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Ethik und Ästhetik bei Fichte und Sartre Eine vergleichende Studie über den Zusammenhang von Ethik und Ästhetik in der Transzendentalphilosophie Fichtes und dem Existenzialismus Sartres
Fichte-Studien-Supplementa Band 23
im Auftrage der Internationalen Johann-Gottlieb-Fichte-Gesellschaft in Zusammenarbeit mit dem Istituto Italiano per gli Studi Filosofici herausgegeben von Helmut Girndt (Duisburg) Wolfgang Janke (Wuppertal) Wolfgang H. Schrader (†) (Siegen) Hartmut Traub (Mülheim a. d. Ruhr)
Lucia Theresia Heumann
Ethik und Ästhetik bei Fichte und Sartre Eine vergleichende Studie über den Zusammenhang von Ethik und Ästhetik in der Transzendentalphilosophie Fichtes und dem Existenzialismus Sartres
Amsterdam - New York, NY 2009
Fichte-Studien-Supplementa Die Supplementa zu den Fichte-Studien präsentieren Forschungen zur Geschichte und Systematik der Transzendentalphilosophie. Es werden in diesem Rahmen umfangreichere Untersuchungen veröffentlicht, z.B. Monographien, Dissertationen und Habilitationsschriften, die dem Verständnis der Transzendentalphilosophie dienen oder ihre Erneuerung und Weiterentwicklung voranbringen können.
Bildnachweise: J.G. Fichte, Kohlezeichnung von F. Bury, 1800. Archiv für Kunst und Geschichte, Berlin. Portrait von Jean-Paul Sartre (1939). Fotografie von Gisèle Freund. Freundliche Genehmigung des Abdrucks von der Bibliothèque nationale de France. Die Reproduktion der broncierten Leibniz Büste: ©„Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek“, „Niedersächsische Landesbibliothek Hannover“ Typographie und Satz: Christoph Asmuth (Berlin) The paper on which this book is printed meets the requirements of “ISO 9706:1994, Information and documentation - Paper for documents Requirements for permanence”. ISBN-13: 978-90-420-2590-5 ©Editions Rodopi B.V., Amsterdam-New York, NY 2009 Printed in The Netherlands
Für Dieter
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde unter dem Titel »Ethik und Ästhetik bei Sartre und Fichte. Eine vergleichende Studie über den Zusammenhang von Ethik und Ästhetik in der Transzendentalphilosophie Fichtes und dem Existenzialismus Sartres« vom Fachbereich 3 der Universität-Siegen 2006 als Dissertation angenommen. An erster Stelle ist mit dieser Arbeit Herrn Prof. Schrader † mein ehrendes Andenken gewidmet. Ihm gilt mein Dank für die Anregung dieser Arbeit und für die profunden Kenntnisse, die er mir kurz vor seinem viel zu frühen Tod vermittelt hat. Für die Unterstützung bei der Auswahl und Auswertung des Materials sowie bei der Herstellung des Manuskriptes danke ich Frau Prof. Düsing und vor allem Frau PD Dr. Lohmann, die mir zur Auswertung der Philosophie Fichtes stetigen Beistand geleistet hat. Zu Philosophie, Literatur und Ästhetik Sartres gilt auch mein besonderer Dank der Société Sartrienne in Paris. Prof. Roloff, der meine Dissertation beständig und durchgängig begleitet hat und mich dabei wohlwollend beriet, gebührt mein ganz besonderer Dank. Ohne aufmunternden, verständnisvollen und geduldigen Beistand meiner Familie, insbesondere meines Mannes Hans-Dieter bei der Korrekturlektüre und den wertvollen italienisch-deutschen Verständnis- und Übersetzungshilfen meines Sohnes Eike Johannes und zum Schluss die wertvollen Korrekturhinweise Prof. Marco Ivaldos wäre das Projekt nicht entstanden. Ganz besonders danken möchte ich auch der Internationalen-JohannGottlieb-Fichte-Gesellschaft für die Aufnahme dieser Arbeit in die Supplementa-Reihe der Fichte-Studien. Für die Genehmigung der Abbildung Sartres auf der Titelseite danke ich der Bibliothèque nationale de France.
Inhaltsverzeichnis Vorwort...............................................................................................................................VII Einleitung ..............................................................................................................................1 Teil 1: Selbstbewusstsein, Intersubjektivität und Ethik bei Sartre und Fichte.................................................................................................25 1. Theorien des Selbstbewusstseins bei Sartre und Fichte..................................................28 2. Sartres und Fichtes Lehre vom Wissen des Wissens von sich und dem Anderen ......41 2.1. Fichtes Theorie der Aufforderung und Sartres Konzept des anderen...............41 2.1.1. Die transzendentalphänomenologische Analyse der Reflexion und ihr Bezug zur Intersubjektivität ..........................................................64 2.1.2. Die ethisch-theoretische Dimension der Blickanalyse in der Transzendentalphänomenologie Sartres ....................................................72 2.1.3. Die Aufforderung in der Transzendentalphilosophie Fichtes..................79 3. Intersubjektivität und Ethik als Konstitutionsprinzip des Selbstbewusstseins............81 3.1. Die ethische Intersubjektivitätstheorie Fichtes ...................................................82 3.2. Die ethische Intersubjektivitätstheorie Sartres ...................................................86 3.2.1. Konstruktionsvoraussetzungen der Wertetheorie Sartres ......................100 4. Die theoretischen Grundlagen der Ethik und Ästhetik bei Fichte und Sartre..........107 4.1. Die Grundlegung der Ästhetik..............................................................................112 4.2. Der ästhetische Zustand und seine Vermittlung................................................114 4.3. Rousseau und das ethisch-ästhetische Erziehungsmodell Fichtes ..................118
Teil 2: Sartres Ästhetik und Ethik...........................................................................125 1. Sartres Bestimmung der Einbildungskraft......................................................................129 1.1. Der Begriff des Kunstwerks...................................................................................132 2. Sartres ethisch-ästhetische Position im Spiegel der Ethik und Ästhetik der Redekunst Schillers und Fichtes .............................................................................137 3. Literatur und Engagement ...............................................................................................142 3.1. Der ethische Appellcharakter der Literatur........................................................148 3.2. ›Psychanalyse existentielle‹ und Sozialgeschichte der Literatur .......................151 4. Ethik und Ästhetik des »Homme créateur« ...................................................................155 4.1. Subjektivität und Imagination .............................................................................159
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Inhaltsverzeichnis
4.2. Mythologie als eine Form von Ästhetik und Ethik am Beispiel Sartres schriftstellerischer Existenz ..................................................................................162 4.3. Sartres Autobiographie Les Mots .........................................................................165 4.4. Sartres Existenzerfahrung aus ethisch-ästhetischer Perspektive ....................169 5. Sartres Theatertheorie ......................................................................................................169 5.1. Gattungspoesie und Rezeptionsästhetik im Drama Les Mouches....................179 5.2. Die ethische Bedeutung von Les Mouches und ihre ästhetische Vermittlung ........................................................................................184 6. Die philosophisch-intersubjektive Bedeutung von Sartres Produktionsästhetik .....188 6.1. Huis Clos, das Trio Infernale oder Die Hölle, das sind die Anderen .................193 6.2. Sartres ästhetische Konzeption des Spiels .........................................................202 7. Die funktionale Äquivalenz von Ästhetik und Ethik in Sartres Kunstbegriff ..........208 7.1. Sartres Bestimmung der Kunst.............................................................................211 7.2. Die ethischen Implikationen in der Ästhetik des Künstlerportraits ...............214 7.3. Produktionsästhetik und Rezeptionsästhetik in Sartres Tintoretto-Studien ....................................................................................219 8. Nachwort ...........................................................................................................................229
Literaturverzeichnis......................................................................................................241 1. Schriften von Johann Gottlieb Fichte..............................................................................241 1.1. Werkausgaben..........................................................................................................241 1.2. Einzeltitel..................................................................................................................241 2. Schriften von Jean-Paul Sartre.........................................................................................242 3. Weitere klassische Werke .................................................................................................245 4. Sekundärliteratur...............................................................................................................245 4.1. Lexika / Nachschlagewerke...................................................................................245 4.2. Monographien und Aufsätze zu Fichte und Sartre............................................245 5. Abbildungen........................................................................................................................254
Einleitung Ein Vergleich der ethisch-ästhetischen Implikationen in den theoretischen wie praktischen Konzepten Fichtes und Sartres, wie er in dieser Studie erfolgt, scheint zunächst wegen der kulturhistorischen Differenz und der unterschiedlichen systemischen Verortung abwegig zu sein. Bisher gibt es noch keine Studie, die den Konnex zwischen ethisch-ästhetischen Perspektiven in den jeweiligen Konzepten vollzogen hat, obwohl sich der kontrastive Vergleich zwischen ihren ethisch-ästhetischen Konzeptionen direkt anbietet. Gerade im Kontext der aktuellen Forschungen über Fichte und Sartre ist er jedoch gerechtfertigt. So könnte die Bemerkung von Jacqueline Russ »La révolte contre le monde du déterminisme, la volonté de déloger lʹego, lʹimage, lʹémotion, de la conscience, de »désubstantialiser« cette dernière, de la rendre à la translucidité, à sa transparence première, voilà ce qui anime la recherche philosophique de Sartre«1 ebenso auch für Fichte gelten. Unsere Untersuchung nimmt sich daher vor, den Zusammenhang von Ethik und Ästhetik beider Denker kontrastiv zu erforschen. Zur Ästhetik Sartres2 liegen zahlreiche Untersuchungen vor, die ethische Implikationen zum Gegenstand haben, während es zur Ästhetik Fichtes bisher wenig Forschungsliteratur gibt.3 Sartres Existenzialismus zur Fichteschen Transzendentalphilosophie liefert auch hinsichtlich der ethisch-
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Jacqueline Russ, »Lʹoffensive existentialiste«, in: magazine littéraire N°7, Hors-Série, Jean-Paul Sartre, »la conscience de son temps«, Paris 2005, pp. 17-22, hier: p. 18. Deutsch: Die Auflehnung gegen die Welt des Determinismus, der Wille, das Ego zu entorten, das Bild, das Gefühl, das Bewusstsein, letzteres zu seiner Substanz zu entheben, es der Transluzenz zurück zu geben, seiner allerersten Transparenz, das ist es, was Sartres philosophische Forschung animiert. (Diese und alle weiteren Übersetzungen vom Französischen ins Deutsche sind von der Verfasserin dieser Arbeit vorgenommen worden.) In Italien ist 1997 (Milano) von Luigi Pareyson eine Studie über Fichtes Ästhetik geschrieben: »Lʹestetica di Fichte.« Heiner Wittmann, LʹEsthétique de Sartre, Artistes et Intellectuels, Paris 2001, ursprünglich Inauguraldissertation, »Sartre und die Kunst. Die Portraitstudien von Tintoretto bis Flaubert«, Tübingen 1996.
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ästhetischen Implikationen deutliche Symmetrien, die er in seinen philosophischen, vor allem aber ästhetischen Schriften explizit verarbeitet, eine Tatsache, die den Existenzialismus immer noch als eine moderne, sachhaltige Philosophie ausweist. Im rezeptionsästhetischen Teil der Untersuchung wird im Rekurs auf die philosophisch-ästhetischen Ergebnisse versucht, den Nachweis der Gedankenverwandtschaft beider Denker zu führen. In dieser Arbeit wird das Problem der Verantwortung für den Anderen in Sartres Existenzialismus unter philosophischen und ästhetischen Gesichtspunkten kritisch erörtert. Während Sartre-Interpreten wie PlantyBonjour4 und Schadel5 Sartres Freiheitsbegriff im Rekurs auf seine ontologischen und phänomenologischen Bestimmungen diskutieren, wirft unsere Untersuchung die Frage auf, inwieweit mit Sartres Freiheitsbegriff die Verantwortung für den Anderen vereinbar ist. Fleischer zufolge führt der monadologische Charakter von Sartres Freiheitsbegriff dazu, dass »die Verantwortlichkeit für den Anderen im Handeln [...] in Sartres Existenzialismus [ein] Problem [darstellt], das in ihm nicht zureichend gelöst werden kann.«6 Wir sind nicht derselben Ansicht wie Fleischer, die dieses Problem erst mit der Integration des Existenzialismus in den Marxismus für lösbar hält. Demgegenüber lässt sich aber zeigen, dass sich bereits mit der von Sartre in L’Être et le néant am Beispiel des Existenzials der Scham exemplifizierten Analyse des Blicks der Freiheitsbegriff Sartres keineswegs ausschließlich monadologischen Charakter besitzt. In Verbindung mit den entsprechenden Parallelitäten zu den Textstellen Fichtes lässt sich zeigen,
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Die jüngsten Forschungsergebnisse zur Ästhetik Fichte liegen mir von Petra Lohmann vor: »Die Funktionen der Kunst und des Künstlers in der Philosophie Johann Gottlieb Fichtes«, in: Fichte-Studien Bd 25, Amsterdam-New York, NY 2005, pp. 113- 132. Guy Planty-Bonjour, »Sartres Begriff der menschlichen Freiheit«, in: Perspektiven der Philosophie XI, 1985, pp. 36 – 49. Erwin Schadel, »Sartres Dialektik von Sein und Freiheit«, in: Theologie und Philosophie, 62, 1987, cf. hierzu insbesondere: Roland Bréeur, »Verantwoordelijkheid en ethiek«, in: Bernahrd van Huffel, Winfred Segers, Hgg., Sartres verjaadagen. Giften en gaven. Leuven 2005, pp. 25-35. Margot Fleischer, »Die Verantwortlichkeit für den Anderen im Handeln«, in: Philosophisches Jahrbuch 93. Jg. 1986, p. 165.
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dass Sartre dort im Gegenteil vielmehr eine ursprüngliche Beziehung von Ich und fremdem Ich thematisiert, die für das Bewusstsein des An-sichseins des Ich grundlegend ist. Aus der Thematisierung dieser ursprünglichen Beziehung, so unsere These, lässt sich ungeachtet der Gefahr der ›Ausblutung‹ in das fremde Alter Ego, die mit dem Erblicktwerden durch den Anderen einhergeht, bereits eine erste rudimentäre Bestimmung von Verantwortung für den Anderen gewinnen.7 Der existenzialistische Akzent in Fichtes transzendentalem Ideal-Realismus und der idealistische Akzent im Existenzialismus Sartres werden aufgegriffen, um zu prüfen, in welcher Form sich der Nexus von Ethik und Ästhetik innerhalb ihrer Modelle intersubjektiv äußert. Da die Ästhetik im Zusammenhang mit der Ethik in Fichtes Konzept8 eine notwendige Bestimmung des menschlichen Geistes ist, liegt es nahe, gemäß der insgesamt unter ethischen Prämissen stehenden Philosophie Fichtes auch die einzelnen Teildisziplinen, wie z.B. die Ästhetik, unter ethischen Vorgaben zu interpretieren. Da beide Autoren hinsichtlich der ethischen Fundierung der Intersubjektivität im Selbstbewusstsein vergleichbare Resultate auf der theoretischen Ebene gewinnen, lässt sich daraus unsere These formulieren, dass die Rolle der Ästhetik von beiden Denkern aufgrund ethischer Implikationen so bestimmt wird, dass sie die durch sie bestimmte Intersubjektivität auf praktischer Ebene zum Vorschein bringt. Weil Ästhetik bei beiden Autoren nicht einen Selbstzweck darstellt, sondern eine heraus-
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Fleischer macht die Begründung ihrer These an Sartres Freiheitsbegriff fest. Sie rekurriert darauf, dass bei Sartre die Existenz mit der Freiheit gleichgesetzt wird. Die Freiheit ist nicht irgendeine kontingente Eigenschaft des Menschen, sondern das Sein des Menschen ist nur dann gewährleistet, wenn dieser sich auf irgendeine Möglichkeit hin frei entwirft. In dem Sich-entwerfen auf seine Möglichkeiten drückt sich die Wahl seiner Möglichkeiten aus. Da Sich-wählen und Sein für den Menschen ein und dasselbe sind, reicht es nicht, wenn er sich nur hin und wieder auf eine Möglichkeit hin entwirft, sondern, um zu existieren, ist er nach Sartre gezwungen, sich permanent selbst zu wählen. Da dieser Entwurf nur ohne Vorbedingung geschieht, d.i. den unbedingten Charakter der Freiheit hat, ist der Mensch für den Entwurf seiner selbst absolut verantwortlich und kann weder Gott noch den Einfluss der Anderen für seine Wahl geltend machen. Die Ästhetik wird von Fichte wegen der Rangordnung seiner Untersuchungsgegenstände zunächst vernachlässigt. Kunst ist bei Fichte Mittel. Um es aber als Mittel auszuweisen, muss es als Bedingung der Möglichkeit des Selbstbewusstseins ausgewiesen werden. Daher die Begriffe Vernunftkunst, Kunstfertigkeit u.a.
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ragende Rolle für die Bildung der Menschen spielt, wird die ethische Position Sartres und die damit verbundene Vorstellung von Ethik in der Menschheitsgeschichte einen Untersuchungsschwerpunkt dieses Abschnitts bilden. Grundsätzlich wird in den Forschungsbeiträgen der Systemcharakter der Ethik in Sartres Philosophie bisher nicht in seinen transzendentalphilosophischen Wurzeln erfasst. In der vorliegenden Arbeit soll daher auch aufgezeigt werden, inwieweit sich der Vorwurf der mangelnden Fundierung der ethischen Aussagen in Sartres Philosophie, der sich in der gegenwärtigen Forschungsliteratur insgesamt widerspiegelt9, überhaupt halten lässt. Innerhalb unserer Arbeit wird die Untersuchung nach Philosophie (Teil 1) und Ästhetik (Teil 2) aufgeschlüsselt, um anhand der aus philosophischer Perspektive vorgenommenen Untersuchung der letzteren zu zeigen, dass nicht nur schon in der Frühphilosophie Sartres die Ethik fundiert ist, sondern dass sie Sartres gesamtes Schaffen tragend bestimmt. Anhand ausgewählter ästhetischer Produktionen werden wir untersuchen, inwieweit die praktische Ethik im Konzept Sartres in seinen ästhetischen Produktionen zum Tragen kommt. Diese Studie beabsichtigt, die an die Existenzphilosophie Sartres erhobene Kritik des Solipsismus bzw. der Monadologie zu entkräften, welche jedweden ethischen Gehalt der Existenzphilosophie Sartres und seiner Li-
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Études Germanique. Revue trimestrielle de la Société des Études Germaniques 65, Nr. 1 2001. F. Fischbach et J.-M. Valentin, »Présentation«, p. 3; Franck Fischbach, »Fichte et les deux sources de lʹIdéalisme allemand«, pp. 5-29; Luc Vincenti, »De la Grundlage à la Nova methodo: lʹintuition intellectuelle comme fondement du système«, pp. 31-45; Stéphane Haber, »Les limites de lʹintersubjectivisme fichtéen«, pp. 47-60; Marc Maesschalk, »Communauté morale, convictions communes et temporalité. De Fichte à Rorty«, pp. 61-80; Jean-Christophe Goddard, »Réduction aléthologique et projection dans la Doctrine de la science de 1804«, pp. 81-95; Daniel Breazeale op. cit.; cf. Tom Rockmore, »Fichte et Sartre, ou Sartre fichtéen?« in: Ives Raddrizziani, Hg., Fichte et la France,. Bd 1. Fichte et la philosophie française:nouvelles approches, Paris 1997; Grégory Cormann, »Le problème de la solidarité: De Durckheim à Sartre, in: Études sartriennes«, Nr.10, 2005, pp. 77-110; Philppe Cabestan, »Une liberté infinie?«, in: Renaud Barbaras, Hg., Sartre, désir et liberté, Paris 2005, pp. 19-40. Raul Fornet Bétancourt, »Sartres ethischer Entwurf«, in: ders., Jean-Paul Sartre zum 100. Geburtstag, Aachen 2005, pp. 55-73. Es sind auch im Internet zahlreiche Beiträge zu finden, die Sartres Schriften grundsätzlich jeden ethischen Gehalt absprechen, auf die wir aber hier nicht näher eingehen werden.
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teratur vollständig zurückweist. Es soll der Nachweis des Aktualitätscharakters Fichteschen Denkens erbracht werden, denn die konstituierenden Elemente seiner Transzendentalphilosophie lassen sich, vermittelt über die Phänomenologie, in der Existenzphilosophie auffinden. Im Wesentlichen ist daran gedacht, die Fichte- und Sartreforschung voranzubringen, indem im Rekurs auf den Konnex zwischen Ethik und Ästhetik in der Philosophie Fichtes die ethisch–ästhetischen Implikationen in der Philosophie und Literatur Sartres nachgewiesen werden sollen. Umgekehrt lässt sich in Bezug auf die Fichteforschung zeigen, dass man Fichtes Philosophie nicht nur philosophiehistorisch angehen, sondern auch für die Lösung aktueller philosophisch-praktischer Fragen fruchtbar machen kann. So zeigt Wildenburg in ihrer jüngst erschienenen Inauguraldissertation, dass zwischen der Philosophie Fichtes und Sartres zwar eine hochgradige Parallelität in der Lösung der Frage nach dem Selbstbewusstsein auffindbar sei, nach der die Philosophie Sartres selbst sogar als »Idealismus« bezeichnet werden könnte. In ihrer Studie kommt sie aber zu dem Ergebnis, dass in Sartres Frühwerk Lʹêtre et le néant kein fundierter ethischer Inhalt zu bestimmen sei, da sich aus der Ontologie grundsätzlich keine Ethik herausfomulieren lasse.10 Im Blick auf die moralphilosophische Aussage Sartres in seinem Werk Les Mouches kommt Fleischer zu dem Schluss, die Tat des Protagonisten Orest habe ausschließlich monadologische Bedeutung und sei daher keineswegs von der ethisch fundierten Entschlusskraft des Handelnden getragen.11 Um die ethischen Implikationen im Werk Sartres zu be-
10 Dorothea Wildenburg, »Ist der Existenzialismus ein Idealismus?«, Amsterdam, New York 2003, p. 13; Daniel Breazeale, »Vom Idealismus zum Existenzialismus Direttissima: Fichte/Sartre«, in: Helmut Girndt, Hg., Fichte Studien 22, Amsterdam/ New York NY, 2003, pp. 171-193; ders., »Why Fichte now?«, in: The Journal of Philosophy 1991, pp. 524-531, ders. »Zurück zur Zukunft. Über die Relevanz der Wissenschaftslehre(n) für das Einundzwanzigste Jahrhundert«, in: Fuchs, Ivaldo, Moretto, Hgg., Der transzendental-philosophische Zugang zur Wirklichkeit, Beiträge zu Fichte, Stuttgart, Bad-Cannstadt 2001 2001, pp. 589 sqq. 11 Aufgrund der Nicht-Substantialität des Ego wurde beiden Philosophen von ihren zeitgenössischen Kritikern der Vorwurf des Solipsismus gemacht. In Sartres Philosophie stellt sich der gleiche Grundgedanke dar wie bei Fichte: Das Objekt, die Welt entspringt aus jener Dialektik, in der das Subjekt absolut existiert, sofern es als reflektierendes die Negation in sich trägt. Aber das Theoretische stellt sich weder für Fichte noch für Sartre als ein bloßes Erkennen, Vernehmen und Anschauen dar, sondern als Tun. Und damit ist zugleich das Zentrum Sartres wie Fichtes ge-
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leuchten, wird in dieser Arbeit die Frage nach der ethischen Fundierung in Sartres Selbstbewusstseinstheorie sowie seiner Intersubjektivitätstheorie gestellt, um den Nachweis zu erbringen, dass bei Sartre, ähnlich wie bei Fichte, die Intersubjektivität ethisch-ästhetisch fundiert ist. Wir wollen nachweisen, dass die Ethik auch in Sartres Philosophie wie in Fichtes Transzendentalphilosophie eines der drei konstitutiven Elemente seiner Existenzphilosophie darstellt, obgleich sie bei Sartre – kulturhistorisch bedingt – stärker als bei Fichte ästhetisch verortet wird. Zwar sind neben diesen Studien vergleichende Arbeiten über Sartre und Fichte vorhanden, z.B. Gegenüberstellungen der Selbstbewusstseinstheorien Fichtes und Sartres. So versucht die aktuelle Fichteforschung, die Transzendentalphilosophie auch für die Moderne fruchtbar zu machen. Hübner vergleicht Sartre mit Fichte und kommt zu dem Schluss, dass Sartres Rekurs auf das Cogito demjenigen Fichtes ähnlicher sei als dem Descartes. Die Auffassung der Nicht-Substantialität des Bewusstseins, die in Sartres Formel »Die Existenz geht der Essenz voraus« zum Ausdruck kommt, vergleicht er mit der Theorie Fichtes vom Ich als freier Tathandlung, die ebenfalls substanzlos, in ihrer Existenz der Essenz vorausgehend, gedacht werden muss. Im Streben des Ich, seine Gespaltenheit zu überwinden und reine Identität zu werden, stellt Hübner die »größte Verwandtschaft mit Sartres In-der-Welt-Sein« heraus.12 Frank ist der Ansicht, dass die Reflexivität des Selbstbewusstseins in einem Präreflexiven gründe, wonach erstens schwer zu identifizieren sei, was wir mit dem Begriff ›Ich‹ meinen und dem zweitens, wie auch dem Begriff des ›absoluten Ich‹ bei Fichte, kein überzeugender epistemischer Modus zugewiesen werden kön-
troffen. Bewusstsein, Leben und Freiheit, das heißt für beide immerwährende Dynamik, ununterbrochene Tätigkeit, nicht aufhörendes Streben. Das Theoretische ist nur aus dem Praktischen zu erklären. Sartre dazu: »Cʹest la liberté pratique qui se trouve en sʹengageant. Nous aurons à nous demander sʹil ne faut pas revenir à ce moment comme à la source de tout éthos«, in: Sartre, »Morale et histoire«, in: Les Temps Modernes, Notre Sartre, Sartre Inédit, 60. Jg., N°632, 633, 634, Paris 2005, pp. 268-414, hier: p. 358. Deutsch: Es handelt sich um die praktische Freiheit, die sich einfindet, indem man sich engagiert. Wir werden uns zu fragen haben, ob man nicht auf dieses Moment als Ursprung allen Ethos zurückkommen muss. 12 Cf. Kurt Hübner, »Fichte, Sartre und der Nihilismus«, in: Sonderdruck aus der Zeitschrift für Philosophische Forschung, X/1, Meisenheim 1956.
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ne.13 Lauth weist ebenfalls auf die Ähnlichkeiten zwischen den Theorien Sartres und Fichtes hin. In einem 1960 gehaltenen Vortrag konstatiert er einen Aspekt, der von Hübner bereits bekannt ist: »Sartres Satz ›Lʹexistence précède notre essence‹ ist ganz im Geiste der Wissenschaftslehre gesprochen.«14 In seinem Aufsatz über Unbearbeitete Probleme der Fichteschen Philosophie heißt es: »Heute werden sehr viele Fichtesche Erkenntnisse für solche Hegels gehalten, obwohl Hegel sie nur von Fichte übernommen hat. Das gilt auch für spätere Philosophen. Man möchte nur einmal genau wissen, was bei Sartre von Fichte stammt, gleichgültig, ob Sartre es von ihm direkt oder andere bezogen hat.«15 Levinas spielt in einer Anmerkung auf diesen Ausgangspunkt an: Beide, Fichte und Sartre, »denken, dass alles, was im Subjekt ist, bis hin zum Subjekt selbst, auf eine Setzung zurückgeht, die eben diesem Subjekt verdankt wird.«16 Tatsächlich machen sowohl Fichte als auch Sartre das Subjekt – genauer gesagt: das Selbstbewusstsein – zum Ausgangspunkt ihrer philosophischen Konzepte. Habermas stellt Sartre mit Fichte ebenfalls in eine Linie, und zwar im Bezug auf die Freiheitslehre beider Philosophen: »Ce qui est vrai avant tout de la compréhension existentialiste de la liberté qui – dans la lignée de Fichte et de Kierkegaard – manifeste un élément de la compréhension de soi moderne, dans sa version radicale.«17 Gegenüber Studien, die Einzelaspekten innerhalb beider philosophischer Konzepte nachgehen, indem sie angesichts einzelner analoger Merkmale in den jeweiligen Frühschriften der beiden Philosophen danach fra-
13 Cf. Manfred Frank, Selbstbewußtseinstheorien von Fichte bis Sartre, Frankfurt am Mainz 1993, p. 588. 14 Cf. Reinhard Lauth, Transzendentale Entwicklungslinien von Descartes bis zu Marx und Dostojewski, Hamburg 1989, pp. 147 sqq. 15 Cf. Reinhard Lauth, op. cit., p. 1981b, p. 578. 16 Emanuelle Levinas, Humanismus des anderen Menschen, Hamburg 1989, p. 74. 17 Jürgen Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt am Main 1991, p. 157. Deutsch: Was vor allem im existenzialistischen Verständnis der Freiheit wahr ist, und – in der Reihe von Fichte bis Kierkegaard – ein Element des Verständnisses des modernen Sich manifestiert, in seiner radikalen Version. Auf der Sartre-Konferenz 2006 stellt Manuela Sorge die Parallelität des Konzepts der ›Angst‹ bei Sartre und Kierkegaard vor, das in seiner inhaltlichen Bilanz – unabsichtlich – sehr an die Schlussfolgerungen erinnert, zu denen Edith Düsing in ihrem Vortrag über Fichte und Kierkegaard gelangt.
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gen, ob der Existenzialismus nicht eher ein Idealismus sei,18 geht es in unserer Arbeit nicht um den Nachweis der Transzendentalphilosophie Fichtes und des Existenzialismus Sartres als zwei simultane, philosophische, Strömungen. Während Wildenburg in diesem Sinne beide Konzepte kontrastiert, um zu zeigen, dass der Existenzialismus eine Art ›Pseudo-Idealismus‹ sei und dass die Fichtesche Transzendentalphilosophie von daher ihrem Gehalt nach wegen ihrer Ähnlichkeit mit dem Existenzialismus eine aktuelle, moderne Philosophie darstellt, gehen wir in dieser Arbeit einen Schritt weiter und nehmen unseren Ausgang von dem Gedanken, dass Ethik ohne Selbstbewusstsein und die ontologisch verankerten Strukturelemente im komplexen Bezugsfeld der Intersubjektivität gar nicht möglich ist. Ethik ohne Selbstbewusstsein ist paradox19, Selbstbewusstsein ohne Ethik völlig undenkbar.20 Der von Fichte in seiner Wissenschaftslehre von 1797/98 formulierte Satz, dass in ihrem Geistgehalt intellektuelle Anschauung und »Sittengesetz« als gleichursprünglich – d.i. ein Wesen – gewusst werden, ist in den jüngst erschienen Arbeiten von Pong21 und Lohmann22 untersucht worden. Beide Arbeiten unterstützen diesen Gedanken, indem sie zeigen, dass Fichte in der WL1794 bereits im theoretischen Teil seiner Philosophie durchaus konstitutive Elemente des Selbstbewusstseins formuliert, mit deren Bedeutungsgrundlegung er unzweideutig darauf hinweist, dass die Tathandlung als unmittelbare Selbstsetzung ohne das »Sit-
18 Dorothea Wildenburg, op. cit. 19 Cf. Wilhelm Metz, »Freiheit und Reflexion in Fichtes Sittenlehre von 1798«, in: Christoph Asmuth, Wilhem Metz, Hgg., Fichte-Studien Nr. 27, Die Sittenlehre J.G. Fichtes 1798-1812, Amsterdam/New York, NY, 2006. 20 Wir verweisen hier darauf, dass diese Beziehung von Selbstbewusstsein und ethischer Haltung nach Kohlberg und Piaget eindimensional verläuft. Aber Piaget erklärt nicht das Zustandekommen des Selbstbewusstseins, sondern den Entwicklungsverlauf von kognitiven Strukturen, deren Komplexität die Voraussetzung bilden, ethisch zu handeln. So müssen, um ethisch handeln zu können, laut Kohlberg und Piaget, kognitive Strukturen vorhanden sein, umgekehrt führen aber kognitive Strukturen nicht zwangsläufig zu einer »autonomen Moral«, wie sich an der Analyse der ›Rudolf Hess Protokolle‹ des Nürnberger Gerichts zeigen lässt. 21 Wen-berng Pong, Das Verhältnis des kategorischen Imperativs und des Gewissens bei Fichte, Diss. 2001. 22 Petra Lohmann, Der Begriff des Gefühls in der Philosophie Johann Gottlieb Fichtes. Dissertation 2002.
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tengesetz« gar nicht zustande käme.23 Wir werden in dieser Studie erörtern, dass die Aufforderung bei Fichte ursprünglich vorkommt, was besagt, dass ein Ich niemals durch sich selbst ein Bewusstsein von sich entwickeln kann, sondern dazu notwendig der Aufforderung durch den Anderen bedarf. Aufforderung muss verstanden werden als Akt intellektuellen Handelns gleich welcher Art, sei es als Gestik, Imperativ, zwischenmenschliche Atmosphäre oder intellektueller Gegenstand. Verstanden wird Aufforderung als Impuls zur Selbstbestimmung, nicht aber Determinierung. Es handelt sich um einen Akt der Freiheit durch Freiheit. Im Unterschied zum Dogmatismus ist die Reaktion des Subjekts auf die Aufforderung präbewusst und lässt aus dem Subjekt das Individuum, das sich wirklich seiner selbst bewusst ist und in der Welt handelt im Unterschied zum Subjekt als Gedanken möglich werden. Unsere Arbeit nimmt also deshalb ihren Ausgang von der Tatsache, dass Fichte im 2. Teil der WL 94 der Aufforderung grundsätzlich eine konstitutionelle Bedeutung zuschreibt, weil wir von der Annahme ausgehen, dass dem durch das präreflexive Cogito konstituierten Blick in der Existenzphilosophie Sartres eine ähnliche Rolle zukommt.24 Um aber weder die Aufforderung noch den Blick einer bloßen »Affizierungstheorie«25 preiszugeben, werden wir in unserer Arbeit den phänomenologischen Charakter der Immanenz oder auch Inhärenz beider geistigen Urzustände im Selbstbewusstsein charakterisieren26, um die Symmetrie in der Explikation Fichtes und Sartres zu zeigen,27 die wir
23 In seinem Aufsatz Über die Pflichten des ästhetischen Künstlers. Der §31 des Systems der Sittenlehre im Kontext von Fichtes Philosophie der Ästhetik geht Hartmut Traub ausführlich auf diesen Sachverhalt ein, in: Fichte-Studien Nr. 27, op. cit., pp. 55-106. 24 Alain Flajoliet, »LʹÊtre et le Néant répond à être et Temps«, in: Colloque annuel du Groupe dʹÉtudes sartriennes, 16-18 juin 2005, »Le regard est devenu lʹoutil cognitif.« 25 Herbert Witzenmann, Strukturphänomenologie, Vorbewusstes Gestaltbilden im erkennenden Wirklichkeitsenthüllen, Dornach 1983, p. 10. 26 Damit kommen wir zu der gleichen Auffassung wie Andreas Cremonini in seinem kontrastiven Vergleich Sartres mit Lacan: Die Durchquerung des Cogito, Lacan contre Sartre, München 2003. 27 Cf. GA III,2, Nr. 307, p. 392. (Fichte an Jacobi vom 30. August 1795): »Wozu ist denn nun der spekulative Gesichtspunkt und mit ihm die ganze Philosophie, wenn sie nicht fürʹs Leben ist? Hätte die Menschheit von dieser verbotenen Frucht nie gekostet, so könnte sie der ganzen Philosophie entbehren. Aber es ist ihr eingepflanzt, jene Region über das Individuum hinaus, nicht blos in dem reflectirten
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durch den Vergleich beider Systeme ausweisen wollen. Im Rekurs auf Sartres Sozialontologie kommt bereits Theunissen zu der Schlussfolgerung, dass das Gesehenwerden in Sartres Sozialontologie gemäß der Doppelrolle zugleich als Vollendung und Unterwanderung des transzendentalphilosophischen Ansatzes von zweideutiger Natur sei: An sich primär als sinnliches Wahrgenommenwerden konzipiert, sei es doch zugleich in das Medium des Ethischen eingetaucht.28 In den Bereich des Ethischen falle insbesondere das Erlebnis, durch das das Ich sein Erblicktwerden realisiere: die Scham. Die Scham hat, so Theunissen, eine so bevorzugte Stellung inne, weil ich Gegenstand für den Anderen wesentlich als »Gegenstand von Wertungen« bin. Der Blick des Anderen macht mein Sein überhaupt erst ethisch relevant. In meinem Für-mich-Sein habe ich schlechterdings keine und so auch keine ethischen Eigenschaften. Die Eigenschaften aber, mit denen mich das fremde Subjekt ausstattet, sind in erster Linie ethischer Natur. Theunissen verweist im Kontext seiner Analyse der Sozialontologie Sartres auf Hugo Münsterberg, der bereits zu Beginn des 20.Jh in Fortführung der Intersubjektivitätstheorie des deutschen Idealismus, vor allem Fichtes – den Begriff der Anerkennung zum Grundbegriff der gesamten Sozialontologie gemacht habe. Theunissen hält damit, wenn auch indirekt – den Nachweis einer Analogie zwischen Fichtes und Sartres Sozialontologie nicht für abwegig. (ibid.) Wir sind davon überzeugt, dass die Lektüre der im Oktober 1929 für die folgenden fünf Wintermonate ausgeliehenen Werke Fichtes »de la destination du savant et de lʹhomme de lettres«,29 »doctrine de la science«30,
Lichte, sondern unmittelbar erblicken zu wollen; und der erste, der eine Frage über das Daseyn Gottes erhob, durchbrach die Gränzen, erschütterte die Menschheit in ihren tiefsten Grundpfeilern, und versetzte sie in einen Streit mit sich selbst, der noch nicht beigelegt ist, und der nur durch kühles Vorschreiten bis zum höchsten Punkt, von welchem aus der spekulative und praktische vereinigt erscheinen, beigelegt werden kann. Wir fingen an zu philosopiren aus Uebermuth, und brachten uns dadurch um unsre Unschuld; wir erblickten unsere Nacktheit, und philosophiren seitdem aus Noth für unsere Erlösung.« 28 Theunissen, M., Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, Berlin 1965, p. 35 sq. 29 Die Bestimmung des Gelehrten bzw. de officiis eruditorum, übersetzt von M. Nicolas, Paris 1838. 30 Wissenschaftslehre, wahrscheinlich 1794, übersetzt von P. Grimblot, Paris 1843.
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»principes fondamentaux de la science et de la connaissance«31 bei Sartre Spuren hinterlassen haben.32 Dies lässt sich an den Ähnlichkeiten beider Konzepte belegen.33 Auch wenn Sartre in seinem Werk nirgendwo explizit auf Fichte rekurriert, lassen sich sowohl in seinen philosophischen sowie literarischen Produktionen entsprechende Bezüge finden. Dies gilt besonders – wenn auch indirekt – für die Schrift De officiis eruditorum, in der Fichte die Grundlegung einer ausgefeilten Interpersonalitätstheorie sowie ihre Bedeutung für das ethische Handeln des Menschen entwickelt. Wenn Sartre den Namen Fichtes überhaupt erwähnt, dann im Zusammenhang mit einem anderen Philosophen des Idealismus.34 Wenn diese Arbeit ihr Augenmerk auf Ähnlichkeiten in den Werken beider Denker richtet, dann will sie Sartre damit nicht die Entlehnung Fichtescher Ideen nachweisen oder unterstellen. Sie kann deshalb auch nicht als Einflussstudie verstanden werden, sondern Sartres Rezeption Fichtescher Werke ist in dieser Arbeit nur im Sinne der vergleichenden Forschung von Bedeutung. Sartre hat nicht nur in seinen praktischen Schriften, sondern bereits in seiner Philosophie ethische Grundgedanken entwickelt die auf seinem Konzept der Freiheit basieren35, die sich indessen – getreu der Grundregel Sartres, jedweder systemischen Vereinnahmung zu entgehen – gerade nicht zu ei-
31 Über den Begriff der Wissenschaftslehre, d.i. Fichtes sog. Systemschrift übersetzt von Barchou de Penhoen, Paris 1836. 32 Wir verweisen auf den Hinweis Ronald Haymans, der in seiner Sartre-Biographie erwähnt, dass unter den von Sartre während seines dritten Jahres an der ›École Normale‹ ausgeliehenen Büchern der Name Fichte auftaucht. 33 Obwohl ein direkter Einfluss Fichtes auf Sartre rezeptionsgeschichtlich von diesem nicht explizit erwähnt wird, ist doch erwiesen, dass die Ähnlichkeiten, die beide miteinander vergleichbar machen lassen, genau aus der Literatur Fichtes stammen, die Sartre im Oktober 1929 entliehen hatte. Zwar scheinen fünf Monate nur wenig Zeit für die Lektüre so komplexer transzendentalphilosophischer Texte zu sein, aber Sartre war in der Rezeption transzendentalphilosophischer Texte geübt und auch waren für ihn die Bedeutungszusammenhänge dieser ins Französische übersetzten Werke kein Problem. Sartre zeigt bereits in seiner Auseinandersetzung mit Kant profunde Kenntnisse der Transzendentalphilosophie. 34 Cf. Jean-Paul Sartre, Cahiers pour une morale, Paris 1983, pp. 69 und 514. 35 Sartre: »Je ne saurais, certes, décrire une liberté qui serait commune à lʹautre et à moi-même; je ne saurais donc envisager une essence de la liberté.« (ibid.p. 514) Deutsch: ich kann nicht eine Freiheit beschreiben, die dem Anderen und mir gemeinsam ist; ich kann also kein Wesen der Freiheit in Betracht ziehen.
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nem ethischen Konzept verorten lassen.36 Es soll daher gezeigt werden, wie in seinem Intersubjektivitätsmodell aufgrund der Analogien zu grundlegenden philosophischen Inhalten Fichtes die Ethik zum Tragen kommt,37 denn Fichte hatte ausgerechnet in dem von Sartre entliehenen Werk De officiis eruditorum den Wechselbezug von Ethik und Intersubjektivität vollständig entwickelt und dort auch die für die praktische Bedeutung für Pädagogik und Ästhetik entsprechenden Konsequenzen aufgezeigt.38 Fichte hat als erster unter den Idealisten durch sein Programm einer Geschichte des Selbstbewusstseins eingehend die Genese des Ich und der Anerkennung zu erklären gesucht und damit die von Hegel dann fortgeführte Struktur des Sich-Suchens und Sich-Findens des Ich im Anderen sowie der wechselseitigen Spiegelung vorausgedacht. Fichtes Schlüsselthese zum Verhältnis von Ich–Identität und Anerkennung lautet: Als freies Wesen und Selbstzweck anerkannt setzt das konkrete Ich sich – logisch, ethisch und biographisch – identisch mit sich selbst, Anerkennung ist dabei die dialektische Synthesis von grundlegender Selbstständigkeit des Ich zum Anderen. Zum Problemkreis Intersubjektivität und Anerkennung ist neben pragmatischen Erörterungen, welche für unsere Untersuchung nicht in Betracht kommen, grundsätzlich zwischen prinzipientheoretischen Erörterungen, seien sie ontologisch (Heidegger), transzendental-
36 In seiner umfangreichen Arbeit kommt Ullrich Töllner nach einer Fülle von einzelnen Vergleichsstudien zu dem Schluss, dass Sartres Ethik sich keinerlei ethischem Konzept zuordnen lasse. Uwe Töllner, Sartres Ontologie und die Frage einer Ethik. Zur Vereinbarkeit einer normativen Ethik und/oder Metaethik mit der Ontologie von LʹÊtre et le néant. Europäische Hochschulschriften, Reihe XX, Philosophie, Bd./Vol. 499, Frankfurt a.M. 1996. 37 Jacques Dubois, in: Colloque annuel du Groupe dʹÉtudes sartriennes, 16-18 juin 2005, gelangt zu der von uns uneingeschränkt geteilten Einsicht, dass es nicht richtig sei, Sartres Roman La Nausée als »roman philosophique« zurückzuweisen. Sartre habe hier eine vollständige Intersubjektivitätstheorie entwickelt. Die drei Tropismen (le groupe, le couple, la foule) habe Sartre in Analogie mit der Soziologie Simmels verarbeitet. Wir fügen hinzu, dass innerhalb der Fichteforschung Studien auf die Analogie zwischen Fichtes und Simmels Interpersonalitätsmodell hinweisen. 38 Die jüngste Studie von Axel Honneth, Verdinglichung, Eine anerkennungstheoretische Studie, Frankfurt am Main 2005, greift die von Fichte und Sartre konzipierten Interpersonalitätsgedanken auf, indem er eine interaktionistisch begründete Ontologie des Sozialen entwickelt. Verdinglichung wird von Honneth kritisch als ›Anerkennungsvergessenheit‹ bezeichnet.
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philosophisch (Fichte, Husserl), dialektisch (Hegel, Sartre) und ethischen Erörterungen über Achtung, Verantwortung, Verpflichtung gegenüber Anderen (Kant, Fichte, Sartre) – bzw. je nach Ethik–Typus unterschiedlichen Begründungen zu unterscheiden.39 Der Blick auf die Fundierungsordnung in der Genese von Anerkennung und Ich–Identität, auf die Eigen- und Fremdanteile (d.i. die individuelle sowie die soziale Dimension) in den philosophischen Konzeptionen Fichtes und Sartres zeigt, dass der ethische Diskurs im Werk Sartres besonders mit dem ästhetischen verknüpft ist.40 Mehrfach hat Sartre die Ähnlichkeit hervorgehoben, die sich zwischen der Schaffung einer konkreten Moral und dem Akt künstlerischer Schöpfung auffinden lässt. Seinem Appell an den Menschen, Freiheit zu realisieren und Authentizität zu leben, kommt in seinem künstlerischen Werk ein ebensolches Gewicht zu wie seinen philosophischen Überlegungen. Sartres ethischer Appell, der an Schlüsselbegriffen wie Engagement, Freiheit, Kontingenz, Authentizität, Endlichkeit, Hingabe, Unaufrichtigkeit (mauvaise foi), Konversion und anderen entwickelt wird, findet in diesem Sinne seinen vielfältigen Ausdruck in einer Vision vom Menschen, dessen Handeln zugleich authentisch und schöpferisch sein könnte. In der philosophisch – literarischen Darstellung geht es sowohl bei Fichte als auch bei Sartre um die praktische Existenz. Die Frage nach dem
39 Unsere Studie beabsichtigt nicht, Ethiktypen zu referieren und die Übereinstimmung von Sartres Ethik mit diesen Konzepten zu überprüfen. Ein solche Arbeit wurde bereits von Töllner, op. cit., durchgeführt. Wir hätten uns dann folgende Fragen stellen müssen: 1. Besteht ein systematischer Zusammenhang von Ethik und Identitätsfindung im Horizont der Anerkennung oder sind beide Problemkreise diskjunkt, derart, dass anerkannte Individualität ebenso amoralisch gelingt bzw. Sittlichkeit keines einheitlichen Aktionsträgers bedarf? Hierbei käme es auf die genaue Festlegung des zu favorisierenden Ethik-Typus an. Situations-Ethik bedürfte am wenigsten eines sich gleich bleibenden praktischen Ich, eine Sympathieund eine Tugend – Ethik und eine utilitaristische dagegen deutlich stärker. Hochgradig rekurriert die Sollens-Ethik auf ein mit sich identisches Ich, daher ließe sich hierzu eine gesonderte Untersuchung anstellen, denn die Ethik Sartres tendiert u.E. sehr in diese Richtung. 40 »Daß ich in dem Entwurfe meines Lebens mit der Kunst den Anfang mache, das ist so tief in meiner Natur und in meinen Absichten gegründet, dass vielleicht nur ich selbst den Grund davon einsehen kann« schreibt Fichte am 10. Februar 1794. In: Georg Tempel: Fichtes Stellung zur Kunst, Metz 1901, p. 36.
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ethisch-ästhetischen Gehalt des individuellen Selbstbewusstseins wird von beiden Philosophen in der Wirklichkeit unseres individuellen Lebens gesucht, wenn auch im idealistischen Konzept Fichtes um einiges stärker philosophisch pointiert, während Sartre diese Frage in seinen künstlerischen Produktionen behandelt.41 Ethik wird bei beiden Philosophen weder von Erkenntnis noch von der Intersubjektivität abgeleitet, denn bei beiden ist der Andere konstituierender Bestandteil des Selbstbewusstseins, das aber vor aller Erkenntnis vorausgeht. Daher formulieren beide ihren kategorischen Imperativ längst, bevor der Andere am Horizont auftaucht.42 Unsere Hypothese lautet: Die Impulse zum ethischen Handeln strömen nicht einfach bloß aus dem Gewissen43 oder aus dem Gefühl44. Bei beiden müssen diese Impulse zum ethischen Handeln aufgrund ihrer Verankerung im Selbstbewusstsein aus dem Denken erst reflexiv erschlossen werden, was durch den Schritt aus dem unmittelbaren Bewusstsein vermittelt wird.45 Die Fundierungsordnung der genetischen Momente des Selbstbewusstseins lässt sich daher bei Fichte als auch bei Sartre so darstellen, dass das Gewissen entwicklungsgeschichtlich abgeleitet, bzw. selbst gesetzt ist.
41 Es ist ein an dieser und anderer Stelle nicht realisierbares Unterfangen, anzugeben, in welchen Werken Sartre dieses ethisch-ästhetische Moment entfaltet, denn die Mannigfaltigkeit seiner philosophisch-literarischen Arbeit spiegelt den Facettenreichtum wider, den Sartre im Verlaufe seines Schaffens entfaltet. 42 Er lautet bei Fichte »Handle so, daß du die Maxime deines Willens als ewiges Gesetz für dich denken könntest!« (I, 3, 30) conf. auch Fichtes Äußerung, die ebenfalls auf Schopenhauers vereinseitigte Lehre von der Knechtschaft des Erkennens und Wollens vorausweist: »Auf der ersten Stufe der Bildung, des Individuums sowohl als der Gattung, überschreitet der praktische Trieb, und zwar in seiner niedern, auf die Erhaltung und das äußere Wohlseyn des animalischen Lebens gehenden Äußerung, alle übrigen Triebe; und so fängt denn auch der Erkenntnistrieb damit an, bei jenem zu dienen.« (I, 6, 348 sq). Das Sittengesetz ist für Fichte eben diejenige Gesetzmäßigkeit, wodurch das Ich sein Ursache-Sein für bestimmte Wirkungen aus Freiheit unter eine unverbrüchliche Regel bringt, die es – als Urheber und zugleich Adressat derselben – selbsttätig entworfen hat, um sich zuverlässig nach ihr zu bestimmen. Sartre formuliert in seiner Schrift Lʹexistentialisme est un humanisme, Paris 1947, den gleichen Grundgedanken, wenngleich terminologisch dem Zeitgeist entsprechend modern. 43 Wen-berng Pong, op. cit. 44 Petra Lohmann, op. cit. 45 Bei Fichte spricht zuerst die Stimme des Herzens, welche unmittelbar über die Diskursivität des Begriffs reflexiv erschlossen wird.
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Den idealistischen Begriff des Gewissens hat Sartre aufgegriffen, um ihn existenzphilosophisch zu verorten. Der ethischen Haltung des Menschen hat Sartre – ähnlich wie Fichte – als Bestimmungsort das empirisch faktische Bewusstsein zugewiesen. Im Unterschied zu Sartre allerdings gründet in Fichtes transzendentalphilosophischem Konzept die Intersubjektivität in dem ewig gültigen Sittengesetz.46 Aber auch Sartre spricht, wie wir im praktischen Teil unserer Arbeit erörtern werden, von der Konstitution der ethischen Haltung.47 Kontrastiert man den ethischen Impuls in der entsprechenden Explikation Sartres mit dem so genannten ›Sittengesetz‹ in der entsprechenden Explikation Fichtes und zergliedert diese in ihre einzelnen theoretischkonstitutiven Bestandteile48, so zeigt sich: Es stellt eine bisher unbemerkte Besonderheit Sartres dar, den Nachweis der ontisch intersubjektiven Verankerung der Ethik im Denken über eine transzendental-existenzialistische Explikation des Selbstbewusstseins systematisch durchzuführen. Dieser Prämisse ist unsere These inhärent, da erkennbar ist, dass Sartre bereits in seinen philosophischen Werken eine aussagefähige Ethik entwickelt hat. Unsere Studie geht davon aus, dass es bei Sartre aufgrund der strukturellen Symmetrie der Basiselemente seines philosophischen Konzepts mit denen in Fichtes System einen ethischen Gehalt geben muss, denn Ethik ist bei Sartre wie bei Fichte gleichermaßen im Bewusstsein verankert. Im ersten Teil dieser Arbeit wollen wir den Nachweis führen, dass Sartre dem »cogito préréfléchi« diese konstitutive Rolle zuschreibt. 49 Es finden sich
46 Transzendentalphilosophisch gesprochen ist Sittlichkeit das Sittengesetz a priori in jedem Ich, jedoch im Sinne des empirisch faktischen Bewusstseins. 47 Wir wollen daher in unserer Arbeit zeigen, dass Sartres Ethikkonzept transzendental (theoretisch) und zugleich ästhetisch (praktisch) verwurzelt ist. Demgegenüber nimmt sich die Theorie Freuds, dass das Gewissen (in Form des Über-Ichs) durch die Vaterfigur während der Phase der Geschlechtsrollenidentifikation gebildet wird, im Kontrast zur Erklärung Fichtes oder Sartres eher als Ergebnis eines Dressuraktes denn als selbstbestimmter Konstitutionsprozess aus. In Abgrenzung zu Freud bestimmt Sartre die Konstitution einer ethischen Haltung als Ergebnis eines vom Subjekt selbst vollzogenen Konstitutionsaktes und nicht verursacht durch elterliche oder sonstige externe Einflüsse. Die Schrift von Andreas Cremonini, »Vom Genießen der Passivität. Sartre und die Psychoanalyse«, in: Flynn, Kampits, Vogt, Hgg., Über Sartre, Wien 2005, ist in diesem Kontext ausgesprochen interessant. 48 Herbert Witzenmann, op. cit. , p. 13 sqq. 49 Cahiers pour une morale, Gallimard, Paris 1983. (CM)
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Hinweise auf seine ethisch-ästhetischen Aussagen in philosophischen, literarischen und politischen Schriften. Ihre Auswahl erfolgt durch ihre exemplarische Bedeutung für den Forschungsgegenstand dieser Arbeit.50 Die Ästhetik bildet die Basis der Untersuchung im 2. Teil. In Bezug auf die Fichteforschung stellt die Untersuchung der Rolle der Ästhetik ein Desiderat dar, weil einerseits dieser Zweig der angewandten Philosophie Fichtes noch relativ unerforscht ist – die ersten richtungweisenden Ergebnisse liefern die Arbeiten von Lohmann – und andererseits Sartre auf der Ebene der Ästhetik seine deutlichsten ethischen Aussagen gemacht hat. Zur Aufklärung der fundamentalontologischen Bedeutung der praktischen Vernunft wird ausgehend von Fichtes These des Primats des Praktischen untersucht werden, welche funktionale Bedeutung dem ethischen Phänomen des Anfangs als Entschluss zukommt und wie er sich in mehreren Entwicklungsschritten des Individuums realisiert, als da sind naturhafte, ästhetische und sittlich-religiöse. Die Verhältnisbestimmung des ethischen Identitätsstrebens und der Intersubjektivität bei Sartre sowie die entsprechenden Verhältnisbestimmungen im Konzept Fichtes führen zu der Frage nach der Selbstbestimmung als ethische Idee und deren ästhetischer Motivation. Im Ausgang dieser Untersuchungsergebnisse des theoretischen Teils werden Betrachtungen durchgeführt, die ausschließlich das Ziel haben, die ethischen Implikationen in Sartres Kunstschaffen kontrastiv zu Fichte und Schiller systematisch zu benennen. Der Rekurs auf Schillers Ästhetik ist gewählt worden, um den Beleg dafür zu erbringen, dass sich die ethischen Implikationen seines Kunstschaffens komplementär zu jenen in seinen philosophischen Reflexionen verhalten. Im Rückgriff auf Schillers ästhetische Grundgedanken wird daher die Schlüsselrolle herausgearbeitet werden, die bei Sartre der Begriff von Ästhetik in seiner Konzeption der Ethik und Ästhetik einnimmt. Schiller wie auch Sartre geht es graduell unterschiedlich zu Fichte um den Versuch, das Schöne sinnlich subjektiv zu erklären und damit um die Sphäre des ästhetischen Verhaltens und der In-
50 La transcendance de lʹEgo (EGO), Esquisse dʹune théorie des émotions (TE), LʹÊtre et le néant. Essai dʹontologie phénoménologique, Gallimard, Paris 1943 (EN), Lʹexistentialisme est un humanisme, Nagel, Paris 1970 (EH), La liberté cartésienne (LC), Conscience de soi et connaissance de soi (CS), Critique de la Raison dialectique Tome I (CRD I), Questions de méthode (CRD I/ ME), Vérité et existence (VE) sowie die Studien zu Imagination und Imaginaire.
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tensität des Ausdrucks im Spiel.51 Wir halten es daher für angebracht, Sartres Produktionsästhetik exemplarisch zu untersuchen, um das Spezielle und damit auch Wegweisende seiner Literarität zu exponieren.52 Daneben werden spezielle literaturkritische Aspekte seines Kunstschaffens zur Sprache kommen, um das Besondere seiner Produktionsästhetik herauszustellen. Wir werden versuchen, auch Positionen der Rezeptionsästhetik zu skizzieren, mit denen sich Sartre in seinem Literaturkunstschaffen auseinandergesetzt hat. Unbestritten hat Sartre für die moderne Literaturwissenschaft Maßstäbe gesetzt, die ihre Gültigkeit noch in jeder literarischen Wertungsdiskussion unter Beweis stellen können.53
51 Mit der Herausgabe der ›Horen‹ will Schiller die »Scheidewand«, »welche die schöne Welt von der gelehrten zum Nachteile beider trennt«, beseitigen, indem hier auf »allgemeinverständlich(e)« (GAIII,2 p. 320) ansprechende und belebende Weise »gründliche Kenntnis in das gesellschaftliche Leben und Geschmack in die Wissenschaft« (NA XXII p. 107) vermittelt wird. Schiller wirft Fichte vor, seinen Beitrag nicht im Sinne der »wahrhaft schönen Schreibart« (NA XXI, p. 8) verfasst zu haben. Da nicht nur Verstand, sondern auch die inneren Anschauung in den Horen angesprochen werden sollen, habe Fichte nicht nur die versöhnte Totalität des menschlichen Charakters zugunsten der Vereinseitigung der Vernunft versäumt, sondern damit die Ästhetik unter die Philosophie herabgestuft. Fichtes Replik auf diese Kritik enthält seinen umfassenden Kunstbegriff: Vernunftkunst ist demnach nicht nur eine Form der Kunst, sondern ist auch in der Hierarchie der Künste von höherem Rang als die schönen Künste. Nach Fichte muss nicht jeder Philosoph »ein schöner Geist seyn« (GAIV,2 p. 266), aber »derselbe Geist, durch dessen Ausbildung man ästhetisch wird, derselbe Geist muß auch den Philosophen beleben« (GAIV,3 p. 523) Fichtes detaillierte Replik wurde von Schiller zurückgewiesen. Für ihn hat eine brillant entfaltete philosophische Theorie nichts mit Ästhetik zu tun. Für Fichte hieße das, lediglich die vorgegebenen Regeln einzuhalten, um einen philosophischen Text geistreich zu verfassen. Hieraus entstünde aber ein toter Philosophiebegriff, ein Ausdruck des Mechanischen und Unbelebten (GAIII,3 p. 321) Der schöpferische »Geist (hingegen) nimmt die Regel aus sich selbst; er bedarf keines Gesetzes, sondern er ist sich selbst Gesetz.« (ibid., p. 274) 52 Cf. Noëlle Guibert, »Sartre, Faits et gestes, un théâtre à penser«, in: Catalogue de la BN, op. cit., p. 134, »Sartre a voulu distinguer sa démarche théâtrale en définissant un genre original, »le théâtre de situations«, des libertés qui se choisissent, un théâtre de la liberté.« Deutsch: Sartre wollte die Entwicklung seines Theaters unterscheiden indem er ein orignales Genre definierte, das théâtre de situation, Freiheiten, die sich wählen, ein Theater der Freiheit. 53 In der jüngst erschienenen Arbeit, »Jean-Paul Sartre, critique littéraire«, AcademiaBruylant, 2006, setzt sich Noureddine Lamouchi ausführlich mit Sartres Produkti-
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Die Untersuchung der Rolle der Ästhetik als praktische Ethik in Sartres und Fichtes Konzept führt zur Erweiterung unserer These: Sowohl Sartre wie Fichte brauchen die Ästhetik, um die Ethik zu fundieren. Allerdings unterscheiden sie sich in einigen Gesichtspunkten in ihren Voraussetzungen und ihren Intentionen, die sie mit der Ästhetik verbinden. Sartre hat ein unmittelbar lebensbezogenes ästhetisches Denken, in dem er ethische Aspekte in seiner Literatur anhand ganz konkreter Beispiele verarbeitet. Im Unterschied dazu geht es Fichte in seinen Ausführungen zur Ästhetik vornehmlich um die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit des ästhetischen Bewusstseins und darum, dieses als Voraussetzung des ethischen Bewusstseins zu bestimmen. Konkrete und speziell angewandte ästhetische Bezüge finden sich lediglich in seinen Äußerungen zur Rhetorik, die grundlegend auf dem Theorem von Kopf und Herz basieren, wobei das eine das Korrektiv des anderen ist. Trotz dieser scheinbar größeren Differenzen besteht ein grundlegender Bezugspunkt zwischen beiden Autoren in ihrer Stellung zum Gefühl, wie sie sich in Sartres »Théorie des Émotions« und Fichtes »Theorie der Rührung des Gemüts« niederschlägt.54 Die Ästhetik in Fichtes Philosophie macht einen quantitativ umfassenden Kunstbegriff deutlich. Fichte unterscheidet zwischen niederen mechanischen, und höheren schönen und intellektuellen Künsten. Da die Ästhetik bei Fichte vorwiegend pädagogisch motiviert ist, wird sie von ihm in der Trieb- und Gefühlslehre anthropologisch fundiert. Wichtige Aspekte seiner Ausführungen sind: Die Rhetorik sowie die enge Verbindung zwischen Vernunft (Philosophie)–Kunst und schöner Kunst55, die er in erkenntnistheoretischer und ethisch-religiöser Ausprägung entwickelt. Beispielhaft lassen sich diese Ausprägungen in der Rekonstruktion seiner
onsästhetik auseinander und reflektiert über die philosophisch-literarischen Grundlagen in Sartres historischer Entwicklung. Auch hier wird deutlich gemacht, dass Sartre von Anfang an ethisch-ästhetisch Gedanken entwickelt, die für seinen historischen Werdegang als Philosoph und Schriftsteller von entscheidender Bedeutung sind. 54 In Italien ist, wie oben schon vermerkt, 1997 eine Forschungsarbeit von Luigi Pareyson zur Ästhetik Fichtes erschienen; diesen Hinweis, auf die wir im zweiten Teil unserer Arbeit Bezug nehmen, verdanken wir Marco Ivaldo. 55 Cf. Beziehung zwischen dem Werk der Wissenschaftslehre und dem Werk der schönen Kunst/ Philosoph und Künstler.
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Theorie der Rührung des Gemüts nachweisen.56 Kunst hat bei Fichte keinen Selbstzweck, sondern sie steht als rhetorisch motiviertes Mittel immer im Dienst ethisch-religiösen Erkenntnisgewinnes. Dafür entwickelt er Kriterien des Künstlers im Sinne einer Genie- bzw. Autonomieästhetik und des Kunstwerks als Manifestation der Idee des Menschen. Sartres Ethik offenbart sich vor allem in seiner ästhetischen Produktion. Dem ästhetischen Moment in Sartres Ethik kommt die zentrale Aufgabe für die Entwicklung des ethischen Individualismus des Menschen und der ganzen Menschheit zu. Auch hier liegt eine Analogie zu Fichtes transzendentalkritischem Idealismus vor, so dass man auch aufgrund dieser Analogie, d.i. die Fundierungsrolle der Ästhetik für die Ethik in beiden philosophischen Konzeptionen, von einer aussagefähigen Ethik in Sartres Existenzphilosophie sprechen kann. Die Funktion der Ästhetik bei Sartre wird dadurch bestimmt, dass in seinem Konzept die Vermittlung zwischen theoretischer und praktischer Vernunft mittels der Ästhetik geleistet wird. Seine Idealvorstellung von literarischer Prosa formuliert Sartre als ein Modell herrschaftsfreier Kommunikation. In seiner Verhältnisbestimmung von Ethik und Ästhetik koppelt er seinen ethischen Imperativ mit seinem ästhetischen Imperativ, indem er das Spannungsverhältnis von moralischem Engagement und ästhetischer Innovation reflektiert. So ist das ethisch-ästhetische Postulat des Lektüre-Paktes das Zentrum von Sartres Literaturtheorie. Als hermeneutischer Faktor entspricht sein doppeltes Register der Interpretation exakt seiner anthropologischen Formel vom »universel singulier.«57 In: Quʹest-ce que la littérature vollzieht Sartre die Unterscheidung von Prosa und Poesie. Der Theorieansatz, den Sartre zur Begründung seiner kreativen Ethik
56 Cf. pädagogische Analogien zwischen dem Universitätsgelehrten und dem Künstler. 57 Cf. Vincent de Coorebyter, Sartre avant la phénoménologie, Autour de »La nausée« et de la »Légende de la vérité.« Im Rekurs auf unveröffentlichte Frühschriften Sartres vertritt der Autor die Auffassung, dass Sartres Werk »révèle une œuvre déjà en cours, dont les premières percées sortent leurs effets jusque dans LʹIdiot de la famille. Parce quʹils prennent la forme de tensions indépassable entre la positive du perçu et la superiorité heuristique de la totalisation et du sens.« Es sei daher schon vor der Rezeption der Phänomenologie zu Formulierungen gekommen, die Sartres metaphysische [...] Gedanken verdeutlichen Diese Schrift lag mir z.T. vor ihrer Veröffentlichung, Bruxelles 2005, vor.
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wählt, zeigt im expressiven Sinn eine Ausdrucksanthropologie, in der der ästhetische Schein sich – bezogen auf die nichtende Funktion des Bewusstseins – einer »Création ab nihilo« verdankt (CM). Damit kommt Sartre jener Position nahe, die Friedrich Schiller 1795 in seinem 2. Brief über die ästhetische Erziehung des Menschen formuliert hat. In Sartres Literatur zeigt sich der direkte Wechselbezug zwischen praktischer Ethik und produktiver Ästhetik. Es soll daher – exemplarisch – der Blick auf drei klassische ästhetische Produktionen Sartres gerichtet werden. Das Theaterstück Les Mouches soll als ein philosophisches Modell des ethischen Individualismus bestimmt und analysiert werden. Nicht als Monade, nicht als Robinson Crusoe handelt der Protagonist: sein Handeln ist die philosophische Antwort auf die Ontologie und die sich hieraus ergebenden Folgen für die Ethik in Heideggers ›Daseinsanalyse‹ im Werk Sein und Zeit. Die Ethik der Existenzphilosophie Sartres im Theaterstück Les Mouches wird, im Rekurs auf Hugo Friedrich, auch als eine ästhetische Form der Wiederaufnahme des Motivs von Michel de Montaigne erörtert. Wir werden im Verlauf unserer Untersuchungen verschiedener Kunstprodukte Sartres die Wertungspraxis moderner Literaturkritik an den Beispielen Les Mots, Huis-Clos und Les Mouches gattungspoetisch, produktionsund rezeptionsästhetisch durchführen.58 Dabei wird auch eine als exemplarisch zu wertende Einflussstudie Freuds auf Sartre erfolgen, in der sein Gegenentwurf der ›psychanalyse existentielle‹ dargestellt werden soll. Die ›psychanalyse existentielle‹ bildet nicht nur die Basis seines literarischen Methodenkomplexes, der insbesondere in seiner Flaubertbiographie enthalten ist,59 sondern sie findet auch Eingang in Sartres neuartige Bestim-
58 Wir verweisen an dieser Stelle auf das umfassende Werk Benedict OʹDonohoes, Sartreʹs Theatre: Acts for life, Oxford, Bern, Berlin, Bruxeslles, Frankfurt a.M., New York, Wien, 2005. 59 »Die monumentale Flaubertstudie, eine Synthese der verschiedenen methodischen Ansätze, die Sartre nacheinander an verschiedenen Gegenständen erprobte [...] geht [...] über eine Flaubertmongraphie [...] weit hinaus und behandelt Themenkreise von zentraler Bedeutung in der gegenwärtigen literaturwissenschaftlichen Diskussion: Probleme der Literaturgeschichtsschreibung und der literarischen Hermeneutik, der Funktion des literarischen Werks im gesellschaftlichen Prozeß, den möglichen Beitrag für der Literaturwissenschaft zu sozialwissenschaftliche Fragestellungen.« In: Reinhold R. Grimm, »Der Idiot der Familie als Herausforderung der Literaturgeschichtsschreibung«, in: Traugott König, Hg., Sartres Flaubert lesen, Essays zu Der Idiot der Familie, Reinbek 1980, pp. 109-148, hier: p. 109.
