diesem Prozess kann keiner der Beteiligten auf den anderen verzichten. Die Kinder und Jugendlichen übernehmen die Grundstruktur des Weltbildes der Erwachsenen, die dieses wiederum unter Bezug auf das Medium legitimieren und illustrieren. Mag den Eltern auch die Leitfunktion zukommen, so sind die Medien innerhalb des Prozesses der politischen Sozialisation doch ein entscheidender Faktor. Sie verstärken mit ihren Möglichkeiten die elterliche Sichtweise, differenzieren sie mit Beispielen aus und sorgen durch ein im Grundtenor einheitliches Angebot dafür, dass aus Sichtweisen überdauernde Positionen werden. Dies gilt sowohl für eine enge als auch für eine weite Weltsicht. Die Bedeutung der Freundesgruppe im Kontext der medialen Sozialisation ist nicht so klar festzumachen. Bezüglich der politischen Sozialisation ist diese Gruppe wohl von geringerer Bedeutung. Die Gleichaltrigen bestätigen eher, als dass sie initiieren. Sie selbst sind bereits durch die mediale Sozialisation im eigenen familiären Kontext geprägt. Der Zusammenhalt innerhalb der Gruppe ist zwar gewährleistet durch die Zuwendung zu gleichen medialen Inhalten, die Steuerung hin auf diese Inhalte wird aber wohl nur selten vom Freundeskreis vollzogen. Der Freundeskreis nutzt gemeinsame Medien, verständigt sich mit ihrer Hilfe und die gemeinsamen Inhalte tragen zum inneren Zusammenhalt der Gruppe bei. Mediale Sozialisation im Kontext des Freundeskreises ist wohl als
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ein Prozess der Selbstbestätigung der Gruppe mittels eines festen Kanons medialer Inhalte zu sehen. Sozialisation heute ist – sicher nicht allein im Bereich der politischen Sozialisation – immer auch mediale Sozialisation. Welche Position innerhalb des Sozialisationsprozesses Medien einnehmen lässt sich nicht generell bestimmen, allein schon weil die Positionierung der Medien als vorrangige Sozialisationsfaktoren noch lange nicht abgeschlossen ist. Die weitere Zunahme der Medien in ihrer Vielfalt und gesellschaftlichen Bedeutung, das gestaltende und immer tiefere Eindringen der Medien in alle Lebensbereiche wird auch die Bedeutung der medialen Sozialisation noch weiter erhöhen, nicht allein für Heranwachsende. Damit werden die Medien auch eine weiter zunehmende Bedeutung für die politische Sozialisation erhalten. Eine wichtige Funktion auf Seiten der Medien kommt dabei der Konvergenz zu, dem Ineinandergreifen der verschiedenen Medien von der Zeitung über das Fernsehen bis zum Internet. Wissenschaftliche Beobachtungen der Bewegungen Jugendlicher in den medialen Netzen weisen darauf hin, dass sich hier die Unterschiede zwischen den Nah- und Weitsichtigen nochmals verschärfen könnten oder zumindest tradiert werden (Wagner & Theunert 2006). Betrachten wir weiter, dass Politik selbst immer mehr zu einer medialen Darstellung wird (Meyer & Kampmann 1998), so ist zu erwarten, dass politische und mediale Sozialisation immer weiter ineinander greifen, wenn nicht ineinander aufgehen. Und das Internet? In der vorgestellten Untersuchung ist der Blick auf ein ‘altes’ Medium gerichtet worden, dem die Jugendforschung keine Aufmerksamkeit mehr schenkt, das Fernsehen. Wird nicht das heute exklusiv erforschte Medium Internet dem Fernsehen insofern den Rang ablaufen, als es die Funktionen übernimmt, die bislang den Massenmedien zugewiesen waren? Nun weisen die allen Lesern statistischer Untersuchungen bekannten Erhebungen der letzten Jahre zum einen darauf hin, dass das Fernsehen weiterhin auch bei Jugendlichen in der Nutzungspräferenz vor oder gleichauf mit dem Netz steht. Und differenzierende Erhebungen (Wagner et al. 2004) belegen, dass das Fernsehen auch gegenüber dem Internet eine zentrale Rolle spielt, als Ausgangs- bzw. Verweismedium, das die Inhalte thematisiert, denen im Netz weiter nachgegangen wird. Und schließlich: Jugendliche vollziehen die akademische Unterscheidung der Medien in neue und alte oder präsentative und kommunikative nicht nach. Sie eignen sich im Umgang mit den Medien das an, was ihnen subjektiv wichtig ist, oder die Einbettung ins soziale Umfeld erfordert. Die aufgezeigten Selektionskriterien für die Bedeutungszuweisung von Information haben ihre Gültigkeit auch mit der weiteren Totalisierung des Alltags durch Medien.
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Abbildungen Abb. 1.: Die wichtigsten/glaubwürdigsten Informationsquellen für Jugendliche Abb. 2.: Themen, die Jugendliche beschäftigen Abb. 3.: Bewertung informativer Fernsehangebote
Edith Blaschitz
Zwischen re-orientation und „Kampf gegen Schmutz und Schund“. Österreichische Kinder- und Jugendmedien in der Nachkriegszeit (1945-1960)
1. Einleitung „Läßt sich überhaupt voraussagen, wann die Spuren und Folgen dieses faschistischen Systems in Herz, Gehirn und Gemüt unserer Jugend getilgt sein werden?“ fragt der österreichische Politiker Franz Kittel nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches (Kittel 1946: 119). Dieses Problem bewegte sowohl die Bildungsexperten der alliierten Mächte als auch die der neu installierten österreichischen Regierung. Man war sich im Klaren, dass Kinder und Jugendliche einer besonderen Unterstützung bedurften, um sich in bisher unbekannten demokratischen Verhältnissen zurechtzufinden. Ab dem Jahr 1930 Geborene hatten mit dem Ständestaat und dem Dritten Reich in bewusster Wahrnehmung nur autoritäre Regime erlebt. Kinder waren der Meinung, deutsche Bürger und Bürgerinnen eines „Großdeutschen Reiches“ zu sein, wie Christine Nöstlinger, geboren 1936 und spätere Schriftstellerin, verdeutlicht: „Die Sache mit den „Österreichern“ und den „Germanski“ verstand ich (...) nicht. „Germanski“ sagten die Russen zu den Deutschen. So viel war klar. Warum wir jedoch plötzlich keine Deutschen mehr waren, das begriff ich nicht. Wo ich doch in der Schule mindestens einmal am Tag gehört hatte, daß ich von der Vorsehung dazu auserwählt war, ein deutsches Mädchen zu sein.“ (Nöstlinger 1996: 93)
Zeitzeugen berichteten Jahrzehnte später, dass sie als Jugendliche den völligen Zusammenbruch ihrer im Nationalsozialismus erworbenen Weltanschauung als subjektive Sinnkrise empfunden hatten: „Wir waren ja aufgeblasen wie ein Luftballon, alles, was nicht deutsch war, war schlecht“, erinnert sich ein im Jahr 1928 geborener Salzburger (zit. nach Bauer 1998: 79). Andere wiederum fühlten sich durch den Zusammenbruch des „Zwangssystem(s)“ befreit (Amanshauser 1983: 280) und lehnten jegliche Autorität ab.
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Das Ziel der Demokratisierung von Kindern und Jugendlichen – als künftige Träger und Trägerinnen der demokratischen Zweiten Republik – wurde sowohl in der schulischen als auch in der außerschulischen Bildungs- und Kulturarbeit verfolgt. Bei der Erziehung des ‘neuen’ österreichischen Menschen spielten Medien eine wichtige Rolle. Ziel des vorliegenden Artikels ist es, der politischen und gesellschaftlichen Instrumentalisierung von österreichischen Kinder- und Jugendmedien in der Zeitspanne von 1945–1965 nachzugehen und die Bedeutsamkeit von Medien im ProzeßProzess der nationalen Identitätsfindung aufzuzeigen.
2. re-orientation – Alliierte Medienarbeit für Kinder und Jugendliche In Österreich übten die Alliierten Mächte im Gegensatz zu Deutschland, wo man eine Politik der re-education (vgl. Roß 2005) verfolgte, aufgrund des Sonderstatus Österreichs durch die Moskauer Deklaration 1943 (Österreich wird hier als erstes Opfer des Dritten Reiches bezeichnet) eine re-orientation1 aus, wobei die USA hier die größten Anstrengungen unternahmen (vgl. Wagnleitner 1991). Dem „US-Information Services Branch“ (ISB) waren Presse, Theater, Musik, Publikationen, Bildmaterial, Radio und Filmprogramme untergeordnet und strengen Zensurvorschriften unterworfen. Der ISB war aber auch im Schulbereich für re-orientation zuständig. Um das von den Alliierten angestrebte Ziel vor allem im Erziehungssystem „alle Spuren der Nazi-Ideologie auszumerzen“2 zu erreichen, wurde zunächst der nationalsozialistische Lehrplan außer Kraft gesetzt und nationalsozialistische Schulbücher und Lehrfilme entfernt. Neue Schulbücher wurden in Auftrag gegeben bzw. ideologisch unbedenkliche Vorkriegsschulbücher wieder aufgelegt. Nach Vorgabe der Alliierten Kommission sollten die Inhalte der Schulbücher von einer Hinführung zu österreichischem Staatsbewusstsein, zur Demokratie, zur Begeisterung für die österreichische Kultur und zu einem Eintreten für den „Wiederaufbau“ und sozialer Gerechtigkeit geprägt sein.
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re-orientation bedeutete für Österreich weit weniger tief greifende ‘Umerziehungsmaßnahmen’ als in Deutschland. Festgeschrieben im „Abkommen zwischen den Regierungen des Vereinigten Königreichs, der Vereinigten Staaten von Amerika, der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken und der Französischen Republik über den Kontrollapparat in Oesterreich vom 28. Juni 1946“ (Zweites Kontrollabkommen), siehe Verosta 1947: 104–113.
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Vor allem der Wiener Stadtschulrat stand US-amerikanischen Ideen zur Erneuerung des Unterrichts und der Unterrichtsgestaltung sehr aufgeschlossen gegenüber. Er empfahl Lehrern und Lehrerinnen, wie von den US-Amerikanern angeregt, die Benützung audio-visueller Hilfsmittel im Unterricht, die vom „USInformation Center“ für den Schulgebrauch zur Verfügung gestellt wurden. Nach US-amerikanischem Vorbild kam es auch zur Gründung von Schulklubs, die neben Diskussionen und Vorträgen auch Diareihen und Filme anboten. Von besonderer Bedeutung war die außerschulische Betreuung von Kindern und Jugendlichen. Die auf die Bundesländer verteilten zwölf AmerikaHäuser fungierten als Informationszentren und boten Konzert- und Kinosäle, Galerien, Bibliotheken und Leseräume. 1950 wurde in Wien eine eigene USJugendbücherei eröffnet, in der auch Filmvorführungen und Unterhaltungsprogramme stattfanden (Wagnleitner 1991: 165). Selbst abgelegene Orte wurden in der US-Zone von so genannten bookmobiles erreicht: Busse mit 4.000 Büchern wurden wöchentlich in die Bundesländer geschickt. Thomas Chorrherr, geboren 1932 und später Journalist und Zeitungsherausgeber, zur Bedeutung dieser Medienarbeit: Denn sie (die Umerziehung) wurde in erster Linie über die Medien ausgeübt, und da bekamen natürlich wir Kinder einen Teil davon ab. Medien: Das waren in dieser Zeit Filme, Radio und Bücher. (...) Wir bekommen literarische Produkte en masse in die Hand, und vor allem die Leseratten unter uns sind froh, in Büchern schmökern zu dürfen, von deren Autoren wir bisher keine Ahnung gehabt haben. (...) Wenn dies Umerziehung sein soll, dann durchaus mit unserem Einverständnis. Wir sind froh, auch in dieser Hinsicht ein Fenster zur Freiheit, zur vorläufigen jedenfalls, aufgestoßen zu haben, besser: aufgestoßen zu bekommen. (Chorherr 2001: 200 f.)
Der US-amerikanische Radiosender „Rot-Weiß-Rot“ mit seinen Studios in Salzburg, Wien und Linz sollte sich zur beliebtesten Hörfunksendegruppe entwickeln. Im Unterschied zum sowjetisch kontrollierten „Radio Wien“, das sich eher der „Hochkultur“ verpflichtet fühlte, brachte „Rot-Weiß-Rot“ wesentliche Impulse im Bereich zeitgenössischer populärer Unterhaltung, die richtungsweisend für die gesamte Entwicklung des Rundfunks in Österreich waren. Ein Schwerpunkt im Programm war moderne Musik mit Jazz, Schlagern und Chansons, die speziell bei der städtischen Jugend Gefallen fand. Weitere Sender wie „American Forces Network“, „Voice of America“ oder „Blue Danube Network“ brachten ebenfalls die neuesten US-Hits Jugendkultur (Mayr 1984). Die USamerikanischen Sendestationen wurden über die populäre Musik zu Leitmedien der österreichischen Jugendlichen. „Rot-Weiß-Rot“ strahlte aber auch eigene Bildungsprogramme aus, wie etwa „Rot-Weiß-Rot Hochschule für Jedermann“ und Schulfunksendungen (Ergert 1975: 75).
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Die Briten definierten, ähnlich wie die Franzosen, re-orientation in Österreich als einen Prozess, der auf Überwachung, Beratung und Hilfeleistung ihrerseits basieren sollte. Sie waren nicht bestrebt, eigene Bildungsideale umzusetzen und ihre Unterrichtsmodelle auf das österreichische Schulsystem zu übertragen. Die vom britischen „Information Services Branch“ publizierte englischsprachige Zeitschrift „School Post“ spiegelt diese Geisteshaltung wider. Die „School Post“, von 1946 bis 1949 in Wien produziert, wurde vordergründig als Unterrichtsmittel für den Englischunterricht eingesetzt, sollte aber gleichzeitig österreichischen Schulkindern über die Vermittlung britischen Geistes- und Kulturlebens die Werte einer demokratischen Gesellschaft näher bringen. Die Zeitschrift setzte nicht auf Belehrung, sondern auf das Verbindende zwischen Österreich und Großbritannien, was bereits die Gestaltung der ersten Ausgabe im Mai 1946 verdeutlicht: Das Titelblatt zeigt ein lächelndes englisches Schulmädchen in Uniform, die Hand zum militärisch-respektvollen Gruß erhoben, betitelt: „Britain’s Youth Salutes You” (School Post 1946: 1). Das Bild steht für den freundschaftlich-kameradschaftlichen Ton, der in allen Nummern spürbar ist. Die britische Unterrichtsministerin Ellen Wilkinson drückte in der ersten Ausgabe ihre Hoffnung aus, dass die vielfältigen kulturellen Beziehungen, die es vor dem Krieg gegeben hatte, wieder aufgenommen und gestärkt würden. Dies würde beiden Ländern helfen „to understand each other’s way of life and to develop a useful exchange of ideas“ (ebd.: 2). Die folgenden Ausgaben boten Berichte über fremde Länder, britische (Alltags-)Kultur, Geschichte, Literatur und Mode. Die Bilderwelt der „School Post“ ist eine optimistische: Selbstbewusste junge Briten und Britinnen werden etwa in der Schule, bei der Berufsausübung, beim Sport, in Diskussionsgruppen, als Redakteure von Schülerzeitungen gezeigt. Fröhliche Kinder spielen, wandern oder feiern Weihnachten. Ein direkter Bezug auf aktuelle Tagespolitik bleibt ausgespart. Beim Medium Film dominierten die US-Amerikaner, die auch langfristig ökonomische Strukturen etablieren konnten. Die Filmabteilung der ISB arbeitete eng mit der „Hollywood Motion Picture Export Association“ (MPEA) zusammen und brachte eine Vielzahl von kommerziellen US-Filmen nach Österreich. Filme wurden nicht nur in Kinos gezeigt, Mitarbeiter der „Education Division“ des ISBs veranstalteten Filmvorführungen in allen Bundesländern bzw. es konnten Vorführgeräte als auch Filme von Schulen ausgeliehen werden (Wagnleitner, 1991: 85). Obgleich auch sowjetische, hochqualitative Zeichentrick-, Kinder- und Jugendfilme gut angenommen wurden (vgl. Müller 2005: 107), übten im Rahmen des re-orientation-Programms vor allem US-amerikanische Unterhaltungsfilme eine nachhaltige Wirkung aus. Kinder und Jugendliche liebten Mickey Mouse-
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und Wildwestfilme. Hollywoodfilme vermittelten über die Unterhaltung hinausgehend den von vor allem von jungen Leuten für erstrebenswert gehaltenen ‘American Way of Life’, eine augenscheinlich glückliche Lebensart (über die Akzeptanz dieser Filme bei österreichischen Bildungsverantwortlichen siehe später im Text). Noch fern von ökonomischen Interessen liefen in den ersten Jahren der alliierten Besatzung in österreichischen Kinos Aufklärungsfilme über die NS-Zeit. Sowohl die Alliierten auch engagierte österreichische Nachkriegspolitiker und Intellektuelle verfolgten die Idee, dass eine Demokratisierung auf Basis politischer Läuterung geschehen konnte. KZ-Dokumentarfilme wie etwa „Die Todesmühlen“ (USA 1946) zeigten schonungslos die Verbrechen während des Dritten Reiches. Zwar waren diese Filme eher an ein erwachsenes Publikum gerichtet, so wurden etwa in Kärnten alle ehemaligen nationalsozialistischen „Parteigenossen“ zum Kinobesuch verpflichtet (vgl. Thode 2005a: 371), dennoch besuchten auch ältere Schülerinnen und Schüler klassenweise diese Filme. Das Entsetzen über die gezeigten Bilder war unter den Jugendlichen groß: Und dann kommt auf einmal die (...) Erschütterung des Gemüts eines Buben, der sich das Unvorstellbare nicht vorstellen konnte, bis er es im Kino sah. (...) Todesmühlen. Als es wieder Licht wird im Saal, schauen wir einander an. Keiner spricht, wir schauen nur. (...) Als das Licht angeht im Saal, sind wir alle bleich. Todesmühlen. Karren mit nackten Leichen. Ausgemergelte Körper, die zuhauf neben Baracken liegen. Öfen, in denen noch die Reste von Särgen stecken, und schwarze Dinger, die wie Knochen aussehen. (...) Kinder, die ihre Ärmel hinaufschieben und eintätowierte Zahlen zeigen, und wieder Leichen und wieder Leichen – Tote, die wie Mehlsäcke auf die Ladeflächen von Lastautos geworfen werden. (...) Wir können uns nicht vorstellen, daß das, was wir soeben gesehen haben, von Menschen anderen Menschen angetan worden ist. (Chorherr 2001: 231 f.)
Allerdings wurden diese Filme von vielen zunächst als Propaganda der Siegermächte abgelehnt. 1947 antworteten in einer Umfrage 59 % der Befragten auf die Frage „Glauben Sie alles, was in den KZ-Filmen passiert ist?“ mit Nein. Zu sehr war man wohl noch die verzerrende Propaganda der Nationalsozialisten gewöhnt und rechnete daher mit Gegenpropaganda (Thode 2005b). Ab 1947, mittlerweile hatte der Kalte Krieg eingesetzt, wurden die KZ-Filme zurückgezogen. Die US-Amerikaner verstärkten die Bemühungen um eine Westintegration Österreichs und vernachlässigten die Bemühungen um eine Aufarbeitung der Vergangenheit. Der explizit filmerzieherische Schwerpunkt verlagerte sich auf das Produzieren von Kurzfilmen, die über eine konkrete Geschichte vom Erlernen demokratischer Spielregeln erzählten, wie „Project for Tomorrow“ (USA 1950) oder „Hansl und die 200.000 Kücken“ (A 1952). In beidem Filmen setzen sich engagierte junge Menschen mit neuen Ideen gegen ihre traditionelle Umwelt durch (Rainer/Stiefel, 2005).
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Auch Österreichs Bevölkerung, geprägt von Zerstörung, materiellem Mangel, militärischer Besatzung und Fremdbestimmtheit durch die alliierten Truppen, war im Allgemeinen gewillt, die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, d.h. mit der etwaigen eigenen (Mit-)Täterschaft zu verdrängen und sich selbst als Opfer zu sehen. Aber nicht nur ehemalige Täter oder Mitläufer wollten vergessen: „Typisch für die Zeit war, daß alle vergessen wollten. Sowohl die Opfer als auch die Täter haben neu angefangen. Es gab nur eine Zukunft“, berichtet der Zeitzeuge und spätere Autor und Architekturkritiker Friedrich Achleitner (zit. nach Schwanberg 2005: 74).
3. Erziehung zu Österreich Schon nach dem Zerfall der Donau-Monarchie 1918 war die Eigenstaatlichkeit und somit die Überlebensfähigkeit Österreichs von vielen gesellschaftlichen Gruppen in der jungen Republik selbst bezweifelt worden. Die 1918 gegründete Republik „Deutschösterreich“ wurde als dem „Deutschtum“ zugehörig definiert, allerdings war den Politikern der Ersten Republik klar, dass eine eigenstaatliche Existenz durch ein „vaterländisches Bewusstsein“ aller Staatsbürger und Staatsbürgerinnen getragen werden musste, um „Anschluss“-Bestrebungen, d.h. dem „Anschluss“ an Deutschland, entgegenzuwirken. Also versuchte man, vor allem im autoritären Ständestaat zwischen 1934 und 1938, einen eigenständigen „Österreich-Patriotismus“ zu implementieren. Die Vorstellung von Österreich als eigener Nation wurde jedoch nur von einer kleinen Gruppe von Intellektuellen getragen und noch von vielen gesellschaftlichen Gruppierungen abgelehnt. Die Bemühungen um ein eigenständiges NationsbewußtseinNationsbewusstsein scheiterten. Auch nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches standen die österreichischen Bildungsverantwortlichen – auch auf Druck der Alliierten – vor der Situation, den nunmehrigen Bürgern und Bürgerinnen einer demokratischen Republik, Verständnis und Empfinden einer österreichischen Nation nahe bringen zu müssen. Die demokratische Führung war der Meinung, dass die nach 1945 sozial und politisch gespaltene österreichische Gesellschaft nur über eine gefestigte „österreichische Identität“ geeint und so langfristig das Bestehen der Zweiten Republik gesichert werden konnte3. Die Ausgangslage war nicht einfach: Ein klar definiertes einheitliches „Österreichisches Staats- und Demokratiebewusstsein“ war nicht vorhanden. Die 3
Zudem konnte man sich durch eine „Reaustrifizierung“ besser von nationalsozialistischer Mitschuld und Mittäterschaft distanzieren, was Entschädigungsforderungen hinauszuzögern oder abzuwehren half.
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Eltern bzw. Großeltern waren noch als Untertanen einer Monarchie geboren, hatten die demokratische Phase der Ersten Republik erlebt und ab 1934 in autoritären Regimes – zunächst im austrofaschistischen System und ab 1938 unter nationalsozialistischer Herrschaft – gelebt. Ab dem Jahr 1930 Geborene hatten in bewusster Wahrnehmung nur autoritäre Regime erlebt. Während der Zeit des „Dritten Reiches“ herangewachsene Kinder waren der Meinung, deutsche Bürger eines „Großdeutschen Reiches“ zu sein. Ein gemeinsames – für alle akzeptables – historisches Gedächtnis musste nach 1945 erst neu konstruiert werden (siehe hierzu vor allem Bruckmüller 1996). Das offizielle Österreich griff – wie schon in der Ersten Republik – auf die Betonung von Geschichte, Kultur und Landschaft Österreichs zurück. Die diffusen Identitätsbilder der Österreicher und Österreicherinnen sollten mit Hilfe der repräsentativen Vergangenheit bis zum Ersten Weltkrieg und der Verinnerlichung „hochkultureller“ Werte in ein klares Österreichbewusstsein umgewandelt werden. „Die wirkliche Stärke und Bedeutung Österreichs (liegt) auf geistigem, auf kulturellem Gebiet“ formulierte der damalige ÖVP-Unterrichtsminister Felix Hurdes (1948: 6). In Publikationen und Filmen wurde am „Mythos Österreich“ gearbeitet. Der Film „Sturmjahre. Der Leidensweg Österreichs“ (A 1947), unter der Regie des Sozialisten Frank Ward Rossak, zeigt ein idealisiertes Österreich: Ein Österreich, wie es hätte sein können, wird durch Fiktion und selektive Dokumentation real. Alle Österreichklischees werden hier dargestellt, die Geschichte Österreichs in eine als positiv zu bewertende Abfolge von Ereignissen gesetzt: Österreich ist das erste Opfer der nationalsozialistischen Aggression, doch eine österreichisch-patriotische Widerstandsbewegung kämpft gegen die Unfreiheit, der Krieg ist zu Ende, die Jugend arbeitet unermüdlich am „Wiederaufbau“ (Büttner/Dewald 1997: 19). Parallel zum Rückzug ins Private, den die österreichische Gesellschaft ab den 1950er Jahren vollzog, entführte eine ganze Generation von neu produzierten Operetten- und Musikfilmen, die Österreicher und Österreicherinnen in Traumwelten von Weinseligkeit, Liebesglück und Walzermelodien. In Bezug auf Kinder und Jugendliche waren für die gewünschte Demokratisierung und Identitätsfindung die Weckung eines „Heimatbewusstseins“, einer emotionalen Verbindung mit Österreich, und eines Zusammengehörigkeitsgefühls bedeutsam (vgl. Blaschitz 2005). Kinder- oder Jugendfilme wurden in den Nachkriegsjahren nicht produziert, doch in der Kinder- und Jugendliteratur wird diese „Erziehung zu Österreich“ deutlich sichtbar. Hier kam es, nach progressiven Vorkriegstendenzen, ab 1945 zu einem Rückschritt in Richtung „Bewahrpädagogik“. Kinder und Jugendliche sollten von allem Belastenden fern gehal-
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ten werden und durch das „Schöne und Gute“ zu Demokratie, Frieden und Humanismus erzogen werden. Dem „guten Buch“ wurde eine Schlüsselfunktion zur geistigen Erneuerung eingeräumt (Bamberger 1955). Es gab eine große Zahl an Vorbild- und Leitbildliteratur über Erfinder, Entdecker, Forscher, Heilige und Helfer der Menschheit. Ihr Vorbild sollte jungen Menschen zeigen, dass ein Leben für die Gemeinschaft erstrebenswert und erfüllend sei (Doderer 1988: 184). Daneben erschien in den ersten Nachkriegsjahren altbekannte Unterhaltungsliteratur, wie die Märchen der Gebrüder Grimm, „Trotzkopf“, „Robinson Crusoe“ oder Karl Mays Abenteuerbücher (Jugendschriftenkommission beim Bundesministerium für Unterricht 1948: 4). Parallel zum „Wiederaufbau“, zur beginnenden Modernisierung und Technisierung entstanden auch Erzählungen und Sachbücher, die aktuelle Motive des österreichischen Zeitgeschehens zu schicksalhaften Geschehnissen stilisierten und somit eine vaterländische Gesinnung fördern sollten. Das bekannteste Beispiel ist Othmar Franz Langs „Die Männer von Kaprun“ (1955), eine Verherrlichung des Kraftwerkbaus in Kaprun. Stellvertretend für eine Reihe von Literatur, die eine Neudefinition von Heimat und Zugehörigkeit zum Inhalt hatte, sei Karl Ziaks Buch „Neun Kinder aus Österreich“ (1950) genannt. Es erfüllt alle Kriterien der „Erziehung zu Österreich“: die Darstellung der österreichischen Landschaft, Geschichte und Kultur, die Betonung von Gemeinschaft, Demokratie und Humanismus. Neun Kinder, je eines aus jedem Bundesland, unternehmen eine Reise durch Österreich. Sie hören von Österreichs Kultur und Geschichte, sehen die Stahlwerke in Linz, genießen Badefreuden am Millstätter See und besuchen Kulturdenkmäler in Wien. „Ich finde“, so erklärt der die Kinder begleitende Schuldirektor Gruber, „das Schönste ist die Vielfalt Österreichs, die Verschiedenheit seiner Teile – und daß es doch schließlich uns allen gehört, wie einer großen Familie, die ein Haus mit vielen Zimmern hat. (...) Es wäre schön, Kinder, wenn ihr euch in Zukunft auch so zusammenfinden wolltet in den verschiedenen Räumen unseres Hauses Österreich.“ (Ziak 1950: 15) Ähnliche Intentionen sind in „Wie der liebe Gott Oesterreich erschaffen hat“ (1946) zu finden, das die Autorin Marga Frank an Grundschulkinder richtet. Der liebe Gott persönlich kümmert sich hier um die Verschönerung des Landes, das ihm zunächst „leer und öde“ (Frank 1946: 5) erscheint. Als bald sind Täler, Flüsse, Berge, Kulturdenkmäler, Vergnügungsstätten und auch Industrieanlagen zu sehen. Das vollendete Werk, das imaginierte „glückliche Österreich“, symbolisiert die letzte Zeichnung im Buch: Im Vordergrund dirigiert Johann Strauss ein Orchester, Paare tanzen unbeschwert Walzer, dahinter liegt das blühende Land.
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Bei Kinder- und Jugendzeitschriften waren Titel wie „Ulk“, „Kinderreich“, „Der lustige Kinder-Kurier“ oder „Märchenwelt-Kinderfreunde“ beliebt, schon die Titel weisen auf unpolitische Unterhaltung. Die ÖVP-Kinderzeitschrift „Wunderwelt“ definierte als Ziele: Sie müsse den Kindern „Freude bereiten“, „lehrhaft“ sein und die christliche Weltanschauung zur Grundlage haben (Diethardt 1985: 46). Eine Aufarbeitung der unmittelbaren Vergangenheit Österreichs, des Holocaust, des Lebens unter dem Nationalsozialismus fand in den ersten Nachkriegsjahren in der Kinder- und Jugendliteratur kaum statt.4 Selbst bei den sozialistischen Kinderfreunden wurde im ersten Nachkriegswinter als Weihnachtsgeschenk ein Märchenbuch verschenkt, im krassen Gegensatz zur Ersten Republik, als die Sozialisten Kinder als „gleichwertige“ Kampfgenossen angesehen hatten. Leo Wieds Jugendroman „Geheimnis der Inka-Insel“ (1947) kann als Parabel der Erfahrungen der Kriegsgeneration gelesen werden, die gerade erlebt hatte, dass sie gegen das „Schicksal“ (konkret: das NS-Regimes) nicht aufbegehren konnte. Der Glaube an ein unentrinnbares Schicksal, dem ein freier Wille nichts entgegenzusetzen vermag, ist zentrales Thema des Buches. Nur wenige Medien bezogen sich auf die Zeit des Nationalsozialismus bzw. thematisierten die Auseinandersetzung mit einem autoritären System. 1947 erschien der Jugendroman „Fünf gegen die ganze Stadt“ des ehemaligen Widerstandkämpfers Thomas Zeiz-Sessler. Hier werden die jungen Leserinnen und Leser aufgefordert, gegen ein ungerechtes System anzukämpfen, den Schwächeren zu helfen und Partei zu ergreifen. Stehlen und Belügen der Erwachsenen ist hier um der Gerechtigkeit willen erlaubt. Die führende Kindergruppe ruft auf, gegen das herrschende System anzukämpfen und sich im Wissen um die Wahrheit auch nicht von den Erwachsenen abhalten zu lassen: [D]a, wo die Erwachsenen versagen, da haben wir Jungen einzuspringen, da haben wir zu helfen und zu beweisen, daß wir später einmal nicht dieselben Fehler machen wollen wie die Großen, wenn wir drankommen. (Zeiz-Sessler 1947: 25)
Das Buch wurde von der zuständigen Prüfkommission des Unterrichtsministeriums schlichtweg abgelehnt5. Die Schwerpunkte der sozialistischen Kinderzeitschrift „Freundschaft“ waren neben Aufbau einer nationalen Identität und der Einübung der neuen demokratischen Verhaltensweisen auch die „Entnazifizierung“ der kindlichen Gedan4
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Erst 1963 erschien Winfried Bruckners „Die toten Engel“ über das Schicksal jüdischer Kinder im Warschauer Ghetto und 1964 „Das Schattennetz“ von Käthe Recheis, das die traumatischen Erlebnisse der Erzählerin in einem Krankenlager ehemaliger KZ-Häftlinge schildert. Gutachten aus der „Gelben Kartei“ im Archiv des Bibliotheks- und Medienzentrums für Kinder- und Jugendliteratur im Kinderliteraturhaus Wien, Sammlung. Thomas Zeiz-Sessler.