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mung des Mythenfilms als (Traum)-Ort und Nicht-Ort einer neuen Mythologie und damit zu einer Art Heterotopie des Theaters im Film.60 Speziell die Heterotopie von Leben und Kunst, von Inszenierung und Selbstinszenierung stellen reizvolle Darstellungsmöglichkeiten für Sartre dar, den Film zum Schwellenort der Verwandlung von Gesicht zur Maske, von der Person zur ›persona‹ werden zu lassen.61 Die exemplarische Studie Sartres ethisch-ästhetischer Produktion wendet sich zum Abschluss unserer Untersuchung der Betrachtung der Künstlerbiographie Sartres am Beispiel seiner Tintoretto-Studien zu. Das Projekt Sartres, über Tintoretto zu schreiben, baut sich langsam auf62 und wird in seinem intermedialen Verweisungszusammenhang von Sartre selbst am treffendsten charakterisiert: »Devant le cinématoscope vénitien, nous murmurons, nous autre menu peuple touristique: cʹest une réalisation du Titien, une production Paolo Caliari une performance de Pordeone, une mise en scène de Vicentino. Jacopo Robusti partage les préjugés de son époque et nos habiles lui tiennent en vigueur. Combien de fois nʹai-je pas entendu dire: le Tintoret, bah ! Cʹest du cinéma. Et pourtant, personne au monde, ni avant lui ni après, nʹa poussé plus loin la passion de la recherche.[…] Et si lʹon veut à tout prix le comparer à nos cinéastes, cʹest en
60 Volker Roloff, Michael Lommel, Hgg, »Cocteaus Theaterfilme zwischen Surrealismus und Existenzialismus«, in: Französische Theaterfilme – zwischen Surrealismus und Existentialismus, Bielefeld 2004, pp. 159-172. 61 Cf. Gérard Wormser, Sartre, Synthèse, philosophie, Paris 1999, ist der Auffassung, dass Sartres Interesse für das Kino bereits in seiner Autobiographie zum Ausdruck kommt: »Sartre écrit dans Les Mots quʹil sʹest toujours senti contemporain du cinéma.« Wir teilen die Einschätzung Wormsers, dass Sartre hier den Grundstein zu einer Ästhetik des Raumes legt, die er in lʹÊtre et le Néant (p. 550) philosophisch verortet. 62 »Contrairement à Merleau-Ponty, chez qui lʹexpérience esthétique est inséparable de la philosophie, Sartre a longtemps maintenu la séparation entre les valeurs esthétiques, tenues pour un substitut de lʹaction, et une philosophie où la dimension existentielle est incarnée principalement par le langage et la pensée éthique«, in: Gérard Wormser, op. cit., p. 84. Deutsch: Im Gegensatz zu Merleau-Ponty, bei dem die ästhetrische Erfahrung untrennbar mit der Philosophie verbunden ist, hat Sartre schon lange an der Trennung festgehalten zwischen ästhetischen Werken, die er für ein Substitut der Aktion gehalten hat und einer Philosophie, in der die existenzielle Dimension prinzipiell durch die Sprache und die ethischen Gedanken inkarniert ist.
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cela quʹil leur ressemble: il accepte des scénarios imbéciles pour les charger en douce de ses obsessions.«63 Sartres Kunstbeobachtung der Objekte des Malers und deren Anordnung im Raum, sein Kommentar der Darstellungstechnik des Gemäldes im Kontext historischer Gegebenheiten zur Zeit Tintorettos, richtet sich ausschließlich auf physische, d.h. räumliche Ordnungskriterien. Dabei entdeckt Sartre, dass Tintoretto die Gravitationsgesetze, die Galilei erst danach entwickeln wird.64 Um zu charakterisieren, welche Erfahrungen die Zukunft des venezianischen Künstlers bestimmen, greift Sartre auf die Kinosprache zurück. Die von Tintoretto imaginierte Kameraführung verweist auf das Kino: Mit einer Kameraführung aus der Froschperspektive unterhalb des Aktionsfeldes fährt der Wagen von Ben-Hur über uns hinweg und »nous serons sous le char par lʹintermédiaire de notre oïl caméra.«65 Wir werden in unserem letzten Teil den ethischen Gehalt dieser von Sartre uns vorgelegten Ästhetik untersuchen. Denn diese unwahr-
63 Jean-Paul Sartre, »Le séquestré de Venise«, in Situations IV, pp. 311-312. Deutsch: Vor dem venezianischen Kinotheather murmeln wir anderes touristisches Gemüse: Das ist doch eine Darstellung von Titian, eine Produktion von Paolo Caliari, eine Performance von Pordeone, eine Inszenierung von Vicentiono. Jacopo Robusti teilt die Vorurteile seiner Epoche und unsere Superschlauen halten diesen Gedanken in Kraft. Wie oft habe ich nicht sagen hören, der Tintoretto, bah! Das ist Kino. Und dennoch, niemand auf der Welt, weder vor ihm noch danach, hat die Leidenschaft des Forschens weitergetrieben. […] Und wenn man ihn um jeden Preis mit den Filmemachern vergleichen will, dann ist er ihnen in einem Punkt gleich: Er akzeptiert dumme Drehbücher, um sie sanft mit seinen Obsessionen zu beladen. 64 Ders. »[…] la chute vertigineuse dʹun aérolithe et les remous qui sʹordonnent autour dʹelle. Cette combinaison sʹadresse directement à notre mémoire musculaire: visuelle, tactile et motrice, elle tend à recomposer la substance telle quʹelle sʹoffre à nos sens dans leur indifférence quotidienne. Le peintre nʹa dʹautre objet que la matière.« In: Temps Modernes, Nr .141, p. 176. Conf. Tintoretto, »San Marco libera lo Schiamone« Öl auf Leinwand, 415 X 541, Accademia, Venedig, in: ibid. op. cit. Nr. 46, Tafel III; im Anhang Abb. III. Deutsch: Der schwindelerregende Sturz des Aerolithen und die Aufregungen, die sich um ihn herum anorden. Diese Kombination richtet sich direkt an unsere muskuläre Erinnerungskraft: visuell, taktil und motorisch strebt sie nach Neuordnung der Substanz so, wie sie sich unseren Sinnen in ihrer alltäglichen Indifferenz darbietet. Der Maler hat kein anderes Objekt als die Materie. 65 Ibid. op. cit., p. 184.
Einleitung
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scheinliche Darstellungsperspektive, die Sartre bei Tintoretto entdeckt, ist von ihm in keiner anderen Absicht auf die Bildfläche geholt, als den Betrachter zu engagieren, ein Bild zu konstruieren, das ohne seinen Blick nicht existiert.
Teil 1: Selbstbewusstsein, Intersubjektivität und Ethik bei Sartre und Fichte In diesem Teil wird Sartres phänomenologische Ontologie mit Fichtes transzendentalkritischer Philosophie verglichen. Es werden die Möglichkeitsbedingungen der phänomenologischen Ontologie Sartres hinsichtlich ihrer Begründungsfunktion für die Ethik in seiner philosophischen Konzeption untersucht. Nachgewiesen werden soll eine Ähnlichkeit seines Konzeptes mit demjenigen Fichtes durch die von Sartre konstatierte Ambivalenz der reflexiven Gewissheit im cartesianischen cogito. Dieser Nachweis bildet die Grundlage für unsere These, dass Sartres Existenzphilosophie nicht nur allgemeine ethische Implikationen enthält, sondern dass Ethik vielmehr eine konstitutive Voraussetzung des Selbstbewusstseins darstellt. Diese These lässt sich aufgrund der Analogie seiner Existenzphilosophie zu Fichtes Transzendentalphilosophie besonders deutlich zeigen. In ihren philosophischen Schriften finden sich deutliche Analogien, die erkennen lassen, dass sie ihre philosophischen Konzeptionen ausgehend von einer Bestimmung des Selbstbewusstseins systematisch entwickeln. Es soll weiter gezeigt werden, dass Intersubjektivität und Ethik nicht nur die Konstitutionsprinzipien des Selbstbewusstseins sind, sondern dass ihnen, bei Sartre wie bei Fichte, die grundlegende Bedeutung für die Genese des individuellen Selbstbewusstseins zukommt. Damit soll zugleich der Erweis für unsere These erbracht werden, dass in Sartres Philosophie nicht nur Ethik enthalten ist, sondern die Ethik umgekehrt die Basis der gesamten Existenzphilosophie darstellt. Die im ersten Teil gewonnene Arbeitshypothese über den Wechselbezug der Ethik mit der Intersubjektivität innerhalb der Genese des Selbstbewusstseins stellt einen wichtigen Zwischenschritt für unsere Untersuchung der Wechselbestimmung von Ethik und Ästhetik in Teil 2 dieser Arbeit dar. Dies gilt umso mehr, als im 2. Teil der Nachweis erbracht werden soll, dass Ethik nicht nur die Ästhetik, sondern das gesamte Kunstschaffen Sartres, seine Poietik begründet. Auch Fichte begründet die konstitutionelle Basis seiner Ästhetik auf dem Wechselbezug von Ethik und Intersubjektivität, wenngleich sich bei ihm ästhetische
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Teil 1: Selbstbewusstsein, Intersubjektivität und Ethik bei Sartre und Fichte
Produktionen eher in Form von ästhetischen Gestaltungen seiner philosophischen Schriften finden lassen. Von ausgesprochener Bedeutung für unsere Arbeitshypothese ist die Prüfung möglicher ethisch-interpersonaler Begründungsfunktionen des Selbstbewusstseins. So enthalten Sartres Struktur der »Blickanalyse« sowie Fichtes Struktur der »Theorie der Aufforderung« Basiselemente, deren funktionaler Zusammenhang auffallend ähnlich ist. Im Ausgang von analogen Leitbegriffen wie ›cogito préréflexif‹ und ›absolutes Ich‹ entwickeln beide Autoren fundamentale Bestandteile ihrer Philosophie. Während Sartre das Selbstbewusstsein durch die Herauslösung des Denkens aus dem ›cogito préréflexif‹ expliziert, entwickelt Fichte seine Explikation des Bewusstseins von seiner praktischen Fähigkeit schrittweise aus dem absoluten Ich. Beide vollziehen in ihren Konzeptionen die Entwicklung des Selbstbewusstseins als Gradation von vernunftlos zu vernünftig. Damit lassen sich ähnliche ontologische Bedingungen der jeweiligen Selbstbewusstseinstheorien entdecken. Fichte als auch Sartre nehmen Ausgang von der ontologischen Verfasstheit des Menschen. So erinnert Sartres Definition der ›Wesenswahrheit‹ deutlich an entsprechende Fichtesche Bestimmungen. In seinem Werk Vérité et existence bestimmt Sartre die Wesenhaftigkeit als Vollzug des reflektierenden Bewusstseins. Sich ein Wesen geben bedeutet nach Sartre: »Ce qui manque: distinguer la vérité ontique et la vérité des essences. La vérité est toujours passage de lʹontique à lʹessence quand elle est don.« 1 Wie Fichte zuvor weist auch Sartre die Idee des menschlichen Wesens a priori entschieden zurück. Er bestimmt das Wesen des Menschen über die bereits selbstgesetzten, konstituierten Strukturen des Bewusstseins. Insofern der Mensch sich zum Menschen macht, sind diese Strukturen aber immer eine Beschreibung seines Seins. Durch die Betrachtung und in der Betrachtung gibt sich der Mensch sein Wesen. Ein konkret Seiendes geht dieser Setzung nicht voraus. Das Wesen der ›réalité–humaine‹ ist das, als
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Cf. Jean-Paul Sartre, Vérité et Existence, (im folgenden VE) Paris 1989, 64 und ders. Conscience de soi et connaissance de soi (im folgenden CS). In: Bulletin de la société française de Philosophie XLII, Saint-Germain-les-Corbeil, 1949, p. 67. Deutsch: Was fehlt ist: Die ontische Wahrheit von der Wesenswahrheit zu unterscheiden. Die Wahrheit ist immer der Übergang vom Ontischen zur Essenz, wenn sie eine Gabe ist.
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das der Mensch sich selbst reflexiv erfasst.2 Es erscheint für Sartre, wie auch Fichte dies beschreibt, mit dem freien Akt der kognitiven Reflexion. Die Wahl, sich ein Wesen zuzuschreiben, ist der Akt einer motivierten Selbsterkenntnis. (CS, p. 67) Demnach bestimmt das Wesen nicht die Existenz, weder formt oder konstituiert es sie. Jede Wesenhaftigkeit erscheint bei Sartre erst mit der Reflexion auf die menschliche Existenz. Die Reflexion auf das eigene Sein lässt die Existenz als Wesen der ›réalité-humaine‹ erscheinen: »Lʹexistence-procède-lʹessence.« (EN, p. 655) Der Überschneidungspunkt zwischen der Sartreschen und Fichteschen Bestimmung des Selbstbewusstseins ergibt sich durch das von beiden Philosophen ähnlich stark zur Geltung gebrachte Bedürfnis des praktischen Wissens von sich, seinem Nächsten und den ethischen Implikationen dieses Wissens. In systematischer Rekonstruktion von exemplarischen Teilen dieser Ansätze werden die folgenden Untersuchungsschritte Analogien und Differenzen des von Sartre und Fichte entwickelten Untersuchungsgangs darstellen. Zunächst wird unsere Untersuchung ihren Ausgang von der Sartreschen und Fichteschen Grundlegung der Selbstbewusstseinstheorien in ihren philosophischen Schriften nehmen, um die Fundierungsordnung der Konstitutionselemente in den jeweiligen Entstehungsmomenten des Selbstbewusstseins systematisch zu rekonstruieren. Dabei kommt es unbedingt darauf an, dass Sartre sich bei der Explikation des Selbstbewusstseins und dessen Genese von jeglichen deterministischen Erklärungen distanziert, denn wie Fichte steht am Ausgang der Explikation ein transzendentales Moment. In einem zweiten Arbeitsschritt soll die Analyse der Lehre des Wissens von sich und dem Anderen durchgeführt werden. Das Ziel dieser Arbeitsmethode besteht darin, die Ethik als Konstituens des Selbstbewusstseins in beiden philosophischen Konzepten zu entschlüsseln, um so ihre jeweilige konstitutive Funktion bestimmen zu können. In diesem großen Untersuchungsfeld werden die Intersubjektivitätstheorien beider Philosophen kontrastiv gegenüber gestellt, um ihre Ähnlichkeiten und Differenzen zu zeigen. Nach der Untersuchung des Wechselbezugs zwischen Intersubjektivität und Ethik fokussiert die Abschlussuntersuchung in diesem ersten Teil unserer Arbeit den Blick auf die Darstellung der Ästhetik und ihre ethischen Grundlagen bei Sartre und Fichte, weil deutlich gemacht werden
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Jean-Paul Sartre, LʹÉtre et le néant, op. cit. p. 72.
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soll, dass auch der Ästhetik eine konstitutionelle Funktion im Moment der Selbstbewusstwerdung zukommt. Dieser Untersuchungsschritt nimmt seinen Ausgang von der Grundannahme, dass Sartres Ästhetik diesen Wechselbezug zwischen Intersubjektivität und Ethik in einer facettenreichen Literaturtheorie zum Ausdruck bringt, während Fichte dagegen in seiner Auseinandersetzung mit Kant eine ausgefeilte vermögenstheoretische Anthropologie entwickelt, deren praktische Seite er in seinen Vorstellungen über die Bedeutung der Rhetorik zum Ausdruck bringt, in der eine Ästhetik ohne Ethik unmöglich ist.3 1. Theorien des Selbstbewusstseins bei Sartre und Fichte Schon in der Einleitung zu seinem philosophischen Hauptwerk, LʹÊtre et le néant (EN pp. 19-20) bestimmt Sartre den für seine Philosophie grundlegenden Begriff des ›cogito préréflexif‹ oder auch ›conscience (de) soi‹. Dieser Begriff enthält dieselben Bestimmungsmerkmale wie der entscheidende Begriff des »unmittelbaren Bewusstseins« in Fichtes Philosophie. Ähnlichkeiten finden sich auch in der Gedankenführung, mittels derer Fichte und Sartre diese Begriffsbestimmung vornehmen. Für Sartre kann Selbstbewusstsein nicht Erkenntnis von sich selbst sein, denn »la réduction de la conscience à la connaissance, en effet, implique quʹon introduit dans la conscience la dualité sujet-objet, qui est typique de la connaissance.«4 Für ihn ergibt sich daraus aber das Dilemma eines unendlichen
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Wir stimmen mit Jeannette Colombel überein, die in ihrem Vergleich Sartres mit Foucault zu der Ansicht gelangt: »Cette étique et cette conception du sujet moral [...] ont en commun le refus de tout fondement dans la loi et dans le recours aux valeurs préétablies[...] elles se réfèrent à la création. Et Foucault a raison de dire que la pratique de Sartre relève moins de la notion dʹauthenticité (proposée par lʹexistentialisme) que de la créativité: le lien lʹétique et de lʹesthétique est décisif [...]«, in: Magazine Littéraire N° 384, 2, 2000, p. 53. Deutsch: Diese Ethik und diese Konzeption des moralischen Subjekts haben gemeinsam die Zurückweisung einer jeden Begründung durch das Gesetz oder den Rückzug auf gesetzte Werte. […] Sie beziehen sich auf Kreation. Und Foucault hat Recht zu sagen, dass die Praxis Sartres weniger aus der Bemerkung der Authentizität herrührt (vorgeschlagen vom Existenzialismus) als vielmehr von der Kreativität. Die Verbindung zwischen Ethik und Ästhetik ist dezisiv. EN, p. 19. Deutsch: Die Rückführung des Bewusstseins auf das Bewusstsein impliziert in der Tat, dass man in das Bewusstsein die Dualität Subjekt-Objekt einführt, was typisch für das Bewusstsein ist.
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Regresses, dessen Absurdität er wie folgt charakterisiert: »si nous acceptons la loi du couple connaissant connu, un troisième terme sera nécessaire pour que la connaissance devienne connu à son tour et nous serons placés devant ce dilemme: ou nous arrêter à un terme quelconque de la série: connu – connaissant connu – connaissant connu du connaissant, etc. Alors cʹest la totalité du phénomène qui tombe dans lʹinconnu, cʹest à dire que nous butons toujours contre une réflexion non-consciente de soi et terme dernier – ou bien nous affirmons la nécessité dʹune régression à lʹinfini. (idea, ideae, ideae, etc) ce qui est absurde.«5 Sobald es die Notwendigkeit gibt, das Bewusstsein ontologisch zu begründen, so gilt dies auch für seine epistemologische Begründung. Aus dieser ›doppelten‹ Begründung folgt die absolute Notwendigkeit, in die Explikation des Bewusstseins das Gesetz der Verbindung einzuführen. Für die Konstitution des Selbstbewusstseins hat dieses Verbindungsgesetz aber keine Geltung, denn: »si nous voulons éviter la régression à lʹinfini, quʹelle soit rapport immédiat et non cogitif de soi à soi.«6 Dieses unmittelbare Bewusstsein nennt Sartre »Cogito préréflexif«, oder »conscience (de) soi.« Konsequenterweise findet sich in seinem gesamten philosophischen Werk das in Klammern gesetzte »de.« Es kommt ihm darauf an, deutlich zu machen, dass durch dieses »de« nicht der Hauch einer Vorstellung von Erkenntnis mitschwingt. In seinem ›Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre‹7 vertritt Fichte dieselbe Überzeugung: »Der Punkt, um welchen es mir hier zu tun ist, ist nicht so leicht getroffen: Wird er aber verfehlt, so wird alles
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Ibid. Deutsch: Die Reduktion des Bewusstseins auf die Erkenntnis impliziert in Tat, dass man in das Bewusstsein die Subjekt-Objekt-Dualität einführt, die typisch für die Erkenntnis ist. Wenn wir aber das Gesetz des Paars erkennend-erkannt akzeptieren, wird ein drittes Glied notwendig, damit der Erkennende seinerseits erkannt wird. Und wir sind vor das Dilemma gestellt, entweder bei irgendeinem Glied der Reihe: Erkanntes – erkanntes Erkennendes – erkanntes Erkennendes des Erkennenden usf. stehenzubleiben. Dann fällt die Totalität des Phänomens ins Unerkannte. Das heißt, dass wir immer auf eine ihrer selbst nicht bewussten Reflexion als letztes Glied stoßen oder aber wir behaupten die Notwendigkeit eines unendlichen Regresses (idea ideae ideae usf.), was absurd ist. Ibid. Deutsch: Wenn wir die Regression bis ins Unendliche vermeiden wollen, dann sei sie der unmittelbare und nicht kognitive Bezug von Sich zu Sich. Cf. J.G. Fichte, Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, GA I pp. 436 sqq.
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verfehlt, denn auf ihm beruht meine ganze Lehre.« (ibid.) Fichte will mit seiner Explikation die Wichtigkeit seiner Worte unterstreichen: »Du unterscheidest [...] notwendig ein denkendes Ich von dem im Denken desselben gedachten Ich. Aber damit Du dies könntest, muß abermals das Denkende in jenem Denken Objekt eines höheren Denkens sein, um Objekt des Bewusstseins sein zu können; und Du erhältst sogleich ein neues Subjekt, welches dessen, das vorhin Dein Selbstbewusstsein war, sich wieder bewusst sei.« Auch für Fichte ergibt sich nun das Dilemma eines unendlichen Regresses: »Hier argumentiere ich nun abermals, wie vorher; und nachdem wir einmal nach diesem Gesetze fortzuschließen angefangen haben, kannst Du mir nirgends eine Stelle nachweisen, wo wir aufhören sollten; wir werden sonach ins Unendliche fort für jedes Bewußtsein ein neues Bewußtsein bedürfen, dessen Objekt das erstere sei und sonach nie dazu kommen, ein wirkliches Bewußstsein annehmen zu können. – [...] Nun ist aber doch Bewußtsein; mithin muß jene Behauptung falsch sein. Sie ist falsch, heißt: ihr Gegenteil gilt; sonach folgender Satz gilt: Es gibt ein Bewußtsein, in welchem das Subjektive und das Objektive gar nicht zu trennen, sondern absolut Eins und dasselbe sind.« (ibid.) Wie auch Sartre so nennt Fichte das Bewusstsein »unmittelbares Bewusstsein.« Sartres Entwicklung der Grundstruktur des Bewusstseins zeigt eine enge Affinität zu Fichtes Gedanken. Auch er weist Bewusstsein als etwas Absolutes nach: »La conscience est un plein dʹexistence et cette détermination de soi par soi est une caractéristique essentielle.« Auf der Grundlage der Unterscheidung zwischen reinem und empirischen Bewusstsein fährt er präzisierend fort , dass »il sera même prudent de ne pas abuser de lʹexpression »cause de soi «, qui laisse supposer une progression, un rapport de soi-cause à soi-effet. Il serait plus juste de dire, tout simplement: la conscience existe par soi.«8
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EN, p. 22. Deutsch: Das Bewusstsein ist eine Existenzfülle, und diese Bestimmung von sich durch sich ist ein Wesensmerkmal. Es ist sogar klug, den Ausdruck »Ursache von sich« nicht falsch zu gebrauchen, weil er ein Voranschreiten, ein Verhältnis von Ursache und Wirkung voraussetzte. Es wäre richtiger, ganz einfach zu sagen: das Bewusstsein existiert durch sich. Hier zeigt sich ein grobes Fehlverständnis der Sartreschen Absolutheitslehre von Seiten Merleau-Pontys, dass nach der Ansicht Roland Breeurs zu einer Serie falscher Behauptungen geführt hat. Cf. Roland Breeur, Autour de Sartre, La conscience mise à nu, Grenoble 2005, pp. 12 sqq.
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In der ersten Einleitung in die Wissenschaftslehre argumentiert Fichte ähnlich, in dem er apodiktisch zum Ausdruck bringt, dass ein Ding überhaupt keine Wirkung auf das Bewusstsein ausüben könne: »Die Natur der Intelligenz und ihre besonderen Bestimmungen will der Dogmatismus durch den Satz der Kausalität erklären: Sie soll Bewirktes, sie soll zweites Glied in der Reihe sein [...] Aber die Intelligenz erhaltet ihr nicht, wenn ihr sie nicht als ein Erstes, Absolutes hinzudenkt, deren Verbindung mit jenem von ihr unabhängigen Sein zu erklären, euch schwer ankommen möchte.«9 Das Bewusstsein ist ein Absolutes, es ist ein primär Unmittelbares, nicht erkennendes Bewusstsein von sich. Diese Explikation des Bewusstseins ist, wie wir sehen konnten, der unmittelbare Ausgangspunkt, der »point de départ«, in beiden Konzepten. Auf diesen Explikationsschritt folgt, bei Sartre wie bei Fichte, eine komplexe Analyse des Bewusstseins, das trotz dieser unmittelbaren Beziehung auf sich selbst doch wieder ein dialektisch gespaltenes ist. Das Kapitel ›LʹÊtre pour soi‹, das »Für-SichSein« in Sartres Werk LʹÊtre et le néant, in dem diese Analyse entwickelt wird, kann seinem Inhalt nach mit Fichtes theoretischer wie auch praktischer Wissenschaftslehre verglichen werden. Es enthält das Herzstück der Sartreschen Philosophie. Das »Für-sich-sein«, von dem Sartre spricht, ist nur ein anderer Begriff für das Bewusstsein als ›conscience (de) soi’‹ als Bewusstsein von sich. Aber auch das »Für-sich-sein« ist bereits bei Fichte in seiner ersten Einleitung zur Wissenschaftslehre zu finden: »Die Intelligenz, als solche, sieht sich selbst zu; und dieses sich selbst Sehen geht unmittelbar auf alles, was sie ist, und in dieser unmittelbaren Vereinigung des Seins und des Sehens besteht die Natur der Intelligenz. Was in ihr ist und was sie überhaupt ist, ist sie für sich selbst.« (ibid., p. 435) »Die erste Frage sonach wäre die: Wie ist das Ich für sich selbst.« (ibid p. 458) Aus dieser grundlegenden Struktur des Bewusstseins, für sich zu sein, sich selbst anzusehen, Reflexion zu sein, folgen bei Sartre wie bei Fichte alle näheren Bestimmungen des Bewusstseins analytisch. Aus ihr gehen zugleich sowohl das Reich der Natur wie das Reich der Freiheit hervor: Für sich sein, also sich bewusst sein, bedeutet für Sartre, immer in einer bestimmten Distanz zu sich zu existieren. »[…] la condition première de toute réflexivité est un cogito préréflexif. Ce cogito, certes, ne pose pas dʹobjet, il reste in-
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Fichte GA I,3 p. ,436.
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traconscientiel. Mais il nʹest pas moins homologue au cogito réflexif en ce quʹil apparaît comme la nécessité première pour la conscience irréfléchie, dʹêtre vue par elle-même; »Lʹêtre pour soi comporte donc originellement ce caractère dirimant dʹexister pour un témoin, bien que ce témoin pour qui la conscience existe soit elle-même.«10 Das »Für-sich-sein« bringt ursprünglich diesen Charakter des »protokollierenden Beobachters« mit sich, d.h. für einen Zeugen zu existieren, obgleich dieser Zeuge, für den das Bewusstsein existiert, es selbst ist. »Le soi représente donc une distance idéale dans lʹimmanence du sujet par rapport à lui même, une façon de ne pas être sa propre coïncidence [...]. Cʹest ce que nous appellerons la présence à soi.«11 Also stellt das Sich in der Immanenz des Subjektes durch die Beziehung auf sich selbst eine ideale Distanz dar, was wir als eine Weise des Seine-Koinzidenz-nicht-Seins aufzufassen haben und was Sartre später ›die Anwesenheit bei sich‹ nennen wird. Das Bewusstsein als Reflexion ist der Ursprung aller Negation. Das Subjekt, als wesentlich sich reflektierendes. Es ist deshalb ein in sich Gespaltenes, weil es sich immer dabei zuschaut, wie es in bestimmter Weise ist und weil sich dabei zusehend es doch mit diesem so Seienden nicht schlechthin identifiziert werden kann. Das Nichts kommt nach Sartres Ansicht dadurch in die Welt, dass das Subjekt von sich selbst geschieden ist. Das Nichts ist die Nichtung des Identischen, welche das Für-sich-sein mit sich bringt. Sich seiner bewusst sein, heißt nichts anderes als wissen, dass man der nicht ist, der man ist, und umgekehrt, dass man der ist, der man nicht ist: »Ce que la description ontologique a fait immédiatement paraître, cʹest que cet être est fondement de soi comme défaut dʹêtre, cʹest à dire quʹil se fait déterminer en
10 EN, pp. 116 -117. Deutsch: Die erste Bedingung jeder Reflexivität ist ein präreflexives Cogito. Allerdings setzt dieses Cogito kein Objekt, es verbleibt innerhalb des Bewusstseins. Indessen ist es nichtsdestotrotz dem reflexiven Cogito homolog, und zwar insofern, als es als die erste Notwendigkeit für das unreflektierte Bewusstsein erscheint, dass dieses von ihm selbst gesehen wird; es beinhaltet also ursprünglich diese aufhebende Eigenschaft, für einen Zeugen zu existieren, wenngleich dieser Zeuge, für den das Bewusstsein existiert, es selbst ist. 11 Ibid. op. cit, p. 119. Deutsch: In der Immanenz des Subjekts stellt das Sich somit eine ideale Distanz in der Immanenz des Subjekts zu sich selbst dar, und zwar in einer Weise, nicht seine eigene Koinzidenz zu sein, (...) das nennen wir die Anwesenheit bei sich.
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son être par un être quʹil nʹest pas.«12 Zuvor hatte Sartre schon klargemacht, dass man sich immer zusieht, auch wenn das Sich-Zusehen nicht ausdrücklich in der Form einer Selbstanalyse vor sich geht. Das Wissen, dass man der ist, der man nicht ist, resultiert aus dieser doppelten Negation, die Sartre folgendermaßen expliziert: »[...] pour fonder son propre être, il faudrait exister à distance de soi et cela impliquerait une certaine néantisation de lʹêtre fondé comme de être fondant, une dualité qui serait unité: nous retomberions dans le cas du pour-soi. […], tout effort pour concevoir lʹidée dʹun être qui serait fondement de son être aboutit, en dépit de lui-même, à former celle dʹun être qui, contingent en tant quʹêtre en soi, serait fondement de son propre néant.«13 Wenn aber das Für-sich-sein die Struktur des Reflektierend-Reflektierten hat, so muss doch, so Sartre, das Reflektierende irgendetwas reflektieren, wenn es nicht nichts sein will. Analog dazu ist das Für-sich anwesend bei sich in der Weise des anwesend bei einer Sache sein. Immer ist man sich einer Sache bewusst, ist man fürsich wenn man dieses oder jenes tut, sieht oder fühlt, bei diesem oder jenem ist. Notwendigerweise ist Bewusstsein immer Bewusstsein von etwas: »[…] ce qui rend […] toute expérience possible, cʹest un surgissement a priori de lʹobjet pour le sujet ou, puisque le surgissement est le fait originel du pour-soi, un surgissement originel du pour-soi comme présence à lʹobjet quʹil nʹest pas.«14 Was nach Sartre alle Erfahrung erst möglich macht, ist das apriorische Hervortreten des Objekts für das Subjekt. Das Hervortreten ist die ursprüngliche Tat des Für-sich als Anwesenheit bei einem Objekt, welches es nicht ist: »Seul le pour-soi peut être déter-
12 Ibid. op. cit., p. 128 -129. Deutsch: Dasjenige, was die ontologische Beschreibung unmittelbar erscheinen ließ, ist, dass dieses Sein der Grund seiner selbst als Seinsmangel ist, was bedeutet, dass es sich in seinem Sein bestimmen lässt durch ein Sein, dass es nicht ist. 13 Ibid., p. 123. Deutsch: Um sein eigenes Sein zu begründen, musste es in Distanz zu sich existieren und das implizierte eine gewisse Nichtung des begründeten wie des begründenden Seins, eine Dualität, die Einheit wäre: damit fielen wir wieder zurück auf das Für-Sich (...) jeder Versuch, die Idee eines Seins zu fassen, das der Grund seines Seins wäre, führt sich selbst trotz seiner selbst zu der Idee eines Seins, das, als An-Sich-sein kontingent, der Grund seines eigenen Nichts wäre. 14 Ibid. op. cit., p. 224. Deutsch: Was jede Erfahrung möglich macht, ist das apriorische Auftreten des Objekts für das Subjekt oder, weil das Auftreten das ursprüngliche Faktum des Für-sich ist, ein ursprüngliches Auftreten des Für-sich als Anwesenheit bei dem Objekt, das es nicht ist.
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Teil 1: Selbstbewusstsein, Intersubjektivität und Ethik bei Sartre und Fichte
miné dans son être par un être quʹil nʹest pas. […] Si donc cʹest au poursoi seul quʹil appartient de connaître, cʹest quʹil appartient à lui seul de sʹapparaître comme nʹétant pas ce quʹil connaît […] il faut concevoir que le pour-soi enveloppe dans son être lʹêtre de lʹobjet quʹil nʹest pas en tant quʹil est en question dans son être comme nʹétant pas cet être.«15 Für Fichte wie auch für Sartre ist evident, dass Objekt, Erfahrung der Welt und der Andere als »ursprüngliche Tat« des Bewusstseins aufgefasst werden müssen. In diesem Kontext erteilt Sartre dem Determinismus noch einmal eine harsche Absage: »Le sens profond du déterminisme, cʹest dʹétablir en nous une continuité sans faille dʹexistence en soi. Le mobile conçu comme fait psychique, cʹest-à-dire comme réalité pleine et donnée, sʹarticule, dans la vision du déterministe, sans solution de continuité à la décision et à lʹacte, qui sont concçus également comme données psychiques. Lʹen-soi sʹest emparé de tous ces ›data‹, le mobile provoque lʹacte comme la cause lʹeffet, tout est réel, tout est plein.« 16 Wenn das Bewusstsein wesentlich die Struktur des Reflektierend-Reflektierten hat, so muss es das Objekt a priori hervorbringen, da es sonst strukturlos wäre. Das Reflektierend-Reflektierte bedeutete sonst das Nichts. In ähnlicher Weise expliziert Sartre sodann die näheren Bestimmungen der Objekte, die Qualität, die Quantität, den Raum, die Zeit usf. Alle diese Bestimmungen sind für ihn Bedingungen des Bewusstseins, die zu seiner Selbstentfaltung gehören. So führt er die Welt auf die im Für-sich-sein liegende Reflexion zurück. Für Sartre ist die Dialektik, in welcher das Subjekt existiert, die Negation, welche es in sich trägt. Sie ist zugleich der Ursprung, aus dem die Welt hervorgeht, denn sie enthält in unserer Sicht bereits alle notwendigen
15 Ibid. op. cit, p. 224. Deutsch: Allein das Für-sich kann in seinem Sein durch ein Sein, das es nicht ist, bestimmt werden. (...) Wenn es also allein dem Für-sich zusteht, zu erkennen, dann deswegen, weil es ihm allein zusteht, sich als nicht das seiend zu erscheinen, was es erkennt. (...) Man muss verstehen, dass das Für-sich in seinem Sein das Sein des Objekts, das es nicht ist, einschließt und zwar insofern es in seinem Sein in Frage gestellt ist als dieses Sein nicht seiend. 16 Deutsch: Der tiefere Sinn des Determinismus besteht darin, in uns eine lückenlose Kontinuität von Existenz an sich herzustellen. Der als psychisches Faktum, d.h. als volle und gegebene Realität verstandene Antrieb, gliedert sich in den Augen des Deterministen – und zwar ohne Störung der Kontinuität – in Entschluss und Akt, die gleichfalls als psychische Gegebenheiten verstanden werden. Das An-sich hat sich all dieser ›Daten‹ bemächtigt, der Antrieb ruft den Akt hervor wie die Ursache ihre Wirkung, alles ist real, alles ist vollständig. EN, p. 515.
1. Theorien des Selbstbewusstseins bei Sartre und Fichte
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ethischen Implikationen des Selbstbewusstseins, die für unseren weiteren Beweisgang ausgesprochen wichtig sind: »(lʹêtre-en-soi) est le fondement de son être-conscience ou existence, mais quʹil ne peut en aucun cas fonder sa présence. Ainsi la conscience ne peut en aucun cas sʹempêcher dʹêtre et pourtant elle est totalement responsable de son être.«17 Wenn Sartre dem Prozess der Selbstbewusstwerdung ein ethisches Moment zuschreibt, wird die Ähnlichkeit mit Fichtes Wissenschaftslehre unverkennbar. Auch Fichte schreibt dem Prozess der Selbstbewusstwerdung ein ethisches Moment zu. Ein klarer Beleg dafür findet sich im dritten Teil der Wissenschaftslehre, in dem der eigentliche Kernpunkt der Lehre Fichtes in § 5 zum Ausdruck kommt. Beginnt die Wissenschaftslehre mit der bloßen Tatsache, dass das Ich die Negation in sich setzt, dem Ich also ein Nicht-Ich entgegenstellt, so wird im theoretischen Teil der Wissenschaftslehre unmissverständlich klargestellt, welche Folgerungen sich daraus ergeben, dass das Ich von einem Nicht-Ich einen Anstoß erfährt. Aber erst im 3. Teil zeigt Fichte anhand seiner präzisen Deduktion der Aufforderung, auf welchen Ursprung der Anstoß zurückzuführen ist. Er ist die Urbedingung dafür, dass es überhaupt eine Welt für ein Ich, bzw. dass es ein Nicht-Ich gibt. Fichte schreibt über den Ursprung dieses Anstoßes: »Das Ich soll sich nicht nur selbst setzen, […], sondern es soll sich für sich selbst setzen. […] Demnach muß das Ich, so gewiss es ein Ich ist, unbedingt […] das Prinzip in sich haben, über sich selbst zu reflektieren; und so haben wir ursprünglich das Ich in zweierlei Rücksicht, teils, inwiefern es reflektierend ist, und insofern ist die Richtung seiner Tätigkeit centripetal; teils, inwiefern es dasjenige ist, worauf reflektiert wird, und insofern ist die Richtung seiner Tätigkeit centrifugal.«18 Damit ist nach Fichtes Überzeu-
17 Ibid. Hervorhebungen sind von Sartre übernommen. Deutsch: Das Für-sich ist der Grund seines Bewusstseins-seins oder seiner Existenz, aber es kann auf keinen Fall seine Anwesenheit begründen. Somit kann sich das Bewusstsein auf keinen Fall daran hindern zu sein, und dennoch ist es für sein Sein voll und ganz verantwortlich. cf. Fichte op. cit.,GA I,3 p. 274. Im nächsten Abschnitt werden wir sehen, welche Bedeutung dem Anstoß für die Entstehung von Intersubjektivität zukommt. 18 In Rekurs auf Sartres »Conscience de soi et connaissance de soi« ist Vincent de Coorebyter der Auffassung, dass Sartre dort die Unhintergehbarkeit des Bewusstseins dargestelt habe, »qui introduit les métaphores quʹon va découvrir – éclatement, arrachement, fuite, glissement, tourbillon..., soit aux images centrifuges dirigées contre la logique centripète de la philosophie alimentaire des théoriciens de
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Teil 1: Selbstbewusstsein, Intersubjektivität und Ethik bei Sartre und Fichte
gung das Grundgesetz des Bewusstseins charakterisiert. Aber die zentripetale Richtung der Tätigkeit des endlichen Bewusstseins, seine reflektierende Tätigkeit, erscheint diesem selbst als etwas Hemmendes und wird »als etwas Fremdartiges« betrachtet. (ibid. p. 276) Dieses Fremdartige, verstanden als Nicht-Ich, ist der Widerstand und Objekt, mit dem das Ich in dauernder und notwendiger Auseinandersetzung steht. Als permanentes Hindernis versucht es dieses in unendlicher Annäherung zu vernichten.19 Bei Sartre und Fichte findet sich derselbe Grundgedanke als Ausgangspunkt ihrer philosophischen Konzeptionen. Aus der Dialektik, innerhalb derer das Subjekt absolut existiert, entspringen Objekt und Welt, sofern es als reflektierendes Subjekt die Negation in sich trägt. Sowohl für Fichte als auch für Sartre ist das Theoretische kein bloßes Erkennen, Vernehmen und Anschauen, sondern es ist reines Tun. Indem Sartre das Theoretische aus dem Praktischen erklärt, gelangt er zu seiner Explikation des ›Poursoi‹. In diesem Kontext steht das ›être-pour-soi‹ dem ›être-en-soi‹ diametral gegenüber. Das Objekt ist bloße Identität mit sich selbst. Weil es nicht von sich selbst zu trennen ist, ruht es nur in sich. Das In-sich-seiende ist das, was es ist. Auf strenger Wortbedeutung beharrend stellt Sartre klar: »lʹêtre nʹest pas rapport à soi, il est soi. Il est une immanence qui ne peut
lʹintériorité.« Vincent de Coorebyter, Hg, Sartre, La transcendance de lʹEgo et autres textes phénoménologiques, Paris 2003, p. 172. Deutsch: […] das die Metaphern einführt, die man entdecken wird – Ausbruch, Losreißen, Flucht, Hinweggleiten, Wirbeln – sind auf zentrifugale Bilder gerichtet, gegen die zentripetale Logik der Lebensmittelphilosophie der Interioritätstheoretiker. 19 Mit diesen Gedankengängen sind auch solche verbunden, von denen Sartres abweichen, z.B. der für Sartre nicht existierende Unterschied zwischen dem endlichen und dem unendlichen Ich verursacht hier Gegensätze, deren Prüfung aber einer eigenen Forschungstätigkeit bedürfte. In Fichtes Konzept ist das unendliche Ich dasjenige, mit welchem die gesamte Wissenschaftslehre beginnt, das endliche dasjenige, von der die theoretische Wissenschaftslehre ihren Ausgang nimmt. Das unendliche Ich ist absolute Einheit, reine Identität; das endliche Ich ist das durch die Negation, das Nicht-Ich bereits eingeschränkte Ich. Das unendliche Ich ist ungespalten; erst das endliche Ich ist dialektisch, ist Reflexion. Aber das unendliche Ich ist eben deshalb, weil es keine Reflexion ist, auch kein bewusstes. Hier stellt sich die Frage, ob nicht auch Sartre notwendigerweise ein unendliches Ich in seiner Philosophie verankern musste, denn dieselben Eigenschaften spricht Sartre – wie Fichte dem absoluten Ich – der Rolle des präreflexiven Cogito zu.
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pas se réaliser, une affirmation qui ne peut pas sʹaffirmer, une activité qui ne peut pas agir, parce quʹil est empâté de soi-même.«20 Demgegenüber steht Sartres Lehre, wonach das Sein nie mit sich identisch ist. Wenn wir traurig sind, sind wir nicht diese Traurigkeit, sondern wir übernehmen und wir ergreifen sie. Diese Diskrepanz zwischen dem Für-sich-seienden und Sich verdeutlicht Sartre am Beispiel der »mur blanc.« Da wir nicht mit der Traurigkeit identisch sein können, sind wir – die wir uns doch immer zuschauen – in der Lage, ihr zu entweichen. Wir können wählen, ob wir uns der Traurigkeit überlassen wollen oder nicht. Es ist daher nie möglich, auf etwas festgelegt zu werden. Alles, was wir sind, sind wir nur als eine Möglichkeit. Angesichts dieser Zusammenhänge kann Sartre dem Menschen unmöglich ein Wesen zusprechen. Von einer Selbstbestimmung kann nur dann sinnvoll ausgegangen werden, wenn – undeterminiert und bestimmungslos – Wesenlosigkeit gesetzt wird. Als Wesenloser muss der Mensch sich aber ununterbrochen selbst bestimmen und auf Möglichkeiten hin entwerfen. In Auseinandersetzung mit dem transzendentalphilosophischen Idealismus Hegels, – dem Schöpfungsgedanken deutscher Provenienz – schreibt Sartre: »Si lʹêtre existe en face de Dieu, cʹest quʹil est son propre support, cʹest quʹil ne conserve pas la moindre de la création divine [...] même sʹil avait été créé, lʹêtre-en-soi serait inexplicable par la création, car elle reprend son être par delà celle-ci. Cela équivaut à dire que lʹêtre est incréé.«21 Der Mensch ist das Seiende, das sich dauernd ex nihilo selbst erschaffen muss. Jede Situation, in der er sich befindet, ist im Grunde seine Schöpfung, seine Tat. Auch wenn er nichts tut, sich Träumereien ergibt, hat er doch gewählt. Hält er sich im Nichtstun, erschafft er es ununterbrochen neu. Er ist immer und ununterbrochen Tat, weil er, ein reflektierend in sich gespaltenes Wesen, stets ein
20 Ibid. op. cit., p. 32. Deutsch: Das Sein ist kein Bezug zu sich, es ist Sich. Es ist eine Immanenz, die sich nicht realisieren kann, eine Affirmation, die sich nicht affirmieren kann, eine Aktivität, die nicht handeln kann, weil es sich nicht selbst verfestigt hat. 21 Ibid. op. cit. Deutsch: Wenn das Sein Gott gegenüber existiert, so deswegen, weil es sein eigener Träger ist, weil es nicht die geringste Spur der göttlichen Schöpfung bewahrt [...] selbst wenn es erschaffen worden wäre, wäre das An-sich-sein durch die Schöpfung unerklärbar, denn es nimmt sein Sein von jenseits desselben auf. Das ist gleichbedeutend zu sagen, dass das Sein unerschaffen ist.
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anderer ist, als er ist, weil er von Grund auf ein Schauspieler ist.22 »Ce fait insaisissable de cette impalpable différence qui sépare la comédie réalisante de la pure et simple comédie, cʹest ce qui fait […] que je me saisis à la fois comme totalement responsable de mon être, en tant que jʹen suis fondement et, à la fois, comme totalement injustifiable.«23 Diese Bemerkung Sartres deckt einen Zusammenhang auf, der für die Entwicklung unserer These richtungsweisend ist: Wenn der Mensch kein Wesen und keine Substanz besitzt, die er als Ich bestimmen könnte, geht seine Existenz seiner
22 Sartre illustriert dies an zwei Beispielen: »Le joueur qui a librement et sincèrement décidé de ne plus jouer et qui, lorsquʹil sʹapproche du »tapis vert«, voit soudain »fondre« toutes ses résolutions.« (Deutsch: Der Spieler, der frei und aufrichtig beschlossen hat, nicht mehr zu spielen und der, als er sich dem grünen Teppich nähert, plötzlich all seine Entschlüsse dahinschmelzen sieht.) Der frühere Entschluss, nicht mehr zu spielen, ist immer da, und in der Mehrzahl der Fälle wendet sich der Spieler, wenn er in den Anblick des Spieltisches gerät, nach ihm um und bittet ihn um Hilfe ... er glaubt an eine Wirkung jenes Entschlusses. Aber was er dann in der Angst erfasst, das ist gerade die totale Unwirksamkeit des vergangenen Entschlusses. Er ist da, zweifellos aber ... unwirksam, überschritten gerade durch die Tatsache, dass ich Bewusstsein von ihm habe. Er ist noch Ich in dem Maße, als ich mein mit mir Identischbleiben durch den Zeitfluss hindurch fortwährend realisiere, aber er ist nicht mehr Ich auf Grund der Tatsache, dass er für mein Bewusstsein ist ... damit der alte Entschluss mir wieder helfen kann, muss ich ihn ex nihilo wieder erschaffen, aus freien Stücken; er ist nur eine meiner Möglichkeiten, so wie das Faktum des Spielens eine andere ist. Die Furcht, meine Familie unglücklich zu machen, muss ich wieder finden, muss ich als erlebte Furcht wieder erschaffen, sie hält sich hinter mir verborgen wie ein knochenloses Gespenst, es hängt nur von mir ab, dass ich ihr mein Fleisch und Blut verleihe. Das zweite Beispiel Sartres bezieht sich auf den Kaffeehauskellner: »Si je suis garçon du café, […] ce ne peut pas être que sur le mode de ne lʹêtre pas. Et cela est vrai: si je pouvais être garçon de café, je me constituerais soudain comme un bloc contingent dʹidentité. Cela nʹest point: cet être contingent mʹéchappe toujours. Mais pour que je puisse donner librement un sens aux obligations que comporte mon état, il faut quʹen un sens, au sein du pour-soi, comme totalité perpétuellement évanescente, lʹêtre-en-soi comme contingence évanescente de ma situation soit donné. Cʹest ce qui ressort bien du fait que, si je dois jouer à être garçon de café […] aurai-je beau jouer au diplomate ou au marin: je ne le serai pas.« EN, op. cit. p. 98, pp. 125-126. Deutsch: Wenn ich Kaffeehauskellner bin, [...] kann dies nur im Modus des des Nicht-seins sein. Und das ist wahr: Wenn ich Kaffeehauskellner sein könnte, würde ich mich plötzlich wie ein kontingenter Identitätsblock konstituieren. Und dieses gibt es nicht: dieses Sein entgleitet mir immer wieder. Damit ich aber frei den Verpflichtungen einen Sinn geben kann, die mein Zustand beinhaltet, muss sozusagen in-
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Essenz voraus, er ist frei. Sartres These wird auch von Fichte, wenngleich in anderer Begrifflichkeit, vertreten.24 Auch für Fichte ist das Bewusstsein zunächst ununterbrochenes Tun. Er gründet es auf das, was er die ›absolute Tathandlung‹ nennt. In der ersten Einleitung in die Wissenschaftslehre schreibt er: »Der Idealismus erklärt die Bestimmungen des Bewußtseins aus dem Handeln der Intelligenz. Diese ist in ihm nur tätig und absolut, nicht leidend; [...] Die Intelligenz ist dem Idealismus ein Tun und absolut nichts weiter.« (ibid., p. 440) Das Subjekt ist nie feststehende Substanz, sondern ununterbrochene, aus seiner dialektischen Gespaltenheit sich und die Welt gestaltende Tätigkeit. Hat es einmal seinen dialektischen Zwiespalt an einer Stelle überwunden, so öffnet er sich sogleich an einer anderen Stelle erneut. Das Spiel beginnt von neuem: »[...]ich kann mich mit Freiheit bestimmen, dieses oder jenes zu denken, z.B. das Ding an sich des Dogmatikers. Abstrahiere ich nun von dem Gedachten und sehe lediglich auf mich, so werde ich mir selbst in diesem Gegenstande das Objekt einer bestimmten Vorstellung. Daß ich mir gerade so bestimmt erscheine [...] gerade als denkend, soll meinem Urteile nach abhangen von meiner Selbstbestimmung; ich habe zu einem solchen Objekte mit Freiheit mich gemacht. Mich selbst an sich habe ich nicht gemacht, sondern ich bin genötigt, mich als das Bestimmende der Selbstbestimmung voraus zu denken. Ich selbst aber bin mir ein Objekt, dessen Beschaffenheit« (also dessen Essenz) lediglich von der Intelligenz abhängt, dessen Dasein aber« (also dessen Existenz) »immer vorauszusetzen ist.« (ibid., p. 427) Das am Anfang der Wissenschaftslehre gesetzte Ich ist zunächst so gut wie nichts. Erst aus dem Zwiespalt, der in ihm liegt, entfaltet es sein Wesen. Auch nach Fichtes Ansicht ist das Selbstbewusst-
nerhalb des Für-sich als dauernd schwindende Totalität das An-sich-sein als schwindende Kontingenz meiner Situation gegeben sein. Das geht nämlich aus der Tatsache hervor, dass ich zwar Kellner sein spielen muss, [...] noch so sehr Diplomat oder Matrose spielen kann: ich werde es nicht sein. 23 Ibid. op. cit. p. 126. Deutsch: Dieses unfassbare Faktum meiner Lage, dieser unspürbare Unterschied, der die realisierende Komödie von der bloßen Komödie trennt, bewirkt, [...] dass ich mich selbst als total verantwortlich für mein Sein erfasse, insofern ich sein Grund bin, und zugleich total als nicht zu rechtfertigen. 24 Hier handelt es sich streng genommen um zwei verschieden Ebenen, auf denen Fichte argumentiert: Die des Lebens (empirische Ebene) und die des Bewusstseins (Ebene des reinen Gedankens).
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sein ununterbrochen danach unterwegs, reine Identität zu werden, die Negation, den Widerspruch zu überwinden. Aber auch hier erweist es sich, dass dieses Ich als reine Identität, das Fichte auch das Unendliche nennt, die größte Verwandtschaft mit Sartres In-sich-sein, ›lʹêtre-en-soi‹, aufweist. Es ist auch das, was es ist: Es ist bewusstlos, und es ist das vom Bewusstsein erstrebte und doch nicht erstrebte. Das unendliche Ich Fichtes lässt sich daher, wenn auch in etwas anderer Gestalt, bei Sartre wieder finden. Sartre und Fichte nehmen beide an, dass das Erwachen des Bewusstseins in einer Art Stufenfolge vor sich geht. Ähnlich wie Fichte, beschreibt Sartre »trois degrés de la conscience.«25 Man braucht daher nicht auf Descartesʹ zwei Substanzen des Denkenden und Nichtdenkenden (res cogitans und res extensa) zurückzugehen, um zu erklären, wo die konstitutiven Begriffe in Sartres Philosophie ihren Ursprung haben. Die Art und Weise, wie er auf das Cogito zurückgeht, ist derjenigen Fichtes sehr viel ähnlicher als derjenigen Descartesʹ. Auch der Zusammenhang zu Husserl ist weniger eng, als von manchen behauptet wird.26 Denn nicht die Intentionalität, sondern der Reflexionscharakter des Bewusstseins steht bei Sartre im Mit-
25 Jean-Paul Sartre, La Transcendance de lʹEgo. Esquisse dʹune description phénoménologique, [im folgenden EGO], Paris 1936, pp. 37,29, »1° un premier dégrée au niveau de la conscience irréfléchie, non-positionnelle de soi, parce que conscience de soi en tant que conscience dʹun objet transcendant; Avec le cogito 2° un second degré: la conscience réfléchissante est non-positionnelle dʹelle-même, mais positionnelle de la conscience réfléchie ; 3° un troisième degré, qui est un acte thétique au second degré, par lequel la conscience réfléchissante devient positionnelle de soi. Autrement dit, au niveau du second degré, il y a des actes irréfléchis de réflexion.« Deutsch: 1° als ein erster Grad auf dem Niveau des irreflektierten Bewusstseins von sich, nicht sich selbst setzend, weil Bewusstsein von sich als Bewusstsein von einem transzendenten Objekt. Mit dem Cogito 2° ein zweieter Grad: das refelektierende Bewusstsein ist nicht sich selbst setzend, aber das das reflektierende Bewusstsein setzend ; 3° ein dritter Grad, der ein thetischer Akt ist im zweiten Grad, durch den das reflektierende Bewusstsein von sich selbst setzend wird. Anders gesagt, auf dem Niveau des zweiten Grades gibt es unreflektierte Reflexionsakte. 26 Cf. Leo Fretz, Amparo Arino, »Sartre entre Husserl et Heidegger«, in Rainer, E. Zimmermann, Hg., Sartre, Jahrbuch Eins, Münster 1991, p. 190, cf. auch Hans-Georg Gadamer, »Das Sein und das Nichts«, in: Traugott König, Hg., Sartre, Ein Kongreß, p. 37. »[...] die französischen Philosophen, [...] auch so geniale Männer wie Jean Paul Sartre (haben) drei deutsche Philosophen in sich aufgenommen [...] Hegel, Husserl und Heidegger.« Ibid. p. 38.
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telpunkt seiner Philosophie. Dasjenige aber, was Sartre ›Phänomenologie‹ nennt, besteht – soweit es sich um die theoretische Fundierung seiner Philosophie handelt – , in nichts anderem als in der analytischen Explikation des Begriffes ›être-pour-soiʹ‹. Was Heidegger anbelangt, so ist die Differenz, die ihn von Sartre trennt, von Heidegger selbst z.T. nicht ohne Polemik klargestellt worden.27 Solche Darstellungen übersehen aber, dass Sartre selbst zur philosophischen Konzeption Heideggers in entscheidenden Punkten innerhalb seiner großen philosophischen Schrift LʹÊtre et le Néant, und zwar in mehreren Punkten, zu Heidegger auf Distanz geht.28 Nach dieser Darstellung der Gemeinsamkeiten konstitutioneller Aspekte innerhalb der Explikation des Selbstbewusstseins in den philosophischen Konzepten Sartres und Fichtes werden wir eine Untersuchung durchführen, die sich auf die empirischen Möglichkeitsbedingungen des Wissens vom Wissen bezieht, um von dort aus in einem weiteren Schritt zur Klärung des Wissens vom Anderen zu gelangen. Wir werden von der transzendentalphilosophischen Position Fichtes ausgehen und im Anschluss daran dieselbe Untersuchung an den entsprechenden Textstellen Sartres durchführen.29 2. Sartres und Fichtes Lehre vom Wissen des Wissens von sich und dem Anderen Schon in seiner »Praktischen Philosophie« von Anfang 1794 weitet Fichte die Lehre Kants von den Leistungen der reflektierenden Urteilskraft ganz erheblich aus. Im ästhetischen Bereich wird diese Explikation an der Ver-
27 Gadamer berichtet in seinem Artikel, dass Heidegger über die Lektüre der ersten 40 Seiten von Sartres ›LʹÊtre et le nèant‹ nicht hinausgelangt war. Ibid. op. cit. p. 39. 28 EN p. 70 und noch an weiteren hier nicht explizit genannten Stellen. 29 Wir werden uns mit der Frage befassen, ob sich aus der Tatsache, dass sich Selbstbewusstsein nur in dieser oder jener Form konstituieren kann »eine Begründung dafür ableiten läßt, dass dies auch so gesollt oder nur gewollt werden sollte.« cf. Dorothea Wildenburg, Ist der Existenzialismus ein Idealismus, Transzendentalphilosophische Analyse der Selbstbewußtseinstheorie des frühen Sartre aus der Perspektive der Wissenschaftslehre Fichtes, Amsterdam 2003. »Abgesehen davon, dass ein Wollen-müssen nicht Grundlage einer Moral sein kann, da sie nicht auf der freien Entscheidung des Subjekts basiert, läßt sich in Sartres Theorie weder eine Begründung dafür finden, daß diese nicht geflohen werden darf, noch dafür, warum dieses Faktum positiv konnotiert werden sollte.« Ibid. p. 283.
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bindung der faktischen und praktischen Bedeutung der Gefühle dargelegt. Über die Leistungen der Urteilskraft gelangt er hinauf zu den Ideen und der Tätigkeit der praktischen Vernunft, die es ermöglicht, dass wir sie auf den höheren Stufen des Bewusstseins im Objekt selbst tätig erblicken. Durch diese unmissverständliche Klarstellung legt Fichte die ersten Grundlagen für die transzendentalen Bestimmungen der Intersubjektivität. Damit gelang es Fichte als erstem Philosophen in der Geschichte die Konstituentien der Person aufzuzeigen, denn für ihn erschlossen sich so die Entdeckungszusammenhänge der Interpersonalität.30 Fichtes Gedankengang führt uns zu seinem ›Naturrecht‹. In §3 des Werkes nimmt Fichte Ausgang von der Verhältnisbestimmung der zwecksetzenden und freien Wirksamkeit sowie der Objektvorstellung. Fichte stößt bereits hier auf einen Zirkel, in dem sich anfänglich ein endliches Vernunftwesen befindet. Es handelt sich um das »Subjekt« als Ausgangspunkt seiner freien Wirksamkeit. Die Objektvorstellung geht der freien Wirksamkeit als Ermöglichungsbedingung, d.i. als Sphäre für ihre freie Wahl, zeitlich voraus, denn sonst wäre dem Subjekt nichts gegeben, woraus es für seinen Zweckentwurf und seine freie Entscheidung auswählen könnte. Umgekehrt aber gehen diese Wirksamkeit und dieser Zweckentwurf der Objektvorstellung als Ermöglichungsbedingung zeitlich voraus, denn wenn sich die Freiheit nicht zuwendet, ist ihr keine Sphäre für ihre freie Wahl gegeben. Eines führt auf das andere zurück, da es auf dieser Ebene keinen Anfang des Bewusstseins und der Freiheitsvorstellung gibt. (I,3 p. 340) Fichte deduziert daraus eine weitere Konstitutionsbedingung: Die freie Wirksamkeit muss mit der Objektvorstellung zugleich, also ohne das Dazwischentreten von Zeit, unmittelbar erfasst werden, damit das Subjekt sie sich selbst überhaupt zuschreiben kann. Dies ist nur möglich, wenn die freie Wirksamkeit mit und in der Objektvorstellung zugleich mitgegeben, dem Subjekt also »von außen« gegeben wird. Fichte macht diesen Ermöglichungsgrund dadurch einsichtig, dass das Subjekt sie wegen des Zirkels, in dem es sich ursprünglich befindet, nicht allein von sich nehmen kann. Er nennt dies »ein Bestimmtseyn des Subjekts zur Selbstbestimmung, eine Aufforderung an dasselbe, sich zu einer Wirksamkeit zu entschließen.« (ibid. I, 3, p. 342) Das Bestimmtwerden zur Selbstbestimmung erfolgt »durch einen äussern Anstoß, der ihm (dem Subjekt) jedoch
30 Cf. Beierwaltes, Werner, in: Fuchs, Ivaldo, Moretto, op. cit., p. 35.
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seine völlige Freiheit zur Selbstbestimmung lassen muss.« (ibid. p. 343) Diese Interpersonalbedeutung des ›Anstoßes‹ von §4 ist die Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre. Dort aber bedeutete er noch einfache Hemmung. Fichtes nächster Argumentationsschritt verläuft jetzt folgendermaßen: »Von der Aufforderung zur freyen Tätigkeit, wird nach den Gesetzen des Denkens geschlossen auf eine freye Intelligenz außer mir.« (GA IV,2, 252) Zum Wissen der anderen Person komme ich also nur mittelbar durch den Schluss aus der mir allein bewusster Aufforderung. In der Weiterentwicklung der Interpersonalbedeutung des Bewusstseins stellen sich uns zwei Fragen: 1. Wie kann fremde Freiheit äußerlich, d.i. durch einen äußeren Anstoß, und sei es nur in der Äußerungsform einer Aufforderung, gewusst werden? 2. Wie ist es möglich, unsere eigene Freiheit zu erfassen, wenn diese als von einem anderen Vernunftwesen bezweckt und uns von ihm aufgegeben wird? Fichte vermag diese beiden Fragen nur negativ zu beantworten. Da Freiheit und andere Ichheit ihren Ursprung nicht in der äußeren Sinnenwelt haben, können sie weder dargestellt noch erfasst werden. Als Prinzip der Aufforderung entbehrt der Schluss auf ein anderes Ich hierdurch jeglicher evidenten Grundlage. Dies ist aber für die Erscheinung fremder Leiblichkeit von äußerstem Belang. In §3 des Naturrechts macht Fichte die Aussage, dass die Personen die ›partes integrantes‹31 einer ganzen Begebenheit sind. Wirkung (= Aufforderung) und Gegenwirkung (=Erfassung eigener Freiheit daran und Replik) sind zwar untrennbar, unter den gegebenen Voraussetzungen unterliegen sie aber einer zeitlichen Abfolge. Zugleich ergeben sich für Fichte Zweifel an seinem Beweis: »Wie die Sache an sich, von dem transzendentalen Gesichtspunkte aus, seyn möge, davon ist hier nicht die Frage, sondern nur, wie sie dem zu untersuchenden Subjekte vorkommen (= erscheinen) müsse.« (ibid.) Das Subjekt wird nicht durch den äußeren Anstoß allein zu seinem Selbstbewusstsein und seiner Freiheit erweckt, sondern nur zu einem Teil, denn das apriorische Vorwissen seines Selbstbewusstseins und seines Freiheitsvollzugs ist bereits eine mitkonstituierende Bedingung dafür, dass eine Aufforderung überhaupt vernehmbar ist. In einer sie bezweckenden
31 GA I,3. p. 343 – cf. Collegium über die Moral von 1796, GA IV,1, 110 sq. – Zum Schluß aus Artefakten, cf. Kant, KdU, Akad.-Ausg. V,370, »vestigium hominis video.«
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Aufforderung kann mir meine Freiheit von außen also gar nicht gegeben werden, ohne dass ich sie bereits selbstbewusst bin und vollziehe. Sartre, der ebenfalls die Klärung dieser entscheidenden Fragen herbeiführen wollte, sieht in der Selbstobjektivierung keine dem je eigenen Bewusstsein ursprüngliche Möglichkeit. Wie Fichte kann das Bewusstsein auch für Sartre sich für sich nur erscheinen, indem es sich nichtend von sich losreißt. Dann aber ist es zugleich das Genichtete und die Nichtung. Weil es seinem Existenzprinzip nach immer nur als Seins-Nichtung existieren kann, nennt Sartre die Objekt-setzende Reflexion: »le drame de lʹêtre qui ne peut pas être objet pour lui-même«, weil »son être se définit par ceci quʹelle est cet être sur le mode dʹêtre ce quʹelle nʹest pas et de ne pas être ce quʹelle est. Son être est donc lʹexclusion radicale de toute objectivité.«32 Das Bewusstsein kann sich selbst nie vollständig als Entität, als dinghaftes Ganzes oder als Totalität erscheinen. Deshalb vermag es nicht, durch sich selbst wahrhafte Erkenntnis von sich zu gewinnen. »Ce que je rejette tout simplement quʹil y connaissance du sujet par soi-même.«33 Für die Erfahrung der eigenen Objekthaftigkeit bedarf es daher der Vermittlung durch eine andere Transzendenz, denn letztere vermag – so lautet Sartres These – sich das Bewusstsein als Objekt erscheinen zu lassen, indem es sie transzendiert: »il faut quʹil y ait présentation à moi de lʹobjet que je suis.« (EN, p. 333) Da das Bewusstsein die eigene Objekthaftigkeit nicht aus sich selbst heraus reflexiv erzeugen kann, muss es seine Objekthaftigkeit von den Anderen auf einer präreflexiven Ebene vermittelt bekommen, auf der das Bewusstsein als Nichtungszirkel Objekt für andere Subjekte ist. Sartre meint damit, dass die angestrebte Objektivierung des Bewusstseins zu einem Selbst, das dann das Seinige ist, bereits auf einer präreflexiven, interpersonalen Ebene vollzogen wird. Wichtig dabei ist, dass dieser Vollzug nicht durch das eigene Bewusstsein, sondern notwendig durch ein anderes geschieht. »La réflexion impure est un effort avorté du pour-soi pour être autrui en restant soi.«34
32 also das Drama des Seins, dass darin besteht, dass es für sich selbst nicht Gegenstand (objet) sein kann. EN 298 und 438. 33 Deutsch: Was ich einfach leugne ist, dass es eine Erkenntnis des Subjektes durch sich selbst gibt. CS, p. 83. 34 Hervorhebungen sind von Sartre übernommen. Deutsch: Die unreine Reflexion ist der missratene Versuch des Für-sich, zugleich Anderes zu sein und es selbst zu bleiben. EN, p. 208.
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Sobald das Bewusstsein seine Existenz nicht nur existiert35, sondern mit sich selbst als Objekt konfrontiert wird, bedeutet das, anderen Nichtungsvermögen, und das heißt Bewusstseinen, begegnet zu sein. Die cartesianische Selbstobjektivierung verweist für Sartre daher notwendig auf ein fremdes Objektivierungsvermögen: »Ce néant qui me sépare de lʹobjetmoi, je ne dois pas lʹêtre; car il faut quʹil y ait présentation à moi de lʹobjet que je suis. Ainsi ne saurais-je me conférer aucune qualité sans la médiation dʹun pouvoir objectivant qui nʹest pas mon propre pouvoir et que je puis ni feindre ni forger.« (ibid.)36 Sartres Gedankengang, dass allein die Intention, sich als Objekt setzen zu wollen, sich als dieses oder jenes bestimmen zu wollen, die Existenz anderer Bewusstseine mit absoluter Gewissheit impliziert, zeigt große Ähnlichkeiten zu Fichtes Argumentationen. Auch für Fichte kann es ein Objekt nur für ein Subjekt geben, durch dessen Seinsweise Objektivität allererst auftaucht.37 Die unreine Reflexion
35 Die morphologisch falsche Verwendung von être (als Transitiv) macht in diesem Zusammenhang deutlich, dass das Objekt nicht erst in der setzenden Reflexion frei erfunden wird – dann könnte »pour moi «als indirektes Objekt an dieser Stelle stehen – sondern bereits vor der expliziten Setzung in der Reflexion eine direkte Beziehung bestand. 36 Deutsch: Dieses Nichts, dass mich von meinem Objekt-Ich trennt, ich darf es nicht sein; denn es muss sein, dass mir die Vorstellung des Objekts, das ich bin, gegeben ist. Somit wüsste ich mir keinerlei Qualität beizumessen ohne die Vermittlung einer einer objektivierenden Kraft, die nicht meine eigene Kraft ist und die ich auch weder vortäuschen noch schmieden kann. 37 In diesem selben Kontext ist Sartre wie übrigens auch Fichte Solipsismus vorgeworfen worden. Sartres Gegenbeweis liegt in der Tatsache, dass er zwar keinen Anderen faktisch oder konkret nachweisen, jedoch völlig einsichtig machen kann, dass aus der Seinsweise des Bewusstseins der Andere notwendig ist, weil das Bewusstsein nur Objekt für ein Subjekt sein kann. Hinzu kommt die nicht unbedeutende Tatsache, dass dieses Subjekt nicht mit der eigenen Subjektivität identisch sein kann. Auch Fichtes komplexe Theorie der Intersubjektivität widerlegt nachhaltig den oft erhobenen Vorwurf dem ›Idealismus‹ gegenüber, er schließe einen Solipsismus ein, er nehme also ein abstrakt über der Welt schwebendes und in den Vorstellungen seines inneren Sinnes befangenes Ich an, das sich überdies feindselig vom Du bzw. von der Gesellschaft abschotte. Vor dem Hintergrund seiner genetischen Theorie des Selbstbewusstseins entwickelt Fichte die Idee einer intersubjektiven Struktur, die geeignet ist, die Antinomie von unbedingter Freiheit des Ich und Bestimmtwerden von außen zu lösen. Er zeigt die Gründe für die Stringenz der Annahme auf, dass für die Genesis realen Selbstbewusstseins dessen Freiheit nicht allein kompatibel ist mit einem Bestimmtwerden von einem Anderen, son-
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oder Selbsterkenntnis geht also bereits ihrer Intention nach auf eine präreflexive Erfahrung der eigenen Objekthaftigkeit vermittels Anderer zurück. Sie bezieht sich auf eine präreflexive Erfahrung des Bewusstseins mit sich als Objekt, das es für Andere ist. Sartre macht das an folgender Bemerkung deutlich: »Ce que le cogito nous révèle ici, cʹest simplement une nécessité de fait: il se trouve – et cela est indubitable – que notre être en liaison avec son être-pour-soi est aussi pour autrui.«38 Für Sartre macht das intuitive Wissen um die eigene Existenz als inmitten-der-Welt-sein den Anderen notwendig, da nur er der unabdingbare Vermittler dieses Wissens sein kann.39 Ähnlich wie Fichte weist ihn diese aufgelegte Struktur mit gleicher Unbezweifelbarkeit auf die Existenz weiterer Bewusstseine hin, wie das ›Für-Sich-sein‹ auf die ontologische, transphänomenale Vorrangigkeit des ›In-sich-seins‹. Mit der Offenlegung der ›existence-pour-autrui‹ genannten Bewusstseinsstruktur widerlegt Sartre den Solipsismus. Für ihn sind die anderen Bewusstseine notwendige Bedingung der Möglichkeit dieser Strukturierung, weil sie notwendige »Komplizen« sind, um das Selbst als einen Teil dieser Struktur zu erzeugen. In ›la Transcendance de lʹEgo‹ postuliert Sartre bereits die Überwindung des Solipsismus allein aufgrund der transzendentalen Strukturen des
dern dass vielmehr dieses Bestimmtwerden in ethischer Aufforderung notwendig ist, damit individuelles Selbst- und Freiheitsbewusstsein sich zu bilden vermag. Damit erweist Fichte die Vereinbarkeit und die innere Sachbezogenheit von ethischer Freiheit und ›gehorsamer‹ Entsprechung einem ergangenen ethischen oder ethisch-religiösen Anspruch gegenüber. Aus solchen Aufforderungen und Entsprechungen zu ihnen erwächst frei gewährte Gemeinschaft von verantwortungsbewussten Wesen. Das höchste Ziel der Aufforderung und freien Wechselwirkung untereinander ist die vollkommene ethische Anerkennung des Anderen als einer individuellen freien Persönlichkeit. In der Bestimmung des Menschen zeichnet sich darüber hinaus die Idee religiöser Aufforderung und religiöser Anerkennung ab, die Fichte nicht eigens unterscheidet von der mit ihr verbundenen ethischen Anerkennung. Doch ist bei Fichte hiermit die Idee eröffnet von grundlegenden Stadien der Aufforderung und der Anerkennung bis hin zu deren Vollendung. GA I,3 p. 34 – cf. Collegium über die Moral von 1796, GA IV. 38 Deutsch: Was uns das Cogito hier enthüllt, ist einfach eine faktische Notwendigkeit: es findet sich – und das ist unzweifelbar – dass unser Sein in Verbindung zu mit seinem Für-sich-sein auch für Andere da ist. EN, p. 342. 39 CS p. 51 und Fichte, op. cit., p. 344 – cf. die Interpersonalitätsaufsätze von Reinhard Lauth, in: Transzendentale Entwicklungslinien, Hamburg 1989, insbes. pp. 196-208.
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Selbstbewusstseins,40 die er aber später in ›lʹÊtre et le Néant‹ als nicht hinreichend beurteilt, da »la seule façon dʹéchapper au solipsisme serait ici encore, de prouver que ma conscience transcendantale, dans son être même, est affectée par lʹexistence extra-mondaine dʹautres consciences de même type.«41 Sartre führt diesen Nachweis in LʹÊtre et le néant über die Explikation der ›Pour-Autrui-Struktur.42 Fichtes Intersubjektivitäts-Beweis in §3 des Naturrechts lässt sich genauso auffassen. Auch bei ihm ist mit der Objektvorstellung die Aufforderung wesentlich und damit a priori verbunden. In §3 des Naturrechts richtet sich die Aufforderung wie bereits expliziert, aber primär an einen sekundär – reflexiven erfolgenden Entschluss nach vorausgegangener Deliberation.43 Das Substrat der freien Reflexion, die »prädeliberative« Selbsttätigkeit aus §1 ist von Fichte so bestimmt: »Das letzte höchste Substrat [...] seiner (= des Vernunftwesens) freyen Reflexion auf sich selbst muß demnach auch seyn, in sich selbst zurückgehende, sich selbst bestimmende Thätigkeit.« (GA I,3 p. 329) Für Fichte ist jedes Wechsel-Bestimmen in der Wissenschaftslehre nur schematisiertes Selbstbestimmen. Jede Wechsel-Beziehung ist daher nur schematisierte Selbstbeziehung, und zwar auch dann, wenn es sich um die Interpersonalität handelt. Jeder Gegensatz muss von einer apriorischen
40 EGO, pp. 36/37. 41 EN, p. 291. Sartre meint in diesem Kontext, dass die Überwindung des Solipsismus schon von Hegel geleistet worden sei. In seinem kritischen Einwand, Hegel löse das Problem lediglich aus erkenntnisphilosophischer Perspektive und nicht anhand der Explikation von Bewusstseinsstrukturen vollzieht Sartre allerdings eine ähnliche Art der Kritik wie Fichte an Hegel. Klar wird auch, dass Sartres (Vor)urteil gegenüber idealistischer Philosophie zu ziemlich nebulösen Vorstellungen führt, denn er selbst argumentiert idealistisch. Im Kontext dieses Themenkomplexes kommt Dorothea Wildenburg zu der Feststellung, die Existenzphilosophie Sartres sei ein Idealismus. Dorothea Wildenburg, op. cit. Deutsch: Die einzige Art, dem Solipsismus zu entkommen, wäre hier noch zu beweisen, dass mein transzendentales Bewusstsein, in seinem Sein selbst, affiziert ist durch die ausserweltliche Existenz anderer Bewusstseine desselben Typs. 42 Cf. Leo Fretz, Amparo Arino, J.-P. Sartre entre Husserl et Heidegger, op. cit., p. 196 sq. 43 Den Gedanken der Deliberation verdanken wir der Studie von Franz Bader »Systemidee und Interpersonalitätstheorie in Fichtes Wissenschaftslehre«, in: Fuchs, Ivaldo, Moretto, op. cit., pp. 65-106, hier p. 81.
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Ich-Einheit umfasst und aus ihr entlassen sein. Dabei muss zwischen einer intelligiblen und einer versinnlichenden Schematisierung unterschieden werden. Erstere begründet die intelligibel – personale Ichheit, letztere deren Verleiblichung. Fichtes wie später auch Sartres Argumentation zielen darauf ab, einsichtig zu machen, dass das allumfassende Ich als Basis und Einheit alles Intersubjektivitäts-Geschehens fungiert. Das Ich kann als rein geistiges (Selbstbewusstsein, Selbsttätigkeit usf.) die verschiedenen Außenvorstellungen in sich als un-ausgedehnter Einheit dann zentrieren und synthetisieren, wenn die Außenvorstellungen und ihre Welt, die Sinnenwelt [samt Interpersonalwelt], als Schemata von ihm vorgängig entlassene Erscheinungen sind. Da die Außenaffektionen geistiger Art sein müssen, darf also kein materieller Außeneinfluss stattfinden, sondern es muss den Affektionen – wie dem Ich selbst – Reflexivität als Konstitutionsprinzip und »intelligibles Substrat« (Kant) zugrunde liegen. In Abgrenzung von der transzendental-intelligiblen Argumentationsebene der allgemeinen Wissenschaftslehre wendet sich Fichte nun der transzendental-phänomenologischen Argumentationsebene des Naturrechts zu. In § 1 des Naturrechts sagt Fichte: »Von dem Gesichtspunkte einer transcendentalen Philosophie aus sieht man sogar ein, dass selbst das (Welt-)Anschauen nichts weiter sey, als das in seinen ursprünglichen (= a priori selbstgesetzten) Schranken angeschaute Ich.« (ibid., p. 330) Diese zentrale Aussage darf auch in der Intersubjektivitätstheorie nie aufgegeben werden, andernfalls wird nicht transzendental, sondern objektivistisch gedacht. Fichtes Schluss zeigt in seiner Aussage eine enge Nähe zu den existenzphilosophischen Äußerungen. Was bei Fichte als Außenaffektion und als äußerer Anstoß erscheint, ist (nach der Wissenschaftslehre) nur eine Selbstaffektion in seiner Reflexivität. Allerdings verbleibt die Selbstaffektion des Ich auf allen Bewusstseinsstufen immer noch in der Reflexionsform. Aufgrund dieser Affektion erscheint sie in Subjekt und Objekt, Subjekt und Subjekt, und schematisiert sich in deren Wechselbeziehung. Ergebnis dieser Überlegungen ist, dass es qua Einsicht der Transzendentalphilosophie sowie auch der Existenzphilosophie nicht möglich ist, mit einem der transzendentalen Reflexivität des reinen Ich vorgängigen Sein, und sei es auch geistiges Sein, oder einem Subjekt-Objekt-Gegensatz anzusetzen und daraus unser Wissen zu erklären bzw. herzuleiten. Dieser Grundgedanke macht einsichtig, wieso auch aus Fichtescher Perspektive die These Sartres »Lʹexistence précède lʹessence« von hoher
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Überzeugungskraft ist, denn hierin ist Sartre – ohne dieses an irgendeiner Stelle explizit erwähnt zu haben – derselben Ansicht wie Fichte. Aus dieser der Fichteschen so ähnlichen Argumentation resultiert Sartres Differenz zu Husserl und Heidegger. In beiden philosophischen Konzepten bildet das ›Sein‹ des Subjekts die fundamentalontologische Basis aller weiteren philosophischen Ableitungen, was in Bezug auf die transzendentalen Möglichkeitsbedingungen des Wissens von sich und der Welt einer »Robinsonade«44 gleichkommt. Man würde nicht transzendental-philosophisch argumentieren, wenn man der Ich-Einheit Zeit und Geschichte vorlaufen ließe. Das würde der Transzendentalphilosophie wesensfremd sein, das Ich evolutionistisch – und sei es auch noch so geist-evolutionistisch – zu erklären. Kants spöttische Bemerkung von »der Freiheit eines Bratenwenders« unter der Voraussetzung einer objektivistischen Zeitvorstellung, jenseits der Zeitkonstitution aus dem Ich als »transzendentaler Freiheit« veranschaulicht diesen Einwand nur allzu deutlich.45 Alles, was das Ich nicht als Einheit umfasst, steht ihm objektivistisch gegenüber, würde es in diesem Gegenüberstehen objektivistisch versinnlichen und damit als Geistwesen zerstören.46 Würde mit einer ursprüngli-
44 Dieser Ausdruck stammt von Edith Düsing in einem Gespräch mit mir. 45 Cf. Franz Bader, Systemidee und Interpersonaltätstheorie in Fichtes Wissenschaftslehre, in: Fuchs, Ivaldo, Moretto, in op. cit., p. 75 46 Vor allem in den Humanwissenschaften wird gegenwärtig durchweg die Hypothese als erwiesen hingestellt, dass individuelles Selbstbewusstsein von Personen wesentlich durch wechselseitige Identifikation und Übernahme sozialer Rollen sowie durch Verinnerlichung der Perspektive anderer gebildet wird. Nach dieser Hypothese, die eine Herausforderung an jede philosophische Theorie der Subjektivität und des Selbstbewusstseins bedeutet, kommt dem konkret existierenden Ich keine ursprüngliche Realität zu. Denn es gilt – bei allem zuzugestehenden Freiheitsgefühl und Autonomiebewusstsein – als ein aus dem gesellschaftlichen Dasein bloß Abgeleitetes. Dass ich zu mir selbst »Ich« sagen kann, mich während meines Denkens oder Handelns auf mich selbst beziehen kann, ist gemäß jener Hypothese, die letztlich im Sozialbehaviorismus verankert ist, keine originäre Leistung meines Bewusstseins oder Geistes: Es ist allmählich aufgestuftes Resultat von einfacheren pragmatischen Verhaltensweisen im Gesellschaftsprozess, in den der Einzelne eingeschaltet ist. Danach existiert zwar konkretes Selbstbewusstsein, aber nicht ursprünglich von sich her, nicht als spontan vollzogene Selbstbezüglichkeit eines Ich. Vielmehr geht danach die Wahrnehmung anderer Individuen der Selbstwahrnehmung der Person genetisch voraus, und zwar so, dass ihr eigenes Bewusstsein von sich nichts anderes ist als der Nachvollzug eines Bewusstseins, das ihre sozialen In-
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chen Ich – Ich – Differenz angesetzt, also z.B. mit individuellen Personen, stünden die Iche in dieser Weise einander gegenständlich gegenüber, weil sie in ihrem jeweiligen Bewusstseins- und Willenszentrum voreinander entäußert wären. In ihrer Beziehung aufeinander müssten sie sich gegenständlich und nicht bloß erscheinend objektivieren. Sie benötigten dafür eine objektivistische Raumform, müssten hierfür selbst objektiv im Raum gegeben sein und in der Form eines wechselseitigen Außeneinflusses aufeinander einwirken, etc. Eben dasselbe würde bezüglich der Zeit, d.i. einem objektivistisch – zeitlichen Auseinandersein und Aufeinanderfolgen der Iche gegeben. Auch hier würde Kants »Rede vom Bratenwender« wieder greifen: Kant sagt in seiner Kritik der reinen Vernunft, wenn Erscheinungen Dinge an sich selbst sind, dann ist Freiheit nicht zu retten: »Die reine Vernunft, als ein bloß intelligibles Vermögen, ist der Zeitform, und mithin auch den Bedingungen der Zeitfolge nicht unterworfen. Die Kausalität der Vernunft im intelligiblen Charakter entsteht nicht, oder hebt nicht etwa zu einer gewissen Zeit an, um eine Wirkung hervorzubringen.«47 Sartre entwickelt einen ähnlichen Gedankengang. Auch er vertritt die Annahme, dass, wenn die Personen solchermaßen objektivistisch versinnlicht würden, Personalität und Interpersonalität nicht denkbar wären. Die Unbedingtheit des kategorischen Imperativs, das ethische Sollen, – das
teraktionspartner von ihr besitzen; im Sich-zu-sich-Verhalten stellt die Person die Internalisierung (primär den Mitvollzug) des Sich-Verhaltens anderer zu ihr vor. Mein Verhältnis zu mir selbst ist sonach nur die Abwandlung der intersubjektiven Beziehung, die andere zu mir aufgenommen und bekundet haben. Da nach dieser Theorie Bewusstsein und Selbstbewusstsein keine Realität sui generis beanspruchen können, vielmehr erst als Begleitphänomene intersubjektiven Verhaltens auftreten, kommen Selbstverhältnisse allein im Vollzug intersubjektiver Tätigkeit von Individuen, und zwar in einem – ursprünglich pragmatisch bedingten – Objektwerden des einen für den anderen zustande. Personen als individuelle Handlungsträger werden also im Gefolge einer Eigendynamik des gesellschaftlichen Interaktionsgefüges konstituiert; das Realisieren von intersubjektiv vorgeprägten Verhaltensschemata bzw. Rollenangeboten macht in diesen sozialbehavioristischen Theorien die innere ›Substanz‹ der Persönlichkeit aus. cf. Edith Düsing, »Anerkennung und Bildung des Selbstbewußtseins, Zum Problem der Intersubjektivität in Fichtes Idealismus der Freiheit«, in: Vortrag vom 4.5.1987 an der Universität Wien, mir freundlicherweise von der Verfasserin überlassen. 47 Kant, KrV A, p. 551.
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Sartre in seiner bekannten Schrift Lʹexistencialisme est un humanisme vertritt – wäre ad absurdum geführt. Die totale Geschichtlichkeit und damit die Relativität aller Geltungen wären die unausweichliche Folge. Diese Konsequenz hat Sartre in seinen philosophischen Überlegungen verarbeitet. Sie stellt einen seiner Hauptkritikpunkte an Heidegger und den Philosophen in der Tradition Heideggers dar, denen er zurecht vorwirft, aufgrund ihres geradezu grotesken Fehlverständnisses des reinen Ichs als eines bloß »idealen Subjekts« logischerweise falsche Schlüsse aus einer objektivistischen Zeitvorstellung gezogen haben. In seinem Werk Sein und Zeit entspringt der objektivistischen Zeitvorstellung Heideggers die Rede von der »Geworfenheit« des Menschen, die das Aufforderungsgeschehen vollständig verfehlt.48 Fichte und Sartre gehen gleichermaßen davon aus, dass also aller Ichheit ein einziges, allumfassendes Ich zugrunde liegen muss, dem nichts gegenübersteht und das nicht in Gegensatz zu etwas anderem existiert. Das ursprüngliche Ich ist eo ipso Ich absolutum.49 Es ist die alle Wirklichkeit umfassende, bestimmende und erzeugende Einheit. Fichte hat in § 1 der WL diese Reduktion auf das absolute Ich als das unhintergehbare Grundprinzip aller Wirklichkeit vom Identitätsprinzip aus durchgeführt. Das absolute Ich ist laut der WL »absolute Totalität der Realität.«50 Es handelt sich um eine eine Begrifflichkeit, die Sartre ebenso in seine Philosophie integriert hat, wie wir bereits gezeigt haben und noch später sehen werden. An die Voraussetzung eines absoluten Ich ist nun die transzendentale Frage nach den Bedingungen ihrer Wissbarkeit zu stellen. Auf die Frage, wie wir als individuelle Iche, als Personen, vom absoluten Ich wissen, lau-
48 Martin Heidegger, Sein und Zeit, 1927, pp. 227 – 230. 49 Sartres Bemerkungen hierzu sind ebenfalls eindeutig: »Lʹexistence de la conscience est un absolu parce que la conscience est conscience dʹelle même. Cʹest-à-dire que le type de la conscience cʹest dʹêtre conscience de soi. Et elle prend conscience de soi en tant quʹelle est conscience dʹun objet transcendant.« TE, p. 24. Deutsch: Die Existenz des Bewusstseins ist ein Absolutes, weil das Bewusstsein Bewusstsein von sich selbst ist. Es handelt sich darum, dass der Typ Bewusstsein heißt, sich seiner selbst bewusst zu sein. Und es ist sich seiner selbst in der Form eines transzendenten Objekts bewusst. In EN präzisiert Sartre, dass es sich um ein »absolu dʹexistence« handelt und nicht um ein »absolu de connaissance.« EN, p. 23. 50 Fichte, GA I,2, p. 288 und öfter.
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tet Fichtes Antwort, dass ein endliches Vernunftwesen als individuelle Vernunfttotalität (dieser Begriff stimmt mit demjenigen Sartres völlig überein) nicht ohne intellektuelle Anschauung auskommt. Diese intellektuelle Anschauung ist apriorische Ermöglichungs- und Abgrenzungsbedingung für die Wissbarkeit seiner Endlichkeit und nach Fichte nicht nur eine gnoseologische, sondern in eins damit eine ontologische Bedingung. Sie ist die innerlich erfassende Bedingung für das Sein in actu des absoluten Ich. Als solche ist sie weitaus mehr als bei Kant, der in ihr bloß eine regulative Idee sieht.51 Wäre dies nicht so, würde sie ihre transzendental – konstitutiv notwendige Rolle, als Ermöglichungs- und Abgrenzungsbedingung, als archetypisches Ideal jeder eingeschränkten Vernunft, gewusst werden zu müssen, nie erfüllen können. Wäre das absolute Ich nur regulative Idee und wäre es der Wissensform nach und somit auch dem Wissensgehalte nach nicht als apriorische Vernunfttotalität gewusst, dann wäre es folglich ein Endliches und bedürfte einer höheren apriorischen Bedingung seiner Wissbarbarkeit. Die Implizität des Wissens in der intellektuellen Anschauung schließt die Erfassung der prinzipiellen Ich-Totalität für den Status unseres empirischen Bewusstsein nicht aus: Als Konstitutionsprinzip kann sie nicht nicht sein. Das endliche Vernunftwesen muss gemäß der Bedingungen dessen existieren, was es apriorisch weiß. Es existiert überräumlich, überzeitlich, überleiblich, überindividuell und ichlich überindividuell in einer Art apriorischem ichlichen Transzensus seiner selbst. Wenn wir aber Überräumliches, Überzeitliches, Überindividuelles einsehen, müssen wir selbst in actu überräumlich, überzeitlich, überindividuell sein, bzw. zumindest an solchem Sein innerlich teilhaben. Dies ist bereits durch die Logik erwiesen. Die Bedingungen der Wissbarkeit bestimmen transzendental – konstitutiv die Bedingungen des Seins. Unterhalb dieser Bedingungen – und dieser Meinung ist auch Sartre – ist die Totalität, das Unbedingte der Vernunft, nicht zu erfassen. Beide sind also weder ursprünglich in Endlichkeitsformen noch bloß äußerlich vermittelt gewusst. Die Unbedingtheit des ersten Prinzips ist in der WL die Haupteigenschaft, weil sie erstens absolut gesetzt ist und weil sie zweitens bedingungsloses Selbstgesetztes ist. Das Ich, das sich selbst setzt, ist schon selbstbestimmt, weil es von jeglichen formellen oder inhaltlichen Voraus-
51 Kant, KrV A, pp. 642 sqq.
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setzungen frei ist. In der Dynamik des dritten Prinzips geht es eine Beziehung der Wechselbestimmung mit der Teilbarkeit ein. Es setzt diese außer sich selbst, insofern es als teilbar und völlig bestimmt erkannt wird, ist in sich bestimmt, um keine Bestimmung von außen zu bekommen. Erst am Ende des rein theoretischen Teils wird von Fichte die Ableitung der Einbildungskraft geleistet, um die Genesis der Bestimmung des Ich selbst sowie die Notwendigkeit des Transformierens von ursprünglich theoretischer in praktische Tätigkeit zu begreifen. Diese Transformierung geschieht in einer Bewegung, die in den Prinzipien von der Selbstbestimmung zur transzendentalen Bestimmung übergeht und in kreisförmiger Bewegung zur Selbstbestimmung des Ich zurückkehrt. Wir werden diesen Moment aber im 2. Teil dieser Arbeit wieder aufgreifen, denn die Bestimmung der Einbildungskraft hat für die vermögenstheoretische Deduktion der Ästhetik in Fichtes Philosophie konstitutionelle Bedeutung. Obwohl er einen anderen methodischen Zugriff wählt, kommt Sartre (hier die Methode der phänomenologischen Reduktion, innerhalb derer die Formulierung der verbleibenden Intuitionen nach Abstreifung sämtlicher sinnlicher Einflüsse auf das Denken geschieht) zu ähnlichen Resultaten wie Fichte: Das ›ego cogito‹ deckt auf, dass sich das Bewusstsein bereits präreflexiv als Existenz ›pour-autrui‹ konstituiert haben muss. Sartre argumentiert aus zwei Perspektiven, indem er einerseits das ›ego cogito‹ nach seinen Möglichkeitsbedingungen, andererseits spezifische präreflexive Bewusstseinsphänome, wie die Scham analysiert. Beide Perspektiven führen ihn zu dem gleichen Ergebnis: »Il est certain que la honte nʹest pas réflexive, car la présence dʹautrui à ma conscience, fût-ce à la manière dʹun catalyseur, est incompatible avec lʹattitude réflexive: dans le champ de ma réflexion je ne puis jamais rencontrer que la conscience qui est mienne. Or autrui est le médiateur indispensable entre moi et moi-même: jʹai honte de moi tel que jʹapparais à autrui.«52 In Sartres transzendentaler Bestimmung der Intersubjektivität findet sich eine reine Koexistenz der Bewusstseine, da das ›Pour-autrui‹ – ebenso
52 Deutsch: Sicher ist, dass die Scham nicht reflexiv ist, denn die meinem Bewusstsein präsente Anwesenheit Anderer, und wäre dies auch in der Weise eines Katalysators, ist unvereinbar mit der reflexiven Haltung: auf dem Feld meiner Reflexion kann ich niemals das Bewusstsein finden, das das meinige ist. Aber der andere ist der unverzichtbare Mittler zwischen mir und mir selbst: ich schäme mich meiner selbst in der Weise, wie ich dem Anderen erscheine. EN, p. 176.
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wie das ›Pour-soi‹ – bereits eine Bestimmung der Bewusstseine untereinander bzw. voneinander beinhalten. Die notwendige Voraussetzung hierfür ist die Mannigfaltigkeit der von Bewusstseinen als unausweichliches kontingentes Faktum der ›réalité-humaine‹, ohne dass sie als Mannigfaltigkeit bereits bestimmt wäre. Die Pluralität der Bewusstseine darf auch nicht schon bestimmendes Moment für jedes einzelne sein. Denn das andere Subjekt wird im Bewusstseinszustand des ›Pour-autrui‹ nicht einfach als ›être-pour-soi‹ erfahren, sondern als ein solches ›être-pour-soi‹, das sich direkt und in nichtender Weise auf das Bewusstsein bezieht, um sich an ihm als dieses nicht seiend zu offenbaren. Dafür muss es aber zunächst existieren. Anschließend stellt sich das ›Pour-autrui‹ als Wechselbezug heraus, in dem und durch den allererst die Differenz zwischen den Bewusstseinen als je anderes Selbst von ihnen erzeugt wird. Allerdings kann Sartre auch zeigen, dass es eine Verschiedenheit der Bewusstseine gibt, die nicht von der Bewusstseinsstruktur des ›Pour-autrui‹ hergestellten Differenz abhängig ist, da die Bewusstseine bereits in der Struktur des ›êtrepour-soi‹ qua Existenz individuell sind: »Lʹxistence des autres, nous lʹavons vu, nʹest pas, en effet, une conséquence qui puisse découler de la structure ontologique du pour-soi. Cʹest un événement, certes, mais dʹordre métaphysique, cʹest-à-dire qui ressortit à la contingence dʹêtre.«53 In § 1 der WL ist von Sich-Selbst-Setzen die Rede, denn das Ich ist substantielle Reflexion, »substantielles inneres Sehen.« (I, 3, p. 258) Die Identifikation des absoluten Ich mit dem höchsten Prinzip wird durch die Aussagen Fichtes »Ich bin«, ferner durch das »Ich bin ich« und »Ich bin nur für mich« belegt. Nur in dieser Aussageform ist aller Objektivismus vermieden und ferngehalten, und dies auch nur, wie Fichte in § 5 der WL betont, wenn sich das Ich im Sinne des höchsten aller Gründe als Rechtsgrund, als de-iure-Sein, d.i. als Selbstrechtfertigung, konstituiert. (ibid., pp. 396 sq) Wir sind also gleichsam vor uns als Individuen, was die unerlässliche Basis einer transzendentalen Deduktion der Personalität und Interpersonalität darstellt, dem ichlichen Vollzugssein, der reinen Selbsttätigkeit des absoluten Ichs inne, allerdings nur partizipativ im Schweben zwi-
53 Deutsch: Die Existenz der Anderen ist, wie wir gesehen haben, ja keine Konsequenz, die sich aus der ontologischen Struktur des Für-sich ergeben könnte. Zwar ist es ein primäres Ereignis, aber metaphysischer Art, was bedeutet, dass es zur Kontingenz des Seins gehört. EN, p. 358.
2. Sartres und Fichtes Lehre vom Wissen des Wissens von sich und dem Anderen 55
schen Totalität und unserer Endlichkeit.54 Transzendentalphilosophisch gesprochen ist das absolute Ich keine objektivistische Transzendenz und kein subjektives projectum, sondern kann nur auf seinem Standpunkt in actu gewusst werden. Es ist die Bedingung aller übrigen Wissbarkeit. Existenzphilosophisch gesprochen, meint Sartre mit den folgenden Worten das Gleiche: »[...] la conscience implique dans son être un être non conscient et transphénomenal. [...] la subjectivité implique lʹobjectivité et quʹelle se constitue elle-même en constituant lʹobjectif: nous avons vu que la subjectivité est impuissante à constituer lʹobjectif. Dire que la conscience est conscience de quelque chose, cʹest dire quʹelle doit se produire comme révélation-révélée dʹun être qui nʹest pas elle et qui se donne comme existant déjà lorsquʹelle le révèle.«55 Die mannigfaltige Anwesenheit-bei-der-Welt ist die ontische Grundlage für jeden möglichen interpersonalen Bezug auf der ontologischen Ebene, die Bedingung der Möglichkeit der faktischen Intersubjektivität als ›pour-autrui‹. Es geht um einen Zustand, in dem die Bewusstseine noch nicht miteinander in den entfremdenden Kontakt getreten sind. Dies geschieht aber nicht, weil sie als monadische Entitäten nicht etwa zueinander kommen könnten,56 sondern weil sie als Nichtungen ihrer Seins-Nichtung unmittelbar und ununterscheidbar beieinander anwesend sind. Die vollständig unbestimmte und das heißt (noch nicht) ontologisierte ontische Koexistenz der Bewusstseine methodisch zu erschließen bedeutet, die Subjekte in ihrem singulären Sein, im Für-sich-sein zu betrachten. Gemeint ist der Zustand VOR der gegenseitigen entfremdenden, objektivierenden Erkenntnis, die sie voneinander zu gewinnen trachten, und auch
54 Cf. die Teilhabe im Bericht über den Begriff der Wissenschaftslehre und die bisherigen Schicksale derselben, Fichte, GA II, pp. 10 und 55. 55 Deutsch: Das Bewusstsein impliziert in seinem Sein ein nicht bewusstes und transphänomenales Sein ... die Subjektivität impliziert die Objektivität und auch dass sie sich selbst konstituiert, indem sie das Ziel konstituiert. Zu sagen, dass das Bewusstsein Bewusstsein von etwas ist, will sagen, dass es sich als enthüllte Enthüllung eines Seins produziert, das nicht es selbst ist und das sich schon als existierend gibt, wenn es es enthüllt. EN, p. 246. 56 Die Behauptung, in der Gestalt des Orest eine »monadische« Existenz anstelle eines im existenzialistischen Sinne frei verantwortlichen Subjekts gezeigt zu haben, stellt Margot Fleischer in ihrer Interpretation des Theaterstücks Les Mouches auf. »Die Verantwortlichkeit des Anderen im Handeln«, in Philosophisches Jahrbuch 93, Jg 1986.
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Teil 1: Selbstbewusstsein, Intersubjektivität und Ethik bei Sartre und Fichte
vor der ontologischen Selbstbestimmung in Bezug auf das durch den Anderen erkannte eigene Selbst. Die Betrachtung der Subjekte darf keinen tatsächlich betrachtenden Standpunkt einnehmen, denn dieser kann die Bewusstseine nicht in ihrem Für-sich-sein erfassen.57 Als gemeinsam auf der Welt anwesende Für-sich-seine sind die Bewusstseine »foncièrement identiques et quant à leur mode dʹêtre immédiatement présents lʹun à lʹAutre«, (EN, p. 329) das heißt ohne Dazwischentreten von Zeit sich einander unmittelbar präsent. Mit dieser unmittelbaren Anwesenheit meint Sartre aber keinen nichtenden Bezug der Bewusstseine zueinander (»cette présence nʹest pas réciproque«), sondern die Tatsache, dass es zwischen mehreren Nichtungen eo ipse keinen Abstand oder Differenz geben kann, die nicht erst von ihnen (den Bewusstseinen), durch eine nichtende Setzung hergestellt werden müsste.58 Die Bewusstseine – solange sie sich nicht aufeinander nichtend beziehen – sind Nichtungen, die sich als reine intentionale Nichtungen des ›être-en-soi‹ nicht unterscheiden. Denn als gegenwärtige ›Nichtse‹ oder reine ›Nichtungsakte‹ könnte man diese von dem jeweiligen Sein, von dem sie sich nicht losreißen, trennen, dann wären sie ›nicht-persönliche Spontaneitäten‹ (EGO, p. 73) Die Bewusstseine unterscheiden sich nicht durch ihr nichtendes Sein, oder durch ihren Seinsmodus (»lʹêtre que la conscience a à ne pas être se définit comme un être qui a à ne pas être cette conscience [...] dans le sur-
57 Den Ansatz, ein ontisches Mitsein des Anderen vor der ontologischen Selbstbestimmung und damit vor der Bestimmung des Anderen zum Anderen zieht Theunissen nicht in Erwägung. Er geht davon aus, dass es einen Anderen immer nur als schon ontologisch bestimmten Anderen als Resultat der gegenseitigen internen Nichtung gibt. Auf diese Sichtweise würde der Begriff der Robinsonade [Edith Düsing] ebenfalls zutreffen. Theunissen, op. cit. pp. 190-196. 58 Als nichtende Seins-Nichtungen wären die Bewusstseine nur von einem äußeren Standpunkt aus differenzierbar, von jemandem, der in der Lage wäre, zugleich die Gleichheit und die Differenz zu setzen. Das ist aber nicht möglich, weil beiden Feststellungen ein nichtender Bezug inhärent wäre. Zwei oder mehrere Bewusstseine als identisch zu qualifizieren, setzt voraus, sie zu betrachten, einen nichtenden Bezug zu ihnen einzunehmen, sie zu transzendieren, sie zu vergegenständlichen. Das würde bedeuten, ihre Identität über die Setzung einer Differenz herzustellen, die sie jedes für sich in sich einschließt als Entität, sie aber gerade dadurch ihrer originären Seinsweise zu entheben. So bezieht sich die Identität auf die entfremdeten Bewusstseine in ihrer durch Negation hergestellten Differenz und nicht auf die Identität der Bewusstseine selbst.
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gissement dʹAutrui, elle ne diffère aucunement de lʹAutre quant a son mode dʹêtre: lʹAutre est ce quʹelle est, il est Pour-soi et conscience«59 (EN, p. 344), sondern dadurch, dass sie Seins-Nichtungen sind. In Sartre Theorie gibt es keine apersonalen, transzendentalen Subjekte, die dann noch der Personalisierung bedürften. Die transzendentalen Strukturen des Fürsich-Seins werden ausschließlich aus der Retrospektive eines bereits existierenden Bewusstseins in einer reinen, d.i. nicht-setzenden Reflexion gewonnen und nicht umgekehrt. Von daher existieren die Bewusstseine als unvergleichliche Selbstheiten vor der setzenden, nichtenden Bestimmung durch den Anderen.60
59 Deutsch: Das Sein, das das Bewusstsein nicht sein soll, definiert sich als ein Sein, das dieses Bewusstsein nicht sein soll. Im Auftauchen des Anderen unterscheidet es sich in keiner Weise vom Anderen, was seinen Seinsmodus betrifft. Der Andere ist das, was er ist, er ist Für-sich und Bewusstsein. EN, p. 345. 60 Cf. Sara Vassallo, Sartre et Lacan, le verbe être: entre concept et fantasme, Paris 2003. Die Studie nimmt eine detaillierte Explikation der Auseinandersetzung Lacans mit Sartre vor, denn Lacan als Verfechter der Psychoanalyse im Sinne Freuds wird von Sartre, der den Naturalismus Freuds entschieden ablehnt, scharf kritisiert. Obwohl es in dieser Studie keine transzendentale Analyse des Wechselbezugs zwischen dem Wissen von sich und seiner Wahrheit, bzw. vom Glauben und Wissen gibt und daher kaum Bezug darauf genommen wird, dass im Glauben keine Spur von Intentionalität gegeben ist, referiert Vassallo zu Recht, dass dies der Grund sei, wieso die Helden in Sartres Biographien oder in seinen Theaterstücken immer öfter auf ihrem Weg in die Freiheit, in ihrem doxischen Weltzugriff, scheitern und dabei in das Unglück ihrer Machtlosigkeit geraten. Ihre Eitelkeit verbleibt als eine Art von Kultur der ›conscience malheureuse‹ in der Sphäre des Imaginären. Rückt aber das Imaginäre in den Bereich der Intentionalität, so lenkt das ›unglückliche Bewusstsein‹ die Aufmerksamkeit auf seine Intention der Erlösung durch sein Unglück. Dieses ›strategische Manöver‹ geschieht quasi ohne sein Wissen, in einer Art spiritueller Ökonomie in einem Feld purer Nichtung, das Vassallo als »fausse mort«, »mort symbolique«, »irréalité« bezeichnet oder in der Terminologie Lacans »symbolische Nichtung.« Sara Vassallo nennt diesen Effekt »après coup«, eine Art ›Nachschlag‹: »Cet événement qui nʹen est pas un, cʹest lʹhiatus entre la vie et lʹœuvre qui le désigne«, p. 90. Diese Studie lässt sich gut mit derjenigen Gregor Schwerings vergleichen, der den Vergleich Sartres mit Lacan in medientheoretischer Hinsicht vornimmt und dabei zu ähnlichen Resultaten gelangt. cf. Teil 2, Kap. 2.1.
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2.1. Fichtes Theorie der Aufforderung und Sartres Konzept des Anderen Die Antwort auf die Frage nach der Systemidee der Intersubjektivität in beiden philosophischen Konzepten lautet, dass Personalität und Intersubjektivität weder von Sartre noch von Fichte einfach als Faktum vorausgesetzt und nicht bloß phänomenologisch erzeugt werden. Sie werden aus einer ichlichen Handlung im Sinne einer Konstitutionsgenese deduziert bzw. hinsichtlich Sartres Methode – anhand einer phänomenologischen Reduktion in einer Art meditativen Schau erfasst, und zwar in absoluter Einheit des transzendentalen Prinzips. Der Deduktionsansatz von Fichtes Intersubjektivitätstheorie ist eine absolut-ichliche Vernunfthandlung, aus der die Differenz von endlichen Personen hervorgeht. Dieser Ansatz erfasst deren geistige, intelligible und im sinnlichen Sinn (Leiblichkeit) erfolgende Individuation ebenso wie ihr Gegenüber-Sein, d.i. ihre wechselseitige Beziehung im Sinne von Aufforderung und freier Antwort sowie die Möglichkeit ihrer Synthesis als freie Verbindung. Sartres Intersubjektivitätstheorie zeigt trotz anderer methodischer Schritte in der Beweisführung ähnliche Ergebnisse wie Fichtes. Sartre verfolgt bei seiner Analyse der Anwesenheit des Anderen die Absicht, einsichtig zu machen, dass der Andere ursprünglich weder Objekt in der Welt noch innerweltlich Seiendes ist. Auch ist er nicht, wie das Ich, auf Dinge gerichtetes Subjekt für die Welt oder ein fremdes In-der-Welt-sein, dem gleich mir innerweltliches Seiendes offenbar ist. Der Andere ist in der für Sartres Konzept konstitutiven Bedeutung des Befremdend-Fremden derjenige, der nicht Ich ist und darum jede Bevormundung von meiner Seite ablehnt.61 Im selben Maß, wie er sich mir und meinem Zugriff entzieht, überschreitet er die Welt und wird zur Weltjenseitigkeit, indem er die Negation meines eigenen Seins deklariert.62 Sartre nennt dieses Phäno-
61 Jean-Paul Sartre, Critique de la raison dialectique (abgekürzt CRD) Paris 1960 pp. 183-186. 62 Cf. die Dissertation von Andreas Ziermann, Im Blickfeld des Anderen, eine kommunikations-philosophische Betrachtung der Frühphilosophie und Sozialontologie JeanPaul Sartres, Frankfurt 1997. Ausgehend von der Feststellung, dass die konstitutiven Minimalbedingungen von Kommunikation zwei Beteiligte vorsehen, Ego und Alter ego, die in wechselseitiger Präsenz und reflexiver Aufmerksamkeit aufeinander eingestellt sind, stellt Ziermann zwei Fragen: 1. Woher resultiert die Andersheit des Anderen, und 2. Welchen Bedingungen folgt das Fremdverstehen. Diesen kommunikationsphilosophischen, auf präkommunikatives Erkenntnisinteresse ausgerich-
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men »lʹêtre extramondain« bzw. »lʹexistence extra-mondaine« oder die »présence transmondaine dʹautrui.« (EN, pp. 290-328) Diese Weltjenseitigkeit des Anderen ist Resultat der Notwendigkeit seines Wesens »autrui est par nature hors du monde.« (ibid., p. 291) Dadurch verdankt das Ich dem Anderen sogar überhaupt das Wissen um ein Jenseits der Welt, denn dieses wird simultan mitvermittelt. (ibid., p. 329) In Abgrenzung zu Husserl und Heidegger verweist Sartre darauf, dass die Urerfahrung vom Anderen nicht die Erfahrung eines fremden In-der-Welt-seins bedeute, sondern die eines »être-par-delà-le monde« (i.S. eines apriori Selbstgesetztes). (ibid., p. 337) Als die nicht erst durch die Welt vermittelte Anwesenheit ist die weltjenseitige Gegenwart des Anderen unmittelbare Gegenwart, oder wie Sartre sagt, die »présence immédiate.« (ibid., pp. 316-328) Weil mir der Andere ohne Vermittlung gegenwärtig ist, erreiche ich ihn ohne Durchgang durch die Welt, und vermag ihn unvermittelt, plötzlich und unverstellt, in seiner Ganzheit zu erfassen: »Dès la première rencontre, en effet, autrui est donné tout entier et immédiatement, sans voile ni mystère.«63 Sartre argumentiert, gegen Husserl und Heidegger gerichtet, dass der Andere schon in anderer Weise als Anderer erfahren sein muss, damit der Hinweis der innerweltlich Seienden auf ihn überhaupt angewendet werden kann. Er formuliert jenen Satz, der uns erneut deutlich an Fichte erinnert: »entre la conscience dʹautrui et la mienne, mon corps comme chose dans le monde et le corps dʹautrui sont des intermédiaires nécessaires.«64 Das Wissen vom Anderen kommt allen Begegnungen mit innerweltlich Seiendem zuvor (= a priori). Nach Sartre gibt es durch das Ich ein Sein,
tetes Fragen begegnet er, indem er die Seinsweisen des Egos und Alter egos aufdeckt und die sozialanthropologische Seinsweise im Modus des Für-sich-für-Andere beschreibt. Die Brücke, die dem Ego Erfahrung vom Alter ego und dessen Weltjenseitigkeit zuteil werden lässt, wird vom Blick geschlagen. Erblicktwerden und Erblicken, Sehen und Gesehenwerden sind in Ziermanns Konzept die grundlegenden Modi der sozialen Gewissheit vom Anderen sowie von dessen Andersheit vor der eigenen Objektheit. Wir sehen in dieser Studie einen wichtigen Beitrag, der Sartres Sozialontologie für die moderne Kommunikationsforschung fruchtbar machen könnte. 63 Deutsch: Von der ersten Begegnung an ist der Andere ganz und unmittelbar gegeben, ohne Schleier und Mysterium. EN, p. 417. 64 Deutsch: Zwischen dem Bewusstsein des Anderen und meinem sind mein Leib als Ding der Welt und der Leib des Anderen die notwendigen Vermittler. EN, p. 277.
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nicht aber Dasein. Der Andere ist überhaupt nur ein Anderer für mich. Wo Ich aber mit dem Anderen zu tun habe, da gibt es nicht zwei oder mehrere Individuen (ibid., p. 344) sondern nur den Anderen und das, was er mir antut. Es gibt keine »Rückseite« (dʹenvers) unserer Beziehung. In ihr stehend kann ich die Beziehung nicht als äußerliche Ganzheit vor mich bringen. Diese Unmöglichkeit aber resultiert aus der noch prinzipielleren Unfähigkeit, aus meinem Sein herauszutreten. Die »intériorité du cogito« kann nicht überschritten werden. Sie führt Sartre zunächst auf den Gedanken der Getrenntheit der personalen Partner, die als ontologische Getrenntheit den Anderen von mir und mich vom Anderen ausschließt.65 Sartre bringt diesen Gedanken pointiert zum Ausdruck, denn wenn der Andere und ich uns als je nicht der Andere seiend setzen, so sind wir im Urentwurf unseres Seins durch einander bestimmt: »ma relation originelle à autrui (doit être envisagée) comme une négation dʹintériorité, cʹest à dire comme une négation qui pose la distinction originelle dʹautrui et de moimême dans la mesure exacte où elle me détermine par autrui et où elle détermine autrui par moi.«66 Die »négation dʹintériorité«, die den Anderen von Grund auf charakterisiert, kennzeichnet das Sozialverhältnis. Sie unterscheidet sich von der »négation dʹextériorité« dadurch, dass sie sowohl unmittelbar wie aktiv wie auch wechselseitig ist. Als solche liegt sie auch
65 Cf.die Studie von Axel Honneth, Kampf um Anerkennung, zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt 1992. Honneths sozialphilosophische Untersuchung vollzieht eine systematische Rekonstruktion der Jenaer Schriften Hegels, um anhand dessen Denkmodells eines ›Kampfes um Anerkennung‹ die Grundlagen einer normativ gehaltvollen Gesellschaftstheorie aufzuzeigen. Seine zentrale Fragestellung gilt den Bedingungungszusammenhängen sozialer Konflikte, die sich im Streben nach inneren und äußeren Freiheiten ergeben. Am Ende der Studie diskutiert Honneth das Verhältnis von Moral und gesellschaftlicher Entwicklung auf der Grundlage der Konfliktmodelle von Marx, Sorel und Sartre und stellt jene Bedingungen ›personaler Integrität‹ heraus, die eine ›posttraditionale Solidarität‹ und ein ›formales Konzept der Sittlichkeit‹ in der modernen Gesellschaft begründen können. Cf. Hierzu auch die andere Studie von Axel Honneth, »Das irreduzible Faktum der Intersubjektivität, zu Sartres Lehre der Fremdexistenz«, in: B. Schuhmacher, Hg., Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts, Berlin 2003, pp. 405-538. 66 Deutsch: Meine ursprüngliche Beziehung zum Anderen muss als Interioritätsnegation betrachtet werden, das heißt als eine Negation, die die ursprüngliche Unterschiedenheit des Anderen und meiner selbst in genau jenem Maße setzt, wie sie mich durch den Anderen bestimmt und den Anderen durch mich bestimmt. EN, p. 288.
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schon in dem ursprünglichen Seinsphänomen, dass nur ich bin, indem ich mich als nicht der Andere seiend entwerfe und dass der Andere nur der Andere ist, indem er sich als nicht ich seiend entwirft: »[...] les consciences sont directement portées les unes sur les autres dans une imbrication réciproque de leur être.«67 In der Grundlage des Naturrechts (1796), später in der WL (nova methodo 1797-99), stellt Fichte die These auf, dass das Ich den Anderen gleichursprünglich als Realität in dem Moment vorfindet, da sein eigenes Bewusstsein seiner selbst erwacht. In einem Brief an Reinhold erklärt Fichte im Sommer 1795, er beabsichtige im Naturrecht zu zeigen: »Ich selbst kann mich nicht denken, ohne vernünftige Wesen außer mir anzunehmen.« In ähnlichem Zusammenhang sagt Fichte, »das Bewußtsein meines Ich ist notwendig begleitet von dem Bewußtsein eines Du.« (SW I, p. 476) Da die Tätigkeit der Intelligenz gar nicht erst ohne die sie fundierende praktische Tätigkeit des Willens zustande kommt, führt diese Wechselbedingung hinsichtlich des Anfangs der »Geschichte der Bildung des Selbstbewusstseins« allerdings in eine Aporie. Das menschlich-endliche Ich soll spontan von sich aus seine Vermögen betätigen. Als Bedingung der Möglichkeit hierfür muss man einen äußeren Anstoß annehmen, der das noch nicht zu sich selbst erwachte Subjekt dazu veranlasst. Diesen Anstoß – worin immer er auch bestehen mag – muss es theoretisch vorstellen. Umgekehrt aber ist ohne Ausübung des praktischen Vermögens keine theoretische Vorstellung seitens der Intelligenz möglich. »Wir finden keinen möglichen Punkt, in welchem wir den Faden des Selbstbewusstseins [...] anknüpfen können.« (GA I,3, p. 341) Vor dem Handeln muss ich Erkenntnis meiner Handlungsmöglichkeiten, also Erkenntnis der Materie meiner Ziele und Zwecke haben. Solche Erkenntnis von Objekten für das Begehrungsvermögen setzt aber wiederum ein Schon-gehandelt-haben voraus, denn für Fichte wird Objekterkenntnis im Zuge der Widerstandserfahrung während des praktischen Strebens konstituiert. Dieses praktische Streben aber setzt wiederum in einem vorausgehenden Handlungsentwurf Erkenntnis von Objekten voraus, etc. ad infinitum. So ergibt sich ein unendlicher Regress hinsichtlich der Genesis des Selbstbewusstseins. In Vorausdeutung auf den Weg zur Lösung fasst Fichte diese Aporie in der These
67 Deutsch: Die Bewusstseine sind in einer wechselseitigen Verschränkung ihres Seins direkt aufeinander bezogen. EN., p. 292.
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zusammen, dass »ein isoliertes Wesen nicht zur Vernunft kommen kann.« (GA IV, 1, p. 109) Der unendliche Regress, so – Fichtes zentrale These – kann allein durch die auffordernde Tat des ›alter ego‹ behoben werden. Theoretisches und praktisches Vermögen müssen ohne das Dazwischentreten von Zeit ineins tätig werden können. Hierzu bedarf es eines Anstoßes von außen, der das Individuum zu seinem Selbst- und Freiheitsbewusstsein erweckt. In der WL 94/95 sucht Fichte durch den Anstoß die Ursache zu erklären, warum das hinsichtlich theoretischer und praktischer Tätigkeit noch indifferente absolute Ich zur Vorstellungstätigkeit und zum Wollen aus sich herausgeht. Der Anstoß ist dabei kein bewusstseinunabhängiges, sondern ein anderes für das Ich und im Ich, wodurch es sich affizieren lässt. Im deutlichen Unterschied zu dieser transzendentalphilosophischen Erklärungsart des Anstoßes, anlässlich dessen das reine Ich zum Denken von etwas von ihm selbst Verschiedenen übergeht, bedeutet die Aufforderung als Anstoß für das konkrete individuelle Ich ein empirisches Ereignis in Raum und Zeit. In diesem Ereignis findet sich das Ich durch eine Realität außerhalb seiner selbst affiziert.68 Selbstbewusstsein und Intersubjektivität werden in ein und demselben Geschehen gleichursprünglich konstituiert. Für unseren Untersuchungsgang wird diese zentrale Aussage, die sich bei Fichte und Sartre gleichermaßen finden lässt, den Ausgang bilden. Mein Aufgefordertsein begreife ich nur dann vollständig, wenn ich die Aufforderung bzw. den real existierenden Grund einem real existierenden Ich außer mir zuschreibe. In intersubjektiver Einstellung bin ich gemeint, auf mich wurde reflektiert und mit meiner Antwort wurde gerechnet.69 Im Sich-aufgefordert-Finden ge-
68 Zur systematischen Stellung des Anstoßes in der WL vgl. Wolfgang Janke, Fichte, Sein und Reflexion – Grundlagen der kritischen Vernunft, Berlin 1970, bes. pp. 181190.cf. zur Verhältnisbestimmung von absolutem und individuellen Ich bei Fichte vgl. Wolfgang H. Schrader, Empirisches und absolutes Ich. Zur Geschichte des Begriffs Leben in der Philosophie J.G. Fichtes, Stuttgart/Bad Cannstatt 1972. 69 In seiner transzendentalphilosophischen Begründung der intersubjektiven Dimension der Fremderfahrung vermeidet Fichte im Ansatz schon den methodischen Ausgang von einem monadischen Ich, das sich z.B. bei Husserl durch mühsame Analogieschlüsse bzw. analogisierende Appräsentationen der fremdpersonalen Existenz und ihrer Beschaffenheit zu vergewissern versucht. Vielmehr verläuft bei Fichte der Weg der Fremderfahrung gar nicht primär und gar nicht einseitig vom
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langt das Individuum also nicht allein zu einer Verständigung mit sich selbst im Hinblick auf seine Freiheit, sondern es wird sich als des Wesens bewusst, von dem der Andere Erwiderung und »freie Wechselwirksamkeit«, also praktische Intersubjektivität erwartet. Darin liegt also der oben bereits angedeutete Sinn der Fichteschen Intersubjektivitätstheorie. Die ergangene Aufforderung und die Antwort des Aufgeforderten sollen so zusammenstimmen, dass »beide die ›partes integrantes‹ einer ganzen Begebenheit ausmachen.« (I,3, p. 344) Für Fichte gilt es als erwiesen, dass ein konkretes Ich als vernünftiges Wesen sich nicht als solches »mit Selbstbewusstsein setzen« kann, »ohne sich als Individuum als Eins, unter Mehrern vernünftigen Wesen zu setzen, welche es außer sich annimmt, so wie es sich selbst annimmt.« (GA I,3, p. 319) Das Bewusstsein des Ich von sich und sein Bewusstsein von einem Du sind korrelativ: Ich werde mir in der Erfahrung des Mich-aufgefordert-Findens zugleich der eigenen wie auch der fremden Freiheit bewusst. Dazu Fichte pointiert: »Ich finde mich durch den andern gedacht als handelnd.« (GA I,3, p. 347 und GA IV,1, p. 109) Fichte weist, wie später Sartre, darauf hin, dass für die Genesis des Selbstbewusstseins eine Gleichursprünglichkeit des Bewusstwerdens (= a priori selbst-gesetzten) seiner selbst und des ›alter ego‹ (= a priori ebenfalls selbstgesetzten) angenommen werden muss. Diese Affinität bestätigt einen Teil unserer These, derzufolge die ethischen Implikationen in Sartres Existenzphilosophie bereits in seiner Selbstbewusstseinstheorie angelegt sind. Auch analogen Konstitutionsbedingungen in Fichtes Selbstbewusstseinstheorie legen diesen Schluss nahe. In stringenter Weise verknüpft Fichte seine Deduktion des individuellen Selbst- und Freiheitsbewusstseins mit der Deduktion der Intersubjektivität. Er fasst seine Argumentation wie folgt zusammen: »So gewiß ich diese Aufforderung begreife schreibe ich mir eine gewiße Sphäre zu. Begreife ich sie nicht, so entsteht kein Bewußtseyn; ich finde mich nicht für diese Zeit.« »Diese Aufforderung kann ich nun nicht begreifen, ohne sie einem wirklichen Wesen außer mir zuzuschreiben, das mir einen Begriff mitteilen wollte, das mithin eines Begriffs vom Begriff fähig ist; ein
Ego zum alter Ego hin, sondern ursprünglich in umgekehrter Richtung. cf. W. Janke: »Die Wörter ›Sein‹ und ›Ding‹ – Überlegungen zu Fichtes Philosophie der Sprache«, in: Der transzendentale Gedanke. Die gegenwärtige Darstellung der Philosophie Fichtes, hrsg. von Klaus Hammacher, Hamburg 1981, pp. 49-69.
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solches Wesen ist ein vernünftiges Wesen – ein Ich.« (GA IV,1 p. 109 und GA I,3 p. 347) Im Erwachen zu sich selbst wird das Ich zugleich der Gegenwärtigkeit fremdpersonaler Existenz inne. Wie in Fichtes Intersubjektivitätslehre findet sich auch in Sartres Konzept die Gleichursprünglichkeit in der Genese von Selbst – und Fremdexistenz als notwendige Bedingung der Genese des Selbstbewusstseins. Sie wird einer systematischen Prüfung unterzogen, die er – wie wir bereits wissen – nicht wie Fichte deduktiv, sondern mittels phänomenologischer Reduktion als Form philosophischer Meditation zur Darstellung bringt. 2.1.1. Die transzendentalphänomenologische Analyse der Reflexion und ihr Bezug zur Intersubjektivität Sartre weist darauf hin, dass durch die Ambiguität der selbstbewussten Existenz zugleich notwendig auf die Existenz der Anderen verwiesen wird. Da sich das cogito auf mehreren Ebenen ambivalent zeigt, unterscheidet Sartre zwischen reinen und unreinen Arten der Reflexionstätigkeit. Für ihn gibt es rein und unrein durch die Reflexion Erfasstes. Das rein Erfasste wird von Sartre wiederum an sich selbst noch einmal als authentisch oder als unauthentisch bestimmt. Ausschlaggebend für die einzelnen Bestimmungen sind das reine Bewusstsein oder die (wie bei Fichte durch »prädeliberative« gesetzte Selbsttätigkeit) selbstbestimmte Seinsweise bzw. die – zumindest aus der Perspektive des einzelnen Bewusstseins – selbstbestimmte Struktur der Intersubjektivität. Weiterhin differenziert Sartre zwischen einer empirischen und einer theoretischen Reflexion. Ausgehend von dem konkreten Erlebnis fragt die theoretische Reflexion sie einerseits nach allgemeinen, transzendentalen Möglichkeitsbedingungen der je einzelnen Existenzen und andererseits nach der zugrunde liegenden Struktur der Intersubjektivität. Das cogito umfasst gleichsam jede Kombinationsmöglichkeit.70 Sartre bestimmt
70 Cf. Joachim Renn, »Sozialexistenzialismus, moderne Identität als sozial konstituierte Existenzialität«, in: Anthropologie und Moral: philosophische und soziologische Perspektiven, Martin Endreß, Neil Roughley, Hg., Würzburg 2000, pp. 409-407. Vor dem Hintergrund der aus soziologischer Perspektive diskutierten Theorien moderner Individualität werden für die in der Moderne forcierten Identitätskonzeptionen Vorschläge gemacht, zur Bildung von Vorstellungen normativer sozialer Integration existenzphilosophische Konzeptionen zur Kenntnis zu nehmen.
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ebenfalls eine reine empirische Reflexion, in der sich das reflektierte Bewusstsein als instantane Spontaneität zeigt. Daneben bestimmt er eine unreine empirische Reflexion, die eine Psyche und ein Ego kreierend über das reine Erfassen hinausgeht. Zu beiden theoretischen Reflexionsformen bestimmt er entsprechende theoretische Reflexionen. Wenn die Psyche und das Ego zu ›Bewohnern‹ des ›transzendentalen Feldes‹ gemacht werden, wird auch die theoretische Reflexion, von Sartre als unrein bezeichnet, selbst wenn sie von der Empirie abstrahiert. Wenn dagegen die theoretische Reflexion auf der einen Seite das ›transzendentale Feld‹ durch das reine Bewusstsein als sich selbst luzide Spontaneität reinigt und auf der anderen Seite die Mannigfaltigkeit der Bewusstseine nicht über eine erkennbare Alterität definiert wird, bezeichnet Sartre sie als rein. Da die reine Reflexion nach den Möglichkeitsbedingungen jeder Reflexion fragt, versucht sie auch aufzuklären, wie die Möglichkeitsbedingungen der unreinen Reflexion aussehen müssen, so dass die reine theoretische Reflexion auch die Konstitutionsbedingungen der unreinen Reflexion zum Gegenstand hat. So können an sich unreine Elemente Teil des transzendentalen Feldes oder ›reinen Bewusstseins‹ sein, denn sie sind eine reine, aufrichtige Beschreibung einer zwar notwendigen, d.i. bedingenden, aber an sich unauthentischen Struktur. Das gleiche gilt für die unauthentische Strukturiertheit der Intersubjektivität, denn die reine Reflexion entdeckt sie als notwendige Bedingung der unreinen Selbsterkenntnis. Wenn die transzendentale Reflexion das transzendentale Feld nicht als durch sich selbst bestimmt erkennt, muss sie auch zur unreinen Reflexion gezählt werden. Ebenso kann die Entdeckung der Intersubjektivität als Konflikt der Bewusstseine nur dann als rein bezeichnet werden, wenn die Reflexion zugleich die freie Bestimmung aufdeckt und so den Konflikt für überwindbar erklärt: »[...] la réflexion est dʹabord impure non en ses résultats, mais en son intention, qui participe de lʹimpureté de lʹirréfléchi, puisquʹelle prend naissance dans lʹirréflexion. [...] La réflexion pure est bonne foi et comme telle appel à la bonne foi de lʹautre,«71 und weiter heißt
71 Jean-Paul Sartre, Cahiers pour une Morale, Paris 1983, pp. 18 und 292. Deutsch: [...] Die Reflexion ist zunächst unrein, nicht in ihren Resultaten aber in ihrer Intention, die von der Unreinheit und dem Unbewusstsein teilhat, denn sie gewinnt ihre Entstehung ja im Unbewussten. [...] Die reine Reflexion ist Aufrichtigkeit und als solche Appel an die Aufrichtigkeit des anderen.
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es »La liberté de lʹautre est à la fois le prolongement de ma liberté dans la dimension de lʹaltérité – puisquʹelle poursuit la fin que je poursuis – et à la fois ce qui sépare la fin de moi [...] Mais elle ne se distingue pas de la mienne dans le conflit, cʹest à dire dans une opposition où chaque Poursoi nie quʹil soit lʹAutre et constitue lʹautre comme un objet, étant négation active en tant quʹil nie de lʹautre quʹil soit lui et nié passif en tant que lʹautre nie son identité avec lui.«72 Sartre expliziert dann die Lösungsoption der wechselseitigen Anerkennung: »Mais cette reconnaissance nʹest nullement aliénation puisquʹil (lʹAutre) me reconnaît comme voulant librement la fin quʹil veut mais la voulant pour lui; ainsi porte-t-il librement ma volonté vers la fin quʹil veut librement.« (ibid.) Die häufigste Reflexionsform ist also die empirisch-unreine Reflexion. Das Bewusstsein richtet sich hier auf sich selbst und erkennt sich als ein verdinglichtes Ich mit diesen oder jenen psychischen Dispositionen, d.i. scheinbar festgelegten Charaktereigenschaften und Handlungsmöglichkeiten. Sartre führt in diesem Kontext das Beispiel eines spontan auftauchenden Abneigungsbewusstseins gegen eine andere Person auf. Dieses wird von und in der unreinen Reflexion als dauerhafter Hass konstituiert, indem die spontane Abneigung als Wiederaufkeimen einer psychischen Disposition oder charakterlichen Eigenart des Ich interpretiert wird. »La haine est donc un objet transcendant. Elle se donne précisément comme ne se limitant pas à cette expérience.«73 Die Gesamtheit der verschiedenen zu psychischen Dispositionen hypostasierten Bewusstseinsformen bezeichnet Sartre als »Psyche.«74 Jedoch gehören weder sie noch das Ego zur absoluten Immanenz des Bewusstseins. Sie sind nicht Teil der einen Subjektivität, nicht einmal Teil des unreflektierten Bewusstseins, wenngleich die Bedin-
72 Deutsch: Die Freiheit des Anderen ist zugleich die Verlängerung meiner Freiheit in der Dimension der Alterität – da sie das Ziel verfolgt, das ich verfolge – und zugleich dasjenige, das mich von mir trennt. [...] Aber sie unterscheidet sich nicht von mir im Konflikt, das heißt in einem Gegensatz wo jedes Für-sich verneint, der Andere sein zu sollen und den anderen als ein Objekt konstituiert, das eine aktive Negation ist insofern, als es am anderen negiert, dass er er sei und passiv negiert ist insofern als der andere seine Identität mit ihm negiert. Ibid. op. cit., pp. 291-292. 73 Deutsch: Der Hass ist also ein transzendentes Objekt. Er gibt sich präzise als auf diese Erfahrung nicht beschränkend. EGO, p. 46 und CS, p. 85. 74 Die Untersuchungsergebnisse im Text beziehen sich auf EGO pp. 52-72-81, EN pp. 209-218-321, CS pp. 78 und 62 sq.
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gung der Möglichkeit ihrer Konstitution sehr wohl Gegenstand der transzendentalen Untersuchung ist. Da sie beide objekthafte Bewusstseinsformen sind, verweisen sie für Sartre notwendig auf die Intersubjektivität, und zwar so, dass nicht nur das transzendentale Feld, sondern auch spezifische unauthentische Intersubjektivitätsstrukturen zu ihrer Möglichkeitsbedingung zählen.75 Das reine transzendentale Bewusstsein, das durch die reine Reflexion aufgedeckt werden soll, ist weder ein präempirisches Bewusstsein noch eine kontingent gegebene Struktur. Vielmehr bezeichnet es dagegen die abstrakte Form jedes empirischen Bewusstseins als Möglichkeitsbedingung der Reflexion, d.i. als notwendige Bedingung, um ein reflektiertes Bewusstsein überhaupt erfassen zu können.76 Insofern aber im Verhältnis der Bewusstseine zueinander die transzendenten, objekthaften, unrein konstituierten Egos bzw. das je eigene Selbst im Angesicht eines anderen Selbst gerade als Unterscheidungsmerkmal angenommen werden, wird die theoretisch reine Reflexion auch die Intersubjektivitätsstrukturen als unauthentische Selbstbestimmung und als entfremdende Bestimmung durch Andere und der Anderen aufdecken. Je nach dem, ob man sie rein oder unrein reflektiert, unterscheidet Sartre noch einmal in seiner Bestimmung der Reflexion zwei verschiedene Arten von Evidenzen, an deren Verschiedenheit die Reflexion konstitutiv beteiligt ist. Die adäquaten Evidenzen trennt Sartre noch einmal in authentische, apodiktische Evidenzen und unauthentische. Sartre beschreibt in ähnlicher Weise wie Fichte das cartesianische Cogito nicht nur als unrein, wenn es das reflektierte Bewusstsein immer begleitet von einem Ego erfasst. Dies trifft auch zu, wenn es selbst das logische Resultat einer Handlung ist und damit kein reines unmotiviertes Erfassen eines reinen, spontanen Bewusstseins: »en un mot le Cogito est impur, cʹest une conscience spontanée, sans doute, mais qui est liée synthétique-
75 Die Psychologie als theoretische Wissenschaft dieser Bewusstseinsformen ist für Sartre eine theoretisch – unreine Untersuchungsform, solange sie weder die Psyche noch das Ego als transzendente, d.i. objekthafte, durch die Reflexion konstituierte Gegenstände begreift. 76 »Le moment abstrait de lʹidentité avec soi est donné dans la connaissance de lʹAutre. Il est donné avec deux autres moments de la structure totale.« Deutsch: Das abstrakte Moment der Identität mit sich ist in der Kenntnis des Anderen gegeben. Es ist mit zwei anderen Momenten der totalen Struktur gegeben. (EN p. 295).