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kenwelt. Der Faschismus wird hier zwar thematisiert, aber nicht als österreichisches Problem darstellt: Er wird als ein von Deutschland importiertes Ideengut gezeichnet, durch das sich die österreichische Bevölkerung täuschen hatte lassen. Fabeln und Märchen berichteten häufig von Täuschung, Betörung und deren Folgen (z.B. die Geschichte „Der Wolf und die Schafe“, die direkt auf den Faschismus Bezug nimmt) (Diethardt 1985: 53). Ein weiterer Schwerpunkt der Hefte war bis in die 1950er Jahre die österreichische Vergangenheit, die als bedeutendes Erbe präsentiert wurde und die eine lediglich durch die NSHerrschaft unterbrochene Kontinuität der österreichischen Nation vermitteln sollte. Biografien „großer Männer und Frauen“, heimatkundliche Beiträge, Sagen, Theaterspiele, Umwelterzählungen etc. sollten das österreichische Nationalbewusstsein in alle Lebensbereiche der Kinder hineintragen. Nach der Phase der „Österreich-ist-deine-Heimat“-Bemühungen war es vor allem nach der wiedererlangten Eigenstaatlichkeit 1955 das Ziel des ÖVPUnterrichtsministeriums, „staatsbürgerliche Erziehung“ zu fördern. Im Schulfunk etwa wurden 1955 in der Sendereihe „Wir alle sind der Staat“ Fragen wie: „Welchen Schaden erleidet der Staat durch den Ankauf geschmuggelter Waren?“ und „Welche Pflichten hat schon ein Schulkind dem Staat gegenüber?“ behandelt (Das Monatsprogramm des Schulfunks 1955: 54 f.). Bereits 1950 war als eines der ersten Schulbücher zum Thema Robert Endres’ „Österreichische Staatsbürgerkunde“ erschienen6. Besonders interessant in einer Reihe von staatsbürgerlichen Publikationen ist „Unser Österreich. 1945–1955“ (1955), das der österreichischen Schuljugend zum 10. Jahrestag der Wiederherstellung der Republik gewidmet wurde. An diesem Büchlein zeigt sich symptomatisch die innere Zerrissenheit, in der sich die österreichische Gesellschaft noch Mitte der 1950er Jahre befand. „Unser Österreich“ informiert über die Leistungen der ersten zehn Jahre der Zweiten Republik. Eine kritische Analyse der unmittelbaren Vergangenheit findet nicht statt – so wird von der anonymen Urgewalt „Krieg“ gesprochen, die „schleichend wie eine tückische Krankheit“ kam. Der Nationalsozialismus wird in diesem Zusammenhang völlig ausgeklammert, nicht einmal namentlich erwähnt (ebd.: 10). Obwohl die Fibel aus heutiger Sicht den Wunsch nach Konsens und Aussöhnung verdeutlicht und die Nachkriegsjahre bereits zur „Erfolgsgeschichte“ verklärt, erregte sie bei einigen zeitgenössischen Pädagogen höchstes Missfallen. Grund des Anstoßes war nicht der Text, sondern die Illustrationen des Buches. Die expressiven, teils düsteren schwarz-weißen Federzeichnungen des Illustrators Carry Hauser stehen im scharfen Kontrast zum optimistisch6
Zur Rolle der Schulbücher insgesamt siehe Utgaard 1997 und Blaschitz 2005.
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freundlichen Text: Der Tod tritt in einem Bild in Gestalt eines bewaffneten Soldaten mit Totenschädel, der über eine Leiche steigt, auf. Im Kapitel „Zerstörung“ versuchen Menschen, einer in sich zusammenstürzenden Welt zu entfliehen: Wankende, brennende Häuser, ein Mensch im Hintergrund wird gleichsam vom Abgrund verschlungen. In einem Brief an das Unterrichtsministerium äußern Lehrer der „Österreichischen Kaufmännischen Lehranstalten“ heftige Kritik: Die Schüler und Schülerinnen seien aufgebracht und verstört und hätten erklärt, dass sie dieses Buch gar nicht aufmachen wollten, da es „so fürchterliche Bilder“ enthalte. Gerade die Generation unserer heutigen Schuljugend, die ja in frühestem Alter die Schrecken der letzten Kriegs- und ersten Nachkriegsjahre mitmachte, wäre den Künstlern sehr dankbar, wenn diese ihr frohe und freundliche Bilder von der Welt geben würden. Es ist also eine höchst sonderbare Idee, durch grauenerregende Illustrationen den Kindern und Jugendlichen die Bilder aus den Schreckensjahren der Hitler-aera [(sic!)] wieder in Erinnerung zu bringen. (zit. nach Blaschitz 2005: 80)
Die Bilder würden die Seelen der Jugend vergiften, so die Briefschreiber (ebd.). Die Bilder, nicht die Ereignisse, werden zur Projektionsfläche für eine unaufgearbeitete Vergangenheit.
4. Bekämpfte Medien Die restaurative österreichische Gesellschaft sah sich nach 1945 verpflichtet, Kinder und Jugendliche nicht nur vor Erinnerungen an die Vergangenheit, sondern auch vor neuen Versuchungen zu schützen. Während man also meinte, die „Gesundung“ der Gesellschaft könnte durch das „Gute und Schöne“ erfolgen, sah man sich durch die neuen Verführungen der (US-amerikanischen) Kulturindustrie, die in Österreich Einzug gehalten hatten, massiv bedroht. In Abgrenzung des im Zuge des Demokratisierungsprozesses angestrebten Kulturbegriffes, der „Hochkultur“ (klassische Musik, Theater, Ballett, etablierte bildende Kunst, das „gute“ Buch) implizierte, musste zwangsläufig jede Form einer davon abweichenden Kultur als „minderwertig“ bekämpft werden. In den 1950er Jahren wurde die weltweite Modernisierung von vielen Menschen – nicht nur in Österreich – als sehr bedrohlich empfunden. Aus zeitgenössischer Perspektive vollzog sich die Technisierung mit noch nie da gewesener Geschwindigkeit. Besonders der Einsatz der Atombombe und die ständig spürbare Bedrohung durch den Kalten Krieg ließen viele Menschen an den positiven Aspekten der Technisierung zweifeln. Gesellschaftliche Veränderungen wie die neue Konsum- und Massengesellschaft und das Entstehen einer Freizeitkultur
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wurden besonders über die neuen populären Medien (Film, Comics, illustrierte Zeitschriften) manifest. Die alliierten Besatzungsmächte hatten das seit Mitte der 1930er Jahre sehr statische und kulturell rückwärts gewandte Österreich über die populäre Medien, neue Literatur, Musik und die mit ihnen verbundenen Lebensweisen und Attitüden abrupt mit den massiven internationalen Modernisierungsprozessen (mit dem Zentrum USA) in Kontakt gebracht. Während vor allem Jugendliche die Erweiterung ihrer Lebenswelten freudig akzeptierten, standen viele Erwachsene den kulturellen Veränderungsprozessen kritisch bis ablehnend gegenüber. Die populären Medien, die so genannte „Schmutz-und-Schund“-Produktion7, würden Jugendliche „sittlich“ gefährden und zu Vergnügungssucht, moralischer Verwahrlosung und schlussendlich kriminellem Verhalten führen, waren die Befürchtungen der Erwachsenenwelt. Bei Kindern im Vorschulalter seien etwa nach einem Kinobesuch gesundheitliche Probleme, z.B. „nächtliches Schreien“, und im Schulalter Leistungsabfall die Folgen (Asperger 1955: 8). Massenmedien führten zur „Vermassung“ und „Entindividualisierung“, und die allgegenwärtige „Bilderflut“ durch Plakate, illustrierte Zeitschriften und Kinofilme zu Verflachung, Verdummung und „Primitivisierung“ so der Filmpädagoge Franz Zöchbauer (1960: 58). Unter besondere Kritik gerieten Comics: Die Comics sind eine Quelle allgemeinen Analphabetentums; Sie schaffen eine Atmosphäre der Grausamkeit und des Abwegigen; Sie vermitteln verbrecherische oder sexuell abnormale Ideen; Sie schwächen die natürlichen Kräfte, ein gesundes und anständiges Leben zu führen. (Bamberger, 1958, S. 145)
Das im Alltagsleben präsente Bild galt als Symbol des Niederganges der Schrift- (=Hoch-)kultur. Die Bildungseliten fürchteten, dass die Kraft der Bilder (Symbole für Modernisierung, sprich Amerika) den rationalen Diskurs (Europa) ersetzen könnte. „Wo die Sprache verfällt, verfällt der Geist“, so Richard Bamberger (ebd.: 140), der als Leiter des „Buchklubs der Jugend“ zu den vehementesten „Schmutz-und-Schund-Kämpfern“ zählte. Im „Kampf gegen Schmutz und Schund“ einten sich sowohl linke als auch rechte Organisationen und Parteien, die Bildungsverantwortlichen und die katholische Kirche. Der „Kampf gegen Schmutz und Schund“ war auch eine Auseinandersetzung der Generationen. Ein immer größer werdender Teil der Nachkriegsjugend entzog sich durch Hinwendung zur US-amerikanischen Kulturindustrie seiner autoritären und obrigkeitshörigen Umgebung. Durch die Aneignung kultureller Codes (Kleidung, Attitüden) und über US-amerikanische Filme und Musik, wa7
Zur„Schmutz-und-Schund“-Debatte ab der Mitte des 19. Jahrhunderts siehe Maase 2001 und Flandera 2000.
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ren die „Halbstarken“ und „Teenager“ Vorreiter einer sich modernisierenden Welt. Freizeit und Konsum als Orientierungs- und identitätsfaktoren wurden zu Formen des Widerstandes. Die österreichischen Bildungsverantwortlichen diagnostizierten politische Apathie bzw. die fehlende Achtung vor „echter Autorität“ der Jugend (Jugend in Not 1958: 2) und sahen das Ziel der Implementierung staatsbürgerlichen Denkens gefährdet. Ebenso befürchtete man, dass die junge Generation nicht mit genügend Ernsthaftigkeit und „christlicher Arbeitsethik“ an der Schaffung eines neuen Gemeinwesens arbeiten würde (ebd.). Aber nicht nur der Generationenkonflikt war Ursache der Ablehnung USamerikanischer Kulturimporte. Amerika war schon seit der Jahrhundertwende zwar einerseits Utopie und Traumbild, andererseits aber auch Synonym für eine technisierte und anonyme Welt (vgl. Lüdtke 1996). Die Angst vor Entindividualisierung, vor „Vermassung“ wurde aber nicht nur mit „Amerika“ in Verbindung gebracht, wenngleich der politische Antiamerikanismus in Österreich aufgrund der US-amerikanischen Besatzung bis 1955 sehr stark war, eingebettet in den Ost-West-Konflikt herrschte ebenso Angst vor einer kommunistischen Kollektivierung. Am 1946 in Wien produzierten und an Jugendliche gerichteten Aufklärungsfilm „Schleichendes Gift“ war die erste öffentliche Empörung entbrannt. Drastische Darstellungen der Folgen von Geschlechtskrankheiten, in Großaufnahme sichtbare nackte Geschlechtsteile schienen in einigen Landesteilen nicht zumutbar, aus „Sittlichkeitsgründen“ wurde der Film etwa vom Landshauptmann von Tirol verboten (Holzleithner 2000: 50). Häufiges Sehen von Kriminalfilmen und/oder das Lesen von Western- und Kriminalromanen würde den „Nachahmungstrieb“ bzw. den Abbau von moralischen Schranken fördern. Unzählige Beispiele von jugendlichen Kriminellen, die sich durch Medienkonsum beeinflussen ließen, finden sich in der Tagespresse (siehe etwa Zusammenstellung von Zeitungsartikeln in: Bamberger/Jambor 1965). Auch Filme, die intime Handlungen darstellten, riefen Empörung hervor. Eine immer „stärker werdende Schamlosigkeit der häufigen Kinobesucher“ sei zu beobachten (Zöchbauer 1960: 73). Vor allem der 1951 in Deutschland produzierte Willi-Forst-Film „Die Sünderin“, in dem die junge deutsche Schauspielerin Hildegard Knef in einer kurzen Nacktszene zu sehen ist und der zudem die Themen Prostitution, Selbstmord und Euthanasie beinhaltet, löste einen Sturm der Entrüstung aus, u.a. riefen die österreichischen Bischöfe mit einem Hirtenbrief zum Filmboykott auf (Flandera 2000: 270). Selbst harmlose Unterhaltungsfilme gaben Anlass zur Kritik: Sie würden junge Menschen in eine Traumwelt führen, häufige Kinobesucherinnen und
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-besucher kämen mit der Realität nicht mehr zurecht – das Kino als „Kultraum des leeren Ich-Bewusstseins“, so der Publizist Karl Bednarik (1953: 40), Film sei „die Welt des Haschischrausches“ (Zöchbauer 1960: 61), die ausufernde Vergnügungskultur gefährde die Funktionsfähigkeit der Gesellschaft. Bald nach den ersten öffentlichen Protesten, noch unter den Zensurbestimmungen der Alliierten, waren Gegenmaßnahmen gesetzt worden. Bereits 1947 wurde die „Katholische Filmkommission“ ins Leben gerufen, die Filme nach ethischen und moralischen Kriterien bewertete und diese Bewertungen veröffentlichte. Im selben Jahr wurden zur Begutachtung von Büchern bzw. Filmen die „Jugendschriftenkommission“ und 1948 die „Filmbegutachtungsstelle“ im Unterrichtsministerium (wieder-)eröffnet. Die Aktion „Der gute Film“ setzte sich ab 1956 für den „wertvollen“ Film ein (vgl. Blaschitz, in Druck). Medienerziehung war Teil der Erziehung zum „Guten und Schönen“, wie der Aktion „Der gute Film“-Mitarbeiter Ferdinand Kastner in Bezug auf Filmerziehung definierte, sie sei die „Herausführung des im Menschen angelegten Bildes, also Bildhauerarbeit (...) am edelsten Stoff, am Geist und an der Seele des Menschen,“ (1981: 34). Der „Kampf gegen Schmutz und Schund“ wurde in den 1950er Jahren über Schulen, Kirchen und einer entsprechenden Präsenz in der Presse zu einer Massenbewegung von besorgten Eltern bzw. Erwachsenen. Der bereits erwähnte „Buchklub der Jugend“ (gegründet 1948) initiierte eine Unterschriftenaktion zur Verschärfung des seit 1950 bestehenden „Schmutz und Schund“-Gesetzes, das die „gewinnsüchtige“ Herstellung bzw. den öffentlichen Verkauf von „unzüchtigen Schriften, Abbildungen, Laufbildern“ und anderen „unzüchtigen Gegenständen“ verbot (Erhart 1955). 1956 konnte dem damaligen Unterrichtsminister Heinrich Drimmel die beachtliche Zahl von einer Million Unterschriften überreicht werden (eine Verschärfung wurde allerdings nicht mehr umgesetzt). Ab Mitte der 1960er Jahre flaute der „Kampf gegen Schmutz und Schund“ ab. Die neuen populären Medien hatten in der sich etablierenden Konsumgesellschaft nicht nur Akzeptanz gefunden, sondern waren über ihre massenhafte Verwendung zu einem unverzichtbaren Teil der Alltagskultur geworden. Zudem hatte sich die Meinung durchgesetzt, dass der Einfluss von Filmen oder Comics auf die Aggressivität oder Kriminalisierung von Jugendlichen nicht so groß wie angenommen sei. Kino wurde vom Fernsehen verdrängt, dessen Gefährlichkeit für Jugendliche ob seiner Kontrollierbarkeit im familiären Rahmen, als nicht allzu groß eingeschätzt wurde.
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5. Fazit Nach 1945 wurden in Österreich Medien eingesetzt, um Kindern und Jugendlichen demokratisches Leben vorzuzeigen, einzuüben und ein möglichst positives Zukunftsbild zu vermitteln. Die Aufarbeitung der Vergangenheit war nur in den ersten Nachkriegsjahren Thema alliierter Medienarbeit. Das Großprojekt, Kinder und Jugendliche in der schulischen und außerschulischen Bildungs- und Kulturarbeit zu bewussten und demokratischen Österreichern und Österreicherinnen zu erziehen, kann langfristig als gelungen bezeichnet werden. Die Nachkriegszeit war zweifelsohne die zentrale Zeitspanne zur Ausprägung einer nationalen Identität. Umfragen zeigen, dass seit 1955 der Konsens darüber, dass Österreich eine eigenständige Nation sei, deutlich gewachsen ist: Während 1956 nur 49% der Befragten der Meinung waren, dass die Österreicher ein eigenes Volk seien, definierten 1993 bereits 80% Österreich als „eine eigene Nation“8. Eine Zugehörigkeit zur deutschen Nation wurde zur Minderheitensicht, die (phasenweise lautstark) nur noch von Parteigänger und Parteigängerinnen der FPÖ oder von rechtsradikaler Seite vertreten wurde. Mediengestützte Maßnahmen spielten neben erneuerten Unterrichtscurricula, Schüleraustauschprogrammen, Gründung von Jugendorganisationen, Diskussionsklubs, „Jungbürgerfeiern“, Kulturprogrammen etc. eine bedeutsame Rolle bei der staatsbürgerlichen Erziehung von Kindern und Jugendlichen. Medien zeichneten (nicht nur für Kinder und Jugendliche) am „Österreich-Bild“ mit und trugen somit zur Festigung der österreichischen Identität bei. Auch die nach 1945 forcierten „Ingredienzien“ der österreichischen Identität haben sich verfestigt: 2004 gaben die befragten Österreicherinnen und Österreicher an, neben den staatlichen Sozialleistungen besonders stolz auf landschaftliche Reize, intakte Natur, das kulturelle Angebot und die historischen Sehenswürdigkeiten zu sein (IMAS 2005: 1). Die Vehemenz der „Kampfmaßnahmen“ gegen die unerwünschten populären Medien hingegen kann nicht nur als Angst vor der Moderne bzw. vor kulturellen Veränderungsprozessen, als anti-amerikanische Haltung oder als Generationenkonflikt, sondern auch als Selbstreinigungsprozess der österreichischen Gesellschaft von der Involvierung in das Dritte Reich gelesen werden: Er war Teil des Versuches, den unbefleckten „neuen demokratischen, österreichischen Menschen“ zu schaffen.
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Fessel-Umfragen aus den Jahren 1955–1993, zit. nach Bruckmüller o.J.: 17.
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Maren Würfel, Susanne von Holten
Themenzentrierte aktive Medienarbeit: ein Ansatz zur Förderung der politischen Beteiligung Jugendlicher
1. Jugend und politische Beteiligung Seit längerem wird von politischen und gesellschaftlichen Akteuren ein Bild von der unpolitischen Jugend gezeichnet und die Politikverdrossenheit Jugendlicher beklagt. Belegt wird dies unter anderem mit Ergebnissen von ShellStudien (z.B. Shell Deutschland Holding 2006; Deutsche Shell 2002), die seit Jahren ein rückläufiges Politikinteresse bei der jungen Generation diagnostizieren. 2002 erreichte dies seinen (vorläufigen) Tiefpunkt als sich lediglich 34 Prozent der Jugendlichen selbst als politisch interessiert bezeichneten. Auch wenn die Werte für 2006 wieder leicht gestiegen sind, ist eine echte Trendwende wohl nicht in Sicht (vgl. Schneekloth 2006). Das diagnostizierte geringe Politikinteresse wird vielfach als Indikator für die Distanzierung Jugendlicher zur Demokratie, den demokratischen Institutionen sowie den politischen Spielregeln in einem demokratischen System interpretiert. Dem ist zumindest dahingehend zuzustimmen, dass ein geringes Interesse an Politik und den Institutionen der politischen Willensbildung für die gesamtgesellschaftliche Konsensbildung und damit die politische Handlungsfähigkeit nicht zuträglich ist. Das demokratische System – soll es seinem Sinn entsprechend funktionstüchtig sein – könnte mit einer misslungenen Integration der jungen Generation zunehmend seine Basis und damit seine Legitimation verlieren. Dem steht entgegen, dass auf Seiten der Jugendlichen wohl weniger eine Politikverdrossenheit und Distanz zur Demokratie besteht, sondern eher eine Verdrossenheit gegenüber PolitikerInnen und Parteien, gegenüber der offiziellen Politik und den bestehenden realpolitischen Verfahrensweisen (vgl. Hurrelmann et al. 2006, Burdewick 2003). Interesse an politischen Fragestellungen haben Jugendliche durchaus (z.B. Lauber/Hajok 2001) und auch die Demokratie als Staatsform trifft bei der großen Mehrheit der Jugendlichen auf Zustimmung (vgl. Schneekloth 2006). Eigenem politischen Engagement steht ein großer Teil der Jugendlichen jedoch distanziert bis skeptisch gegenüber (ebd.). Dies äußert sich u.a. darin, dass sich immer weniger Ju-
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gendliche in politischen Parteien, Organisationen und Institutionen organisieren (vgl. Wiesendahl 2001). Vor diesem Hintergrund stellt sich immer zwingender die Frage, wie das politische Engagement von Jugendlichen – insbesondere in den politischen Kernbereich hinein – gefördert werden kann. Diesbezüglich zeichnen sich vier Ansatzpunkte ab. Erstens müssen Partizipationsmöglichkeiten und -formen angeboten und aufgezeigt werden, die sich an den Bedürfnissen der heutigen Jugend orientieren (vgl. Schneekloth 2006). Hier sind flexible und lockere Partizipationsformen gefragt, denn Jugendliche ziehen ein projektförmiges Engagement einer dauerhaften Einbindung in politische (Jugend-)Organisationen vor (vgl. Hurrelmann et al. 2006; Picot 2006; Gaiser/de Rijke 2001). Der zweite Ansatzpunkt bezieht sich auf den persönlichen ‘Mehrwert’, der mit politischem Engagement verbunden sein kann und sollte (vgl. Schneekloth 2006). Dieser Mehrwert kann z.B. in gestärkten Selbstund Sozialkompetenzen, im Gruppenerleben und dem Knüpfen neuer Kontakte oder aber in der Aneignung neuer Fertigkeiten liegen. Hier sollte nicht unterschätzt werden, dass diese ‘zusätzlichen’ positiven Aspekte gewichtig zur Motivation Jugendlicher beitragen, sich zu engagieren und in politische Entscheidungsprozesse einzubringen. Drittens ist es Jugendlichen wichtig, von Seiten der PolitikerInnen als GesprächspartnerInnen wahrgenommen und vor allem auch ernst genommen zu werden (vgl. Schneekloth 2006; Burdewick 2003). Sie erwarten von der Politik, dass diese aktiv auf Jugendliche zugeht (vgl. Schweer/Erlemeyer 2001) und dass auch insgesamt junge Menschen stärker in politische Entscheidungsprozesse eingebunden werden. Damit einher geht schließlich der vierte Ansatzpunkt: Jugendliche engagieren sich vor allem dann, wenn sie das Gefühl haben, dass „etwas dabei herauskommen kann“ (Schneekloth 2006). Und das muss nicht nur heißen, dass ihnen Möglichkeiten zur tatsächlichen politischen Partizipation aufgezeigt werden, sondern auch, dass politische Entscheidungsprozesse für diese Einflussnahme offen sind. Echte Chancen auf realpolitische Mitbestimmung und das Gefühl, dass politische Themen wirklich verhandelbar sind, können Jugendliche nicht nur zum politischen Engagement ermutigen, sondern ein nachhaltiges politisches Interesse befördern. Ausgehend von der hier beschriebenen Dringlichkeit, das politische Engagement von Jugendlichen mit geeigneten Maßnahmen zu fördern, werden die folgenden Ausführungen der Frage nachgehen: Welchen Beitrag kann hierzu die Medienpädagogik leisten? Wie kann sie die politische Beteiligung von jungen Menschen anregen und unterstützen und damit auch ein nachhaltiges Interesse an politischen Fragen befördern?
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2.
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Die Förderung politischer Partizipation als Aufgabe der handlungsorientierten Medienpädagogik
Die handlungsorientierte Medienpädagogik, die in der Tradition emanzipatorischer Ansätze steht, ist von ihrem Selbstverständnis her immer auch eine politisch bildende Pädagogik. Mit ihrer Methode der aktiven Medienarbeit zielt sie auf Emanzipation und Mündigkeit und damit auf „das aktive gesellschaftliche Subjekt, das die verfügbaren Medien für seine Interessen ‘in Dienst nimmt’ und kompetent am gesellschaftlichen Prozess teilnimmt“ (Schell 2003, S. 7). Die Subjekte sollen befähigt werden, über die Veröffentlichung selbst-produzierter Medienbeiträge auf Veränderungen im gesellschaftlichen Bereich hinzuwirken, oder aber zumindest die Öffentlichkeit für die angesprochene Thematik zu sensibilisieren (vgl. Hüther 1991). Die medienpädagogische Praxis bleibt häufig hinter diesen politischen Ansprüchen zurück. Aktive Medienarbeit bedeutet – wie sie z.B. Fred Schell im Hinblick auf Jugendliche begreift – die Be- und Erarbeitung von Gegenstandsbereichen sozialer Realität mit Hilfe von Medien, wobei Medien als Mittel der Kommunikation gebraucht werden (vgl. Schell 2003). In der medienpädagogischen Praxis sind Themen, die bearbeitet werden, sowie die Veröffentlichung, aber oft auf die Lebenswelt Jugendlicher beschränkt und können damit dem politischen Anspruch kaum genügen. Werden in Projekten aktiver Medienarbeit Themen intensiv bearbeitet, sind diese – und diesbezüglich deckt sich Konzeption und Praxis aktiver Medienarbeit – in der Lebenswelt Jugendlicher verortet. Themen, die nicht vordergründig der Lebenswelt Jugendlicher angehören, aber gesellschaftlich und politisch von aktueller Bedeutung sind, werden kaum zum Gegenstand von medienpädagogischer Jugendarbeit. Ähnlich verhält es sich mit der Veröffentlichung der in aktiver Medienarbeit entstandenen Medienbeiträge. Die Veröffentlichung zielt auf die öffentliche Artikulation eigener Sichtweisen und Interessen und die Herstellung von (Gegen-)Öffentlichkeit mit Medien (vgl. Schell 2003, 2006). Dieser Zielbereich findet in der heutigen medienpädagogischen Praxis nur noch wenig Beachtung. Andere Zielbereiche wie z.B. die Medienkritik stehen häufiger im Mittelpunkt der Medienarbeit. Und nicht selten konzentrieren sich medienpädagogische Praxisprojekte allein auf die Vermittlung von technischen und gestalterischen Fertigkeiten. Der Akt der Veröffentlichung reduziert sich damit oft darauf, die Jugendlichen noch stärker für die Medienarbeit zu motivieren – spornt doch die Aussicht etwas ‘Eigenes’ zu veröffentlichen an. Bei der Konzentration auf diese Funktion werden dann der ‘Ort’ der Veröffentlichung und die ‘Zielgruppe’ marginal und der Akt der Veröffentlichung verliert einen Teil seiner eigentlichen Bedeutung, nämlich die thematische Kommunikation mit der relevanten Öffentlichkeit und eine gesellschaftliche Debatte anzustoßen.
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Maren Würfel, Susanne von Holten
Ein Weg, die Potentiale medienpädagogischer Praxisarbeit für die Förderung der politischen Beteiligung Jugendlicher auszuschöpfen, ist somit, aktuell verhandelte politische Themen zum Gegenstand aktiver Medienarbeit zu machen und die Themenbearbeitung sowie die Veröffentlichung in den Mittelpunkt zu rücken. In der Spezifizierung des Konzepts ‘aktive Medienarbeit’ als ‘themenzentrierte aktive Medienarbeit’ wird dieser Weg verfolgt. In themenzentrierter aktiver Medienarbeit wird die Förderung von Medienkompetenz mit der Förderung der konkreten politischen Partizipation verbunden.
3. Themenzentrierte aktive Medienarbeit Anknüpfend an die Konzeption aktiver Medienarbeit meint themenzentrierte aktive Medienarbeit die Be- und Erarbeitung von gesellschaftlich relevanten, ethisch komplexen Themen mit Hilfe von Medien im Rahmen pädagogischer Prozesse (Schorb et al. 2006). Sie zielt auf die Beteiligung Jugendlicher an politischen und gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen über die Artikulation mit und zielgerichtete Veröffentlichung von Medien. In themenzentrierter aktiver Medienarbeit dienen Medien den Jugendlichen vornehmlich als Mittel der Exploration bzw. Analyse eines Themas sowie als Mittel der Artikulation und Herstellung von Öffentlichkeit. Für die Projektarbeit gilt demnach, themenbezogene und genuin medienpädagogische Ziele fruchtbar miteinander zu verbinden. Die themenbezogenen Ziele betreffen die Erschließung eines Themas, konkret die Aneignung von Fachwissen, die reflexive Auseinandersetzung mit verschiedenen Positionen zu diesem Thema und die Bildung eines begründeten Urteils. Medienpädagogisches Ziel ist die Förderung von Medienkompetenz in den Dimensionen Medienwissen, Medienbewertung und Medienhandeln1 (vgl. Schorb 2005), wobei der Schwerpunkt auf den partizipativen Aspekten des Medienhandelns liegt: Die Heranwachsenden sollen befähigt werden, Medien in Dienst zu nehmen, um ihre Meinungen und Interessen zu artikulieren, in den gesellschaftlichen Diskurs einzubringen und Einfluss auf die politische Willensbildung und 1
Die drei Dimensionen des Medienkompetenzbegriffes nach Schorb (2005): (1) Medienwissen beinhaltet erstens das Wissen über technische und gestalterische Aspekte von Medien. Zweitens ist mit Medienwissen Hintergrundwissen über Medien gemeint, insbesondere über die Struktur der Medienlandschaft. (2) Medienbewertung umfasst die Fähigkeit, Medien in ihrer Struktur, Gestaltung und Wirkung zu durchschauen und zu bewerten und vor diesem Hintergrund bewusst mit Medien umzugehen. (3) Medienhandeln umfasst erstens die bewusste Auswahl und aktive Aneignung von Medieninhalten aufgrund von eigenen Interessen und Bewertungen. Zweitens umfasst Medienhandeln die Fähigkeit des Subjektes, eigene Medienprodukte zu gestalten, um seine Interessen und Sichtweisen zu artikulieren, zu veröffentlichen und damit an der gesellschaftlichen Kommunikation zu partizipieren.