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ment à des consciences dʹétat dʹactions.«77 Das cogito (ist), wenn es korrekt vollzogen wird, Erfassung eines reinen Bewusstseins, ohne Zustandsund Handlungskonstitution. Man könne sogar, so Sartre, ein Bewusstsein annehmen, das einen rein reflexiven Akt vollzieht, der das Bewusstsein diesem selbst als nicht-persönliche Spontaneität erweisen würde: »Lorsque Descartes effectue le cogito, il lʹeffectue en liaison avec le doute méthodique, avec lʹambition de ›faire avancer la science‹, etc., qui sont des actions et des états.«78 Diese präzise Analyse der Bedingungen führen Sartre nun zu der Formulierung seiner Hypothese, dass ein reflexives Erfassen des spontanen Bewusstseins als nicht-persönliche Spontaneität ohne irgendeine vorhergehende Motivation durchgeführt werden müsste. In Entsprechung zu Fichte zeigt auch das Cogito für Sartre auf der einen Seite – wenn es an sich selbst als Handlung aufgefasst wird – seine konstituierende und seine konstituierte Struktur. Das transzendentale Feld als der Möglichkeitsbedingung seiner selbst hat die gleiche Struktur, wie das unreflektierte tätige Bewusstsein. Die Unterscheidung zwischen der reinen Seins-Nichtung als Konstitutionsprinzp und dem handelnden, nichtenden Vollzug eröffnet die Möglichkeit, sowohl die unbedingte, faktische Gewissheit des eigenen Daseins als auch die mögliche Andersartigkeit der Existenz begründen zu können. Das Cogito als Resultat des methodischen Zweifels bleibt unrein, solange die ihm vorlaufende Intention nicht beachtet wird. Obwohl sie ihm vorhergeht, darf sie aber nicht als notwendiges Initialisierungsmoment des reflexiven Aktes gedacht werden. Dieser reflexive Akt ist an sich selbst frei, d.i. er hat keine hinreichende Bedingung.79 Die Realität könnte anders sein, ihr Realisationsprinzip aber nicht. Wie bereits gesagt, kann die Nichtungskompetenz des Bewusstseins nur innerhalb einer Handlungskonstitution oder –struktur überhaupt erscheinen. Sie selbst ist keiner Kontemplation zugänglich, da sie rein an sich selbst nur Nichts wäre. (Ego,
77 Deutsch: In einem Wort ist das Cogito unrein, es ist ein spontanes Bewusstsein, ohne Zweifel, aber es ist synthetisch gebunden an zahlreiche Bewusstsinszustände. Ego, p. 73. 78 Deutsch: Wenn Descartes das Cogito durchführt, führt ner es in Verbindung mit dem methodischen Zweifel durch, mit dem Ehrgeiz »die Wissenschaft voranzubringen«, die Aktionen und Zustände sind. Ibid., op. cit. 79 CS, p. 81, »Zum Beispiel sprachen wir [...] über den reflexiven Akt, und ich sagte[...], dass [...] der reflexive Akt eine Initiative ist. [...].«
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p. 66) Sie kann auch nur einem bereits realisierten Bewusstsein erscheinen. Das transzendentale Feld oder die Seinsweise des zum cogito fähigen präreflexiven Bewusstseins ist eine selbstbestimmte oder gewählte Form. In Entsprechung zu Fichte stellt Sartre die transzendentale Sphäre als eine Sphäre absoluter Existenz dar: »Cette sphère transcendantale est une sphère dʹexistence absolue, cʹest à dire de spontanéités pures, qui ne sont jamais objets et qui se déterminent elles-mêmes à exister.«80 Der Wille entscheidet für Sartre im äußersten Fall über die Wahl der Mittel zur Erreichung eines Zweckes, aber nicht über den Zweck selbst. Ein Bewusstsein, das sich dazu entschließt, willentlich zu handeln oder rational abzuwägen, entscheidet nicht über seine Struktur, sondern ist das Resultat seiner längst ohne Abwägung gewählten Seinsweise. »Si donc la volonté est par essence réflexive, son but nʹest pas tant de décider quelle fin est à atteindre puisque de toutes façons, les jeux sont faits, lʹintention profonde de la volonté porte plutôt sur la manière dʹatteindre cette fin déjà posée.«81 Die theoretische Konzeption und die praktische Intuition des freien Willens stellen für Sartre den zweiten reflexiven Versuch dar, die Handlungen als durch eine freie Entscheidung hervorgerufene zu rechtfertigen. In dem Aufsatz »la liberté cartésienne«, der einem Einführungsband zu Descartes vorangestellt war82, stellt Sartre bei Descartes einen dreifachen Sinn von Freiheit fest: Wahrheitsschöpfung, Willens- oder Zustimmungsfreiheit und Autonomie oder Indifferenz. Dazu schreibt Sartre: »Son expérience première nʹest pas celle de la liberté ›ex nihilo‹, mais dʹabord celle de la pensée autonome qui découvre par ses propres forces des relations intelligibles entre des essences déjà existantes. Cʹest pourquoi nous autres français qui vivons depuis trois siècles sur la liberté cartésienne, nous enten-
80 Deutsch: Diese transzendentale Sphäre ist eine Sphäre absoluter Existenz, das heißt reiner Spontanitäten, die niemals Objekte sind und die sich selbst dazu bestimmen, zu existieren. Ibid., p. 77. 81 Deutsch: Wenn also der Wille seinem Wesen nach reflexiv ist, so ist sein Ziel nicht so sehr, zu entscheiden, welcher Zweck erreicht werden soll, da ja das Spiel auf jeden Fall aus ist, sondern die tiefe Intention des Willens richtet sich vielmehr auf die Art, in der dieser bereits gesetzte Zweck erreicht werden soll. Sartres Theaterstück Les jeux sont faits (Paris 1947) zeigt, dass die willentliche Entscheidung, etwas anderes zu machen, nichts ausrichten kann gegen den ursprünglichen Entwurf, wenn dieser nicht zunächst selbst in Frage gestellt wird. EN, p. 528. 82 Descartes 1596-1650. Introduction et choix par J. P. Sartre, Paris 1946.
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dons implicitement par »libre arbitre« lʹexercice dʹune pensée indépendante.«83 Doch dieser Versuch ist nur die Konsequenz des unauthentischen Urentwurfs, aus sich selbst ein Sein zu machen und so Grund seines Seins zu werden. Die diversen Möglichkeiten jedes Entwurfs erscheinen nur ex post, a posteriori aus der Retrospektive als tatsächlich möglich gewesen seiend, ohne dass der Möglichkeitscharakter vor der konkreten Realisierung, die eine Wahl ist, als solcher gegeben gewesen wäre. Selbst die cartesianische Indifferenz vermag nicht darüber hinweg zu täuschen, dass es keinen Augenblick im Leben gibt, in dem das Bewusstsein nicht wählend handelt. Wenn es aber wählt, nicht zu handeln, so ist auch dies eine Handlung. Das Cogito ist nicht nur handelnder Vollzug und Seins-Nichtung, sondern es beinhaltet noch einen dritten Aspekt, der zur Klärung der selbstgewählten, mit bestimmten Strukturen des Bewusstseins herangezogen werden muss. Dies ist der motivationale Aspekt der Selbsterkenntnis im Cogito, der für Sartre notwendig auf die Existenz weiterer Bewusstseine verweist. Die ontologische Bewusstseinsstruktur des Pour-autrui bildet die Basis für Sartres Explikation der Fremdexistenz oder Intersubjektivität. Das empirische, entfremdende oder konflikthafte Aufeinandertreffen zweier menschlicher Bewusstseine beschreibt Sartre unter dem Begriff »Blick.«84 Das Phänomen des »Blicks« umfasst sowohl das »gesehen werden« durch andere als auch die erblickende Objektivierung des Anderen als Reaktion des Bewusstseins auf eine Art »Versteinerung«: Der Blick ist »médusant.« (CM, p. 294) Das gegenwärtige Miteinander der Bewusstsei-
83 Deutsch: Seine erste Erfahrung ist nicht die einer Freiheit »ex nihilo« , aber zunächst die eines autonomen Denkens das seine eigenen Kräfte intelligibler Verbindungen zwischen schon existierenden Essenzen entdeckt. Deswegen verstehen wir anderen Franzosen, die wir seit drei Jahrhunderten mit der cartesianischen Freiheit leben, implizit unter »freier Entscheidung« die Erfahrung eines unabhängigen Denkens. »La liberté cartésienne«, in: Situations I, Paris 1947, pp. 314 sqq. 84 Die theoretische Relevanz der Tatsache, dass Sartre die Begriffe »autre« und »Autre« unterschiedlich gebraucht, liegt darin, dass er mit »autre« oder »Autre« ausschließlich ein tatsächlich anderes Bewusstsein als das je eigene meint, während »autrui« und »Autrui« sowohl für das eigene, entfremdete, objekthafte Bewusstsein als auch für das andere Bewusstsein steht, wie gezeigt wird. Die deutsche Übersetzung macht diese subtilen Unterschiede übrigens nicht deutlich, so dass dieses für die weitere deutsche Sartre-Rezeption noch ein ausgesprochenes Desiderat darstellt.
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ne zeichnet sich durch eine gegenseitige, objektivierende Entfremdung der Bewusstseine aus: »lʹaliénation est lʹaspect social de la réification. [...] Le monde de lʹaliénation cʹest celui où on pense le Soi-même à partir de lʹAutre.«85 Grundlage des Konflikts ist ein wechselseitiges Transzendieren, eine gegen das mitanwesende Bewusstsein gerichtete Nichtung, die es beurteilend, qualifizierend und transzendierend zu einem »Ding« für den anderen macht, das es für sich selbst nicht sein kann. Erst mit der entfremdenden Erfahrung, für ein ursprünglich synchron mitanwesendes Bewusstsein Objekt zu sein, das sich über diese Objektivierung selbst zum ›pour-autrui‹ bestimmt, entsteht die entfremdende Bestimmung des Anderen als der Andere. Durch die gleichursprüngliche Strukturierung zur Existenz ›pour-autrui‹ auf Seiten des objektivierten Bewusstseins erfinden die Bewusstseine gemeinsam einen die eigentliche Person negierenden Aspekt: Das ›être-pour-autrui‹ oder das ›soi-même‹ als Selbst im Angesicht des Anderen. Wir fühlen uns an Fichte erinnert, wenn Sartre schreibt, dass die ›existence pour-autrui‹ eine Art und Weise des Bewusstseins ist, sich auf das Objekt, das es für den Anderen ist, zu beziehen. Da sich aber das Bewusstsein ebenfalls darüber konstituiert, nicht der Andere zu sein, impliziert die bezugnehmende Struktur ein radikales Zurückweisen des Anderen: »Ainsi, cʹest au Pour-soi quʹil faut demander de nous livrer le Pour-autrui, à lʹimmanence absolue quʹil faut demander de nous rejeter dans la transcendance absolue.«86 Gemeint ist die Nichtung des Anderen. Diese Zurückweisung oder Ablehnung (refus) bezieht sich sowohl auf das eigene, durch den Anderen objektivierte Sein, als auch auf den Anderen, da der Andere in der Autrui – Intersubjektivität über die Ablehnung der eigenen Objekthaftigkeit als Anderer wahrgenommen wird. Wir werden wieder an Fichte erinnert, wenn Sartre schreibt, dass der Bewusstseinsstruktur des pour-autrui eine nichtende Bestimmung der nichtenden Transzendenz, als die das Bewusstsein existiert, inhärent ist: »[...] ce nʹest pas dans le monde quʹil faut dʹabord chercher autrui, mais du
85 Deutsch: Die Auslöschung ist der soziale Aspekt des In-Erscheinung-Tretens […]. Die Welt der Auslöschung ist diejenige, wo man an sich selbst vom Anderen her denkt. CM, p. 485. 86 Deutsch: Also muss man vom Für-sich verlangen, uns das Für-Andere zu liefern, muss man von der der absoluten Immanenz verlangen, uns in die absolute Transzendenz zurückzuwerfen. EN, p. 309.
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côté de la conscience, comme une conscience en qui et par qui la conscience se fait être ce quʹelle est.«87 2.1.2. Die ethisch-theoretische Dimension der Blickanalyse in der Transzendentalphänomenologie Sartres Nicht nur der Transzendentalphänomenologie zufolge, sondern insbesondere in der Philosophie Fichtes verankert, ist die fremde Subjektivität durch den weltlich-dinglich ausgelegten Leib vermittelt, und zwar sowohl durch den des Anderen selber wie auch durch den meinen. Sartre greift diesen von uns bereits zitierten Gedanken auf: »entre la conscience dʹautrui et la mienne, mon corps comme chose du monde et le corps dʹautrui sont des intermédiaires nécessaires.« Das Wissen vom Anderen kommt allen Begegnungen mit Innerweltlichem zuvor. Eng verknüpft ist daher mit der Faktizität des ›être- pour-soi‹ bei Sartre die Leiblichkeit, denn in der Dimension, in der er für mich ist, ist mein Leib meine ursprüngliche Faktizität. Mit der Frage der Leiblichkeit nimmt Sartre ein Problem auf, das in der Phänomenologie Husserls eine große Rolle spielte. In Abgrenzung zu Husserl beantwortet Sartre diese Frage mit Hilfe derjenigen Faktizität, die auch in Heideggers Daseinsanalytik eine große Bedeutung hat, von Husserl selbst aber nicht gesehen wurde. Sartre verweist auf eine absolute Weltbezogenheit, verstanden als perspektivische Bestimmung der Räum-
87 Deutsch: Man muss den anderen nicht in der Welt suchen, sondern auf der Seite des Bewusstseins, als ein Bewusstsein, in dem und durch das das Bewusstsein sich das sein macht. EN, p. 332. Cf zu diesem Kontext eine interessante Arbeit von Sighard Neckel, Status und Scham, zur symbolische Reproduktion sozialer Ungleichheit, Frankfurt, 1991. Entlang der sozialphilosophischen Studien von Sartre und Foucault entwickelt Neckel einen machttheoretischen Bezugsrahmen für die Analyse von Schamgefühlen und präzisiert den normativen Gehalt von Scham. Schamgefühle, ihre sozialen Formen und ihre soziale Genese werden vor dem Hintergrund Simmels und Eliasʹ einer differenzierten Analyse unterzogen. Hinsichtlich der realen Gestalt von Schamempfindungen im Kontext sozialer Prozesse werden mit Begriffen wie »Peinlichkeit« und »Unterlegenheit« zwei soziale Rahmungen dieses Gefühls näher unterschieden. Besonders aufschlussreich ist die Analyse der Funktionalität von Scham und Beschämung im Kontext sozialer Kontrolle. Neckels Überlegungen zur Macht der Scham im Feld der Lebensstile liest sich wie eine moderne Sozialontologie Sartres.
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lichkeit der Wahrnehmungswelt, die mir als Faktizität des Gegebenen durch meinen Körper vermittelt wird. Sartres Reflexionsschritte zeigen eine präzise Abfolge: »Être pour la réalié-humaine cʹest être-là; cʹest à dire »là sur cette chaise« [...] Cʹest une nécessité ontologique.«88 Diese Notwendigkeit erscheint zwischen zwei Kontingenzen: Wenn es notwendig ist, dass ich der Form nach da bin, dann ist es absolut kontingent, dass ich da bin »car je ne suis pas le fondement de mon être.«89 Wenn es aber notwendig ist, dass ich genau in dieser Sache engagiert bin, dann ist es ebenfalls kontingent, dass ich unter Ausschluss aller anderen Sachen gerade mit dieser Sache befasst bin. Sartre kommt daher zu dem Schluss: »Cʹest cette double contingence, enserrant une nécessité, que nous avons appelée la facticité du pour-soi« 90 Aus dieser Feststellung aber resultiert die unmittelbare Frage Sartres, welche Wechselbestimmung aus der Faktizität meines Körpers für das ›Pour-soi‹ resultiert. Er schlussfolgert: »on pourrait définir le corps comme la forme contingente que prend la nécessité de ma contingence. Il nʹest rien autre que le pour-soi.«91 Sartres Diskussion der Leiblichkeit führt uns nun zur Blickanalyse selbst. Geprüft werden soll, ob sich hier besondere Hinweise darauf finden lassen, welche notwendigen Konstitutionsbedingungen hinsichtlich ethischer Implikationen im Phänomen des ›Blicks‹ enthalten sind. In ›LʹÊtre et le néant‹ beschreibt Sartre die ursprüngliche Begegnung des Anderen mit mir allein gemäß des Erblicktwerdens. Das ›Pour-soi‹ dagegen gewährt eine bloß abgeleitete Fremderfahrung in Entsprechung des von mir erblickten Anderen. Der Subjekt-Andere ist nach Sartre die einzig wirklich fremde Subjektivität. Er ist nicht Subjekt für die Welt, denn nicht die Welt ist sein Objekt, sondern ich.92 Für Sartre ergibt sich daraus der
88 Deutsch: Sein ist für die menschliche – Realität Da-Sein; das heißt »da auf einem Stuhl« [...] Das ist eine ontologische Notwendigkeit. EN, p. 371. 89 Deutsch: Denn ich bin nicht der Grund meines Seins. Ibid. op. cit. 90 Deutsch: Es ist diese doppelte Kontingenz, die eine Notwendigkeit einschließt, die wir die Faktizität des Für-sich genannt haben. Ibid. op. cit.. 91 Deutsch: Man könnte den Körper (Leib) definieren als kontingente Form, welche die Notwendigkeit meiner Kontingenz annimmt. Er ist nichts anderes als das Fürsich. Ibid. op. cit. 92 Theunissen bezeichnet es als größtes sozialphilosophisches Verdienst Sartres, »einsichtig gemacht zu haben, dass die Erfahrung des auf mich gerichteten Anderen
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nächste Deduktionsschritt: »Si autrui-objet se définit en liaison avec le monde comme lʹobjet qui voit ce que je vois, ma liaison fondamentale avec autrui-sujet doit pouvoir se ramener à ma possibilité permanente dʹêtre vu par autrui.«93 Sofern der Andere als auch das von ihm betrachtete Ding in meinem Blickfeld liegen, ist mir auch das Verhältnis, das der Andere zu jenem Ding hin entfaltet, als Ganzes und damit als Objekt gegeben. Sartres prinzipiellem Ansatz zufolge ist die Subjektheit des als Objekt in meiner Welt auftretenden Mitmenschen aber nichts anderes als das fremde, sich in ihrem Verhältnis konkretisierende In-der-Welt-sein. Die fremde Subjektivität ist damit zum Objekt geworden. Die objektive Gegebenheit ist aber nur die eine Seite des ›être-pour-soi‹ der Beziehung, die der objektiv gegebene Andere zu den Dingen meiner Welt unterhält. Das in dem von meinem In-der-Welt-sein umgriffenen Inder-Welt-sein des Anderen, dessen Subjektivität immerhin präsent ist, stellt die andere Seite dar. Immerhin ist der Objekt-Andere ein SubjektObjekt und kein pures Objekt. Dieser Sachverhalt hat seinen Grund für Sartre darin, dass das Weltverhältnis des von mir beobachteten in dem Maße entgeht, wie es von dessen Subjektivität getragen wird. Bezogen auf das sogenannte Rasenbeispiel erklärt Sartre: »[...] dans la mesure où lʹobjet-homme est le terme fondamental de cette relation, dans la mesure où elle va vers lui elle mʹéchappe. [...] la distance qui sʹétablie entre la pelouse et lʹhomme à travers le surgissement synthétique de cette relation première est une négation de la distance que jʹétablis – comme pur type de négation externe – entre deux objets.«94 Das Verhältnis des vor mir auftauchenden Anderen zu seinem Objekt entzieht sich mir, weil ich dieses Objekt zwar auch sehe, nicht aber so, wie es der Andere sieht. Daraus ergibt
sich wesensmäßig unterscheidet vom Erlebnis des Mitmenschen, der sich mit Dingen beschäftigt«, in: Theunissen, op. cit., p. 201. 93 Deutsch: Wenn der Objekt-Andere sich in Verbindung mit der Welt als der Gegenstand definiert, der das sieht, was ich sehe, muss meine fundamentale Verbindung mit dem Subjekt-Anderen auf meine permanente Möglichkeit zurückgeführt werden können, von Anderen gesehen zu werden. EN, p. 314. 94 Deutsch: […] in dem Maß, wie der Objekt-Mensch der fundamentale Begriff dieser Relation ist, in dem Maße, wie es sich ihm nähert, entkommt es mir […] die Distanz, die sich zwischen dem Rasen und dem Menschen mittels des synthetischen Auftauchens dieser ersten Relation bildet, ist eine Negation der Distanz, und zwar in Form eines reinen Negationstypusʹ – zwischen zwei Objekten.
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sich für Sartre die folgende Konsequenz: Vermöge seines eigenen Weltverhältnisses entweltlicht mir der Andere die Welt. Er, der Andere, hat mir »die Welt gestohlen.« Diesen Diebstahl hat er schon allein deshalb begangen, weil er dieselben Gegenstände, die ich um mich herum anordne, seinerseits zu sich hinorientiert, also die auf mich zentrierte Welt dezentralisiert. Sartre wählt daher den drastischen Vergleich des Objekt-Anderen mit einem Abflussloch, aus dem die Welt, was eigentlich völlig paradox anmutet, allmählich ausrinnt: »[...] il semble quʹil (le monde) est percé dʹun trou de vidange, au milieu de son être, et quʹil sʹécoule perpétuellement par ce trou.«95 Für Sartre scheint es also unmöglich zu sein, mich in die fremde Welt versetzen zu können. Die radikale gegenseitige Ausschließung ist das übrig Bleibende. Als ›négation dʹintériorité‹ schließt das Verhältnis des dort spazieren gehenden Menschen zum Rasen zunächst mein ebenfalls innerliches Verhältnis zu diesem Rasen aus. Tritt dieser Fall ein, dann negiert es aber auch die Beziehung, die ich als ›négation externe‹ zwischen dem Mensch-Objekt und dem Rasen-Objekt herstelle. Der Andere steht zum Rasen in einem fernelosen Verhältnis. Er entfaltet zugleich seine eigenen Entfernungen vom Anderen her zum Rasen, was völlig unvereinbar mit der objektiven Entfernung ist, die ich zwischen den austauschbaren Gliedern dieser äußeren Relation abmesse. Da das fremde Subjekt in der Objekt-Welt gar nicht verortet werden kann, kommt Sartre zu der Erkenntnis, dass die Erfahrung der Subjektheit des Objekt-Anderen in der Erfahrung des Objekt-Anderen gar nicht ursprünglich enthalten ist. Gemeint ist die in die Objekt-Welt hineingetragene Erinnerung an eine ganz andere Erfahrung, d.i. an die des SubjektAnderen: »[...]ce qui décide dans chaque cas du type dʹobjectivation dʹautrui et des ses qualités cʹest à la fois ma situation dans le monde et sa situation, cʹest à dire les complexes dʹustensiles que nous avons organisés chacun [...] qui paraissent à lʹun et à lʹautre sur fond du monde.« 96 Ich muss also die Erfahrung des Subjekt-Anderen bereits gemacht haben, um die
95 Deutsch: [...] es scheint, dass das Universum mitten in seinem Sein von einem Abflussloch durchbohrt ist und fortwährend durch dieses Loch abfließt. EN, p. 313. 96 Deutsch: [...] das, was jedes Mal über den Typus der Objektivierung des Anderen entscheidet, ist zugleich meine Situation in der Welt und seine Situation, d. h. der Komplex an Werkzeugen, die wir beide, ein jeder von uns, organisiert haben und die jedem von uns beiden am Ursprung der Welt erscheinen. EN, p. 315
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Erfahrung des Objekt-Anderen machen zu können. In Sartres Blickanalyse bedeutet das nichts anderes, als dasjenige, dass ich vom Anderen gesehen worden sein muss, um ihn meinerseits als Anderen sehen zu können. Am Ende dieses Gedankengangs stellt Sartre resümierend fest: »Lʹêtrevu-par-autrui est la vérité de voir autrui.«97 Sartre vollzieht damit einen Rückverweis vom Für-mich-sein des Anderen selber auf mein Für-denAnderen-Sein, denn was den von mir gesehenen Anderen zum Anderen macht, liegt eben nicht auf der Ebene, in der ich ihn sehe, sondern in einer tieferen und ursprünglicheren Dimension, in der ich von ihm gesehen werde. Sartre versichert ausdrücklich: »que mon appréhension dʹautrui comme objet [...] renvoie par essence à une saisie fondamentale dʹautrui, où autrui ne se découvrira plus à moi comme objet mais comme présence en personne.«98 Fragt man allerdings danach, wie die Verschiedenheit von Objekt-Anderen zum Subjekt-Anderen sich gegen die Übertragung der Subjektheit von diesem auf jenen durchzuhalten vermag, so bleibt Sartres Antwort etwas vage, wenn er meint, dass die Subjektheit selbst in dieser Übertragung eine völlige Metamorphose durchmacht: »Autrui ne saurait me regarder comme il regarde le gazon.«99 Unableitbar vom Objekt-Anderen ist der Subjekt-Andere, weil das ›être-vu-par-autrui‹ ein »irreduzibles« Faktum darstellt. Denn dass der Andere, dessen Blick eben noch auf dem Rasen ruhte, nun plötzlich mich ansieht, ist Sache der fremden Freiheit und eben damit nicht der eigenen. Ich kann das ›être-vu-par-autrui‹ nicht willentlich herbeiführen. Es überkommt mich ohne mein Zutun und ist demnach absolut kontingent. Entsprechend dem Methodenprinzip der ›interiorité‹ geht es wirklich nur um das Gesehenwerden: Ich erleide das Auf-mich-Zukommen des Anderen. Die Erfahrung des Subjekt-Anderen ist im Grunde gar nicht eine Erfahrung des fremden Subjekts, sondern die meiner Objektheit, in der mir allein die Subjektheit des Anderen fühlbar wird.
97 Deutsch: Vom Anderen gesehen zu werden ist in Wahrheit den Anderen zu sehen. Ibid. op. cit. 98 Deutsch: meine Wahrnehmung des Anderen als Objekt [...] verweist ihrem Wesen nach auf ein fundamentales Erfassen des Anderen, wo der Andere sich mir nicht mehr als Objekt, sondern als »leibhaftige Anwesenheit« entdecken wird. EN, p. 310. 99 Deutsch: Der Andere kann mich nicht so ansehen, wie er den Rasen ansieht. EN, p. 314.
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Indem er mich zu einem Gegenstand macht, konstituiert mich der Andere auf einen neuen Seinstyp. Neu ist dieser Seinstyp aber nicht deswegen, weil ich der Gegenstand des Anderen bin, sondern weil ich nun erst überhaupt Gegenstand bin. Im Modus des ›être-pour-soi‹ kann ich mich nicht als Objekt vor mich bringen, auch nicht durch Reflexion, da diese die Ebene wirklicher Objektheit nie erreicht. Ähnlich der Fichteschen Intersubjektivitätstheorie, (die als erste den ethischen Grundlagencharakter als konstituierendes Moment herausgestellt hat,100) formuliert Sartre: Um mich selbst als Objekt betrachten zu können, muss ich mich gleichsam aus den Händen des Anderen empfangen. Den Akt diese Empfangens bezeichnet Sartre als »Anerkenntnis«101, denn indem ich ihn anerkenne, anerkenne ich, nicht nur Objekt für den Anderen zu sein, sondern zugleich, dass ich faktisch so bin, wie der Andere mich sieht: »Je reconnais que je suis comme autrui me voit.«102 Damit ist aber nicht die Übertragung der fremden Vorstellung auf meine eigene gemeint, wie Sartre schon im Hinblick auf den Anerkenntnischarakter der Scham deutlich gemacht hatte. Mit der im Gesehenwerden erlittenen Vergegenständlichung stürze ich zugleich in die Faktizität der Vorhandenheit. Dem Blick des Anderen bietet sich mein volles In-der-der-Welt-sein dar. Werde ich vom Anderen vergegenständlicht, wird also nicht nur meine leiblich konkretisierte Faktizität, sondern ebenfalls meine Transzendenz oder Freiheit zum Gegenstand. Die ethische Dimension seiner sich in der Blickanalyse offenbarenden Fremdheitslehre greift Sartre in den Cahiers pour une morale noch einmal unter besagtem Gesichtspunkt explizit auf. Die Frage nach den Möglichkeitsbedingungen für ethisches Handeln stellt sich für ihn originär in diesem Kontext. Indem er die Charakteristik der Situation eines »conseilleur«, der doch normalerweise nur Rat geben will, durchspielt, kommt
100 Hier muss auf die umfassende Forschungsarbeit von Edith Düsing, Intersubjektivität und Selbstbewußtsein, Behavioristische, phänomenologische und idealistische Begründungstheorien bei Mead, Schütz, Fichte und Hegel, Köln 1986, hingewiesen werden, die die komplexen Strukturen der verschiedenen ethischen Implikationen von Intersubjektivität ausgesprochen subtil miteinander vergleicht und damit aus unserer Sicht einen Forschungsbeitrag von unschätzbarem Wert geschaffen hat. 101 Wir verzichten auf die oft gesehene Parallelität mit dem Hegelschen Begriff der Anerkennung, weil wir die Konnotation Anerkenntnis als reflexives Moment hervorheben wollen. 102 Deutsch: Ich erkenne an, dass ich so bin wie der Andere mich sieht. EN, p. 276.
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Sartre zu folgenden – ethischen – Schlussfolgerungen: »Lʹattitude (du conseilleur) consiste à voler à lʹautre sa fin. [...] à me lʹapproprier en le mettant hors jeu, comme le conseilleur qui joue pour vous votre partie, conseille sans quʹon le lui demande [...] vous prend pour instrument et finit par vous arracher les cartes des mains.«103 Es handelt sich um eine Haltung absoluter Unauthentizität, »et pour cela, il sʹagit de nier la liberté de lʹautre en y substituant la sienne et faire rentrer la valeur et la fin dans son propre univers.«104 Die Überwindung der Unauthentizität sieht Sartre in dem Moment reflexiver Anerkennung des Wertes an sich in einem Akt von ›compréhension‹. »La seule forme authentique du vouloir consiste ici à vouloir que la fin soit réalisée par lʹautre.« 105 In einer Art Unmittelbarkeit, quasi auf einen Schlag, bin ich mir der Freiheit des Anderen bewusst, und zwar »de telle sorte, que je reconnais la liberté de lʹautre sans en être transi (par) le regard.«106 Die ethischen Implikationen dieses Aktes werden in diesem Kontext also von Sartre unmissverständlich formuliert, indem sie einer subtilen Prüfung unterzogen werden. Sie gipfeln in der Bemerkung Sartres, dass es möglich ist, in einer Art Haltung vor den Anderen zu treten, die von der modernen Kommunikationstheorie als »Ambiguitätstoleranz«107 bezeichnet wird. Ich gelange zum Anderen auf eine Weise, dass »je ne suis pas transcendé par elle (la liberté) puisque jʹadopte librement sa fin.«108 Voraussetzung dafür aber ist die Abwesenheit des Konflikts, denn dort geht es ja um eine »opposition où chaque Pour-soi nie quʹil soit lʹAu-
103 Deutsch: Die Haltung (des Beraters) besteht daraus, dem anderen seine Ziele zu stehlen [...], mich ihrer zu bemächtigen und ihn außer Kraft zu setzen, wie der Berater der das Spiel an Eurer Stelle spielt, Ratschläge erteilt, ohne dass man ihn darum bittet [...] euch als ein Instrument benutzt und Euch schließlich die Karten aus der Hand reißt. CM, p. 290. 104 Deutsch: [...] und deswegen handelt es sich darum, die Freiheit des Anderen zu verneinen, indem diese durch die seinige substituiert und Wert und Ziel in sein Universum eintreten lässt. CM, p. 291. 105 Deutsch: Es handelt sich um Verständnis. Die einzige authentische Form des Wollens besteht darin zu wollen, dass das Ziel des Anderen realisiert werde. CM, p. 290. 106 Deutsch: [...] in einer Weise, in der ich die Freiheit des Anderen anerkenne, ohne davon durch den Blick erstarrt zu werden. CM, p. 291. 107 Lothar Krappmann, »Neuere Rollenkonzepte als Erklärungsmöglichkeit für Sozialisationsprozesse«, in: Seminar: Kommunikation, Interaktion, Identität. Hg. v. M. Auwärter u.a., Frankfurt 1976, p. 315.
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tre et constitue lʹAutre comme objet.«109 Im Akt der Anerkenntnis aber »dans la mesure même où je la (la valeur) soutiens par mon vouloir, elle devient objectivement comme un fait de ce monde.[...].«110 Die Freiheit des Anderen wird im Akte der Anerkenntnis die Verlängerung also zu meiner eigenen Freiheit, so dass die Ethik Sartres – ähnlich wie das bei Fichte der Fall ist – ihre volle Berechtigung aus der mittels Blickanalyse vermittelten Intersubjektivitätstheorie gewinnt. 2.1.3. Die Aufforderung in der Transzendentalphilosophie Fichtes Während das reine Ich unbedingter spontaner Anfang seiner selbst ist, d.i. sich ohne fremde Bedingungen selbst als Ich konstituiert, ist das konkrete Selbstbewusstsein nur relativ spontaner Selbstanfang. Es bedarf zugleich des Aufgefordertwerdens durch den Anderen. Ähnlich wie Sartre sagt Fichte: »Es läßt sich also streng erweisen, daß ein isolirtes Wesen nicht zur Vernunft kommen kann.«111 Indem es vom Anderen zu freier Selbsttätigkeit aufgerufen wird, erwacht das Individuum zum originären Bewusstsein seiner selbst und findet sich dabei als ein »Bestimmtsein zur Selbstbestimmung.«112 Verstehe ich die Aufforderung umfassend, so werde ich der Intention des Anderen gewahr, der zu Recht eine sinnentsprechende Antwort von
108 Deutsch: [...], dass ich nicht von der Freiheit transzendiert werde, denn ich nehme ja frei ihr Ziel auf mich. Ibid. op. cit. 109 Deutsch: [...], eine Opposition, in der jedes Für-sich verneint, der Andere zu sein und den Anderen als Objekt konstituiert. Ibid. op. cit. 110 Deutsch: [...], in dem Maße, wie ich den Wert durch mein Wollen unterstütze, wird er objektiv zu einem Faktum dieser Welt. Ibid. op. cit. 111 Fichte, Vorlesung über Moral von 1796, IV, 1, p. 109, cf. ähnlich auch SW IV, p. 221 (Sittenlehre §18). In der Wissenschaftslehre nova methodo kennzeichnet Fichte dieselbe These so: »Kein Individuum kann sich [...] aus sich selbst erklären.« GA IV,2, p. 177. 112 Auf Fichtes Theorie der Anerkennung sei an dieser Stelle nur hingewiesen. Der bewusstseinstheoretische Erweis der Notwendigkeit des Übergangs von der Aufforderung zur Anerkennung (§§ 3 und 4) besagt: Eine einseitige Relation des Gewecktwerdens des Individuums zu seiner Freiheit reicht ebenso wenig wie ein bloß theoretisches Annehmen der Existenz des Anderen für die vollständige Bildungsgeschichte des werdenden Selbstbewusstseins aus; hinzutreten muss die wechselseitige praktische Anerkennung. – cf. zu diesem Problem des Übergangs von der Aufforderung zur Anerkennung Ludwig Siep, »Methodische und systematische
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mir erwarten darf. Die Begegnung mit dem Du ist ursprünglicher als die Welt überhaupt Daraus ist aber nicht abzuleiten, dass Du und Ich sich gleich ursprünglich aus einem vorreflexiven gemeinsamen Zwischenreich als selbstbewusste Wesen empfangen, ohne eine bewusste und wissbare Beziehung zu dem jeweils anderen aufgenommen zu haben. Der Andere ist auf freie ›Wechselwirksamkeit‹ mit mir aus, weil er mich anerkannt hat und ein gegenseitiges ›Anerkennungsverhältnis‹ zu gründen sucht. (ibid.) Für Fichte ist damit in § 3 des Naturrechts der Beweis für den Zusammenhang erbracht, dass das individuelle Ich sich selbst als Ich nicht setzen kann, »es geschehe denn auf dasselbe eine Aufforderung zum freien Handeln«113, nach welcher das konkrete Selbstbewusstsein notwendig als »Ursache« dafür die Existenz eines alter ego annehmen muss. (ibid.) In eben demselben Akt, in welchem das individuelle Ich sich selbst als Ich setzt, also sich als Selbstbewusstsein konstituiert, muss es die reale Existenz eines anderen Ich setzen und annehmen. Das Bewusstsein des Ich von sich und sein Bewusstsein eines Du sind korrelativ, so dass ich mir in der Erfahrung des Mich-aufgefordert-Findens sowohl der eigenen als auch der fremden Freiheit bewusst werde. Fichte erklärt: »Ich finde mich durch den andern gedacht als handelnd.« Dies geschieht in der Reihenfolge: 1. Das Du spricht mich an; 2. Darauf antworte ich und finde mich zugleich als freier Partner; 3. Zugleich aber entdecke ich – der Sache nach abhängig davon – die Welt als meiner Freiheit Entgegenstehende. (GA IV,2, p. 180) In der Wissenschaftslehre nova methodo gelangt Fichte zu folgenden Einsichten: Da das wahre Selbstsein der Person in der Ethik ihres Wollens gründet, beinhaltet ihr Sich-selbst-Finden in der Aufforderung, dass sie den Übergang vollzieht von der bloßen Bestimmbarkeit ihres Begehrungsvermögens. Es ist zu beliebigen Akten der Willkür, zur Umgrenzung einer näher bestimmten Sphäre, nämlich des Inbegriffs der »moralischen Handlungsmöglichkei-
Probleme in Fichtes ›Grundlage des Naturrechts‹«, in: Der transzendentale Gedanke. Die gegenwärtige Darstellung der Philosophie Fichtes, hg. v. K. Hammacher, Hamburg 1981, pp. 290-306. 113 Fichte GA I, 3, p. 347.Conf. wiederum auch die ›Vorlesung über Moral‹ (von 1796): »Diese Aufforderung kann ich nun nicht begreifen, ohne sie einem wirklichen Wesen außer mir zuzuschreiben das mir einen Begriff mittheilen wollte, das mithin eines Begriffs vom Begriff fähig ist; ein solches Wesen ist ein vernünftiges Wesen – ein Ich«, GA IV, 1, p. 109. cf. auch ›System der Sittenlehre‹ § 18, SW IV, pp. 220sq.
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ten« bestimmbar. Fichte ist der Überzeugung, dass ich darin »mein Sein« finde. (GA IV,2, p. 247 sq) In der Situation des Aufgefordertseins findet die Person sich affiziert von der »absolut zu denkenden« Aufgabe der freien Selbstbestimmung. 3. Intersubjektivität und Ethik als Konstitutionsprinzip des Selbstbewusstseins Sowohl Fichte wie später auch Sartre gewinnen hinsichtlich der ethischen Fundierung der Intersubjektivität im Selbstbewusstsein vergleichbare Resultate auf der theoretischen Ebene. Hier zeigt sich die deutlichste Schnittstelle zur ethisch fundierten Intersubjektivitätstheorie Sartres. Wie bei Sartre der ›Blick‹ ist die Aufforderung bei Fichte mitbedingend für das Zustandekommen der Einheit konkreter praktischer Subjektivität. Das Ich weiß zugleich den Anderen als Grund der Aufforderung zu ethischer Autonomie. Der Andere muss demnach selbst als Subjekt ethischen Wollens und Tuns verstanden und anerkannt werden. Im Vernehmen und Verstehen des Aufgefordertseins durch den Anderen tritt der zum Selbstbewusstsein gelangenden Person somit – in versinnlichter Gestalt – das absolute Sollen entgegen. Das Ich kommt zu persönlichem Selbstbewusstsein in der Aufforderung durch ein anderes Ich. Ich finde zu mir als einem individuellen Freiheitswesen erst im Ereignis der Aufforderung durch vernünftige Wesen außer mir. Daher führt der Weg der Fremderfahrung gar nicht vom Ich (durch Appräsentation) zum anderen Ich, sondern grundsätzlich in umgekehrter Richtung. Durch den Anderen und seine praktische Aufforderung komme ich zu mir selbst. Von Fichte nur als Terminus verstanden benennt die Aufforderung die Art, in der ein sich selbst bestimmendes Vernunftwesen als solches zu freier Wirksamkeit durch andere freie Vernunftwesen außer ihm bestimmt werden kann. Die Aufforderung bildet das einzige Kriterium für die sichere Existenz von Ichen außer mir, indem sie bezeugt, dass ich von anderen freien Wesen als freies Wesen herausgefordert und anerkannt werde. Das Ich des Selbstbewusstseins in der Gestalt der Einzelheit und Individualität gewinnt seine Selbstständigkeit in wechselseitiger Anerkennung gegenüber dem fremden Ich: Das Ich der Vernunft setzt sich schlechthin selbst. »Das Ich setzt ursprünglich
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schlechthin sein eigenes Seyn«114 Die Handlungen des freien personalen Wesens außer mir, dessen reale Existenz ich damit annehme, verhalten sich zu dem mir angesonnenen Handeln »wie der angefangene Weg zur Fortsetzung deßselben.«115 Im positiven Übernehmen der Aufgabe und damit im interpersonalen Erwidern einer ganzen sinnvollen ›Reihe‹ von Taten, deren Zielrichtung die Aufforderung mir kundgetan hat, vervollständige und ergänze ich das »noch mangelnde.« Dieser Gedanke führt Fichte zu der Idee eines universalen Zusammenhangs der intelligiblen Welt. »Denn das Handeln mehrerer Vernunftwesen ist eine einzige durch Freiheit bestimmte Kette; ... ein Individuum fängt an, ein anderes greift ein und s.f.« (GA IV, 2, p. 253 sq.) 3.1. Die ethische Intersubjektivitätstheorie Fichtes In Fichtes Konzeption finden sich Prämissen, die sich dadurch auszeichnen, dass: (1) die unbedingte Freiheit des Individuums gewahrt bleibt, insbesondere keine bloß passive Genesis von Ich-Identität in Prozessen heteronomen Geprägtwerdens angenommen wird, (2) es keinen Primat der Gesellschaft vor der Subjektivität oder umgekehrt gibt, (3) in der Theorie der ›Aufforderung und Anerkennung‹ eine Gleichursprünglichkeit der Genese des individuellen Selbstbewusstseins und der gesellschaftlichen Konstitution des Ich begründet wird, (4) die Vereinbarkeit von realer persönlicher Freiheit mit einem intersubjektiven Bestimmtwerden von außen aufgezeigt wird, (5) Intersubjektivität in unterschiedlichen Sinndimensionen genetisch und ansatzweise teleologisch entfaltet wird, d.i. in rechtlicher, in ethischer und in praktisch-metaphysischer Bedeutung. Veranlasst durch die Fragestellung, ob und wie es möglich sei, dass freie vernünftige Ichwesen authentische Kenntnis voneinander gewinnen, beginnt Fichte in de officiis eruditorum (Die Bestimmung des Gelehrten) im Jahre 1794 damit, das Problem fremdpersonaler Existenz zu formulieren
114 SW I, 1, p. 261. 115 Ibid. op. Cit.
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und in einer eigenen Theorie einer Lösung zuzuführen.116 Fichtes Charakterisierung der Ausgangsfrage: »Wie kommen wir dazu, vernünftige Wesen« unseresgleichen »ausser uns anzunehmen und anzuerkennen?« (I,3, pp. 34 sqq) ist schlicht der Hinweis auf die Möglichkeit einer transzendentalphilosophischen Theorie der Intersubjektivität, einer Theorie, die ursprüngliche, apriorische Akte des Selbstbewusstseins zugrunde legen muss. Ein Wesen ist an ihm selbst, seine Ichheit, seine Freiheit und seine Vernunftbegabtheit, kein Gegenstand möglicher Erfahrung. Theoretische Erkenntnis vermag, da sie im Sinne der Kantischen Erkenntnisrestriktion zugleich empirisch sein muss, die reale Existenz freier vernünftiger Wesen außer dem Ich gar nicht in einem Akte theoretischen Urteilens zu erweisen. Die »bis jetzt noch unbeantwortete« Frage nach der möglichen Art und Weise der Vergewisserung fremdpersonalen Seins kann, so lautet Fichtes These, im Gebiet der theoretischen Philosophie nicht gelöst werden. Sie muss vielmehr aus »praktischen Prinzipien« beantwortet werden. (ibid., p. 35) »Wir selbst« sind es – so erörtert Fichte in kritischer Reflexion – die gewisse Phänomene aus dem Mitdasein vernünftiger Wesen außer uns »erklären.« »Aber – mit welcher Befugniß erklären wir so?« (Ibid.)
116 Insgesamt entwickelt Fichte in de officiis eruditorum (die Bestimmung des Gelehrten) die Frage nach dem alter ego und das Problem der Seinsweise von Interpersonalität im Zusammenhang mit einer Reformulierung von Kants kategorischem Imperativ. Fichte sucht nämlich den Gedanken einer ethischen Intersubjektivität, der in Kants Formulierung des Sittengesetzes im Begriff der ›Allgemeinheit‹ anklingt, für die Geltungsbegründung des kategorischen Imperativs zunächst ganz auszuklammern, um die Dimension fremdpersonaler Existenz und ihre Bedeutung für die ethisch-praktische Subjektivität erst eigens zu erweisen. Für das ›principium diiudicationis‹ des kategorischen Imperativs kann und darf nach Fichte das alter ego keinerlei Bedeutung haben, wohl aber für das ›principium executionis‹. Der Begriff eines freien vernünftigen Anderen außer mir bzw. eines ganzen Reiches solcher Wesen als eine interpersonale Welt, woran bei Kant die Tauglichkeit von Handlungsmaximen zu einer allgemeinen Gesetzgebung in einem solchen Reich geprüft werden soll, ist für Fichte kein einfach voraussetzbarer Begriff. Er unternimmt es deswegen, aus dem zunächst für das Ich als gültig aufgezeigten praktischen Gesetz die Notwendigkeit der Annahme anderer freier Vernunftwesen außerhalb des Ich abzuleiten. In: Edith Düsing: »Sittliche Aufforderung Fichtes Theorie der Interpersonalität in der Wissenschaftslehre nova methodo und in der Bestimmung des Menschen, Vortrag gehalten in Graz, mir freundlicherweise von der Verfasserin überlassen.
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In »de officiis eruditorum« zeigt Fichte die praktische Notwendigkeit der Annahme des alter ego vermittels einer genaueren Explikation des ethischen Identitätsstrebens. Da die Einheit des praktischen Subjekts nichts fertig Vorfindliches ist, muss das praktische Vermögen des Ich die innere ethische Einstimmigkeit seines Strebens und Wollens zu allererst zustande bringen. Zum Zwecke umfassender Realisierbarkeit eben dieses ethischen Identitätsstrebens wird vom Ich das Nicht-Ich selbst als ein Vernünftiges und Freies, als ein Ich erstrebt,117 also als ein personales NichtIch und damit als ein für das Ich adäquates Gegenüber. Die Annahme der Existenz des alter ego ist insofern in einem unabweislichen praktischen Interesse, d.i. in einem Vernunftbedürfnis des Ich im Kantischen Sinne begründet. Das Sich-Überschreiten des ego aus seiner Eigensphäre auf ein alter ego hin folgt in Fichtes frühester Entwicklung des Problems der Interpersonalität unmittelbar aus dem ethischen Identitätsstreben des endlichen Ich als die erste Realisierungsbedingung dieses Strebens. Der Mensch ist kein »ganzer vollendeter Mensch und widerspricht sich selbst, wenn er isolirt lebt.« (GA I,3, p. 37) Dass der Mensch durch das Erstreben einsamen Existierens sich in einen Selbstwiderspruch verstricken müsse, folgt logisch daraus, dass der Trieb zum Anderen hin Implikat des Identitätsstrebens des Ich ist. Deshalb schließt die Absicht zu autarker Selbstentfaltung einen Widerspruch ein. ›Aufforderung und Anerkennung‹ erweisen sich als die maßgeblichen praktischen Handlungen, in denen in eins intersubjektive Beziehung und individuelles Selbstbewusstsein zustande gebracht werden. Im Zusammenhang mit diesem ihn ursprünglich bewegenden Problem, wie Interpersonalität transzendentalphilosophisch zu bestimmen und in eine idealistische Geschichte des Selbstbewusstseins einzuordnen sei, gewinnt für Fichte der Andere die herausragende Stellung. Der Andere bedingt als selbstbewusste eigenständige Existenz die Selbstbewusstwerdung des individuellen Ich mit. Im Vergleich zu ›de officiis eruditorum‹ verleiht Fichte schon im Naturrecht dem Entspringen des Mitbewusstseins in Korrelation zur Genese des Selbstbewusstseins einen pointierten Sinn. Das seiner selbst schon bewusst gewordene Ich begibt sich gleichsam nicht mehr auf die Suche nach
117 Vgl. dazu Reinhard Lauth: »Le problème de lʹinterpersonnalité chez J. G. Fichte«, in: Archives de Philosophie 25, 1962, pp. 325-344.
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dem Du, das gemäß ethischem Postulat gefunden werden können muss. Vielmehr findet das Ich – so lautet Fichtes entscheidende neue Einsicht – den Anderen gleichursprünglich als Realität in eben dem Augenblick vor, in welchem es zum eigenen Bewusstsein seiner selbst erwacht. Die genetische Konstitution des Bewusstseins von der Fremdexistenz im originären Bewusstsein des Ich wird in den Usprung der Genesis dieses Ich zurückverlegt. Ich muss mich als von einem Anderen angesprochen finden, um als von ihm beanspruchtes und anerkanntes Ich meiner selbst als freier Person bewusst sein zu können. Entsprechendes gilt für den Anderen: »Ich selbst kann mich nicht denken, ohne vernünftige Wesen außer mir anzunehmen« (GA III, 2, p. 385) und umgekehrt. In der Grundlage des Naturrechts leitet Fichte den Begriff des Rechtes durch die thematische Erweiterung der Geschichte des Selbstbewusstseins ab. In dieser entwickelt er auch die genetischen Bedingungen des individuellen Selbstbewusstseins, für dessen Konstitution besondere konkretere Faktoren zum reinen Ich hinzutreten müssen. Fichte nimmt also eine Spezifikation des reinen zum konkret existierenden Ich vor: »Mein absolutes Ich ist offenbar nicht das Individuum ... Aber das Individuum muß aus dem absoluten Ich deducirt werden. Dazu wird die Wissenschaftslehre im Naturrecht ungesäumt schreiten.« (ibid., p. 392)118 Im Unterschied zur Anerkennungstheorie im ›Naturrecht‹ deutet Fichte eine metaphysisch begründete Konzeption ›ethischer Anerkennung‹ als Fundament für die moralische Interpersonalität in einer moralischen Weltordnung an. So wahr die Individuen einander mit Achtung vor ihrem persönlichen »Werk« und Wirken und in wechselseitiger Anerkennung ihrer sittlichen Freiheit be-
118 Auch die Rechtslehre gehört somit in den allgemeinen Kontext einer systematischen Geschichte des Selbstbewusstseins, in welcher alle grundlegenden Handlungen des menschlichen Geistes rekonstruiert und in ihrem inneren Zusammenhang dargelegt werden. Der Begriff des Rechtes hat seine systematische Voraussetzung darin, dass »das vernünftige Wesen sich nicht als ein solches mit Selbstbewußtseyn setzen kann, ohne sich als Individuum, als eins unter Mehrern vernünftigen Wesen zu setzen, welche es ausser sich annimmt, so wie es sich selbst annimmt.« (GA I,3, p. 319) Wenn das Ich sich demgemäß als Individuum setzen muss, bedeutet dies eine notwendige Individualisierung des allgemeinen Ich. Für die Genesis des individuellen Selbstbewusstseins muss eine Gleichursprünglichkeit des Bewusstseins seiner selbst und des Bewusstseins vom alter ego angenommen werden.
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gegnen, so ehrt jeder im Anderen das Bild unendlicher Freiheit und vollkommener Sittlichkeit des Einen göttlichen Lebens. In solchem sittlichen Anerkennen der Gültigkeit und Wahrheit des ewigen Willens im endlichen individuellen Willen gelangen die Individuen zur »Übereinstimmung« untereinander im Fühlen, Denken und Wollen. (SW, V, p. 536) Von diesem intersubjektiv harmonierenden Handeln und Verstehen hängt wiederum ab, dass sie dieselbe Welt zu erblicken vermögen und dass es ihnen gelingt, die wesentlichen ethischen Zwecke der übersinnlichen Welt der sinnlichen einzuprägen. 3.2. Die ethische Intersubjektivitätstheorie Sartres Sartre weist an mehreren Stellen seiner Werke auf die ethischen Implikationen seiner »als phänomenologische Ontologie« verstandenen Existenzphilosophie hin. Er macht nicht nur am Ende seiner Ausführungen zum ›Pour-autrui‹ in LʹÊtre et le néant in einer Fußnote darauf aufmerksam, dass seine Überlegungen nicht die Möglichkeit einer Moral der Befreiung und des Heils ausschließen: »Ces considérations nʹexcluent pas la possibilité dʹune morale de la délivrance et du salut. Mais celle-ci doit être atteinte au terme dʹune conversion radicale dont nous ne pouvons pas parler ici«,119 wie Sartre selbst in einer Fußnot bemerkt. Dagegen nennt er in seinen Cahiers pour une morale den Konflikt überwindbar.120 Die theoretische Überwindung des Konflikts fordert aber,
119 Deutsch: Diese Überlegungen schließen nicht die Möglichkeit einer Moral der Befreiung und des Heils aus. Aber diese muss am Ende einer radikalen Konverion erreicht werden, von der wir hier nicht sprechen können. EN, p. 484. 120 In seiner Arbeit Subjektivität und Interpersonalität in J. G. Fichtes Transzendentalphilosophie und ihre Bedeutung für die Gegenwartsreflexion, München 1999, versucht Hinderk Emrich im Bezug auf eine sozialpsychologische Prüfung von Identitätskonzepten Fichtes Philosophie der Subjektivität in Anlehnung an Sartre und Kierkegaard als eine Theorie der Selbstwahl weiterzuentwickeln. Dabei bezieht er die für die Gegenwartsphilosophie zentrale Frage nach dem Gehirn/Geist bzw. dem Ich-Dualismus in Form einer präkategorialen Einheit auf eine an Fichte angelehnte »Hypersystemtheorie.« Zwar will Emrich mit diesem Vorgehen »aktuelle Aporien der Reflexivität fruchtbar machen« uns kommen aber erhebliche Zweifel, ob man Fichte, Sartre und Kierkegaard durch die Brille des Arztes, d.i. durch permanente Querverweise auf medizinisches Fachwissen der Psychatrie, das weder den ideellen noch den existenziellen Bedeutungskontext von selbstverantworteter Intersubjektivität kaum transparent macht, gerecht werden kann. Wir weisen in
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einen Blick auf die Bedeutung der »Pour-autrui-Struktur« in Sartres Ontologie zu werfen. Im Gegensatz zu Hegel121 hängt bei Sartre weder die Wahrheit des Bewusstseins vom Anderen ab, noch hält er den ontologischen Konflikt für unumgänglich: »[...] il y a une vérité de la conscience qui ne dépend pas dʹautrui, mais lʹêtre même de la conscience étant indépendant de la connaissance préexiste à sa vérité.«122 Aufgabe der Ontologie ist für Sartre, einerseits die Grundlage und andererseits den wirklichen Bereich des Kampfes der Bewusstseine zu beschreiben: »Aucun optimisme logique ou épistémologique ne saurait donc faire cesser le scandale de la pluralité des consciences. [...] La dispersion et la lutte des consciences demeureront ce quʹelles sont.«123 Die Grundlage des Kampfes besteht im Skandal der Pluralität der Bewusstseine, ohne ihn überwinden zu können: »je dois [...] mʹétablir dans mon être et poser le problème dʹautrui à partir de mon être. [...] le seul point de départ sûr est lʹintériorité du cogito. [...] chacun doit pouvoir, en
diesem Kontext auf die Studie von Günter Zurhorst, »Die progressiv-regressive Methode«, in: Gerd Jüttemann, Hg, Qualitative Forschung in der Psychologie: Grundfragen, Verfahrensweisen, Anwendungsfelder, Weinheim 1985, pp. 125-144. Hier wird an Problemstellungen der herkömmlichen klinischen Psychodiagnostik der auf Sartre zurückgehende Ansatz der progressiv-regressiven Methode aufgezeigt. Im Rekurs auf Sartres Flauberstudie kommt Zurhorst zu der Einsicht, dass das Auffinden des spiralenförmigen Zusammenwirkens von Subjektivität und Lebensbedingungen nach Sartres Methode zeigt, wie fruchtbar die Synthese von analytischer (wissenschaftlicher) und synthetischer (künstlerisch-imaginativer) Methode sein kann. 121 Hegel hält den Kampf der Bewusstseine nicht nur für notwendig und unumgänglich, sondern gar für sinnvoll und erstrebenswert für die Wahrheit des Bewusstseins als Selbstbewusstsein bzw. für den »in die Existenz getretenen Geist«, Hegel, Phänomenologie des Geistes. Werke in 20 Bänden. Bd 3, FaM. 1970, p. 137. Zudem glaubt Hegel, den »Skandal der Pluralität der Bewusstseine« überwinden zu können, indem er sie im Begriff des allgemeinen Selbstbewusstseins aufgehoben sein lässt, also vermeintlich eine Einheit der Bewusstseine über die vorhergehende Entzweiung herzustellen vermag. 122 Deutsch: [...], es gibt eine Wahrheit des Bewusstseins, die nicht vom Anderen abhängt, sondern das Sein des Bewusstseins existiert, weil unabhängig von der Erkenntnis, vor seiner Wahrheit. EN, p. 295. 123 Deutsch: Kein logischer oder epistemologischer Optimismus kann also diesen Skandal der Pluralität der Bewusstseine beenden. [...] Die Zerstreuung und der Kampf der Bewusstseine werden das bleiben, was sie sind. EN, p. 300.
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partant de sa propre intériorité, retrouver lʹêtre dʹautrui comme une transcendance qui conditionne lʹêtre même de cette intériorité, ce qui implique nécessairement que la multiplicité des consciences est par principe indépassable, car je puis bien, sans doute, me transcender vers un Tout, mais non pas mʹétablir en ce Tout pour me contempler et contempler autrui.« 124 Der wirkliche Bereich des Kampfes der Bewusstseine ist jedes Bewusstsein selbst, das sich in dem Versuch, sich selbst so zu sehen, wie es von den anderen gesehen wird, zu einem anderen macht, und so die anderen zum unwesentlichen Vermittler zwischen sich und sich selbst degradiert. Wenn Sartre also nachgewiesen werden soll, dass es auch in Bezug auf andere Menschen keinen Widerspruch zwischen den Ergebnissen der Ontologie und den Forderungen der Ethik gibt, muss die subtile Differenzierung zwischen absolut notwendigen oder kontingenten Gegebenheiten einerseits und ontologisch bestimmten Strukturen der ›réalite-humaine‹ andererseits auch für das ›Pour-autrui‹ gelten. Die Pour-autrui-Strukturen werden auch in der reinen Reflexion als unauthentische Selbstdetermination herausgestellt. Aber dem Bewusstsein wäre es theoretisch immer möglich, aus der reinigenden Reflexion heraus dem Mitmenschen bzw. der eigenen Teilnahme am Konflikt Einhalt zu gebieten. Sartre spricht hier von einer Art transzendentalen Aufforderung (lʹappell) und bringt uns damit in Bezug auf die Genealogie der Bewusstseinstrukturen auf einen bisher in der Forschungsliteratur noch nicht berücksichtigten Entdeckungszusammenhang: »[...] dans la réflexion pure il y a déjà appel à transformer lʹautre en pure subjectivité libre. [...] Seulement il faudrait que lʹautre en fit autant.«125 Der Übergang zur reinen Reflexion muss eine Veränderung der Beziehung zu mir-selbst bewirken, denn: »[...] lʹautre est par rapport à ma
124 Deutsch: [...] ich muss mich in meinem Sein etablieren und das Problem des Anderen von meinem Sein aus stellen. [...], der einzig sichere Ausgangspunkt ist die Interiorität des Cogito. [...] Jeder soll, ausgehend von seiner eigenen Interiorität, das Sein des Anderen als eine Transzendenz wieder finden können, was notwendig impliziert, dass die Vielheit der Bewusstseine grundsätzlich unüberschreitbar ist, denn ich kann mich zwar in Richtung auf ein Ganzes transzendieren, nicht aber mich in diesem Ganzen etablieren, um mich zu betrachten und andere zu betrachten. En, p. 300 sq. 125 Deutsch: [...], in der reinen Reflexion gibt es schon den Appel, den Anderen in eine reine freie Subjektivität zu transformieren. CM, p. 18.
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subjectivité irréfléchie dans la position exacte de moi-même comme réflexion.«126 Es ist Sache der Ethik und nicht mehr der Analyse der unreinen cartesianischen Reflexion, wenn es darum geht, in welcher Form sich die Bewusstseine mit Bezug aufeinander strukturieren sollten und es dabei nicht mehr auf die gegenseitige Qualifizierung und Objektivierung ankommt. Weil es eine kontingente Mannigfaltigkeit des Bewusstseine geben muss, um die Möglichkeit von Intersubjektivität überhaupt entstehen zu lassen, wird die ontologische Analyse des ›pour-autrui‹ somit erneut eine unausweichliche Kontingenz der ›réalité-humaine‹ zum Vorschein bringen, die bereits in einer bestimmten Form realisiert oder »ontologisiert« worden ist. Die Notwendigkeit, dass die Bewusstseine sich in dieser Form oder Struktur mit Bezug aufeinander strukturiert haben, erhält ihre Begründung aus der Retrospektive der cartesianischen Reflexion, die ein objekthaftes Selbst oder Ego hervorbringt.127 Die absolute Voraussetzung für das ›Pour-autrui‹ ist, dass die Bewusstseine als transzendentale Für-sich-Seine unmittelbar beieinander anwesend sind, und dass diese Anwesenheit der Bewusstseine immer in einer bestimmten Art und Weise ontologisiert wird, d.i. durch die Bewusstseine generiert respektive erfahren wird. In Abhaltung jedweder subjektivitätstheoretischer Interpretation stellt Sartre eine bereits durch die Bewusstseine selbstbestimmten Struktur, die das kontingente Faktum der Mannigfal-
126 Deutsch: [...] im Verhältnis zu meiner unbewussten Subjektivität ist der Andere in der genauen Position meiner selbst als Reflexion. Ibid., p. 19. 127 Für Theunissen verweist das cogito als Ausgangspunkt auf eine unharmonische Ehe zwischen dem ›transzendentalen Subjektivismus‹ und der ›objektiven Ontologie‹ das Für-andere-seins (cf. Michael Theunissen, Der Andere, Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, Berlin 1965, p. 194) Theunissen weist nicht darauf hin, dass durch das cogito als Ausgangspunkt die Konzeption des Anderen auf jenen Ausgangspunkt bezogen wird, von dem aus Sartre die ›objektive Ontologie‹ bzw. die intersubjektiven Strukturen im Lichte der cartesianischen Selbsterkenntnis diskutiert. Der Andere als autrui erscheint bei Sartre weder auf der Ebene des transzendentalen Subjektivismus, noch erst in der Erkenntnis, sondern in der ›vertikalen Verlängerung‹ des Für-sich-seins, im pour-autrui, die der Selbsterkenntnis notwendig vorausgeht und mit dem Für-sich als Struktur der réalité-humaine auf einer Ebene liegt. Auf die Parallelität zu Fichte, die in dieser Sartreschen Begründungsformel liegt, brauchen wir nach den oben erläuterten Zusammenhängen nicht mehr explizit einzugehen.
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tigkeit schon in einer bestimmten Form verwendet, als notwendig heraus, um die empirische Erfahrung, nicht allein auf der Welt zu sein, überhaupt zu ermöglichen. Die theoretische Trennung von Mannigfaltigkeit einerseits und die Struktur der Erfahrung der Pluralität andererseits (wie im Für-sich-Sein) sind daher als rein abstrakt zu bezeichnen. Wenn die Bewusstseine von einander in Bezug auf sich selbst wissen, wenn ihre Vielheit als Vielheit Bedeutung für sie hat, dann haben sie den Modus der Intersubjektivität bereits in einem bestimmten Modus entworfen, gewählt oder realisiert. Sartres Ontologie der cartesianisch-analytischen Reflexion hat das Bewusstsein der ›réalité-humaine‹ als eine Freiheit entdeckt, die sich gegen ihr eigenes Konstitutionsprinzip bestimmt hat.128 Einmal erscheinen die Menschen als Mittel zum Zweck zur Erreichung des Unerreichbaren und einmal als Grenze der eigenen – missbestimmten – Freiheit. Sowohl an sich selbst als auch mit den anderen erscheint das Bewusstsein als detotalisierte Totalität, das sich auf eine Totalität hin entwirft, indem es sich synthetisierend strukturiert, ohne jemals die Synthese vollenden zu können. Es ist der Zweck des Entwurfs, auf den hin sich das Bewusstsein entwirft, indem es nicht ist, was es war und im Entwurf schon ist, was es nicht sein wird, weil es immer schon Seins-Nichtung ist. Dieser Zweck aber ist, obwohl das Bewusstsein als permanenter Vollzug dieses Entwurfs existiert, als seiender unrealisierbar. Der Mensch bestimmt sich demnach fortwährend dazu, unglückliches Bewusstsein zu sein: »Toute réalité humaine est une passion, en ce quʹelle projette de se perdre pour fonder lʹêtre et pour constituer du même coup lʹEn-soi qui échappe à la contingence en étant son propre fondement.«129
128 Schönwälder-Kuntze bezeichnet dieses in unser Meinung vermeintlichem Rekurs auf die Sartresche Terminologie »als Entwurf auf eine ens causa sui«, auf eine Wahl des sich als Sein. Wenn man aber Sartres Terminologie übernimmt, muss unserer Meinung nach unbedingt darauf geachtet werden, dass sich aus der Sicht der transzendentalphilosophischen Analyse der Sartreschen Konzeption, wenngleich Sartre ständig in mehreren seiner philosophische Schriften mit dem Begriff der »ens causa sui« operiert, keinerlei Nähe der Existenzphilosophie zu der Philosophie Leibnizʹ konstruieren lässt. Tatjana Schönwälder Kuntze, Authentische Freiheit. Zur Begründung einer Ethik nach Sartre, München 1999, p. 126. 129 Deutsch: Jede menschliche Realität ist eine Passion, insofern sie entwirft, zugrunde zu gehen, um das Sein zu begründen und zugleich damit das An-sich zu konstitu-
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Dieser ursprüngliche Entwurf ist aber nicht kontingent gegeben. Er muss also auch nicht als unabwendbar betrachtet werden. Gleiches gilt für die intersubjektive Struktur des ›Pour-autrui‹. Die notwendige Bedingung für die reflexive Selbsterkenntnis im cogito ist, dass das Bewusstsein die Erfahrung seiner Objekthaftigkeit gemacht hat. Es hängt aber von dem oder den konkreten Anderen und von ihm selbst ab, auf welche Weise das Bewusstsein diese Erfahrung macht, und warum es diese Erfahrung macht. Die Strukturierung des Bewusstseins zum Anderen ist ebenso eine Selbstbestimmung des Bewusstseins wie die Strukturierung des ›Pour-autrui‹. Warum die Bewusstseine wählen, sich aneinander durch eine doppelte interne Negation zu bestimmen, ist ein kontingentes Ereignis, das aus der ontologischen Perspektive des cogito feststellbar, aber nicht ableitbar ist. »De la même façon dʹailleurs le passage de lʹirréflexion à la réflexion est un drame libre de la personne.«130 In LʹÊtre et le néant heißt es: »Il ne serait peut-être pas impossible de concevoir un Pour-soi totalement libre de tout Pour-autrui et qui existerait sans même soupçonner la possibilité dʹêtre un objet. Simplement ce Pour-soi ne serait pas »homme.« [...] il se trouve [...] que notre être en liaison avec son être-pour-soi est aussi pour autrui.«131 Sartres Ontologie stellt die ontologische Natur der ›réalité-hu-
ieren, das als sein eigener Grund der Kontingenz entgeht. – Im Anschluss hieran benutzt Sartre den Begriff der ›ens causa sui‹ in Verbindung mit dem Begriff Gottes und sagt: »Ainsi la passion de lʹhomme est-elle inverse de celle du Christ, car lʹhomme se perd en tant quʹhomme pour que Dieu naisse. Mais lʹidée de Dieu est contradictoire et nous nous perdons en vain; lʹhomme est une passion inutile.« Deutsch: So ist die Passion des Menschen die Umkehrung der Passion Christi, denn der Mensch geht als Mensch zugrunde, damit Gott geboren werde. Aber die Gottesidee ist widersprüchlich, und wir gehen vergeblich zugrunde; der Mensch ist eine nutzlose Passion. EN, p. 708. 130 Deutsch: Auf dieselbe Art übrigens ist der Übergang der Irreflexion zur Reflexion ein freies Drama der Person. CM, p. 13. Unsere menschliche Realität erfordert, gleichzeitig Für-sich und pour-autrui zu sein. In Verneinung, hier eine Anthropologie konstruieren zu wollen, sagt Sartre, »Sans doute notre réalité-humaine exiget-elle dʹêtre simultanément pour-soi et pour autrui.« Ibid., op. cit. Deutsch: Ohne Zweifel erfordert unsere menschliche Realität, Für-sich und Pour-autrui simultan zu sein. 131 Deutsch: [...] Es wäre vielleicht nicht unmöglich, uns ein von jedem Für-Andere total freies Für-sich zu denken, das sogar existierte, ohne die Möglichkeit, ein Objekt zu sein, auch nur zu vermuten. Aber dieses Für-sich wäre eben einfach nicht
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maine‹ gerade als strukturell selbstbestimmten und selbstgewählten Bezug zum Gegebenen dar, so dass prinzipiell im Modus der Wahl eine jedwede Wahl vorstellbar ist. Jedoch eröffnet die Fichtesche Blickperspektive auf Sartre, dass die von Sartre so bezeichnete ›authentische Wahl‹ keinesfalls als willkürliche Wahl aufzufassen ist. Aus der Ontologie Sartres folgt aus dem Bewusstsein als freie Wahl lediglich die Möglichkeit, die Form einer neuen Struktur zu begründen.132 Sartres Ethik wird darin bestehen, das Kriterium zu bestimmen, den Appell vorzustellen und die unmittelbare Anwesenheit des Anderen in diesem reinigenden Prozess aufzuzeigen. Die Ontologie zeigt auch, dass die Bewusstseinspluralität unvermeidbar und unüberwindbar ist. Wahre Freiheit kann sich selbst diesem Faktum nicht entziehen, ohne sich wiederum zu verleugnen. In Bezug auf den Anderen gibt es zwei Möglichkeiten intersubjektiver Handlungen: Entweder versucht der Mensch sich gegen den anderen zu realisieren, (was von Schelling in seiner Erörterung des Bösen als Durchsetzungsmacht des Partikularwillen gegenüber dem Universalwillen bezeichnet wurde) oder sich mit ihnen und – wie Fichte sagen würde – ihren Freiheiten zusammenzustimmen. Tertium non datur: »Il y a liberté parce que tout acte, même réalisé, se définit par la possibilité du contraire et parce que toute production sʹenlève sur un fond dʹantiorité qui la définit et se définit par elle.«133
ein »Mensch.« [...] es trifft sich, dass unser Sein in Verbindung mit seinem Fürsich-sein auch für Andere ist. EN p. 342. 132 Wir verweisen auf einen Aufsatz von Bernard H.F. Taureck, »Ethik jenseits von Moral: Sartre, Levinas, Baudrillard«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 39, 1991, pp. 1212-1230. Es handelt sich um die gekürzte Fassung eines Vortrags, der 1991 im Hamburger Institut Français gehalten wurde. Taureck befasst sich mit der französischen akademischen Ethik-Diskussion und stellt fest, dass den französischen Ethikern die Aufnahme in den philosophischen Diskurs der angelsächsischen Philosophie verweigert wird. Die Ursache hierfür sieht Taureck in der Nichtbeachtung analytischer Differenzierungsmöglichkeiten, die von Baudrillard, Sartre und Levinas praktiziert wird. Indessen sei die Ausgrenzung eine Ungerechtigkeit, denn während die angelsächsische Philosophie von dem unangetasteten Wertaxiom ausgeht, dass es eine Moral gibt, stehe die französische Ethik jenseits dieser normativen Naivität und sei deshalb in der Lage, gerade diese Frage auch zu problematisieren. 133 Deutsch: Es gibt Freiheit, weil jeder Akt, selbst wenn er realisiert ist, sich durch die Möglichkeit seines Gegenteils definiert und weil jede Produktion sich auf einem
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Die authentische oder nicht-entfremdete moralische Haltung, zu der schließlich die Ethik aufruft, besteht darin, sich der ontologischen Strukturen reflektierend gewahr zu werden. Sie verlangt, sie sich klar und selbstbestimmt vor seine innere Betrachtung zu stellen und zunächst zumindest ihre Bedeutung nicht unumstößlich zu setzen. Würde man die Ethik allein auf die Ontologie begründen, so würde sie Rechtfertigungsgründe sowohl für Unmoral als auch Moral bereitstellen, wenn sie allein auf ihr Gewordensein und auf das Prinzip ihres Werdens gleichermaßen reflektierte.134 Aber in den Cahiers pour une morale sagt Sartre, man könne sich in der theoretischen wie praktischen Reflexion die Frage stellen, ob man unmoralisches Mitmachen bevorzuge oder sich für den authentischen Bruch mit seinem ersten Entwurf entscheide. Immer habe man sich zu fragen, ob man sich sich selbst zum Zweck der Handlungen macht und damit den Anderen bzw. das je konkrete Ziel zum Mittel zu degradieren. »Puisque la réflexion émane dʹune liberté déjà constituée, il y a déjà une question de salut, selon que la réflexion reprendra à son compte le projet premier de la liberté ou ne le reprendra pas et sera réflexion purificatrice refusant de »faire avec.« Or il est certain que nous sommes ici en présence dʹun choix libre avec alternative du type (Sartre schreibt hier tatsächlich in deutscher Sprache) »Mitmachen oder nicht mitmachen.«135 In seinem Werk Lʹexistentialisme est un humanisme zielt Sartres ›universelle Form der Moral‹ auf eine neue ontologische Struktur der Intersubjektivität. (EH, p. 71) Da sie zunächst nur die mögliche Struktur moralischen Handelns aufzeigt, muss sie in Bezug auf die gesellschaftliche Situation theoretisch-abstrakt aufgezeigt werden, nicht aber in Bezug auf moralisches Handeln im alltäglichen Umgang mit anderen Menschen. Die universelle Form der Moral mit ihrer Begründung aus der puren Kontin-
Grund der Anteriorität hervorhebt, der sie definiert und sich durch ihn definiert. VE, p. 61. 134 In dem Punkt geben wir Wildenburg sogar Recht. Siehe Zitat auf Seite 33 dieser Arbeit. 135 Deutsch: [...] Da die Reflexion ihren Ausgang von der zuvor konstituierten Freiheit nimmt, gibt es bereits die Frage nach Rettung, gemäß derer die Reflexion das erste Projekt der Freiheit auf seine Rechnung zurücknehmen wird, oder aber sie nimmt es nicht zurück und wird dann reinigende Reflexion sein, die sich verweigert , »mit zu machen.« Es ist aber sicher, dass wir hier vor eine freie Wahl gestellt sind mit der Alternative vom Typus »Mitmachen oder nicht mitmachen.« CM, p. 578
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genz des Konstitutionsprinzips menschlicher Existenz eröffnet die Möglichkeit, logisch wie moralisch Handlungsstrukturen zu beurteilen. Die universelle Behauptung menschlicher Autonomie ist eine notwendige Bedingung für Sartre, um überhaupt Moralität in der konkreten Praxis denken zu können. (VE, p. 137)136 Als theoretische Reflexion hat die Ethik über die Möglichkeiten des Menschen ›moralisch‹ zu leben, d.h. als (im Kantischen und Fichteschen Sinne) Lehre vom ›sittlichen‹ Wollen und Handeln des Menschen nur Sinn in einer menschlichen Welt, die es mit unmoralischen Verhaltensweisen zu tun hat. Die Antwort auf die Frage, warum der Mensch überhaupt unmoralisch ist, findet Sartre in der ontologischen ursprünglichen Entwurf-Struktur der ›réalité-humaine‹, durch die in der unreinen Reflexion der Wert als absoluter Mensch auftaucht. Für Sartre liegen der anzutreffenden Unmoral die ontologischen Strukturen des ›Poursoi‹ und des ›Pour-autrui‹ zugrunde. Indem Sartre die ›réalité-humaine‹ als selbstbestimmte Freiheit sowie deren Konstitutionsprinzip als absolut notwendig bestimmt, eröffnet sich die Möglichkeit, nicht nur einen Weg aus der Missgestimmtheit des Bewusstseins zu zeichnen, sondern auch über die reinigende Reflexion die Grundnorm der Authentizität für die intersubjektiven Strukturen zu begründen, was für Fichte ebenfalls im Rahmen seiner Pflichtethik eine fundamentale Handlungsnorm darstellt, wenn er von der »Vernünftigkeit des Ich [spricht], das gemäß dem Kriterium der Selbstzusammenstimmung Handlungen vollbringen soll.« (GA I,3, p. 30)
136 Wenn in der Forschungsliteratur von zwei bis drei Ethiken die Rede ist (Thomas Anderson Sartres two ethics, Peru, Illinois, 1993 oder Gerhard Seel »Wie hätte Sartres Moralphilosophie ausgesehen«, in: Traugott König, Hg., Sartre: Ein Kongress, Reinbek 1988, pp. 276-293) so zeigt Tatjana Schönwälder Kuntze zurecht auf, wird die Notwendigkeit der drei verschiedenen Hinsichten übersehen, die Moral einerseits in ihren ontisch-ontologischen Grenzen zu fundieren, sie auf die je gegebene historische Situation zu beziehen und eine davon abhängige Zukunft zu entwerfen. In diesem Sinn seien die CM wie auch die CDR der Versuch, der ontologischen Analyse die historisch anthropologische folgen zu lassen, um daraus das Notwendige für die Zukunft ersichtlich zu machen. Es handele sich damit weder um einen Widerspruch, noch um einander ausschließende ›Phasen‹ (Seel, op. cit.), sondern um verschiedene notwendige Betrachtungen, aus deren Synopse dann eine konkrete politische wie bzw. gesellschaftliche Wahl erwachsen könne. (Schönwälder Kuntze, op. cit., p. 130)
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Für die Ethik als theoretische Reflexion bedeutet dies, dass sie einen Weg aus der ursprünglichen Strukturierung zeigen können muss, ohne die ursprüngliche Struktur als lösenden Ausweg zu verwenden. Auf keinen Fall darf sie ihrer Form nach eine Verlängerung der Unauthentizität sein. Daher formuliert sie nicht nur einen Appell nach einer radikalen Transformation der ursprünglichen Strukturen. Auch an sich selbst stellt sie eine neue Form von Ethik dar, insofern, laut Sartre, die herkömmlichen ethischen Systeme nicht aus der ursprünglichen Struktur auszubrechen vermögen. Wieder fühlen wir uns an Fichte erinnert, wenn Sartre die Bedingung seiner Ethik formuliert, die darin liegt, dass er in der Ethik alles, was unauthentisch ist, d.i. nicht im Einklang mit dem Konstitutionsprinzip des Bewusstseins steht, auch für sich selbst radikal ablehnt. Dies ist nur realisierbar, wenn die Ethik den Circulus vitiosus der Unauthentizität beendet. Daher darf sie keinen absoluten Wert setzen, der als Begründung dienen soll, noch darf sie den Anderen zur authentischen Selbstbestimmung verpflichten oder zwingen. Aber wenn sie Ethik sein will, dann muss sie dennoch die Norm für die authentische Form der Intersubjektivität begründen können. Sartres ›morale de la liberté‹ (EH, p. 85) wird daher über das kontingente Faktum der ›réalité-humaine‹ begründet. Für diese gilt, dass aufgrund des jeder menschlichen Existenz zugrunde liegenden Konstitutionsprinzips bestimmte Bewusstseins- und Handlungsstrukturen als Irrtum, andere als authentisch bewertet werden können.137 In strenger Beachtung der entsprechenden Geltungsbereiche gilt allerdings, dass sich die authentische Form der Ethik zwar aus der reinigenden Reflexion des Subjekts ergibt. Daraus lässt sich aber nicht ableiten, dass die Ethik diese authentische Struktur des Sollens auf die konkrete Existenz übertragen darf. Die aus der theoretischen reinigenden Reflexion gewonnene authentische Form darf keine normative Geltung für den einzelnen beanspruchen, sofern es um die Bestimmung des Entwurfs geht, da sie auf diese Weise selbst eine weitere Form der Unauthentizität realisieren würde. Die
137 Wir zitieren den bekannten Satz Kants, mit dem Fichte und Sartre sich auseinandersetzen, aus seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Akademie-Textausgabe, Bd IV, 437, »Der Wille ist schlechterdings gut, der nicht böse sein, mithin dessen Maxime, wenn sie zu einem allgemeinen Gesetze gemacht wird, sich selbst niemals widerstreiten kann ...; dieses ist die einzige Bedingung, unter der ein Wille niemals mit sich selbst im Widerstreite sein kann, und ein solcher Imperativ ist kategorisch.«
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ethische Grundnorm kommt daher wie auch bei Fichte allein auf der Ebene der Intersubjektivität zum Tragen. Wir sind nun an dem Punkt unserer Untersuchung angelangt, an dem wir unsere Eingangsthese durch den Nachweis entsprechender Textstellen bestätigt finden. Aufgrund der Verankerung der Intersubjektivität im Selbstbewusstsein und der gleichursprünglichen Verankerung der Ethik in der Intersubjektivität ist der an Sartre erhobene Vorwurf, sein philosophisches Konzept enthalte keine Ethik, völlig unverständlich. Schon die Konstitutionsstruktur des Selbstbewusstseins, die in ihrem genetischen Moment die Gleichursprünglichkeit des Anderen enthält, lässt es nicht zu, ethische Implikationen [so wie es auch bei Fichte der Fall ist] plausibel auszuschließen. In den ›Cahiers pour une morale‹ stellt Sartre noch einmal eine subtile Genealogie des Selbstbewusstseins voran, die die ethischen Implikationen aus dem gleichursprünglichen Konstitutionszusammenhang unmittelbar hervortreten lassen. Seine einleitende Bemerkung: »La base unique de la vie morale doit être la spontanéité, cʹest à dire lʹimmédiat, lʹirréfléchi.«138 verweist unmittelbar und präzise auf den Entdeckungszusammenhang unserer Untersuchung, auf dem unsere gesamte Arbeit basiert. Um die ethischen Implikationen zu verdeutlichen, stellen wir diese Bestimmungsstücke des gleichursprünglichen Konstitutionszusammenhangs in der Genealogie des Selbstbewusstseins schrittweise dar: (1) 1. »Le mouvement spontané du Pour-soi comme manque (sur le plan irréfléchi) est de chercher lʹEn-soi-Pour-soi. La réflexion surgit originellement comme complice puisquʹelle est une nouvelle création diasporique comme essai de récupération. (2) 2. Mais par là même (...) il se manque. (3) 3. Donc surgit ici la possibilité de la réflexion pure comme constatation du manque et prise de position en face du manque. (4) 4. Si donc la réflexion pure, nécessairement postérieure à la réflexion impure est rendue possible par lʹavènement de la réflexion impure pourquoi nʹest-elle pas opérée au moins la moitié du temps ? (5) 5. Cʹest ici quʹun autre élément intervient qui est lʹAutre.«
138 Deutsch: Die einzige Basis des moralischen Lebens ist die Spontaneität, das heißt die Unmittelbarkeit, das Unreflektierte. CM, p. 11.
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Jetzt formuliert Sartre die entscheidende Aussage, die den Entdeckungszusammenhang unserer Arbeit auf die Bestätigung unserer These zulaufen lassen: »Dans la réflexion pure il y a déjà appel à transformer lʹautre en pure subjectivité libre.«139 Wörtlich sagt Sartre hier in eindeutig ethischem Kontext, dass es innerhalb der Genealogie des Selbstbewusstseins eine (transzendentale) Appellstruktur gibt, die den ethisch verankerten Modus der Befreiung des Anderen zu seiner Freiheit beinhaltet. Es ist daher aus Fichtescher Perspektive ohne Weiteres möglich, Sartres Existenzialismus den Charakter einer transzendental verankerten Pflichtethik zuzuschreiben, die alle weiteren Implikationen verpflichtenden ethischen Handelns impliziert, und zwar unter dem Begriff der Authentizität. Erst wenn aus dem ursprünglich unauthentischen Entwurf des Subjekts durch die Reflexion der Werte diese mit normativer Geltung gesetzt werden, verkehrt sich die Unauthentizität in intersubjektives unmoralisches Verhalten. Das aber gilt für die Ethik wie für den einzelnen. Sartre begründet auf diese Weise seine Forderung nach Freiheit aus der authentischen Haltung sich selbst gegenüber. Ihren normativen Ort hat diese Forderung aber nur in Bezug auf die Anderen, und zwar auf der Ebene der Intersubjektivität. Da Sartre seine Ethik in der Intersubjektivität verankert, gelten moralische Urteile immer nur im Bezug auf sie. Zur Kontingenz des Menschen gehört, dass er nicht allein auf der Welt existiert, dass er sich notwendig zu dem Anderen in ein Verhältnis setzen muss, sei es moralisch, sei es unmo-
139 Deutsch: 1. Die spontane Bewegung des Für-sich als Mangel (auf der Ebene der Irreflexivität) ist, das An-und-für-sich zu suchen. Die Reflexion taucht ursprünglich als Komplize auf, denn sie ist eine neue diasporische Kreation als Versuch der Wiederaneignung. 2. Aber genau dadurch ermangelt sie sich. 3. Also taucht die Möglichkeit reiner Reflexion auf, und zwar sowohl als Feststellung des Mangels als auch Positionsnahme gegenüber dem Mangel. 4. Wenn nun die reine Reflexion, notwendigerweise später als die unreine Reflexion möglich gemacht wird durch die Ankunft der unreinen Reflexion, warum wird sie dann nicht wenigstens in der Hälfte der Zeit vollzogen? 5. Hier nun interveniert ein anderes Element, der der Andere ist. Fazit: In der reinen Reflexion ist schon der Appell enthalten, den Anderen in eine reine freie Subjektivität zu transformieren. CM, p. 18. (Hervorh. v. Verf.)
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ralisch. »En tant que contingence, lʹhomme est là sans cause ni raison. Lʹhomme (est) fondement injustifiable de toute justification.«140 Bliebe die Bestimmung der Freiheit als wahre Freiheit eine Frage des einzelnen Subjekts in Einsamkeit, oder in Isolation, um mit Fichte zu sprechen, und hätte somit die Konversion als Selbstbestimmung des Bewusstseins zum authentischen Bewusstsein keinerlei Folgen für das Verhalten dem Anderen gegenüber, dann handelte es sich um ›solipsistische Ethik‹, was einem Widerspruch in sich gleichkäme. Sartres Argument lautet jedoch ganz im Gegenteil: Da das konkrete Verhalten einer ›réalité-humaine‹ die offensichtliche Manifestation ihrer Strukturierung ist, ist jedes Verhalten dem Anderen gegenüber, das auf die Bewusstseinsstruktur des ›Pour-autrui‹ verweist, Ausdruck der unauthentischen, ontologischen Intersubjektivität. Für Sartre heißt das Flucht vor der eigenen Freiheit und vor der fliehenden Freiheit des Anderen. Die Freiheit, die es zu realisieren gilt, stellt keinen unrealisierbaren, idealen oder transzendenten Wert dar, sondern sie wird authentisch genannt, insofern sie sich nicht gegen ihr Konstitutionsprinzip realisiert. Laut Sartre kann die intersubjektive Freiheit moralisch genannt werden, wenn sie sich nicht gegen den Anderen formiert. Authentisch und autonom ist die Freiheit dann, wenn sie beides zugleich ist. Mit ihrem Appell nach Authentizität und der Grundnorm ›den Anderen als Freiheit zu wollen‹ kann die ›universelle Form der Moral‹ zwar auf dieser theoretischen Ebene keine konkreten Inhalte haben, jedoch kann sie universell gültige Handlungsformen skizzieren, die Sartre als authentisch bezeichnet. Sie kann daher kein Begriff sein, sondern sie ist eine Existenzform. Sie taucht daher in so vielen Formen auf, wie es Menschen gibt, wobei allen Formen das gleiche Konstitutionsprinzip zugrunde liegt. Obwohl es für Sartre nicht d i e Freiheit geben kann, spricht er von einer ›Wahrheit der Freiheit‹ (ibid., p. 627) die nicht eine abstrakte Freiheitsidee meint, sondern die Bedeutung, die ihr der Mensch gegeben hat, die Struktur als die sie sich realisiert hat, die es in der cartesianischen Reflexion zu entdecken galt. Die ontologische realisierte Freiheit hat sich in Sartres Analyse als das herausgestellt, was man gemeinhin unter Hedonismus versteht. Sie zielt als solche
140 Deutsch: In dem Maße wie Kontingenz ist, ist der Mensch da, ohne Grund noch Ursache. Der Mensch ist fundamental nicht zu rechtfertigen, welche Rechtfertigung es immer auch sei. CM, p. 22.
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nur darauf ab, das scheinbar eigene Beste zu erreichen. Der Andere wird in diesem Fall nur als störend erlebt oder als Mittel für die eigenen Zwecke. Diejenigen aber, die Sartre unterstellen, er setze Freiheit als Zweck oder Wert der Handlung, die diese dann womöglich noch zu einer ethischen erhebe, unterstellen ihm genau die von ihm so bezeichnete unauthentische Form von Moral. Da sich aber bereits das Selbstbewusstsein dem Anderen verdankt, ist Sartre ein solcher Hedonist, der nicht sich selbst, sondern den ethischen Existenzialismus im Sinne des horazischen »Carpe Diem« vertritt. Anhand seiner Explikation, die er in Abgrenzung von Heidegger formuliert, lässt sich daher nachweisen: »La conscience est dans lʹEsprit comme le Dasein heideggerien est-dans-le-monde. En tant que Conscience isolée elle serait déjà dans le monde. En tant que Conscience engagée dans une relation multiple avec dʹautres consciences, elle est dans lʹEsprit. [...] LʹEsprit est à la fois objectif et subjectif. Objectif dʹabord et pas lʹessence puisquʹil est pour moi le produit de lʹactivité de tous les autres, subjectif dans la seule mesure où je le dépasse moi aussi vers mes fins donc où je lʹillumine à ma façon et selon mon choix.«141 Man kann auch am Beginn seiner Notizen in den Cahiers pour une Morale herauslesen, dass Sartre alles andere als egoistische Selbsterfüllung im Sinne eines narzistischen Ego: »On ne peut pas faire la conversion seul. Autrement dit la morale nʹest possible que si tout le monde est moral. Méthode: Les valeurs révèlent la liberté en même temps quʹils lʹaliènent. Lʹautre: totalité détotalisée. [...] Il faut vouloir la totalité détotalisée. Avoir lʹautre en-soi comme autre et pourtant comme source libre de mes actes.«142 Für Sartre liegt die Konversion in der
141 Deutsch: Das Bewusstsein ist im Geist, wie das Heideggersche Dasein In-derWelt ist. Verstanden als isoliertes Bewusstsein, wäre es schon in der Welt. Verstanden als engagiertes Bewusstsein innerhalb einer vielffältign Beziehung zu anderen Bewusstseinen, ist es im Geist. [...] Der Geist ist zugleich objektiv und subjektiv. Zunächst objektiv und nicht das Wesen (betreffend), weil er für mich das Produkt der Aktivität all der Anderen ist, subjektiv in dem einzigen Maße, wo auch ich ihn in Richtung auf meine Ziele überschreite und wo ich ihn also auf meine Weise beleuchte und nach meiner Wahl. CM, p. 100. (Die Hervorhebungen sind von Sartre übernommen.) 142 Deutsch: [...] Man kann die Konversion nicht alleine durchführen. Anders gesagt ist die Moral nur möglich, wenn jeder Moral ist. Methode: Die Werte schließen die Freiheit auf und im selben Moment vernichten sie sie. Der Andere: detotalisierte
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Anerkennung meiner selbst als Pour-soi ek-statique »qui entraîne la reconnaissance de lʹesprit totalité détotalisée.« Unmissverständlich weist er darauf hin, dass »mes idées et mes actes passent à lʹobjectif et jʹen suis responsable.« (ibid.) 3.2.1. Konstruktionsvoraussetzungen der Wertetheorie Sartres Sartres Begründung für die authentische Haltung dem Anderen gegenüber als Grundnorm für ethisches Handeln erfolgt über die authentische Haltung sich selbst gegenüber: »En même temps que nous sommes donc sur le plan de la valeur, cʹest à dire que la valeur est au fond précisément de lʹêtre-en-soi-pour-soi de chaque conscience, en tant que cʹest sur son fondement seul que chaque conscience se prend comme conscience dʹellemême, en tant que nous sommes à ce niveau, nous pouvons concevoir quʹil existe à chaque moment une liaison particulière de la conscience que nous avons de nous-mêmes avec ce que nous appellerons un possible.«143 Da die Werte aber »posées par une conscience (sind) qui nʹest pas la mienne«, unterdrücken sie mich, denn »puisque je ne peux jamais vivre ma nature [...] lʹautre me transforme en objectivité en mʹopprimant, et ma situation première est dʹavoir un destin-nature et dʹêtre devant des valeurs objectivées.«144 (ibid., op. cit.) Die Maxime »faire de la moralité pour être moral« ist also, wie Sartre sagt, vergiftet und zwar genauso wie »faire la moralité pour faire la morali-
Totalität. [...] man muss die detotalisierte Totalität wollen. Das andere An-sich als Anderen zu haben und dennoch als freie Quelle meiner Akte. CM, p. 16. 143 J.-p. Sartre, »Conscience de soi et connaissance de soi«, in: Textes et commentaires, Vincent de Coorebyter, op. cit., p. 161. Deutsch: Zugleich also wie wir auf der Ebene des Wertes sind, das heißt, das, der Wert genau im Grunde des Bewusstseins eines jeden An-und-für-sichs ist, in dem Maße wie allein auf seinem Grunde jedes Bewusstsein sich als Bewusstsein seiner selbst nimmt, in dem Maße wie wir auf diesem Niveau sind, können wir begreifen, dass in jedem Moment eine spezielle Verbindung des Bewusstseins existiert, das wir von uns selbst haben mit dem, was wir ein Mögliches nennen werden. CM, p. 16. 144 Deutsch: Da die Werte von einem Bewusstsein gesetzt worden sind, das nicht das meinige ist, [...] da ich niemals meine Natur leben kann, transformiert mich der Andere in Objektivität, indem er mich unterdrückt, und meine erste Situation ist ein Natur-Schicksal zu haben und vor den objektivierten Werten zu stehen. Ibid. op. cit.
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té.« (ibid., p. 11) Die Immoralität in der Moral sind die erworbenen Werte als Objektivität, denn zwischen der Moral der Interiorität und der Moral der Transzendenz gibt es ein ständiges Oszillieren. Am Ende der Interiorität stehen Grundlosigkeit und in Geschmacksurteile umgeformte Werte. Am Ende der transzendenten Moral kennt der Mensch das Gute, denn nach Sartre sind Wissen und Tun ein und dasselbe. Eine konkrete Moral als Synthesis von Universalität und Historischem hat nicht nur jenen Schwebezustand sondern auch denjenigen zwischen subjektiver und objektiver Moral aufzudecken. In ersterer ist die Intention vom Akt getrennt, in letzterer die Ergebnisse von der Intention. Sartres Lösungsweg lautet daher: »Il faut que la moralité se dépasse vers un but qui nʹest pas elle (car) la moralité se supprime en se posant (et) elle se pose en se supprimant. Elle doit être choix du monde, non de soi. Il faut être moral du dedans de son désir et non du dehors.«145 Wir werden im zweiten Teil unserer Arbeit sehen, wie Sartre genau hier den Schnittpunkt zur Ästhetik formuliert. Die ›moralité‹ ist als Bewusstseinsstruktur ein genetisches Moment in der Selbstbewusstswerdung: »Lʹorigine de la réflexion est un effort de la récupération du Pour-soi par soi-même, pour arriver à un Pour-soi qui soit Soi. Il convient donc que la réflexion ait pour but direct et essentiel le Pour-soi irréfléchi [...] Dans la réflexion morale complice, ce qui importe (von Sartre mit Nachdruck fettgeschrieben) cʹest lʹêtre moral du réfléchi. Il sʹagit de vouloir le Bien (dans lʹirréflexion) pour être moral.« 146 Diese findet ihre Begründung im absoluten Prinzip der Existenz, mit dem Sartre nun in der Lage ist, reine Freiheit philosophisch bestimmen zu können. Die Diskussion der Gründe für ethisches Handeln des einzelnen Subjekts (EH, p. 68) führt Sartre zu der Feststellung, dass die Frage nach dem ethischen Handeln des einzelnen Subjets ihre moralische Dimension erst
145 Deutsch: Die Moralität muss sich in Richtung auf ein Ziel überschreiten, das nicht sie ist, denn die Moralität verdrängt sich, indem sie sich setzt und sie setzt sich, indem sie sich verdrängt. Man muss die Welt wählen und nicht sich selbst. Man muss im Inneren seines Wunsches moralisch sein und nicht ausserhalb. Ibid. op. cit. 146 Deutsch: Der Ursprung der Reflexion ist das Bestreben der Wiederaneignung des Für-sich durch sich selbst. Um dahin zu gelangen, dass das Für-sich das Sich werde. Es ist daher angemessen, dass die Reflexion als direktes und wesentliches Ziel das Für-sich haben soll. [...] In der komplizenhaften moralischen Reflexion ist das Wichtige das moralische Sein des Reflektierten. Es handelt sich darum, in der Irreflexion das Gute zu wollen, um moralisch zu sein. Ibid. p. 100.
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unter zwei Voraussetzungen erreiche: Einmal, wenn das einzelne Subjekt aus der unauthentischen Struktur heraus die Freiheit des Anderen begrenzt und zum anderen, wenn die Ethik als Reflexion über die ethische Realisierung von Intersubjektivität Forderungen oder Gebote aus der unauthentischen Struktur ableitet.147 Die ursprüngliche Entwurfsstruktur erscheint Sartre als »lʹattitude, (qui) nous a paru devoir être la mauvaise foi.«148 Da diese dem Bewusstsein wesentliche Haltung als Struktur der ursprünglichen Freiheit die Struktur der Unaufrichtigkeit ist, (»il sʹagit de constituer la réalité humaine comme un être qui est ce quʹil nʹest pas et qui nʹest pas ce quʹil est«149) sind sämtliche Begriffe, die aus der Selbstbestimmung des Bewusstseins entstanden sind, ebenso unaufrichtig und widersprüchlich wie die Bewusstseinsstruktur der Unaufrichtigkeit selbst. »Cʹest un certain art de former des concepts contradictoires, cʹest à dire qui unissent en eux une idée et la négation de cette idée. [...] Ces deux aspects de la réalité humaine sont, à vrai dire, et doivent être susceptibles dʹune coordination valable. [...] Il faut affirmer la facticité comme étant la transcendance et la transcendance comme étant la facticité.«150
147 In Teil 2 dieser Arbeit werden wir zeigen, dass sich diese ethische Formulierungen Sartres auch als Eudämonismuskritik [die Selbstliebe als Prinzip der Glückseligkeit wird abgewiesen] verstehen lässt. Hier liegt eine Parallelität zu Fichte, der ebenfalls eine dogmatisch verstandene Glückseligkeitslehre ablehnt. So wie nicht das Sehen, Hören, Fühlen von an sich bestehenden Dingen, sondern das Bewusstsein unseres Hörens, Sehens und Fühlens über das entscheidet, was real ist, so bestimmt das Bewusstsein das, was uns glücklich und moralisch zufrieden macht. Glücklich macht uns das, was für uns gut ist, nicht aber ist gut, was uns glücklich macht. Weil die Wahrheit ein Gut ist, verschafft uns das Bewusstsein, die Wahrheit gesagt zu haben, Zufriedenheit. Dies ist »ein wichtiger Satz: der das Eudämonistische System in seine tiefsten Gründe stürzt.« GA II, 4, p. 256. 148 Deutsch: Die Haltung schien uns in der Unaufrichtigkeit sein zu müssen. EN, p. 86. 149 Deutsch: es geht darum, die menschliche-Realität als ein Sein zu konstituieren, das das ist, was es nicht ist und nicht das ist, was es ist. Ibid., p. 97. 150 Deutsch: (Die Unaufrichtigkeit) ist eine gewisse Kunst, widersprüchliche Begriffe zu bilden, das heißt solche, die eine Idee und die Negation dieser Idee in sich vereinigen. [...] Diese beiden Aspekte der menschlichen-Realität sind durchaus dafür empfänglich, für eine gültige Koordination zu sein. [...] Man muss die Faktizität behaupten als die Transzendenz seiend, und die Transzendenz als die Faktizität seiend. EN, p. 95.
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Der so erzeugte Basisbegriff enthält also die Doppelbestimmung der Eigenschaft des menschlichen Seins: Faktizität und Transparenz zugleich zu sein. Für Sartre sind die Begriffe »Wert« oder »Ideal« typische Begriffe, die die Unaufrichtigkeit desjenigen zeigen, der vorgibt, diese zu seiner Richtschnur zu machen. Als letzter Zweck des die Seins-Nichtung fliehenden Entwurfs, d.i. als das Sich, als das Seins-Ideal, stehen sie für die unvereinbaren Eigenschaften von Identität und Selbstverursachung oder Gegebensein und Selbstbegründung. Der für jede Moral zunächst unangefochten vorausgesetzte Begriff des Wertes ist für Sartre ein in sich widersprüchlicher, unauthentischer Begriff: »Le rapport de la valeur au pour-soi est très particulier: elle est lʹêtre quʹil a à être en tant quʹil est fondement de son néant dʹêtre.«151 Er definiert diesen Begriff durch eine widersprüchliche Doppelbestimmung: »La valeur, en effet, est affectée de ce double caractère [...] dʹêtre inconditionnellement et de nʹêtre pas.«152 Käme dem Wert Sein zu, verlöre er seine Idealität; wäre er bedingt, verlöre er seine Absolutheit und dadurch für die Moral seine normative Kraft. Diese den von Sartre zugesprochenen Eigenschaften des Wertes müssen der Freiheit höchst zuwider sein. Der Wert ist unrealisierbar und steht in keinerlei Einklang mit dem Prinzip ihrer Existenz. Aber die »réalité-humaine est ce par quoi la valeur arrive au monde. [...] La valeur suprême vers quoi la conscience se dépasse à tout instant par son être même, cʹest lʹêtre absolu du soi, avec ses caractères dʹidentité, de pureté, de permanence, etc., et en tant quʹil est fondement de soi.«153 Der Wert ist also dasjenige Ideal, das das Bewusstsein schafft, indem es sich -gegen sich gerichtet – selbst bestimmt: Der Wert taucht für ein Sein auf, nicht insofern dieses Sein das ist, was es ist in voller Kontingenz, sondern insofern es Grund seiner eigenen Nichtung ist: »Elle (la valeur) surgit
151 Deutsch: [...] die Beziehung des Wertes zum Für-sich ist eine ganz spezielle: er ist das Sein, das es zu sein hat, insofern es Grund seines Nichtseins ist. EN, p. 137. 152 Deutsch: In der Tat ist der Wert von dieser doppelten Eigenschaft affiziert [...] unbedingt zu sein und nicht nicht zu sein. EN, p. 136. 153 Deutsch: [...] die menschliche-Realität ist dasjenige, wodurch der Wert in die Welt kommt. [...] Der höchste Wert, auf den hin das Bewusstsein sich in jedem Augenblick durch sein Sein selbst überschreitet, ist das absolute Sein des Sich mit den Eigenschaften von Identität, Reinheit, Permanenz usw. und insofern es Grund von sich ist. EN, p. 137.
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pour un être non en tant que cet être est ce quʹil est, en plein contingence, mais en tant quʹil es fondement de sa propre négation. En ce sens la valeur hante lʹêtre en tant quʹil se fonde, non en tant quʹil est: elle hante la liberté.«154 Es scheint aus dieser Blickperspektive völlig absurd anzunehmen, Sartres Ethik impliziere die Setzung der Freiheit als einen Wert an sich. Die Ethik kann also keine Handlungsmaximen vorgeben, die bestimmte Handlungen mit idealen Werten begründen, sondern nur in Bezug auf die konkrete Situation, d.i. die konkrete Bedingtheit der konkreten Menschen als konkrete Freiheiten. Eine Ethik, die diesem Format zuwider läuft, bleibt nicht nur unauthentisch, sondern trägt auch ihr Scheitern durch das Setzen der Werte in sich, wie der individuelle Entwurf, denn ihr Entwurf muss unrealisierbar bleiben und will sich offenbar auch als ein solcher. Eine Ethik, die die Idee der Freiheit im Zentrum ihres Konzepts hat, fällt damit genau unter diese Kritik. Interessant ist hier eine wieder aufscheinende Parallelität zu Fichte: Die Freiheit erscheint auch bei ihm in der Form reiner Negativität und nicht als Negation der Seins-Nichtung, die auch positiv bestimmbar wäre, denn »Lʹhomme nʹimporte quʹà lʹhomme. Non pas le découvrir mais lʹinventer. Lʹhomme est source de tout bien et de tout mal et se juge au nom du bien et du mal quʹil crée. Donc à priori ni bon ni mauvais.«155 Für Sartre ist es daher unsinnig, von abstrakter Moral zu sprechen, weil diese ineins mit dem guten Gewissen gesetzt werden kann. Es gibt nur eine einzige Moral und die ist konkret »une morale de la situation.« Als hätte Sartre sich auf Fichte bezogen, stellt er mit Nachdruck fest: »La morale cʹest la théorie de lʹaction. [...] Une morale doit être en acte.«156 Die Ontologie muss dem moralisch Handelnden aufdecken, dass er das Sein ist, durch den die Werte existieren.157
154 Deutsch: [Der Wert] taucht für ein Sein auf, nicht insofern dieses Sein das ist, was es ist, in voller Kontingenz, sondern insofern es Grund seiner eigenen Nichtung ist. In diesem Sinn sucht der Wert das Sein heim, insofern es sich begründet, nicht insofern es ist: er sucht die Freiheit heim. Ibid. op. cit. 155 Deutsch: Nur für den Menschen ist der Mensch von Bedeutung. Nicht ihn zu entdecken, aber ihn zu erfinden. Der Mensch ist Quelle von allem Guten und Bösen und beurteilt sich im Namen des Guten und Bösen, das er kreiert hat. A priori ist er also weder gut noch böse. EN, p. 23. 156 Deutsch: Die Moral ist die Theorie der Aktion [...] Eine Moral muss im Akt [enthalten] sein. Ibid.op. cit., p. 24.
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Sartre beantwortet die Frage, was aus der Freiheit werde, wenn sie sich zu diesem Wert zurückwende, mit der Vermutung, dass sie schon allein dadurch, dass sie sich in Bezug auf Sich-Selbst als Freiheit erfasst, der Herrschaft des Wertes ein Ende setzen kann.158 Indessen ist aber der Wert nichts anderes »que cette totalité qui est le fondement même de chaque conscience en tant quʹelle est présence à soi.« 159 Kommt den Werten der Seinsmodus der Faktizität zu, so haben wir keinen Grund mehr, uns ihm anzuvertrauen, denn »(quand) elle devient une valeur pour nous, elle
157 Sartres Drama Les Mouches enthält einen expliziten Bezug zum griechische Ursinn der eudaimonia als willkürliche Glückseligkeit, die sich durch Konzentration auf die Tugend und die Tüchtigkeit selbstverantworteter Lebensführung (eupraxia) zeigt und wiederholt diesen Vorgang auf neuzeitlichem Boden unter Berufung auf unsere moralische Freiheit und dem ethischen Gesetz, so verantwortlich zu handeln, dass man verantwortlich für alle Menschen ist. Im Drama verdeutlicht Sartre zunächst den Sinn des Ursprungs von eu-daimonia: von übermächtigen Dämonen schicksalhaft begünstigt zu sein, in der Huld der Götter zu stehen, was mit dem Gegenwort kako-daimonia zusammengeht: unter dem Zorn und Neid der Götter zu stehen, von dämonischen Mächten ins Unglück gestürzt worden zu sein. Darin waltet ein Schicksal (Moira), das über den Göttern ist. In Sartres Theaterdramaturgie wird sichtbar, was sich in den Sinnsprüchen des Demokrit ausspricht, dass die Eudämonie des Menschen allein im aufrechten Sinn und umsichtiger Lebensklugheit (polyphrosyne) besteht, in: Hermann Diels/ Walther Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker, Berlin 1969, pp. 170-175. Wir werden im 2. Teil dieser Arbeit die Versinnbildlichung dieser vorsokratischen Weltansicht in Sartres Drama Les Mouches einer näheren Betrachtung unterziehen. Aber auch für Fichte ergibt sich aus den Lehren der Vorsokratiker eine Vorbestimmung von Glück im Sinne willkürlicher Glückseligkeit: »Glük ist, daß geschehe, was ich wollte.« (GA II, 4p. 313) Ob die Früchte des Feldes gedeihen, die Fahrt über das Meer glatt verläuft, Frieden bewahrt wird, entzieht sich unserer Verfügungsgewalt. Es greifen hier Glücksfälle und Schicksalsschläge in unsere Pläne ein oder, wie Sartre sagen würde, die Kontingenz. Fichte hat, wie später Sartre, Aischylos vor Augen, denn die Mythologie des griechischen Götterkreises stellt sich ihm als verhängnisvoll außermoralisch dar. Man sieht in der Kritik Fichtes weitere Parallelen zu Sartre. Für Fichte stellt die Mythologie das dogmatische System eines Götterdienstes aus dem erdrückenden Erleben der Übermacht der Unsterblichen und der Sterblichen ohne ethischen Halt dar. Wir sehen hier Parallelitäten zu Sartre. 158 Cf. EN, p. 722. Francis Jeanson ist in seiner Auseinandersetzung mit der Ethik Sartres zu dem Schluss gekommen, dass Sartres Verzicht auf den Gottesentwurf eine radikale Abwendung vom ursprünglichen Entwurf sei und damit auch von jeglichem Wert: »la conversion morale [...] consiste [...] à accéder à un plan où la liberté cesse dʹêtre poursuite libre dʹune fin préfixée, pour se libérer aussi de cette fin en la
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Teil 1: Selbstbewusstsein, Intersubjektivität und Ethik bei Sartre und Fichte
échappe à cette substantification des valeurs, cʹest à dire au-delà de lʹêtre.« Als Wert hat dieser also den Charakter eines Seins, andererseits aber auch muss der Wert »au delà de lʹêtre«160 sein. Es ist unmöglich, dass der Wert nicht ist, und es ist ebenfalls unmöglich, dass er ist. Wäre es so, dass er ist, dann »elle [la valeur] perdrait son aspect dʹexigence; elle est donc en tant que nʹétant pas.«161 Wenn aber der Wert diese Doppelbestimmung hat, so deswegen, »parce quʹelle est justement cette totalité sur le fondement de laquelle toute conscience se saisit comme un manque, qui est le fondement qui hante chaque conscience dans laquelle il y a être en ce sens que la valeur doit avoir la structure de lʹen-soi, et il y a au-delà de lʹêtre en ce sens que toute valeur nous apparaît comme devant aussi la structure du pour-soi.« 162 Jeder Wert, um überhaupt gegründet werden zu können, muss aber in irgendeiner Weise seine Existenz aus sich selbst heraus beziehen. Machen wir daraus (aus seinem Grund) einen göttlichen Willen, dann hat er keinerlei Wert mehr; es sei denn, wir sprächen diesen Wert dem göttlichen Willen zu. Dann aber ist er nicht mehr, als der Ausdruck für dasjenige, dem wir den Wert verliehen haben: »la valeur ne peut donc être que sur le mode de lʹen-soi pour-soi.«163 (ibid., p. 159)
mettant elle-même en question.« In: Francis Jeanson, Le problème moral et la pensée de Sartre, Paris 1947, p. 272 und in ›Les temps modernes 7-10, Notre Sartre, Sartre inédit, 2005, »De lʹaliénation morale à lʹexigence éthique«, pp. 557 sqq. Deutsch: Die moralische Konversion besteht aus einem Zugang zu einem Plan, wo die Freiheit aufhört, verfolgt zu werden, denn sie ist frei jedes präfixierten Zieles, um sich auch von diesem Ziel zu befreien, indem dieses selbst in Frage gestellt wird. 159 Deutsch: [...] als diese Totalität, die der Grund selbst eines jeden Bewusstseins ist, insofern es sich selbst präsent ist. CS, p. 159. 160 Deutsch: [...], wenn sie ein Wert für uns wird, entkommt sie der Substantifikation der Werte, das heißt jenseits des Seins. Ibid. op. cit. 161 Deutsch: [...], denn der Wert würde seinen Aspekt, Forderung zu sein, verlieren; er ist also, insofern er nicht ist. Ibid. op. cit. 162 Deutsch: [...], weil er genau diese Totalität auf dem Grund, auf dem jedes Bewusstsein sich als Mangel ergreift, der der Grund ist, der jedes Bewusstsein heimsucht, indem das Sein in dem Sinn [enthalten] ist, dass der Wert die Struktur des An-sich haben muss und jenseits des Seins in dem Sinn, dass jeder Wert uns erscheint wie auch die Struktur des Für-sich zu verschulden. Ibid. op. cit. 163 Cf. de Coorebyter sieht hier den Rekurs Sartres auf EN und meint, Sartre akklimatisiere hier den Hegelianischen Begriff des »unglücklichen Bewusstseins«, in wel-
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Die Ausführungen über die Bedeutung des ›en-soi pour-soi‹ bilden die Basis für Sartres Kunsttheorie, die wir im 2. Teil dieser Arbeit erörtern wollen. In seinem Aufsatz »Un critique en situation« beruft sich Bernard Fauconnier auf Sartres Feststellung, dass »dans les failles de lʹen-soi se déploie, chez lʹartiste, sa consi(nce créatrice.« Wir meinen, dass sich in diesem Zitat aus LʹÊtre et le néant ein Vorverweis auf Sartres vermögenstheoretische Analyse des ästhetischen Bewusstseins (LʹImagination et LʹImaginaire) anzeigt, wie wir ihn später an entsprechender Stelle wieder aufgreifen werden: »Ce qui caractérise le pour-soi, cʹest sa liberté. Liberté de créer, de combler les failles, les fêlures du moi, liberté dʹexprimer, par lʹidentification du sujet à l’œuvre.«164 4. Die theoretischen Grundlagen der Ethik und Ästhetik bei Fichte und Sartre Die folgenden Untersuchungsschritte werden ihren Ausgang von der Frage nehmen, wie das ästhetische Vermögen, d.i. als ästhetische Kraft neben anderen theoretischen und praktischen Kräften, anthropologisch und literaturtheoretisch zu verorten ist. Es geht dabei um einen Wechsel zwischen ästhetisch immanenten und auf das Subjekt bezogene Blickperspektiven. Des Weiteren wird danach gefragt werden, wieso die Redekunst bei beiden Philosophen einen derart zentralen Stellenwert einnimmt – bei Sartre ist dies der inzwischen fest etablierte Literaturbegriff der ›littérature engagée‹, den wir im 2. Teil dieser Arbeit ausführlich erörtern werden. Ausgehend von beiden Blickperspektiven wird sich dann zeigen lassen, wie ästheti-
chem Jean Hyppolite das fundamentale Thema der Phänomenologie des Geistes ausgemacht habe. »De la même manière que cette figure hégélienne de la conscience souffre dʹêtre une subjectivité finie, réfléchie en soi mais découvrant ainsi sa radicale séparation avec lʹinfini [...] le pour-soi pose la valeur comme un idéal inaccessible, une synthèse dʹêtre et de non-être, dʹen-soi et de manque, vers laquelle il tend mais qui ne peut par principe être réalisée.« In: Vincent de Coorebyter, op. cit., p. 214. Deutsch: Auf dieselbe Weise wie die Hegelsche Figur des Bewusstseins darunter leidet, endliche Subjektivität zu sein, in sich zwar reflektiert, aber auf diese Weise seine radikale Trennung vom Unendlichen entdeckend [...] setzt das Für-sich den Wert als ein nicht-erreichbares Ideal, eine Synthese zu sein und nicht zu sein, des An-sich-seins und des Mangels, in dessen Richtung es tendiert, das aber aus Prinzip nicht realisiert werden kann. 164 Loc. cit., in, Magazine Littéraire, 10, 2005, p. 77.
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Teil 1: Selbstbewusstsein, Intersubjektivität und Ethik bei Sartre und Fichte
sche Vermittlungsstrategien zu ethischen Grundhaltungen führen können, wenn das [pädagogische] Ziel die Autonomie des Menschen sein soll. Um die Rolle der Ästhetik in beiden Konzepten zu prüfen, weist uns der erste Blick auf Fichtes »Bestimmung des Menschen« (definitio und destinatio) ohne Verzug auf seine ethisch – ästhetische Lehre, die das gesamte Spektrum seiner Philosophie durchzieht. Das Prinzip des Fichteschen Gedankens, d.i. die Ichheit bzw. Vernunft, musste von ihm zu genauer Bestimmtheit gebracht werden, wenn seine eigentümliche und in Sartres ähnlicher Weise, nach dem Menschen zu fragen, in den Blick kommen soll. Fichte denkt den Menschen ähnlich wie Sartre ganz aus dessen reiner Vernunft-Bestimmung. Fichte geht über die Frage »Was ist der Mensch?« hinaus, indem er die grundlegende Frage stellt: »Wozu ist der Mensch bestimmt?.« »[...] alle Thiere sind vollendet, d.i. fertig, der Mensch ist nur angedeutet, und entworfen. [...] jedes Thier ist, was es ist: der Mensch allein ist ursprünglich gar nichts. Was er seyn soll [,..] muß er werden.«165 Erst im Angesicht seiner Bestimmung wird für den Menschen offenbar, was er ist bzw. werden soll. Diese Fragestellung steht — am Rande sei es bemerkt — in scharfem Kontrast zum »sommeil anthropologique«, dessen Ende Michel Foucault166 als gekommen ansieht. Dieser entschieden als nachmetaphysisch bezeichnete Traum liegt den Denkern der klassischen Neuzeit, insbesondere Kant, Fichte und Hegel und insbesondere in der philosophischen Moderne Sartre prinzipiell fern. Indem Fichte das ›Was‹ des Menschen erst aus der Bestimmung des Menschen hervortreten lässt, geht es ihm primär nicht um die Unterscheidung des Menschen vom Tiere167, sondern um die Unterscheidung des Menschen von sich selbst. Für die Genesis ethischer Einsicht vertritt Fichte ein Kontinuitäts-Modell, das – wie gezeigt werden soll – in einer Art genetisch aufsteigenden Prozesshaftigkeit
165 Loc. cit GA I,3, p. 379, auch Sartre nimmt an einer Stelle Ausgang von der Explikation tierischer Kreativität, um daran die Existenzbestimmungen des Menschen zu kontrastieren, siehe Kap. 2. 166 Michel Foucault, Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines, Paris 1966, p. 351. 167 Den Vergleich des Menschen mit dem Tier vollzieht Sartre ebenfalls, was von G. Idt zum Anlass genommen wird, die ethisch-ästhetische Spuren in Sartres Literatur zu entdecken: G. Idt, »Sartre, »mythologue:du mythe au lieu commun«, in P. Verstraeten, Hg., Autour de Jean-Paul Sartre, Littérature et philosophie, Paris 1981, coll. des idées 438, pp. 117-157.
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verläuft. Wie in Kapitel 2 dieses 1.Teils erörtert, verankert Sartre zwar ebenfalls das ethisch-moralische Bewusstsein in der Bewusstseinstruktur der »conscience (de) soi«, aber – anders als Fichte dies in seinen philosophischen Schriften vollzieht –, stellt er den ethischen – intersubjektiven Zusammenhang nicht nur in seinen philosophischen Schriften dar, sondern verarbeitet diesen Gedanken in seiner eigenen Literaturtheorie. Fichte sowie Sartre begründen Ethik in der Einheit des praktischen Selbstbewusstseins. Beide versuchen, den spezifischen Sinn der Ethik in subjektivitätstheoretischem Kontext, d.h. in Erörterung der notwendigen Bedingungen der inneren Einstimmigkeit des praktischen Vermögens des Ich aufzuweisen. In Auseinandersetzung mit der Kantischen Pflichtethik168 weisen die Ethik Fichtes und die Sartres eine argumentative Ähnlichkeit mit Kantischen Reflexionen über die mögliche konsistente Einheit und Nichtwidersprüchlichkeit des freien Willens auf. Angemessen wollen und handeln im Sinne des kategorischen Imperativ verlangt von dem konkreten Ich, dass es eine Einheit seiner mannigfachen Bestrebungen unter der Regelgebung der praktischen Vernunft zustande bringen muss, was analog zu der logisch-theoretischen Einheit der vielfältigen Vorstellungen in der Synthesis der reinen Apperzeption zu geschehen hat. Diesem Vorgang liegt nach Sartre das präreflexive Bewusstsein zugrunde. In praktischer Hinsicht begründen Fichte wie später auch Sartre, dass der Mensch nur das sein und tun soll, was er sich als einem personalen Ich zuzuschreiben vermag. Was er nicht sein kann, weil er ein Ich ist, das soll er schlechterdings auch nicht sein. Für Fichte ist das eine Prinzip der praktisch-theoretischen Vernunft die echte »Philosophie aus einem Stück«: Das schlechthin setzende, produktive Ich stellt für ihn dieses Prinzip dar. Zum ersten Mal in der Geschichte der Philosophie wird das ursprünglichste Beisichsein der Vernunft als ein produktives gedacht. Das setzende Ich in seiner Absolutheit ist dabei zu charakterisieren als unbedingte, unbestimmbare und unendliche Tätigkeit, die ohne zugrunde liegendes Substrat, als reine Tätigkeit zu denken ist. Prinzipieller als die praktische Selbst-Gesetzgebung der Vernunft ist nach
168 Cf. Hierzu auch die oben gemachten Ausführungen in diesem Teil 1.1. Auch ist die detaillierte Untersuchung von Wen-berng Pong, Das Verhältnis des kategorischen Imperativs und des Gewissens bei Fichte, Dissertation, Frankfurt a.M. 2001 in diesem Kontext sehr aufschlussreich.
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Fichte ihre produktive, poietische, Selbst-Setzung, denn vor allen Setzungen des Ich ist das Ich selbst zu setzen. Produzierendes und Produkt, Setzen und Sein sind schlechthin dasselbe. Was Fichte hier expliziert, ist die reine Vernunft in ihrer ursprünglichsten Bestimmtheit. Es ist nicht die Rede von einem Vermögen des individuellen Bewusstseins oder vom Selbstbewusstsein, sondern umgekehrt ist vielmehr davon die Rede, das Bewusstsein aus der Vernunft bzw. reinen Ichheit zu entwickeln. Das produktive Ich ist – so Fichte – das eine Prinzip der theoretischen und praktischen Vernunft, denn mit genetischer Evidenz weiß ich dasjenige, was ich selbst gesetzt habe. In Fortführung von Kant stellt Fichte in seiner Freiheitstheorie pointiert die These auf, dass der freie Wille einer internen Regelhaftigkeit seines Gebrauchs bedarf.169 Gerade wegen seiner Unabhängigkeit von ethischen Antrieben und seines freien Selbstanfangenkönnens neuer Reihen von Weltbegebenheiten ohne äußere Determination hat Freiheit »nach principien empirischer Zwecke« keine durchgängige Einstimmung mit sich selbst – allein reine Vernunft kann »practische Einheit des Willens nach principien festsetzen.«170 Während für Kant die Bedingungen der völligen Einstimmigkeit des einzelnen freien Wollens mit sich dieselben sind wie diejenigen, welche intersubjektive Einigkeit hinsichtlich des Wollens verschiedener vernünftiger freier Wesen ermöglichen, wurden von Fichte die ethischen Implikationen der Intersubjektivität aus dem Selbstbewusstsein des praktischen Ich deduziert, was – wie wir im ersten Teil unserer Arbeit zeigen konnten, mit Sartres Explikation der Selbstbewusstwerdung in so überraschendem Gleichklang steht. Fichte nimmt eine kontinuierliche Bewusstseinserhellung bzw. linear sich steigernde Selbstbewusstwerdung an, die in präziser Korrelation zu Verdeutlichungsgraden ethischer Einsicht vonstatten geht. Die idealisti-
169 Ein Gesetz der Freiheit ist erforderlich, damit ein einheitlicher Gebrauch derselben möglich ist und der frei Handelnde sich selbst als einheitlich vorstellen kann. »Das erste Sollen«, erklärt Kant, »ist eine Bedingung, unter der allein die freyheit ein Vermögen nach beständigen Regeln wird, die a priori bestimmen ... Der auf kein objekt eingeschränkte, mithin reine wille muß zuerst sich selbst nicht widerstreiten, und die freyheit als die dynamische Bedingung der intellectuellen welt und ihres commercii muß Einheit haben.« Kant, Werke Bd XIX, p. 178, Reflexion 6850 (wahrscheinlich von 1776-78). 170 Kant, Werke Bd XIX, p. 281: Reflexion 7, pp. 202, 204 und 284.
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sche Explikation des Selbstbewusstseins, in der Fichte den systematischen Zusammenhang aller ursprünglichen Vermögen des Ich aus dem einheitlichen Grund des Ich zu entwickeln sucht, ist für ihn – gemäß dem Primat der praktischen Vernunft – primär eine Explikation des Freiheitsbewusstseins im Ich. In der »Sittenlehre« formuliert er als leitende »Aufgabe« für den die Bewusstseinstatsachen erklärenden Philosophen »zu sehen«, auf welche Weise das Ich seiner ursprünglichen Tendenz »zur absoluten Selbsttätigkeit, als einer solchen, sich bewußt werde.«171 In stets klarer werdenden Stufen fortschreitender Selbstverständigung entwickelt sich solches Innewerden eigener Spontaneität zu dem Wissen, zu freier Selbstbestimmung bestimmt zu sein172, und es vertieft sich schließlich zum Verstehen und zur Gewissheit der unbedingten ethischen Anforderung an die eigene Freiheit. Auf diese Weise stellt Fichte den genetischen Zusammenhang des Sittengesetzes als eines »Faktums« der Vernunft heraus. Dass Freiheit nicht ohne ethische Anforderung zu haben ist, stellt sich als eine gegebene Evidenz der Vernunft dar. Indem Fichte sich der Methode einer »Deduktion der moralischen Natur des Menschen, oder des sittlichen Prinzips in ihm«173 bedient, stellt er den Gedanken der Ichheit als des letztfundierenden Konstitutionsgrundes der Person an den Anfang seiner Reflexion. Die Deduktion der Ethik vollzieht Fichte im »System der Sittenlehre« (1798) aus dem Bewusstsein der Freiheit und im Aufstieg zu den Bedingungen der Einheit des praktischen Ich. In diesem Zusammenhang vollzieht er auch die genetische Erörterung des Freiheitsbegriffs.174 Die Identität im Wollen, das wahrhaft ethisch ist, wird von Fichte unter dem Aspekt ihrer genetischen Konstitution erörtert. Für Fichte bildet sich das praktische, handlungsfähige Subjekt in genauer Entsprechung zu einer abgestuften Bewusstwerdung und Anerkennung der Geltung der ethischen Grundregeln in der Einheit seines Selbstbewusstseins. Das »substantielle
171 SW IV, p. 39. 172 Cf. Fichte, SW III, p. 32 sqq; SW IV, p. 219 sqq. Zu der hier nicht eigens behandelten interpersonalen Komponente als Anstoß für das individuelle Ich, sich als freies zu konstituieren, sei auf op. cit. Teil I, Kapitel 3 und die dort angeführte Literatur verwiesen. Die intersubjektive Bedeutung der Aufforderung im Kontext pädagogischer Fragestellungen wird in Kap. 3 des zweiten Teils dieser Arbeit erörtert. 173 SW IV, 209. 174 Cf. Fichte, SW IV, pp. 37 sqq.
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eigentliche Ich« ist für ihn nicht die Intelligenz, sondern das »Freitätige« als freier Wille.175 Es muss also eine vollständige Selbstkonstitution des Ich auf eine Erhellung der inneren Verfasstheit des Willens zurückgehen. Am Ende seiner Deduktion steht für Fichte fest, dass die authentische, letztgültige Selbstfindung des Ich durch die Entdeckung und Anerkennung des ethischen Willens als des wahren Selbst zustande kommt. 4.1. Die Grundlegung der Ästhetik Wie wir gesehen haben, kommt der Einbildungskraft die Rolle als Vermittler zwischen den einzelnen Stationen der Selbstwerdung zu. Der ästhetische Zustand ist hier ein Vermittlungszustand zwischen sinnlichem und vernünftigem Zustand. In der Practischen Philosophie (1794), die zusammen mit den Eignen Meditationen den Vorläufer der Grundlage der Wissenschaftslehre (1794), bilden, vollzieht Fichte im Kontext seiner Darstellung der anthropologischen Verfasstheit des ästhetischen Zustands die Bestimmung der Rolle der Einbildungskraft und erstellt eine Theorie der Ästhetik.176 Dort ordnet er den verschiedenen Weisen des Ästhetischen jeweils ein auf dem Streben der Einbildungskraft basierendes Vermögen zu: »das Empfindungsvermögen für das Angenehme, das Anschauungsvermögen für das Schöne und Erhabene.« Die Einbildungskraft strebt nach Unabhängigkeit von dem im theoretischen Bereich durch das Nicht-Ich hervorgerufenen Empfindungen und Anschauungen, um für sich selbstständig zu empfinden und anzuschauen, weil es »überhaupt darauf ausgeht, [...], dass jedes Vermögen ganz unabhängig, bloß, u(nd) allein frei werde.«177 Die von Fichte a priori aufgestellte Aufgabe des Strebens der Einbildungskraft178 ist die Annäherung an das oberste Ideal. Auf Selbstständigkeit, Unabhängigkeit und Freiheit bezogen, bringt es den »Urstoff« des Angenehmen und die »Urform«179 des Schönen und Erhabenen zum
175 SW IV, p. 220. 176 Vgl. Robert Tänzer: Das Problem der philosophischen Ästhetik in den Frühschriften J. G. Fichtes, Magisterarbeit LMU-München 1985. Interessant ist Sartres analoge Bestimmung der Imagination als Schlüsselbegriff seiner Ästhetik in ähnlichem Kontext. 177 II,3, p. 229. 178 Wir finden hier eine Differenz zu Sartre, wonach die freie Imagination erst den ästhetischen Wert des Kunstwerks ausmacht. 179 Ibid., p. 209.
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Ausdruck. An diese Ideale – so Fichte – hat man sich gemäß ästhetischer Regeln annzunähern. Das Streben der Einbildungskraft fungiert im Zustand der Ästhetik als Mitte der durch diverse Gegensätze geprägten anthropologischen Verfasstheit des Menschen. Sie vermittelt zwischen Stoff und Form, Theorie und Praxis, Sinnlichkeit und Vernunft sowie zwischen empirischer und intelligibler Welt. Da der Einbildungskraft die Aufgabe der als Vermittlungsinstanz zukommt, verweist sie sowohl auf die Eigenständigkeit als auch auf die Notwendigkeit des ästhetischen Wissens im System. Dies macht plausibel, wieso die Ästhetik in der Wissenschaftslehre an exponierter Stelle steht, denn weder betrachtet die Welt bezogen auf den gemeinen Gesichtspunkt, der theoretisch ausgerichtet ist, d.i. schlicht, wie sie gegeben ist, noch ist sie auf den transzendentalen Gesichtspunkt, der praktisch ausgerichtet ist und die Welt betrachtet, wie sie sein soll, zurückzuführen. Vielmehr steht die Ästhetik zwischen beiden auf halben Weg.180 Fichte zufolge lässt sich das dadurch erklären, dass die Einbildungskraft die gegebene Welt zwar einerseits bewusst werden lässt, obgleich sie aber ihrer Ausrichtung nach transzendental ist, d.h. sie bleibt nicht bei dem allgemeinen Gesichtspunkt stehen, sondern zeigt, wie die Welt gemacht wird. Andererseits befreit die Einbildungskraft den Menschen zwar von der Vorstellung des gemeinen Gesichtspunkts, aber das geschieht nicht unter ethischen Gesichtspunkten und durch Freiheit, sondern nur »natürlich u. instinktmäßig.«181 Fichte begründet die Notwendigkeit des ästhetischen Wissens dadurch, indem dieses die erste Stufe der Selbstreferenz des Individuums einleitet. Ohne die Selbstreferenz wäre es ihm nicht möglich, die Vollendung seiner Selbstobjektivation im für Fichte wichtigsten Zustand, dem sittlich-religiösen, anzustreben. Sartres Bestimmung der Einbildungskraft werden wir ausführlich am Beginn des zweiten Teils erörtern, da hieran die gesamte Konzeption des Sartreschen Kunstverständnisses angenüpft werden muss.
180 GA I,5, p. 308 181 GA IV,2, p. 266
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4.2. Der ästhetische Zustand und seine Vermittlung Fichte vollzieht die pädagogische Bestimmung der vermögenstheoretischen Aspekte des ästhetischen Zustands zunächst innerhalb seiner Populärphilosophie. Hier stellt er die Ästhetik auf dieser angewandten Ebene in den Zusammenhang mit der schönen Kunst.182 Fichtes Erziehungsmodell und sein hier gedachter Kunstbegriff übten auf die spätere Strömung der Reformpädagogik einen maßgeblichen Einfluss aus. Sein in der Valediktionsrede (1780) und in den Aphorismen über Erziehung (1804) entwickeltes Erziehungsmodell machen deutlich, dass das ästhetische Handeln das Fundierungsmoment bildet sowohl für die selbsttätig gewonnene Erkenntnis als auch für die Verinnerlichung des Lernstoffs sowie dessen praktischer Anwendung. Ohne das schöpferische Vermögen der Einbildungskraft, das im ästhetischen Zustand die Vermittlung der gefühlsmäßigen Rührung des Gemüts mit der intellektuellen Tätigkeit bewirkt, ist der Lernprozess für Fichte nicht möglich. Fichte klingt fast modern, wenn er von einem emotionalen Bedürfnis nach Wissen des Schülers spricht, welches am Besten ohne explizite Direktiven des Lehrers zu einem selbstständig gebildeten Begriff von dem zu erlernenden Sachverhalt führt. Im Kontext seiner Darstellung der Ästhetik erörtert Fichte dies beispielhaft anhand der Frage nach der richtigen Anwendung der Regeln der Rede- und Dichtkunst. Zur Verdeutlichung seiner Analyse setzt er sich kritisch mit zeitgenössischen Vertretern rationalistischer Lerntheorien auseinander, wie z.B. Gellert, die anders als er im Verstand das entscheidende Vermögen im Lernprozess sehen.183 Rein verstandesorientiert wird Lernen für Fichte auf einen lediglich passiv und rezeptiv zu verstehenden Aufnahmeprozess reduziert, der sich in Folge von pedantisch verstandener Gelehr-
182 Unsere Skizze verdankt sich hier im Wesentlichen den Forschungsergebnissen Petra Lohmanns, »Die Funktion der Kunst und des Künstlers in der Philosophie Johann Gottlieb Fichtes«, in: Fichte-Studien, Band 25, pp. 124-134, aber auch den Ausführungen von Ives Radrizzani, »Von der Ästhetik der Urteilskraft zur Ästhetik der Einbildungskraft, oder von der kopernikanischen Revolution der Ästhetik bei Fichte«, in: Fuchs, Ivaldo, Moretto, op. cit., pp. 341-360. 183 Christian Fürchtegott Gellert, »Wie weit sich der Nutzen der regeln der Beredsamkeit und Poesie erstrecke«(1769), und »Von den Ursachen des Vorzugs der Alten vor den neuern in den schönen Wissenschaften, besonders in der Poesie und Beredsamkeit« (1769), in: Gesammelte Schriften Bd. V, hg. v. Bernd Witte, Berlin u. New York 1994, p. 196 sqq. und p. 213 sqq.