Themenzentrierte aktive Medienarbeit
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Entscheidungsfindung zu nehmen. Beide Zieldimensionen – themenbezogene und medienpädagogische – stehen dabei gleichberechtigt nebeneinander und werden in Projekten themenzentrierter aktiver Medien gemeinsam verfolgt und miteinander verknüpft. Da themenzentrierte aktive Medienarbeit auf die Beteiligung Jugendlicher an konkreten politischen und gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen abzielt, finden sich ihre Gegenstände in den gesellschaftlich relevanten Themen, die aktuell politisch verhandelt werden. Gesellschaftlich relevant heißt hier, dass die Themen die Allgemeinheit sowohl in Gegenwart als auch in der Zukunft betreffen und dass sie in der Öffentlichkeit kontrovers und unter Beteiligung verschiedener gesellschaftlicher Interessengruppen diskutiert werden. Darüber hinaus bestimmen sich die Gegenstände themenzentrierter aktiver Medienarbeit an ihrer ethischen Komplexität und damit daran, inwiefern die Ausbildung einer qualifizierten Meinung einer intensiven reflexiven Auseinandersetzung bedarf. Ethisch komplex bedeutet hier, dass viel Wissen benötigt wird, um das Thema mit seinen ethischen Implikationen zu durchdringen, dass verschiedene (Grund-) Werte und Normen miteinander in Konflikt geraten sowie dass Normen, Bewertungsmaßstäbe und Handlungsorientierungen in Bezug auf die ethischen und sozialen Implikationen gesellschaftlich noch nicht ausgehandelt sind. Gegenstände themenzentrierter aktiver Medienarbeit sind demnach aktuelle gesellschaftlich relevante, ethisch komplexe Themen wie zum Beispiel Gentechnik, Globalisierung, Europäische Integration, Sterbehilfe, Zukunft der Arbeit und demografischer Wandel – und damit Themen, die der Lebenswelt Jugendlicher eher fern sind. Die Bearbeitung gesellschaftlich relevanter und ethisch komplexer Themen in themenzentrierter aktiver Medienarbeit stellt besondere Anforderungen an den pädagogischen Prozess. Diese Anforderungen ergeben sich aus der Besonderheit der Themen sowie daraus, dass großer Wert auf die Veröffentlichung und den damit verbundenen Partizipationsanspruch gelegt wird. Vier Anforderungen prägen den pädagogischen Prozess in Projekten themenzentrierter aktiver Medienarbeit: (1) Die Erschließung der Relevanz des Themas: In Projekten themenzentrierter aktiver Medienarbeit müssen die Jugendlichen erkennen, inwieweit das Thema auch sie selbst in Gegenwart und/oder Zukunft betrifft. Hierin können die Heranwachsenden unterstützt werden, indem ihnen die Bezüge des Themas zu ihrer eigenen Lebenswelt offengelegt werden. (2) Die Erarbeitung des Themas: Bei gesellschaftlich relevanten und ethisch komplexen Themen verfügen Heranwachsende meist über wenig Vorwissen; d.h. das Thema ist weitestgehend neu und erfordert Hintergrundwissen, um all seine Facetten und Implikationen durchdringen zu können. (3) Die Bildung einer qualifizierten Meinung: Die Auseinandersetzung mit ethisch komplexen Themen, die
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gesellschaftlich noch nicht ausgehandelt sind, geht mit dem Anspruch einher, die Ergebnisse dieser Auseinandersetzung in die gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse einzubringen. In themenzentrierter aktiver Medienarbeit wird besonderer Wert auf die Bildung einer qualifizierten Meinung gelegt, die mit Medien artikuliert wird. Dies ist Voraussetzung dafür, dass die Heranwachsenden ihre eigenen Interessen begründet in den Diskurs einbringen können und von anderen gesellschaftlichen Interessengruppen ernst genommen werden. (4) Die Veröffentlichung als Beteiligung am Diskurs: Das Ziel der Partizipation Jugendlicher an gesellschaftlichen und politischen Aushandlungs- und Entscheidungsprozessen verlangt eine möglichst zielgerichtete Veröffentlichung der Medienprodukte. Nur so können die Positionen und Argumente der Jugendlichen von anderen DiskursteilnehmerInnen sowie relevanten EntscheidungsträgerInnen wahrgenommen werden und damit auch Berücksichtigung finden. Projekte themenzentrierter aktiver Medienarbeit werden in der medienpädagogischen Praxis in vier Phasen realisiert: Analysephase, Konzeptionsphase, Produktionsphase und Präsentationsphase. In der Analysephase erschließen sich die Jugendlichen die Relevanz des Themas und setzen sich intensiv mit seinen Facetten auseinander. Dieser Phase kommt besondere Bedeutung zu, denn hier wird gewährleistet, dass der Reflexionsprozess auf fundiertem Wissen aufbaut und eine begründete Meinung ausgebildet und artikuliert werden kann, die von den MeinungsführerInnen im Diskurs auch ernst genommen wird. In der Konzeptionsphase wird das Medienprodukt geplant – von der inhaltlichen Ideenfindung über die Entscheidung für Darstellungsformen und Genre bis zum detaillierten Konzept bzw. Drehbuch. In der Produktionsphase setzen die Jugendlichen ihr Konzept medial um: Das Material wird erstellt, bearbeitet und anschließend zum Film, zur Radiosendung oder Internetseite zusammengefügt. In der Präsentationsphase wird schließlich das entstandene Medienprodukt der Öffentlichkeit vorgestellt und nochmals reflektiert. Gemeinsam mit den Jugendlichen werden Wege gefunden, das entstandene Medienprodukt zielgerichtet zu veröffentlichen und insbesondere den entsprechenden EntscheidungsträgerInnen zugänglich zu machen. Wie themenzentrierte aktive Medienarbeit in einem konkreten Praxisprojekt umgesetzt wurde, wird im Folgenden dargestellt. Das Modellprojekt „informieren – reflektieren – partizipieren“ wurde 2005-2006 am Lehrstuhl für Medienpädagogik und Weiterbildung der Universität Leipzig durchgeführt; es bildete den Ausgangspunkt für die Konzeption themenzentrierter aktiver Medienarbeit.
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4.
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Das Diskursprojekt „informieren – reflektieren – partizipieren“ – ein Blick in die medienpädagogische Praxis
4.1 Die Ziele: Wissensaneignung, Meinungsbildung & politische Beteiligung Die Fortschritte in der modernen Medizin und Biotechnologie eröffnen faszinierende Möglichkeiten, werfen aber auch gewichtige Fragen nach ethischen und sozialen Folgen sowie der rechtlichen Regulierung auf: Wie viel wollen wir wirklich über unsere Erbanlagen wissen? Wie gehen wir gesellschaftlich und individuell mit dem möglichen Wissen über potentielle Erkrankungen und Behinderungen um? Inwiefern sollten genetische Daten gespeichert werden dürfen und wer sollte darauf Zugriff haben? Diese Fragen können nicht allein vor dem Hintergrund von naturwissenschaftlich-technischem Expertenwissen beantwortet werden, sondern bedürfen einer intensiven gesellschaftlichen Diskussion und damit der Verständigung über Werte und Zielvorstellungen. Diese gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse finden bislang als Expertendiskurse statt; die breite Öffentlichkeit und insbesondere die junge Generation bleiben bei diesen Aushandlungsprozessen weitgehend außen vor. Gerade aber die Prozesse öffentlicher Meinungsbildung sind für ‘Zukunftsthemen’ wie das der Gentechnik von großer Relevanz, da sie Einfluss auf die Rechtsetzung und damit auf die zukünftigen Möglichkeiten und Grenzen des Einsatzes der Gentechnik haben. Ein Bereich der Gentechnik beim Menschen, der aktuell politisch verhandelt wird, gesellschaftlich relevant und ethisch komplex ist, sind Gentests. Unter Gentests versteht man molekulargenetische Untersuchungen von ‘Körpermaterial’ (Blut, Speichel, Haare etc.), um Informationen über das Erbgut eines Menschen zu erhalten. Gentests werden heute bereits vielfach zur (prognostischen) Diagnose von Krankheiten, zur Bestimmung von Verwandtschaftsverhältnissen oder auch zur Identifizierung von „Tätern“ im Kontext der polizeilichen Ermittlungsarbeit eingesetzt. Eine gesetzliche Basis, die den Einsatz von Gentests umfassend reguliert, gibt es bislang in Deutschland nicht. Jugendlichen sollte die Möglichkeit eröffnet werden, sich am Diskurs zu diesem Thema zu beteiligen – auch da sich ihnen hier Chancen zur realpolitischen Einflussnahme bieten (ein Gendiagnostikgesetz wird aktuell diskutiert!). Die Auseinandersetzung mit dem Thema Gentests ist für Jugendliche aber vor allem aus zwei anderen Gründen relevant. Erstens sind sie die Erwachsenen von morgen, die in Zukunft verstärkt mit den Folgen heutiger Entwicklungen auf dem Gebiet der Gentechnologie konfrontiert sein werden. Ihnen werden mit der zunehmenden Bedeutung der Gentechnik zukünftig Entscheidungen abverlangt werden, die – mit Hinblick auf ihre Tragweite – wohl überlegt und daher auf eine breite Wissensbasis gestellt sein sollten. Zweitens werden in politischer Hin-
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sicht bereits heute die Weichen für die zukünftige Entwicklung der Gentechnik gestellt. Hier sollten Jugendliche mitbestimmen können, wie die Zukunft mit der Gentechnik aussehen soll, was möglich sein sollte und was nicht. Seit einigen Jahren bemüht sich die Politik, den breiten öffentlichen Diskurs über die Gentechnologie voranzutreiben und dabei auch Jugendliche einzubeziehen. 2004 schrieb das Bundesministerium für Bildung und Forschung die Förderung von Diskursprojekten zu ethischen, rechtlichen und sozialen Fragen in der modernen Medizin und Biotechnologie aus. Eines der geförderten Diskursprojekte war das medienpädagogische Praxisprojekt „informieren – reflektieren – partizipieren: Medien als Mittler und Mittel Jugendlicher im Diskurs zu ethischen, rechtlichen und sozialen Fragen der Modernen Medizin und Biotechnologie“, das am Lehrstuhl für Medienpädagogik und Weiterbildung der Universität Leipzig entwickelt und durchgeführt wurde. In diesem Projekt wurde ein medienpädagogischer Zugang gewählt, um mit Heranwachsenden das Thema Gentests – als einen aktuellen Gegenstand der Gentechnik beim Menschen – zu bearbeiten. Konkret zielte das Projekt darauf ab, mit der Methode der aktiven Medienarbeit Jugendliche über Gentests zu informieren, sie über alters- und interessensgerechte Zugänge zur reflexiven Auseinandersetzung anzuregen und sie über die Erstellung und Veröffentlichung von Medien am öffentlichen Diskurs zu diesem Thema zu beteiligen. Als Methode wurde die themenzentrierte aktive Medienarbeit eingesetzt, die im Projekt als Spezifizierung des Konzeptes der aktiven Medienarbeit entwickelt wurde.
4.2 Die Umsetzung: Über die Arbeit mit Medien zur politischen Beteiligung 4.2.1 Medienprojekte zum Thema Gentests Die Ziele des Projektes „informieren – reflektieren – partizipieren“ wurden mit unterschiedlichen, aufeinander bezogenen Aktivitäten umgesetzt. Im Zentrum standen acht Medienprojekte, an denen insgesamt ca. 150 Jugendliche teilnahmen. Den Projektabschluss bildete die Jugendkonferenz „Die nächste GENeration“, bei der die jugendlichen TeilnehmerInnen ihre Sicht auf Gentests politischen und gesellschaftlichen EntscheidungsträgerInnen vermittelten. Die acht Medienprojekte wurden mit Jugendlichen im Alter von 13 bis 25 Jahren durchgeführt und evaluiert. Die Medienprojekte wurden sowohl in Schulen als auch in Einrichtungen der Jugendarbeit durchgeführt. In der Schule beschäftigten sich die Jugendlichen v.a. im Rahmen von Projektwochen oder auch in längerfristigem fächerübergreifendem Unterricht mit dem Thema Gentests. In der freien Jugendarbeit wurden vorwiegend Wochenend- oder Ferienworkshops
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organisiert. An der Planung und Durchführung waren sowohl die PädagogInnen der Klassen/Gruppen als auch MedienpädagogInnen und FachexpertInnen (u.a. HumangenetikerInnen, ÄrtztInnen, BioethikerInnen) beteiligt. Meist wurde das Thema Gentests in den Gruppen auf ein Schwerpunktthema eingegrenzt – abhängig von Alter, Interesse und Vorwissen der Jugendlichen. Themen waren bspw.: Gentests und ihre Anwendung in der vorgeburtlichen Diagnostik, Gentests in der Reproduktionsmedizin, (prädiktive) Gentests auf verschiedene Erkrankungen oder auch Tests zur Identifikation von Personen bzw. Verwandtschaftsverhältnissen. Die Jugendlichen arbeiteten in den Projekten mit unterschiedlichen Medien (Film, Radio, Fotografie, Multimedia) und produzierten z.B. digitale Fotogeschichten, Trick- und Kurzfilme, Dokumentationen, Radiosendungen oder auch Internetseiten2. Exemplarisch soll im Folgenden eines der Gruppenprojekte themenzentrierter aktiver Medienarbeit näher vorgestellt werden: Ein Mädchen-RadioWorkshop zum Thema Gentests in der Pränatalen Diagnostik3 (PND).
4.2.2 Ein Projektbeispiel: Mädchen mit Medien aktiv zum Thema Gentests An mehreren Ferientagen haben sich neun Mädchen mit Gentests im Rahmen Pränataler Diagnostik (PND) beschäftigt, wichtige ethische Fragestellungen herausgearbeitet, eigenen Positionen dazu entwickelt und schließlich ihre eigene Radiosendung produziert. Die Mädchen waren zwischen 12 und 17 Jahren alt, besuchten verschiedene Schultypen und brachten unterschiedliches Vorwissen zum Thema mit. In der Analysephase des Projekts wurde das Thema „Gentechnik beim Menschen“ mit den Mädchen – anknüpfend an ihre Lebenswelt – auf das Teilgebiet „Gentests in der vorgeburtlichen Diagnostik“ eingegrenzt. Über die Rezeption verschiedener Medien zum Thema (bspw. Comics & Videos) sowie die Befragung von Passanten mit einem Reportergerät (z.B. „Was denken Sie über Gentests bei vorgeburtlichen Untersuchungen?“) erarbeiteten sie sich einen ersten Zugang zur Thematik: Die Mädchen erkannten die ethische und soziale Brisanz der PND und deren Relevanz – auch für ihr eigenes Leben. In Vorträgen 2
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Auf der Internetpräsenz des Projektes (www.gen-diskussion.de) stehen detaillierte Informationen zu den einzelnen Projekten sowie die Aufarbeitung der Projekte in Form von BestPractice-Modellen zur Verfügung. Die Pränatale Diagnostik (PND) umfasst alle Untersuchungen an Föten bis zur Geburt: Ziel ist die Erkennung von Fehlbildungen, genetisch bedingten Krankheiten oder Behinderungen während der Schwangerschaft. Üblich sind Ultraschalluntersuchungen, Fruchtwasserspiegelungen und Blutanalysen, immer häufiger kommen auch gendiagnostische Verfahren zur Anwendung.
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und im Gespräch mit verschiedenen FachexpertInnen (u.a. mit einer Psychologin und einer Gynäkologin) eigneten sich die Jugendlichen schließlich fundiertes Fachwissen (genetische Grundlagen, Verfahren der PND, Bedingungen zum Einsatz von Gentests bei der PND, etc.) sowie Wissen über die verschiedenen Akteure im Diskurs zur PND und deren Positionen und Argumente an. Spannend und auch aufreibend war für sie ein Studiogespräch mit zwei Müttern, die erst kürzlich vor der Entscheidung standen: Gentest auf mögliche Erbkrankheiten beim ungeborenen Kind „ja“ oder „nein“. Hier trafen unterschiedliche Ansichten und Argumente aufeinander: Eine der Frauen hatte sich in der Schwangerschaft für einen Gentest entschieden, die andere dagegen. Angeregt durch die Gespräche mit den Müttern und ExpertInnen diskutierten die Mädchen die Vorund Nachteile von Gentests in der PND und damit einhergehend ethische, soziale und auch rechtliche Aspekte des Themas. Dabei sowie mit Hilfe weiterer aktivierender Methoden (u.a. Rollen- und Argumentationsspiele) erarbeiteten sie sich sukzessive eine fundierte Meinung zum Thema. Ihr erworbenes Wissen und ihre Meinung wollten sie mit einer Radiosendung zum Ausdruck bringen. Um dies tun zu können, erhielten die Mädchen zunächst eine Einführung in die radiojournalistischen Grundlagen und den digitalen Audioschnitt. Damit einhergehend begann die Konzeptionsphase des Projektes, in der die Mädchen ihre eigene Sendung planten, ihre Zielgruppe definierten und über geeignete Veröffentlichungsmöglichkeiten nachdachten. Sie diskutierten, welche konkreten Botschaften sie in ihrer Radiosendung mit welchen Darstellungsformen vermitteln wollen. Sie einigten sich auf ein Sendekonzept, in dem sie ihre HörerInnen zunächst mittels eines gebauten Beitrages in das Thema „Gentests in der PND“ einführen, ihnen dann – in einer Studiodiskussion – verschiedene Meinungen zum Thema vermitteln und später in abschließenden Statements ihre Positionen zum Thema und Forderungen zur gesetzlichen Regelung darstellen. In der darauf folgenden Produktionsphase sichteten die Mädchen zunächst gemeinsam das vorhandene Material (Interviews, Studiogespräche, Umfragen), wählten geeignete O-Töne aus bzw. griffen erneut zum Aufnahmegerät. In Zweier- und Dreiergruppen arbeiteten sie dann – mit medienpädagogischer Unterstützung – an den unterschiedlichen Sendeelementen. Gemeinsam wurde die Sendung im nächsten Schritt produziert: Die einzelnen Sendebausteine wurden zusammengefügt, Moderationstexte geschrieben und eingesprochen, ein Jingle hergestellt und Musik eingebaut. Anschließend haben die Projektteilnehmerinnen ihre halbstündige Sendung das erste Mal gemeinsam angehört und besprochen: Ist die Sendung gelungen? Transportiert sie wirklich all das, was wir zum Ausdruck bringen wollten?
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Die sich anschließende Veröffentlichungsphase war sowohl für das Projekt als auch für die Mädchen wesentlich. Die Mädchen platzierten ihre Sendung im Internet, bei einem freien Radiosender, im Rahmen eines Jugendmedienwettbewerbs und versandten sie zudem an wichtige EntscheidungsträgerInnen. Die wichtigste Veröffentlichung fand jedoch im Rahmen der Jugendkonferenz „Die nächste GENeration“ statt, auf der sie ihre Kernzielgruppe direkt ansprechen konnten. Zusammen mit den anderen Jugendgruppen präsentierten sie hier ihr Medienprodukt ca. 300 BesucherInnen, zu denen auch PolitikerInnen und namhafte ExpertInnen aus der Wissenschaft, wie bspw. Vertreter des Nationalen Ethikrates, zählten. Mittels ihrer Medien machten die Jugendlichen ihre Standpunkte zu Gentests öffentlich und formulierten Forderungen zum gesellschaftlichen Umgang mit Gentests sowie zur gesetzlichen Regelung. Durch die öffentliche Präsentation ihrer Beiträge konnten sie ihre Positionen und Argumente den anwesenden EntscheidungsträgerInnen ‘leicht’ vermitteln. In einer anschließenden Diskussion haben die ExpertInnen und PolitikerInnen die Positionen der Jugendlichen aufgegriffen und ‘ernsthaft’ mit ihnen diskutiert. In der Diskussion lernten die Jugendlichen dann weitere Standpunkte zum Thema kennen, was sie mitunter zu einer erneuten Reflexion und Ausdifferenzierung ihrer Positionen anregte. Im Folgenden werden die Ergebnisse des Gesamtprojektes „informieren – reflektieren – partizipieren“ kurz umrissen. Basis für die diese Ausführungen ist die Evaluation der Medienprojekte mittels einer schriftlichen teilstandardisierten Befragung aller ProjektteilnehmerInnen vor und nach der Projektdurchführung sowie einer Analyse der Projektkonzeptionen und -durchführungen.
4.3 Die Ergebnisse: Mit Fachwissen und Medienkompetenz zur politischen Beteiligung 4.3.1 Ergebnisse auf individueller Ebene Durch die Medienprojekte konnten die Jugendlichen, die zuvor kaum etwas über das Thema Gentechnologie im Allgemeinen und Gentests im Besonderen wussten, ihr Wissen über den Gegenstand deutlich ausbauen. Nach dem Projekt gab ein Großteil der TeilnehmerInnen (79%) an, nun „ganz gut“ über Gentests Bescheid zu wissen. Neben reinem Fachwissen erwarben die Jugendlichen auch Diskurswissen. Das heißt, sie kennen nun die wichtigsten Akteure, die sich am Diskurs über die Gentechnik beim Menschen beteiligen sowie deren Argumente und Motive. Die Vermittlung von Fach- und Diskurswissen war für die Jugendlichen eine wichtige Voraussetzung, um sich ein kompetentes, begründetes Ur-
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teil zu diesem Thema bilden zu können. Hinsichtlich der Meinungsbildung konnte festgestellt werden, dass die Mehrheit der Jugendlichen (88%) in der Lage ist, eine differenzierte und begründete Meinung zum Thema zu artikulieren. Die Mädchen und Jungen tendieren hinsichtlich der Bewertung von Gentests nicht (mehr) zum einfachen „Ja“ oder „Nein.“ Sind sie angehalten ihre Meinung zum Gegenstand zu formulieren, bezeichnen sie Gentests „teils, teils“ als eine gute Sache. Dabei benennen sie sowohl die Vor- wie auch die Nachteile, die mit Gentests verbunden sind. Generell positiv gesehene Aspekte sind z.B. der medizinische Nutzen von Gentests (z.B., dass man Krankheiten früh erkennen und behandeln kann). Negativ gesehen wird bspw., dass Gentests dazu führen könnten, dass vorgeburtlich „perfekte Menschen“ ausgewählt werden. Die damit einhergehende Gefahr einer „neuen Eugenik“ sowie einer „Stigmatisierung“ und „Diskriminierung“ von Behinderten wird ebenfalls negativ thematisiert. Die Projekte haben aber nicht nur die Wissensaneignung und Meinungsbildung befördert, sondern ebenso die Medienkompetenz der Jugendlichen gestärkt. Dies betrifft die Dimensionen: Medienwissen (v.a. Funktionswissen und Strukturwissen), Medienbewertung (v.a. Medienkritik) und Medienhandeln (Mediennutzung, Mediengestaltung und Medienpartizipation) (vgl. Medienkompetenzdefinition nach Schorb 2005). In der Dimension des Medienhandelns konnte der größte Kompetenzzuwachs verzeichnet werden. Durch das selbständige Medienproduzieren konnten die Jugendlichen wichtige Arbeitsschritte – von der ersten Idee bis zum fertigen Medienprodukt – selbst durchlaufen und verinnerlichen. Die Mädchen waren mediengestalterisch tätig und konnten so – indem sie Selektions- und Persuasionsmacht der Medien handelnd erkannten – ihre Fähigkeit zur Medienkritik ausbauen. Über die Veröffentlichung ihrer Beiträge erfuhren sie schließlich, dass sie sich Medien zu nutze machen können, um Dritten ihre Sichtweisen und Meinungen zu einem Thema zu vermitteln. Darüber hinaus wurden die Jugendlichen in ihrer Selbst- und Sozialkompetenz gestärkt. Positiv für das Selbstbild der Jugendlichen war bspw. das Erkennen des eigenen ‘Expertenstatus’: Sie erfuhren, dass sie deutlich mehr über das Thema Gentechnik und Gentests wissen als die meisten Personen in ihrem Umfeld. Auch die Fertigstellung des eigenen Medienproduktes (besonders die Veröffentlichung des eigenen Namens im Abspann) trug zur positiven Wahrnehmung der eigenen Fähigkeiten bei. Für den Ausbau ihrer sozialen Fähigkeiten sprechen die folgenden Punkte: In den Projekten haben die Jugendlichen gelernt zu kooperieren, Verantwortung für Teilschritte auf sich zu nehmen und Probleme gemeinsam zu lösen. Ein wichtiger, wenn nicht sogar der wichtigste Erkenntnispunkt für viele der Jugendlichen war, dass sie in dem Projekt – über die Herstellung und Veröffentlichung von Medien – Partizipationserfahrungen sammeln konnten, die über jene im lokalen Kontext weit hinausgehen. Sie
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machten die für sie wichtige Erfahrung, dass sie mit ihren Meinungen und Forderungen zum Thema von politischer Seite wahr und auch ernst genommen werden und ihr politisches Engagement tatsächlich Berücksichtigung finden kann.
4.3.2 Ergebnisse auf politisch-gesellschaftlicher Ebene Auf der Jugendkonferenz konnten sich die Jugendlichen mit unterschiedlichen Akteuren über ihre Ansichten und Werthaltungen zum Thema Gentests austauschen. Damit wurde der Weg geebnet, den bisher geführten gesellschaftlichen Diskurs über Gentests, um die Perspektive Jugendlicher zu erweitern und auf eine breitere gesellschaftliche Basis zu stellen. Die von den Jugendlichen erstellten Medien leisteten hierfür einen wichtigen Beitrag. Sie dienten den Jugendlichen als Mittler ihrer Sichtweisen, Meinungen und auch Forderungen zum Thema gegenüber den anwesenden PolitikerInnen und ExpertInnen. Die formulierten Forderungen bündelten die Jugendlichen zudem in einem Forderungskatalog, den sie den Anwesenden überreichten und mit ihnen diskutierten. Mit dem Katalog zeigten sie ihre konkreten Vorschläge und Ansätze für eine Regulierung der roten Gentechnik in Deutschland auf. Der Katalog umfasste elf Forderungen, denen die anwesenden EntscheidungsträgerInnen im Wesentlichen zustimmten. Einige stellten heraus, dass die Jugendlichen mit ihren Forderungen im Wesentlichen mit den Vorschlägen wichtiger Beratungs- und Fachgremien wie der Enquete Kommission Ethik und Recht der modernen Medizin übereinstimmen und versprachen, ihn gemeinsam mit den Medienbeiträgen der Jugendlichen an politische Entscheidungsgremien heranzutragen. Um die Beteiligungsmöglichkeiten zu vergrößern und diese nicht auf die Jugendkonferenz zu beschränken, wurde der Forderungskatalog in Verbindung mit den Medienbeiträgen nach der Konferenz an weitere wichtige politische Akteure übermittelt. Die Forderungen der Jugendlichen fanden unter diesen vielfache Beachtung. Rückmeldungen zu ihrem Forderungskatalog erhielten sie bspw. vom Bundesministerium der Justiz, von der Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt, vom Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung des Bundestages sowie von der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen. Mehrheitlich wurde von politischer Seite zugesichert, die Forderungen der Jugendlichen in den Beratungsprozess zum Entwurf eines Gendiagnostikgesetzes einfließen zu lassen. Darüber hinaus erhielten die Jugendlichen eine Einladung der grünen Bundestagsfraktion zur Fachanhörung ihres neuen Entwurfs zum Gendiagnostikgesetz. Eine Jugendgruppe folgte der Einladung in den Deutschen Bundestag und konnte bei der Fachanhörung feststellen, dass der Gesetzesentwurf viele
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Forderungen der Jugendlichen widerspiegelte. Auch wenn das Gendiagnostikgesetz bis heute noch nicht verabschiedet wurde, so konnten doch Jugendliche am politischen Entscheidungsprozess beteiligt werden. Darüber hinaus konnten sie – mit der Veröffentlichung ihrer Medienbeiträge in lokalen Teilöffentlichkeiten, Medien und bei Jugendmedienwettbewerben – mit ihren Sichtweisen zur Sensibilisierung der breiten Öffentlichkeit für das Thema Gentechnik beim Menschen beitragen und Auseinandersetzungsprozesse bei Dritten anregen.
4.4 Das Potential themenzentrierter aktiver Medienarbeit für die politische Beteiligung Jugendlicher Mit der Umsetzung der themenzentrierten aktiven Medienarbeit im Projekt „informieren – reflektieren – partizipieren“ konnte gezeigt werden, dass sich die Methode eignet, um die politische Beteiligung Jugendlicher zu befördern. Sie verfügt über ein großes Potential, Jugendliche in aktuelle politischgesellschaftliche Entscheidungsprozesse einzubeziehen und zu politischem Engagement anzuregen. Dieses Potential lässt sich anhand von vier Punkten näher beschreiben: (1) Themenzentrierte aktive Medienarbeit fördert die Motivation von Jugendlichen, sich intensiv mit einem für sie schwer zugänglichen Thema auseinanderzusetzen. Der aktiv-produktive Umgang mit Medien, so z.B. das Kennenlernen neuer Geräte und ihrer Anwendungsmöglichkeiten oder konkret die Arbeit mit und vor der Kamera sowie die Aussicht, am Ende des Projektes einen Film oder eine Internetseite selbst erstellt zu haben, motiviert zur tiefgehenden Erarbeitung eines Themas. (2) Themenzentrierte aktive Medienarbeit befördert die Aneignung von Wissen zu einem Thema. Sie bietet vielfältige Möglichkeiten für Jugendliche, selbstgesteuert Wissen zu erwerben – auf eine für Jugendliche interessante, neue und spannende Art. Hierzu zählt z.B. ein Radiointerview mit einem Fachexperten oder die filmische Dokumentation eines Laborbesuches. (3) Themenzentrierte aktive Medienarbeit befördert Reflexionsprozesse und die Ausbildung einer qualifizierten Meinung zum jeweiligen Thema. Bei der Konzeption und Produktion des Medienproduktes setzen sich Heranwachsende mit verschiedenen Meinungen und Argumenten auseinander, auf die sie bspw. im Rahmen von Interviews oder Umfragen gestoßen sind und positionieren sich dazu. Diese Positionierung zum Gegenstand ist in der Medienproduktion vorab angelegt, denn die Gruppe muss die Botschaft des Beitrages bestimmen und gemeinsam – und unter dem Ideal der Diskursivität – aushandeln. (4) Themenzentrierte aktive Medienarbeit fördert die Artikulation der eigenen Meinung und die Beteiligung am öffentlichen Diskurs. Hierfür müssen Jugendliche ihre Sichtweisen in die entsprechenden gesellschaftlichen und poli-
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tischen Entscheidungsprozesse einbringen können. Mit Medien werden Jugendlichen zum einen adäquate Ausdrucksmittel geboten, die sich nicht auf Schrift und Sprache beschränken. Zum anderen können Medien die Meinungen von Jugendlichen transportieren und sozusagen ‘für sie sprechen’. Sie sind in der Lage, die Kluft zwischen jugendlichen Laien und Entscheidungstragenden zu verringern. Über eine zielgerichtete Veröffentlichung der Medienprodukte in relevanten Teilöffentlichkeiten können die Jugendlichen schließlich ihre Meinungen und Sichtweisen in den öffentlichen Diskurs einbringen und gesellschaftlichen und politischen EntscheidungsträgerInnen vermitteln. Vor dem Hintergrund der ständig steigenden Zahl an aktiv-produktiven Tätigkeitsoptionen im Internet (Stichwort: Web2.0) und der zunehmenden Nutzung dieser Möglichkeiten durch Jugendliche sollte perspektivisch in der themenzentrierten aktiven Medienarbeit dem Internet größere Bedeutung zukommen. In einer Weiterentwicklung themenzentrierter aktiver Medienarbeit gilt es, neue informelle Wege zur Herstellung von Öffentlichkeit stärker einzubeziehen und dies auch als Lernfeld für die beteiligten Jugendlichen zu explizieren. Neuere Kommunikationsformen wie Weblogs, Foren oder Pod- und Vodcasting sollten hierbei ebenso Berücksichtigung finden wie die Einbindung in und Herstellung von (themenbezogenen) Netzwerken. Einen Schritt in diese Richtung stellt das medienpädagogische Projekt „PID – Perspektiven im Diskurs“ dar, das seit August 2007 am Lehrstuhl für Medienpädagogik und Weiterbildung der Universität Leipzig durchgeführt wird4. Dieses Projekt baut auf dem hier vorgestellten Projekt auf und fokussiert – neben dem transnationalen Austausch – auf die Kommunikation zwischen den Projektbeteiligten via Forum und Weblog und die weitgehend eigenständige Indienstnahme des Internet durch die Jugendlichen. Die übergeordnete pädagogische Aufgabe besteht diesbezüglich darin, Jugendliche zu befähigen, die Strukturen der sich rasant wandelnden Medienwelt für ihre eigenen politischen Belange in der Mediendemokratie anzueignen und zunutze zu machen.
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Das Projekt „PID – Perspektiven im Diskurs“ verfolgt die themenbezogenen Ziele, einen Austausch zwischen tschechischen und deutschen Jugendlichen über die Präimplantationsdiagnostik (PID) als einen zentralen und zugleich in beiden Ländern sehr unterschiedlich gehandhabten Gegenstandsbereich der Gentechnik beim Menschen anzuregen und einen Beitrag zum europäischen Diskurs zu leisten. Das einjährige Projekt wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert. Mehr Informationen zum Projekt unter www.unileipzig.de/~mepaed.
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5. Fazit Wie gezeigt wurde, verfügt themenzentrierte aktive Medienarbeit über das Potential, die Auseinandersetzung Jugendlicher mit aktuellen politischen Themen und die Partizipation an politisch-gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen zu befördern. In themenzentrierter aktiver Medienarbeit und konkret in ihrer Umsetzung im Projekt „informieren – reflektieren – partizipieren“ fanden auch die eingangs aufgeführten Ansatzpunkte, das politische Engagement Jugendlicher – insbesondere in den politischen Kernbereich hinein – zu fördern, Berücksichtigung. Denn: (1) Themenzentrierte aktive Medienarbeit wird immer in Projektform realisiert. Der Medienarbeit ist damit die Organisationsform immanent, die dem politischen Engagement Jugendlicher am ehesten entgegenkommt. (2) Die Medienarbeit setzt an den (Medien-)Interessen Jugendlicher an und bietet ihnen einen „Mehrwert“, der mit der Motivation für politisches Engagement verbunden wird: Sie lernen Medientechnik kennen, produzieren eigene Medienbeiträge, können diese veröffentlichen und erwerben damit vielfältige neue Fertigkeiten und Fähigkeiten. Darüber hinaus können sie über Gruppenarbeit, die für Projekte aktiver Medienarbeit konstitutiv ist, Kontakte knüpfen und ihre Selbst- und Sozialkompetenz ausbauen. (3) Themenzentrierte aktive Medienarbeit ermöglicht es Jugendlichen, die Erfahrung zu sammeln, von Seiten der Politik auch wirklich ernst genommen zu werden. Die Voraussetzungen hierfür sind, dass Jugendliche über das Thema umfassend informiert sind und so mit begründeten Meinungen und fundierten Forderungen in den Diskurs mit gesellschaftlichen und politischen EntscheidungsträgerInnen treten können. (4) Schließlich können Jugendlichen über eine zielgerichtete und weitreichende Veröffentlichung ihrer Medienprodukte (wie z.B. auf der Jugendkonferenz „Die nächste GENeration“) Möglichkeiten geboten werden, Themen der ‘großen Politik’ als verhandelbar zu erleben und auf Entscheidungsprozesse tatsächlich Einfluss zu nehmen. Wie groß dieser Einfluss sein kann, bleibt allerdings offen.
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Emotional-personalisierte Vermittlung und Rezeption von Politik – Potenziale für die politische Ansprache von Jugendlichen
1. Politische Sozialisation in medialen Kontexten Der Begriff der „Politikferne“ hat gegenwärtig Konjunktur. Er folgt dem der „Politikverdrossenheit“, der in den 1990er Jahren in der öffentlichen Diskussion war. Die Zuschreibung wurde insbesondere jungen Menschen attestiert und machte sich an der zunehmenden Zurückhaltung bei Wahlen und an einem fehlenden Parteinachwuchs fest (vgl. Gaiser 2001). Insofern bestand und besteht auch noch immer in Deutschland wie auch in anderen Ländern Mitteleuropas eine ‘Verdrossenheit’ vor allem gegenüber der ‘offiziellen’ Politik, dem Establishement, was aber nicht heißt, dass junge Menschen sich prinzipiell vom politischen Geschehen und von politischen Belangen abwenden (vgl. Eggert & Lauber 2004). Die Shell-Studien weisen darauf hin, dass das Interesse Jugendlicher an Prozessen politischer Willensbildung in den vergangenen 15 Jahren kontinuierlich abgenommen, sich aber zum Befragungszeitpunkt der letzten Untersuchung stabilisiert hat. Demzufolge bezeichnen sich 39% der 2532 befragten Jugendlichen im Alter von 15 bis 24 Jahren als politisch interessiert. Vor zehn Jahren hingegen erklärten 47% der Befragten, dass sie politisch interessiert wären und 1984 waren es gar 55% der befragten Jugendlichen (Schneekloth 2006: 104ff.). Jungen zeigen sich aktuell etwas mehr angesprochen als Mädchen, ältere Jugendliche beschäftigen sich eher als jüngere mit politischen Themen. Für besser gebildete Jugendliche ist es indes selbstverständlicher, sich mit politischen Themen auseinanderzusetzen als für Jugendliche, die eine Haupt- oder Realschule besuchen bzw. besucht haben. Die Einstellungen zur Politik und das Politikverständnis so genannter bildungsbenachteiligter Jugendlicher werden Ausgangspunkt für unsere Überlegungen hinsichtlich einer emotionalpersonalisierten Vermittlung von Politik sein, wobei die von uns aufgezeigten
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Potenziale der politischen Ansprache Allgemeingültigkeit beanspruchen sollten1. Im Folgenden fassen wir die derzeitigen sozialwissenschaftlichen Erkenntnisse zur Politikverdrossenheit und Politikferne von Jugendlichen kurz zusammen. Zunächst lässt sich konstatieren, dass zwar viele Jugendliche ein generelles Desinteresse gegenüber der offiziellen Politik und auch den Politikvertretern gegenüber bekunden, was aber keineswegs die Schlussfolgerung erlaubt, dass sie sich grundsätzlich nicht für gesellschaftspolitische Themen interessieren und sich dazu äußern möchten. Die 15. Shell Jugendstudie konnte zeigen, dass Jugendliche die Demokratienormen in ihrem Land mehrheitlich akzeptieren, dass sie die gesellschaftlichen Entwicklungen verfolgen und auch ihren gesellschaftspolitischen Unmut artikulieren können (vgl. Schneekloth 2006: 118f.). Jugendliche haben jedoch derzeit den Eindruck, dass sich Politiker kaum darum kümmern, was sie denken und bewegt. Es scheint demzufolge eine „wechselseitige Distanz und Entfremdung“ (Reinhardt 1996: 9) sowie ein wechselseitiges Misstrauen vorhanden zu sein, was insbesondere Jugendliche enttäuscht und verunsichert. Sie sind der Meinung, dass allgemein nur wenige Leute Einfluss darauf haben, was die Regierung wirklich tut. Sie sprechen sich mehrheitlich dafür aus, dass junge Menschen mehr in der Politik zu sagen haben sollten (vgl. ebd.: 116f.). Dies spricht dafür, dass sie politisch aufmerksam und sensibilisiert sind. Gleichwohl ist ihr persönliches Engagement für die institutionelle Politik, d.h. für Parteienpolitik, eher gering. Nun ist es aber in demokratisch verfassten Staaten erwünscht, ja, wird es geradezu gefordert, dass ein jeder politisch Anteil nimmt, sich positioniert, artikuliert und sich engagiert. Eine aktive Partizipation am parlamentarischdemokratischen System ist ein essentielles Sozialisationsziel westlicher Demokratien (vgl. Hurrelmann 2001). Politische Bildung ist Bestandteil des Lehrplans in den Schulen, die Lern- und Übungsfelder demokratischer Teilhabe sein sollen. Politische Sozialisation ist somit im gesellschaftlichen System institutionalisiert, um dieses zu erhalten, gegebenenfalls zu erneuern und vor allem auch zu legitimieren (vgl. Hoffmann & Boehnke 2004). Der Politikwissenschaftler Claus Leggewie (1994) weist auf die gesellschaftspolitische und biografischlebensweltliche Relevanz hin, die neue politische Generationen haben (können): „Sie müssen die Chance bekommen, das grundlegende Einverständnis mitzutragen, aber auch umzudefinieren. Geschieht dies nicht, sind Demokratien von innerer Auszehrung und äußerer Gefährdung bedroht“ (Leggewie 1994: 17). Schulische Kontexte sind institutionalisierte Sozialisationsangebote, die jedoch – folgt man neueren Untersuchungen – kaum noch Einfluss auf die politische 1
An dieser Stelle möchten wir den Gutachtern für die konstruktiven Anregungen bedanken.
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Teilhabe Jugendlicher haben (vgl. Böhm-Kasper 2006). Jugendliche scheinen sich andernorts politisch zu orientieren und bilden zu wollen. Aus entwicklungspsychologischer Perspektive wird in diesem Beitrag davon ausgegangen, dass junge Menschen in dieser Gesellschaft prinzipiell die Ausbildung eines politischen Bewusstseins anstreben. Dieses Bewusstsein ist Teil ihrer Identität. Sie sind bemüht, sich im Jugendalter einen eigenen politischen Standpunkt zu erarbeiten, d.h. „im Spannungsfeld zwischen einer grundlegenden Loyalität zur politischen Ordnung einerseits, und einer kritischen Aufmerksamkeit gegenüber der politischen Praxis andererseits, ein produktives Verhältnis zur Politik zu finden“ (Kuhn 2000: 29). Politisches Denken und gegebenenfalls Handeln entwickelt sich im familiären (mikrosozialen) und auch gesellschaftlichen (makrosozialen) Umfeld (vgl. Hoffmann & Boehnke 2004), wo Politik thematisiert und auch erfahrbar gemacht wird. Politische Bildung und die Ausbildung eines politischen Bewusstseins kann demzufolge in privaten und öffentlichen, soziokulturellen und sozialstrukturellen Kontexten erfolgen, wobei diese Kontexte teilweise aufgezwungen werden (z.B. Schule), andererseits stehen sie optional zur Verfügung (z.B. Peers, Jugendorganisationen). Jenseits der traditionellen – familiären und außerschulischen – Instanzen zur Politikvermittlung kann den Medien ein wachsender Einfluss auf die politische Sozialisation attestiert werden, da Politik heute fast ausnahmslos über Medien (vor allem Zeitung, Radio und Fernsehen) präsentiert und erfahren wird. In aktuellen Untersuchungen (vgl. Hoffmann & Pröstler 2006; Töpper & Mikos 2006; Mikos, Hoffmann & Töpper 2005) mit Jugendlichen im Alter von zehn bis 17 Jahren (N= 81) und mit Jugendlichen im Alter von 14 bis 25 Jahren (N= 60) hat sich gezeigt, dass Jugendliche sich untereinander offensichtlich kaum über das offizielle Politikgeschehen austauschen. Auch scheinen die Gleichaltrigen Prozesse der politischen Orientierung kaum zu moderieren, d.h. ideologisch zu steuern und hier auf politischen Konsens einwirken zu wollen (vgl. Hoffmann, im Druck) – ausgenommen sind hier lediglich Jugendliche in jugendkulturellen Szenen (vgl. Pfaff 2006). Auf die Frage, welches Medium für sie am besten geeignet ist, um sich politisch zu informieren, nennen die meisten der Befragten Zeitungen/Zeitschriften, die allgemein eine hohe Glaubwürdigkeit genießen, jedoch vergleichsweise wenig gelesen werden. Nur jeder zweite Jugendliche zwischen 14 und 19 Jahren liest mehrmals die Woche Zeitung, kaum jeder Dritte in dieser Altersgruppe eine Zeitschrift (vgl. Media Perspektiven Basisdaten 2006: 71). Des Weiteren werden Fernsehen/Radio genannt, die bekanntermaßen eine große Reichweite haben und immer noch Leitmedien für Jugendliche sind. Das Internet spielt – entgegen den allgemeinen Erwartungen – offensichtlich (noch) keine bedeutsame Rolle zur politischen Bildung.
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Die Ausbildung eines politischen Bewusstseins erfolgt aber nicht durch die Aneignung politischen Wissens, sondern vor allem auch über einen affektivmotivationalen Zugang zum Politischen. Und dieser Zugang wird zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht nur über das ummittelbare soziale Umfeld hergestellt, sondern vor allem auch über Massenmedien (vgl. Kuhn 2000). Ihre Bedeutung und Verantwortung wird jedoch häufig in Studien zur politischen Bildung von Jugendlichen vernachlässigt. Massenmedien berichten über tagespolitische (Groß-)ereignisse, über Katastrophen, Verbrechen und sie präsentieren – was für diesen Beitrag von Relevanz ist – die verantwortlichen Politikvertreter. Die Art, wie dies medial geschieht und wie Politiker die öffentliche Arena für sich nutzen, kann – so die hier zugrunde liegende Prämisse – beachtliche Auswirkungen auf die Einstellungen junger Menschen zur politischen Effektivität und Glaubwürdigkeit haben. Das Maß und die Bewertung der political efficacy weist einen direkten Einfluss darauf aus, inwieweit junge Menschen ein politisches Vertrauen, ein dauerhaftes politisches Interesse und Engagement ausbilden oder sich dauerhaft vom politischen Geschehen abwenden. Menschen moderner, individualisierter Gesellschaften agieren überwiegend nutzenorientiert, das heißt sie suchen sich die Handlungsfelder bzw. Institutionen (polity) aus, die sie zur Verwirklichung ihrer Ziele und für ihr individuelles Wachstum für angemessen und wichtig halten. Dieser Suchprozess kann sowohl bewusst als auch unbewusst ablaufen. Wenn ihnen die Auseinandersetzung etwa im Alltäglichen nutzt, sie sie als Gratifikation erleben, dann werden sie an der politischen Orientierung (policy) weiter ‘arbeiten’ und sich wieder für bestimmte Handlungsfelder, also auch mediale Angebote und Akteure, entscheiden. Die medialen Auseinandersetzungen mit Politikvertretern können dabei vielfältig sein. In jedem Fall hängt die Qualität der Beziehung, die die Rezipienten in der Auseinandersetzung eingehen, nicht nur – so unsere These – von den Botschaften ab, sondern im Wesentlichen auch von der Art der persönlichen Vermittlung, womit die politische Person in den Fokus der Analyse tritt. Es kann hiernach angenommen werden, dass die Beziehung zwischen dem sich ‘politisch bilden wollenden’ Rezipienten also vor allem auch eine Gefühlsbeziehung darstellt. Diesem Aspekt wollen wir im Folgenden nachgehen. Es liegen qualitativ erhobene Daten aus Gruppendiskussionen mit überwiegend bildungsbenachteiligten Jugendlichen vor, die uns zum einen wichtige Hinweise zum Politikverständnis dieser Gruppe liefern und zum anderen auch Erklärungen dafür, warum Politiker kein besonders hohes Ansehen bei Jugendlichen haben. Auf der Basis dieser Aussagen und dem Stand der Forschung über die von Jugendlichen favorisierten Rezeptionsmodi sowie relevanter medienpsychologischer Erkenntnisse auf dem Gebiet der Emotionsforschung werden wir im Anschluss Potenziale ei-
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ner emotional-personalisierten Vermittlung und Rezeption von Politik für die politische Ansprache von Jugendlichen aufzeigen.
2.
Zum Politikverständnis von bildungsbenachteiligten Jugendlichen und dem Image von Politikvertretern
Zunächst berichten wir einige Ergebnisse aus der 2005 von der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) in Auftrag gegebenen Studie2 zum Thema „Medienvermittelte politische Bildung für bildungsferne Jugendliche“ (Töpper & Mikos 2006; Mikos, Hoffmann & Töpper 2005). Im Rahmen der Untersuchung wurden im Herbst 2005 in Berlin, Rathenow, Rendsburg und Leipzig insgesamt 60 Jugendliche im Alter von 14 bis 25 Jahren zu besonderen TV-Formaten zur politischen Bildung, zu ihrem Politikverständnis und zu ihrem politischen Engagement befragt. Es wurden acht themenfokussierte Diskussionen mit Realgruppen durchgeführt, d.h. die Jugendlichen kannten sich untereinander aus schulischen oder außerschulischen Kontexten. Im Gegensatz zu künstlich oder willkürlich zusammengesetzten Gruppen verfügen Realgruppen über eine etablierte Diskussionskultur und es ist – wie nachfolgend erläutert – davon auszugehen, dass sich die grundlegenden sozialen Dynamiken in der Diskussion auch so in der Realsituation wiederfinden lassen. Rollen- und Kommunikationsmuster müssen nicht erst ausgehandelt werden. „Die Gruppenmitglieder kennen sich zu einem gewissen Grad, verfügen also über einen gewissen Fond gemeinsamer Erfahrungen und müssen sich nicht erst mühsam durch Anfangsgründe eines Gesprächs kämpfen“ (Schäffer 2005: 306). Das Erkenntnispotenzial von Gruppendiskussionen mit Realgruppen wird vor diesem Hintergrund als groß eingeschätzt. Die Jugendlichen können mehrheitlich als bildungsbenachteiligt bezeichnet werden. Sie haben zum Befragungszeitpunkt eine Förder- oder Hauptschule bzw. ein Berufschulzentrum besucht. Lediglich die Jugendlichen aus der Kulturund Bildungsstätte „Die Wille“ in Berlin-Kreuzberg sind auf ein Gymnasium gegangen oder haben sich bereits in einem Studium befunden. Diese letzte Gruppe von Heranwachsenden sollte als Kontrollgruppe dienen. Die Gruppendiskussionen können keinerlei Repräsentativität beanspruchen. Sie gewähren aber Einblicke in die Lebenswelten von Jugendlichen aus bildungsbenachteiligen Milieus und geben Auskunft über ihre politischen Bedürfnisse und medialen Interessen in Bezug auf audiovisuelle Angebote zur politischen Bildung.
2
Das Projekt wurde durchgeführt unter der Leitung von Prof. Dr. Lothar Mikos.
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Die transkribierten Interviews wurden durch die Themenfokussierung bereits inhaltlich vorstrukturiert. Die Analyse des Datenmaterials beschränkte sich auf die inhaltlichen Kategorien: Politikverständnis, Politikwahrnehmung, Politikbewertung und die Beurteilung von Politikern3, wobei hier keine Personen von den Moderatoren beispielhaft zur Diskussion vorgegeben wurden. Dies ermöglichte den Jugendlichen, selbst Politiker und Politikerinnen zu nennen, die sie dann in der Diskussion bewertet und attribuiert haben. Das deduktive Vorgehen der Analyse mit vorab definierten Selektionskriterien ermöglichte es, Vergleiche zwischen den einzelnen Gruppen vorzunehmen. Wenn im Folgenden Aussagen der Jugendlichen wiedergegeben werden, handelt es sich um exemplarische bzw. idealtypische Äußerungen, die bei anderen Teilnehmern der Diskussion auf Zustimmung gestoßen sind oder die in besonderer Weise die Meinung der Jugendlichen zum Ausdruck bringen. In den Diskussionen konnte festgestellt werden, dass die hier als bildungsbenachteiligt bezeichneten Jugendlichen eine recht diffuse Vorstellung von Politik haben, sie sehr komplex und als undurchschaubar wahrnehmen. Die Jugendlichen fassen den Politikbegriff recht eng und beziehen ihn vor allem auf das parlamentarische System und deren Vertreter. Prinzipiell finden die Jugendlichen es wichtig, politisch interessiert und informiert zu sein, doch sie selbst zeigen sich distanziert, eher desinteressiert und äußern sich zur offiziellen Politik ablehnend. Viele der befragten Jugendlichen fühlen sich kaum bis gar nicht politisch informiert. Sie erklären, dass sie sich auch nicht kontinuierlich, sondern sporadisch über Politik informieren. Bildungsbenachteiligte Jugendliche und junge Heranwachsende wünschen sich vor allem „schnell und kurz“ über Politik informiert zu werden. Nachrichten werden von allen befragten Jugendlichen eher zufällig oder anlassbezogen rezipiert. Wenn Nachrichten genutzt werden, dann vorzugsweise die Fernsehnachrichten auf „ProSieben“, „RTL“ („Punkt 12“) und die „News“ auf „RTL II“, sowie die auf „N24“ oder via Teletext/Videotext. Boulevardnachrichten, „Berliner Zeitung“ (BZ) und Nachrichten im Radio („KissFM“) werden zudem zur Kenntnis genommen. In Berlin nutzen die Jugendlichen auch gern die Bildschirmanzeigen in der U-Bahn und finden die Informationen, die dort angeboten werden, für ihre Belange hinreichend. Obwohl bildungsbenachteiligte Jugendliche es im Großen und Ganzen für wichtig erachten, politisch interessiert zu sein, können sie sich nur bedingt auf politische Sendungen, Tageszeitungen und entsprechende Internetangebote einlassen. Sie sagen, dass sie die Nachrichten im Fernsehen oftmals auch nicht verstehen, da sie zu komprimiert präsentiert werden und auch Vorwissen für das 3
Die Fragen zur Beurteilung von Politikern lauteten etwa: a) Was haltet ihr von Politikern? b) Was machen sie falsch/richtig?
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Verständnis von Nöten sei. Für sie sind politische Sendungen im Fernsehen oft langweilig, sie sollten nach Ansicht der Jugendlichen lebendiger gestaltet werden. Gefragt danach, was für Themen sie sich wünschen, die öffentlich mehr verhandelt werden sollten, antworten sie mehrheitlich: Arbeitslosigkeit. Sie wird in fast allen Gruppen als ausgesprochen bedrohlich erlebt. Die befragten Jugendlichen möchten, dass die politischen Themen mehr auf ihre eigene Lebenswelt fokussiert werden und ihre ökonomischen Bedingungen. Sie wollen Themen wie das Bildungssystem und auch die Ausländerpolitik diskutiert wissen. Das Ansehen der Politiker ist bei den bildungsbenachteiligten Jugendlichen eher gering. Sie halten sie für wenig engagiert bei ihrer an sich sehr verantwortungsvollen Arbeit und in ihrem Amt. Aus Sicht der Jugendlichen reden – was in mehreren Gruppen als „labern“ bezeichnet wurde – Politiker zu viel und handeln zu wenig. Politiker machen „leere Versprechungen“ und außerdem reden sie unverständlich. Auch setzen sie sich in der Wahrnehmung der Jugendlichen nur sehr begrenzt für deren Belange ein. Bei den befragten Jugendlichen besteht darüber Konsens, dass es keine Vorbilder unter Politikern und Politikerinnen gibt. Ihr Verhalten und ihr Habitus werden vor diesem Hintergrund überwiegend negativ kommentiert. Eine Beispielaussage dazu: Rolf, 15 Jahre, Schüler der Förderschule in Rathenow: „Die sind alle so steif. Ich habe noch keinen gesehen, der sich so ganz locker hingesetzt hat. Beine breit und losgesagt hat. Die stehen alle so steif da und haben einen Stock im Arsch und reden los.“
Die befragten Jugendlichen fühlen sich weder von den Inhalten noch von den Politikern als Personen angesprochen. Deren politische und emotionale Ansprache erreicht sie nicht, wenngleich sie nicht geradezu abstößt. Somit bevorzugen die Befragten und wie auch Jugendliche generell private TV-Programme, in denen kaum Politiker präsent sind (vgl. Krüger 2002: 86). Jugendliche sind vor allem enttäuscht von Versprechungen und angekündigten Maßnahmen, die dann nicht umgesetzt werden. Auch hierzu eine beispielhafte Aussage eines Jugendlichen: Philipp, 15 Jahre, Schüler der Förderschule in Rathenow: „Blöd ist das auch immer, wenn sie sagen die schaffen Hartz IV weg und alles und dann sind sie eben Bundeskanzler und dann machen sie’s doch nicht.“
Es ist eine Reihe von Politikern bekannt (z.B. Angela Merkel, Joschka Fischer, Guido Westerwelle, Edmund Stoiber und Gerhard Schröder), doch die wenigsten sind nach Ansicht der Jugendlichen überzeugend, „cool“ oder sympathisch. Eine Ausnahme bildet für den Leipziger Jugendlichen Rolf, 20 Jahre, die im Jahre 2001 verstorbene SPD-Politikerin Regine Hildebrandt:
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Die Hildebrandt, genau. Ich habe mal eine Rede von der gesehen. Wie die ihre Meinung gesagt hat, das war so geil. Also die hat auch so richtig gegen alle gepowert und die war richtig gut. Die hat auch ihre Meinung richtig verfolgt. Aber die Politiker hier, die verdienen viel zuviel Geld (...)
Die Leipziger Jugendlichen mögen auch Gregor Gysi und vor allem den ehemaligen Ministerpräsidenten von Sachsen Biedenkopf, und zwar nicht wegen seiner Politik, sondern aufgrund seines ‘landesväterlichen’ Auftretens. Es gefällt ihnen sehr, dass er stets die positiven Attribute des Landes Sachsen betont hat. In der Gruppe von Jugendlichen mit Migrationshintergrund in Berlin-Neukölln stößt Gerhard Schröder auf große Akzeptanz, wobei sie die Präferenz auf Nachfrage der Moderatorin nicht weiter begründen können. Gleichwohl wäre hier differenzierter zu überlegen und zu untersuchen, was die genannten Politiker für welche Jugendlichen (Ostdeutsche, Migranten, Jungen etc.) verkörpern. Das Wissen um die Aufgabenbereiche der Politiker und deren Alltagsgeschäft ist bei den Jugendlichen mehrheitlich gering. Ihre Tätigkeitsfelder und Handlungsspielräume scheinen den Jugendlichen komplex und undurchschaubar zu sein. Assoziiert werden in dem Zusammenhang Begriffe wie Korruption, Egoismus, Doppelmoral, Macht und Langeweile sowie Ineffektivität. Einige der befragten bildungsbenachteiligten Jugendlichen finden, dass Politiker zu viel Geld verdienen bzw. ihr Verdienst nicht gerechtfertigt sei. Politik und Politikerinnen haben in den Medien und in der Öffentlichkeit aus verschiedenen Gründen offensichtlich einen so manifesten Kompetenz- und Glaubwürdigkeitsverlust erlitten, dass das Image Distanz und nicht Nähe fördert. Berufsschüler im Alter von 17 bis 19 Jahren aus Brandenburg schlagen in diesem Kontext vor, dass mal ein „kleiner Wechsel“ gemacht werden sollte. Die Politiker sollten mal für eine gewisse Zeit mit 500 Euro im Monat auskommen und die Jugendlichen sollten die 20 000 Euro im Monat erhalten, die ihrer Einschätzung nach ein Politiker monatlich als Verdienst erhält. Die Brandenburger Jugendlichen betonen ebenso wie viele andere befragte Jugendliche, dass den Politikern der Bezug zur Lebenssituation der heutigen Jugendgeneration verloren gegangen ist und dass sie diesen vermissen. Politiker zeigen, nach Aussagen der Jugendlichen, keine Anteilnahme und keine Betroffenheiten hinsichtlich ihrer zum Teil schwierigen Lebens- und Ausbildungssituation. Die Bedürfnisse und Interessenlagen der Jugendlichen in Deutschland sind den Politikern offenbar nicht präsent, und sie haben andere Themen auf ihrer Agenda, wofür die Jugendlichen wenig Verständnis haben. Dazu folgende Aussagen:
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Peter, 18 Jahre, Berufschüler aus Brandenburg: „Ja, laufend irgendwohin in irgendwelche andere Länder [reisen, Einfügung der Autorinnen], besuchen ihre Kumpels und was weiß ich nicht alles. Kevin: „Und wir sitzen hier in Brandenburg“ Peter: „Ja, normal. Wenn die rüberfliegen wie Schröder in irgendwelche Katastrophengebiete oder so und vielleicht da von Deutschland aus ein paar tausend Euro spenden, finde ich ja ganz in Ordnung, aber man sollte sich auch die Situation hier angucken. Hier gibt's auch genug Arbeitslose und was weiß ich nicht alles.“
Politiker scheinen demzufolge wenig respektabel und vertrauenswürdig zu sein. Die meisten sind für die Jugendlichen eher unnahbar, was nicht zuletzt daran liegt, dass man wenig über sie als Person und über ihren Alltag weiß. Den befragten Jugendlichen ist die Alltags- und auch Berufswelt von Politikern tendenziell fremd, und folglich können sie sich nur schwer ein Bild von ihnen machen. Diese Distanz schafft in der Konsequenz kaum Sympathie und führt auch nicht zur Akzeptanz ihrer geleisteten Arbeit. Fatma, 18 Jahre, aus dem Mädchenzentrum Berlin-Neukölln: „Und mir fällt ein, so eine Alltagssituation eines Politikers. (…) Es gibt auch viele jüngere Menschen, da sieht man auch mal Alltag. Und die haben wirklich Geld en masse, die Leute, da müssen die sich mit ihrem Privatleben nicht so in die Enge ziehen, dass man nie was sieht von denen. Das man mal sieht, wie es denen geht, was die da machen, dass man sich mal ein besseres Bild von denen da machen kann.“
Die Aussagen der Jugendlichen lassen erkennen, dass Jugendlichen die Empathie der Politiker fehlt und auch sie sich andererseits kaum in die Lage und Rolle der Politiker hineinversetzen können und wollen. Die Images der Politiker sind affektiv zu negativ besetzt, das Misstrauen ihnen gegenüber und die Interessensdiffusion groß. Jugendlichen fehlen glaubwürdige Angebote von Seiten der Politiker, die ihnen vermitteln, dass diese an ihnen (nicht nur als Wähler) interessiert sind und dass sie sich gern für sie und ihre Belange einsetzen. Jugendliche haben gegenwärtig nicht den Eindruck, dass Politiker ihre Perspektive einnehmen und auch nicht einnehmen wollen. Sie reagieren sehr empfindlich auf rhetorische Versprechen und verzeihen diese auch nicht. Die im politischen Geschäft gelebten und kommunizierten Gefühle entsprechen nicht den ihren. Sie entsprechen vor allem auch nicht ihren Erwartungen, was ebenfalls zu Distanz und Entfremdung führt. Die Abneigung und Reserviertheit Politikern gegenüber ist keine, die erst in der jetzigen Jugendgeneration entstanden ist, sondern eine, die über Jahre gewachsen ist und die die Älteren vermutlich bereits den Jüngeren vermittelt haben, denn die politische Klasse ist in der Öffentlichkeit schon seit längerem in Verruf geraten (vgl. etwa die Bilanz von Landfried 1994: 211).
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Dieses Verhältnis zwischen Politikvertretern und den zurückhaltenden, ja zum Teil recht politikfrustrierten Jugendlichen wieder oder überhaupt aufzubauen, ist eine große Herausforderung. Im Folgenden wollen wir die Einwände der befragten Jugendlichen aufgreifen und im Hinblick auf eine neu zu gestaltende Politikvermittlung bzw. politische Kommunikation prüfen und nutzbar machen.
3. Potenziale einer emotional-personalisierten Vermittlung von Politik Politik wird zu einem großen Teil nicht mehr nur im Alltag erfahren, sondern auch durch Menschen in den Medien vermittelt. Diese mediale Vermittlung scheint zentraler Baustein zum Verständnis der Auseinandersetzung von Jugendlichen mit Politik zu sein. Das öffentliche Bild von Politikern rückt hiermit ins Zentrum der Analyse, wobei nach Auffassung von Hoffmann und Raupp in der sozialwissenschaftlichen Literatur meist mit der „schlagwortartigen These einer Personalisierung der Politik“ (Hoffmann & Raupp 2006: 456) operiert wird. Die Autoren diagnostizieren in der politischen Kommunikationsforschung dominante Deutungsmuster und heben folgende Aspekte hervor (ebd. 456f.): 1. 2. 3. 4.
Die Person des Spitzenkandidaten gilt als zentrales Deutungsmuster. Politische Programme und Ziele werden mit zentralen politischen Rolleninhabern verbunden. Im Fernsehen wird die Präsentation von Politikern mehr hervorgehoben als eigentlich politische Fragen. Personalisierung meint hierbei Menschen der Berichterstattung zu fokussieren.
Sie konstatieren in diesem Kontext eine normative Besetzung des Begriffs und kritische Bewertung von Personalisierung in der politischen Kommunikationsforschung, wobei eine oft einseitige „Abwertung von Personalisierung“ ein „Ausdruck einer rationalistischen Voreingenommenheit“ (Hoffmann & Raupp 2006: 467) darstellt und somit kritisch zu hinterfragen ist. Hier schließen wir an: Politik wird von Menschen ausgeübt und ihr politisches Handeln wird durch Medien vermittelt, doch rezipiert wird von den Zuschauern nicht nur das Handeln, das sich vielfach auf das Reden über das Handeln beschränkt, sondern wahrgenommen wird vor allem die für das Handeln stehende Person und ganz wesentlich deren Präsentation im Sinne ihrer Inszenierung. Schon seit Jahren ist zu beobachten, dass es dem Zuschauer insbesondere im Fernsehen beim Auftreten der Politiker primär um deren Image und weniger um deren Informationen geht (Landfried 1994: 221). Ohne die hiermit verbundenen Gefahren der ‘Insze-
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nierung von Personalisierung’ leugnen oder politische Akteure auf ihre Darstellerrolle reduzieren zu wollen (vgl. Sarcinelli 1998: 13-15; Hoffmann & Raupp 2006: 468), messen wir dem komplexen Wechselspiel politischer Selbstdarstellung im Verhältnis von Politik, Medien und Publikum eine entscheidende Bedeutung in der Beurteilung von Politik(ern) in den Medien bei. In unserer Analyse konzentrieren wir uns somit auf Jugendliche als Rezipienten von Darstellungspolitik unter dem Aspekt der kommunikativ-emotionalen Rückkoppelung (vgl. zur kommunikativen Rückkoppelung Sarcinelli 1998: 12). Offensichtlich scheint es den jungen Zuschauern – wie die Interviewauszüge aus den Gruppendiskussionen in Leipzig und Rathenow (siehe Kapitel 2) verdeutlichen – leichter zu fallen, Habitus, Gestus und Mimik, Ausstrahlung, Souveränität, Charisma und andere Verhaltenseigenschaften eines Politikers in der Darstellung zu beurteilen als den Realitätsgehalt seiner Aussagen. Politische Kompetenz wird demzufolge in der Fernsehöffentlichkeit nicht nur an langfristigen Perspektiven, an möglichen Folgen der Entscheidungen und der „Offenheit für den Zweifel oder das bessere Argument“ (Landfried 1994: 222) festgemacht. Die Zuschreibung von politischer Kompetenz und Überzeugung wird somit nicht einseitig auf der Grundlage eines Ermessens aller miteinander abgewogenen objektivierbaren Kriterien und Faktenwissen generiert, sondern basiert mehr auf emotionalen Wirkungen und einem ‘emotional setting’. Somit ist „Politik auch als Publikum von Politik zu begreifen“ (Hoffmann & Raupp 2006: 469). In diesem Zusammenhang stellen wir uns die Frage, welche Faktoren in der Darstellung von Politik durch Politiker als notwendig zu erachten sind, um das junge Klientel anzusprechen. Die Potenziale einer emotionalpersonalisierten Vermittlung herauszuarbeiten und in Bezug auf den Wählernachwuchs zu fokussieren, ist Ziel der folgenden Ausführungen.