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samkeit und Übung als bloßes Übernehmen eines von anderen bereits erarbeiteten Sachverhalts darstellt. Dieser Erziehungsmethode stellt Fichte in Anlehnung an Rousseau184, Feder und die Philanthropisten (Salzmann) sein pädagogisches Konzept entgegen, das in den Konzepten der Reformpädagogen wie Pestalozzi, Fröbel und Kerschensteiner seinen Nachklang findet. Die wichtigste Abgrenzung in Fichtes Pädagogik läßt sich dort aufzeigen, wo es ihm explizit um einen aktiven Lernprozess geht, in dem aus eigenem Antrieb selbstständiges Erkennen erfolgen soll. Für die Lernatmosphäre ist wichtig, dass die Auseinandersetzung mit dem dargebotenen Stoff von wechselseitiger Anerkennung des Lehrers und Schülers getragen ist. Daher sollen »die Regeln der Kunst, die sich in den Lehrbüchern finden [...], nicht mechanisch, (sondern) im Geiste gedeutet werden.« (GA I,6, p. 360) Klar wird, dass hier ohne Einbildungskraft nichts zu erreichen ist, denn ohne ihre Affizierung ist nicht nur der ästhetische, sondern auch jeder andere zu erlernende Sachverhalt kaum zu vermitteln. Für Fichte besteht die höchste pädagogische Leistung der Ästhetik in der Redekunst. Diese wird von ihm im Kontext eines umfassenden Kunstbegriffs verortet, dessen Hauptaspekt in der Verbindung zwischen Rede- und Verstandeskunst, d.h. Philosophie (SW, XI, p. 190) liegt und daher in Fichtes Absicht gipfelt, die gesamte Arbeitswelt unter künstlerischen Gesichtspunkten zu betrachten. Mittels der Affizierung der Phantasie kann die Selbsttätigkeit in Gang gesetzt werden. Die Affizierung der schöpferischen Phantasie regt die schöpferische Einbildungskraft an und dadurch auch die Spontaneität, aktiv gestalten zu wollen. Die Anregung der Einbildungskraft ist für die Pädagogik von großem Wert, denn sie bildet die Voraussetzung für die Selbsttätigkeit des Schülers ist. Durch Passivität dagegen wird die Selbsttätigkeit nicht zur Neugier, zum Wollen seiner eigenen Tätigkeit angeregt, denn man verspürt nicht die Reizung seiner eigenen Möglichkeiten. Die Einbildungskraft definiert Fichte als die »völlige Schöpferin« (II,3, p. 316) aller im endlichen Bewusstsein vorkommenden Vorstellungsinhalte. Sie ist ein freies Schöpfungsvermögen des Geistes, das nicht nur bloß nach sich selbst gebenden Gesetzen tätig ist, sondern »sich überhaupt u. schlechthin
184 Wir werden später erörtern, wie Fichte nur terminologisch mit Rousseau übereinstimmt, inhaltlich, d.i. erkenntnistheoretisch, allerdings diesem Konzept diametral entgegengesetzt ist.
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ohne alle vorhergegangene Bildung Bilder [...] entwirft [...]« (ibid., p. 309) und sich in der ethischen Potenzierung dieser Inhalte zum »Vermögen der Ideale« (ibid., p. 20 sq.) sogar noch steigert. Für Fichte beruht diese Bestimmung auf der Auffassung, dass die im empirischen Bewusstsein vorkommenden theoretischen, praktischen und ästhetischen Vorstellungen nicht etwa bloße Wirkungen einer unabhängigen Außenwelt, sondern Produkte der Einbildungskraft sind. Gerade die Einbildungskraft setzt zur Hervorbringung von Vorstellungen nichts außer sich voraus, denn das Material aller möglichen Vorstellungen ist im Ich bereits angelegt. Dieses Material, das durch die Einbildungskraft zu gestalten ist, bestimmt Fichte als das »Gefühl.« (ibid., p. 317) Aus dieser Bestimmung resultieren nun mehrere Prozesse. Aus dem Grundstoff eines bestimmten Gefühls schafft die Einbildungskraft als »Vermögen Gefühle zum Bewußtseyn zu erheben« (ibid.), eine bestimmte Vorstellung. Fichte beschreibt die Wirkungen der Einbildungskraft im ästhetischen Zustand und deren Bedeutung für die Entwicklung der Selbsttätigkeit des Individuums hinsichtlich der unterschiedlichen Qualitäten der Gefühle, die der Mensch zum Bewusstsein erhebt. Denn sie allein geben den Ausschlag dafür, ob ihn seine Einbildungskraft zu Geist in niederer oder höherer Potenz befähigt. Diese Unterscheidung der graduell unterschiedlichen Ausprägungen der Einbildungskraft resultiert für Fichte aus den verschiedenen Potenzen des Geistes und aus den auf unterschiedlichen Graden der Selbsttätigkeit des Subjekts, die auf die zunehmende Befreiung von der stofflichen Objektivität gerichtet ist. In niederer Potenz bedeutet Geist, sich dem Zwangsgefühl zu überlassen, sich im inneren Unverständnis und in Unfreiheit auf das Hervorbringen von Bewusstseinsinhalten zu beschränken, die lediglich auf die äußere »unter Naturgesetzen stehende Welt der Erscheinungen« (ibid.) zurückzuführen sind, die das »animalische Leben des Menschen« betreffen. Dagegen bedeutet Geist in höherer Potenz das Vermögen, sich selbst gemäß selbst gegebener Regeln »Ideen« und »Ideale« (ibid., p. 321), die sich in Vernunftgefühlen manifestieren, »zum Bewußtseyn zu erheben.« (ibid., p. 318) Für Fichte bezeichnet der ästhetische Zustand »die erste Stufe der Humanität« (I,6, p. 350), weil dieser nicht nur die Selbstreferenz des Individuums herbeiführt, sondern hierdurch auch die Selbstständigkeit, die dem Geist in höherer Potenz zugrunde liegt, vorbereitet. Der durch die Einbildungskraft motivierte ästhetische Trieb ist ein »Trieb um der Vorstellung willen« (ibid., p. 341). Hier ist die Vorstellung »ihr eigener Zweck.« Die
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Vorstellung entlehnt ihren Wert nicht von ihrer Übereinstimmung mit dem Gegenstand, der hier gar nicht ins Spiel gebracht wird, sondern sie hat diesen Wert bereits in sich selbst. Diese Tatsache verweist auf eine interessante Ähnlichkeit zu Sartre (bei Sartre ›Imagination‹): Es wird nicht nach dem Abgebildeten gefragt, sondern nach der freien unabhängigen Form des Bildes. (ibid., p. 342) Im Unterschied zum Naturtrieb, der lediglich auf sinnlichen Genuss aus ist, geht der ästhetische Trieb auf Wissen aus und gehört deshalb zu den höheren Trieben. Anders als der Zwang, der den bloß sinnlich handelnden Menschen an die äußere Welt bindet, ist es der ästhetische Trieb, der das Individuum »in sich selbst hinein[führt], und [...] ihn da einheimisch macht. (Er) reißt (es) loß von der gegebenen Natur, und stellt (es) selbständig für sich allein hin.« (I,5, p. 308) Wir werden später den entsprechenden Begriff Sartres, den der ›Imagination‹ erörtern. Aber bereits jetzt lässt sich sagen, dass Sartres Bestimmung dieses Begriffs ebenfalls die Einschränkung enthält, dass – wie Fichte sagt – die Wirkung des ästhetischen Triebs im ästhetischen Zustand noch nicht als Selbstgesetzgebung wirkt, sondern in Form einer präreflexiven, »ruhigen und absichtslosen Betrachtung der Gegenstände, indes unser Geist [...] nicht über sich wacht.« (GA I,5, p. 308) Für Fichte ist der ästhetische Zustand eine »entweilende, zeitvertreibende und ergötzende Indifferenz mannigfaltiger Gemütsbewegungen egoistischer und sympathetischer Art«, so dass durch die Vorstellung einer »äußere[n] ästhetische[n] Empfindung [...] eine innere ästhetische Empfindung« (I,6, p. 350) entsteht. Da aber die Indifferenz genau dort entsteht, »wo die Grenze des Moments so enge ineinander läuft, dass man es nicht genau unterscheiden kann« (II,3, p. 221), erzeugt sich in dem ästhetisch fühlenden Menschen vielmehr dunkel und affirmativ die Ahnung, dem Zwang der Natur entkommen zu sein und doch das Ziel seiner Vollendung nicht erreicht zu haben. Im ästhetischen Zustand besteht keine Neigung, eine Veränderung eines Objekts außerhalb seiner selbst, im Sinne eines »wirklich hervorzubringenden Weltzustande(s)« anzustreben. (SW XI, p. 167) Die durch den ästhetischen Trieb hervorgerufenen Äußerungen der Einbildungskraft im ästhetischen Zustand verhelfen dem Subjekt in Abhängigkeit von der Gunst der Natur »natürlich u. instinctmäßig« (IV, 2, p. 266) dazu, die Trennung von sinnlicher und intelligibler Welt zu überwinden und es in weiteren Entwicklungsschritten zum Bewusstsein seiner Freiheit zu führen.
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4.3. Rousseau und das ethisch-ästhetische Erziehungsmodell Fichtes Da die Naturphilosophie Rousseaus auf Sartre eine faszinierende Wirkung ausgeübt hat und auch zu Fichtes Erziehungsmodell terminologische Parallelitäten aufweist, soll das Erziehungskonzept Fichtes und Rousseaus nun einem kritischen Vergleich unterzogen werden. Wir werden beide Modelle nach der Rolle der Selbsttätigkeit und der Rolle der Anerkennung zwischen Lehrer und Schüler in ihren Systemen befragen. Dabei wird ans Licht treten, wieso nur bei Fichte die ästhetisch ethische Erziehung praktiziert wird, weil sie anders als bei Rousseau auf die Freiheit des Menschen zielt. Zwar hat auch Rousseau in seinem Erziehungsbegriff die Freiheit verankert, aber eher im Sinne als Befreiung von etwas. Zwar verhilft das Konzept der Rousseauschen Freiheit im naturalistischen Sinne dem Menschen zur Befreiung von Zwängen, aber Grundlage seines Freiheitsbegriffs ist die Philosophie des Empirismus, so dass gezeigt werden kann, inwiefern der Freiheitsbegriff demjenigen Fichtes und auch Sartres diametral widerspricht. Der Begriff ›Erziehung‹ taucht bei Fichte im Kontext seines neuen Gesellschaftsbegriffs in den »Vorlesungen der Bestimmung des Gelehrten« (1794) und in den »Grundlagen des Naturrechts« (1796) zum ersten Mal auf. Nach individualistischer Auffassung empiristischer und naturalistischer Prägung im Sinne Lockes, Humes und Rousseaus, die ihren Ausgang von der Autarkie des Einzelnen nehmen, ist die Gesellschaft etwas Nachträgliches, Abgeleitetes. Das Bestehen des Einzelnen ist nicht wesensnotwendig. Fichte vertritt dagegen die Auffassung, dass der Einzelne ohne Gesellschaft gar nicht gedacht werden kann. Der Schlüsselbegriff ist – wie bereits im theoretischen Teil dieser Arbeit expliziert – die ›Aufforderung‹ des einen Menschen durch den anderen Menschen. Dieser Begriff – als gemeinter Erziehungsbegriff – bekommt nur in der Gemeinschaft von Menschen einen Sinn. Eine kurze Skizze der prozessualen Konstitution des Ich soll noch einmal deutlich machen: Im Rückgriff auf seine Erklärung des Selbstbewusstseins bzw. der Selbstsetzung konstituiert sich das Ich. Das ursprüngliche Selbstbewusstsein ist das praktische Ich oder der Wille. Das praktische Ich setzt sich als bestimmend das Nicht-Ich, die Außenwelt. Als bestimmende Wirksamkeit ist es der Wirksamkeit des Nicht-Ich entgegengesetzt. Da aber – so Fichte – die Wirksamkeit des Nicht-Ich [der Natur] eine notwendige ist, muss die ihm entgegengesetzte Wirksamkeit eine freie sein. Wenn
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das praktische Ich sich setzt, so setzt es sich als freie Tätigkeit. Daher kann sich ein endliches Wesen demnach nicht setzen, ohne sich eine freie Wirksamkeit zuzuschreiben. Jedes Wollen sieht sich, indem sich freie Wirksamkeit und Objekt dieser Wirksamkeit gegenseitig bedingen, auf ein schon vorangegangenes Objekt verwiesen, dessen Setzung in einem bestimmten Moment geschehen muss. Dieser Moment setzt aber einen früheren voraus und führt uns in einen unendlichen Regress. Wir müssen, so Fichtes Erklärung, ein Objekt haben, das in uns den Anfang der freien Wirksamkeit macht. Dieser Anfang unserer freien Tätigkeit ist die Selbstsetzung oder Selbst-bestimmung. Es ist also ein Objekt nötig, das uns zur Selbstbestimmung bestimmt. Dies kann aber nur ein solches Etwas außer uns sein, das selbst einer freien Tätigkeit fähig ist. Also nicht ein Nicht-Ich, denn dieses ist notwendig und nicht frei. Dieses Etwas kann nur dasjenige sein, was den Begriff der Freiheit, d.i. der Vernunft, hat – also ein Ich-Selbst außer uns. Auch in praktischer Hinsicht ist klar: Die Aufforderung zur Selbstbestimmung durch ein Ich außer uns ist schlechthin die notwendige Vorbedingung für unsere Existenz selbst. »Das vernünftige Wesen kann sich nicht setzen als ein solches, es geschehe denn auf dasselbe eine Aufforderung zum freien Handeln. Geschieht aber eine solche Aufforderung zum Handeln auf dasselbe, so muß es notwendig ein vernünftiges Wesen sein.«185 Aus diesen Überlegungen resultiert Fichtes inzwischen legendär gewordener Satz: »Sollen überhaupt Menschen sein, so müssen es mehrere sein.« (ibid., p. 39). Hieraus resultiert der Kerngedanke in Fichtes neuartiger Gesellschaftstheorie: »Die Aufforderung ist das, was man Erziehung nennt. Alle Individuen müssen zu Menschen erzogen werden, außerdem würden sie nicht Menschen.«(ibid.) Für Fichte ist die Gesellschaft ohne Wechselwirkung gar nicht zu denken. Im Gedanken der gegenseitigen Einwirkung jenseits aller Kausalität gibt Fichte der Vertragstheorie ihre positive Bedeutung: Das Wesen der Gesellschaft zeigt sich in der frei benutzten Einwirkung anderer auf uns. Gesellschaft erzieht und vervollkommnet den Einzelnen und die Gesamtheit. »Ich kenne wenige erhabenere Ideen, [...]« heißt es am Ende der zweiten Vorlesung, »als die Idee des
185 Grundlagen des Naturrechts GA III, p. 38.
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allgemeinen Einwirkens des ganzen Menschengeschlechts auf sich selbst.«186 Der Blick auf den Erziehungsbegriff Fichtes zeigt, dass auch hier der zentrale Begriff der Selbsttätigkeit systemtragende Bedeutung hat. »Von außen«, so Fichte »kann die schöpferische Tätigkeit der Seele nicht geformt werden.« (ibid., p. 311) Dass sie von innen geformt werde, ist der Inhalt des Fichteschen Begriffs der Selbsttätigkeit. Damit grenzt er sich explizit gegenüber Seinsgläubigen, d.i. empiristischen Erziehungslehren ab, denn diese bauen auf assoziationspsychologischen Grundlagen auf. Hier kennt man zwar ein »bundle or collection« von Sinneseindrücken, nicht jedoch Bewusstsein noch Ich.187 Rousseau, der geistig völlig auf dem Lockeschen Empirismus aufbaut, sagt in seinem Emile: »Die ersten Fähigkeiten, die uns bilden und vervollkommnen, sind die Sinne. Deshalb sollte man sie auch zuerst pflegen.« 188 Ganz anders Fichte. Ihm zufolge muss zuvor gebildet werden, was die Sinnesempfindung erst möglich macht, d.i. das innere Bewusstsein des Ich. Im Kontext von Selbsttätigkeit als subjektiver Ausgangspunkt des Lernens setzt Fichtes Pädagogik mit dem entscheidenden Begriff der Aufforderung an. Die Aufforderung ist eine vernünftige, d.i. eine innerliche. Sie ist, wie Fichte ausdrücklich betont, eine Einwirkung nicht ursächlich-kausaler Art, sondern geistiger Art. In Analogie zu Platon ist die Gleichsetzung von Aufforderung, Erweckung und Bestimmung zur Selbsttätigkeit das Kernstück der Fichteschen Didaktik. Die Aufforderung zur Selbsttätigkeit steht am Grunde des Bewusstseins und ist seinsbegründender Art. Gleichzeitig ist der Einzelne nur in erschaffender geistiger Gegenseitigkeit möglich, wie wir im ersten Teil unserer Arbeit aufzeigen konnten. Im unterschiedlichen Verständnis des Begriffs der Selbsttätigkeit zeigt sich die deutliche Differenz Fichtes zu Rousseau. Zwar ergibt sich rein äußerlich gesehen zwischen beiden Erziehungsmethoden eine gewisse Parallelität: Die Abneigung gegenüber äußerlich-mechanischen Eingriffen, der Grundsatz der Selbstentwicklung und Selbstentfaltung und das Prinzip
186 Über die Bestimmung des Gelehrten (1794), GA VI, p. 308. 187 Cf. Wolfgang H. Schrader, Empirisches und absolutes Ich, (op. cit.) Stuttgart-Bad Canstatt, 1972 und Ethik und Anthropologie in der englischen Aufklärung. Studien zum Wandel der moral-sense-Theorie von Shaftesbury bis Hume, München 1982. 188 J.J. Rousseau, Emile, Reclam, p. 217.
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des Selbstfindenlassens von wissensmäßigen Einsichten.189 Aber hier besteht eine Übereinstimmung nur dem äußeren Anschein nach. Der genaue Vergleich der philosophischen Grundlagen Rousseaus und Fichtes zeigt den Widerspruch: Fichtes Erkenntnistheorie ist idealistisch, die Rousseaus klassisch empiristisch. Während idealistische Theorien das Ich als Einheit und spontanes Vermögen begründen, lehnen die empiristisch naturalistischen Theorien den Begriff des Ich vollständig ab und bestimmen das Erkennen als passives Aufnehmen von Sinneseindrücken (tabula rasa). Während der Idealismus und später auch der Existenzialismus Sartrescher Prägung den Geist als schöpferische Tätigkeit betrachtet, vertreten Empiristen den Sensualismus. Da aber Rousseau bestimmte eklektische Begriffe hinsichtlich seiner Vorstellung von Selbsterziehung entwickelt, schreibt man ihm auf den ersten Blick eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Idealismus zu. Der Rousseausche Begriff der Selbsterziehung ist aus Fichtescher Blickperspektive sogar doppelt widersinnig, und zwar dann, wenn man wie Locke eben jenes Ich, das sich autark erziehen soll, in seiner Existenz bestreitet. Hier tritt auch der Unterschied Fichtes zu Rousseau offen zutage: Zwar fordern beide eine Erziehung zur Selbsttätigkeit, die sich für Fichte folgerichtig aus dem Begriff der Selbstsetzung ergibt. Bei Rousseau bleibt aber unklar, wie der Mensch aus sich selbst heraus geistig tätig sein könnte. Ein spontanes Bewusstsein (cartesianischer Art), eine schöpferische Urkraft der Persönlichkeit kennt er nicht. Der Menschen soll sich als naturhaft verstandenes Wesen quasi ›natürlich‹ von sich selbst entwickeln.190 Ist die
189 Cf.zu diesem Kontext die Liebesgeschichte von Bernardin de St. Pierre, Paul et Virginie, die rezeptionsästhetisch auf das vorrevolutionäre Frankreich eine starke Faszination ausgeübt hat. Virginie bezahlt die ihr anerzogene Prüderie mit ihrem Leben. Die zuvor von der Natur auf einer Südseeinsel erfahrene Erziehung wird bei Virginie durch die kulturspezifischen ›Dressurakte‹ (Prüderie) von Seiten ihrer adeligen Tante überlagert und führt zum Tod durch Ertrinken, da sie nun – solchermaßen ›konditioniert‹ – nicht gewillt ist, vor der Männerwelt (dem Matrosen, der sie retten will) ihre schweren Kleider abzulegen. Durch diese wird sie aber in die Tiefe der tosenden See hinabgerissen, ihr Körper wird nie gefunden. Tatsächlich wird hier eine Sozialskulptur entwickelt, die die Erziehungsauffassung Rousseaus sehr deutlich widerspiegelt. Vor dem Hintergrund der Analyse Sartres macht die Haltung Virginies deutlich, auf welche Art der interpersonale Bezug des Subjekts durch das Existenzial der Scham determiniert werden kann. 190 Sartre kritisiert an Rousseau, dass er nicht behaupten könne, das unvermittelte Auftreten von Intuitionen der Ursache einer Verschmolzenheit mit der Welt zuzu-
122
Teil 1: Selbstbewusstsein, Intersubjektivität und Ethik bei Sartre und Fichte
Natur des Menschen ein ursprüngliches Vermögen, so muss sie geistig sein und wäre nur ein anderes Wort für Fichtes Begriff des Ich. Ist sie aber ein Versammlungsort von Umwelteindrücken, ein Sinnending, dann ist sie kein ursprüngliches Vermögen und vermag auch nicht, sich aus sich selbst heraus zu entwickeln. Dieser Widerspruch zieht sich durch die gesamte Erziehungslehre Rousseaus. Der Gedanke der natürlichen Selbstentwicklung ist unhaltbar. Auch Sartre wendet sich dem von Rousseau intendierten Freiheitsbegriff zu und kommt zu der Feststellung: »Il ne faut pas croire [...] quʹune morale du »laisser – faire « et de la tolérance respecterait davantage la liberté dʹautrui.«191 Fichtes Sympathie für Rousseau führt genauso wenig zur Übernahme seiner Gedanken wie später diejenige Sartres. Wenn es nämlich – wie bei Rousseau – kein Inneres gibt, das sich aus sich selbst entwickeln könnte, dann ist auch jede Leitung sinnlos, die sich auf die Bewahrung und den äußeren Schutz der Selbstentwicklung zu beschränken hätte. »Aufforderung« steht gegen »Leitung«. Aufforderung (als Wirkung) ist sinnvoll, weil sie sich an das Ich wendet, das diese zu empfangen (als Gegenwirkung) und dann in Form einer Antwort aus sich heraus selbsttätig zu werden vermag. Leitung ist sinnlos, weil sie kein Ich kennt, weil sie nichts zu leiten vermag, das sich aus sich selbst entwickeln könnte.192 Die Ähnlichkeit beider Denker ist daher im Wesentlichen terminologisch, denn Rousseau operiert mit idealistischen Begriffen, obgleich er das Gedankengut des Empirismus vertritt. Fichte dazu: »Wenn der Knabe durch Verwunderung und genommenen Anstoß und Nachdenken den Strom des bloßen Wahrnehmens unterbricht, und die Lösung dieser Fragen [...] ihn hineintreibt
schreiben: »cela ne signifie point, comme Rousseau veut lʹadmettre, quʹil y ait fusion de la conscience avec le monde. [...] Lʹimmédiateté est lʹabsence de tout médiateur.« EN, pp. 213-214. Deutsch: Man soll nur nicht glauben, eine Moral des laisser – faire und der Toleranz respektierten die Freiheit des Anderen stärker. [...] das bedeutet nicht, wie Rousseau dies vorgeben will, dass es eine Verschmelzung des Bewusstseins mit der Welt gibt[...] die Unmittelbarkeit ist die Abwesenheit jeglicher Vermittlung. 191 Sartre inédit, »Morale Et Histoire«, in: Les Temps Modernes, 10, 2005, p. 401. 192 Cf. Noch einmal Bernardin de St. Pierre: Die als Bestätigung der Erziehungslehre Rousseaus gedachte Kulturkritik in seinem Roman lässt sich aufgrund des fatalen Endes auch als kritische Schrift im Sinne des idealistischen Erziehungsgedankens interpretieren.
4. Die theoretischen Grundlagen der Ethik und Ästhetik bei Fichte und Sartre 123
in sich selbst: Da beginnt schon ein inneres Selbst in ihm zu erwachen.« 193 Aus diesem Sachverhalt ergibt sich als Grundprinzip der Fichteschen Didaktik die Erweckung der Selbsttätigkeit. Sartres Formulierungen klingen ähnlich: Eine strenge Erziehung behandelt das Kind als Instrument, weil es versucht, dem Kind mit den Mitteln der Machtausübung Werte aufzuzwingen, die es nicht anerkannt hat. Jede Art der intentionalen Einwirkung verletzt die Freiheit des Kindes, selbst wenn vorgegeben wird, sie zu respektieren: »Traiter lʹenfant par persuasion et douceur, ce nʹen est pas moins le contraindre. [...] Lʹattidude extrême qui se donnerait comme totale indifférence en face de lʹautre nʹest pas non plus une solution.«194 Sartre ist daher überzeugt, dass »[...] lʹenfant reçoit lʹéthique comme suite des normes idéales. En tant que le père les lui reflète sans lui en montrer le sens.«195
193 GA XI, p. 196. 194 Deutsch: Das Kind mit Überzeugung und Zartheit zu behandeln, heißt nicht weniger, ihm Zwang anzutun. [...] Die extreme Haltung, die sich als völlige Indifferenz dem Anderen gegenüber gäbe, ist auch keine Lösung. EN, op. cit. p. 480. 195 Sartre inédit, »Morale Et Histoire«, op. cit., p. 401. Deutsch: das Kind empfängt die Ethik als Folge idealer Normen. Und zwar auf die Weise, dass der Vater sie ihm widerspiegelt, ohne ihm den Sinn zu zeigen.
Teil 2: Sartres Ästhetik und Ethik Während Fichtes Ästhetikkonzept wesentlich auf der von ihm so bestimmten »Einbildungskraft« als ästhetisches Vermögen basiert1, bestimmt Sartre dieses ästhetische Vermögen, indem er im Kontext seines Literaturkunstschaffens von der Wirkung der »Imagination« spricht, was von uns im 1. Kapitel dieses Teils detailliert untersucht werden soll. Bei Sartre findet sich demnach ähnlich wie bei Fichte ein konstitutiver Wechselbezug von Ästhetik und Ethik, der bei Sartre ebenfalls als Begriff der Imagination vermögenstheoretisch verankert ist. Fichte macht im ›Entwurf des Lebens‹ mit der Kunst den Anfang2 und bestimmt die Einbildungskraft als Gefühl und damit als Grund des Realitätsbewusstseins. Auch für Sartre kann geltend gemacht werden, dass er die Grundbestimmungen seiner Philosophie von einer anders gestalteten, aber ebenfalls vermögenstheoretischen Betrachtung aus vollzieht.3 Indem Fichte nicht nur die Tätigkeiten des Schöpfers der schönen Kunst, sondern generell alle Tätigkeiten der Menschen als künstlerisch durchwoben betrachtet, schreibt er der Kunst die Rolle des Vermittlers zwischen theoretischer und praktischer Vernunft, Sinnlichkeit und Vernunft sowie Sinnenwelt und intelligibler Welt zu.4 Diese Leistung der Ästhetik kann daher nicht ohne Selbtobjektivation des
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2 3
Ruth Pouvreau, »Die Deutung des Nicht-Ich als Produkt der Einbildungskraft des Ich: Johann Gottlieb Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, 17941795.« Heft II/1, Schöpferische Weltbetrachtung. Zum Verhältnis von Einbildung und Erkenntnis in Texten der deutschen Romantik, Amsterdam and New York 2002, pp. 65-81. Cf. Georg Tempel, Fichtes Stellung zur Kunst, Metz 1901, p. 143. Cf. Michel Sicard, »Le miroir et les labyrinthes, Sartre et les arts plastiques«, in: Bibliothèque Nationale, Sartre, Paris 2005, p. 202, »Lʹœuvre de Sartre affiche la dimension esthétique dès le départ. [...] Avant de poser la question de la beauté, cʹest une mise à plat transcendantale des conditions de la représentation.« Deutsch: Das Werk Sartres zeigt die ästhetische Dimension schon gleich seit seinem Anfang. [...] Vor der Frage nach dem Schönen werden die transzendendentalen Bedingungen der Vorstellung dargelegt.
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Teil 2: Sartres Ästhetik und Ethik
Individuums gedacht werden.5 Daher ist einsichtig, dass Fichtes Anthropologie von der Endlichkeit des Menschen als Vernunftwesen ausgeht, die als solche die Gestalt der Endlichkeit trägt, die er in Form seiner abgegrenzten Individualität empfängt, und zwar durch seine Natur als Sinnenwesen. Eine aus der sinnlichen Verfasstheit des Menschen heraus sich selbst bestimmten Verfasstheit des Menschen entspricht eine Existenzform, deren entsprechender Lebenswille folglich ausgeht auf die Erhaltung und Förderung des individuell sinnlichen Daseins, aber auch das anderer, sofern sich dadurch der Lebensgenuss des eigenen Daseins steigern lässt. Aber eine dem sinnlichen Dasein verschriebene Kunst und Künstelerexistenz wäre demzufolge eine, zu der sich der Mensch zufolge eines eigenwillig gefassten Vorsatzes bestimmt, deren Zweck eindeutig egoistischer Natur wäre. Kunst und Künstlertum beruhen jedoch in eigentlichem Sinne nicht auf dem subjektiven Vorsatz des Menschen, sondern haben ihre Wurzeln im Überindividuellen des Menschen, in dem, was seine ihn über seine sinnlich bestimmte Endlichkeit hinaus als Vernunftwesen charakterisiert. In seiner Schrift Ueber Geist und Buchtstab in der Philosophie verdeutlicht Fichte seinen Gedanken, dass der schöpferische Geist »auf die Entwicklung eines Innern in dem Menschen, des Triebes (geht) und zwar eines Triebes, der ihm als Intelligenz über die ganze Sinnenwelt erhebt, und von dem Einflusse derselben losreisst.«6 Triebe sind nicht allein auf die Natur
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In seinem Aufsatz »Über die Pflichten des ästhetischen Künstlers. Der §31 des Systems der Sittenlehre im Kontext von Fichtes Philosophie der Ästhetik«, stellt Traub nicht nur die systemtragende Funktion des Ästhetischen in Fichtes Philosophie heraus, sondern gelangt zu der Auffassung, dass der insgesamt konstitutivkonstruktive Grundzug des Ästhetischen sich durch die gesamte Philosophie Fichtes zieht. In: Fichte-Studien Bd 27, Die Sittenlehre Fichtes 1798 -1812, hg. von Christoph Asmuth u. Wilhelm Metz, Amsterdam, New York 2006, p. 55. Luigi Pareyson »Il fatto solo dʹaver inserito lʹestetic à nel cuore stesso dellʹessenziale praticità dello spirito finito [...] prepara un ulteriore approfondimento dellʹateoreticità della sfera estetica: la conoscenza è attività perifica dello spirito, la cui intima essenza è invece la praticità.« In: Lʹestetica di Fichte, Milano 1997, p. 106. Deutsch: Nur die Tatsache, die Ästhetik genau im Herzen der wesentlichen Ausübung des endlichen Geistes eingefügt zu haben, [...] bereitet eine weiterführende Vertiefung der A-theoretizität der ästhetischen Sphäre vor: das Bewusstsein ist periphere Aktivität des Geistes, dessen intimes Weses ist dagegen dessen praktische Dimension. Cf. I, 6, p. 354.
Teil 2: Sartres Ästhetik und Ethik
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des Menschen als sinnliches Wesen bezogen, sondern Fichte nimmt hier eine kategoriale Ordnung des Triebhaften vor, in der die sinnlichen Triebe nur einen Bereich des menschlichen Daseins bestimmen. Es handelt sich um die Systemetik des ästhetischen, des praktischen und des theoretischen Triebes.7 Moral und Kunst schöpfen aus derselben Quelle, sie verfolgen denselben Zweck und unterscheiden sich nur im Weg der Vermittlung von beidem. Daher führt Fichte in der Person des Künstlers beide Blickperspektiven zusammen, um zu fordern, dass der Künstler in seiner besonderen Pflicht, dem Ideal zu folgen, nicht nur seiner Berufsethik folgt, das Schöne darzustellen, sondern auch die Vervollkommnung seiner selbst als Mensch betreibt. Die Aufforderung an den Künstler, sein Talent der Darstellung des Ideals der Schönheit zu widmen, ist nichts anderes als die ästhetisch gewendete sittliche Pflicht der Förderung der »Selbsttätigkeit der Vernunft«, die für Fichte als Harmonie aller Seelenkräfte das transzendentale Korrelat des Ideals der Schönheit darstellt. Sartre überschreitet diese Fichtesche Bestimmung der Ästhetik, indem er ähnlich der im oben genannten Teil erläuterten Position Schillers eine historisch-soziale Blickperspektive wählt und die Funktionalität der Ästhetik bezogen auf Kunstwerk und Künstler unter den ethischen Begriff des ›engagement‹ bringt. Zwar stellen sich Kunst und Künstler für Fichte unter ähnlicher Blickperspektive dar, da sie bei beiden die Bedeutung der Kultivierung des Individuums als auch der Menschheit tragen. Allerdings verortet Fichte den ästhetischen Trieb in seiner praktischer Philosophie pädagogisch, denn die Kunst hat keinerlei Selbstzweck, sondern ist als Redekunst – von Fichte den ›schönen Künsten‹ zugeordnet – in diesem Sinne von höherem Rang als die anderen Künste. Für Sartre ist dagegen evident, dass, sofern literarische Texte immer in einem vielfältigen literarischen, sozialen und historischen Traditionszusammenhang stehen, sie adäquat also nur in ihrem Bezug auf diese Kontexte gewertet werden kön-
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Fichtes Practische Philosophie entfaltet eine ausgefeilte Systematik der Triebvielfalt, die jenseits des Physischen das Triebhafte im Theoretischen als »Verstandestrieb« (II,3, p. 238, als »Trieb nach Wahrheit, Einheit und Zusammenhang« (ibid., p. 216); im Ästhetischen als »Schönheitstrieb« (Ibid., p. 216); im Interpersonalen als »Mitteilungs-und Geselligkeitstrieb« (Ibid., p. 233 u. 238), als »Trieb nach gleichgesinnten Wesen« (ibid., p. 319) und im Religiösen als »Trieb, Gott zu entdecken« (ibid., p. 238) konkretisiert. Der Antrieb, auf dem echtes Künstlertum beruht, ist nicht physischer oder materieller Natur.
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Teil 2: Sartres Ästhetik und Ethik
nen. Damit ist der Unterschied zu Fichte klargemacht, denn Sartre weitet die Möglichkeiten der Ästhetik wesentlich stärker aus als Fichte, für den Ästhetik in Form der Redekunst hauptsächlich pädagogische Funktion innehat. Um Sartres Werke zu verstehen, müssen die Teiloperationen literarischen Verstehens und literarischer Wertung darauf ausgerichtet sein, den im ästhetischen Erlebnis erfahrenen Bedeutungszusammenhang von Kunst nachzuvollziehen und die durch die Kunst geleistete Verwandlung von praktischen in ästhetische Einstellungen zu realisieren. Im Vergnügen am Werk wird dabei – wie Sartre es formuliert – »das Gegebene in einen Imperativ und das Gemachte in einen Wert«8 verändert. Die literarische Wertungsdiskussion stellt die erzieherische Bedeutung von Kunst und Wertung in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung. In Sartres Werken lässt sich diese Position aus dieser sinnerschließenden Kraft seiner Literatur herauslesen. Denn die literarische Bedeutungskonstitution von Literatur ist, wie Ingarden es treffend formuliert, »[...] einerseits die Bereicherung der dem Menschen zugehörigen Welt um spezifische, durch nichts zu ersetzende Werte, andererseits auch die Bereicherung des menschlichen Lebens um eine Erfahrungsart, welche den Zugang zu jenen Werten eröffnet, und endlich auch dem Menschen selbst eine Fähigkeit verleiht, die u.a. zu seiner Konstituierung als menschliche Person wesentlich gehört.«9 Wie verschieden auch die humane Bedeutung der Kunst im einzelnen begründet sein mag – im Hinweis auf ihren Spiel- und Festcharakter10, im Hinweis auf die ästhetische Wahrnehmungsform oder auf die Literatur als Darstellung des Wahren, Guten, Schönen -, es ist, so Sartre, die »Erkenntnis eines transzendenten [...] Zwecks, der vorübergehend den utilitaristischen Schwall von Zweckmitteln und Mittelzwecken aufhebt«11, die den Eigenwert der Kunst anstelle ihrer Nützlichkeit für soziale Kontexte betont. Vor diesem Hintergrund wird der Begriff des ›engagement‹ von Sartre mit der Unterscheidung in engagierte und nicht-engagierte Literatur zum
8 J-P Sartre, Was ist Literatur?, Hamburg 1958, p. 38. 9 R. Ingarden, Das literarische Kunstwerk, Tübingen 1960, p. 221. 10 Cf. H.G. Gadamer, Die Aktualität des Schönen, Stuttgart 1977; ders.: Wahrheit und Methode, Tübingen 1975. 11 J-P Sartre, Was ist Literatur?, op. cit., p. 37.
Teil 2: Sartres Ästhetik und Ethik
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Kriterium für jedes Schreiben und für jede Literaturgeschichte bestimmt. Seine Literaturtheorie, besonders in Quʹest-ce que la littérature? ist immer noch Grundlage solcher Literaturtheorien, die in Negation der Tradition und gewollter Opposition gegenüber normativer sozialer Vorgaben eine Form von literarischer Kunst schafft. Adornos Theorie der künstlerischen Moderne, seine »Kunst des fortschrittlichen Bewußtseins« und der »avanciertesten Verfahrensweisen«12, zeigt deutliche terminologische Ähnlichkeit zu Sartre. Die Sichtweise Sartres hat zu der Bewertung von Literatur geführt, die sie als Funktion in konkreten individuellen, gesellschaftlichen und situativen Lebensbezügen haben kann. Die dadurch erfolgte rezeptionsästhetische Blickperspektive auf die Literatur führt zu einer Form der Textanalyse, die nicht auf den Kunstwert, sondern auf den Kommunikations-, Funktions- und Gebrauchswert von Literatur abzielt. Auch hier zeigen sich Impulse Sartres, wenn es in der literaturkritischen Moderne um integrative Wertungsmethoden wie sprachbezogene, kritische, soziologisch-historische, psychologische und rezeptionsanalytische geht.13 1. Sartres Bestimmung der Einbildungskraft Sartre entwickelt in seiner Studie zur Einbildungskraft »LʹImaginaire« (1940) Ansätze einer phänomenologischen Ästhetik, nachdem er mit »La transcendance de lʹEgo« (1936) bereits unmittelbar darauf eine phänomenologisch fundierte Theorie der Einbildungskraft konzipiert hatte. »Lʹimagination« (1936) bildet indessen nur den ersten historisch-kritischen Teil des Werkes »LʹImaginaire«, das ursprünglich »LʹImage« bzw. »Les mondes imaginaires« heißen sollte. Der zweite und für Sartres Theorie des Imaginären entscheidende Teil erscheint vier Jahre später und stellt unter dem Titel »LʹImaginaire« den Versuch einer psychologischen Theorie dar. Im Schlusskapitel deutet Sartre an, wie man sich eine Ästhetik vorzustellen hätte, die auf seiner Theorie der Imagination und des Imaginären aufbaut.14
12 Th.W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt 1970, p. 57. 13 In unseren verschiedenen Zusatzbemerkungen versucht diese Arbeit aufzuzeigen, wie die kunst- und literaturästhetischen Impulse Sartres besonders auch in anderen Disziplinen weitreichende Forschungsinitiativen hervorgebracht hat. 14 Der erste Teil von LʹImaginaire erschien 1938 unter dem Titel Structure intentionelle de lʹimage in der Revue de métaphysique de morale. Parallel zu seinen früheren
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Teil 2: Sartres Ästhetik und Ethik
Um zu zeigen, wie Sartre seine Explikation der Ästhetik innerhalb seiner Theorie des Bewusstseins verankert, werden wir im Folgenden eine Rekonstruktion seiner Deduktionsschritte vornehmen. Point de départ ist Sartres Bestimmung des Kunstwerks als etwas Irreales, da es als solches den Mechanismen der Imagination unterliegt. Husserls Begriff der Intentionalität und Heideggers ›In-der -Welt-sein‹ wird bei Sartre zum »sʹéclater-conscience-dans-le-monde.« Fortan bedeutet ›conscience‹ einen explosiven Prozess zwischen erlebendem Subjekt und erlebtem Objekt, in dem Erleben und Erlebtes, Noesis und Noema, notwendig zueinander in ein korrelatives Verhältnis treten: »Toute conscience est conscience de quelque chose.«15 Die Imagination als Vorstellungsart benennt Sartre mit dem Begriff »conscience imaginante.«16 Sie nähert sich dem Gegenstand als »quasi observation.« Tatsächlich aber ist ihr der imaginierte Gegenstand von Anfang an bekannt. »Or, je peux garder aussi longtemps que je veux une image sous ma vue: je nʹy trouverai jamais que ce que jʹyai mis.«17 Analog dazu ersetzt Sartre den herkömmlichen Begriff ›perception‹ (Wahrnehmung) durch »conscience réalisante« (Wahrnehmung im Sinne des Realitätsbewusstseins), womit ein beobachtendes Abtasten, quasi Abscannen des Gegenstands gemeint ist, das selbst kein Ende findet wegen der »Abschattungen.« Vorstellung und Wahrnehmung sind hier zwei verschiedene Modi eines aktiven, transzendentalen Bewusstseins. Der Mechanismus der »quasi-observation«, der für die ästhetische Bedeutung der Imagination entscheidend ist, nährt sich – ähnlich wie bei Fichte – aus dem Zusammenspiel von »Intention« und »Savoir.« Die Intention visiert ein bestimmtes Objekt an, sie konstituiert es dabei als das,
theoretischen Essais arbeitet Sartre an seinem ersten Roman La nausée (1938), der in vielerlei Hinsicht Motive seiner Imaginationstheorie aufgreift. In die Zeit zwischen der Veröffentlichung von LʹImagination und LʹImaginaire fällt Sartres intensive Arbeit an seinem Manuskript Psyché, von dem bis heute nur ein kleines Fragment bekannt ist: Esquisse dʹune théorie des émotions. 15 Sartre, Lʹimaginaire. Psychologie phénoménologique de lʹimagination, Paris 1940, dt.: Das Imaginäre. Phänomenologische Psychologie der Einbildungskraft. (Mit einem Beitrag »Sartre über Sartre«), Übers. von Hans Schöneberg, Reinbek 1971. 16 Das Verbaladjektiv betont den prozessualen Charakter des Bewusstseins 17 Sartre, Lʹimaginaire, op. cit., p. 22. Deutsch: Aber ich kann so lange, wie ich will, das Bild vor meine Betrachtung stellen, nie werde ich dasjenige dort finden, was ich dort hineingelgt habe.
1. Sartres Bestimmung der Einbildungskraft
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was es ist. Zugleich liefert das Wissen alle näheren Bestimmungen. Intention und Wissen bilden den Einsatz des Subjekts, der ein Vorstellungsobjekt entstehen lässt. Der Imaginationsvorgang wird damit von einer völlig immanenten Bewegung getragen. Durch den subjektiven Einsatz von Intention und Wissen konstituiert sich das Vorstellungsobjekt und zugleich entsteht gerade dadurch das Bewusstsein von ihm. »Constituer en soi une certaine conscience de la table comme image, cʹest du même coup constituer la table comme objet dʹune conscience imaginante.«18 Sartres transzendentalphänomenologische Analyse enthält hier zwei wichtige Differenzierungen. Zum einen unterscheiden sich Vorstellung und Wahrnehmung dahingehend, wie sie das Objekt in einem spezifischen »acte positionnel«19 setzen. Während die »conscience réalisante« ihren Gegenstand positiv, d.i. schlicht als existent setzt, ist diese Setzung im Fall der »conscience imaginante« durchgehend negativ. Die Objektsetzung der »conscience imaginante« beschreibt stets ein gewisses Nichts, denn das Objekt ist ja nicht da. »Si vive, si touchant, si forte que soit une image, elle donne son objet comme nʹétant pas.«20 Von dieser Negativität des imaginierten Gegenstandes haben wir als Imaginierende ein intuitives Bewusstsein (conscience imaginante et non-thétique) Es handelt sich um ein untergründiges und allenfalls pathologisch zu verdrängendes Wissen um den transzendentalen Status des Bewusstseinsobjekts während der Konstitution dieses Objekts selbst. Zum anderen, und dies ist das zweite Moment in Sartres Deduktion, erleben wir gerade durch das nicht-thetische Bewusstsein, das die »conscience imaginante« begleitet, diese selbst als kreative Spontaneität, die das Objekt als Bild konserviert. Im (dumpfen) Licht des nicht-thetischen Bewusstseins erscheint uns die »conscience imaginante« als »passivité.« Damit aber Imagination überhaupt sein kann, nämlich aufgrund der Negativität ihres Gegenstandes, muss Wirklichkeit vorhanden sein, und zwar in Form von Analogie. Das Analogon ist als ein Element der Realität quasi das Material, mit dem die Imagination ihre Welt aufbaut. Der Akt
18 Deutsch: In sich ein gewisses Bewusstsein vom Tisch als Bild zu konstituieren, heißt, zugleich auf einen Schlag den Tisch als Objekt eines Imaginationsbewusstseins zu konstituieren. Ibid., op. cit. 19 Deutsch: Das Bild kann noch so lebendig, so rührend, so stark sein, es gibt sein Objekt als nicht seiend. Ibid., op. cit., p. 24. 20 Ibid., op. cit., p. 26.
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Teil 2: Sartres Ästhetik und Ethik
der Imagination zielt darauf, einen abwesenden oder inexistenten Gegenstand als Objekt des Bewusstseins zu konstituieren, ihn trotz seiner Abwesenheit bzw. Inexistenz zu vergegenwärtigen (= rendre présent). Das Analogon muss aber nicht – wie im Fall der Photographie – physische Materialität haben, sondern kann auch psychischer Natur sein. Dabei gilt die Regel: Die Materialität des Analogons wird nicht selbst zum Gegenstand eines Bewusstseins gemacht, sondern vielmehr in ein Bewusstsein integriert, dessen Gegenstand erst durch die imaginative Funktionalisierung dieser Materialität entsteht. Sartre folgert daraus, dass der Vorstellungsakt in seiner Intentionalität auf einen abwesenden oder inexistenziellen Gegenstand gerichtet ist: »la conscience imaginante pose son objet comme un néant.«21 Im Einzelnen lässt sich dieser Prozess wie folgt charakterisieren: Als eine Negation ist das Objekt der Vorstellung nicht zu vergegenwärtigen. Die Vorstellung bedient sich deshalb des Analogons (= conscience physique ou psychique). Entscheidend ist, dass wir dieses Analogon nicht als Gegenstand für sich betrachten, sondern als Mittel brauchen, um den Gegenstand, auf den unsere Intention eigentlich gerichtet ist, trotz seiner Abwesenheit als gegenwärtig erscheinen zu lassen. Gelingt dies, so entsteht als Mittelpunkt dieses Vorgangs ein imaginäres Objekt, das nichts anderes ist als das konkrete Bewusstsein, das wir mittels unserer Imagination von einem abwesenden oder inexistenten Gegenstand haben können. 1.1. Der Begriff des Kunstwerks Sartre zufolge ist das Kunstwerk par excellence ein Irreales, d.i. jenes imaginäre Objekt als das Ergebnis imaginativer Bewusstseinsakte. Deswegen ist das ästhetische Objekt nicht selbst der Gegenstand, sondern dasjenige, was sich hinter dem realen Gegenstand verbirgt und erst noch durch den imaginativen Bewusstseinsakt ans Licht gebracht werden muss. Das ästhetrische Objekt zeigt sich dem vorstellenden Bewusstsein erst dann, wenn das Bewusstsein des Betrachters sich durch radikale Wende zum Imaginären bekehrt, sprich zur »conscience imaginante« wird. Erst im imaginativen Bewusstsein vom Kunstwerk entsteht das ästhetische Objekt. Besser
21 Deutsch: Das Imaginationsbewusstsein setzt seinen Gegenstand als Nichts. Ibid., op. cit.
1. Sartres Bestimmung der Einbildungskraft
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heißt es aber »erscheint« das ästhetische Objekt, was Sartre gewollt als Anspielung auf das Magische dieses Vorgangs bezieht: »lʹacte dʹimagination est un acte magique.«22 Das ästhetische Objekt kommt dann zum Vorschein, wenn es in einer radikalen Wende für eine »néantisation du monde« sorgt, denn der Geist erscheint erst in dem Augenblick, da die Gesetze der realen Welt aufgehoben sind. Das Kunstwerk als ästhetisches Objekt enthält noch eine weitere Unterscheidung, die erst im ästhetischen Bereich ihre volle Bedeutung erreicht. Gemeint sind das reale Analogon (das Kunstwerk) und das irreale Bewusstseinsobjekt (das ästhetische Objekt). Das Kunstwerk spielt die Rolle, die dem Analogon im vorstellenden Bewusstsein zukommt. Es dient als Mittler zwischen den Sphären des Realen und Imaginären. Das ästhetisch imaginative Bewusstsein (kurz: die ästhetische Wahrnehmung oder Rezeption) ist nicht auf das Kunstwerk gerichtet, sondern auf ein irreales ästhetisches Objekt, das es auf der Basis des Kunstwerks konstituiert. Die Konstitution des ästhetischen Objekts wird durch die rein sinnliche Wahrnehmung der materiellen Beschaffenheit des Kunstwerks behindert, weil der Schein des ästhetischen Objekts der Haltung der »conscience réalisante« widerstrebt. Dem Kunstwerk gegenüber muss das Subjekt daher die Haltung einer »conscience imaginante« einnehmen, d.i. ein sich Abkehren vom Realen, ein radikales sich Hinwenden zum Imaginären.23 Nur gegenüber einer »attitude imaginante« gibt sich das Kunstwerk als ästhetisches Objekt. Nur so entwickelt es seinen ästhetischen Schein. Ästhetischer Schein bzw. Schönheit ist mithin keine Eigenschaft des Kunstwerks, sondern eine Eigenschaft des ästhetischen Objekts, was ja dadurch entsteht, dass wir das Kunstwerk in einem Akt des Bewusstseins irrealisieren: »le réel nʹest jamais beau.«24 Wenn man z.B. Schwierigkeiten hat, ein abstraktes Kunstwerk zu erleben, so liegt es daran, dass es einem nicht gelingt, anhand abstrakter Analoga ein ästhetisches Objekt erscheinen zu lassen.25 Es bedarf
22 Ibid., op. cit., p. 161. 23 Erst wenn ich z.B. die mit Farbe beschmierte Leinwand als Analogon gebrauche, um die radikale Wende zu vollziehen, kann ein Bewusstsein vom ästhetischen Objekt, d.i. ein ästhetisches Bewusstsein vom Kunstwerk entstehen. 24 Ibid., op. cit., p. 245. 25 Wenn man z.B. ein Mozart-Konzert als Lärm auffasst. Eine Trennung zwischen Analogon und ästhetischem Objekt spüren wir, wenn wir in unserem Kunsterle-
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Teil 2: Sartres Ästhetik und Ethik
eines realen Analogons, um kreative Spontaneität freizusetzen, aber es ist nicht fähig, diese Spontaneität von sich aus aufzubringen. Das Kunstwerk ist ein lebloses Ding, das davon träumt, durch einen imaginativen Impuls des Rezipienten von seinem Dingsein erlöst zu werden und im Reich des Imaginären ein Eigenleben als ästhetisches Objekt zu führen.26 Das Kunstwerk führt also im Imaginären kein tatsächliches Eigenleben, denn im ästhetischen Objekt steckt nur das, was der Rezipient ihm injiziert. Wir verhalten uns freilich dem ästhetischen Objekt gegenüber so, als ob es Autonomie besäße, als ob es etwas Fremdes wäre, als ob es ein reales Objekt wäre. Diese Als-Ob-Haltung ist der Motor im Akt ästhetischer Rezeption. Sein nicht-thetisches Bewusstsein informiert ihn über den irrealen Status des ästhetischen Objekts. Was wir als Reaktionen auf ein irreales Objekt erleben, sind deshalb gar keine Reaktionen auf das irreale Objekt, sondern Reaktionen auf die Konstitution dieses Objekts. Diese Reaktionen können die Konstitution des irrealen Objekts soweit beeinflussen, dass sie schließlich selbst zum Bestandteil dessen werden was das irreale Objekt konstituiert.27 Die Energie, deren das Kunstwerk bedarf, um sich in ein ästhetisches Objekt zu verwandeln, steckt im ästhetischen Genuss.28 Ein Bild kann nach Sartre noch so betroffen machen, es gibt sein Objekt immer als nicht seiend, denn der Versuch, die Irrealität des ästhetischen Objekts zu überwinden, erzeugt eine spezifische Spannung zwischen der intentionalen Geste des »rendre présent« und der fundamentalen Absenz des Gegenstandes, den diese Geste beschwört. Diese Spannung
ben während eines Konzerts durch ein Geräusch gestört werden. Etwas zerfällt (der Schein des ästhetischen Objekts und damit unser ästhetisches Vergnügen) und etwas bleibt übrig, z.B. unbestimmt wahrgenommene Einzeltöne (Analoga), die wir nicht mehr zu einer Melodie synthetisieren können. 26 Wir finden hier eine Affinität zu Theodor Lipps Einfühlungstheorie und Herders legendärer Theorie vom Zustand des Schwebens. 27 Der ästhetische Genuss ist selbst eine derartige Reaktion. Damit reagieren wir nicht auf ein bereits konstituiertes ästhetisches Objekt, sondern mit ästhetischem Genuss erleben wir Vorgänge, durch die wir das ästhetische Objekt konstituieren. Die physischen Vorgänge, die wir als »jouissance esthétique« erleben, tragen selbst zum Entstehen des ästhetischen Gegenstandes bei. 28 Hier unterscheidet sich Sartre von Merleau-Ponty. Dieser sieht die konstituierenden Funktionen nicht in der Vorstellung, sonder in der Wahrnehmung des ästhetischen Objekts.
1. Sartres Bestimmung der Einbildungskraft
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besitzt ihrerseits konstitutive Funktion für das Imaginäre, weil durch die schwindelnde Bewegung von Präsenz und Absenz ein Vakuum entsteht, in dem die Gesetze der Realität außer Kraft gesetzt werden und die Formen des Imaginären sich entfalten: »el sueño de la realidad produce imágenes.«29Angesichts der grundlegenden Negativität seines Gegenstandes ist das ästhetische Bewusstsein eine immanente Bewegung, die bis in ihre physiologische Dimension hinein quasi-observation bleibt, ihren Gegenstand selbst entwirft und darunter leidet, dass dieser sich allen magischen Anstrengungen zum Trotz jeglichem sinnlichen Zugriff entzieht. Den Schritt vom sinnlich erfahrbaren Analogon zum irrealen Objekt ästhetischen Genusses erleben wir als »une sorte de recul«, 30 als einen Rückzug aus der Sphäre, die wir sinnlich beherrschen. Das Alltagsobjekt wird zum Analogon seiner selbst als ästhetisches Objekt. Die ästhetische Kontemplation drängt die lebensweltliche Dimension in den Hintergrund und gibt das Objekt zur Ästhetisierung frei. Dadurch entzieht sich das Alltagobjekt plötzlich unserem sinnlichen Zugriff. Das ästhetisierte Alltagsobjekt kann uns nur dann wie unberührbar vorkommen, wenn wir auch nach seiner Irrealisierung noch einen sinnlichen Kontakt zu ihm suchen. Die ›Recul‹ Erfahrung ist nur deswegen möglich, weil wir uns nicht zufrieden geben wollen mit der Negativität des imaginierten Gegenstandes. Daher enden unsere sinnlichen Ambitionen stets im Analogon, denn gerade in dem Moment, da wir das Imaginäre zu greifen meinen, zerfällt es ent-täuschend in seine realen Bestandteile. Weil sie also im ästhetischen Objekt nichts Greifbares findet, woran sie sich erfüllen könnte, muss unsere Neigung für das ästhetische Objekt Desinteres-
29 »Sueños, imaginación, creación, son hechos inherentes al pensamiento individual y los cuales el hombre debe asumir y centrar su ateción para luego universalizarlos. Recordemos que todo lo que el hombre ha hecho y deshecho, creado y recreado es producto de su imaginación, de sus sueños [...]. Incluso, su propia vida es producto de su imaginación.« In: González Colville, Marcelo, La vida humana de José Ortega y Gasset, Navarra, Pamplona, España, 1985, p. 38 sq. Deutsch: Träume, Imaginationen, Kreationen sind Tatasachen, die dem individuellen Denken inhärent sind und welche der Mensch auf sich nehmen und worauf er seine Aufmerksamkeit konzentrieren muss durch dessen Verallgemeinerung. Erinnern wir uns, dass alles, was der Mensch tatsächlich und nicht-tatsächlich hat, kreiert und rekreiert, Produkt seiner Imagination ist, seiner zahlreichen Träume, [...]. Darin eingeschlossen ist sein eigenes Leben Produkt seiner Imagination. 30 Ibid., op. cit., p. 245.
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se bleiben. Im Gegensatz zu Kants erhabener Interesselosigkeit handelt es sich bei Sartre um ein unfreiwilliges Desinteresse, das einer Enttäuschung durch das Analogon aus dem Weg geht. Es ist das Desinteresse, in dem der Verlust der Sinnlichkeit schmerzlich nachklingt. Unser ästhetisches Verhalten ist ein magisches Verhalten und der darin eingeschlossene Imaginationsakt ein »acte de croyance«31, nämlich der Entwurf eines imaginären Objekts. Unsere sinnliche Bewegung, die uns eigentlich auf ein reales Objekt ausrichtet, enthält uns dieses jedoch stets vor und formuliert gerade dadurch unsere Gesten zu einem magischen Kreis, in dem das ästhetische Objekt erscheinen kann. Innerhalb einer phänomenologischen Analyse der Einbildungskraft wird die Kunst selbst zum Produkt der Imagination. Hier erfüllt sich die Forderung Lévinas nach einer »description qui respecte tout ce quʹil y a de réceptivité dans lʹappréhension dʹune forme esthétique.«32 Das Ästhetische an der ästhetischen Form ist die spezifische Rezeptivität selbst, durch die wir sie erleben. Sartre respektiert nicht nur die Rezeptivität, die Lévinas in Anlehnung Kants untersucht wissen möchte, sondern macht sie zum alleinigen Kriterium für den Kunstcharakter der ästhetischen Form. Die spezifische Rezeptivität aber, die zur ästhetischen Form führt, ist die Imagination. Und Sartres Begriff der Imagination lebt von der grundlegenden Differenz zwischen realem Analogon und irrealem Objekt. Sartres wichtiger Beitrag zur Phänomenologie der ästhetischen Erfahrung ist, diese Differenz konsequent auf die Vorgänge der ästhetischen Rezeption übertragen zu haben. Die ästhetische Erfahrung wird also bestimmt als die imaginative Bewegung vom Kunstwerk zum ästhetischen Objekt. Korrelativ zu Analogon und irrealem ästhetischen Objekt unterscheidet Sartre die beiden Bewusstseinsmodi, über die das Subjekt verfügt. Die Bewegung vom Kunstwerk zum ästhetischen Objekt entpuppt sich also als ein Wandel des subjektiven Weltbezugs, als dessen intentionale Verschiebung von der »conscience réalisante« zur »conscience imaginante«. Damit aber überträgt Sartre die Verantwortung für die ästhetische Sphäre ganz dem Rezipienten: Allein die Struktur des rezeptivem Bewusst-
31 Ibid., op. cit., p. 24. 32 Recherches philosophiques VI, p. 103 sqq.
1. Sartres Bestimmung der Einbildungskraft
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seins entscheidet, ob es zur Konstitution eines ästhetischen Objekts kommt oder nicht.33 Dieses bestätigt Sartre noch einmal sehr deutlich in Quʹest-ce que la littérature? Der literarische Text als Kreisel, den erst die Lektüre zum Tanzen bringt34, den erst der Blick des Lesers in jene Schwingungen versetzt, denen sich sein ästhetischer Schein entschwindet. Der Leser wird zum Zauberer, der die ruhenden Analoga zum Leben erweckt.35 Die Einfühlungstheorie Sartres entwickelt ihre eigene paradoxe Dialektik. Der Leser belebt den Text mit Gefühlen, die der Text selbst in ihm hervorruft. Dies macht die literarische Rezeption zu einer vom Text angeleiteten zugleich aber auch autonomen ästhetischen Setzung. Der epiphane Ereignischarakter der ästhetischen Konstitution tilgt alles, was hinter ihr liegt und nicht unmittelbar in sie eingeht. Unabhängig der »données antérieures« des Werks eröffnet sich mit dem Erscheinen des ästhetischen Objekts eine autonome Sphäre, welche – wie Sartre pathetisch formuliert – in der Freiheit des Rezipienten ihr noetisches Korrelat findet. Diejenige Sinnlichkeit (das empirische Verhalten des Rezipienten), die Sartre ins Spiel bringt, ist zutiefst problematisch: An einem realen Analogon entzündet, richtet sie sich auf ein irreales ästhetisches Objekt, zu dessen Konstitution sie in ihrer intentionalen Bewegung beiträgt, ohne dadurch selbst in ihrer intentionalen Bewertung erfüllt zu werden. 2. Sartres ethisch-ästhetische Position im Spiegel der Ethik und Ästhetik der Redekunst Schillers und Fichtes Die folgende Skizzierung der Auseinandersetzung Fichtes mit Schiller soll dessen Gegenposition herausstellen, um anhand der Parallelität der ästhe-
33 Fichtes Explikation nimmt sich dagegen klar vermögenstheoretisch aus: In Über Geist und Buchstab der Philososophie vermerkt er, dass das vom Kunstwerk veranlasste, zauberhafte Entzücken uns zwar »für Augenblicke in eine höhere Sphäre« hebe, aber gänzlich ohne unser Zutun. GA, 1,6, p. 361. 34 Quʹest-ce que la littérature, Paris 1948, p. 91. 35 Sartres Sätze erinnern an die Einfühlungstheorie Theodor Lipps, der sich damit endgültig als Vorläufer der phänomenologischen Ästhetik behauptet und, was die phänomenologische Theorie der ästhetischen Erfahrung anbelangt, die Funktion eines psychologischen Substrats übernimmt. Die Einfühlungstheorie war über Henri Bergsons Erkenntnistheorie in Frankreich tradiert.
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tischen Positionen Schillers und Sartres im Kontrast zu Fichte deutlich zu machen, wie weit die Ästhetik Sartres für die Moderne fruchtbar gemacht werden kann. Fichte und Schiller sind Begründer einer ästhetischen Denkweise, deren Auffassungen über die Positionierung der Redekunst zu unterschiedlichen Konsequenzen für die Bestimmung der Ästhetik geführt haben. Wir werden erst die wichtigsten Gesichtspunkte in der Lehre Fichtes erörtern, sie danach mit Schiller konfrontieren, um sie am Schluss dieser Betrachtungen mit Sartre zu vergleichen. Aus der Verbindung von ästhetischem Spiel und Humanität folgerte Schiller in seiner Schrift »Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen« 1795 einen Totalitäts- und Objektivitätsanspruch der Kunst gegenüber gesellschaftlichen und politischen Systemzwängen. Von dieser Schrift ging ein entscheidender Impuls auf die frühromantische Philosophie aus. Bereits zwei Jahre vorher hatte Fichte in seiner Wissenschaftslehre (1793) einen wissenschaftlichen Aufweis unterbreitet, den abstrakten Gegensatz von Subjekt und Objekt bei Kant in einem aktiven Selbstverhältnis des Subjekts anzusetzen, das sich als Ich in einem NichtIch entäußert und dieses erst durch philosophische Reflexion wieder aneignet. Für Fichte als Mitbegründer der Romantik »ist der Gegenstand der Dichtkunst das Ergötzende, das Spiel der Empfindungen in der Zeit.«36 Verstanden als Kunst des dynamisch Schönen wird die Redekunst dem Anspruch des Ethos, Pathos und Movere in ihrer Wirkung als Erzeugung der inneren Bewegtheit, der Erregung der Leidenschaften sowie der Reizung der Affekte und der Phantasie, verstanden als Kunst des dynamisch Schönen, am ehesten gerecht. Die werktechnische Qualität des Kunstwerks lässt sich an der Stimmung des Rezipienten ablesen: Ein bloß regelhaft konformes Werk »lässt uns kalt und ohne Interesse, oder stößt uns wohl gar zurück; ein anderes (d. i. das Werk des Genies 37) zieht uns an, ladet uns ein, bei seiner Betrachtung zu verweilen, und uns selbst in ihm zu vergessen [...] und mit dem Schriftsteller nach(zu)denken und (zu) forschen.«38
36 Ibid., p. 303, cf. zum Begriff des Ergötzens Claude Piché »Lʹesthétique a-t-elle une place dans la philosophie de Fichte?« In: Les Cahiers de philosophie, Lille 1995, p. 189 sq. 37 Auch für Sartre kommt dem Begriff des Genies eine Schlüsselrolle zu, wie wir später sehen werden. 38 Fichte Über Geist und Buchstab in der Philosophie – In einer Reihe von Briefen, in: op. cit., p. 335.
2. Sartres ethisch-ästhetische Position im Spiegel der Ethik
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Ein Werk dieser Art kann »unsern Sinn selbst für seinen Gegenstand anregen, beleben, stärken.« (ibid., p. 336) Es wirkt anregend auf »Anlagen und Talente.« Es »denkt unser Verstand, oder dichtet unsre Einbildungskraft von selbst mit dem Künstler zugleich.« Fichtes ästhetische Regel zur Beurteilung der Qualität eines Kunstwerks lautet daher: Rühre »durch dein sichtbares Bestreben nicht zu rühren. Je näher ein ästhetisches Produkt diesem Gesetz käme, desto schöner wäre es.« (GA II,3, p. 215) Wer wie der Autor »gewöhnliche(r) Ritterromane [...]« (GA I, 6, p. 358) »auf Rührung ausgeht, rührt nicht« (GA I, 3, p. 315), sondern verursacht eine »Kraftlosigkeit, die mit der richtigen Kraft verwechselt wird.« (GA I, 6, p. 358) Solche Werke sind »gemein und unedel«; sie ziehen die Phantasie hinunter und stumpfen den Geschmack für das Heilige ab. (ibid., p. 258, GA I, 8, p. 9) Werke hingegen, die der ästhetischen Regel entsprechen, regen die schöpferische Einbildungskraft des Betrachters an, die selbsttätig Gestalten darstellt, »wie sie gar nicht sind, aber nach der Forderung der Spontaneität des Geistes sein sollten.« (p. 352) Das setzt voraus, dass der Künstler nur den Anstoß und nicht die Bestimmtheit einer Idee liefert. Er soll weder ein »bestimmtes Gesicht in dieser Welt« (SW XI, p. 168) darstellen, noch soll er direkt »zu bestimmter That [...] treiben.« (ibid., p. 167) Kulturhistorisch begründet sieht Sartre anders als Fichte die Aufgabe des Kunstwerks sicher nicht darin, für die übersinnliche Welt zu sensibilisieren. Aber er würde der Forderung Fichtes, das Kunstwerk habe die Einbildungskraft des Betrachters »immerfort [...] auf dem Boden, welchem Gesichte entkeimen« (ibid. und 192 sq.) in Bewegung zu halten, sicherlich zugestimmt haben. (ibid., p. 326 sq.) Schiller zeigt dagegen im Ausgang von identitätstheoretischen Voraussetzungen, wie sich in einem dynamischen Prozess die antagonistischen Aspekte des menschlichen Seins wechselweise ausschließen. (ibid.) Da aber die zwei Antagonismen des Menschen anthropologisch zu bestimmen sind, haben sie die Aufgabe, sich zu vereinigen: Es handelt sich um das Beharrende seiner Personalität, die als denkende Kraft die Form für jede Möglichkeit bereitstellt, sowie das Wechselnde seines Zustands, der seine materiellen, sinnlichen und zeitlichen Qualitäten ausmacht. Für Schiller resultiert daraus die Annahme zweier sich widerstreitender Grundtriebe: (ibid., p. 344 sq.) Der Stofftrieb, dessen Gegenstand Leben ist, drängt darauf, die Zeit inhaltlich auszufüllen. Dagegen sucht der Formtrieb, dessen Gegenstand die Gestalt ist, gegenüber dem Vergänglichen das Ewige zu behaupten. Dem Spieltrieb kommt die Aufgabe zu, diesen Widerstreit zwischen den beiden
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Grundtrieben aufzuheben. (ibid., p. 353 sq.) Dies gelingt ihm ausschließlich in der Sphäre des schönen Scheins, denn die Sphäre des schönen Scheins hat sich von allem Anspruch auf Realität ausdrücklich losgesagt. (ibid., p. 399 sq.) Als Vermittler der Antagonismen ist der Spieltrieb zugleich auf die Freiheit der Person und auf den Genuss der Fülle des Lebens gerichtet. Sein Gegenstand, die Schönheit, erweist sich so für Schiller – so wie später auch für Sartre – als sinnliche Erscheinung der Freiheit. Entsprechung von Schönheit und Menschheit ist nicht nur eine »kultur- und kunstphilosophische«, sondern vor allem eine »charakterologische Kategorie.«39 Sie bezieht sich in Anlehnung an die englische Moralphilosophie Shaftsburys weniger auf die Gestalt als vielmehr auf die Taten des Menschen und meint »Schönheit des Handelns« als »moralische Schönheit«. (ibid. p. 131 sq.) Im »Reich des Spiels« bildet sich der ästhetische Mensch und dieser, interpersonal gedacht, den ästhetischen Staat, dessen Grundgesetz lautet, »Freiheit zu geben durch Freiheit.« (NA XX, p. 410) Wir stimmen Lohmann in ihrer Feststellung zu, dass sich die Analogien zwischen Fichte und Schiller in den Ausgestaltungen und Intentionen ihrer ästhetischen Ausführungen zeigen.40 Beiden gehe es darum, den Menschen, bzw. die Menschheit, mit Hilfe der Ästhetik zu kultivieren und zwar in zweierlei Hinsicht: Einerseits wird die Ästhetik auf die anthropologische Verfasstheit des Menschen, d.h. auf seine Trieb- und Gefühlsstruktur und damit auf seine Entwicklungsfähigkeit bezogen, außerdem als Vermittlungsinstanz von entgegengesetzten Kräften gesehen. Darüber hinaus wird sie als Motivans und als Kriterium der Vermittlung verstanden. Andererseits soll die Ästhetik der Philosophie, die das Kultivierungsprogramm aufstellt, zu breiter Anwendung verhelfen. Während bei Schiller Freiheit in der Schönheit »ein Sichentfalten ohne Hindernis« bedeutet und somit ästhetische Freiheit »der Natur nicht im prinzipiellen Sinne entgegengesetzt« wird,41 ist bei Fichte das Kunstwerk Manifestation der Freiheit als Produktion der Realität. Auch Sartre wird es später als Anlass sehen, die Freiheit zu ergreifen und sich und die Welt als Produkte der Selbsttätigkeit zu ver-
39 Käthe Hamburger: »Nachwort« zu: Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, Stuttgart 1993, p. 137. 40 Petra Lohmann, Die Funktion der Kunst und des Künstlers in der Philosophie Johann Gottlieb Fichtes, op. cit., pp. 124-134. 41 Dieter Henrich, »Kunst und Natur in der idealistischen Ästhetik«, in: Nachahmung und Illusion, München 1969, p. 129.
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stehen. Der ästhetische Freiheitsbegriff ist sowohl bei Fichte als auch bei Sartre Vorbereitung für den Vernunftbegriff der Freiheit. Hierin spiegelt sich, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, die Ähnlichkeit mit dem Ästhetikverständnis Sartres.42 In seiner literaturtheoretischen Schrift »Quʹest-ce que la littérature?« (1947) reagiert Sartre auf die Polemik gegen seinen Aufsatz in der ersten Ausgabe von Les Temps Modernes.43 Damit kommt Sartre jener Position nahe, die Schiller 1795 in seinem zweiten Brief über die ästhetische Erziehung des Menschen formuliert hat.44 Während Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen wegen ihrer Wechselwirkung von Bild und Begriff selbst als »aesthetisches Produkt«45 begriffen werden können und somit sein Untersuchungsgegenstand sowie dessen Wirkung gleichermaßen ästhetisch sind, entwickelt Fichte einen theoretischen Diskurs der Ästhetik in der Wissenschaftslehre, obwohl er sie nur indirekt in der in der Populärphilosophie eingesetzten Redekunst zur Anwendung bringt. Die Lebendigkeit des Ästhetischen ist
42 Cf. Sartre, »La création artistique est donc présentation perpétuelle du monde total comme fondé totalement dans la liberté.« In: Cahiers pour une morale, op. cit., p. 462. 43 »[..], tous les manuscrits seront acceptés, dʹoù quʹils viennent, pourvu quʹils sʹinspirent de préoccupations qui rejoignent les nôtres et quʹils présentent, en outre, une valeur littéraire. Je rappelle, en effet, que dans la ›littérature engagéeʹ, lʹengagement ne doit, en aucun cas, faire oublier la littérature et que notre préoccupation doit être de servir la littérature en lui infusant un sang nouveau, tout autant que de servir la collectivité en essayant de lui donner la littérature qui lui convient.« Deutsch: [..] alle Manuskripte werden akzeptiert, von wo sie auch kommen mögen, vorausgesetzt, sie inspirieren Gedanken, die sich an die unsrigen anschließen und dass sie ausserdem einen literarischen Wert darstellen. Ich erinnere daran, dass in der Tat in der engagierten Literatur, das Engagement auf keinen Fall die Literatur vergessen lassen darf, und dass unsere Beschäftigung sein muss, der Literatur zu dienen, indem wir ihr ein neues Blut einflößen, aber ebenfalls der Gemeinschaft dienen mit dem Versuch, ihr die ihr entsprechende Literatur zu geben. 44 »Ist es nicht wenigstens außer der Zeit, sich nach einem Gesetzbuch für die ästhetische Welt umzusehen, da die Angelegenheiten der moralischen ein soviel näheres Interesse darbieten und der philosophische Untersuchungsgeist durch die Zeitumstände so nachdrücklich gefordert wird, sich mit dem vollkommensten aller Kunstwerke, mit dem Bau einer wahren politischen Freiheit zu beschäftigen?«, in: »F. Schiller, Über das Schöne und die Kunst. Schriften zur Ästhetik«, hg. von G. Fricke und H.G. Göpfert, München 1984, p. 140. 45 Cf. GA III,2, p. 362.
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bei Fichte dennoch nicht aufgehoben. Ästhetisch wertvoll sind seine Ausführungen, weil sie auf die schöpferische Kraft eines jeden Menschen setzen und ihm zumuten zu sagen: »was du siehst, bist ewig du selbst.«46 3. Literatur und Engagement Sartres richtungsweisende Ästhetik prägt die Physiognomie des 20. Jahrhunderts; der ideengeschichtliche Kontext seiner Lehre bringt diesen Gedanken pointiert zum Ausdruck: Im und durch den Krieg entdeckt der ursprünglich Ich-Einsame sein soziales Wesen und die politische Dimension seiner sozialen Verantwortung. In der Gefangenschaft im Stammlager von Trier bis zum März 1941 erlebt Sartre die Solidarität mit den Gefangenen und liest zum ersten Mal Heidegger. Selbst wenn Sartre in entscheidenden Punkten seiner Konzeption über Heidegger hinausgeht, so sind die Wurzeln für seine Theorie des ›engagement‹ doch gerade hier zu sehen. Sartres Auffassung des Engagements lassen sich am Begriff des Intellektuellen exemplifizieren: Einmal im Hinblick auf den mit marxistischen Kategorien operierenden sozialen Kontextualismus. So verkündet Sartre im Oktober 1945 anlässlich der Vorstellung von Les Temps Modernes, dass jeder Intellektuelle in seiner Epoche situiert sei. Andererseits bezieht sich seine Auffassung des Engagements auf den existenziellen Voluntarismus, der die Situiertheit als Möglichkeitsbedingung einer Wahrheit auffasst, was ihn dazu zwingt, sich seiner Epoche ganz zu verschreiben, denn er lebt aus einer absoluten Wahl, die ihn in seine Epoche wirft. So verweist das Engagement den Einzelnen in der Form auf das Ganze, was Sartres Modell des engagierten Intellektuellen als Präsentismus47, Holismus48 und Vitalismus49 erscheinen lässt.50 Sartres Leitbegriff der Verantwortung ist verbunden mit einem Versprechen, denn sie resultiert aus ei-
46 Radrizzani zufolge lässt sich der tatsächliche Gegensatz zwischen Fichte und Schiller, der den Angelpunkt der ganzen Fichteschen Ästhetik ausmacht, in der produktiven Einbildungskraft bestimmen, bzw. dem Geist. »Der Geschmack beurtheilt das Gegebne, der Geist erschafft.« In: GA I, 6 p. 352, Radrizzani in: »Der transzendentalphilosophische Zugang zur Wirklichkeit«, in: op. cit., p. 341 sqq. 47 Präsentismus ist eine Weltanschauung, in der davon ausgegangen wird, dass nur der gegenwärtige Raum existiert. Vergangenheit und Zukunft sind das Produkt des Verstandes. Durch Erinnerungs- und Planungsfähigkeit des Menschen entsteht die Illusion von Vergangenheit und Zukunft.
3. Literatur und Engagement
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nem Akt der Überschreitung, die die geschlossene Front der Umstände, Ereignisse und Vorstellungen zu Fall bringt: »Es ist ein Moment der empirischen Unwissenheit, der eine Haltung der Moral ermöglicht – verstanden als eine Art des Tuns und eine Form des Lebens.«51 Hier offenbart sich der Schlüsselbegriff Sartres, denn das cogito préréfléxif enthält alle notwendigen Bestimmungen, wie wir im ersten Teil dieser Arbeit erörtern haben. Nach Sartre muss Literatur programmatisch auf Veränderung setzen. In Anspielung auf die Verhaltenspsychologie, die dem Menschen unverän-
48 Der Holismus (von griech. holon – das Ganze), auch Ganzheitslehre, bezeichnet eine erkenntnistheoretische Sichtweise, wonach das Ganze mehr ist als die Summe seiner Einzelteile. Eine isolierte Betrachtung der einzelnen Bestandteile vermag das Phänomen der Ganzheit somit nicht hinreichend zu erklären. Verfechter einer Totalitätsperspektive finden sich bereits in früheren Epochen in den Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz, Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Aristoteles, wonach das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile. 49 Vitalismus (lat.: vita – Leben) ist jene Lehre, die als Grundlage alles Lebendigen die Lebenskraft (vis vitalis) als eigenständiges Prinzip annimmt, um das Besondere des Lebens zu betonen. Dieses Besondere sei nicht kausal-analytisch, sondern nur intuitiv-schauend zu erfassen. Es wird ein Wesensunterschied zwischen Organischem und Anorganischem behauptet. Als der erste Vitalist der Philosophiegeschichte wird Aristoteles angeführt, der das Lebendige als durch das Lebensprinzip ermöglicht betrachtet. 50 Cf. Heinz Bude, »Der Akt der Überschreitung, Jean-Paul Sartre und die Generation, die nichts mit ihm anfangen kann«, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 140, 2005, p. 15. 51 Diese moralische Verantwortung beinhaltet nach Jacques Derrida, ein Gegendenker Sartres, ein Versprechen ohne Verheißung. Nicht das Versprechen eines finalen Zustandes von Geschichte und Gesellschaft, sondern eines, das wir uns selbst geben, an das wir uns selbst halten, dass wir selbst sind. Erst dieses Versprechen macht uns zu einem »Wir«, das sich nicht aus der Denunziation eines Anderen, sondern dem Einstehen für etwas Anderes ergibt, in: ibid., op. cit. Wir sind nicht derselben Meinung wie Jacques Derrida. In seinem Vortragstext ›Morale et Histoire‹ gibt Sartre anhand seiner Diskussion der Haltung eines Mitglieds der Résistance die Explikation seines Verständnisses von Ethos zu verstehen: »il sʹagit en fait des relations humaines: ne pas livrer des camarades qui lui ont fait confiance [...], ne pas coopérer pour sa part à dʹautres le sort inhumain qui lui est réservé; il sʹagit aussi de manifester sa liberté, dʹêtre un ›homme‹, de ne pas être un ›lâche‹, cʹest à dire de se faire, par le déconditionnement de la souffrance, son propre fondement.« In: Les Temps Modernes, Notre Sartre, Sartre inédit, Année 60, JuilletOctobre 2005, Paris 2005, p. 371. Deutsch: es handelt sich in der Tat um menschliche Beziehungen: nicht seine Kameraden auszuliefern, die Vertrauen in ihn gesetzt haben [...] für seinen Teil nicht die anderen an dem inhumanen Los teilnehmen zu
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derliche Verhaltensmerkmale im Sinne psychischer Zustände zuschreibt und den Menschen als durch jene determiniert betrachtet, macht Sartre deutlich, dass Verhaltensmerkmale das Ergebnis des Spiels psycho-physischer Kräfte sind, was bei den Romanfiguren z.B. von Balzac auch deutlich zu erkennen sei. (ibid., p. 50) Nach Sartre können sich solche Zustände (états) unter dem Einfluss vorgefasster Meinungen und sozialer Faktoren zu Eigenschaften (qualités) verdichten. In Wirklichkeit beinhalten diese aber nur Möglichkeiten, welche den Handelnden jedoch nicht auf bestimmte Wesenseigenschaften festlegen. Die Psychologie der Eigenschaften ist nach Sartre von dem eigenschaftslosen Bewusstsein (cogito préréfléxif) streng zu trennen, denn eine Moralistik, die diese fundamentale Differenz nicht berücksichtigt, habe sich diesen Tatbestand, von dem sie spricht, nicht genügend klar gemacht. Damit richtet sich Sartres Kritik der französischen Moralistik gegen eine ethische Theorie, von der er behauptet, dass sie nicht darüber hinausgelangt, dem Individuum zum Zweck größerer Rollensicherheit empirisch – substantielle Eigenschaften zuzuschreiben oder vorzuschreiben. Dieses war auch La Rochefoucaulds Intention, indem er die ›politesse‹ als wünschenswerte Eigenschaft postulierte, obwohl er die Intrigen der Adelsgesellschaft genau kannte, die diese Möglichkeit vereitelten. Höflichkeit als habitualisierte Lebensform sollte dem persönlichen Schutz in einer Umgebung dienen, in der eine ethisch qualifizierte ›honnêteté‹ den Charakter einer vorgeschriebenen idealen Verhaltenskategorie besaß. Sartre ist diese Höflichkeit als so verstandene Konvention allerdings ausgesprochen suspekt, was seinen besonderen Ausdruck in seinen Génet-, Flaubert- aber auch Tintoretto-Studien findet. Auf letzte wird unsere Untersuchung später noch Bezug nehmen. Sartre nimmt eine Neubestimmung der Begriffe Prosa und Poesie vor, indem er Valérys Poetik umkehrt und neu formuliert. Valéry, in Fragen der Dichtkunst Frankreichs allgemein anerkannte Autorität, sieht im Kunstwerk ein Refugium des Menschen vor den utilitären Zwängen der Alltagswelt. Die Darstellung der Vorgeschichte dieses sich im 19. Jahrhundert herausbildenden Kunstbegriffs zeigt bei Valéry ähnliche Akzentsetzungen wie bei Sartre und zwar in Anlehnung an die in der Romantik
lassen, das ihm vorbehalten ist; es handelt sich auch darum, seine Freiheit zu manifestieren, ein »Mann« zu sein, nicht ein »Feigling« zu sein, das heißt, sich durch die Entbedinglichung des Leidens seinen eigenen Grund zu machen.
3. Literatur und Engagement
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vollzogene Neubestimmung der Literatur. Die im 18. Jahrhundert verabschiedete Literatur ist der Wegbereiter für ein Literaturverständnis, in dem mit Poe und Baudelaire der Imagination ihr Eigenwert zugestanden wurde. Die dichterische Phantasie wird neu bewertet und der Schönheitskult der Symbolisten weiterentwickelt. Sie entwickelt sich zu einer ›poésie pure‹. Ihr poetisches Programm ist insofern neu, als es die Musikalisierung der Sprache anstrebt. Sartres Neubestimmung von Prosa und Poesie setzt dort an, wo in der Dichtung neben Musikalität auch die Bedeutung von Sprache zur Geltung gebracht werden soll: »Il va de soi que, dans toute poésie, une certaine forme de prose, cʹest-à-dire de réussite, est présente; et réciproquement la prose la plus sèche renferme toujours un peu de poésie. Cʹest-à-dire une certaine forme dʹéchec: aucun prosateur, même le plus lucide, nʹentend tout à fait ce quʹil veut dire; [...] les silences de la prose sont poétiques parce quʹils marquent ses limites, et cʹest pour plus de clarté que jʹai envisagé les cas extrêmes de la prose pure et de la poésie pure. Il nʹen faudrait pas conclure [...] quʹon peut passer de la poésie à la prose par une série de continue de formes intermédiaires.«52 Während die Poesie sich allen utilitären Verwertungsinteressen verweigert, hat die Prosa in Sartres Explikation eine eindeutig ethische Funktion: »Lʹart de la prose est solidaire du seul régime où la prose garde un sens: la démocratie. [...] écrire cʹest une certaine façon de vouloir la liberté; si vous avez commencé de gré où de force vous êtes engagé.«53 Sartre sieht offensichtlich die ethische Funktion in der Prosa darin, eindeutig die Aufgabe der Ordnungsfunktion der Menschen untereinander in einem Verhältnis der Intersubjektivität der Gleichheitsbestimmungen zu vollziehen.
52 Cf. QL, p. 48. Deutsch: Es versteht sich von selbst, dass in jeder Poesie eine bestimmte Form der Prosa, d.h. des Gelingens, präsent ist: und umgekehrt schließt auch die trockenste Prosa immer ein wenig Poesie mit ein. Das bedeutet eine gewisse Form des Scheiterns: Nicht ein einziger Prosaschreiber, auch nicht der Klügste, versteht vollkommen, was er sagen will. [...] Die Pausen in der Prosa sind poetisch, weil sie ihre Grenzen markiert. Und es ist um der größeren Klarheit Willen, dass ich die Extremfälle der reinen Prosa und der reinen Poesie in Betracht gezogen habe. Daraus soll man nicht schließen [...] dass man von der Poesie zur Prosa übergehen kann durch eine durch Fortsetzungserie von Zwischenformen. 53 Deutsch: Die Kunst der Prosa ist solidarisch in der einzigen Ordnung, wonach die Prosa einen Sinn bewahrt: die Demokratie [...] schreiben, heißt eine bestimmte Form, d.i. die Freiheit zu wollen; wenn sie freiwillig angefangen haben oder aus Zwang, sind Sie engagiert. (Ibid. op. cit.)
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Teil 2: Sartres Ästhetik und Ethik
Aber was das Erzeugen des Werks selbst betrifft, so ist es bereits nach Valéry unmöglich, in ein und demselben Zustand oder in ein und demselben Aufmerken die Bedeutung des Geistes, der das Werk erzeugt, und die Beobachtung des Geistes, der irgendeinen Wert dieses Werkes erzeugt, zu vereinigen. Kein Blick vermag diese beiden Funktionen gleichzeitig zu beobachten: Produzent und Konsument sind zwei wesensmäßig verschiedene Systeme.54 Selbst seinem abgeschlossenen Werk gegenüber gelingt es dem Autor nicht, die Haltung eines unbefangenen Lesers einzunehmen. Sartre hat diese Unfähigkeit des Schriftstellers zur Lektüre der eigenen Texte anschaulich beschrieben: »Das Erschaffene wird angesichts der schöpferischen Aktion unwesentlich. Selbst wenn das erschaffene Objekt dem Anderen zunächst unwesentlich vorkommt – uns erscheint es immer noch im Stadium des Aufschubs: diese Linie, diese Farbschattierung, dieses Wort können wir immer noch ändern. [...] die Resultate, die wir auf dem Papier oder auf der Leinwand erhalten haben, kommen uns nie objektiv vor: zu genau kennen wir das Verfahren, dessen Wirkungen sie sind. Dieses Verfahren bleibt ein subjektiver Fund: wir selber sind, unsere Inspiration ist unsere List, und wenn wir unser Werk wahrzunehmen versuchen, schaffen wir immer noch daran. Wir wiederholen in Gedanken die Vorgänge, die es hervorgebracht haben.«55 Dem Leser tritt das Werk als Objekt gegenüber, in dem ein Prozess zum Abschluss gekommen zu sein scheint. Er muss sich aber immer die Einsicht vergegenwärtigen, dass der Schnitt, der die Entstehung eines Textes beendet, die Möglichkeit, den Text weiter zu entwickeln, nicht erschöpft. Da der Autor dem von ihm geschaffenen Text gegenüber immer in seiner Subjektivität verhaftet bleibt, der Text also für ihn auch niemals zum Objekt werden kann, so ist der Text, soll er objektive Existenz erlangen – auf den ›aktiven‹ Leser angewiesen, der die vom Autor vorgegebenen Zei-
54 Dasselbe gilt auch für die Portraitkunst, nachzulesen bei U. Pfisterer und V. von Rosen, Der Künstler als Kunstwerk, Selbstportraits vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Stuttgart 2005: »Der Künstler zeigt sich in einer bestimmten Erscheinungsform, in der er gesehen werden will. Er ist der fiktive Betrachter vor dem Bild, zu dem sich der Künstler in ein Verhältnis setzt.« In: ibid.op. cit., p. 15. 55 Jean–Paul Sartre, Was ist Literatur? op. cit. p. 25. Zum ›Hiatus zwischen Schreiben und Lesen‹ vgl. Hans Robert Jauß, »Wenn ein Reisender in der Winternacht. Plädoyer für eine postmoderne Ästhetik«, in: Hans Robert Jauß, Studien zum Epochenwandel der ästhetischen Moderne, Frankfurt a.M. 1990, pp. 270–275.
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chen mit Sinn erfüllt. Indem der Autor weiß, dass erst im Bewusstsein des Lesers sein Werk als ›Objekt‹ entsteht, bzw. vollendet wird, ist sein Schreiben ein Appell, durch die Lektüre zum Entstehen des ästhetischen Gegenstandes ›Buch‹ beizutragen. Er appelliert an die Freiheit des Lesers, den Sinn des Textes selbst zu konstituieren. Im Vollzug der Lektüre muss der Leser immer über die Zeichen des Textes hinausgehen, sollen diese ihren Sinn erhalten. In dieser Transzendierung der Zeichen ist der Leser zur kreativen Freiheit ›verurteilt‹, da sich im Text niemals ein zureichender Grund für den lesend konstituierenden Sinn finden lässt. Daher stellt sich der Appell, den der Autor an den Leser richtet, in der Gestalt eines ästhetischen Imperativs als ein Sollen dar, indem sich die menschliche Freiheit geradezu erst bekundet. Sobald der Leser aber dieser Aufforderung zur nach-schaffenden Lektüre nachkommt und so das Enkodierte als objektive Gegebenheit wahr-nimmt, muss er als Leser auch die Verantwortung für das Enthüllte übernehmen; er kann nicht mehr so tun, als wisse er von nichts. In der »Universalität des Ästhetischen«, dem weltgeschichtlichen »Pluralismus der Künste und Werke« bildet sich also für Sartre das Selbstbewusstsein der Menschheit geradezu erst heraus, denn die Subjektvermitteltheit des Objektiven wird nur im ästhetischen Gegenstand erfassbar. Ihm kommt, die subjektive Auffassung inhärierend, Objektivität und Allgemeinheit zu. Das Einzelne erweist sich in der Kunst als Allgemeines. »Cʹest ce pouvoir et cette possibilité qui sont en jeu – quʹ à la condition de mettre au jour la structure du sujet: sa sub-jectité, être son sous-soi, son être-au-dedans de soi, par conséquent au-dehors, derrière ou devant. Donc, son ex-position.«56 Mit Hilfe der Mimesis schafft die Kunst ein objektives Gegenbild zur wirklichen Welt, das sich selbst zu einer Welt abrundet. In ihm werden Universalien von Situationsstrukturen erfahrbar, die selbst zum tradierbaren Bestand von Kulturwissen gehören, denn in ihnen manifestieren sich die Grundmuster allgemeinster Daseinsformen. In der Welt einer Erzählung z. B. wirkt sie in der Form der Instanz des Le-
56 Deutsch: Es sind diese Kraft und diese Möglichkeit, die im Spiel sind, unter der Bedingung, die Struktur des Subjekts an den Tag zu bringen, seine Sub-jektivität, sein Unter-Ich zu sein, sein In-Sich-Selbst-Sein zu sein, folglich im außen, dahinter oder davor. Also seine Exposition. Jean-Luc Nancy, Le regard du portrait, Paris 2000, p. 16.
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sers durch die geschlossene Welt des Textes auf die Welt jenseits des Textes hin, d.i. die Lebenswelt menschlichen Handelns, die dadurch überschritten wird. Die Literatur des Prosaschriftstellers nimmt sich für Sartre als Handeln durch Enthüllen aus, denn im Akt des Schreibens und des Lesens werden Strukturen von Fiktion und Wirklichkeit transparent gemacht werden. Dabei bedeutet Handeln in diesem Fall sowohl das Herstellen eines Kunstgegenstandes (Poiesis) als auch kommunikative Praxis in der für die Prosa konstitutiven Autor-Leser-Relation, deren Besonderheit in der wechselseitigen Anerkennung schöpferischer Freiheit besteht. Hier finden wir den entscheidenden Ansatzpunkt für unseren weiteren Untersuchungsgang. 3.1. Der ethische Appellcharakter der Literatur Im Wissen um die Effekte der Poesie ist Sartres Programm einer engagierten Literatur theoretisch auf der Basis einer Theorie des sprachlichen Zeichens fundiert, was seinen Versuch der präzisen Beschreibung der Funktionsweise poetischer Sprache erklärt. Da aber sein primäres Interesse weniger dem Kunstwerk als der Person des Künstlers und dessen Motivation zur Literatur gilt, wird Literaturtheorie bei Sartre ganz im Zeichen der Genietradition vollzogen. Dieses Vorhaben führt in eine Debatte über den Status des Intellektuellen, die an einer ethisch-anthropologischen Interpretation des Phänomens Kunst interessiert ist und Macht und Ohnmacht der Subjektivität in den Mittelpunkt ihres Fragens rückt.57 Auch aus literaturtheoretischer Sicht kommt Sartres erster philosophischer Publikation über die Transzendenz des Ego eine Schlüsselstellung zum Verständnis des Gesamtwerks zu. Die ethische Appellstruktur des Kunstwerks entsteht nicht durch von außen an es herangetragene Ansprüche (Parteiprogramme u.a.), sondern aus der Subjektivität des Künstlers, die zum Gestaltungsprinzip des Werkes wird, damit aber freilich die gesamte zeitgeschichtliche Situiertheit seines Entstehens mittransportiert. Mit seiner Frage Que peut la littérature?58 zielt Sartre nicht auf einen mittelbaren praktischen Nutzen
57 Cf. Merkur 40, 1986, Heft 444, pp. 91-107. Hier vollzieht er einen Rekurs auf einen seiner früheren Aufsätze: in: R. Bubner, »Über einige Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik«, in: Neue Hefte für Philosophie, Heft 5, 1973, pp. 38-73. 58 Buchtitel sowie Thema einer Podiumsdiskussion: S. de Beauvoir/Y.Berger/J.-P. Fayel/J. Ricardou , J.-P. Sartre,J. Semprun, Que peut la littérature?, Paris 1965.
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schriftstellerischer Tätigkeit, sondern auf die für das Gelingen des Werkes konstitutive Interaktion zwischen Autor und Leser. Die Strukturelemente einer solchen Literaturtheorie hat Sartre in »Quʹest-ce que la littérature?« ausführlich beschrieben, als er seinen Beitrag zur Dauerdebatte über das Verhältnis von Ethik und Ästhetik formulierte. Da er den Akt des Lesens im Idealfall als Koinzidenz der Freiheit von Autor und Leser sieht, ist die Ästhetik des literarischen Gestaltens immer auch auf die praktische Vernunft freien Handelns verwiesen. Literatur ist also nicht Appell im Sinne einer unmittelbaren Handlungsanweisung, wohl aber Appell im Sinne der Freiheit des Lesers, ähnlich der Literarität Montaignes, mit dem imaginären Repertoire der Möglichkeiten kreativ umzugehen.59 Für Sartre gehört Sprechen in den Bereich des Handelns. Er verwendet den Terminus »parole« nicht analog de Saussuresʹ Sprechakt, sondern verweist vielmehr auf den Handlungscharakter des Sprechens, d.i. Sprache im Vollzug. Als eine Form des Handlungsvollzugs steht für Sartre Sprechen stets in einer Zweck-Mittel-Beziehung.60 Da der bewusst Handelnde im Allgemeinen von Zwecken als den vorgestellten Zielen der Handlung geleitet wird und
59 Sartres Faszination für Montaigne lässt sich damit erklären, dass auch für diesen die Auseinandersetzung mit der Frage nach dem schriftstellerischen Bewusstsein von äußerster Wichtigkeit war. Selbst war Montaigne konfrontiert mit der moralphilosophischen Literatur der Römer, die sich als sequm loqui oder sermo intimus ausgegeben hatte, was aber dem Motiv, andere zu belehren, untergeordnet war. Die Antwort auf die Publikumsfrage »et puis, pour qui escrivez-vous?« lässt er unbestimmt: »Cʹest pour le coin dʹune librairie, et pour amuser un voisin, un parent, un amy qui aura plaisir à me racointer et repratiquer en cettʹimage«, cf. Hugo Friedrich op. cit p. 310, Montaigne II, 18p. 650. (Deutsch: Ich schreibe für die Ecke einer Buchhandlung, und um einen Nachbarn zu amüsieren, einen Verwandten, einen Freund, dem es Spaß macht, mir dieses Bild zu erzählen und nach zu praktizieren.) Montaigne erwartet jedoch von seinen Essais nicht mehr, als dass sie des Lesers Interesse bewirken: Es klingt daher sehr modern, wenn Montaigne bekennt: »Dieu veuille que cet excès de ma licence attire nos hommes jusquʹà la liberté par dessus ces vertus couardes et mineuses nées de nos imperfections.« (Deutsch: Gott möge wollen, dass dieser Exzess meiner Lizentiatur unsere Männer bis zur Freiheit hinaufziehen möge, über diese feigen und jämmerlichen Sitten, die aus unseren Unvollkommenheiten stammen. III, 5, p. 818, cf. Hugo Friedrich, op. cit. p. 312. Sartre scheint in diesem Punkt für Montaigne Bewunderung empfunden zu haben, denn in Bezug auf die Offenheit der Form der Prosa ist auch für ihn Kunstfähigkeit und Ästhetik des Essais von beispielhafter Geltung, denn hier gehen Selbstbewusstsein und schriftstellerisches Bewusstsein unmittelbar ineinander über.
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sich daher angemessener Mittel zu deren Verwirklichung bedient, muss der Prosaist, der Sprache als Handelnder gebraucht, Rechenschaft über seine Zwecke geben können. Die Imagination bleibt aber hier nicht auf der Ebene des Werturteils, da sie ist dazu bestimmt ist, den Betrachter dazu anzuleiten, seine eigenen Möglichkeiten zu erkennen und zu nutzen. Die Aufforderung, die das Werk an die Freiheit des Betrachters richtet, an der Entstehung des Kunstwerks mitzuwirken, nennt Sartre einen Appell, dessen Bedeutung er als Resultat der Verhältnisbestimmung des Betrachters zum Kunstwerk definiert. Das Werk erhält quasi nur dadurch einen Sinn, dass der Betrachter es in sein Bewusstsein aufnimmt: »Puisque la création ne peut trouver son achèvement que dans la lecture, puisque lʹartiste doit confier à un autre le soin dʹaccomplir ce quʹil a commencé, puisque cʹest à travers la conscience du lecteur seulement quʹil peut se saisir comme essentiel à son œuvre, tout ouvrage littéraire est un appel.« 61 Man kann hier Analogien zu Fichte aufweisen, wenn man Sartres Ausführungen über den Appellcharakter von Literatur verfolgt. Sartres Übertragung des Appells auf die Literatur zeigt, dass auch Schriftsteller und Dichter in den Kreis der Künstler gehören, da sie durch ihre Kunstwerke nicht nur ständig die Reaktionen ihrer Rezipienten herausfordern, sondern weil die gemeinsame Basis ihres Appells sich simultan sowohl auf die eigene Freiheit als auch auf die des Rezipienten beruft. Seine Grundauffassung über den Wechselbezug zwischen Kunst und Freiheit ist konstitutiv in seinem Werk LʹÊtre et le néant verankert. Die Urteilsbildung als Reaktion auf den Appell, der sich an die Freiheit des Lesers richtet, wird daher für Sartre zum eigentlichen Inhalt der Ästhetik. Diese aber kann nur zustande kommen, wenn das Kunstwerk dafür die Voraussetzung bietet, womit im Wesentlichen die von uns im letzten Passus besprochene Autonomie gemeint ist. Sartre weist darauf hin, dass
60 Mit dem unten ausführlich erörterten Beispiel des Eifersüchtigen aus LʹÊtre et le néant verdeutlicht Sartre die Wirkung der Sprache auf die Sphäre menschlichen Verhaltens. Der neugierige Blick durch das Schlüsselloch führt zur Selbstwahrnehmung als Eifersüchtiger durch das Erblicktwerden vom Anderen. Die Wirkung dieser Enthüllung geschieht durch die Sprache. 61 Cf. QL, p. 58 sq. Deutsch: Da die Kreation ihre Vollendung nur in der Lektüre finden kann, da der Künstler einem Anderen die Sorge etwas zu vollenden, was er begonnen hat, anvertrauen muss, da nur mittels des Bewusstseins des Lesers er sich als wesentlich für sein Werk begreifen kann, ist jedes literarische Werk ein Appell.
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sich der Zweck sprachlichen Handels nicht schon in der bloßen Kommunikation von Sachverhalten erschöpft. Schon das bloße Benennen ist nicht wertfrei und objektiv, sondern bewirkt eine gewisse Form der Veränderung. Die Enthüllung eines Zustands führt immer auch die Veränderung als wesentliches Moment mit sich. Dieser Verantwortung hat sich der Prosaist zu stellen, denn die Botschaften, die er sendet, bewirken immer eine Veränderung in der Einstellung seiner Leser. Der engagierte Schriftsteller ist sich dessen bewusst und schreibt, weil er durch Enthüllung verändern will. Seine Leser sollen Kenntnis von sozialen Missständen erlangen und sich somit nicht mehr der Verantwortung für jene Zustände entziehen können. Damit nimmt er ihnen die Möglichkeit, den Zustand der Unschuld kritiklos zu bewahren. Der Prosaist lässt sich bei der Auswahl seiner Thematik von dieser Intention leiten. Er muss sich darüber im Klaren sein, dass er über Enthüllungen und Übergehungen von Sachverhalten Rechenschaft abgeben muss. Für Sartre bedeutet auch Schweigen Handeln. Der appellative Charakter der Literatur kann jedoch nur erreicht und gewahrt werden, wenn die verwendeten Wörter ihre Zeichenfunktion beibehalten und nicht einer zirkulären Selbstreflexion der Sprache anheim fallen. Sartre geht auch damit auf Distanz zu Texttheorien des Strukturalismus, denn er lehnte – wie bereits vor ihm schon Montaigne – eine reine Selbstbezüglichkeit des sprachlichen Zeichens in der literarischen Prosa vollständig ab. Die Debatte »Que peut la littérature?« fällt mitten in die Blütezeit des Nouveau Roman und der strukturalistischen Auflösung des Geschichtsdenkens. 3.2. ›Psychanalyse existentielle‹ und Sozialgeschichte der Literatur In seiner inzwischen legendär gewordenen Romanbiographie Flauberts Idiot de la famille leistet Sartre eine einzigartige Kombination zwischen ›psychanalyse existentielle‹ und Sozialgeschichte der Literatur, deren eigenartige Kombination nicht nur die gewohnten Abgrenzungen der Fachwissenschaften und literarischer Gattungen in Frage stellt, sondern auch dem Leser und Interpreten eine neue, ungewohnte Rolle zuweist.62 Dabei gilt das literaturwissenschaftliche Interesse besonders der Methode Sar-
62 Cf. R. Grimm, »Der Idiot der Familie als Herausforderung der Literaturgeschichtsschreibung«, in: Sartres Flaubert lesen, Essays zu ›Der Idiot der Familie‹, T. König, Hg., Reinbek 1980, pp. 109-148.
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tres, denn sie ist von der Person des Autors – wie Sartre anhand der Biographie Flauberts zu zeigen versucht –, von seiner Geschichte und literarischen Praxis nicht ablösbar. Umgekehrt ist die Definition der persona 63das entscheidende Problem seiner Methode selbst.64 Sartre begründet in einem rückblickenden Gespräch Sur moi-même und in Rekurs auf die Phänomenologie Husserls sowie die Ontologie Heidegger, deren antipsychologische Tendenzen kaum Anbindungspunkte an die Psychoanalyse bieten, seine fundamentale Differenz von Freud.65 Besonders die ›mythologie de lʹinconscient‹ lässt sich mit Sartres Philosophie, speziell seiner Theorie des ›cogito préréflexif‹, nicht vermitteln. Da es in Sartres Philosophie der Existenz allein um die Subjektivität des Menschen, um seinen freien existenziellen Entwurf geht, kommt es vor allem darauf an, alle biologistisch-deterministischen und substantialistischen Erklärungen als falsche Vorwände und bewusste Selbsttäuschungen, als ›mauvaise foi‹, zu entlarven. Sartres Konzeption einer ›psychanalyse existentielle‹ beruht daher wesentlich auf seiner Ablehnung naturalistischer Theorien, in der die Verantwortung für das Handeln des Ich einer übermächtigen Instanz, einer Welt ›dunkler Triebe‹ zugeschrieben wird, was sich mit dem existenzialistisch reflexiven Akt der ›prise de conscience‹ philosophisch nicht vereinbaren lässt. 66 Die
63 Wie später in 5.2., aber auch mit Bezug auf die von uns im 6. Kapitel behandelte Tintoretto-Studie erörtert wird, operiert Sartre in seiner Flaubert-Studie ständig mit der älteren Bedeutung von persona (lat. Rolle, Maske), um so die Entwicklung der personnage social Flauberts als Rollenverhalten bzw. Rollenspiel im Sinne der Dialektik von personnalisation und dépersonnalisation zu kennzeichnen. 64 »[...]une vie se déroule en spirales. Elle repasse toujours par les mêmes points à des niveaux différents dʹintégration et de complexité.« In: Sartre, Questions de méthode, Paris 1973, p. 149. Deutsch: Ein Leben verläuft in Spiralen. Es kehrt immer wieder an den selben Punkten der verschiedenen Ebenen von Integration und Komplexität zurück. 65 Cf. Situations IX, p. 104. 66 Sartre karikiert in der Erzählung, lʹenfance dʹun chef, die Wirkung der Freud-Lektüre als eine Art Realitätsflucht, als eine kuriose Episode in der ›éducation sentimentale de Lucien‹: »Le véritable Lucien était profondément enfoui dans lʹinconscient [...] Lucien pensait tous les jours à ses complexes et il imaginait avec une certaine fierté le monde obscur, cruel et violent qui grouillait sous les vapeurs de sa conscience.« In: Le mur, Paris 1978 (1939), p. 188. Deutsch: Der wirkliche Lucien war tief vergraben in das Unbewusste. [...] Lucien dachte jeden Tag an seine Komplexe, und er stellte sich mit einem gewissen Stolz die Welt als obskur, grausam und gewalttätig vor, die unter dem Brodeln seines Bewusstseins wirbelte.
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in dieser Schrift bereits deutliche ironische und satirische Darstellung der Psychoanalyse Freuds wird in ihrer Suggestion und auktorialen Kritik an der Traumdeutung Freuds in Sartres Werk La nausée noch erweitert: Hier bringt Sartre im Gebrauch der Freudschen Deutungsterminologie, ihren Motiven und Bildern, die Alpträume des intellektuellen Protagonisten in schriftstellerischer Selbstreflexion zur Sprache und lässt seine Ablehnung und Kritik an der Psychoanalyse dort zum Ausdruck kommen, wo Roquentin, der intellektuelle Protagonist, die Ursache seiner tagebuchförmig protokollierten Krisensituation lediglich in der ›Absurdität‹ seiner Existenz67 begründet sieht. Sartres Haltung zu Freud ist allerdings ambivalent. Obwohl er der Psychoanalyse aufgrund ihrer hermeneutischen Sprache und den biologistisch-mechanistischen Erklärungsmustern der Psychologie des 19. Jahrhundert seine Anerkennung verweigert, üben die aufklärerischen enttabuisierenden Analysen Freuds dennoch auf ihn eine erhebliche Faszination aus, sodass er sich lediglich des psychoanalytischen Vokabulars bedient, das zugrunde liegende Konzept aber wie alle anderen Dogmatismen auch mit dem ihm eigenen Sarkasmus ins Lächerliche zieht. Sartre entwickelt daher eine an Freud anknüpfende ›psychanalyse existentielle‹, in der die Grundbegriffe Freuds zugleich aufgenommen und weiterentwickelt werden.68 Es geht Sartre vor allem um die Realisation eine Psychoanalyse, in der nicht nur die Opposition ›bewusst‹ und ›unbewusst‹ zugunsten des umfassenderen Begriffs ›vécu‹69 aufgehoben werden
67 Selbstkritisch bezeichnet Sartre später diese Geisteshaltung als bloße ›théorie des hommes seuls‹ als zu einseitig. In: Situations X, Paris 1976, p. 76. 68 In EN nimmt Sartre eine Umdeutung des Begriffs des Unbewussten vor, und zwar im Sinne des »projet fondamental« [...] »pleinement vécu par le sujet.« (p. 658) Sartre geht es um die Erweiterung des Spielraums der Psychonanalyse durch alltägliche, erlebte [vécu] nicht pathologische Handlungen: »Les conduites étudiées par la psycoanalyse ne seront pas seulement les rêves, actes manqués, les obsessions et les névroses mais [...] les pensées de la veille, les actes réussis et adaptés, le style etc. Cette psychanalyse nʹa pas encore trouvé son Freud [...]«, p. 663. Deutsch: Die von der Psychoanalyse studierten Verhaltensweisen werden nicht nur Träume sein, verfehlte Akte, Obsessionen oder Neurosen, aber [...] die Gedanken des Vorabends, gelungene und angepasste Akte, der Stil etc. Diese Psychoanalyse hat ihren Freud noch nicht gefunden [...]. 69 »[...] ce terme qui ne désigne ni les refuges du préconscient, ni lʹinconscient, ni le conscient, mais le terrain sur lequel lʹindividu est constamment submergé par luimême.« Deutsch: Dieser Begriff, der weder die Rückzüge des Vorbewussten, noch
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soll, sondern auch andere Grundbegriffe Freuds eine Umdeutung erfahren: »La psychanalyse rejette le postulat de lʹinconscient: le fait psychique est, pour elle, coextensif à la conscience.«70 Indem Sartre aber die Begriffe conscience und connaissance voneinander trennt, realisiert er eine Psychoanalyse der mangelnden ›connaissance de soi-même‹. Er verortet damit das von Freud so bezeichnete Unterbewusste als ›latente Vorstellungen‹71 gewollt auf der empirischen Ebene, um sie so als ›psychanalyse existentielle‹ zu realisieren, aber auch um die Differenz des Freudschen Unbewussten mit dem Cogito préreflexif zu verdeutlichen. Lange bevor die Psychoanalyse und auch die Literaturwissenschaft überhaupt zu einer differenzierten kommunikationspsychologischen Analyse literarischer Prozesse gelangen konnten, hat Sartre das Rollenspiel tagträumerischer Phantasien als Basis des literarischen Werks erkannt, d.i. als ›projet‹, in dem das ganze Chaos der Verdrängungen, Aggressionen, Zwangsvorstellungen, Alpträume, Sadismen und Masochismen des Autors zum Bewusstsein kommen kann. Das aus dem Chaos sich herusbildende projet stellt für Sartre eine Form spezifischer literarischer Entwürfe dar, eine Form der Aufklärung, der ›prise de conscience‹: das literarische Werk ist als pro-jet, durch das sich der Schreibende jeweils neu definiert und den künftigen Leser mit einbezieht, allen regressiven, pathologischen (und auch alle sonstigen) Determinationen immer schon voraus: »Ce qui est obscur dans les pulsions, cʹest-à-dire au premier degré, devient parfaitement clair dans le projet littéraire.«72 Das ›projet littéraire‹ aber ist in dem Maße, in dem es an dem jeweils aktuellen Prozess der Konstitution des Schriftstellers Anteil hat und seine mit dem Text verbundenen Projektionen, Zielsetzungen und Kommunikationsabsichten bestimmen, nur durch die konkrete soziale Situation und das ›Engagement‹ des Autors verständ-
des Unbewussten, noch des Bewussten bezeichnet aber das Gebiet, auf dem das Individuum fortwährend von sich selbst überströmt wird. In: Situation IX, p. 105. 70 EN, p. 658. Deutsch: Die Psychoanalyse weist das Postulat des Unbewussten zurück. Das psychische Faktum ist für sie zusammen mit dem Bewusstsein zugleich ausgedehnt. 71 Sigmund Freud, »Einige Bemerkungen über den Begriff des Unbewußten in der Psychoanalyse«, in: Werkausgabe, Frankfurt 1978 I, p. 121 sq. 72 Cf. IF I, p. 966. Deutsch: Was obskur in den Trieben ist, das heißt im ersten Grad, wird perfekt klar im literarischen Projekt.
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lich.73 In den Künstlerstudien geht es Sartre insbesondere darum, die ›constitution de la personnalisation‹ des Ich in seinen Wechselbeziehungen einer interdisziplinären literarischen Betrachtung zu unterziehen, die zugleich individualpsychologische und soziologische Aspekte enthält.74 In der Darstellung der gesellschaftlichen Komponenten innerhalb der subjektiven Phantasiebildung, der subjektiven Aneignung und Verarbeitung greift Sartre auf die Terminologie der Psychoanalyse zurück, überschreitet diese aber im Konzept seiner ›personnage social‹ mit der Konzeption eines Rollen-Begriffs, der das kindliche Verhalten als einen Komplex realer und imaginärer Rollenspiele75 bestimmt: »Seule, aujourdʹhui, la psychanalyse permet dʹétudier à fond la démarche par laquelle un enfant, dans le noir, à tâtons, va tenter de jouer sans le comprendre le personnage social que les adultes lui imposent, cʹest elle seule qui nous montrera sʹil étouffe dans son rôle, sʹil cherche à sʹen évader ou sʹil sʹy assimile entièrement.«76 4. Ethik und Ästhetik des »Homme créateur« Indem Sartre das Verhältnis des Ego zu den Zuständen, Eigenschaften und Handlungen als einen »rapport de production poétique [...] ou, si lʹon veut, de création.« (TE, p. 60) beschreibt, geht es ihm um eine Beschreibung des Ego, wie es sich der Intuition offenbart. Es erscheint hier als
73 Cf. »Sartres Begriff des Engagement«, in: Henning Krauss, Hg., Romanistentag Saarbrücken 1979, Sektion Literaturpsychologie und Literatursoziologie, Frankfurt a.M. 1982. 74 Gemeint sind besonders Sartres ›Génet-Studie‹, Flaubert-Studie‹ und ›TintorettoStudie‹. 75 Dies wird schon in Question de méthode, besonders aber in Les Mots und in LʹIdiot de la famille deutlich. 76 Deutsch: Erst heutzutage erlaubt es die Psychoanalyse, ganz genau die Schritte zu studieren, durch die ein Kind, im Dunkeln tappend, versuchen wird zu spielen, ohne die soziale Person zu verstehen, welche die Eltern ihm auferlegen. Sie allein wird uns zeigen, ob es erstickt, ob es versucht zu entfliehen oder ob es sich vollständig assimiliert. »Questions de méthode«, in: Critique de la raison dialectique, op. cit., p. 46. Sartre greift interessanterweise einige der Forschungsergebnisse H.-E. Richters vorweg, der in seiner Studie, Eltern, Kind und Neurose, Psychoanalyse und kindliche Rolle, Reinbek 1987, den Mechanismus der elterlichen (unbewussten) Projektionen auf das Kind und dessen jeweiliger Reaktion als Rollenidentifikation mit den elterlichen Vorgaben ausgesprochen differenziert zur Sprache bringt.
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schöpferische Quelle, die Zustände hervorbringt, die vorher nicht als solche in ihr enthalten waren, wodurch die Hervorbringung von Zuständen oder Eigenschaften sich als eine »création ex nihilo« (ibid) offenbart. Auf den Betrachter hat dieser Vorgang den Effekt der Magie. Über die Explikation der »création continuée« im Kontext einer weiteren Klärung des Ego stellt Sartre Reflexionen zu seinen Äußerungen über den Zusammenhang von Ethik und Ästhetik an. Er erläutert, wie er Husserls77 fundamentale Idee, ein transzendentales Ego zum Ausgang seiner Bewusstseinsphänomenologie zu machen, zunächst am Beispiel des Erkennens diskutiert habe, um daran die Dezentrierung des Ego zu zeigen. Dies erscheint einsichtig, weil die französische Philosophie sich traditionell auf die Epistemologie konzentriert. (ibid., p. 37) Husserl konfrontiert das Bewusstsein mit den »Sachen selbst«, was dazu führt, dass das Bewusstsein intentional auf die Dinge ausgerichtet ist und daher immer Bewusstsein »von etwas« ist.78 Sartre sieht aber auch in Husserls Theorie der Intentionalität die Möglichkeit zu einem neuen Traktat über die Leidenschaften. In Abgrenzung zu Theorien des Innenlebens (vie intérieure) und des Subjektivismus und Psychologismus, wie sie z.B. von Henri Bergson und Marcel Proust in deren Äußerungen über die sich im geheimnisvollen Bereich des Innenlebens abspielenden subjektiven Empfindungen vertreten werden, ist Sartre der Auffassung, man könne die Analyse von Gefühlen aus der Perspektive des reinen Bewusstseins in den Bereich der bewusstseinstranszendenten Objekte verlagern, auf die sich die Gefühle beziehen. Sartre ist davon
77 Cf. Klaus Hammacher, »Fichtes und Husserls transzendentale Begründung der Intersubjektivität und die anthropologische Fragestellung«, in: Archivio di filosofia, 54, Intersoggetiva, socialita, religione, 1986 Nr.1/3, pp. 669-684. Hammacher gelangt im Vergleich der Systementwürfe Husserls mit Fichte zu folgender Einsicht: »Die transzendentalphilosophischen Überlegungen Husserls und Fichtes ergänzen insofern einander, als Husserls transzendentale Begründung der Intersubjektivität aus der theoretisch gesicherten phänomenologischen Betrachtung in Fichtes Ableitung der Kategorien objektiven Welterfassens aus der praktischen Selbsterfahrung erst ihre auf lebende Systeme übertragbare Stützung erhält. Hinwiederum ermöglicht erst Husserls Bestimmung der Intentionalität, die spezifischen Unterscheidungen zwischenmenschlicher Erfahrungen von den (den) allgemein lebenden Systemen zukommenden auszumachen.« Damit bestätigt auch ein indirekter Einfluss Fichtes auf Sartre, der sich gerade auf jene Stellen Husserls bezieht, die zu Fichte in diesem von Hammacher so bezeichnenten komplementären Verhältnis stehen. 78 Cf. Sartre in, Situations I, p. 39 sq.
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überzeugt, dass damit die Welt der Dinge ihren ursprünglichen Charme zurückgewinne.79 Ein solcher, auf transzendentalen Bestimmungsmomenten beruhender Interpretationsansatz zeigt, dass Sartres Husserl-Rezeption nicht ohne Folgen für seine ästhetischen Vorstellungen bleiben kann. Zwar ist die Studie LʹImaginaire nicht als Ästhetik konzipiert; sie macht aber deutlich, dass Sartre hier von der These: »Lʹœuvre dʹart est un irréel« ausgeht. Er behauptet, dass das Bewusstsein sich auf dem Weg der Imagination auf das Objekt richte. Das ästhetische Objekt »apparaîtra au moment ou la conscience opérant une conversion radicale qui suppose la néantisation du monde se constituera elle-même comme imaginante.«80 Eine solcherart gestaltete ästhetische Kontemplation lasse sich – so Sartre – mit einem Traum vergleichen, aus dem man mittels einer »attitude réalisante« jäh erwacht: »une conscience fascinée, bloquée dans lʹimaginaire est soudain libérée [...] et prend soudain contact avec lʹexistence.« (ibid.) Sartres kritische Kant-Rezeption zeigt, dass für ihn ein »interesseloses Wohlgefallen« einem ästhetisch kontemplativen Rückzug aus der Wirklichkeit gleichkommt. Um die Relevanz der Ästhetik für das Leben zu bestimmen, stellt Sartre sie in den Zusammenhang der praktischen Genese des Bewusstseins. Mit diesem Schritt macht er die Beziehung zu den ethischen Implikationen sichtbar. Damit lehnt Sartre entschieden die
79 Die Verlagerung der Gefühle in den Bereich bewusstseinstranszendenter Objekte lässt sich anhand folgender Aussage Sartres verdeutlichen: Sartre interpretiert den Roman von M. Mauriac, Thérèse Desqueyroux: Zunächst sein Zitat: »Thérèse eut honte de ce quʹelle éprouvait.« (= sie ist sich ihres Gefühls bewusst) Dazu Sartre: »Soit. Cette Thérèse-là est sujet. Cʹest un moi tenu à certaine distance de moimême et je connais cette honte en Thérèse parce que Thérèse elle-même connaît quʹelle éprouve. (= sie versteht, dass sie empfindet) Mais, dans ce cas, puisque cʹest avec ses yeux que je lis en elle-même, je ne puis jamais savoir dʹelle que ce quʹelle sait: tout ce quʹelle sait, rien que ce quʹelle sait.« (= Interiorität des Handelnden erlaubt dem Beobachter nur die Außenperspektive, wodurch sich jedweder Psychologismus als obsolet erweist), in: Situations I, Paris 1947, p. 42. Deutsch: Thérèse schämte sich dessen, was sie empfand. [...] Es sei so. Diese Thérèse ist Subjekt. Sie ist ein Ich, gehalten in einem gewissen Abstand zu sich selbst, und ich kenne diese Scham in Thérèse, weil Thérèse selbst versteht, dass sie empfindet. Aber, in diesem Fall, da es ihre Augen sind, mit denen ich in ihr selbst lese, werde ich immer nur das von ihr wissen, was sie selbst weiß: all das, was sie weiß, nichts als das, was sie weiß. 80 Cf. Sartre, lʹImaginaire, Paris 1964, p. 362.
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formale Präsenz des Ego im Bewusstsein als die materiale, empirische Präsenz des Ego ab. Er wendet sich konsequent gegen psychologische Theorien, die ein unbewusstes Substrat als Grundlage unserer Bewusstseinszustände und Handlungen annehmen. Allerdings tritt er nicht in eine direkte Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Psychologie ein, sondern wählt mit der Psychologie der Maximen von La Rochefoucauld als Paradigma eine historisch sehr frühe Vorstufe: »La Rochefoucauld est un des premiers à avoir fait usage, sans le nommer, de lʹinconscient: pour lui lʹamour-propre se dissimule sous les formes les plus diverses. Il faut le dépister avant de le saisir. Dʹune façon plus générale on a admis par la suite que le Moi, sʹil nʹest pas présent à la conscience, est caché derrière elle et quʹil est le pôle dʹattraction de toutes nos représentations et de nos désirs.«81 Dieser Theorie gesteht Sartre durchaus eine gewisse Berechtigung zu, insofern, als sie die Bedeutung des Begehrens für die Erklärung menschlichen Verhaltens erkannt habe. Er wirft ihr jedoch vor, dass sie den Status des Ego innerhalb der Stufen des Bewusstseins nicht berücksichtige. Auf der Ebene des unreflektierten Bewusstseins könne von einem narzisstischen Ego, dessen Begehren durch Eigenliebe motiviert sei, keine Rede sein. Jedes ursprüngliche Begehren richte sich zunächst direkt auf ein Objekt und könne erst durch einen Reflexionsakt als mein Gefühl konstituiert werden.82 Damit ist eine wichtige Schnittstelle zur Fichteschen Be-
81 Ibid. p. 38. Deutsch: La Rochefoucauld ist einer der ersten, der davon Gebrauch gemacht hat, ohne es zu sagen, vom Unbewussten; für ihn verbirgt sich die »amour propre« unter den verschiedensten Formen. Man muss es aufspüren, bevor man es ergreift. Auf eine generellere Art hat man in der Folge zugelassen, dass das Ich, wenn es dem Bewusstsein nicht präsent ist, hinter ihm versteckt ist und dass es der Anziehungspol all unserer Vorstellungen und Wünsche ist. 82 Sartre: »Aucun analyste ne trouvera la formule de mon désir [...]. Mais ce désir [...] est dʹordre rigoureusement éthique parce que les pratiques constitutives de lʹautre sur moi ont tout de suite pris la forme éthique. Ainsi le fondement du désir est le besoin mais sa réalité propre est une certaine imago dʹordre pratique (la tâche dʹêtre), cʹest à dire éthique.« In: Les Temps Modernes Jg. 60, op. cit., p. 404. Deutsch: Nicht ein Analysant wird jemals die Formel für meine Lust finden. [...] Aber diese Lust [...] ist von einer rigorosen ethischen Ordnung, weil die konstitutiven Praktiken des Anderen über mich sofort ethische Form angenommen hat. Auf diese Weise ist die Bildung der Lust das Bedürfnis, aber seine tatsächliche Realität
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gründung des Begehrungsvermögens angesprochen, wobei Fichte dieses aber stärker anthropologisch verortet als Sartre. Während Fichtes Rede von der »Lava im Mond« bereits unmissverständlich darauf hinweist, dass nur der Reflexionsakt zur Notation der eigenen Gefühle – und damit auch des Begehrungsvermögens – führt, charakterisiert Sartre den Objektcharakter des Begehrens in einem Vergleich zwischen Mensch und Ding ebenso pointiert: »Je suis en face de la douleur de Pierre comme en face de la couleur de cet encrier.«83 Für Sartre kommt der persönliche Aspekt also erst mit dem Einsetzen der Reflexion ins Spiel. 4.1. Subjektivität und Imagination Sartres Frage nach der persönlichen Identität des Bewusstseins ergibt sich aus der Krise der Subjektivitätsphilosophie, in der die Annahme eines persönlichen Bewusstseins als Träger unserer Vorstellungen und Handlungen problematisch geworden ist. Zwar haben bereits Nietzsche, Freud und Wittgenstein auf je ihre Weise versucht, das souveräne Selbstbewusstsein als eine Täuschung darzustellen, aber Sartre verabschiedet sich ähnlich wie Fichte von der Vorstellung vom Ich als »Bewohner« des Bewusstseins. Das Ich ist nicht Eigentümer des Bewusstseins, gleichsam als ein Ego, das sich selbst und alles andere Seiende »gegenwärtige« (wie Heidegger »robinsonadisch« formuliert). Sartres pointierte These lautet: »Nous voudrions montrer ici que lʹEgo nʹest ni formellement ni matériellement dans la conscience: il est dehors, dans le monde; cʹest un être du monde, comme lʹEgo dʹautrui.«84 Das eigene Ich hat für Sartre keinen anderen erkenntnistheoretischen Status als der des Ichs eines Anderen.85 Dieser philosophischen Krise des Subjekts entspricht in der Literatur generell die Entprivilegierung des Ego in Form einer Entpersönlichung der Schreibweise. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts entwickelten sich
ist ein gewisses Bild von praktischer Ordnung (die Aufgabe zu sein), das heißt ethisch. 83 Ibid., p. 39. Deutsch: Ich bin dem Schmerz Pierres gegenüber auf dieselbe Art wie gegenüber der Farbe dieses Tintenfasses. 84 Sartre, La responsabilité de lʹécrivain, op. cit., p. 513. Deutsch: Wir möchten hier gerne zeigen, dass das Ego weder formal noch materiell im Bewusstsein enthalten ist: es ist draußen in der Welt; es ist ein Sein der Welt, wie das Ego des Anderen. 85 Wir haben diesen Zusammenhang im 1. Teil unserer Arbeit ausführlich erörtert.
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neue Formen der Narrativität in der Epik, aber auch neue Experimente in der Lyrik, die ihren poetologischen Ausdruck in Rimbauds programmatischem Satz finden »Je est un autre«, der ebenso wie das »Bateau ivre« als Subjektmetapher die Krise der neuzeitlichen Subjektivität enthüllt, denn das Ich erfährt sich als ein sich selbst entfremdetes. Daher ist es kein Zufall, wenn Sartre auf den zitierten Satz aus Rimbauds berühmte Lettres de Voyeurs zurückgreift, um in seiner Schrift die Perspektive des reflexiven Bewusstseins zu kennzeichnen: »Le contexte prouve quʹil a simplement voulu dire que la spontanéité des consciences ne saurait émaner du Je, elle va vers le Je, elle le rejoint, elle le laisse entrevoir sous son épaisseur limpide mais elle se donne avant tout comme spontanéité individuée et impersonnelle.«86 Die Beschäftigung mit der französischen poetologischen Tradition des 19. Jahrhunderts stellt eine Konstante in Sartres Denken dar. Die im 1. Teil dieser Arbeit erörterten Aspekte der Subjektivitätsphilosophie markieren dabei jene Orientierungspunkte, die für das Verständnis von Sartres spezifischem Ansatz jeweils von Bedeutung sind. Dabei kommt der subjekttheoretischen Erörterung Sartres auch deswegen eine besondere Bedeutung zu, da sich erstaunliche Parallelen zur neostrukturalistischen Destruktion des klassischen Subjektparadigmas aufweisen lassen. Auch die Arbeiten von Jacques Derrida haben ihren Ausgangspunkt in der Philosophie Husserls.87 Herausragendes Beispiel für Sartres Ästhetisierung seiner subjekttheoretischen Erörterung ist die monumentale Flaubert-Studie, die wir für eine der gründlichsten Literaturphänomenologien halten, in der wir es mit einer detailliertesten Beschreibung von Ursprung und Wirkung, Produktion und Rezeption einer literarischen écriture, einer Kunstform zu tun haben, mit der für viele die moderne Literatur beginnt. Sie ist herausragendes Beispiel für Sartres Begriffskunst der Literarität. Aber allein der Leser
86 Sartre, La responsabilité de lʹécrivain, op. cit., p. 562. Deutsch: Der Kontext beweist, dass er einfach hat sagen wollen, dass die Spontaneität des Bewusstseins nicht vom Ich ausgehen kann, sondern auf das Ich zugeht, es schließt sich ihm an, es lässt es unter seiner reinen Dichtheit vermuten, aber vor allem gibt es sich als individuierte und unpersönliche Spontaneität. 87 Cf. Die Vorlesungen über Husserl von Manfred Frank, Was ist Neostrukturalismus?, Frankfurt a.M. 1984, p. 234 sqq. Zu Husserl und Derrida: Vorlesungen Nr.15 bis 18.
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kann durch den komplizierten Vorgang der Lektüre des Textes diesen erst zu einem literarischen Kunstwerk formen. Dass die Lektüre den dialektischen Prozess der Verinnerung und Entäußerung der vorgegebenen Systematik von Zeichen- und Symbolsystemen in ihrer historischen Vermittlung überschreitet, ist der Lust zu verdanken, die der Leser aus seiner Lektüre an Lust gewinnt. Lust entsteht, wenn er das im Text enthaltene Produkt der Imagination eines Anderen mit dem eigenen Imaginationsvermögen identifizieren kann. Um an Lust zu gewinnen, muss er allerdings dabei auch einen erheblichen Teil seiner Sensitivität und Emotionalität, also seiner verdrängten und offenen Wünsche, Ressentiments, Ängste, Zwangsvorstellungen, Abwehrmechanismen, Hassgefühle usf. investieren können. Noch eine weitere Bedingungen offenbart sich hier, die für die Qualität der jeweiligen Rezeptionsästhetik in hohem Maße entscheidend ist: Dass der Leser dabei zugleich einer gesellschaftlich relevanten Gruppe angehört, das heißt hier von der jeweiligen Machtelite privilegierten und ideologiebildende Funktion erfüllenden Bildungsschicht, die zu vergleichbarem Lustgewinn öffentlich formulieren, anderen zugänglich machen und somit in den Objektiven Geist (Hegel) der Epoche eingehen lassen zu können, ist dabei die notwendige Bedingung für den Lustgewinn an der jeweiligen Lektüre. Ohne also rezeptionsästhetische Überlegungen anzustellen, die der Frage nachgehen, was in diesem literarischen Text imaginiert wird und auf welche Weise, kann die Literalität des Textes nicht erfasst werden. Dies bezieht sich zuallererst auf die Frage, welche Leseerwartungen der Autor sich vorstellt, der ja beim Schreiben als sein erster Leser liest. Da beim Vorgang des Imaginierens das imaginierende Bewusstsein sich vom Vorhandenen löst, um in der Phantasie das Nicht-Vorhandene herauf zu beschwören, lässt sich dieses Nicht-Vorhandene nur in Bezug auf das Vorhandene bestimmen.88 Demnach ist die die Imagination des Lesers mobilisierende Wirkung der irrealen Welt der Fiktion nur durch die Kenntnis der Relikte der kollektiven Imagination der Epoche begreiflich, weshalb Sartre nicht nur Flauberts literarische Verfahrensweisen in Form konkreter Text- und Stilanalysen detailliert ermittelt89, sondern zugleich eine einzigartige ex-
88 Wir haben diesen Sachverhalt ausgiebig am Anfang des zweiten Teils zur Darstellung gebracht.
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emplarische Analyse historisch-literarischer Zusammenhänge vollzogen hat. 4.2. Mythologie als eine Form von Ästhetik und Ethik am Beispiel Sartres schriftstellerischer Existenz Ein interessanter Deutungsvorschlag für Sartres Erklärung tierischer Kreativität stammt von der Literaturwissenschaftlerin Idt, die Sartre – in Anlehnung an die Mythologies von R. Barthes – als einen Mythologen der schriftstellerischen Existenz zu begreifen versucht.90 Sartre sei – Idt zufolge – ein Konstrukteur experimenteller Mythen und künstlicher Mythologien, aus denen wiederum neue Mythen kombiniert werden können. Sartres Verwendung des Mythos stehe daher nicht mehr auf der Stufe der Unmittelbarkeit mythischen Erzählens, sondern er setze vielmehr dieses als Mittel ein, um durch die jeweiligen Protagonisten einen Aspekt der »condition humaine« im Kontext eines umfassenderen Diskurses zu symbolisieren und darin zu integrieren. Indem der autobiographische récit in Les Mots Merkmale des Mythos trägt, – den des Mythos vom Schriftsteller –, wird die Begrenztheit des ausgewählten Einzelfalls überschritten und auf ein prinzipielleres Reflexionsniveau gehoben: »Il sʹagirait de soumettre lʹoeuvre de Sartre à la problématique des rapports du mythos et du logos, de montrer comment sa pensée conceptuelle se dégage des métaphores, comment une intention généralisante dans tout récit singulier fait de son dramatique et romanesque une casuistique.«91
89 »Die Sprache als Ganzes dient nicht der Kommunikation, der Mitteilung realer Erfahrungen und praktischer Zwecke, sondern ist eigentlich nichtssagendes Geräusch, tönende Stille, und bezeugt damit die Irrealität der Welt, ihr Nichts.« Diese Zweideutigkeit der Sprache habe Flaubert unter anderem an den Kalauern entdeckt, die ja dadurch zustande kommen, dass eine praktische Aussage durch einen nicht-praktischen Doppelsinn überlagert wird. König gibt in seinem Essay deutliche Beispiele für Sartres Stilanalyse Flauberts. In: Traugott König, Hg., Sartres Flaubert lesen, Essays zu »Der Idiot der Familie«, Reinbek 1980, hier: ders. Von der Neurose zur Absoluten Kunst, p. 16. 90 G.Idt, »Sartre, ›mythologue‹: du mythe au lieu commun «, in P. Verstraeten, Hg., Autour de Jean-Paul Sartre, Littérature et philosophie, Paris 1981, pp 117-157 und R. Barthes, Mythologies, Paris 1957. 91 G. Idt, op. cit. p. 120. Deutsch: Es würde sich darum handeln, das Werk Sartres der Problematik der Beziehungen des Mythos und des Logos zu unterziehen, zu zei-
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Sartre stellt sein autobiographisches Werk Les Mots als Versuch dar, den Mythos vom Ursprung des Schreibens zu erklären, um dadurch zugleich einen der Ursprünge des Mythos zu charakterisieren Seine Gedanken selbst legt er in der Form eines Mythos dar: »Si jʹai écrit Les Mots cʹest pour répondre à la même question que dans mes études sur Genet et sur Flaubert: comment un homme devient-il quelquʹun qui écrit, quelquʹun qui veut parler de lʹimaginaire?«92 Nach Auffassung von Idt stellt sich die Schrift Quʹ est-ce que la littérature? als Experiment Sartres dar, den Mythos der individuellen Schriftstellerexistenz im Plural der sozialen Verantwortung zu deklinieren.93 Für Sartres Gesamtwerk, so die Einschätzung Idts, ist eine Erklärung der Genese des Schreibens und der schriftstellerischen Lebensform oberstes Desiderat, denn nicht umsonst habe Sartre gerade dieses Thema als Konstruktionsprinzip seiner Autobiographie gewählt, die ja nicht den Weg einer philosophischen Lehre oder einer Autorenkarriere darstellt, sondern sich viel elementarer am Weg des Kindes zum Lesen und Schreiben orientiert. Sie erzählt den Mythos von einem kleinen Kind, das in einer Welt der Wörter die Literatur zum eigenen Lebensentwurf macht. Die Prüfung der Widersprüchlichkeit Sartres in seinem eigenen Sprachgebrauch im Wortfeld »Mythos« zeigt: Hatte er den Begriff des mythischen Theaters in seiner Dramentheorie positiv entwickelt, so verwendet er den Begriff »Mythos« nun im Kontext seiner Erörterungen der engagierten Prosa im pejorativen Sinn. Allerdings benötigt Sartre für seine Theaterstücke Darstellungsmöglichkeiten allgemeiner Ideen im Freiheitsraum konkreter Situationen: »Je suis toujours à la recherche de mythes, cʹest- à – dire de sujets assez sublimes pour quʹils soient reconnaissables par chacun, sans recours à des détails psychologiques minutieux.«94 Solche
gen, wie sein konzeptuelles Denken sich von den Metaphern herauslöst, wie eine generalisierende Intention in der ganzen einzigartigen Erzählung aus iher Dramatik und Romanhaftigkeit eine Kasuistik macht. 92 Cf. Situations IX, Paris 1972, pp 133 sqq. Deutsch: Wenn ich Les Mots geschrieben habe, dann um auf dieselbe Frage zu antworten wie in meinen Studien über Genet und Flaubert: Wie wird ein Mensch zu Jemandem, der schreibt, zu Jemandem, der über das Imaginäre sprechen will ? 93 G.Idt, op. cit. p. 121. 94 Sartre, Un théâtre de situations, Paris 1973, p. 164. Deutsch: Ich bin immer auf der Suche nach Mythen, das heißt ziemlich sublime Themen, damit sie für jeden wiedererkennbar sein können, ohne Rekurs auf minutiöse psychologische Details.