3.1. Perspektivenübernahme und Empathie Offensichtlich wird, dass die befragten Jugendlichen, wie die Aussagen von Peter und Kevin (Brandenburger Jugendliche) in Kapitel 2 dieses Beitrags dokumentieren, eine Perspektivenübernahme auf Seiten der politischen Akteure vermissen. Nur eine Perspektivenübernahme ermöglicht auch das Empfinden von Empathie. Anhand der geführten Interviews wurde somit auffällig, dass einerseits eine empathische Perspektivenübernahme auf Seiten der Politiker eingefordert wird, jedoch diese auch umgekehrt, im Hinblick auf die Bewertungsleistungen der Jugendlichen von Relevanz ist. Politiker sollten sich mehr mit den Belangen von Jugendlichen – in diesem Fall bildungsbenachteiligten – auseinandersetzen und auf dieser Grundlage ihre Perspektive übernehmen können
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und verstehen. Andererseits fällt es den interviewten Jugendlichen schwer, sich in die Rolle des Politikers hineinzuversetzen. Die Art, wie die Politiker sich in den Medien präsentieren, die emotional-personalisierte Vermittlung, erschwert diese Perspektivenübernahme somit auch auf Seiten der Jugendlichen. Diese offenbart sich nach Feshbach als „eine von einem Betrachter und einem Betrachteten geteilte Emotion, ein gemeinsames Gefühl von Subjekt und Objekt in einer Interaktion“ (Feshbach 1989: 77). Empathie stellt demnach die Emotion dar, wenn „an observer reacts emotionally because he perceives another experiencing or about to experience an emotion“ (Stotland 1969 in: Stotland et al. 1978: 7). Ein Faktor, der das Empfinden von Empathie beeinflusst, ist die Bewertung des Protagonisten. Fällt diese positiv aus, wird er als „Freund“ erachtet, so lässt sich deutlich Empathie feststellen, während dies bei einer negativen Bewertung nicht der Fall ist. Belegt ist, dass empathische Reaktionen dann stärker ausgeprägt sind, wenn der Rezipient Ähnlichkeiten zwischen dem Protagonisten und sich selbst erkennt, er ähnliche Erfahrungen im eigenen Leben gemacht hat oder wenn er den Gefühlsausdruck des Protagonisten in einer Nahaufnahme offenkundig erkennen kann (vgl. Zillmann & Cantor 1977: 155-165). Die Analyse von Empathiedarstellungen in den Medien ist für unsere Ausführungen relevant. Wesentlich ist hier, dass sie eine Perspektivenübernahme beinhaltet. Die Frage, ob diese ‚nur’ vom Rezipienten ausgeht, der durch mediale Texte Empathie gegenüber der medial dargestellten Figur empfinden kann, oder ob auch die Politiker in ihren medialen Darstellungen Empathie demonstrieren, ist hierbei ebenso bedeutsam (vgl. Döveling 2005). Die „Dispositionstheorie“ von Zillmann (1991, ders.: 2004) erweist sich hierbei als nützlich. So hat Zillmann einen Zusammenhang von moralischer Bewertung einer medial dargestellten Figur und dem daraus resultierenden Gefühl der Empathie aufzeigen können. Zudem erläutert er, warum sich Rezipienten, je nach ‘affektiver Disposition’ entweder neuen oder den gleichen Medienangeboten zuwenden. Das Einfühlen in eine Person im Verlauf der Rezeption stellt hierbei ein Grundelement dar. Auch wenn die Erklärung durch das Gefühl der Empathie allein nicht ausreicht, um existierende parasoziale Interaktionsphänomene erschöpfend zu verstehen, lenkt sie doch das Augenmerk auf die in diesem Prozess als grundlegend zu erachtenden Verbindungselemente der Emotionen. Diese Entwicklung von Empathie ist unseres Erachtens auch genreübergeifend gültig. Die wesentlichen Merkmale der Evozierung von Empathie stellen sich als Prozess heraus, der hiernach wie folgt abläuft (vgl. Zillmann 2004):
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In einem ersten Schritt wird ein Handelnder beobachtet. Sein Verhalten und seine Absichten werden als moralisch gut oder schlecht beurteilt. Wenn das Verhalten und die damit verbundenen Absichten als gut beurteilt werden, d.h. wird diesen zugestimmt, bilden sich in Folge „positive affektive Dispositionen (…) in Form von Zuneigung und Besorgnis“ (ebd.: 117). Zuneigung und Besorgnis implizieren hierbei ein „Erhoffen von Glück und ein Befürchten von Unglück“ (ebd.). Hieraus folgt, dass der Beobachter sich gut fühlt, wenn der Handelnde sich gut fühlt und schlecht, wenn es ihm schlecht geht. Wenn Handelnden, „denen gegenüber positive Dispositionen bestehen“ demnach ein Schicksal erfahren, das erhofft und welches als gerecht erachtet wird, werden sich keine „nennenswerten Veränderungen der Dispositionen“ (ebd.) zeigen, während es im Gegenzug umgekehrt der Fall ist: Erfahren Handelnde ein Schicksal, das befürchtet und als ungerecht erachtet wird, werden die affektiven Dispositionen verändert.
Hierbei wird also die moralische Beurteilung von Personen in der Bildung und Modifikation von emotionalen Dispositionen zu einem zentralen Schlüssel im Verständnis von Empathie. In diesem Zusammenhang erweist sich eine Einbindung der Theorie des sozialen Vergleichs (vgl. Festinger 1954) im Kontext der Analyse von Personenbeurteilung als sinnvoll. So hebt Festinger hervor, dass Menschen sich in sozialen Situationen mit anderen Personen vergleichen, um sich selbst einzuschätzen. Bezogen auf die Vielzahl an massenmedialen Angeboten von ‘Personae’ legen verschiedene Untersuchungen zu parasozialen Interaktionen und Beziehungen nahe, dass Vergleichsprozesse innerhalb von parasozialen Interaktionen wichtig sind. Zudem zeigt sich, dass die Bewertung des Ähnlichen von Rezipient und Personae eine Entstehung von parasozialer Interaktion auf Seiten des Rezipienten fördert (vgl. Turner 1993: 443-453). In diesem Prozess der Beurteilung von Politikern sind Emotionen als „richtungsgebende Einflussgrößen im Urteilsprozess“ (Kanning 1999: 25) bedeutsam. Zudem werden die hervorstechenden Attribute einer Persona, also des Politikers, in der Eindrucks- und Urteilsbildung auf Seiten der Rezipienten in einem interpretativen Prozess, wie auch Kanning (vgl. ebd.: 222) in seiner Analyse zur Personenbeurteilung betont, begünstigt. Eggert und Lauber konnten so in ihrer Analyse aufzeigen, dass vor allem „Mädchen und Jungen aus niedrigeren intellektuellen Herkunftsmilieus und Jüngere glauben, sich bei Infotainmentangeboten am besten mit dem nötigen Wissen versorgen zu können“ (Eggert & Lauber 2004: 162), während ältere Ju-
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gendliche und die, die einen höheren Bildungsgrad aufweisen, Informationen besonders aus Nachrichten und auch politischen Magazinen ziehen (vgl. ebd.: 153). Sie halten jedoch fest, dass der „Stil der Infotainmentangebote“ allerdings die meisten Jugendlichen anspricht (vgl. ebd.: 162). Wir erklären dies unter anderem durch den verbindenden Faktor der wechselseitigen Perspektivenübernahme und der Bewertungsmöglichkeit sowie der Gelegenheit des sozialen Vergleichs, die Verbindungswege zur affektiven Disposition und Bezugnahme vor allem in den so genannten Infotainmentsendungen schaffen. Dies wird im Folgenden um einen zusätzlichen Aspekt erweitert, wobei die Verbindung zu den bereits genannten Faktoren augenfällig wird.
3.2. Kollektive Identität und geteilte Betroffenheiten Es lässt sich bilanzieren, dass Politik von bildungsbenachteiligten Jugendlichen selten als Prozess und Chance der Gestaltung des eigenen Lebensalltags gesehen wird (vgl. auch Farin 2005, Zinnecker et al. 2003) und eine aktive Partizipation am parlamentarisch-demokratischen System ist für sie abwegig. Der Begriff Politik wird von den Bildungsbenachteiligten primär negativ konnotiert und mit der institutionellen Dimension (polity) und zudem – und dies ist für vorliegende Analyse zentral – meist in negativer Wertung mit Personen verknüpft. Explizite Werthaltungen, politische Handlungsspielräume und überhaupt ein Interesse an politischen Themen (policy) werden artikuliert. Sie basieren aber im Wesentlichen auf Resignationen, die mit der Angst um einen Ausbildungs- und Arbeitsplatz sowie mit finanziellen Nöten verbunden sind. Prinzipiell fehlt bildungsbenachteiligten Jugendlichen der Zugang zu Politik, haben sie kaum Visionen und zeigen sie keinerlei Beteiligungsbereitschaft (politics). In diesem Kontext wird das Konzept der „Social Identity“ relevant. So zeigt u.a. Trepte (vgl. 2006: 261) auf, dass die soziale Identität und das Selbstwertgefühl einen entscheidenden Einfluss auf das Mediennutzungsverhalten ausüben können. „Social identity“ meint hierbei „that part of the individual’s self concept which derives from his knowledge of his membership of a social group (or groups) together with the value and emotional significance attached to that membership“ (Tajfel 1978 in: Trepte 2006: 258). Und Döveling stellt in ihrer Analyse die notwendige Verbindung zwischen Emotionen und den Bedürfnissen des Rezipienten nach Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft heraus und hebt hervor, dass Medien diesen zielgruppenorientiert nachkommen müssen und hierdurch wesentliche gesellschaftsrelevante Leistungen erbringen (vgl. Döveling 2005: 33).
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Eggert und Lauber betonen, dass ein erster Grund für die Beschäftigung mit Politik für Jugendliche die „faktische Betroffenheit“ (Eggert & Lauber 2004: 144) darstellt und ein weiterer Grund sind die „personalen Elemente“, die das Politikverständnis vor allem von jüngeren Jugendlichen beeinflussen (vgl. ebd.: 145). Sie heben hervor, dass Politikakteure den Wünschen der Jugendlichen stärker Rechnung zu tragen hätten und für die Politikvermittlung eine „verständliche Sprache“ ebenso wichtig ist wie „eine sinnvolle Bebilderung“ (Eggert & Lauber 2004: 162) der entsprechenden Informationsangebote. Gleichwohl gilt: Die „Inszenierung der Politik nimmt infolge des Mediensektors und der Vervielfältigung von Kommunikationsstrukturen in der modernen Medienlandschaft eine immer wichtigere Rolle ein“ (Maier 2005: 101). Maier konnte vor diesem Hintergrund empirisch nachweisen, dass parasoziale Beziehungen zu Politikern bestehen. Ein wesentliches Ergebnis seiner Studie ist, dass die „Relevanz der emotionalen Bewertungen“ (ebd.: 106) einen entscheidenden Einfluss ausübt: „Besonders interessant ist hierbei der Befund, dass sich positiv und negativ rezipierte Politiker/innen zwar nicht danach unterscheiden, wie wichtig sie als Beziehungspersonen für die Befragten sind, aber deutlich dahingehend, wie emotional erregend sie sind“ (ebd.). Jugendliche vermissen – dies wurde in den Gruppendiskussionen augenfällig – Möglichkeiten zur aktiven Partizipation. Sie erkennen sich und ihre Situation emotional in dem, was Politiker sagen, nicht wieder. Sie finden keine Anschlussmöglichkeit, keinen Zugang zu einer gemeinsamen politischen Ideologie und gemeinsamen politischen Identität, keine geteilte Betroffenheit, die eine Perspektivenübernahme erfordert. Eben dies führt zum nächsten Faktor, der entscheidende Konsequenzen für die Wahrnehmung und Bewertung politischer Akteure aufweist.
3.3. Glaubwürdigkeit und Authentizität Darstellungskompetenz, wie auch Hoffmann und Raupp hervorheben, ist „je nach Publikum zu unterscheiden“ (Hoffmann & Raupp 2006: 469). Eine Analyse der Darstellungskompetenz muss somit immer das Publikum mit einbeziehen. Sie ist eng mit der Reputationszuweisung durch das Publikum verbunden. Dies setzt aber auch voraus, dass sich die Akteure verständlich artikulieren. Dies ist insbesondere für das junge Publikum wichtig (vgl. hierzu Eggert & Lauber 2004: 162). Es argwöhnt, dass Politiker etwas verheimlichen und vertuschen, wenn sie elitär und unverständlich reden. Auch fällt es dem jungen Publikum besonders schwer, Vertrauen und Sympathie aufzubauen, wenn eine gemeinsame verbale Ebene nicht gegeben ist. Bild und Sprache gehören zusammen, denn nur wenn diese eine eindeutige, kongruente und verständliche Botschaft zeigt,
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wird die Person ‘Politiker’ in der Inszenierung als glaubwürdig bewertet. Hier erweist sich die psychologische Forschung auf dem Gebiet der Schematheorie als gewinnbringend. Schemata reduzieren die „Komplexität der Realität“ (Kanning 1999: 76) und sind Vereinfachungen, die eine individuelle Informationsverarbeitung erleichtern und somit eine „notwendige Orientierungsfunktion“ (Hoffmann & Raupp 2006: 459) erfüllen. Schemata sind demzufolge in der menschlichen Informationsverarbeitung wichtig und notwendig. In der Personenbeurteilung werden vor allem die „hervorstechenden Attribute sowie die Attribute, die den Erwartungen und Bedürfnissen des Beobachters entsprechen, und die allgemein visuell wahrnehmbaren Attribute (…) hierbei als besonders bedeutsam erachtet“ (Döveling 2005: 96; vgl. hierzu auch Kanning 1999). Die Public Relations-Forschung verweist darauf, dass das Image von Politikern als „Vorstellungsbild“ eng mit der Reputation und diese wiederum eng mit der Bewertung von Politikern verbunden ist und hier Glaubwürdigkeit eine große Rolle spielt (vgl. Hoffmann & Raupp 2006: 474). Glaubwürdigkeit und Authentizität erweisen sich als Schlüsselmerkmale, die in direktem Zusammenhang mit den genannten Faktoren der moralischen Bewertung, der Empathie und Perspektivenübernahme sowie einer kollektiven Identität und geteilten Betroffenheit stehen. Denn: Glaubwürdigkeit und Authentizität ermöglichen und fördern eine parasoziale Beziehung zwischen Wählern und Politikern (vgl. hierzu Hoffmann & Raupp 2006: 472; Gleich 1999). Wir ergänzen demnach den im 3.1. genannten Faktor‚ Empathie und Perspektivenübernahme, der die Tragweite der moralischen Beurteilung akzentuiert, um den Aspekt der Glaubwürdigkeit, die einen Zugang zu emotionalen Dispositionen eröffnet.
3.4. Jugendliche Gefühlskultur, Reality TV und mediale Politikvermittlung Die aktuelle Medienlandschaft zeigt in Reality TV Shows für den (meist jugendlichen) Zuschauer eine vermeintliche „Demokratisierung von Ruhm“ (Döveling 2008) an. Warum ist diese Beobachtung für eine Analyse von Potenzialen emotionaler Vermittlungen für die politische Ansprache von Jugendlichen relevant? Reality TV-Formate spielen „auf der Klaviatur der kulturellen Negation“, bieten aber zugleich „zugespitzte Szenarien, in denen in einer ganz neuartigen Form über soziale Probleme von Solidarität und Gerechtheit sowie über Macht- und Anerkennungsfragen reflektiert werden kann“ (Dörner 2006: 10). Um Missverständnissen vorzubeugen: Hier geht es nicht darum, eine Hybridisierung von Politik und Unterhaltung im Sinne einer möglichen politischen Gefühlskultur für Jugendliche zu rechtfertigen. Stattdessen scheint die Frage zentral: Was macht die Faszination der Reality TV-Formate für jugendliche Zuschauer aus und wie
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lassen sich diese Erkenntnisse für eine emotional-politische Mobilisierung dieser Zielgruppe nutzen? Die Reality TV-Formate4 haben gemeinsam, dass sie ihr Publikum vor allem emotional ansprechen, indem sie eine Perspektivenübernahme ermöglichen. Jugendliche können im Sinne der „Affective-Disposition-Theory“ aktiv und reflexiv moralische Beurteilungen vornehmen, was – wie zuvor aufgezeigt Empathie ermöglicht – und für Prozesse der Wertebildung in modernen Gesellschaften ganz wesentlich ist (vgl. Reinhardt 1996: 13). Jugendliche können direkt (durch so genannte „Call Ins“) mitentscheiden, womit sich ihre Beurteilung nicht als vermeintlich folgenlos erweist. Die Möglichkeit, durch ein Telefonvoting mit ins Geschehen einzugreifen, offenbart sich hierdurch als eine demokratische Beteiligung. Die Inhalte der Sendungen bieten zudem Gesprächsstoff mit anderen und lassen somit gruppendynamische Prozesse in der Aushandlung einer sozialen Identität offenkundig werden. Die tagtäglich auf dem Schulhof gefühlte Verteilungs(un)gerechtigkeit hat Einzug in das Fernsehen genommen und stellt hier eine zentrale Maxime im Handlungsplot dar. Wer hält zu wem? Wer tröstet wen? Das sind die Fragen, die Jugendliche beschäftigen und die die emotionalen Bindungselemente der eigenen Welt und der TV-Welt offenbaren. Es sind zugleich, legt man ein erweitertes Politikverständnis zugrunde, so auch Dörner, „zutiefst politische Fragen“ (Dörner 2006: 10). Denn neben dem häufig kritisierten Voyeurismus ist es vor allem „die soziale Konstellation, die das Format für den Zuschauer interessant macht“ (ebd.). Die Kandidaten müssen Prüfungen bestehen und dabei ihr wahres Gesicht und bestes Verhalten zeigen. Hierdurch offenbart sich schließlich eine Gruppendynamik, der „Funktionsmechanismen und Spannungslinien der Gesellschaft“ (ebd.) fassbar und in der parasozialen Interaktion erfahrbar macht. Die in den genannten Formaten simulierte Ressourcenknappheit ist die zentrale Handlungsmaxime, die Konkurrenzsituationen offen legt, die durchaus deutliche Parallelen zur realen Welt erkennen lassen. Die Ressourcenknappheit bezieht sich auf die Rationierung von Nahrungsmitteln oder bei der Suche nach Deutschlands Superstar auf die Ressource Ruhm. Schließlich kann nur eine/r Superstar werden. Der hierdurch geschaffene Wiedererkennungswert lässt die mediale Welt als nahbar und (mit)erfahrbar und mehr noch (mit)fühlbar erscheinen (vgl. ebd.). Aus der Perspektive des jungen Zuschauers sind vor allem dies die Elemente, die sie gern thematisieren und die sie faszinieren. Zugleich bietet die Sendung die Möglichkeit, mit anderen über Gerechtigkeit, Benehmen, Erfolg, Misserfolg, emotionales (Mit-)Erleben, im Sinne Zillmanns affektiver Disposi4
Wir beziehen uns hiermit auf das performative Reality TV. Keppler hebt hervor, dass genau das "performative Realitätsfernsehen" in die Alltagwelt von Menschen eingreift (vgl. Keppler 1994: 8).
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tionen, zu diskutieren. Die Auseinandersetzung ermöglicht identitätsrelevante Diskurse, die eine deutliche politische Dimension aufweisen. Die genannten Reality-TV Formate bieten demzufolge durch die Alltagsnähe und Orientierung an den Bedürfnissen der Zuschauer eine Plattform, die Jugendliche konstruktiv nutzen. Sie offerieren eine Perspektivenübernahme. In diesem Sinne kann Dörner zugestimmt werden: „Politik als Fiktion markiert also keineswegs eine Abkehr von der politischen Wirklichkeit, sondern einen unterhaltend gestalteten Raum der Reflexion und der Diskussion, der wertvolle Beiträge zum Prozess der politischen Kultur leisten kann“ (Dörner 2006: 10). Vor dem Hintergrund der Faszination von Reality TV, das den Blick auf den Vollzug von intimen und privaten Handlungen vor einer Öffentlichkeit legt (vgl. Göttlich 2001: 23) und als Ziel, die Darstellung und Evozierung von Emotionen hat, gilt es, Möglichkeiten und Wege in der politischen Kommunikation zu finden, die das jugendliche Publikum emotional ansprechen. Schließlich sind es die Faktoren der aktiven Mitbewertung, Empathie und Perspektivenübernahme und dadurch der aktiven Partizipation die – wie die Äußerungen der Jugendlichen in den Gruppendiskussionen zeigen – bei der Wahrnehmung von Politikern oftmals fehlen. Politiker sind zu intransparent und demonstrieren nicht selten eine „sachfremde Emotionalität“ 5. Festzuhalten ist nicht zuletzt auch vor diesem Hintergrund, dass Wahlentscheidungen zunehmend auf affektiv-emotionalen Qualitäten der politischen Akteure beruhen (vgl. Wessels 2005:14). Politische Mobilisierung von Jugendlichen bedeutet auch und vor allem emotionale Mobilisierung. Diese kann nur durch eine Verringerung der Distanz durch alltagsnahe politische Personae geschehen (vgl. Wegener 2000: 50f.), so wie von Fatma (vgl. Kapitel 2) gefordert. Emotionen sind in diesem Prozess wichtige Ressourcen (vgl. Döveling 20056). Jugendlichen ist es auch wichtig, Politiker nicht nur auf der „Vorderbühne“ zu erleben, sondern auch Näheres über ihre „Hinterbühne“ zu erfahren (vgl. Goffman 2007/1959). Das Personale ist in diesem Prozess der emotionalen Politikvermittlung „unentbehrlich“ (Hoffmann & Raupp 2006: 473)7. Denn durch die Vermittlung des 5 6
7
Den Begriff der “sachfremden Emotionalität” benutzt Reinhardt (1996: 13) im Hinblick auf ihre Kritik an der mangelnden Werte-Reflexion im Politikunterricht. Vgl. auch Dövelings Vortrag “Powered by emotions. Emotions, social cohesiveness and the media” auf der 7. Jahrestagung der European Sociological Association (ESA), Torun. Polen 2005 und „Zur Macht des Emotionalen im Reality TV“, Vortrag auf der Jahrestagung der Sektion Medien- und Kommunikationssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) „Medien und Macht“, Trier, 20. und 21.06.2007. So heben auch Hoffmann und Raupp hervor: „Diese ‚Ehrenrettung’ des Personalen in der Politik ist eine erste Schlussfolgerung, die sich aus den verschiedenen Theorieperspektiven ergibt“ (Hoffmann & Raupp 2006: 473).
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Personalen kann die politische Welt verständlicher werden. Die hiermit geschaffene Darstellung einer Inklusion statt Exklusion (vgl. Döveling 2005: 182) ermöglicht eine Perspektivenübernahme, die eine Verbindung der Alltagswelt der Jugendlichen mit der Politik zulässt. Hierdurch wird erneut die Vermischung des Psychischen, des Emotionserlebens mit dem Sozial-Gesellschaftlichen augenfällig. Welche Konsequenzen ergeben sich hieraus für das Potenzial emotionaler Inszenierungen in den Medien und ihre Relevanz zur politischen Mobilisierung von Jugendlichen?
4.
Bedarf einer „zielgruppenorientierten jugendlichen Medien-Gefühlskultur“8
Aufgezeigt wurde, dass Jugendliche den Bezug der Politiker zu ihrer Alltagswelt vermissen. Auf der anderen Seite umfasst politische Sozialisation „alle bewußten und unbewußten Prozesse der Wechselwirkung zwischen Personen und ihrer (…) politisch relevanten sozialen, kulturellen, ökonomischen und zivilisatorischen Umgebung. Sie betreffen die geistigen, emotionalen und operativen Komponenten interagierender Persönlichkeiten, die einen Bezug zur Politik als Herrschaft im Allgemeinen oder als spezifisches gesellschaftliches System im besonderen mit all ihren jeweiligen Ausformungen und Ebenen haben“ (Claußen & Geißler 1996: 9f.). Zudem wird Medien ein wachsender Einfluss auf die politische Sozialisation attestiert, da Politik zunehmend über Medien präsentiert und erfahren wird und nicht zuletzt die institutionalisierte politische Bildung weitgehend versagt. Jugendliche wünschen sich in der medialen Darstellung von Politik und deren Vertretern, also von politischen Akteuren, eine stärker auf sie bezogene Ansprache und Darstellung. In diesem Prozess, so wurde hier deutlich, ist die Vermittlung von Authentizität relevant, die sich u.a. in einer verständlichen Sprache, im Vertrauen, in einer wechselseitigen Empathie und durch den Alltagsbezug wieder finden sollten. Wie kann dies geschehen? Dies führt zur Frage, ob und wie Gefühle von Politikern in den Medien präsentiert werden und welche Implikationen dies für eine politische Mobilisierung von Jugendlichen haben. Es geht hier nicht um emotionale Berichterstattung, sondern um die mediale Vermittlung einer personal-emotionalen Bezugnahme durch Politiker. So verweist unter anderem jeder medial präsentierte Gefühlsausdruck zunächst auf individuelle Wahrnehmungen und ebenso auch auf kulturelle und gruppenspezifische Normen. Somit besitzt er 8
Zum Begriff „Medien-Gefühlskultur“ und zur „Zielgruppenausrichtung“ siehe Saxer, MärkiKoepp 1992: 56ff. Zur „zielgruppenorientierten Medien-Gefühlskultur“ siehe Döveling 2005: 179ff.
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Zeichencharakter. Für die Lösung der Problemstellung der vorliegenden Analyse ergeben sich unmittelbare Konsequenzen aus dem expliziten Verständnis von Gefühlskultur: In den Gruppendiskussionen ist deutlich geworden, dass Jugendliche sich mit ihren Belangen und Emotionen nicht in der Medienagenda, in der politischen Medien-Gefühlskultur, wiederfinden. Hierbei ist, wie Saxer und Märki-Koepp (1992: 15) in ihrer Analyse hervorheben, darauf zu achten, dass Medien objektive Leistungen im Sinne der Informationsvermittlung, aber auch subjektive Leistungen, die als Gratifikation oder emotionale Bedürfnisbefriedigung bezeichnet werden können, herbeiführen. Die mediale Vermittlung von Politik und Politikern muss so konzipiert sein, dass sie ein erkennbares Gratifikationsprofil auch im Sinne einer emotionalen Ansprache (vgl. Saxer/Märki-Koepp 1992: 42, vgl. Döveling 2005) produziert, welches den Rezipienten zu einer kontinuierlichen Nachfrage und Bindung veranlasst. Diese Feststellung ist besonders relevant, da dies bedeutet, dass eine zielgruppenspezifische Medien-Gefühlskultur (Jugendliche) verschiedenste Ausprägungen aufweisen muss, um Jugendliche durch personal-emotionalisierte Bezüge anzusprechen. Eine wesentliche Schlussfolgerung dieser Analyse ist, dass Politiker dieses Potential in der medialen Öffentlichkeit nicht erschöpfend nutzen. Sie sprechen Jugendliche mehrheitlich nicht emotional an, geben sich steril, meist unnahbar und vermeintlich sachbezogen. Politik vermittelt sich für junge Menschen als Insider-Wissen und von der Insidersprache fühlen sie sich vorwiegend ausgeschlossen. Sie finden in diesem Geflecht keinen adäquaten Zugang. Politische Systeme sowie deren Akteure und soziale Lebenswelten der Rezipienten sollten sich aufeinander beziehen, da sie nicht zuletzt voneinander abhängig sind (vgl. Reinhardt 1996: 9), doch sie divergieren zusehends. Es gibt zudem keine Vision, die Politiker gegenwärtig vermitteln, für die es sich für Jugendliche lohnen würde, sich zu engagieren. Das war bis Ende der 1980er Jahre anders: Es gab gemeinsame Feinde bzw. Feindbilder und es gab Visionen, sodass der Kampf gegen Aufrüstung, für Frieden und für eine ökologische Umwelt solidarisch geführt werden konnte. Offensichtlich gab es zu der Zeit eine gemeinsame Inklusion und gemeinsame Exklusion durch gemeinsame Ziele, Hoffnungen, Wünsche: geteilte Emotionen (vgl. Döveling 2005: 177f.). Und so stehen Visionen auch für Zukunftsorientierung und die „Auseinandersetzung mit der Zukunft“ und „Möglichkeiten zur Lebensgestaltung“ (Eggert & Lauber 2004: 144) sind im Hinblick auf eine politische Teilhabe eine wesentliche Voraussetzung. Visionen haben zudem starke emotionale Komponenten ebenso wie Streitthemen, die als persönliche soziale Probleme wahrgenommen werden (können). Der Gegenwartsgesellschaft fehlt es derzeit nicht an sozialen Problemen, aber an Visionen und Ideologien, diese Probleme zu lösen. Hierbei entscheidend: Es fehlt an
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gemeinsamen Deutungsmustern und vor allem an Personen, die hier Lösungskompetenzen zeigen. So hebt Kleiner (2004) hervor, dass „Medienkompetenz von Medienpersönlichkeiten“ nicht nur eine „analytische, selbstreflexive, politische“ Kompetenz bedeutet, sondern auch 1. 2.
3.
„intellektuelle Kompetenz“, d.h. eine „Kenntnis von Hintergründen und Fakten“ verlangt, und auch „eine sozial-kommunikative Kompetenz, also das Wissen, welche Sprache dem jeweiligen Thema und dem (medialen) Kontext angemessen ist“ sowie „eine persönliche Kompetenz (…). Die Autorität der Sache sollte (…) den Ton angeben und nicht der Mehrwert, den diese Sache für das ‘self-fashioning’ einbringen könnte“ (vgl. Kleiner 2004: 264f.).
Bezug nehmend auf den letzt genannten Punkt fehlt es aus Sicht der befragten Jugendlichen den Politikern auch an der nötigen Gemeinwohlorientierung, d.h. es gibt keinen ‘gemeinsamen Strang, an dem man ziehen könnte’. In Anlehnung an die zuvor dargelegte moralische Bewertung in der Entwicklung von Empathie, lässt sich hier festhalten, dass diese Bewertung negativ ausfällt, womit im Sinne Zillmanns eine „negative Disposition, (…) in Form von Abneigung und Ressentiment zu Tage“ (Zillmann 2004: 118) tritt. Wenn Politiker die Lebenswelten der jungen Generation thematisieren, dann zwar mit Besorgnis, aber nicht mit ‘wirklicher’, d.h. für sie (medial) ersichtlicher Anteilnahme. Ihre Besorgnis resultiert auch aus der Angst, selbst negativ beurteilt zu werden z.B. in der Bildungspolitik. Folglich wird nach Ansicht der Jugendlichen, von ihnen nur gefordert (etwa mehr Leistung und Disziplin), ihnen aber nichts im Austausch angeboten. Und auf ‘no fair trade’ reagieren Jugendliche sehr empfindlich, vor allem, wenn keine gemeinsame positivmoralische Grundorientierung und hiermit verbunden positive emotionale Basis gegeben ist. Der Vorschlag, neue Sendeformate zur Politikvermittlung, entsprechende Onlinedienste und digitale Angebote für junge Zielgruppen zu entwickeln und zu produzieren9, scheint gerechtfertigt, doch die alles entscheidende Frage dabei ist: Welchen Mehrwert haben junge Menschen derzeit von politischer Bildung und einem Engagement? Denn: Alle Formate zur Politikvermittlung erreichen ihr junges Publikum nicht, wenn die Akteure weder einen Zugang zur deren Lebens- noch hiermit untrennbar verbunden zu deren Gefühlswelt haben.
9
So, wie es z.B. logo (KI.KA) für Kinder gibt, könnte man auch explizit Nachrichtensendungen für Jugendliche entwickeln.
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Katrin Döveling, Dagmar Hoffmann
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Teil III Felder aktiver Medienarbeit
Christian Berger
Kindern eine mediale Stimme geben – Nachwuchs für den Citizen Journalism?
Dieser Beitrag zeigt am Beispiel eines SchülerInnenradioprojektes aus Wien die Möglichkeiten auf, durch medienpädagogische Arbeit zur Entwicklung einer partizipativen Medienlandschaft beizutragen. Partizipativer Journalismus ist die Tätigkeit eines Bürgers oder einer Gruppe von Bürgern, die eine aktive Rolle im Prozess der Recherche, des Berichtens, des Analysierens sowie des Verbreitens von Nachrichten und Informationen einnehmen. Ziel dieser Partizipation ist die Bereitstellung von unabhängigen, verlässlichen, genauen, ausführlichen und relevanten Informationen, die eine Demokratie benötigt. The act of a citizen, or group of citizens, playing an active role in the process of collecting, reporting, analyzing and disseminating news and information. The intent of this participation is to provide independent, reliable, accurate, wide-ranging and relevant information that a democracy requires.“ (Shayne Bowman, Chris Willis: We Media – How audiences are shaping the future of news and information. Juli 2003, S. 9. Zit. in Wikipedia – http://de.wikipedia. org/wiki/Graswurzel-Journalismus /19.5.2007)
Citizen Journalism, in Deutsch oft Graswurzel Journalismus oder auch partizipativer Journalismus genannt, existiert in verschiedensten medialen Formen (Print, Radio, Video), erhielt aber durch das Internet und vor allem die Web 2.0 Entwicklungen rapide Auftrieb. Durch Citizen Journalism werden BürgerInnen von RezipientInnen zunehmend zu MedienproduzentInnen. Durch die Möglichkeiten der online Publikation gewinnt Citizen Journalism zusätzliche Verbreitung. Weblogs, Podcasts, Bildersharing und Online Magazine werden nicht mehr nur angeboten, sondern auch gelesen und genutzt. User generierte Inhalte entschwinden ihrem publizistischen Nischendasein. Selbstverständlich gibt es auch Auswüchse und eine Menge unnützes Zeug, aber der Alltag und die Erfahrungen der Menschen sind nicht mehr nur als Objekt der Profis, sondern subjektiv präsent. Womit aber auch Inhalte Bedeutung erhalten, die bis dato nicht in die Wahrnehmung der Öffentlichkeit getreten sind. Diese Veröffentlichungen sind ein wichtiger Beitrag in der Nachrichtenlandschaft.
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Christian Berger
Sicherlich, die meisten Videos und Fotos auf You Tube1 und Flickr2 bringen die Erinnerungen vom letzten Urlaub oder auch die Bilder der Familie. Aber immer öfter gibt es auch dort Dokumentationen des Lebensalltags, Einblicke in die Lebenswelten der Menschen, die nichts mehr mit Voyeurismus oder privaten Erinnerungen zu tun haben. Es finden sich heute zahlreiche seriöse Online Medien, die sich auch um journalistische Sorgfalt und Ethik bemühen. Hier seien als Beispiele das Center for Citizen Media3 oder auch Wikipedia News4 erwähnt. Im Fernsehbereich bieten zahlreiche Offene Kanäle und Uni TV Stationen auch im deutschsprachigen Umfeld die Chance auf direkten Zugang zur Veröffentlichung. Der Aufwand über eine der TV Stationen Verbreitung zu finden, ist allerdings wesentlich aufwendiger und umständlicher als im Web Videos als Vodcast präsent zu machen. „Ehrensenf”5 (ein Anagramm zu Fernsehen) gelangte binnen kurzem zu Kultstatus und relativ hohen Zuschauerzahlen. Während „Ehrensenf” als satirisches Fernsehmagazin angelegt ist, versucht iCommunity.tv6 unterschiedlichste Kanäle mit Nachrichten über ein Webportal anzubieten. We believe that people choose the cities and towns they live in not only based on physical but also emotional reasons — the unique heart and soul characteristics of places. Local events, like school events, last week’s hail storm, or an interview with the mayor about the efforts to revitalize downtown, are important events that generate local identity for citizens, but, particularly for small communities or neighborhoods, there are few venues through which these news items are delivered. This means that local news, especially carried over visual channels, has great potential to support and encourage vibrant communities. Our effort is focused on developing an aggregation platform that ties into video-sharing platforms like Youtube.com, extends their services by letting anyone georeference and sort video clips in news categories, and offers multiple convenient ways to subscribe to and watch these custom channels (e.g. “Politics in Berlin, Germany”).(Quelle: http://icommunity.tv/about)
Im Radiosektor waren die Community und Campus Radios in den USA der Ausgangspunkt für viele kommerzielle Lokalradiostationen, die heute aus der Radiolandschaft nicht mehr wegzudenken sind. In Europa gibt es in vielen Ländern eine dreiteilige Rundfunklandschaft: öffentlich-rechtliche Sender stehen neben privat kommerziellen Stationen und auch nicht kommerziellen und freien Radios. ‘Nicht kommerziell’ leitet die Bedeutung vom englischen ‘non commercial’ ab, wodurch zum Ausdruck gebracht werden soll, dass die Sender ‘werbefrei’ agieren und das Finanzierungskonzept nicht auf Werbeeinnahmen 1 2 3 4 5 6
Siehe http://youtube.com/ Siehe http://flickr.com/ Siehe http://citmedia.org/ Siehe http://de.wikinews.org/wiki/Hauptseite Siehe http://ehrensenf.de/ Siehe http://icommunity.tv
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aufbaut. Dies ermöglicht eine Programmgestaltung ohne Rücksicht auf Einschaltquoten und Interessen des Werbemarktes und somit auch Radioprogramme für kleine Zielgruppen (z.B. in Minderheitensprachen – vgl. u.a. Purkarthofer 2002, Busch 1995). In Österreich unterscheidet das Rundfunkgesetz nur zwischen öffentlich rechtlichem und den privatem Rundfunk. Kommerzielle und nicht kommerzielle Radios sind damit trotz unterschiedlicher Funktion und Aufgabenstellung den gleichen gesetzlichen Rahmenbedingungen unterworfen. Die Praxis zeigt, dass der offene Zugang der „Freien Radios“7 und die damit verbundenen Chancen sich hörbar zu machen, von den Menschen aufgegriffen werden. Die Charta des Verbandes der Freien Radios in Österreich fordert eindeutig jene zu bevorzugen, deren Stimmen in der Medienlandschaft ansonsten wenig berücksichtigt werden. Die inhaltliche Relevanz der Beiträge wird durch die persönlichen Interessen und die thematische Verankerung der Redakteure in Communities gewährleistet. Zumeist beginnt jeder neue SendungsmacherIn durch Mitarbeit in einem Redaktionsteam. Damit wird dem Prinzip „Learning by Doing“ gefolgt und gleichzeitig entwickelt sich ein System des Tutorings sowie eine soziale Verankerung der Personen innerhalb der Community. Um die journalistische Sorgfalt trotz der Produktion durch „Amateure“ und dem Anspruch auf „Offenen Zugang“ („Low Level Access“) zu gewährleisten, werden seitens der Herausgeber verschiedene Begleitmaßnahmen in die Organisation der Radios und den Produktionsprozess eingebaut. Es gibt verpflichtende Schulungen im Bereich Medien- und Urheberrecht, Senderichtlinien und Medienethik für alle SendungsmacherInnen. Zusätzlich bieten größere Radios und auch der österreichweite Verband ergänzende und vertiefende Workshops zum journalistischen „Handwerkzeug“ (Moderation, Montage, Sendungsgestaltung, (...) usw.). Viel stärker jedoch wirkt der Air Check (das bewusste und konzentrierte Rezipieren von Sendungen) durch andere RadiomacherInnen und ZuhörerInnen. Schlampige Recherchen oder auch ethisch bedenkliche Aussagen werden durch die HörerInnen und auch anderen RadiomacherInnen rasch zum Diskussionspunkt in der Community. Dieses Prinzip der Kontrolle durch die RezipientInnen verbunden und gefördert durch strukturelle Vorgaben (Selbstorganisation, Tutoring, Schulungen) unterstützt das „Learning by Doing“ und sichert eine journalistische Weiterentwicklung der RadiomacherInnen. Vor allem der Wegfall des Quotendrucks unterstützt die Produktion von unabhängigen und auch ausführlichen Medienberichten im Bereich von Minderheitenthemen. Ähnliche Prinzipien und Systeme zur Qualitätssicherung finden sich in der Praxis der „Wikipedia“. Auch im Zusammenhang mit der verstärkten Forderung nach „Open Con7
Siehe http://www.freie-radios.at
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tent“ (vgl. EU Förderprogramme) für wissenschaftliche Publikationen werden Fragen in Bezug auf die konkrete Umsetzung von Review Verfahren diskutiert. Die Erfahrungen im Bereich des Citizen Journalism bieten hier eine gute Grundlage.
1. SchülerInnen – Teil in der medialen Erwachsenenwelt? Kinder und SchülerInnen wurden immer gerne in die öffentlich-rechtliche und auch kommerzielle Medienproduktion einbezogen. Allerdings zumeist in der Rolle des Objektes. Kinder erhalten in diesen Interviews oftmals eine Stimme – aber wie und wozu sie sich äußern dürfen und können, hängt mehr von den erwachsenen ProduzentInnen bzw. Interviewern ab, als von dem, was die Kinder thematisieren. Damit entsteht ein veröffentlichtes Bild über die Kinder und Jugendlichen, das aus der Sicht der Erwachsenen geschaffen wird. Auch SchülerInnen veröffentlichen ihre Medienproduktionen in den verschiedensten Medien (Zeitung, Radio, Fernsehen, Internet). Teilweise betreiben sie auch ihre eigenen Medien wie z.B. Schülerzeitungen. Damit wird die Sicht der Kinder und Jugendlichen Teil des öffentlichen Diskurses. Erwachsene erhalten darüber hinaus Einblick in die Betrachtungsweise der Welt aus dem Blickwinkel der nächsten Generation. Dies kann als Grundlage für eine gesellschaftspolitische Diskussion und als wichtiger Faktor in einer partizipativen Demokratie gesehen werden. Medienbildung und politische Bildung im Schulbereich, sowie das medienpolitische Anliegen der Bürgerradios eine partizipative Medienlandschaft aufzubauen, führen zu einer logischen Kooperation mit medienpädagogischer Relevanz8. Durch die Zusammenarbeit erhalten die SchülerInnen eine mediale Stimme. Ein Weg, den die Freien Radios Österreichs seit ihrer Gründung konsequent weiter beschritten haben. Ein Beispiel dafür bietet unter anderem das medienpädagogische Projekt „wiener radiobande“ im Wiener Schulbereich. Die hier produzierten Sendungen sind als Sendereihe beim Freien Radio in Wien (orange 94.0) on air zu hören, sowie auch als Podcast und On Demand im Internet abrufbar. „Da kann ich sagen, was ich denke“ … 10 Jahre „wiener radiobande“ Was wurde nicht alles im Laufe der Jahre ausprobiert. Die verschiedensten Themen wurden aufgegriffen: Von Liebe und Karate, von alten Dichtern und jungen Rappern, von Küssen und Computerspielen, vom Klassenprojekt bis zum Kinderparlament, vom Hörspielkrimi bis zur Märchenerzählung, von Geräuschejagden über Interviews mit alten Menschen oder auch er8
Zur Frage der Bedeutung und Zusammenhänge zwischen Communitybildung, Bürgermedien und Medienpädagogik siehe auch Hipfl/Hug 2006 - „media communities“.
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fundenen Figuren ist alles Mögliche und Unmögliche zu hören. Es gab Radiogruppen, die direkt vom Segelschiff in der kroatischen Adria über die „Mirno More Friedensflotte“ berichteten. Andere haben Sendungen gemeinsam mit Partnerschulen in verschiedenen europäischen Ländern erstellt. Die „FonBox“ sammelte via Telefon und Handy Statements für Sendungen. Begonnen hat es vor 10 Jahren mit Sendungen auf Tonband und Verteilung via Kassetten. Als „Orange“ On Air ging, war die „radiobande“ auch mit dabei. Auch beim neuen O.949 Sendungsarchiv waren wir gleich in der Entwicklung mit dabei.“
Die Verankerung medienpädagogischer Ziele und Methoden im Bewusstsein der LehrerInnen und im organisatorischen Rahmen der Schule sind langfristige Prozesse und geschehen nicht ohne die Beachtung der darauf einwirkenden Faktoren und Rahmenbedingungen. Es lohnt sich also die Entwicklung des Projektes „wiener radiobande“ ein wenig näher zu betrachten.
2. Die Entwicklungsgeschichte der „radiobande“ 1995 trafen sich auf Einladung von „media wien“, einer Fachdienststelle der Stadt Wien, zwei Schülerradiogruppen aus Kärnten mit einer Wiener SchülerInnengruppe, um im Rahmen eines dreitägigen Workshops mit dem Titel „Ohrenweide“ gemeinsam eine Magazinsendung zu produzieren. Die Kärntner SchülerInnen und LehrerInnen hatten zu diesem Zeitpunkt bereits einige Erfahrung mit der Produktion von Radiosendungen, da sie seit mehreren Jahren gemeinsam mit der regionalen Landesbildstelle und dem ORF Landesstudio einzelne Themensendungen erstellt hatten. In Wien waren Produktionen mit Jugendlichen im ausserschulischen Bereich ebenfalls bereits erfolgt. Im schulischen Unterricht waren solche medienpädagogischen Zugänge und Methoden noch Neuland. Auch das mit dem Abspielen im Radio war 1995 noch nicht so einfach. Einziger legaler Sender war der ORF und dort war das Interesse an Sendungen von SchülerInnen nicht sehr groß. Die Sendung wurde deshalb auf Kassetten vervielfältigt und so von Klasse zu Klasse und von Schule zu Schule weitergereicht. Einem ersten Aufruf zur Nutzung des Mediums im Unterricht folgten an die 20 Wiener LehrerInnen und bildeten eine Arbeitsgruppe „media wien“ stellte das technische Equipment und logistische Unterstützung zur Verfügung. AktivistInnen der „Pressure Group Radio“, die für einen Offenen Zugang zum Medium plädierten, boten Betreuung und Unterstützung bei der Produktion an. Die „radioBANDe“ war als Projekt und als übergreifende Community of Practice gegründet. In den nächsten Monaten erfolgte die Produktion von Hörspielen, Magazinsendungen aber auch Experimentellem im Rahmen des Unterrichtes. Die Kinder und auch die LehrerInnen 9
radiobande redaktionsteam, in „O94-Programmzeitschrift“, März 2006.
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lernten die nötigen Grundkenntnisse, um mit dem Medium „Radio“ über Projekte oder auch Themen, die im Unterricht bearbeitet wurden, zu berichten. Erst 1998 durch den Sendestart der Freien Radios in Österreich erhielten die Produktionen erstmals auch eine eigene Sendeschiene zur Prime Time. Die Radiolandschaft in Österreich bekommt bunte Flecken Es ist soweit: Seit Montag, den 17. August 1998 um 0:00 Uhr ist „Orange 94,0“ – das freie Radio in Wien – auf Sendung (UKW 94,00 MHz). Eine Premiere für die österreichische Medienlandschaft. Im September folgte Radio FRO in Linz. Demnächst startet MORA – das mehrsprachige Radio im Burgenland. Noch im Herbst soll AGORA zweisprachiges Programm in Kärnten bieten. Gemeinsam ist all den genannten Sendern, dass es nicht ums Geldverdienen gehen soll, sondern dass das Radio als Medium zur Artikulation der Menschen dienen soll. Sie nennen sich „Freie Radios“, obwohl sie genau den gleichen ökonomischen Zwängen ausgesetzt sind. „Frei“ soll allerdings der Zugang zum Radio sein. Aus HörerInnen werden RadiomacherInnen. Das bedeutet auch, dass der erste wirkliche programmatische Kontrapunkt zu den großteils austauschbaren kommerziellen Stationen gesetzt wird. (Berger 1993)
Die Koordination und Unterstützung seitens „media wien“ warauf die jeweiligen Produktionsgruppen abgestimmt.10 Völlige Autonomie der Produktionsgruppen bei der Wahl des Themas, jedoch Unterstützung bei der formalen Aufbereitung seitens der unterstützenden Institution, führte zur gewünschten Vielfalt und vor allem zur Identifikation der SchülerInnen mit der Produktion. Wichtig war dabei, dass sich alle Mitwirkenden im Produktionsprozess einbringen konnten und ihre Aussagen durch die Sendungsgestaltung nicht entfremdet wurden. Wie entstehen diese unterschiedlichen Beiträge? Genauso unterschiedlich, wie die Gruppen in ihrer Zusammensetzung und Herkunft sind. Es gibt SchülerInnen, die in der Volkschule (1.-4. Schulstufe) mit Radioarbeit beginnen und beim Austritt aus der Hauptschule (5.-8. Schulstufe) immer noch aktiv dabei sind. Die Rahmenbedingungen sind je nach Schule innerhalb Wiens sehr unterschiedlich. Manche Schulen haben eine eigene Radiogruppe im Rahmen einer „Unverbindlichen Übung“11 andere integrieren die Radioarbeit in Unterrichtsfächern. Die meisten nutzen die Entleihmöglichkeiten für das technische Equipement, einige haben eine entsprechende Ausstattung an der Schule. Letztere arbeiten oftmals länger an einer Produktion und haben auch schon viele journalistische und pädagogische Preise dafür erhalten. Die meisten kommen jedoch mit ihrer Klasse zu einem 3-stündigen Workshop ins Radiostudio im media wien10 11
2006 wurde die Betreuung des Projektes zum Verein ICE Vienna ausgelagert, der von der Stadt Wien gefördert wird. Die Lehrpläne für österreichische Schulen ermöglichen schulbezogen die Einrichtung von „Unverbindlichen Übungen“ zu verschiedensten Themenbereichen. Die Teilnahme der SchülerInnen ist freiwillig.
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medienatelier12, um hier vor Ort mit Unterstützung durch erfahrene MedienpädagogInnen eine ca. 15-minütige Sendung zu produzieren. Manchmal ist es jedoch aufgrund mangelnder Personalressourcen bereits ein Problem, mit der ganzen Klasse einen Lehrausgang zu organisieren. Die Unterstützung der engagierten LehrerInnen innerhalb ihres Kollegiums oder durch die Leitung ist dabei ebenso wichtig wie unterschiedlich. Raumangebot, Lehr- und Lernmethoden in der Klasse, Entwicklungsstand und Alter der SchülerInnen, deren Herkunft und Muttersprache sind nur einige weitere Faktoren, die individuell bei der Planung von medienpädagogischen Projekten und der Betreuung zu berücksichtigen sind (vgl. dazu Lauffer et al., 2006, Bloech et al., 2005).
3. Lernen durch die Radioarbeit Die Recherche für das Projekt an der Schule war auch Recherche für die Sendung oder umgekehrt. Wie komme ich an Informationen zu Thema? Wie bewerte ich diese Informationen? Wer kann da vielleicht etwas darüber erzählen? Radioarbeit ist situatives Lernen (vgl. Lave/Wenger, 1991). Die SchülerInnen beteiligten sich aktiv an einem Produktionsprozess, der zwar oftmals von den LehrerInnen initiiert worden ist, jedoch inhaltlich von ihren eigenen Interessen bestimmt wurde. Dieses Interesse leitete im weiterenWeiteren den Lern- und Produktionsprozess. An manchen Schulen, in denen über längere Zeit an der „wiener radiobande“ mitgearbeitet wurde, entstanden klassenübergreifende Communities und die beteiligten LehrerInnen arbeiteten schulübergreifend zusammen. Radioarbeit ist meistens auch Cross Media Arbeit. Somit werden Lernerfahrungen mit Neuen Medien (Mandl, Reinmann, 2000) ebenso eingebunden, wie der im Lehrplan definierte oder im Schulbuch visualisierte Lerninhalt. Die Radiosendungen werden nicht nur on air gebracht, sondern auch online archiviert und sind sowohl On Demand als auch als Podcast abrufbar. Damit entstehen gleichzeitig neue Lernmedien, die jederzeit verfügbar sind. Diese können für den Einstieg in Themen ebenso genutzt werden, wie zur Vertiefung oder Erweiterung. Sendungen über Computerspiele, Angst, Hobbies oder Reiseberichte dienen sowohl zur eigenständigen Recherche wie auch als didaktisches Unterrichtsmittel. Was lernen die Kinder dabei? Zuerst einmal verbessern sie ihre sozialen Kompetenzen. Es ist wichtig zu kommunizieren – und es ist wichtig im Gespräch zu bleiben. Dies gilt in der Produktionsgruppe ebenso wie auch bei den 12
Das „medienatelier“ ist ein für aktive Medienarbeit mit Schulklassen konzipierter Raum, wo unter anderem auch ein Radiostudio zur Verfügung steht.
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InterviewpartnerInnen oder bei Behörden wo Informationen recherchiert werden. Sie lernen sich zu artikulieren und verbessern ihre Sprach- und Sprechkompetenzen. Plötzlich wird Grammatik wichtig und Sätze werden oftmals wiederholt und umformuliert – bis sie passen. Jeder will verstanden werden und nicht in unverständlichem Brei über den Äther ins Wohnzimmer der Bekannten und Verwandten gelangen. Ein großer Druck, der da auf oft kleinen Menschen lastet. Also erleben sie auch Stress und üben damit umzugehen. Vieles von dem kommt nur dadurch zustande, dass die Kinder von den ‘Medienmenschen’ bei den Freien Radios ernst genommen werden. Ihre Stimme zählt etwas und ihre Stimme soll auch gehört werden – ebenso wie die von Erwachsenen. Hier liegt neben dem gemeinsamen Spaß an der Sache auch ein Ernst, der im öffentlich rechtlichen oder privat kommerziellen Rundfunk kaum mehr vorhanden ist. Jener Ernst, der sich nur durch tatsächlich partizipatives Arbeiten entwickelt und der verloren geht, wenn das Gegenüber nur mehr zum Objekt des/der SendungsmacherIn gemacht wird. In der Zusammenarbeit zwischen Bildungseinrichtungen und Medieneinrichtungen, geht es hier noch um gemeinsame Wege soziale und auch technische Räume zu schaffen, in denen Erfahrungen gemacht werden können, Wissen zum Nutzen aller geteilt wird und Medien erlebbar gemacht werden. Freie Radios sind also in mindestens gleichem Maße soziale und medienpädagogische wie auch mediale und journalistische Einrichtungen. Neben der inhaltlichen Lernerfahrung bietet die Radioarbeit – ebenso wie auch andere Medienproduktionen – auch viele Ansätze für soziales Lernen. Nicht nur, dass durch die arbeitsteilige Produktionsweise die Kommunikation innerhalb der Gruppe erlernt sein will, darüber hinaus wird jedes Interview auf der Straße zum Trainingsplatz für Gesprächsführung und Artikulation. Positive Rückmeldungen steigern das Selbstbewusstsein, Misserfolge ertragen will gelernt sein – die Frustrationstoleranz muss gesteigert werden, um nach der vierten Ablehnung eines Interviews doch noch zu Aufnahmen zu kommen.
4. Der Weg ins Internet 2006 wurden im Rahmen der „wiener radiobande“ 104 Sendungen von je 30 Minuten und zusätzlich noch drei Live-Reportagen im Umfang von je 60 Minuten bei „orange 94.0“ in Wien on air gebracht. Etwa die Hälfte der Sendungen waren Neuproduktionen. Daran waren ca. 1000 SchülerInnen beteiligt. Die Hörerschaft der „wiener radiobande“ geht weit über die produzierenden Kinder hinaus, worauf Rückmeldungen per Mail und Telefonanrufe beim Sender hinweisen. Die meisten HörerInnen sind Erwachsene. Nicht nur die Verwandten
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und Bekannten der Eltern lauschen den Sendungen, da die Kinder hier Einblick in ihre Sichtweise der Welt geben und dies auch zumeist in einer erfrischend direkten Art hörbar machen. Kindern eine mediale Stimme zu geben, ist neben einem spannenden methodischen Lernkonzept auch eine gesellschaftspolitische Notwendigkeit. Begonnen hat es mit Sendungen auf Tonband und Verteilung via Kassetten. Dann kam die digitale Umstellung – zuerst auf Minidisk, dann auf Computer. Damit entwickelte sich auch die Sendungsarchivierung zuerst auf CDs und dann im Internet. Dieses Archiv kann sich hören lassen. Es umfasst in der Zwischenzeit an die 400 Sendungen. Etwa die Hälfte ist derzeit auch aus dem Online Sendungsarchiv abrufbar13. Das Sendungsarchiv war der erste Schritt in die digitale Vernetzung. Seit April 2007 ist der erste Weblog einer Radiogruppe online. Begleitend zur Erstellung der Sendung reflektieren und dokumentieren SchülerInnen der 7. und 8. Schulstufe und die LehrerInnen den Entstehungsprozess und vor allem die Inhalte. Nicht alles hat Platz in der Sendung. Die thematische Internet – Recherche ist nachvollziehbar, da die Links mit Social Bookmarking gesammelt werden und die daraus resultierenden Fragen thematisiert werden. Auch die Erfahrungen, Erlebnisse der Besuche im Rahmen von Interviews werden transparent. Eine Evaluation der Weblogarbeit steht noch aus. Jedenfalls ist festzustellen, dass die Kinder mit Begeisterung daran sind und auch ihre Sprachbarrieren und Schreibhemmungen überwinden. Viele der Mitwirkenden sind Einwanderer und Flüchtlinge in der ersten oder zweiten Generation in Wien. Nur bei wenigen ist Deutsch die Erstsprache. Der Weblog der „radiobande loquaiplatz“ ist noch jung und der Grad der Vernetzung gering. Das Tempo der Verbreiterung in der Öffentlichkeit wird bewußtbewußt nicht forciert. Zuerst gilt es Erfahrungen mit dem neuen Medium zu sammeln. Da ist ein geschützterer Raum von Vorteil, denn nicht immer wird die Kommentarfunktion seriös genutzt. Das Moderieren eines Gruppenweblogs will auch erst gelernt werden. Trotz aller Anfangsschwierigkeiten ist zu erwarten, dass dem ersten Weblog weitere folgen werden und die Syndication via RSS Feeds auch den Austausch schulübergreifend unterstützen wird. Die Technik erscheint vielen LehrerInnen immer noch als große Hürde. Erste Schulungsangebote für die Wiener LehrerInnen existieren bereits und werden zaghaft auch aufgegriffen. Der Mangel an Kompetenz wirkt jedoch nicht nur bei der Produktion von Beiträgen hemmend. Auch die Rezeption – das Lesen und Mitverfolgen von Weblogbeiträgen und Podcasts ist noch nicht Teil der alltäglichen Mediennutzung. Was bringen Veröffentlichungen, die außerhalb der Wahrnehmung der Mitmenschen bleiben? Da die technische Medienkompe13
Zum Nachhören findet sich die „wiener radiobande“ unter: ttp://sendungsarchiv.o94.at/show Station.php/094st5
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tenz der Kinder und Jugendlichen enorm zunimmt (vgl.u.a. Bloech, 2005, Lauffer 2006, BIMEZ, 2007) und auch die Professionalisierung der Beitragsproduktion steigen wird, ist anzunehmen, dass sich auch die Nutzungsgewohnheiten in den nächsten Jahren ebenfalls ändern werden. Dies wäre ein gewaltiger Schritt in Richtung einer tatsächlich partizipativen Medien-Gesellschaft, die von inhaltlicher Vielfalt ausgezeichnet wird.
5. Fazit Paus-Hasebrink (2007) beschreibt in ihrer Studie wie Kinder ihre „Medienmarken“ konstruieren und welche Rolle diese im Alltag der Kinder spielen. Es ist abzulesen, wie sehr die Medienkonstruktionen der erwachsenen MedienmacherInnen den Alltag der Kinder beeinflussen und welche Rolle den Kindern dabei zukommt: die der KonsumentInnen. Citizen Journalism zeigt einen Weg auf, die gewohnte mono-direktionale Mediennutzung (Produktion von Medien durch berufliche JournalistInnen in Abhängigkeit vom Medieneigentümer – Rezeption durch den Rest) aufzubrechen und zu einer partizipativen Medienlandschaft zu gelangen (Ziel: Jeder kann sowohl die Rolle des Produzenten als auch des Rezipienten einnehmen). Diese Rückeroberung der medialen Artikulationsfähigkeit durch die BürgerInnen und auch die Rollenänderung spiegelt sich deutlich in der Entwicklung des Internets (vgl. Möller, 2006). Medienpädagogik im schulischen Kontext14 wird von gesellschaftspolitischen (Bildungs-, Medienpolitik, Gesetze, Kultur, usw.), schulinternen (Schulklima, Schwerpunkte, Ressourcen, usw.), personalen (Interessen, Qualifaktionen der LehrerInnen) und technologischen (Hard-, Softwareangebot, Connectivity, Access, usw.) Faktoren bestimmt. Durch die vorhandenen Wechselwirkungen und durch die Entwicklung einzelner Faktoren haben alle am institutionellen Lernen beteiligten Organisationen und Personen die Möglichkeit, durch entsprechende methodische, inhaltliche und strukturelle Angebote an die SchülerInnen zur Förderung einer partizipativen Medienpädagogik beizutragen. Wenn SchülerInnen (Kinder und Jugendliche) die Chance zur gleichberechtigten medialen Artikulation geboten wird, dann ergreifen sie diese Möglichkeit. Ich stelle aufgrund meiner persönlichen Erfahrungen hier die These auf, dass sich dadurch sowohl ihr Mediennutzungsverhalten als auch das Verständnis der eigenen Rolle in der Medienlandschaft ändert. Eine demokratische Gesellschaft kann nur durch die diskursive Beteiligung aller Bevölkerungsgrup-
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Grundlage und Orientierung bietet in Österreich u.a. der Erlass des Bundesministeriums f. Unterricht und Kunst zur Medienerziehung (Bm:uk 2001).
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pen innerhalb der Medienlandschaft gewährleistet werden. Eine Chance dazu bietet das Konzept des Citizen Journalism.
Literatur Berger, C. (1998): Radioarbeit mit Kindern. In “labi-richt”, Medienpädagogische Nachrichten der Landesbildstelle Wien. Eigenverlag. BIMEZ – Bildungsmedienzentrum Oberösterreich (Hsg) (2007). 1. Oö. Kinder-Medien-Studie des BIMEZ. Das Medienverhalten der 3-10 Jährigen in Oö. Abgerufen am 11.4.07 von http://www.bimez.at/uploads/media/pdf/medienpaedagogik/kinder_medien_studie07/studie_g esamt.pdf. Bloech, M., Fiedler, F., Lutz, K. (2005) (Hrsg.): Junges Radio. Kinder und Jugendliche machen Radio. Materialien zur Medienpädagogik Bd. 5. München Bm:uk (2001): Grundsatzerlass zur Medienpädagogik. Erlass des Österr. Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur GZ 48.223/14 -Präs.10/01, Rundschreiben Nr.64/01. Online abgerufen am 4.4.2007 unter http://www.mediamanual.at/mediamanual/leitfaden/ medienerziehung/grundsatzerlass/index.php Busch, B., Peissl, H. (2003): Sprachenvielfalt im Wohnzimmer. Sprachenpolitik und moderne Medien. In: Sprachenpolitik in Österreich.Eine Bestandsaufnahme. Hg. Brigitta Busch und Rudolf de Cillia. Frankfurt am Main. Lang Hipfl, B., Hug, T. (2006) (Hrsg.): Media Communities. Waxmann Verlag, Münster Lauffer, J., Röllecke, R.(2006) (Hrsg.): Dieter Baacke Preis. Methoden und Konzepte medienpädagogischer Projekte. Handbuch 1. Bielefeld:GMK Lave J.; Wenger E. (1991): Situated Learning – Legitimate peripheral participation. Cambridge University Press Mandl, H., Reinmann-Rothmeier, G. (2000): Lernen mit neuen Medien. Institut f. Pädagogische Psychologie und Empirische Pädagogik. München. Abgerufen von ttp://computerphilologie. uni-muenchen.de/jg00/mandl.html am 1.12.2006 Möller, E. (2006). Die heimliche Medienrevolution – Wie Weblogs, Wikis und freie Software die Welt verändern. 2.Auflage. Heidelberg: Heise Verlag Paus-Hasebrink, I. (2007): Kinder als Konstrukteure ihrer Alltagsbeziehungen. Zur Rolle von Medienmarken“ in Kinder-Peer-Groups. In SWS Rundschau (47.Jg.) Heft1/2007: S 26-50 Purkarthofer, J., Rainer, M., Rappl, A. (2005): Medienlandschaft der autochtonen Minderheiten in Österreich. Wiener Linguistische Gazette. Institut f. Sprachwissenschaft. Universität Wien. Online unter: http://www.univie.ac.at/linguistics/publikationen/wlg/722005/Purkarthofer RainerRapplWLG72.pdf am 12.4.2007
Helmut Peissl
Intercultural Media Literacy – Community Radios als Lernorte der Selbstermächtigung in der multikulturellen Gesellschaft
Einleitung Community Radios gewinnen in der multikulturellen Gesellschaft neue Bedeutung besonders für Minderheiten- und MigrantInnengruppen, denen der Zugang zu traditionellen Medien weitgehend verwehrt bleibt. Sprachenvielfalt und mehrsprachige Sendungen kennzeichnen vor allem die Programme von Community Radios im städtischen Umfeld. Ausgehend von den eigenen Erfahrungen aus dem Engagement bei Freien Radios im deutschsprachigen Raum untersuchte ich im Rahmen meiner Diplomarbeit die Ausbildungsaspekte von Community Radios in Frankreich, Irland und der Schweiz. Lebenslanges Lernen wurde in den letzten Jahren zu einem bildungspolitischen Schlüsselbegriff. Unter dieser Perspektive gewinnen Community Radios neue Bedeutung als Lernorte multipler Kompetenzen. Die vielfältigen Aktivitäten dieser Medien von unten vermitteln Wissen im Kontext, das im unmittelbaren Zusammenhang mit den lebensweltlichen Realitäten der Beteiligten steht. Im Mittelpunkt steht dabei die Vermittlung einer Reihe von persönlichen, sozialen und fachlichen Kompetenzen. Das Zusammenspiel von Wissenserwerb und Praxis im Rahmen der Beteiligung an Community Radios bildet so den Hintergrund für dialogisches Lernen im Sinne Paolo Freires. Die selbstbestimmte Handlungsfähigkeit der Betroffenen wird erweitert und ihre Selbstermächtigung gefördert – im Sinne von Empowerment.
1. Rollen von Community Radios Community Radios entstanden in vielen Ländern in und außerhalb Europas aus dem Bedürfnis sozialer, kultureller oder ethnischer Gruppen als mediale Selbsthilfeprojekte, die jene Themen, Meinungen und Blickrichtungen aufgriffen, die
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der „top-down“ organisierte öffentlich-rechtliche oder staatliche Rundfunk mit seiner Vorstellung von einem nationalen Publikum vernachlässigte oder überhaupt ausschloss. Ausgehend von den Radios der Minenarbeiter in Südamerika anfangs der 40er Jahre über Pacifica Radio in Kalifornien, das 1948 auf Sendung ging, erfasste die Bewegung der Community Radios oder Freien Radios Ende der 70er Jahre Italien. In Frankreich sind seit der Legalisierung 1981 etwa 600 „radios libres“ aktiv und in den relativ kleinen Niederlanden finden wir heute 300 Community Radios und TV-Stationen. In Australien überstieg 2005 die Anzahl der Community Radios (340) erstmals die Zahl der kommerziellen Sender (255). Nur in Österreich hielt sich das Rundfunkmonopol bis 1993. Es fiel dann aber auch aufgrund der Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte des Vereins AGORA (Arbeitsgemeinschaft offenes Radio/avtonomno gibanje odprtega radia), der im zweisprachigen Gebiet Südkärntens ein mehrsprachiges, nichtkommerzielles Radioprogramm senden wollte. Seither gingen in Österreich 12 Freie Radios auf Sendung, die mit einer kleinen Zahl festangestellter Mitarbeiter und über 2500 engagierten SendungsmacherInnen Programme in 25 Sprachen senden. Mit dem Fall der Rundfunkmonopole in den meisten Ländern Europas begann auch die bis heute fortschreitende Kommerzialisierung des Rundfunksektors. Die Einschaltziffern der Sender bilden die unmittelbare Grundlage zur Festsetzung der Werbetarife und somit für den wirtschaftlichen Erfolg. Der Druck der Quote dominiert seither aber nicht nur die Programmlogik der privatkommerziellen Sender sondern auch jene der öffentlich-rechtlichen Anstalten. Der ORF etwa bezieht fast die Hälfte seiner Einnahmen aus Werbeumsätzen. Während sich so kommerzielle und öffentlich-rechtliche Programme meist immer weiter angleichen, übernehmen Community Radios klassische PublicService Funktionen für spezifische Publikumsgruppen, die in öffentlichrechtlichen Programmen keine Berücksichtigung mehr finden oder gar nicht erst als neue Zielgruppen erkannt werden. Dies betrifft ganz besonders die lokale, journalistische Berichterstattung und die Gestaltung von Programmen in Minderheiten- und MigrantInnensprachen. Im Zentrum der Aktivitäten von Community Medien steht primär immer eine Form von „social“ oder „cultural benefit“ und nicht die Maximierung der HörerInnen- oder SeherInnenreichweite, wie bei kommerziell motivierten Medien. Je nach unterschiedlicher Motivation bzw. Grundidee der Projekte spielt die Beteiligung von Betroffenen, die Produktion alternativer Medieninhalte, die Konstitution von Gegenöffentlichkeit, die Produktion von Gegenwissen oder die Vermittlung von Medienkompetenz die zentrale Rolle. Meist sind all diese Aspekte vorhanden, aber mit unterschiedlicher Ausprägung. Chris Atton nennt in Bezug auf sein Konzept von „Alternative Media“ Partizipation und Access als
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die beiden zentralen Schlüsselfaktoren, die allen Formen alternativer Medien zueigen sind (vgl. Atton 2002: 9ff.). Daneben stehen aber andere selbstdefinierte Zielkategorien wie „non for profit“ oder in der radikaleren Form die generelle Werbefreiheit der Programme, um sich nicht dem wirtschaftlichen Einfluss der Werbewirtschaft unterzuordnen. Die Unabhängigkeit und Selbstbestimmung der Herausgeberschaft ist eine weitere Voraussetzung, um die Medien in die Hand der BürgerInnen zurückzugeben. Citizen controlled media stehen im klaren Gegensatz zu state controlled media oder corporate controlled media. In diesem Zusammenhang sei auf die übersichtliche Darstellung von Johanna Dorer Typen von Medienorganisationen des trialen Rundfunksystems verwiesen (vgl. Dorer 2004: 12). Kevin Howley streicht in seiner Publikation Community Media. Peoples, Places and Communication Technologies die Bedeutung von Community Medien als Orte kultureller Artikulation und kritischer Medienaneignung heraus, die gleichzeitig eine wichtige Rolle als Knotenpunkt einnehmen, wenn es um die Verbindung lokaler und globaler Gegenöffentlichkeiten geht (vgl. Howley 2005). Community Medien tragen mit ihrer Schlüsselrolle im lokalen Kontext zur Internationalisierung der sozialen Bewegungen bei. Diese Funktion hatten sie bereits lange vor der Einführung des Internets. Für Clemencia Rodriguez bilden Community Radios und andere Citizens Media Räume symbolischer Produktion, die den Beteiligten ermöglichen traditionelle Machtstrukturen zu hinterfragen und zu verschieben – und damit auch die herrschende symbolische Ordnung zu brechen (vgl. Rodriguez 2002: 151).
2. Medien und Mehrsprachigkeit – mit eigener Stimme sprechen Das Bild in Europas Städten ist zunehmend von Mehrsprachigkeit gekennzeichnet. In vielen Metropolen benutzt bereits ein Drittel der Bevölkerung im Alltag auch eine andere als die Mehrheitssprache (vgl. Busch 2006: 52ff.). Während in den ländlichen Regionen eher nationale Minderheitensprachen für Sprachenvielfalt sorgen, sind es in den Städten die Sprachen wachsender MigrantInnenCommunities. In den traditionellen Print-Medien, den öffentlich-rechtlichen oder den privat-kommerziellen Rundfunkprogrammen, spiegelt sich diese sprachliche Vielfalt in Europas Gesellschaften kaum wider. Freimut Duve setzte in seiner Rolle als Representative on Freedom of the Media der OSZE mit dem Projekt Freedom and Responsability: Media in Multilingual Societies einen wichtigen Akzent zur Frage medien- und sprachpolitischer Zielsetzungen für Europa. Im Rahmen des abschließenden Berichts hielt er fest, dass:
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Bilingual or multilingual media i.e. one media outlet broadcasting or publishing in different languages, will be able to deliver positive results only if society accepts multilingualism as 1 part of a normal everyday situation.
2001 wurde das Europäische Jahr der Sprachen ausgerufen, in der Begründung sprach man von der Bedeutung des Sprachenlernens im Kampf gegen Rassismus und Intoleranz. Auf den Zusammenhang zwischen Sprachenvielfalt und Medien wird innerhalb der offiziellen EU-Politik erstmals im Rahmen des Aktionsplanes der Europäischen Kommission zur Förderung des Sprachenlernens und der Sprachenvielfalt vom 24.7.2003 eingegangen (vgl. Europäische Kommission KOM 449, 2003). Lebenslanges Sprachenlernen, die Verbesserung des Sprachunterrichts und die Schaffung eines sprachenfreundlichen Umfelds sollen demnach künftig unterstützt werden. Die Sprachenpalette umfasst laut Aktionsplan: (…) die kleineren Europäischen Sprachen wie auch die größeren Sprachen, Regional-, Minderheiten- und MigrantInnensprachen sowie Landessprachen und die Sprachen unserer wichtigsten Handelspartner in der ganzen Welt.
An anderer Stelle heißt es im Bericht: Der Einfluss der Medien – einschließlich der neuen Medien wie beispielsweise DVDs – könnte bei der Schaffung eines sprachenfreundlichen Umfeldes nutzbar gemacht werden, indem die Bürger regelmäßig mit anderen Sprachen und Kulturen in Berührung gebracht werden.
Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in Europa ignorierten diese Herausforderungen bisher weitgehend. Veranstaltungen wie die EBU-Konferenz Migration und Integration – Europas große Herausforderung. Welche Rolle spielen die Medien im November 2006 in Essen2, belegen, dass sich die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten erst langsam ihrer Verantwortung bewusst werden, die sie im Kontext bereits existierender mehrsprachiger Gesellschaften haben. Im Rahmen der Diskussion Public Value Media an der ARS-Electronica 2006 unterstrich auch der neue Generaldirektor des Österreichischen Rundfunks, Alexander Wrabetz, seine Absicht bei der Neugestaltung der ORFProgrammierung stärker auf die Bedürfnisse von MigrantInnen einzugehen. Wahrnehmbare Ergebnisse dieser Absicht sind aber auch nach der Programmreform vom April 2007 in den ORF-Programmen nicht zu finden. Aus globaler Perspektive betrachtet stellen mehrsprachige Radiostationen längst kein Novum mehr dar. In seiner breit angelegten Vergleichsstudie über 1 2
vgl. OSZE 2003: 12 http://www.integration-media.eu/ (7.1.2007).
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nicht-kommerzielle Lokalradios berichtete Hans Kleinsteuber von der Bedeutung dieser Medien in den USA und vielen anderen Ländern (vgl. Kleinsteuber 1991). Die Entwicklung des Rundfunks in Europa, mit seiner lange hinausgezögerten Liberalisierung, war diesbezüglich viel enger an die nationalen Interessen der einzelnen Staaten gebunden und Sprachenvielfalt in den Programmen der öffentlichrechtlichen Stationen war wenn, dann nur als Folge verpflichtender Abkommen in Nischen vorhanden. In den USA waren es die Bedürfnisse spezifischer Gruppen und die Nachfrage nach bestimmten Inhalten, die entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung des Rundfunks hatten. Trotz der Dominanz kommerzieller Medien ist die Bedeutung von Community Radios bzw. des nicht-kommerziellen Sektors, seit Ende der 40er Jahre für die Herstellung von Öffentlichkeit in den USA, nicht wegzudenken (vgl. Kleinsteuber 1995: 70ff.). In den 70er Jahren kam es zur Gründung zahlreicher nicht-kommerzieller spanisch-/englischsprachiger Stationen in Kalifornien, da spanischsprachige, aber kommerziell orientierte Stationen die Bedürfnisse der Latino-Communitys nicht abdecken konnten (vgl. Widlok 1992: 140). Das Herstellen von Öffentlichkeit ist heute längst kein Vorgang mehr, der sich in nationalen und sprachlichen Grenzen erfassen lässt. Charles Husband hält dazu fest, dass das Konzept der nationalen Öffentlichkeit überholt ist und in unseren Gesellschaften plurikulturelle Identitäten zunehmend an Bedeutung gewinnen. Es ist an der Zeit, in unseren Gesellschaften den Umgang mit Sprachen in den Medien neu zu denken: „Autonome Minderheitenmedien, welche den Dialog innerhalb der ethnischen Gemeinschaft herstellen“ sollten mit „komplementären Medien, welche aktiv am Dialog über ethnische Grenzen arbeiten“ ergänzt werden (zit. Husband 2001: 19). Ein Konzept der kulturellen und sprachlichen Vielfalt, wie es auf europäischer Ebene immer stärker thematisiert wird, erfordert Medien, die die gesellschaftliche Mehrsprachigkeit sichtbar machen und fördern. In diesem Sinn gewann mehrsprachige Programmgestaltung mit dem Sendestart der ersten österreichischen Freien Radios 1998 stetig an Bedeutung. Die Freien Radios entwickelten in den letzten Jahren innovative Programmformen, die Verständigung auch über Sprachgrenzen hinweg ermöglichen und fördern. In diesem Zusammenhang scheint es mir wichtig darauf hinzuweisen, dass die erfolgreiche Klage des Vereins AGORA beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg, ganz wesentlich dazu beigetragen hat, dass 1993 das österreichische Rundfunkmonopol fiel und in weiterer Folge auch Freie Radios zugelassen wurden. Das EGMR-Urteil ging explizit auf den von AGORA geforderten Zugang von Minderheiten zum Rundfunk ein und verlangte die Berücksichtigung „der Rechte und Bedürfnisse eines spezifischen Publi-
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kums”.3 Damit wurde erstmals auf höchster juristischer Ebene das Zugangsrecht von Sprachminderheiten zum Rundfunk anerkannt. Mittlerweile finden sich in zahlreichen Europäischen Dokumenten, die sich mit Medienvielfalt und Informationsfreiheit beschäftigen, Hinweise auf dieses richtungsweisende Urteil. Eine Analyse von mehrsprachigen und nicht-deutschsprachigen Programmen Freier Radios in Deutschland, Österreich und der Schweiz hat gezeigt, dass es den ProgrammacherInnen häufig gelingt, innovative Gestaltungsformen zu finden und auch völlig neue Kommunikationsräume erschlossen werden (vgl. Busch 2003: 232 ff.). Brigitta Busch hält dazu fest, dass solche Sendungen hohe Anforderungen an die SendungsmacherInnen stellen und auch von den RezipientInnen eine Umstellung ihrer Hörgewohnheiten verlangen. Sie erfüllen damit nicht nur eine Funktion als Schnittstelle für Begegnung, sondern können auch explizit als Lernorte für den Umgang mit Mehrsprachigkeit wirken.
3. Von Babelingo zu Inter.Media Bei der Veranstaltung des Hörfestivals 2001 in Linz setzten die Freien Radios in Österreich sehr bewusst einen inhaltlichen Schwerpunkt auf Mehrsprachigkeit und Interkulturalität. Aus diesem Kontext entstand die Arbeitsgruppe Babelingo, als Diskursraum für die längerfristige Auseinandersetzung mit Methoden zur Überwindung von Sprachgrenzen zwischen den Communities. Seither starteten viele Freie Radios Arbeitsschwerpunkte und Projekte mit interkulturellen Aspekten der Medienarbeit. Mit Schwaboland – Mikrokulturen und 2nd Generation Music bemühte sich Radio FRO in Linz um die Einbindung von Jugendlichen der zweiten Generation in die Radioarbeit. Unter dem Motto „Sprechen Sie unsere Sprache? – Orange“! organisierte Radio Orange 94.0 die Zusammenarbeit und den Austausch zwischen MigrantInnenredaktionen und deutschsprachigen Radiogruppen. Radio Helsinki in Graz veranstaltete gemeinsam mit Grazer MigrantInnenorganisationen „Speak up!“, die lokale Umsetzung einer europäischen Kampagne gegen Gewalt an MigrantInnen. Das babelingo-Festival im Herbst 2003 bei Radio LORA in Zürich baute auf den Ergebnissen vieler dieser Projekte auf, um die Rolle von Mehrsprachigkeit und Interkulturalität besonders im Kontext der Aus- und Weiterbildung zu verankern. Eine Folge ist das EUProjekt „Inter.Media – intercultural media training in Europe“, das darüber hinaus noch PartnerInnen aus Ungarn, Irland, der Tschechischen Republik und der Türkei einband. Seit dem Herbst 2006 stehen Freien Radios und anderen inte-
3
vgl. EGMR 36/1992/381/455-459: Informationsverein Lentia u.a. gegen Österreich, Urteil vom 24. November 1993.
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ressierten (Medien-)Organisationen drei Ausbildungsmodule auf Englisch, Deutsch, Türkisch und Ungarisch zur Verfügung (vgl. BZBM 2006): x x x
Modelle interkultureller Organisation und Kommunikation in Bürgermedien Interkulturelle und mehrsprachige Programmgestaltung Medientraining und internationale Kooperation
Besonders die ersten beiden Module bieten sich als Teil umfassenderer Ausbildungskonzepte bei Freien Radios aber auch für andere Weiterbildungseinrichtungen an. Aus vielen Diskussionen und im Rahmen der laufenden Ausbildungspraxis entstand die Erkenntnis, dass Mehrsprachigkeit und Interkulturalität sich nicht auf die Vermittlung in Spezialkursen beschränken lassen, sondern als Querschnittthemen zu sehen sind, die ganz allgemein Teil der Aus- und Weiterbildungskurse der Freien Radios werden sollten. Im Vordergrund steht dabei die Ermächtigung zur eigenen selbstbestimmten Mediengestaltung, die Vermittlung von Medienkompetenz, einhergehend mit dem Erwerb einer ganzen Reihe darüber hinausgehender persönlicher und sozialer Kompetenzen. Einen Einstieg in die Vielseitigkeit interkultureller und mehrsprachiger Medienarbeit in den Freien Radios gibt die Publikation „WER SPRICHT“, die Beiträge aus der Perspektive von MigrantInnenorganisationen, Anti-Rassismusinitiativen, RadiomacherInnen und aus der aktuellen Forschung versammelt (vgl. Steinert, Peissl & Weiss 2006).
4. Ausbildungspraxis in Frankreich, Irland und der Schweiz Aufbauend auf meine eigenen Erfahrungen im Aufbau und Betrieb Freier Radios in Österreich bot sich im Rahmen der Recherchen zu meiner Diplomarbeit „Community Medien – Media Literacy & Empowerment“ Gelegenheit zur ausführlichen Beschäftigung mit Ausbildungspraxis und politischen, wirtschaftlichen, rechtlichen und professionellen Rahmenbedingungen von Community Radios in Frankreich, Irland und der Schweiz. Alle nachfolgend in diesem Abschnitt zitierten Aussagen beziehen sich auf die Diplomarbeit (vgl. Peissl 2007). Auch wenn sich die Regulierungspolitik und damit die rechtlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für Community Radios in den drei untersuchten Ländern stark unterscheiden, stellt die Ausbildungspraxis ein verbindendes Element dar. Bisher wurden Community Medien und besonders Freie Radios aus pädagogischer Perspektive meist lediglich in Hinblick auf ihre Rolle
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als Vermittler von Medienkompetenz untersucht. Meiner These nach greift diese Vorstellung zu kurz. Community Radios bilden heute Lernorte für eine ganze Reihe von persönlichen, sozialen und fachlichen Kompetenzen. Mir geht es vorerst um eine explorative Annäherung an die Bedeutungsebenen der Ausbildungspraxis bei den untersuchten Radios, um damit nicht zuletzt Anregungen für tiefer gehende Forschungsarbeiten zu liefern. Im Folgenden will ich mit den hier wiedergegebenen Interviewausschnitten nur einige Aspekte ansprechen, die geeignet sind die Vielfältigkeit der Bedeutungen zu dokumentieren, die die Radioarbeit für die Beteiligten gewinnt.
5. Ängste überwinden – am Bespiel Radio Lora (Schweiz) Radio Lora entstand in engem Zusammenhang mit der Auseinandersetzung um das Autonome Jugendzentrum AJZ in Zürich. Seit 1983 ist Lora legal auf Sendung und damit das älteste von zwölf Freien Radios in der Schweiz. Lora hat über 300 SendungsmacherInnen und sendet Programme in 20 Sprachen. Schwerpunkte von Lora sind neben der Sprachenvielfalt die Rolle der Frauensendungen unter dem Motto die Hälfte des Äthers, sowie die kritische Berichterstattung, etwa zum World Economic Forum (WEF) in Davos. Am Gruppeninterview bei Radio Lora beteiligten sich drei SendungsmacherInnen aus den muttersprachlichen Redaktionen. Sama kommt aus dem Iran und ist seit 1991 bei Lora engagiert, zuerst kam sie als Sendungsgast, nachdem sie ihre erste Angst überwunden hatte, wuchs ihr Interesse und sie macht seither regelmäßig Sendungen:4 (…) am Anfang hab ich Angst gekriegt ob ich überhaupt reden kann, wusste ich gar nicht ob ich das kann. Dann haben wir angefangen aufzunehmen, probieren ob es geht – erstes Jahr zweites Jahr, bis jetzt hat es gedauert.
Das Sprechen vor dem Mikrofon stellt eine Barriere dar, auch für Frauen wie Sama, die beruflich als Projektleiterin bei einer großen Bank eine verantwortungsvolle Rolle ausübt und gut kommunizieren kann. Das Überwinden der ersten Angst stärkt das Selbstbewusstsein und erleichtert weitere Schritte im Engagement. Diesen Aspekt unterstreicht auch Angelo – er ist die Seele der italienischen Redaktionsgruppe. Er war zwar von Anfang an bei Lora dabei, seine zentrale Rolle, übernahm er aber erst nachdem ihn seine KollegInnen bestärkt hatten selber zu reden:
4
vgl. Peissl (2007), S. 59-65
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Ich habe immer Angst gehabt im Radio zu reden, weil ich hab nicht so viel Schule gehabt, hab immer Angst gehabt schlecht zu reden. Und dann hab ich immer Leute gefragt die gut reden können. Damals gab es im Zürich immer noch die Baracken, wo die Saisonniers gewohnt haben. Wir sind dort hin gegangen um Propaganda zu machen. Ich hab gefragt, ob sie auch Radio gehört haben. Ja hat einer gemeint, die haben gut gesprochen aber kannst du mir jetzt erklären was er gesagt hat. (alle lachen!) Er sagt weiter: wieso kommst du hier her und wir verstehen dich, wenn aber die anderen reden verstehen wir nichts. Ich will wissen, ob ich meine Pension bekommen kann oder nicht. Sprich du im Radio dann verstehen wir. Das hat mir dann Mut gegeben und wir reden wie wir reden. (…) „Wenn du redest kann ich auch reden!“ sagen die Leute.
Angelo fühlte sich durch das Zureden seiner KollegInnen bestätigt und konnte feststellen, dass er als Sprecher im Radio besser ankommt als ausgewählte, korrekt sprechende Mitglieder der Community. Er kann die Themen offensichtlich in der Sprache vermitteln, die auch seine Kollegen verstehen und er wird als einer von ihnen erkannt. Diese Beziehung zwischen Angelo und seinen HörerInnen ist zirkulär: einerseits bestärken die HörerInnen Angelo dabei sein Programm zu machen, andererseits fühlen sie sich aber auch von ihm dazu angesprochen selber aktiv zu werden. Unmittelbares Feedback ist speziell beim Radio eine gute Möglichkeit zur Aktivierung der RezipientInnen, die so durch Ihre Anrufe oder als Studiogäste selbst Teil des Programms werden. Beide Aussagen dokumentieren wie die Radioarbeit das Selbstvertrauen der Beteiligten steigert.
6.
Sprachenvielfalt/gelebte Interkulturalität – am Beispiel Near FM (Irland)
NearFM ist seit 1995 auf Sendung und das größte der vier Community Radios in Dublin. Mitbegründer Jack Byrne, charakterisiert die Rolle der irischen Community Radios treffend wenn er meint: “Running Community radio is 80% community and 20% radio work!” In Irland gibt es derzeit 19 Community Radios. Am Gruppeninterview beteiligten sich zwei Programmmacher und Sally, die Programmkoordinatorin des Radios. Sally kam 1993 von Spanien nach Irland. Sie hatte in Spanien Journalismus studiert, in Irland fand sie aber erst durch den Kontakt mit NearFM längerfristig Arbeit. Sie betonte im Gespräch die Bedeutung des EU-Projekts Intermedia.5 It was really good that we could offer this training to groups that have English as a second language so they could give finer way to use their own traditional linguistic tradition lets say to put across their message. But we were doing that before the only thing is we did not realize. We had programs in Spanish and then we did voice-over we also recorded public meetings
5
vgl: Peissl (2007), S. 44-59
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that have translations and what we did was using the translation over Spanish language. So it was something that happened already but we did not realize. For me radio is a mean to change the vision of people and I’m not talking only about listenership but also members of a staff that may come into a radio station with their own prejudices. Meet different cultural realities in Ireland and it’s a way of challenging those persections trying to interfine you know.
Sally bringt zum Ausdruck, dass im Rahmen des Intermedia-Trainings das Bewusstsein für die wichtige Rolle der Sprachenvielfalt als eigenes Gestaltungselement wuchs. Sally ist das idealtypische Beispiel für eine Community Radio Karriere. Sie fand Zugang zum Radio als Freiwillige nachdem sie in Dublin angekommen war und keine Arbeit fand. In Verbindung mit ihrer ursprünglichen Ausbildung als Journalistin und ihren organisatorischen und kommunikativen Kompetenzen, qualifizierte sie sich für einen Job beim Radio. Heute besetzt sie als Managerin eine Schlüsselfunktion, mit der sie auch ganz wesentlich die weitere Ausrichtung und Entwicklung des Radios formen kann. In ihrer aktuellen Rolle verschmelzen persönliche, soziale und fachliche Kompetenzen. An diesem Punkt ist auch anzumerken, dass einzig in Irland, die durch die Mitarbeit bei Community Radios erworbenen Kompetenzen auch im Rahmen formeller Bildungscurricula (FETAC) anerkannt werden. Die Bedeutung des Radios vor allem auch als physischer und sozialer Treffpunkt betont auch Abdul, ein Vertreter der Muslim Community und sporadischer Sendungsgestalter. Es geht ihm weniger um Informationen, die gäbe es im Internet zur Genüge. In den Vordergrund rückt er den sozialen Charakter des Radios, mit seinen gleichzeitigen Funktionen Zugang zum Medium zu verschaffen, Kompetenzen zu vermitteln und zur aktiveren Kommunikation zu motivieren: I would imagine that through this radio station a lot of people who are marginalized in our society who don’t have access to sources of communication of source for letting out what their concerns They get an opportunity through this community radio and TV to voice their concerns and put forward their views and opinions. Once we start talking a lot of our social problems could be recognized and then solved consequently.
Abdul betont damit die Rolle des Radios als Ort für interkulturellen Dialog, der nahe genug an den Communitys ist, um sie aktiv einzubeziehen und so praktische Bedeutung für ihre lebensweltliche Wirklichkeit zu erlangen.
7.
SendungsmacherInnen als soziale VermittlerInnen – am Beispiel Radio Frequence Paris Plurielle
In Frankreich sind derzeit etwa 600 radios libres auf Sendung. Radio Frequence Paris Plurielle (FPP) begann seinen Sendebetrieb im September 1982 vereinigt über 200 SendungsmacherInnen und kooperiert eng mit einer ganzen Reihe von Kultur-, Sozial-, Bildungs- und MigrantInnenorganisationen. Nzunga Mbadi kommt aus dem Kongo, er studierte in Frankreich und musste nach der Rückkehr sein Land aus politischen Gründen wieder verlassen. Seit 1993 macht er bei Frequence Paris Plurielle die Sendung Tam Tam:1 Notre émission se appelle Tam Tam magazine tout simplement pasque le Tam Tamen Afrique ce pas seulement un instrument mais aussi un instrument de communication. Le Tam Tam on peut lance un message, annonce la arrive de un chef, annonce un naissance ou annonce un céder, un mariage etc. Alors a la radio c’est un peu comme le Tam Tam en Afrique (…).
Nzunga Mbadi vergleicht die Rolle des Community Radios mit dem afrikanischen Tam Tam, deshalb nennt er auch seine Sendung so. Die Vorstellung von Kommunikation, wie sie im Rahmen seiner Sendung realisiert wird, stellt neben der Vermittlung von Information besonders den Austausch mit den HörerInnen in den Vordergrund: Dans nos émissions les gents peut intervenir par téléphone et ça nous met directement avec les auditeurs qui participent activement dans la émission. La nous avion déjà u 5 téléphone dans la émission qui est en cour.
Nzunga Mbadi thematisiert damit die Vermittlerrolle die ihm und anderen ModeratorInnen innerhalb der Communities zukommt. Neben der Einbindung der HörerInnen über die interaktiven Sendungsformate sucht Nzunga aber auch den direkten Kontakt. Nous allons aussi dans le cartier ou habit les travailleurs immigre et nous assistons aux renions organisée par les associations pour nous faire connaître et pour faire connaître aussi les associations. Et puis les auditeurs ils nous écrivent aussi. Pour nous faire les remarques, pour nous faire les suggestions ou pour nous demande pour être invite dans la émission.
Nzunga Mbadi geht mit seinen Kollegen zu Versammlungen in den MigrantInnenquartieren, einerseits um neue Leute kennenzulernen, andererseits um sich einem breiteren Kreis auch persönlich als Ansprechpartner vorzustellen. Die Radiosendung wird damit Ausgangspunkt zu einem weitergehenden gesellschaftlichen Engagement, mit dem auch ihre Anerkennung wächst. Nzunga 1
vgl. Peissl (2007), S. 71-86
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Mbadi hält gleichzeitig engen Kontakt mit Community Radios in Afrika, für die er zur Anlaufstelle auf der Suche nach aktuellen Interviews und Reportagen und dem Austausch von Beiträgen via Internet wurde.
8. Community Radios und Kritische Medienpädagogik Lernerfahrungen, die im Rahmen von Community Radios gewonnen werden, sind als Formen dialogischen Lernens zu verstehen, wie sie Paolo Freire beschrieben hat – mit einem ausgeglichenen Verhältnis zwischen Reflexion und Aktion. Freire meinte schon in den 1970er Jahren: In der Problemformulierenden Bildung entwickeln die Menschen die Kraft, kritisch die Weise zu begreifen, in der sie in der Welt existieren, mit der und in der sie sich selbst vorfinden. Sie lernen die Welt nicht als statische Wirklichkeit, sondern als eine Wirklichkeit im Prozess sehen, in der Umwandlung.2
In einem ähnlichen Sinn bezieht sich auch Moser auf Freire wenn es im Kontext partizipativer Videoarbeit um Medienpädagogik als Form von Alphabetisierung geht, die es den Subjekten ermöglicht Bilderwelten kritisch zu dekonstruieren (vgl. Moser 2000: 225). Community Radios mit ihren vielfältigen Aktivitäten bilden heute ideale Lernorte für multiple literacies/multiple Kompetenzen in der mehrsprachigen Gesellschaft. Nach Kellner verweist der Begriff multiple literacies „auf die vielen verschiedenen Kompetenzen, die in den sich entwickelnden neuen Formen von Kultur und Gesellschaft gebraucht werden um Zugang zu haben und um interpretieren, kritisieren und partizipieren zu können“ (Zit. Kellner 2005: 283). Mit der Möglichkeit, Medieninhalte selbst zu gestalten und diese über das populäre und Medium Radio zu verbreiten, wächst das Potential für die Entstehung von kritischen (Gegen-)Diskursen und die Befähigung der BürgerInnen zu weiterreichender demokratischer Beteiligung. So verweist Kellner auf explizit die Bedeutung einer kritischen Medienpädagogik, wenn es darum geht, BürgerInnen zu ermächtigen Botschaften, Ideologien und Werte in medialen Texten zu entschlüsseln, so der Manipulation zu entgehen und eigene Formen des Widerstandes zu entwickeln. Nach Kellner sollte eine kritische Medienpädagogik „politisch engagierten Medienaktivismus initiieren und fördern, um alternative Formen von Kultur und Gegenöffentlichkeiten hervorzubringen, die von entscheidender Bedeutung für eine lebendige Demokratie sind“ (Kellner 1995: Zit. nach Winter 2006: 36). Er ist der Auffassung, dass die Medienkultur wesentlich 2
zit. Freire (1973), S. 88
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zur kritischen Erkenntnis der gesellschaftlichen Verhältnisse beitragen kann und durch „empowering representations“ zu informierteren, kritischeren und aktiveren Formen von Subjektivität führen kann (vgl. Kellner 1995: nach Winter 2006: 37). Im Rahmen der Arbeit von Community Radios oder Freien Radios muss heute ein Großteil der Aktivitäten als weitreichender informeller Bildungsprozess betrachtet werden, innerhalb dessen soziales Lernen und der Erwerb interkultureller Kompetenzen gemeinsam mit journalistischen oder studiotechnischen Themen im Mittelpunkt stehen. Aus- und Weiterbildung sind kaum vom Alltag der Radioarbeit zu trennen.
10. Schlussfolgerungen Community Radios gewinnen in der multikulturellen Gesellschaft neue Bedeutungen besonders für MigrantInnen und andere benachteiligte Gruppen. Einerseits mit ihrer traditionellen Rolle den Stimmlosen eine Stimme zu geben. Andererseits aber auch als wichtige Lernorte für multiple Kompetenzen, die geeignet sind die kritische und selbstbestimmte Handlungsfähigkeit benachteiligter Gruppen und Individuen zu erweitern. Community Radios greifen damit die aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen auf und erfüllen Formen des public service von unten. Mit ihrer mehrsprachigen Programmgestaltung bilden viele Community Radios wichtige soziale Knotenpunkte und fördern den interkulturellen Dialog. Eine der größten Herausforderungen bei der künftigen Arbeit Freier Radios ist es, die gesellschaftliche Anerkennung zu finden, die letztendlich notwendig ist, um auch die wirtschaftliche Existenz als innovative Medien mit offenem Zugang zu sichern. Wichtig wäre es heute, die Rolle von Community Radios bei der Vermittlung informeller Bildung im Zusammenspiel mit Formen und Orten formeller Bildung zu thematisieren, und das bestehende Potenzial dieser Medien als Lernorte multipler Kompetenzen für breitere NutzerInnengruppen zu erschließen. Eine kritische Medienpädagogik sollte sich gerade im Kontext der Diskussion um das Lebenslange Lernen verstärkt mit der Praxis von Community Radios beschäftigen, ihre Arbeit wissenschaftlich begleiten und damit auch Impulse zur kritischen Reflexion innerhalb der Radios liefern.
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Barbara Waschmann, Renate Schreiber
Verstehen um zu handeln. Kommentierte Dokumentarfilmvorführungen von normale.at
Seit 2003 veranstaltet der Verein normale.at in Österreich die „Normale“ – Dokumentarfilmfestivals für Kinder ab 8 Jahren, Jugendliche, Studierende und Erwachsene. Dabei werden nicht nur Dokumentarfilme aus aller Welt gezeigt, die gesellschafts-, wirtschafts-, entwicklungs-, sozial- und umweltpolitische Aspekte sowie Einblicke in unterschiedliche Lebensrealitäten bieten, sondern die auch inhaltlich und medienpädagogisch aufbereitet werden. Die Teilnehmenden erhalten Informationen und Fakten zum aktuellen Weltgeschehen, die in der öffentlichen Berichterstattung weit gehend ausgeblendet sind. Die „Normale“ ist ein medienpädagogisches Projekt, das (medien-) politische Bewusstseinsbildung fördert und einen Beitrag zur Herstellung alternativer Öffentlichkeiten leistet. Im Folgenden beschreiben wir die Motivation zu diesem Projekt sowie die Aktivitäten und Ziele der „Normale“.
1. „Normale“ und ihre Motivation „Diese neuen Techniken der Reglementierung des Geistes sollten von intelligenten Minderheiten genutzt werden, um dafür zu sorgen, dass der Pöbel nicht auf falsche Gedanken kommt. Mittels der neuen Techniken der Gedankenkontrolle ist dies jetzt ohne weiteres möglich.“ (aus „Propaganda“ von Edward Bernays (1925), auch heute noch Standardwerk der Public RelationsIndustrie) Dialog braucht Information. Sachgerechte politische Meinungsbildung kann ohne sachgerechte Information nicht stattfinden. Diese wird hingegen durch Machtkonzentrationen im Mediensektor erschwert. Kommerzielle Medien
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sind in hohem Maße von Werbeeinschaltungen abhängig und aus diesem Grund oft nicht zu einer ausgewogenen Berichterstattung fähig. Verifizierte Information ist längst zur aktiven Holschuld geworden und bestätigt auch vor dem Hintergrund der „digitalen Kluft“ die von Ulrich Saxer aufgeworfene Frage, inwieweit „sachgerechte politische Meinungsbildung für Nichtspezialisten überhaupt möglich sein wird“1. Die Informationsvermittlung liegt in Händen weniger, an Profit orientierter Medienkonzerne2, die sich mitunter im Besitz von Waffenproduzenten3 befinden. Auf dass uns „profit over people”-Reformen völlig „normal“ erscheinen sollen, bedienen sich neo-liberale think tanks, wie etwa in Deutschland die „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM)“4, der Medien. So wird es auch als „normal“ angesehen, Polemik dort zu vermuten, wo Dinge schlicht beim Namen genannt werden. Die Feststellung, dass uns zumeist ungenügende, unzusammenhängende oder medial verfälschte Information erreicht, war und ist Ausgangslage der „Normale“. Denn Bewusstseinsbildung über wirtschafts- und gesellschaftspolitische Zusammenhänge ist Voraussetzung für die Teilhabe an gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen.
1.1 Selbstermächtigung Mit dem Einzug der „camcorder revolution“ muss nicht länger auf weitaus kostenintensiverem 16mm oder 35mm Film produziert werden, wobei allein die Gerätebedienung einiges an Fachwissen voraussetzt. Unter dem Motto „see it, film it, change it“ überbrücken beispielsweise Menschenrechtsorganisationen die „digitale Kluft“, indem sie einzelnen Personen und lokalen Basisorganisationen Videoausrüstung, Training und Unterstützung beistellen. Halten Einzelpersonen und Gemeinschaften nun die Produktionsmittel in eigenen Händen, sind sie in der Lage über die Realitäten ihres Lebens in einer Art und Weise zu reflektieren, die sich deutlich von der Wahrnehmung eines/r Außenstehenden unterscheidet. Die eigene Geschichte zu dokumentieren, die eigene Stimme hörund sichtbar zu machen veranschaulicht Aspekte, die in den ‘mainstream’Medien selten zu finden sind. 1 2 3 4
Saxer, Ulrich in: Sarcinelli, Ulrich (Hrsg.) 1998: 73 dzt. Vivendi Universal, AOL Time Warner, Disney Corp., News Corporation, Viacom, Bertelsmann www.observatoire-medias.info/article.php3?id_article=202&lang=de www.boeckler.de/pdf/fof_insm_studie_09_2004.pdf (PDF, 668kb), www.zeit.de/2005/19/ insm und www.stern.de/wirtschaft/unternehmen/magazin/index.html?id=517691&nv=ct_cb'
Kommentierte Dokumentarfilmvorführungen von normale.at
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Das gewohnte Denken – die Weltsicht – durch Thematisierung der Normalisierungzwänge okzidentaler mediopolitischer Bestrebungen5, irritiert die „Normale“ bereits durch ihre Namensgebung, die nicht nur eine Hommage an andere Filmfestivals wie „Viennale“ oder „Diagonale“ ist. Die „Normale“ macht vielmehr mit bewegten Bildern und Perspektiven aus anderen Normalitäten – anderen Ausschnitten der Welt, die Milliarden von Menschen massiv betreffen – auf die Kollektivsymbolik moderner Mediendiskurse6 aufmerksam und stellt deren Struktur und Konnotationen in Frage. Aufgrund unmäßiger Verdatung und starker Selektion, Ausblendung und Manipulation von Realität vor allem von Themen mit dringendem Handlungsbedarf7 werden von Medien „routinemäßig Normalitäten (im Sinne des NormalMachens, vgl. Jürgen Link 2006: 20) produziert und reproduziert“8, als selbstverständlicher Orientierungsmaßstab in unserem Alltag9, der dem „Willen zum Nicht-Wissen“10, zur Nicht-Analyse, gewaltigen Vorschub leistet: Dringender Handlungsbedarf besteht bei gesellschafts- und entwicklungspolitisch relevanten Themen wie beispielsweise der Legitimation der Welthandelsorganisation, unserer dort vertretenen WirtschaftsministerInnen unter Konzerndiktatur, Verweigerung des Schuldenerlasses trotz jahrzehntelanger, gewaltiger Ressourcen-Ausbeutung, unser für den Klimawandel zu großer ökologischer Fußabdruck, Arbeitsbedingungen ohne soziale Sicherung11, verheimlichte Zusatzstoffe in der Ernährung und dergleichen mehr. Diese Themen finden – ebenso wenig wie andere, nachhaltigere Herangehensweisen – in unser aller Lebensalltag wie auch im Schulunterricht oft zu wenig Beachtung. Statt mit Formeln zu beruhigen oder gar triumphierend Normalität zu behaupten12, schlägt etwa auch Sprach- und Literaturwissenschafter Jürgen Link als Alternative vor, „zuerst einmal bekanntzumachen, dass die Fahrt seit geraumer Zeit aus dem Ruder der Normalität gelaufen sei und dass die Piloten selber nicht weiterwüssten, dass hiermit alle Fahrgäste zum gemeinsamen Brainstorming eingeladen seien.“13 Die kleine Auswahl oben genannter Entwicklungen findet bereits statt oder soll durchgesetzt werden – ob wir nun davon wissen oder auch nicht. Wissen 5 6 7 8 9 10 11 12 13
vgl. Link, Jürgen 2006: zB 440f vgl. Link, Jürgen 2006: 370 vgl. Link, Jürgen 2006: 358, 361 und 372 Link, Jürgen 2006: Vorbemerkung zur 3. Auflage vgl. Link, Jürgen 2006: 20 Link, Jürgen 2006: 361 Wettbewerb bei gleichzeitiger sozialer Sicherung ist immerhin auch ein Ziel der LissabonStrategie der Europäischen Union www.zeitschrift.kulturrevolution.de Heft 52 Link, Jürgen 2006: 387
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wir jedoch, womit wir es zu tun haben, ermächtigen wir uns selbst, eine eigene Meinung zu entwickeln, uns Handlungsspielräume zu eröffnen und sind nicht länger der von Bernays anfangs zitierte Pöbel.
1.2 Exkurs zur Demokratiebildung Durch die Fabrikation von Konsens kann man die Tatsache neutralisieren, daß viele Menschen ein formales Wahlrecht genießen. Die politischen Führer können letzterem jede Bedeutung nehmen, da sie ja in der Lage sind, Konsens zu fabrizieren und so die Wahlmöglichkeiten und Einstellungen der Menschen derart zu beschränken, dass sie letztlich immer nur gehorsam tun werden, was man ihnen sagt, obwohl sie formal, beispielsweise über die Wahlen, selbst am System teilhaben. (Noam Chomsky, Professor für Linguistik am Massachusetts Institute of Technology (MIT), bedeutender Sprachwissenschaftler und Medienkritiker)
Gegenseitige Einflussnahme von RegierungsvertreterInnen, die sich zunehmend von Konzernleitungen ‘in die Ecke drängen’ lassen und Medienmacht, stehen mit einem machtökonomischen Politikbegriff (Carl Schmitt) in Zusammenhang, der im Gegenüber den politischen Feind begreift14, der vor vollendete Tatsachen gestellt wird, wohingegen sich die partizipatorischen Demokratietheorien auf den dialogorientierten Ansatz Hannah Arendts beziehen, der in den Anderen politische PartnerInnen erkennt und daher die Beziehung als durch Dialog gestaltbar erfährt. Im Unterschied zur elitistisch-wettbewerblichen Lehre, deren Vertreter wie Max Weber, Joseph Schumpeter und Anthony Downs Demokratie als politische Methode des Wettbewerbs und der Führungsauswahl verstehen, gilt den partizipatorischen Demo-kratietheorien (Carole Pateman, Fritz Vilmar, Benjamin Barber u.a.) die Demokratie als „politische Methode und ethisches Ziel“15. Wesentliche Auffassungsunterschiede bezüglich konstituierender Merkmale von Demokratiekonzepten zwischen heute gängigen Demokratietheorien sind:
14 15
vgl. Berg-Schlosser, Dirk/Stammen, Theo 1992: 28 Bachrach, Peter 1970: 118, zit.n. Schmidt, Manfred G. 1995: 172
Kommentierte Dokumentarfilmvorführungen von normale.at
elitistisch – wettbewerbliche Lehre
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Partizipatorische Demokratietheorie
Interesse
Endergebnis
Endresultat und Prozess
Betonung
Chancengleichheit
Machtgleichgewicht
Politikbegriff, -konzept
eng begrenzt
expansionistisch
Elite-Massen-Struktur Moderner Gesellschaften
im wesentlichen unveränderbar
reformierbar
Garant für Systemstabilität und –lebensfähigkeit
Eliten
StaatsbürgerInnen-Modell
Demokratie
durch präpolitische Interessen definiert
Mechanismus, dessen Reichweite begrenzt werden sollte
Ausweitung und Vertiefung des demokratischen Prozesses zu ungleich mehr oder besserer Beteiligung befähigt oder durch angemessene Organisation des Willensbildungsprozesses dazu zu befähigen Gesamtgesellschaftlicher Prozess, in dem BürgerInnen Eingeweihte der Partizipation16 in öffentlichen Angelegenheiten sind
Tabelle 1: Gegenüberstellung zweier Demokratietheorien17 Während in den Demokratietheorien konservativer, liberaler oder zentristischer Standortgebundenheit eine geringere gesellschaftliche Reichweite von Demokratie – demokratische Herrschaft wurde bisher nur als repräsentative Herrschaft verwirklicht – festzustellen ist, bedeutet die partizipatorische und prozeduralistische Auffassung von Demokratie eine verstärkte Auseinandersetzung mit den Erwartungen aller Beteiligten. Meinungsbekundungen, Erörterungen, Aussprachen, Beratungen und Aushandeln lösen hier die Mehrheitsherrschaft ab. 16 17
Modus der Interessensfindung, des Interessensausgleichs, der Kommunikation, der Verständigung und friedlichen Einigung. vgl. Schmidt, Manfred G. 1995:169ff.
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Partizipatorische Demokratiemodelle gelten als Zielmodelle, gehen sie von weit reichenden politischen Kompetenzen, Ressourcen und prinzipieller Partizipationsbereitschaft durchschnittlich gebildeter Menschen aus. Die Vorzeichen für den weltweiten „dramatischen Übergang von einem pluralistischen und partizipatorischen Ideal der Politik zu einem autoritären und technokratischen Ideal“18 sind auffallend: Demokratie läuft Gefahr, unter dem Deckmantel der „gemäßigten Demokratie“19 zur gesellschaftlichen Legitimierung von Kontrollmechanismen zum Schutz der reichen Minderheit20 zu verkommen. In sämtlichen Massenmedien [weicht] die traditionelle Ausrichtung der Redaktionsstrukturen an der institutionellen Umwelt (...) einer stärkeren Orientierung an Sphären des Lebensstils, namentlich auch des Konsums, und seit längerem [werden] (…) auch politische Inhalte vermehrt mit unterhaltendem Gestus, 21 als sogenanntes »Infotainment« präsentiert. .
Hier setzt die Gegeninformation der „Normale“ an. Zugleich verstärken sich die Gewaltakzeptanz und die Anfälligkeit für Vorurteile gegenüber Fremden sowie für einfach-autoritäre Problemlösungen, womit wir wieder bei der Funktion und Notwendigkeit von politischer Bildung, aber auch von Medienpädagogik angelangt wä22 ren.
Vor diesem Hintergrund ist das für 2008 ausgerufene „EU-Jahr des Interkulturellen Dialogs“ sehr zu begrüßen. Denn mit Max Kaase gesprochen setzt (…) die Partizipation der Bürger [und Bürgerinnen, Anm. der Autorinnen] am politischen Prozess und an den periodisch abgehaltenen Wahlen einerseits die Fähigkeit der informierten Teilnahme am öffentlichen politischen Diskurs, mehr noch aber das Vorhandensein eines sol23 chen voraus.
18 19 20 21 22 23
Chomsky, Noam 2000: 138 Chomsky, Noam 2000: 77 vgl. Chomsky, Noam 2000: 134 Saxer, Ulrich in: Sarcinelli, Ulrich (Hrsg.) 1998: 69 Bonfadelli, Heinz ebenda: 386 Kaase, Max ebenda: 27
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2. „Normale“-Aktivitäten Unter dem Motto „Normal“ ist, was uns verschwiegen wird. „Normal“ ist, dass wir für blöd verkauft werden. Die „Normale“ räumt damit auf.
bieten die Dokumentarfilmvorführungen der „Normale“ Analysen, Erfahrungen und Hintergrundinformationen zu gesellschafts-, entwicklungs- und (welt-) wirtschaftspolitischen Entwicklungen, wobei das Gesehene x x
inhaltlich durch die Expertise von Nichtregierungsorganisationen, moderierten Publikumsdiskussionen und Filmgesprächen sowie für Kinder und Jugendliche auch medienpädagogisch durch Workshops und Rollenspiele im Großgruppenformat
aufbereitet wird. Sie stellen Fragen, zeigen Perspektiven aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen auf, weisen auf Zusammenhänge hin und laden zur Auseinandersetzung ein – ohne zu indoktrinieren. Dem Leitsatz „verstehen um zu handeln“ folgend, fokussieren die kommentierten Dokumentarfilmvorführungen der „Normale“ insbesondere auf jene Themen und Fakten, die in der kommerziellen Berichterstattung und weltweiten PR-Maschinerie einseitig dargestellt oder überhaupt ausgeblendet, von uns ferngehalten werden. Frei nach Chomsky: „Die besten Verschwörungstheorien finden sich in den Hauptabendnachrichten.“ Durch die nachhaltige Reflexion und Analyse der durch die Dokumentarfilme vermittelten Einblicke in gesellschaftliche Ordnungen und in ihnen wirkende Zusammenhänge, Kräfte und Interessen, werden auch Medienkompetenz und Kritikfähigkeit (weiter-) entwickelt. Die dadurch initiierten Diskurse ermöglichen eine differenzierende Haltung gegenüber der kommerziellen Berichterstattung, eine höhere Aufmerksamkeit für das eigene Konsumverhalten und eine bewusstere Auseinandersetzung mit der eigenen Verantwortung im Hinblick auf gesellschaftspolitische Notwendigkeiten. Vorstellungen von normale.at (bzw. in Kooperation mit normale.at) haben seit dem Jahr 2003 bislang in Programmkinos in Wien, St. Pölten, Krems, Linz, Freistadt, Landeck, Dornbirn und Oberpullendorf stattgefunden. Für Studierende und Erwachsene gab es außerdem auch Vorstellungen an (für dieses FilmGenre ungewöhnlichen) Veranstaltungsorten im Bezirk Mödling, in Graz und in Wien und neuerdings auch direkt an Schulen.
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2.1 Die Programmschiene „Junge Normale“ Die Schulvorstellungen der „Normale”, die „Junge Normale“, fördern Globales Lernen und folgen einem kritisch-reflexiven Ansatz der Medienpädagogik, dessen Problematisierungsinteresse nicht nur psychologisch, sondern auch (kultur-) soziologisch auszulegen ist24 und dem es „um die gesellschaftliche Rationalität (kulturelle Vernünftigkeit) des sozialen Mediengebrauchs bzw. um die kommunikative Rationalität der Verteilung von Gesellschaftlichkeit (Chancen, Risken, Erfahrungen, Bedeutungen, Entlastungen und Belastungen)“25 geht. Die Filmvorführungen für Schulklassen werden durch, für die jeweilige Altersklasse konzipierte, Workshops und Rollenspiele inhaltlich aufbereitet. Mit Methoden der Großgruppenanimation werden medien- und gesellschaftspolitische Zusammenhänge verdeutlicht, wodurch eine differenzierende Haltung und eine bewusste Auseinandersetzung mit der eigenen Verantwortung ermöglicht wird. Der politische Anspruch sinnvolles „Demokratielernen und Globales Lernen mit und über Medien“ begründet eine Verschränkung von Medienpädagogik und Politischer Bildung und zielt sowohl auf individuelle, wie auch gemeinschaftliche, vor allem solidarische (Mit-)Verantwortungsübernahme ab. So ist beispielsweise erfrischend, wenn nach einem für die Altersgruppe geeigneten Dokumentarfilm über die Arbeits- und Produktionsbedingungen von Kakao der inhaltliche Bogen zu unserer Schokolade gespannt wird und das Publikum im Alter von acht Jahren das „echt nicht fair“ findet. Im Weltbezug der jeweils eigenen Lebenswirklichkeit erfahren die Heranwachsenden anschaulich und konkret, wie sich ihre Handlungen auswirken und wie sie dem in ihrem Alltag entgegenwirken können. In der anschließenden medienpädagogischen Aufbereitung wird vermittelt, worin die Möglichkeiten der Manipulation und „Meinungsmache“ liegen: Seien das „Gedankenlandkarten“, Rollenspiele zur Interessenslage von Filmschaffenden und der Programmhoheit eines öffentlich-rechtlichen respektive privaten Fernsehsenders oder zu unsicheren Arbeitsbedingungen. Abgesehen von der Zusammenarbeit im Team ist die anschließende Präsentation der Überlegungen aus den jeweiligen Gruppenarbeiten coram publico mit Mikrofon auf der Bühne eine weitere Form der Selbstermächtigung. Natürlich richten sich die Großgruppenanimationen nach den räumlichen Gegebenheiten – im oben beschriebenen Fall einem Kinosaal. Sind auch zusätzliche Räumlichkeiten gegeben, arbeitet normale.at auch „hands on“ (mit Scheren, 24 25
vgl Bauer, Thomas A.: www.treffpunktethik.de/download/Bauer_MedienbildungFTBerlin.pdf Bauer, Thomas A.: www.treffpunkt-ethik.de/download/Bauer_MedienbildungFTBerlin.pdf
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Klebstoffen, u.ä. Material) und legt den Fokus stärker auf die Machart des Films (Kamera-Perspektiven, Toneffekte u.ä.) und die „Trägheit des Auges“. normale.at erarbeitet begleitendes Material für den Unterricht mit weiterführenden handlungsorientierten Vorschlägen für die Unterrichtspraxis. Dieses steht zum Download zur Verfügung und wird den teilnehmenden LehrerInnen bei Veranstaltung ausgehändigt.
2.2 „Die Normale“ für die Großen Zu den Filmvorführungen für Studierende und Erwachsene sind wir ebenfalls im Gespräch mit ExpertInnen des dritten Sektors (Nichtregierungsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen, Greenpeace oder Südwind Agentur) und kirchlichen Einrichtungen. Durch die Einbeziehung ihrer Expertise, ihrer Erfahrungen und ihrer verifizierten Informationen wird Raum für intensive Diskurse und gemeinsames Finden von Handlungsalternativen geschaffen. Das Zusammenwirken mit entwicklungs- und bildungspolitischen Einrichtungen sowie Nichtregierungsorganisationen ist ein zentraler Bestandteil zum Gelingen des Projektes. Abhängig von den räumlichen Gegebenheiten kommen partizipative Moderationstechniken wie „Open Space“, „Fish Bowl“ oder „World Café“ zum Einsatz. Podiumsdiskussionen, wie sie normalerweise mit Experten ‘oben’‚ (auf der Bühne) und Laien ‘unten’ (im Publikum) stattfinden, werden von normale.at vermieden.
2.2 Reflexion der Aktivitäten Grundsätzlich findet Politische Bildung, zunächst als Vermittlung von Wissen über Politik verstanden, überall statt, ist also prinzipiell nicht kontrollierbar26. So wird politische Informationsaufnahme als Nebenprodukt von Alltagshandlungen beispielsweise in der Wissenskluft-Forschung beleuchtet. Spricht man jedoch von institutioneller Politischer Bildung, so bezeichnet sie „eine intentionale Praxis, bei der Lerneffekte erzielt werden sollen, die es einem oder mehreren Individuen er-möglichen, die jeweiligen subjektiven Reflexionskapazitäten aus-zuschöpfen und Handlungsspielräume in Bezug auf ‘Politik’ wahrzunehmen“27. Der österreichische Grundsatzerlass „Politische Bildung in den Schulen“, dessen Entstehungsprozess sich durch Interventionen verschiedenster Interes26 27
vgl. Dachs, Herbert 1982: 11 Görg, Andreas/Matjan, Gregor in: PBZ 1996/1: 54
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sensgruppen – wie beispielsweise der Landwirtschaftskammer, Bundeswirtschaftskammer und Vereinigung österreichischer Industrieller28 – langwierig gestaltete, fordert auch in seiner jetzt gültigen Fassung von Politischer Bildung u.a. „die Überzeugung [zu wecken], daß Demokratie sich nicht in einem innerlich unbeteiligten Einhalten ihrer Spielregeln erschöpft, sondern ein hohes Maß an Engagement erfordert“29. Heranwachsende sollen also die Möglichkeit erhalten, nach Mitteln und Wegen zu suchen, um im Sinne ihrer Interessen die je vorgefundene Lage beeinflussen zu können. Unter Partizipation versteht man Teilnahme am Entscheidungsprozeß, an der Meinungsbildung und an den politischen Organisationen. Eine politische Erziehung müsste in diesem Zusammenhang vor allem Vertrauen in die Partizipationschancen und Kenntnisse über Entscheidungsprozesse im System vermitteln. (...) Politische Erziehung müsste im Zusammenhang mit Distribution des Nationaleinkommens und der Produktionsmittel sowie der Regelung der Macht- und Privilegienstruktur Normen der sozialen Gerechtigkeit und Kenntnisse über Wirt30 schaft und Machtverteilung der Gesellschaft vermitteln ,
fordert etwa Herbert Dachs. Darauf zielt auch §I, Abs. 2 des österreichischen Grundsatzerlasses ab. Feststellbar ist, dass das Unterrichtsprinzip Politische Bildung in Österreich bislang nur punktuell umgesetzt wird, „Zufall und eine Art Pointilismus dominieren“31. „Alle Untersuchungen und Erfahrungen laufen [aber] auf die betrübliche Einschätzung hinaus, dass sich damit32 weder quantitativ noch qualitativ Entscheidendes geändert hätte“33. Dies ist besonders auch in der Sekundarstufe I erlebbar. Konstruktivistischen und neurowissenschaftlichen Ansätzen bzw. Methoden entsprechend (vgl. etwa Kersten Reich34, Reinhard Voß35 und Ulrich Herrmann36) werden herausfordernde, kooperative, verständnisvolle und kreative (Lern-) Prozesse mit Möglichkeiten zur aktiven Verarbeitung initiiert – durch wahrnehmen, analysieren und in Sprache bzw. Planung umsetzen und mit anderen in Dialog treten (etwa um Handlungsmöglichkeiten abzuwägen), vergrößern
28 29 30 31 32 33 34 35 36
Wolf, Andrea (Hrsg.) 1998: 221ff GZ 33.464/6-19a/78, II.2 Dachs, Herbert 1982: 382 Dachs, Herbert in: ÖZP 1996/1: 12 mit der Entscheidung, politische Bildung als Unterrichtsprinzip zu verankern; Anm.d.Verf.in Dachs, Herbert in: ÖZP 1996/1: 16 Reich, Kersten 2006 Voß, Reinhard 1998, 2002 Herrmann, Ulrich 2006
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sich die Chancen zur Partizipation an der Lebenswelt37 – motiviertes und erfolgreiches Lernen (um „trägem Wissen“ vorzubeugen) kann stattfinden38. Der offene, wertschätzende Kommunikationsstil der „Normale“Filmbegleitung bietet Ansatzpunkte für eine weit reichende, themenverbindende und nachhaltige Auseinandersetzung mit unserer Welt, in der man nicht umhin kann, unterschiedliche Aspekte zueinander in Beziehung zu setzen. normale.at trägt damit dem stetig steigenden Bedarf an Orientierung, Bewertung und Hilfe zur eigenständigen Urteilsbildung Rechnung. Neben der Auseinandersetzung mit medienspezifischen Codierungen wird den Heranwachsenden die Chance der Beschäftigung mit der Frage des politischen Handelns, der Herstellung von Politik selbst, wie auch der Darstellung von Politik gegeben.
3. „Normale“ Ziele Die „Normale“ trägt zum Diskurs mit dem Ziel bei, argumentierte Meinungsbildungsprozesse zu initiieren und das Verständnis für regionale Problematiken im globalen Kontext sowie die Rezeptionsfähigkeit zu schärfen. Die Auseinandersetzung mit weltweiten Normalitäten mithilfe des kommentierten, bewegten Bildes macht die eigene Mitverantwortung bewusst, aber eben auch die Möglichkeiten zur persönlichen Mitgestaltung sichtbar, wodurch eine informierte Gesellschaft demokratische Alternativen entwickeln kann. Das „Normale“-Projekt will der Un-Informiertheit entgegenwirken sowie vorhandenes Teil-Wissen in größerem Zusammenhang einbetten, indem mittels Dokumentarfilmen und Aufarbeitung des Gesehenen etwaige Missverständnisse ausgeräumt, Handlungsoptionen aufgezeigt und Handlungsspielräume erweitert werden. Zu dieser Ermächtigung will das Projekt „Die Normale“ durch Beteiligung, Lern- und Aufklärungsprozesse („self-transformation“) beitragen. Hier erfahren sich Menschen als AkteurInnen ebenso wie als UrheberInnen ihres Geschicks39.
37 38 39
vgl. Reich, Kersten 2006: 267ff vgl. Reich, Kersten 2006: 153ff und Herrmann, Ulrich (Hrsg.) 2006: 9f vgl. Kitzmüller, Erich in: Kramer, Helmut (Hrsg.) 1995: 120
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Observatoire français des médias, Aufruf gegen die Kontrolle der Medien durch die Waffenproduzenten Dassault und Lagardère und durch Finanzgruppen in Frankreich www.observatoiremedias.info/article.php3?id_article=202&lang=de Zur „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (kurz: INSM): Studie der Hans Böckler-Stiftung, Deutschland www.boeckler.de/pdf/fof_insm_studie_09_2004.pdf (PDF, 668kb) „Lautsprecher des Kapitals“ von Götz Hamann in „Die Zeit“, Deutschland www.zeit.de/2005/19/insm „Revolution von oben“ von einem anonymen Unternehmer in „Stern“, Deutschland www.stern.de /wirtschaft/unternehmen/magazin/index.html?id=517691&nv=ct_cb' Zur „Normalen“: www.normale.at, www.waschmann.net
Autoren, Autorinnen und Herausgeber/in
Jun. Prof. Dr. Anja Besand: Alles in Watte packen? Politische Bildung zwischen medialer Über- und medialer Unterforderung Pädagogische Hochschule Ludwigsburg:
[email protected] M.A. Christian Berger: Kindern eine mediale Stimme geben – Nachwuchs für den Citizen Journalism? Pädagogische Hochschule Wien:
[email protected] M.A. Edith Blaschitz: Zwischen re-orientation und „Kampf gegen Schmutz und Schund“. Österreichische Kinder- und Jugendmedien in der Nachkriegszeit (1945-1960) Donau-Universität Krems:
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[email protected]; Freie Universität Berlin:
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[email protected] Robert Ferguson: Re-cognising the political in the pedagogy of media education: the carnival is over. University of London:
[email protected] Dr. Arnold Fröhlich: „Mission accomplished“ – Manipulierte Bilder machen Politik
[email protected] Autoren, Autorinnen und Herausgeber/in
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Prof. Dr. Brigitte Hipfl/Prof. Dr. Theo Hug/Prof. Dr. Dorothee Meister/ Prof. Dr. Heinz Moser/Prof. Dr. Werner Sesink: Medienpädagogik, Politik und politische Bildung - eine notwendige Standortbestimmung Alpen-Adria-Universität Klagenfurt:
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[email protected] Barbara Waschmann/Renate Schreiber: Verstehen um zu handeln. Kommentierte Dokumentarfilmvorführungen von normale.at
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