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Mythen sind Ausdruck der Totalität, die sich z.B. mit Hilfe der griechischen Mythologie in Les Mouches in der Momentaufnahme individueller und sozialer Realität auf der Bühne ereignet. Ebenso lässt sich an der Traumanalogie des Films bei Sartre zeigen, dass diese an die Theatralität und Virtualität der Mythen erinnert, um sie im Sinne des Surrealismus zu ›farcieren‹. Sartre ging es in ästhetischer, speziell gattungspoetischer Hinsicht hauptsächlich darum, den Zusammenhang von Mythos und Farce, Tragik und Komik zu zeigen. Fast könnte man meinen, dass für ihn die Dialektik der Gegensätze, das Spiel mit den Antagonismen den wesentlichen Motor seiner Film- und Theaterästhetik ausmacht. Besonders der Mythenfilm wird bei Sartre zum Ort und NichtOrt einer neuen Mythologie, zu einem Mittel der Parodie und der Entsakralisisierung, der Heterotopie des Theaters im Film. 95 Das mythische Geschehen wird nicht neu interpretiert, sondern ad absurdum geführt, d.i. in seiner ganzen tragi-komischen Ambiguität gezeigt. Mythentheater und Mythenfilme sind, wie Roloff in seiner Cocteau-Studie zeigt, ein Medium der Reflexion und Transformation der Mythen, vor allem um die traditionellen Prämissen der Fatalität und Rollenzwänge in Frage zu stellen, zu parodieren und durch Rollenspiele zu dekonstruieren. In der spielerischen, satirischen und ironischen Auseinandersetzung mit Rollen- und Identitätsproblemen, mit den Rollenzwängen, Konventionen, der Theatralität und den Tabus der sogenannten bürgerlichen Gesellschaft, schafft Sartre verschiedene Formen des existenzialistischen Theaters, die besonders in Les Mouches, Les Mains Sales, Huis Clos oder Les Jeux sont Faits in ihrer groteskenhaften Komik facettiert sind. Zwar kritisiert Sartre später die Präsenz des Mythos in der Prosa als Verfälschung der Wirklichkeit, er hält aber gleichzeitig unter einer anderen Bezeichnung an einer analogen Struktur in der Literatur fest: nämlich dem Allgemeinplatz, dem »lieu commun«. Im Hintergrund steht hier die Beschäftigung mit Flaubert und dessen Dictionnaire des idées reçues, einer satirischen Sammlung von Phrasen und Klischees. In der karikierenden Darstellung des Autodidakten in La Nausée, der als Vertreter der idées reçues die offizielle rhetorische Lehrmeinung bildet, spricht sich die ironische Distanz Sartres zum Allgemeinplatz aus. Auch durch diese Technik
95 Cf. V. Roloff, Cocteaus Theaterfilme zwischen Surrealismus und Existenzialismus, op. cit. p. 160.
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nimmt Sartre eine schematische Parallelisierung mit Les Mots vor. Hier ironisiert er zugleich die konventionellen Motivationen für den Schriftstellerberuf verstanden als Berufung. Sartre scheint mit den Traditionen einer obsoleten Künstlerideologie extrem gerungen zu haben. Der Grund solcher Entmythologisierung des Schreibens zeigt sich in den ethischen Geltungsansprüchen Sartres, der sich anschickt, die Autonomie der Kunst in ihrer Interdependenz zu reflektieren. Sein Beitrag zur Entmythologisierung der Autorenrolle hat in Les Mots ihren dichtesten Ausdruck gefunden. 4.3. Sartres Autobiographie Les Mots In der Autobiographie zeigt sich die neuzeitliche Mythologie des Ego im reflexiven Vollzug, der eng mit den philosophischen Grundfragen von Subjektivität und Ästhetik verbunden ist. Die hier gestellten Fragen der Identität und der Individualität am Beispiel der Person des Literaten bilden einen Erkenntnishorizont, der für die Analyse autobiographischer Texte weitreichende Folgen hat, denn die pragmatische Arbeitsteilung von Literaturwissenschaft und Philosophie verliert in diesem Fall ihre Bedeutung. Autobiographisches Schreiben erweist sich als ein Schnittpunkt von ästhetischer Stilisierung und ethischer Reflexion existierender gesellschaftlicher Probleme. Als ein komplexes narratives Konstrukt ist es nicht bloß als eine informative Abbildung erinnerter Wirklichkeit zu verstehen. Sartres Autobiographie »Les Mots« stellt sich in diesem Sinn als eine Reflexion über Macht und Ohnmacht der Sprache sowie über die Stellung des Individuums im Universum der Wörter dar. Sie ist die Geschichte der Heimatlosigkeit des Intellektuellen. Wie in der Sprache Fremdheit entsteht, dadurch dass sich die Universalität der Wörter und die Individualität des konkreten Stils begegnen, so stellt sich bei der Suche nach einer ethisch reflektierten Lebensform die Frage nach der Zuordnung von Freiheit und Notwendigkeit, Individualität und Allgemeinheit, autopoietischer Selbstvergötterung und kommunikativer Relativierung eigener Standpunkte. Sartres Schlussbemerkung in Les Mots: »Le mythe était fort simple et je le digérai sans peine. [...] une énorme puissance collective mʹavait pénétré; établie dans mon cœur, elle guettait, cʹétait la Foi des autres; […]. Je pen-
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sais me donner à la Littérature quand, en vérité, jʹentrais dans les ordres«96 enthält also quasi im Rückblick die Erkenntnis der täuschenden Macht, die ein gesellschaftlich akzeptierter »mythe« auszuüben vermag. Indem Sartre seine Existenz fundamental als die eines Schriftstellers definiert, kann er auch über sein eigenes Leben nicht anders als schreibend nachdenken. Dem Zwang des Schreibens kann er schreibend auf den Grund gehen. Das Schreiben aber aufgeben hieße: seine Identität aufgeben. Und so bleibt die Kontinuität in allem Wandel: »usés, effacés, humiliés, rencognés, passés sous silence, tous les traits de lʹenfant sont restés chez le quinquagénaire.«97 Der ungelöste Widerspruch zwischen der alten Rettungssehnsucht und der Treue zum Schreiben wird zum Ausgangspunkt einer neuen Standortbestimmung, wie sie in folgenden Passagen angedeutet ist: »La culture ne sauve rien ni personne, elle ne justifie pas. Mais cʹest un produit de lʹhomme […].« »[…]. ma seule affaire était de me sauver – rien dans les mains, rien dans les poches – par le travail et la foi. Du coup ma pure option ne mʹélevait au-dessous de personne: sans équipement, sans outillage je me suis mis tout entier à lʹoeuvre pour me sauver tout entier. Si je range lʹimpossible salut au magasin des accessoires, que reste-t-il? Tout un homme, fait de tous les hommes et qui les vaut tous et que vaut nʹimporte qui.«98 Die Bedeutung der menschlichen Kreativität bleibt also erhalten, auch wenn das metaphysische Konzept einer Rettung durch Kunst aufgegeben werden muss. Sartre nimmt eine Haltung ein, die an Pascals berühmte metaphysische Wette in den Pensées erinnert.
96 Cf. M, p. 209. Deutsch: Der Mythos war sehr einfach und ich verarbeitete ihn ohne Mühe. […] eine enorme kollektive Kraft hatte mich durchdrungen; in meinem Herzen errichtet, lauerte sie, es war der Glaube der anderen; […]. Ich dachte, mich der Literatur hinzugeben als, in Wahrheit, ich in einen Orden eintrat. 97 Ibid., p. 213. Deutsch: verbraucht, ausgelöscht, gedemütigt, in die Ecke getrieben, verschwiegen, alle Züge des Kindes sind dem Fünfzigjährigen verblieben. 98 Ibid., p. 214. Deutsch: Die Kultur rettet nichts und niemanden, sie rechtfertigt nicht. Aber sie ist ein Produkt des Menschen […].[…] meine einzige Angelegenheit war mich zu retten – nichts in den Händen, nichts in den Taschen – durch die Arbeit und den Glauben. Auf einen Schlag erhob mich meine reine Wahl über niemanden; ohne Ausrüstung, ohne Werkzeug habe ich mich ganz und gar ans Werk gemacht, um mich ganz und gar zu retten. Wenn ich nun die unmögliche Erlösung in das Magazin der Accessoires räume, was bleibt dann übrig? Ein ganzer Mensch, aus allen Menschen gemacht und der sie alle Wert ist und was gleich wem Wert ist.
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Les Mots ist als autobiographische Schrift an den Formkriterien der Gattung zu messen, die Philippe Lejeune, der zur Zeit profilierteste französische Autobiographie-Forscher, auf die Formel» »Je est un autre«99 bringt. Autor, Erzähler und Protagonist sind zwar logisch identisch, treten aber in der literarischen Rekonstruktion der Wirklichkeit in ein kompliziertes Wechselspiel, welches das Merkmal der Distanzierung trägt. Der zeitliche Abstand zwischen dem Kind und dem erwachsenen Erzähler erlaubt die Vermischung von Perspektiven, um zwischen erlebter und besprochener Welt differenzieren zu können. Das Spiel mit Distanz und Nähe im Medium der Schrift geht übrigens im autobiographischen Interview und erst recht in der filmischen Darstellung verloren. Was der einsame Schreiber souverän komponieren kann, wird durch den Dialogpartner des Interviews und die Szenerie des Films eingeschränkt. Lejeune bemerkt daher zutreffend: »Dans les Mots, une sorte dʹéquilibre sʹétablit entre la satire de la famille, et la présentation humoristique de lʹenfant qui joue le jeu quʹelle propose. Lʹadulte parvient de se maintenir à distance. Dans les récits oraux de son adolescence, le ton est différent: plus tendu et agressif vis-à-vis des autres, adhérant plus immédiatement aux souffrances et griefs du héros. Il nʹy a guère de distanciation ni dʹautocritique. […] lʹexplication nʹest pas liée, comme dans les Mots, à un effort de dépassement.«100 In »Les Mots« beschreibt Sartre eine Fiktion der Berufung zum Schriftsteller aus der Sicht eines Wandels: »Jʹai changé.« (M, p. 211) Nicht die chronologisch-historiographische Aufarbeitung des Gewesenen in Form eines tiefgründigen Erinnerungsreservoirs, sondern die Dialektik des »dépassement« (die Hegelsche »Aufhebung«) formt den Ausdruck. Die dialektisch angelegte Ausformulierung stets neuer Synthesen macht
99 Ph. Lejeune, Je est un autre. Lʹautobiographie, de la littérature aux médias, Paris 1980, pp. 161-202. 100 Ibid., op. cit. p. 166 sq. Deutsch: In les mots etabliert sich eine Art Ausgleich zwischen der Familiensatire und der humoristischen Präsentation des Kindes, das das Spiel spielt, das sie vorschlägt (gem. ist die humoristische Präsentation). Dem Erwachsenen gelingt es, seine Distanz aufrecht zu erhalten. In den mündlichen Berichten seiner Jugendjahre ist der Ton unterschiedlich: gespannter und aggressiver gegenüber den anderen, indem er sich unverzüglicher an die Leiden und Beschwerden seiner Helden begibt. Kaum gibt es hier weder Distanzierung noch Selbstkritik. […] Die Explikation ist nicht wie in les mots an eine Selbstüberschreitung gebunden.
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aber auch deutlich, dass das traditionelle Vorher-Nachher-Schema des Konversionsberichtes nicht genügt. Zwar wird der alte Standpunkt überschritten, gleichzeitig artikuliert er sich aber in einer neuen Sicht. Bester Ausdruck dieser Dialektik ist die Tatsache, dass Sartre seinen Abschied von der Literatur in ein extrem literarisches Gewand gekleidet hat. Dieser literarische Charakter ist genau das, was Sartre in einem Interview mit Michel Contat 1975 als seinen »style« bezeichnet hat.101 »Cette théorie repose sur une métaphore filée mettant en parallèle la relation du mot à la langue et la relation de lʹhomme au monde.«102 Im Unterschied zu konventionellen Modellen der Autobiographie, die ästhetische Ansprüche zugunsten alltäglicher Lebensnähe bewusst vernachlässigen, besteht Sartre auf der kunstvollen Gestaltung, die in so konzentrierter Form in einem improvisierten Gespräch unmöglich wäre. Sartres ästhetischer Anspruch zeigt sich im Gebrauch von Stilmitteln, die mit den Begriffen Parodie, Humor, Ironie, Persiflage und Satire gekennzeichnet werden. Die Ironie bewirkt eine Entmythologisierung von Erziehungsnormen und -inhalten, die er als falsch entlarvt hatte. Besonders die Charakterisierung des Großvaters dient in Les Mots der Absicht, ihn lächerlich zu machen und meint im Kontext Sartres ironischer Tendenz eindeutig Demaskierung. Die These, Sartre sei ein Mythologe der schriftstellerischen Existenz, erscheint verkürzt, denn als Mythologe ist Sartre zugleich entmythologisierend.103
101 Cf. Jean-Paul Sartre, Situations X, Paris 1976 p. 36 sqq. 102 Ph. Lejeune, op. cit. p. 174. Deutsch: Diese Theorie beruht auf einer vernetzten Metapher, die das Verhältnis des Wortes zur Sprache und das Verhältnis des Menschen zur Welt parallel setzt. 103 Es wäre interessant, diesen Sachverhalt ebenfalls vor der Matrix Fichte-Romantik zu erforschen. Aber das würde ein gesondertes Thema einer Untersuchung ausmachen können. Was aber dennoch nicht unerwähnt bleiben soll, ist dass Sartre wie Fichte gesellschaftlich unopportune Strömungen in ihr ästhetisches Kunstschaffen explizit aufnehmen. Wie Fichte die seinerzeit gotische Stilrichtung, die für barbarisch gehalten wurde, rehabilitiert hat in der Mitbegründung der Romantik, so erlaubt sich Sartre ebenfalls eine Wiederauflebung des Barocks in seiner Theaterund Filmkonzeption, nicht aber ohne ironische Distanz.
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4.4. Sartres Existenzerfahrung aus ethisch-ästhetischer Perspektive Die Emanzipation der Kunst von sachfremden Wirkungskriterien, die außerhalb der Eigendynamik ästhetischer Erfahrung liegen, wird bei Sartre neben dem Eigensinn der Ästhetik von kognitiven und ethisch-ästhetischpraktischen Momenten begleitet. Auf die Frage nach einer Standortbestimmung der Ästhetik in seiner Philosophie und ob er überhaupt eine Ästhetik konzipiert habe, antwortet Sartre im Interview von 1972: »Si jʹen ai une [et jʹen ai un peu une], elle est entièrement dans ce que jʹai écrit et on peut lʹy trouver. Je nʹai pas jugé que ça valait la peine de faire une esthétique comme Hegel en a fait une.«104 In Sartres Texten spiegeln sich ethische Normen und Werte sowie ästhetische Sinnfälligkeit besonders deutlich: Da Freiheit – die nur ohne Gott gedacht werden kann – nicht nur für Sartre keinen Wert darstellt, sondern Ausgangsbasis sui generis ist, könnte es selbst dann keine Rolle spielen, wenn die Evidenz der Existenz Gottes für den Menschen selbstverständlich wäre.105 In seiner radikalen Anthropologie106 negiert Sartre sämtliche tradierten Werte und unternimmt die Grundlegung einer neu-
104 »Une vie pour la philosophie, entretien avec Jean-Paul Sartre«, in: magazine littéraire, op. cit., p. 59. 105 Deutsch: Wenn ich eine (Ästhetik) habe (und ich habe ein wenig eine), ist sie vollständig in dem, was ich geschrieben habe enthalten, und man kann sie dort finden. Ich habe es nicht als wichtig erachtet, eine Ästhetik zu machen, wie Hegel eine gemacht hat. Vgl. hierzu Sartres Äußerungen in einem Gespräch mit Simone de Beauvoir in: S. de Beauvoir, La cérémonie des adieux suivi des Entretiens avec Jean-Paul Sartre. Août – Septembre 1974, Paris 1981, pp. 545-559. »Même si on ne croit pas en Dieu, il y a des éléments de lʹidée de Dieu qui demeure en nous, et qui nous font voir le monde avec des aspects divins.« (Ibid., p. 551) »Moi, je me sens non pas comme une poussière apparue dans le monde, mais comme un être attendu, provoqué, préfiguré. Bref, comme un être qui ne semble pouvoir venir que dʹun créateur, et cette idée dʹune main créatrice qui mʹaurait créé me renvoie à Dieu. Naturellement ça nʹest pas une idée claire et précise que je mets en oeuvre chaque fois que je pense à moi; elle contredit beaucoup dʹautres de mes idées; mais elle est là, vague. Et quand je pense à moi je pense souvent un peu comme ça, faute de pouvoir penser autrement.« (Ibid.) »[...] jʹai gardé dans le domaine moral une chose de lʹexistence de Dieu, cʹest le Bien et le Mal comme des absolus. La conséquence ordinaire de lʹathéisme cʹest la suppression du Bien et du Mal, cʹest un certain relativisme, cʹest par exemple la considération de morales variables suivant les points de la terre où on les considère.« (Ibid.).
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en, humanistischen Ethik, die – wie auch im Kapitel über Fichte erörtert – einzig beim Wert der uneingeschränkten und rückhaltlosen Freiheit des Menschen ihren Ausgang nehmen soll und ihn zum authentischen Schöpfer seiner Selbst und seiner Welt – und dazu gehört auch die Scheinwelt der Kunst – macht.107 Die durchgängig gebrauchten Leitbegriffe wie Authentizität und Kreativität stellen in Sartres Lebenswerk die Fundierungsmomente authentischen Existierens dar. Sartres ethische Haltung ist dabei keinesfalls mit einer Haltung der Beliebigkeit zu verwechseln. Der Aus-
Deutsch: Selbst wenn man nicht an Gott glaubt, gibt es Elemente der Idee von Gott, die in uns verbleiben und die uns die Welt unter göttlichen Aspekten sehen lassen. Ich fühle mich nicht wie ein in der Welt erschienenes Staubkorn, sondern wie ein erwartetes Sein, provoziert, vorgeformt. Kurz, wie ein Sein, das nur von einem Schöpfer kommen kann. Und diese Idee von einer Schöpferhand verweist mich auf Gott. Natürlich ist dies keine klare und präzise Idee, die ich jedesmal ins Werk setze, wenn ich an mich denke; sie widerspricht vielen anderen meiner Ideen, aber sie ist da, vage. Und wenn ich an mich denke, denke ich oft ein wenig so, in Ermangelung anders denken zu können. [...] ich habe auf moralischem Gebiet etwas von der Existenz Gottes bewahrt, das ist das Gute und das Böse als das Absolute. Die gewöhnliche Konsequenz des Atheismus ist die Unterdrückung des Guten und des Bösen, was ein gewisser Relativismus ist. Zum Beispiel ist das die Betrachtung der variablen Moralen, je nachdem, von welchem Punkt der Erde aus man sie betrachtet. Sartre bejaht die Behauptung von Simone de Beauvoir, dass eine Moral keine Beziehung mehr zu Gott habe, räumt jedoch ein: »[...] il est certain que les notions de Bien et de Mal absolus sont nées du catéchisme quʹon mʹa enseigné.« (Ibid., p. 552) Deutsch: Sicher ist, dass die Begriffe des absoluten Guten und Bösen aus dem Katechismus geboren sind, der mich gelehrt wurde. Ähnlich stark sei der Einfluss religiöser Ideen auf sein Kunstverständnis gewesen. »Cʹest entre des notions de ce genre, très troubles, très disparates, très peu compréhensibles que se meuvent les éléments qui restent dʹune idée divine, éléments qui, je pense, iront en perdant de leur force au fur et à mesure que le monde continuera.« (Ibid., p. 553) Deutsch: Zwischen den Begriffen dieser Art, sehr wirr, sehr disparat, sehr wenig verständlich, bewegen sich Elemente, die von einer göttlichen Idee verbleiben und die, wie ich denke, weitergehen, indem sie ihre Kraft in dem Maße verlieren, wie die Welt weitergeht. 106 In Auseinandersetzung mit den klassischen Positionen menschlicher Daseinsbestimmungen (Aristoteles, Thomas von Aquin, Hegel) geht im Schöpfungsverhältnis Gottes zur Kreatur die Essenz, d.i. die Idee als Gedanke Gottes, dem faktischen Existieren voraus. So betrachtet, hängt die Behauptung vom durchgängigen Primat der Essenz vor der Existenz am Glauben an einen Schöpfergott. Trotz der Kritiken von Diderot, Voltaire oder Kant an dieser Idee – Fichte hat der Vorwurf des Atheis-
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gangspunkt einer idealen ethischen Haltung – oder in der Rede Fichtes als ›Sittlichkeit‹ zu bezeichnen – wird von Sartre im Kontext transzendentalphilosophischer Kriterien reflektiert, und zwar im Kontext seiner Reflexionen über den Zusammenhang von Selbstbewusstsein und Intersubjektivität. Bereits in den Kriegstagebüchern von 1939/1940, in denen Sartre in immer neuen Anläufen seinen ethischen Anspruch an die Literatur reflektiert,108 formuliert er die Frage, wie Identität und Verantwortung in einer entfremdeten Welt überhaupt möglich sind. Entfremdung meint die für Orest oder Roquentin typischen Existenzerfahrungen als Folgen gewaltsamer Entwurzelung bzw. Auflösung von Sinnfälligkeit. Gegen diesen Verlust des sicheren Standorts, des sicheren Wahrnehmens und Urteilens stellt Sartre die zugleich ethische und ästhetische Vision einer vollkommenen Transparenz. Wie Rousseau, den er und Fichte gleichermaßen verehrten, erhebt er die so verstandene Transparenz zum Maßstab der Authentizitätserfahrung.109 Für Sartre ist die Frage nach der persönlichen und gesellschaftlichen Relevanz von Literatur und Kunst von Anfang an mit der Frage nach seiner Identität und Verantwortlichkeit als Intellektueller iden-
mus sogar seinen Lehrstuhl gekostet – lebt der Grundsatz von der Priorität der Essenz vor der Existenz theoretisch und praktisch weiter. Fällt aber der Glaube an einen existierenden Gott der Verzweiflung anheim, dann ist eine Neupositionierung der ontologischen Grundrelation fällig: Wenigstens bei einem Seienden geht die Existenz der Essenz voraus, beim Menschen. 107 Sartre »Lʹintention éthique est donc constituante«, in: Les Temps Modernes, Notre Sartre, Sartre inédit, Année 60, Juillet-Octobre 2005, Paris 2005, p. 373. Ders. »Le caractère principal de lʹethos (quelle que soit la fin éthique) est dʹabord le refus des pièges de lʹhistoire qui obligent lʹagent purement historique à réaliser un destin.« Etwas weiter präzisiert Sartre diesen Gedanken: »Je domine les circonstances (ce qui est un moment réel de lʹaction historique) sans être, en retour, dominé par elles«, in: op. cit., p. 359. Deutsch: Der hauptsächliche Charakter des Ethos (was immer das ethische Ziel auch sei) ist zunächst die Verweigerung der Fallen der Geschichte, die den rein historisch Handelnden dazu verpflichten, ein Schicksal zu verwirklichen. […] Ich dominiere die Umstände (was ein realer Moment der historischen Situation ist) ohne umgekehrt von ihnen dominiert zu werden. 108 Les Carnets de la drôle de guerre, op. cit. 109 Cf. Franz Heerling, »Jean-Jacques und Jean-Paul. Rousseau, Sartre und die Zwangsidee der vollkommenen Transparenz«, in: B. Waldenfels, Hg., Phänomenologie und Marxismus ,B2: Praktische Philosophie, Frankfurt a.M. 1977, pp. 178-199 »Die Zwangsidee ist eine bösartige Variante des Wahrheitsfanatismus.«
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Teil 2: Sartres Ästhetik und Ethik
tisch. Sein literarisches Werk – wie von Judith Butler 110 als Ausdruck der Verkörperung einer »narzisstischen Ethik« bezeichnet – erhebt Anspruch auf umfassende Kenntnis der Komplexität des ethisch – philosophischen Konzepts Sartres.111 Der Vorwurf, er habe niemals eine neue ästhetische Form erfunden, kann Sartre nicht treffen, denn wie Montaigne – den er sehr verehrte – war Sartre stets an der so genannten formlosen Ästhetik seiner künstlerischen Produktionen interessiert.112 Der kontrastive Vergleich mit Fichte macht Sartres Festhalten an metaphysischen bzw. transzendentalen Wurzeln einsichtig. Es kommt ihm nicht auf die Ästhetik der
110 Cf. Walburga Hülk, »Einige Gedanken zum performativen und dekonstruktiven Charakter intellektueller Redlichkeit«, in: Intellektuelle Redlichkeit. Intégrité intellectuelle, Literatur – Geschichte – Kultur, Festschrift für Joseph Jurt, hg v. Michael Einfalt, Ursula Erzgräber, Ottmar Ette, Franziska Sick, Heidelberg 2005, pp. 15-22. Im Rekurs auf J. Butler zitiert sie, dass es (das) »größte(s) Dilemma des Schriftstellers Sartre (sei, dass) dessen nachgerade kannibalistische (narzisstische) Einverleibung aller Diskurse des Intellektuellen niemals eine neue ästhetische Form erfand . [...].« cf. Judith Butler, Kritik der ethischen Gewalt. Adorno – Vorlesungen 2002, aus dem Englischen von Reiner Ansén, Frankfurt, Suhrkamp, 2003. Diese Bemerkung ist dahingehend zu ergänzen, dass Sartre gerade durch seine Technik der Dekonstruktion der traditionellen Denkschemata, Erklärungs- und Darstellungsmuster, die zu Stilmitteln wie Ironie und Paradoxie führt, speziell auch die Verweigerung von Sinn, Bedeutung und Bedeutsamkeit beinhaltet, eine Vielfalt von ästhetischen Formen präsentiert. Schon in La Nausée sind, wie Idt und Zima zeigen, Groteske und Satire, Mehrdeutigkeit und Indifferenz die hervorragenden Narrationstechniken: als Mittel eines satirisch-karnevalesken Gegendiskurses gegen die Ideologien und vielfältigen suggestiven Sinnangebote, die vor allem im Rahmen der faschistischen, bürgerlich-humanistischen oder auch sozialistischen Ideologien der dreißiger Jahre vorherrschen. In: G. Idt, La Nausée. Sartre, Paris 1971 ; P. Zima, Der gleichgültige Held. Textsoziologische Untersuchungen zu Sartre, Moravia, Camus, Stuttgart 1983, cf. H. Harth, Roloff, Hg., Literarische V.Diskurse des Existenzialismus, Tübingen 1986, p. 5 sqq. 111 »De quoi sʹagit-il ? De la littérature engagé ? […] Que de sottises ! Cʹest quʹon lit vite, mal et quʹon juge avant dʹavoir compris.« In: Sartre, Quʹest-ce que la littérature?, Paris 1948, p. 10, cf. H. Mayer, »Was ist Literatur?«, in: ibid., Anmerkungen zu Sartre, Pfullingen 1972, pp 25-30, p. 25: »Eines der besten Bücher Jean-Paul Sartre. Möglicherweise erfüllt sich Sartre am Gültigsten überall dort, wo er als Essayist zu Wort kommt. Der Begriff hier nicht verstanden im engeren Sinne eines Kultur oder Literaturkritikers, sondern in einer umfassenden Traditionsbedeutung, die er seit Montaigne für sich in Anspruch nehmen darf.« 112 Les conférences de Sartre à Kyoto und Tokio 1965, Paris 1972
4. Ethik und Ästhetik des »Homme créateur«
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Formen an, die in seinem Gesamtwerk ohnehin angelegt sind, sondern er betont ausdrücklich die Ästhetik der Inhalte. Bezeichnenderweise setzt sich Sartre im »Plaidoyer pour les intellectuels« 113 mit dem »redlichen« Intellektuellen auseinander, den er, wie im Übrigen auch Fichte, völlig entmythologisiert.114 Dies evoziert die Fragen, wie sich bei Sartre der Intellektuelle als Problemfigur des 20. Jahrhunderts konstituiert und wie er selbst sich als eine spezielle Synthese aus Ethiker und Ästhetiker definiert. Die Tagebücher von 1939/40 geben Einblick in die Genese jenes ethisch– ästhetischen geprägten Literaturverständnisses, dessen wesentliche Merkmale von Sartre bereits früh herausgebildet wurden. Am 30. November 1939 notiert Sartre: »Je ne crois pas schématiser trop en disant que le problème moral qui mʹa préoccupé jusquʹici cʹest en somme celui des rapports de lʹart et de la vie. Je voulais écrire, cela nʹétait pas en question, cela ne fut jamais en question; seulement à côté de ces travaux proprement littéraires, il y avait ›le reste‹, cʹest-à-dire tout: lʹamour, lʹamitié, la politique, les rapports avec soi-même, que sais-je? Quoi que lʹon fit on était jeté au milieu de toutes ces questions. Que faire?«115 5. Sartres Theatertheorie Groteske und Satire, Mehrdeutigkeit und Indifferenz sind nicht nur Sartres hervorragende Narrationstechniken, sondern genau diese Verfahrensweisen und Darstellungsmittel bestimmen auch die Theaterstücke und die
113 Von Fichte liegen uns drei Gelehrtenvorlesungen (1794, 1805 und 1811) vor, die uns als Die Bestimmung des Gelehrten (»de officiis eruditorum«) bekannt sind, op. cit. Teil 1 dieser Arbeit. Carnets, op. cit. p. 95. Cf. zu den Carnets: M. Raether »Zur Poetik des Existenzialismus, Jean-Paul Sartre, Les carnets de la drôle de guerre«, in: H. Harth/ V. Roloff, Hg., Literarische Diskurse des Existenzialismus, Tübingen 1989, pp. 45-56 114 Carnets, op. cit. p. 95. 115 Deutsch: Ich glaube nicht zu sehr zu schematisieren, wenn ich sage, dass das moralische Problem, das mich bis jetzt beschäftigt, in der Summe dasjenige der Beziehungen zwischen der Kunst und dem Leben ist. Ich wollte schreiben, das stand nicht in Frage, das stand nie in Frage; allein neben diesen rein literarischen Arbeiten gab es ›den Rest‹, das heißt alles: die Liebe, die Freundschaft, die Politik, die Beziehungen mit sich selbst, was weiß ich? Was man auch tat, man war mitten in diese Fragen geworfen. Was tun?
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Teil 2: Sartres Ästhetik und Ethik
Theatertheorie Sartres.116 Dabei handelt es sich nicht um ein bloßes Worttheater, in dem existenzialistisch-philosophische Botschaften vermittelt oder der Profanität preisgegeben werden. Sartres Theater setzt auf der Ebene des theatralischen Diskurses selbst, das Mittel des Theaters par excellence, den Autor als Sinnstifter grundsätzlich außer Kraft. Sartres Theater aber, das auf Sinngebung aus ist, indem es den Zuschauer zum Nachdenken anregen will, wendet daher mit Vorliebe groteske Komik, Ironie, Verfremdung, Mythisierung und Mehrdeutigkeit an.117 Dabei spielt die Reflexion des Theaters im Theater selbst ebenfalls eine wichtige Rolle. Mit einer solchen Vorgehensweise hat Sartre nicht nur die postmoderne Literaturtheorie maßgeblich beeinflusst,118 sondern er gilt mit seiner Theorie des
116 Michel Contat dazu in: »Notes pour des mises en scènes possibles des pièces de Sartre aujourdʹhui.« In: Les Temps modernes, 60. Jg., op. cit., pp. 256-267, hier: p. 261: »Il faut donc concevoir la mise en scène comme une alternance de scènes graves, de scènes quasi-grotesques, de farce populaire et de drame juvénile [...]. Pour sa mise en scène Dullin sʹétait inspiré des expérimentations dʹavant-garde du Russe Alexandre Taїrov et ses réinterprétations du mystère et de lʹarlequinade [...].« Deutsch: Man muss die Inszenierung wie eine Alternierung von schweren Szenen konzipieren, von quasi grotesken Szenen, populärer Farce und jugendlichem Drama. [...] Für seine Inszenierung hatte Dulin sich von Experimenten der Avant-Garde des Russen Alexandre Taїrov inspirieren lassen und dessen Reinterpretationen des Mysteriums und der Harlekinade. 117 Sartre lässt den Pädagogen im Theaterstück Les Mouches nicht nur in der gesprochenen Sprache das ›Passé simple‹ sprechen, sondern auch noch das ›subjonctif antérieur‹, obwohl dieser laut M.Grevisse (Le bon usage, Grembloux 1969, § 740b) und Notiz p. 683) in der gesprochenen Sprache schon längst durch das Konditional II ersetzt worden war. Also anstelle von »vous auriez pu« lässt Sartre den Pädagogen sagen »vous eussiez pu«, worin sich widerspiegelt, dass Sartre sich mit der Verwendung solch archaischer Sprachformen über jene Pädagogen mokiert, die ihren Schülern eine elitäre, artifizielle und sinnentlehrte Bildung vermitteln wollen. Offensichtlich lautet Sartres Botschaft, dass man, anstelle die Schüler mit nutzlosem kulturellem Wissen zu überfrachten, man ihnen besser die Reflexionskompetenz zum Nachdenken über ihre eigene Freiheit vermitteln solle. 118 Cf. Volker Roloff, »Überlegungen zur Modernität des Theaters und der Theatertheorie Sartres«, in: ders.,Hg.,Tradition und Modernität, Aspekte der Auseinandersetzung zwischen »Anciens« und »Modernes«, in: Kultur und Erkenntnis Bd. 6, Essen 1989. In dieser Schrift verweist Roloff auf die Ergebnisse des Sartre Kongresses von1988, (Traugott König, Hg.) Sartre, ein Kongress, Reinbek 1988, und macht deutlich, welche Einflüsse von Sartre auf die verschiedensten ästhetischen Theorien ausgegangen sind. So sind in seiner Literaturtheorie sowie literarischen Produk-
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Imaginären sowohl als Wegbereiter der Simulationstheorie von Baudrillard119 als auch der strukturalistischen Literatur -und Diskurstheorien. Insbesondere Sartres Theaterreflexionen zeigen, dass dem existenzialistischen Theater Sartres nicht nur der inhaltliche Vermittlungscharakter existenzialistischer Ideen zukommt, sondern ebenso der formale Charakter von stets anderen Gestaltungsmitteln sowie ständig wechselnden Perspektiverungen. Gerade aufgrund solcher Eigenschaften ist Sartres Theater nicht unter traditionellen Theaterkategorien zu verorten.120 Ihm entgegezuhalten, keine neue Form erfunden zu haben, berücksichtigt u. E. nicht, dass ein existenzialistisches Theater im Stil Sartres gar nicht existenzialistisch wäre, wenn es sich überhaupt formal kategorisieren ließe, oder gar neue ästhetische Formen an ihm entdeckte.121 Bereits in den Prosatexten Sartres erscheint der existenzialistische Diskurs nicht thesenhaft in Form explikativer philosophischer Vermittlung von Ideen im Sinne traditioneller Denkschemata und Erklärungsmuster. Deren Negation führt in Sartre in seinen Theaterstücken zum Einsatz von Stilmitteln wie Ironie und Paradoxie, der Verweigerung von Sinn, Bedeutung und Bedeutsamkeit. Groteske, und Satire, Mehrdeutigkeit und Indif-
tionen bereits Spielformen des Paradox und der Ironie vorhanden, die die wichtigsten Merkmale postmoderner écriture, die der Ironie, Maskerade, dem metasprachlichen Spiel, wegweisend vorbereiteten. Damit widersprechen wir Bohlen, der behauptet, dass dieses geistige Ringen zwischen Ich und Gesellschaft zur Verzweiflung und zum Nihilismus führe: »Sartre bewegt sich daher in einer wüsten Welt, die bar jeden Sinnes ist, empfindet nichts im Menschen als eine große Leere und wird dadurch zur Angst um seine Existenz, zum Abscheu vor dem Dasein getrieben«, in: A. Bohlen, Methodik des neusprachlichen Unterrichts, Heidelberg 1963, p. 120. 119 Sartre, LʹImaginaire, Paris 1948; J. Baudrillard, Lʹéchange symbolique et la mort, Paris 1976. 120 »Le but recherché était de faire participer le public à une sorte de cérémonie sacrée où lʹeffet de terreur était distancé par un comique étrange et révélait sous le poli bien français des mots dʹune pulsion plus archaїque, une poésie plus intensément tellurique, une vive tension dramatique.« In: Michel Contat, op. cit., p. 261. Deutsch: Das gesuchte Ziel war, das Publikum an einer Art heiliger Zeremonie teilnehmen zu lassen, wo der Effekt des Terrors mittels einer fremdartigen Komik distanziert wurde und unter dem höflich guten Französisch der Wörter einen archaischeren Trieb hervorbrachte, eine intensiver tellurgische Poesie, eine lebendige dramatische Spannung. 121 Cf. W. Hülk, Festschrift für Joseph Jurt, Heidelberg 2005, op. cit., Zitat 66.
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ferenz sind Sartres ästhetisch-rhetorische Techniken, wie das folgende Zwiegespräch zeigt: »JUPITER: A propos, si ces mouches vous ennuient, voici le moyen de vous en débarrasser ; regardez cet essaim qui vrombit autour de vous: je fais un mouvement du poignet, un geste de bras, et je dis: »Abraxas, galla, galla, tsé, tsé.« Et voyez: les voilà qui dégringolent et qui se mettent à ramper par terre comme des chenilles. ORESTE: Par Jupiter ! JUPITER: Ce nʹest rien. Un petit talent de société. Je suis charmeur de mouches, à mes heures. Bonjour. Je vous reverrai. (Il sort).«122 Laut Roloff bilden sie das »Mittel eines satirisch-karnevalesken Gegendiskurses gegen die Ideologen und vielfältigen, suggestiven Sinnangebote, die [...] im Rahmen der faschistischen, bürgerlich-humanistischen oder auch sozialistischen Ideologien der dreißiger Jahre vorherrschen.«123 Damit kommt der Ästhetik Sartres in diesem Punkt eine ethische Bedeutung zu. Sartres Theatertheorie ist daher aber nicht nur eine das Theater selbst betreffende Form von Ästhetik, sondern sie berührt alle seine künstlerischen Produktionen, darin eingeschlossen auch Sartres philosophische Werke. Der Facettenreichtum seiner Theorie macht deutlich, dass Theater in diesem grenzüberschreitenden Sinn viel mehr ist als nur Theater. In seiner Studie über Sartres Theater macht Roloff einsichtig, dass der Erfolg von Theatertheoretikern gerade in ihren Grenzüberschreitungen begrün-
122 Cf. MS I,1. Deutsch: JUPITER: Übrigens, wenn diese Fliegen Sie ärgern, hier ist das Mittel, um sie loszuwerden; Sehen sie diesen Schwarm, der um Sie her schwirrt: ich mache eine Bewegung mit der Faust, eine Geste mit dem Arm, und ich sage »Abraxas, galla, galla, tsé, tsé. Und sehen sie, wie sie herabfallen, wie sie sich auf dem Boden krümmen wie Raupen. ORESTE: Bei Jupiter! JUPITER: Das ist nichts. Ein kleines Gesellschaftstalent. Ich bin Mückenbändiger, und das in meinem Alter! Ich werde Sie wieder sehen. (Er geht hinaus). 123 Cf. V. Roloff, op. cit. p. 95
5. Sartres Theatertheorie
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det ist und Sartre in dieser Hinsicht beeinflusst haben, auf Konzeptionen zurückzugreifen, die das Theater in diesem erweiterten Sinn als Mythos, oder als Beispiel eines »umfassenden theatrum mundi verstehen.«124 Bei Sartre sind Modernität und Tradition, verstanden als Rückgriff auf die Geschichte und Mythen des Theaters, eng und untrennbar verbunden. Das Bindeglied all dieser Inhalte bildet für Sartre allerdings das Spiel. Sartres Spieltheorie liegt seiner Konzeption des Theaters nicht nur zugrunde, sondern sie ist eine Theorie, in der das Spiel als Erklärungsmöglichkeit und Symbol für die Problematik der menschlichen Existenz schlechthin gilt und das die ethische Implikation in Sartres Poiesis zum Vorschein kommen lässt: »Le jeu est à lʹorigine du monde. Il y a monde (cʹest à dire, liaison intime entre la société humaine et la nature) lorsque les conventions nʹont dʹautre effet que de transformer en tous les domaines lʹactivité humaine en ballet.«125 Theater und Philosophie sind für Sartre insofern vergleichbar, als sie den Spielraum der menschlichen Freiheit veranschaulichen: »Aujourdʹhui je pense que la philosophie est dramatique. Il ne sʹagit plus de contempler lʹimmobilité des substances qui sont ce quʹelles sont, ni de trouver les règles dʹune succession de phénomènes. Il sʹagit de l`homme qui est à la fois un agent et un acteur – qui produit et joue son drame en vivant les contradictions de sa situation jusquʹà lʹéclatement de sa personne ou jusquʹà la solution de ses conflits.«126 Geht man von Sartres ästhetischer Konzeption des Spiels aus, so zeigt sich, dass Gefängnis und Spiel für ihn zu den Symbolen der menschlichen Existenz zählen. Insbesondere die Situation des Gefängnisses und der Eingeschlossenheit sind für die Analyse der Existenz als Spiel geeignet, da sie im Theater als For-
124 Ibid. op. cit. 125 Sartre, Saint Génet. Comédien et martyr, Paris 1952, p. 144. Deutsch: Das Spiel ist am Urbeginn der Welt. Es gibt Welt (das heißt intime Verbindung zwischen der menschlichen Gesellschaft und der Natur), wenn die Konventionen keinen anderen Effekt haben, als die menschlichen Aktivitäten auf allen Domänen in ein Ballet zu verwandeln. 126 Cf. Situation IX, Mélanges, Paris 1972, p. 12. Deutsch: Heute denke ich, dass die Philosophie dramatisch ist. Es handelt sich nicht mehr darum, die Bewegungslosigkeit von Substanzen zu betrachten, die das sind, was sie sind, noch die Regeln einer Folge von Phänomenen zu finden. Es handelt sich vielmehr um den Menschen, der zugleich Handelnder und Spieler ist – der sein Drama produziert und spielt, indem er die Widersprüche seiner Situation lebt bis zum Bersten seiner Person oder bis Lösung seines Konflikts.
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men des Spiels durchschaubar werden. Es ist kein Zufall, wenn Sartre auf die Dialektik der griechischen Tragödie zurückweist, um an ihr die Paradoxie des »condamné à être libre« zu explizieren, gerade weil die griechische Tragödie den Menschen, wie es scheint, in einer fatalen Abhängigkeit von den Göttern schildert. Sartre erläutert diesen Gedanken in seinem programmatischen Entwurf eines ›théâtre de situations‹: »la fatalité que lʹon croit constater dans les drames antiques nʹest que lʹenvers de la liberté.«127 In Anlehnung an Kierkegaard, der bereits den Begriff des Charakters angezweifelt hatte128 sind Sartres Theaterstücke darauf angelegt, die dramatischen Figuren gewissermaßen dem Spiel auszuliefern. Dies hat für sie die Konsequenz, ihnen den Glauben an ihren Charakter, an Kausalität und festgesetztes Schicksal zu entziehen, also substantialistische und psychologische Motivationen aufzulösen. Vor allem will Sartre das falsche Pathos der Helden entlarven, um die komödiantische Kehrseite der Tragödie, die Lächerlichkeit des »esprit du sérieux«129 zu zeigen. Damit eröffnet sich für
127 Un théâtre de Situations, op. cit., p. 19. Deutsch: Die Fatalität, die man in den antiken Dramen festzustellen glaubt, ist nur die Kehrseite der Freiheit. 128 Sartre: »le caractère vient après, quand le rideau est tombé. Il nʹest que le durcissement du choix, sclérose; il est ce que Kierkegaard nomme répétition. Ce que le théâtre peut montrer le plus émouvant, est un caractère en train de se faire, le moment du choix, de la libre décision qui engage une morale et toute une vie.«, in: ibid. p. 20. Deutsch: Der Charakter kommt danach, wenn der Vorhang gefallen ist. Er ist nichts als Verhärtung der Wahl, Sklerose; er ist das, was Kierkegaard Wiederholung nennt. Was das Theater als das Bewegendste zeigen kann, ist wie ein Charakter im Begriff ist, sich zu machen, der Moment der Wahl, seiner freien Entscheidung, die eine Moral und ein ganzes Leben bindet. 129 Wir haben anhand der ›langage du pédagogue‹ (MS, I,2 p. 17) gezeigt, wie die von Sartre benutzte Tempusmetaphorik einen Teil seiner entlarvenden Strategie ist. Auch die Wahl seiner Sprachregister zeigt diesen Sachverhalt: Allein schon in I,1 (MS) lassen sich fünf verschiedene Vertextungsstrategien ausmachen: 1. antithèse (noir-aveuglant; sinistre-le soleil); 2. métaphore (ça se compte au poids = le repentir; le peuple léger de Argos); 3. langue familiaire (par exemple!; ouais!); 4. langue populaire (a carne = mauvaise viande, vieux cheval; le cul = le derrière; du vilain = qc. de terrible); 5. argot (les mirettes = les yeux) Später, in I,2 , tritt als 6. die langue vulgaire hinzu (Orest nennt seine Mutter, die Königin von Argos, la putain und Ägisth le maquereau). Sprachstrategisch tritt als Stilmittel noch die Anapher hinzu (quadruple: sans..., sans... ,sans... ,sans...,) Diese Fülle von Stilmitteln besitzen als rhetorische Eigenheiten einen speziellen Aussagewert, den die Rezeptionsästhetik Sartres noch lange nicht hinreichend ausgeschöpft hat.
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Sartres Theater ein Spielraum für Ironie und Komik, der seine Stücke generell als Denkspiele, als ambivalent im Sinne des Spielbegriffs und damit aber auch missverständlich erscheinen lässt.130 5.1. Gattungspoesie und Rezeptionsästhetik im Drama Les Mouches Sartres Drama Les Mouches131 ist darauf angelegt, Entscheidungssituationen zu schaffen, die jeweils zu Veränderungen der bisher gewählten Rollen der Hauptfiguren führen. Mit der im Juli 1943 uraufgeführten ethisch-ästhetischen Umdeutung des Atriden-Mythos bringt Sartre die Urstiftung des existenzialistischen Theaters zur Darstellung.132 Es handelt von der Selbstwerdung der Existenz, der Entdeckung des Sich-Selber-Wählens. In der Auseinandersetzung mit dem Begriff »culpabilité«133 verdeutlicht Sartre den Übergang von einem schwerelosen in ein bedrückendes Dasein. Der Täter identifiziert sich mit seiner schwerwiegenden Tat, weil er die Verantwortung für den Anderen übernommen hat.134 Das Spiel der Tragö-
130 Michel Contat: »Car, bien interprétées, les pièces de Sartre sont des machines de guerre intelligentes, comme on parle aujourdʹhui dʹarmes intelligentes«, in: op. cit., p. 265. Deutsch: Denn, gut interpretiert, sind Sartres Stücke intelligente Kriegsmaschinen, wie man heute von intelligenten Waffen spricht. 131 Sartre, Huis clos suivi de Les Mouches, Paris 1976, im Folgenden MS. 132 I. Galster, Le théâtre de Jean-Paul Sartre, Tübingen 1986, pp. 50 sqq. 133 Sartre: »Ne songer quʹà ce passé, sʹen tourmenter même nuit et jour, cʹest un sentiment infécond, purement négatif. […] Par conséquent la responsabilité peut mʹamener à quelque chose dʹautre, à quelque chose de positif, cʹest-à-dire réhabilitation nécessaire, à lʹaction pour un avenir fécond, positif.« In: Un théâtre de situations, Paris 1973, pp. 232 sqq. Deutsch: Allein an diese Vergangenheit zu denken, sich sogar Tag und Nacht damit zu quälen, das ist ein unfruchtbares Gefühl, völlig negativ. […] Folglich kann mich die Verantwortung zu etwas anderem hinführen, zu etwas Positivem, das heißt notwendige Rehabilitation, zur Handlung für eine fruchtbare positive Zukunft. 134 In diesem Punkt widersprechen wir der These von M. Fleischer, die das Handeln Orests in Sartres Drama als monadologisch verortet. […] op. cit. Teil 1 dieser Arbeit. Fleischer argumentiert ganz in der Linie K. Hamburgers, wenn diese den antiken Orest von Apoll als rehabilitiert, d.i. seiner Schuld entsühnt sieht: »Mag durch Abstimmung entschieden sein, daß er nicht schuldig ist, dies ist nur [...] eine legale, nicht aber moralische Entscheidung. Orest hat nicht selbst darüber entschieden, ob seine Tat getan werden mußte oder nicht. Er hat nicht als freier, sich selbst bestimmender Mensch handeln können, [...] auch nicht als ein freier Mensch sich freiwilliger Sühne unterzogen, sondern wird über seinen Kopf hinweg freigesprochen, aus
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die ist kein nachträgliches Beispiel für eine philosophische Konzeption totaler menschlicher Freiheit in einem Existenzialismus, der nichts anderes sein will, als »un effort pour tirer toutes les conséquences dʹune position athée cohérante.«135 Es ist dessen Vorspiel, denn es thematisiert die Katharsis der Reue und bringt eine unableitbare Angst und ursprüngliche Verzweiflung (désespoir originel) ins Spiel, die im Existenzialismus Sartres die Ausgangsbasis darstellt.136 Sartres Drama setzt das griechische Atriden-Mythos in nihilistischer und dekonstruktiver Gegendichtung fort, indem er den mythischen Gestalten Mehrdeutigkeit verleiht, d.h. weitaus andere Deutungsmuster, als bloß die allegorische Verkleidung einer politischen Parabel zu sein, welche das bürgerliche Publikum im Théâtre de la Cité leicht aktualisieren konnte.137 Im Originalstück des Aischylos wird offenbar, was die Fliegen, die Erinnyen des Mythos, ihrem archaischen Ursprunge nach sind. Bei den Toten Arai (Gebete) genannt, versenden sie die flucherfüllten Gebete der misshandelten Toten, die nach Vergeltung trachten. Innerhalb der Trilogie des Aischylos ist der epochale Umschwung allerdings gerade der Wandel der Erinnyen von chthonischen Rachegöttinnen in Eumeniden, in Hüterinnen friedvoller Gerechtigkeit. Da allein Zeus, der Gott das archaische Gesetz der Blutrache aufzuheben vermag, löst er durch die Tochter Athena am Schluss der Tragödie Orest vom Bann der Erinnyen. »Zeus, der Allschauende, fügte es so und das Schicksal.«138
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Gründen, die wiederum nicht durch ihn selbst gegeben werden, sondern durch überpersönliche Satzungen, zu denen er selbst nichts beiträgt.« Nach Hamburger bleibt Orest »als Problem zurück, als Muster im eigentlichen Sinne unfrei, determiniert handelnden Menschen.« In: K. Hamburger, Von Sophokles zu Sartre, Griechische Dramenfiguren antik und modern, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1974, p. 45 Sartre, Lʹexistencialisme est un humanisme, Paris 1970, p. 94. Deutsch: […]eine Bemühung, alle Folgerungen aus einer zusammenhängenden atheistischen Einstellung zu ziehen. Ibid. op. cit., p. 94. Ägisth als Verkörperung faschistischer Ordnung der Deutschen, Klytaimnestra als die der Bußfertigkeit der Collaborateure von Vichy, Elektra als die der Not des Vaterlandes, Orest als die des Terroristen der Résistance. Bezeichnenderweise bleiben bei solcher Rollenverteilung Jupiter funktionslos und ebenso »Die Fliegen« ohne sinnbildliche Kraft. Vers 1045-1046.
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Demgegenüber ist Sartres ästhetisch-ethisches Drama die nihilistische Travestie des aischyleischen Mythos. Er führt die Götterdämmerung (crépuscule) in der Selbsterkenntnis Orests vor, der Argos von der Plage der Fliegen befreit. Die ,Moiren‹ haben Zeus seinen Untergang angesichts der aufbrechenden menschlichen Freiheit prophezeit. Daher lautet bei Sartre das letzte Wort Jupiters: »Eh bien, Oreste, tout ceci était prévu. Un homme devait venir annoncer mon crépuscule. Cʹest donc toi?«139 Jupiter spielt dabei die Rolle des seit Xenophanes moralisch gewordenen, platonischchristlichen Gottes. In seiner Selbstbezeichnung »Je suis le bien«140 ist sein Untergang beschlossen. Wird nämlich entdeckt, dass das Gute allein in der Autonomie unserer Freiheit gründet und dass diese sich nicht apriorischen Gesetzen unterwirft – Sartre übt indirekt Kritik an Kant – dann schwindet die Macht der Götter zu bloßer Illusion. So geschieht in Sartres Drama ein Zweifaches zugleich. In der Anagnorisis erkennt erstens der Mensch sich in seiner Freiheit wieder. Zweitens schlägt in der Peripetie die Macht der Götter in Ohnmacht um. In der Anagnorisis-Szene von Les Mouches geht – wie in der Hochform des griechischen Dramas – mit der Peripetie, der Umschwung von Glück in Unglück einher. Wenn Sartre auch Sprachstil und Sprachformen der hohen Tragödie phantasievoll in eine leichte Alltagsprosa141 auflöst, so behält er doch diese traditionelle Aufbauform bei. Auf die Analyse von Wiedererkennung und Glücksumschwung beschränkt sich unsere zunächst hermeneutische Betrachtung dieses Dramas. Der Anagnorisis-Prozess in der Mitte des Dramas (II,1,4) hat das Wiedererkennen der Geschwister nur zum Vor- und Nachspiel eines Selbsterkennens, in welchem Orest zu sich selber findet. Orest nämlich kommt als Fremder, Verbannter (exilé), und Fremder in der Welt (étranger) nach Argos. Ausgestoßen aus allen Bezügen lokaler und menschlicher Bindungen sucht er sich selbst in seiner wesenhaften Herkunft wieder zu erkennen. Aber er hat eben nicht an der ›Erbschuld‹ der Menschen von Argos teil. Die aus Langeweile geborene, wollüstig zerstreuende Anteilnahme an der
139 Cf. MS III,2. Deutsch: Nun denn, Orest, all dies war vorgesehen. Ein Mensch musste kommen, um meine Götterdämmerung anzukündigen. 140 Cf. MS III,1 141 Produktionsästhetisch enthält diese Alltagsprosa alle Sprachregister der Gegenwartssprache.
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Teil 2: Sartres Ästhetik und Ethik
Ermordung Agamemnons hätte durch ein einziges Wort verhindert werden können. In den Augen Jupiters existiert Orest in einer unerhörten Unschuld (impertinente innocence).142 Sartre stellt ihn uns als einen träumenden, gleichgültigen Geist vor, erzogen in der Lehre eines »lächelnden Skeptizismus«, geübt in der skeptischen Ironie, in schöner innerer Freiheit schwerelos hin- und hertreibend. Es fällt auf, wie sich im Falle Orests die Analyse der Angst Kierkegaards als anziehend-abstoßender Traum der Freiheit wiederfindet. Orests unschuldiges Bewusstsein führt ihn in die Wahrnehmung seiner Freiheit, selbst wenn er die Tat des Muttermordes beginge, um die Leere seines Herzens zu erfüllen, aber »ce sont des songes« (MS, I,2) So ist Orest noch nicht er selbst, und darum wird er auch von Elektra nicht erkannt. Der sanftmütige Skeptiker ist nicht der, den Elektra allein als ihren Bruder erkennen, und d.h. anerkennen kann, den Rächer des Vatermordes aus dem Hause des Atreus. Zugleich wird sich Orest bewusst, wie fremd er sich selbst ist. »Qui suis-je et quʹai je à donner?, moi? Jʹexiste à peine: de tous les fantômes qui rôdent […] aucun nʹest plus fantôme que moi.«143 Durch Elektra erst findet er sich herausgefordert, die Tat zu begehen, die ihm Existenz ermöglicht. Dadurch wandelt sich der ironische Zweifel eines unbeteiligten Zuschauers in die tragische Verzweiflung eines Handelnden, dem sich das Gute und Böse seines Engagements unterschiedslos darbieten. Er soll, um nicht am Vater schuldig zu sein, an der Mutter schuldig werden.144 In dieser Situation fordert Orest von Zeus ein Zeichen (»manifeste-moi ta volonté par un signe«), um sich als derjenige wieder zu erkennen, der das Rechte tut. Jupiter zaubert die Zeichen herbei. Um den heiligen Stein, der das Totenreich verschließt, lässt Jupiter Licht sprühen. Für die Furchtsamen wirkt dieses sprühende
142 Sartre: »comme un fossé profond«, in: MS, p. 16. Deutsch: Sartre: wie ein tiefer Graben. 143 Cf. MSII,1,4. Deutsch: Wer bin ich? Was habe ich zu geben? Ich? Ich existiere kaum. Von allen Gespenstern, die umherziehen, […] ist keiner mehr Gespenst als ich. 144 Man bemerkt an dieser Stelle den Einfluss Corneilles: »Sartre a compris la leçon des classiques en particulier de Corneille, qui a beaucoup compté pour lui: le drame est résolution, suspens de la décision puis décision.« Cf. D. Guénoun, La raison dramatique, Actions et acteurs, zit. in: J.F. Louette, op. cit., p. 224. Deutsch: Sartre hat die Lektion der Klassiker verstanden, besonders von Corneille, der ihm viel bedeutet hat.: Das Drama ist Entschluss, Entscheidungsspannung, dann Entscheidung.
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Licht wie ein gewaltiger Zauber, dem akademischen Skeptiker kommt es jedoch vor wie ein neuplatonisches Lichtquell-Gleichnis. Orest aber, sowohl tragischer Zweifler als auch schon moderner Skeptiker, vermag den Sinn dieses metaphysischen Zeichens nicht zu begreifen. »Elle nʹest pas pour moi, cette lumière.« (ibid., op. Cit.) Jegliches Zeichen spricht aus seiner Deutung durch das deutende Subjekt. Sartre hat in seiner bekannten Diskussion der Angst Abrahamsʹ145 das Sein des Zeichens von dessen Deutung des dazu entschlossenen Ichs abhängig gemacht. Nicht das ungewisse Zeichen der Stimme Gottes designiert Abraham zum Vater des Glaubens, sondern die furchtbare Deutung, die dieser ihm gibt. Im Falle des Sartreschen Orest liegt die Bedeutung des Gotteszeichens allein in seiner leeren Bedeutungslosigkeit. Es zeigt, was der Gott des ewig Guten ist: Lichtzauber und lautes Getöse.146 Hier aber wird das Zeichen Gottes in seiner schweigenden Bedeutungslosigkeit zum Symbol menschlicher Wiedererkennung. In ästhetischer Anspielung auf die Ausgangsthese seiner legendären Schrift Lʹexistentialisme est un humanisme zeigt Sartre seinen Helden Orest in dem Moment, indem ihm plötzlich klar wird, angesichts der Absenz Gottes seine Existenz allein erfinden zu müssen: »[…] tout à coup, la liberté sʹest fondu sur moi et mʹa transi, la nature a sauté en arrière, et je nʹai plus dʹâge, et je me suis senti tout seul, au milieu de ton petit monde bénin […] et il nʹy a plus rien eu au ciel, ni Bien ni Mal, ni personne pour me donner des ordres.« 147 So vollzieht sich die Wiederkennung des Menschen. Zeichen weisen nur hin. Die Freiheit trifft das Dasein »wie der Blitz« (II, 2, 8); sie ist unvermittelt »tout à coup« (III, 1) da. Vermittlungen des Denkens kommen zu spät. So wie Orest zu
145 Cf. Lʹexistentialisme est un humanisme, op. cit., p. 13 146 Das wiederholt sich in der Schlüsselszene von Sartres Drama Le diable et le bon Dieu. Götz, der Bastard, der ortlos und fremd weder zum Adel noch zu den Bauern gehört, sucht sein Dasein im Guten oder Bösen festzumachen und erfleht dafür vom ›lieben Gott‹ ein Zeichen. Das Ausbleiben des Zeichens wird ihm zum Zeichen für das Ausbleiben Gottes. »Das Schweigen ist Gott. Die Abwesenheit ist Gott, die Verlassenheit der Menschen ist Gott. Was da war, war einzig ich.« (10. Bild, 4). 147 Cf. III,2, 1. Deutsch: Plötzlich ist die Freiheit über mir ausgebrochen und hat mich erstarrt, die Natur ist zurückgesprungen, und ich habe kein Alter mehr, und ich habe mich ganz einsam gefühlt inmitten deiner mildherzigen Welt. […] Und nichts mehr hat es mehr am Himmel gegeben, weder Gut noch Böse, niemand, um mir Befehle zu erteilen.
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sich kommt, fühlt er sich frei und entschlossen, zum Beil zu werden, das sich in das Herz von Argos bohrt. Der archaische Orest musste,148 der moderne Orest will schuldig werden. An diesem Existenzentwurf glaubt Elektra, den Bruder wieder gefunden zu haben und ruft ihm endlich mit seinem eigenen Namen an.149 Nach der Tat indes wird Elektra von der Reue und den Erinnyen eingeholt, und am Ende erkennen die Geschwister einander nicht mehr. (II,2, 6) 5.2. Die ethische Bedeutung von Les Mouches und ihre ästhetische Vermittlung Mit der Anagnorisis vollzieht sich die Peripetie. In der Inszenierung des modernen Tragödienumschwungs lässt Sartre inszeniert mit dem Sturz der Ordnung der Könige das Glück des obersten Gottes einstürzen. Jupiter herrscht als der Gott der Fliegen und der Toten. Die Fliegen sind die nihilistisch ins Christliche umgedeuteten Erinnyen, Göttinnen der Reue. Durch die Macht der Gewissensbisse gelingt es ihnen, das Selbstbewusstsein im Zustand der Reue nieder zu halten. Reue (remords) meint dabei jene Vorstellung, mit der Hinwendung auf ein Verbrechen auf eine einzige Karte gesetzt zu haben. Wenn die eigene Freiheit nicht in der Lage ist, das Verbrechen wieder gut zu machen, dann beherrschen Angst und Schrecken den Täter bis zum Tode. Dieses Bewusstseinsgesetz wird von Klytaimnestra beispielhaft zur Schau gestellt. (I,4) Das ganze Volk von Argos wird erzogen, durchdrungen vom Geist der Reue, Gewissenbisse in ihr Bewusstsein aufzunehmen. In dem Maße, wie die Fliegen unaufhörlich und allgegenwärtig in die Stadt eindringen und sie verseuchen, dringt die Reue in alle Winkel des Bewusstseins und stellt das Machtmittel bereit, mit dem der König der Könige über das menschliche Bewusstsein herrscht. Sein anderes Herrschaftsinstrument sind die jährlich einmal aus der Unterwelt heraufgeholten Toten in einer unerhört schaurigen Sepulkralzeremonie. Auch sie versetzen die Lebenden in Schrecken und Reue. Das Sein der To-
148 Nur nach solcher Auffassung der Tat lässt sich die Behauptung Fleischers bestätigen. 149 Im Monolog Elektras verwendet Sartre zur Akzentuierung seiner ästhetisch ethischen Aussagen das Stilmittel der Gradation: Oreste: »Je lʹai voulu! Je le veux, il faut que je le veuille encore!« MS, I,1 und ibid. Electre: »Joie! Joie! Je pleure de joie!« Deutsch: Ich habe es gewollt! Ich will es! Ich muss es noch wollen!
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ten ist der Blick ihrer starren, ebenso hoffnungs- wie erbarmungslosen Augen.150 (II,1,2) Vor diesem unsichtbaren und reinen Blick (»ce regard invisible et pur«, ibid.) findet sich der Lebende entblößt, den Toten gegenüber in seinen Verfehlungen ohne Ausflucht. Durch die Toten und die Fliegen behauptet sich Jupiter, bis jemand bereit ist, diesem ein Ende zu setzen. Der christlich-existenzialen Analyse der Reue Kierkegaards setzt Sartres Deutung der Reue einen kritischen Kontrapunkt entgegen. Kierkegaards Schlusssatz über die Reue in »Entweder/Oder« besagt: »Nur indem man sich selbst bereut, wird man konkret, und allein als konkretes Individuum ist man ein freies Individuum«151 Reue (anger, verwurzelt mit lat. angor = würgende Angst) heißt zunächst der beengende Schmerz über eine Schuld, der kein Mensch entgeht. Der erwachte Verstand jedes Einzelnen selbst ist die Ursache dafür, dass sich die indifferente Einheit des kindhaften Gemüts in den Gegensatz von Gut und Böse entzweit. Der Reuige leidet nicht nur an Schmerz über etwas Böses, sondern vielmehr daran, dass sein Selbstsein Ursprung der Entzweiung zwischen dem Guten und Bösen ist. Gleichzeitig drückt die Reue den Hang zur Sühne und Versöhnung aus, denn sie will den absoluten Gegensatz des Bösen überwinden, ohne ihn jemals ausschließen zu können. Formal kann die Funktion der Reue nicht anders gedeutet werden, denn in der christlich – existenzialen Dialektik der Reue ist die Antithese konstitutiv für die Synthesis endlichen Bewusstseins. Reue ist daher unendlich. Sie kommt erst in der Unendlichkeit Gottes zur Ruhe. Im Bewusstsein der Reue ist Gott die Versöhnung selbst. Durch die Versöhnung in Gott findet sich das Selbst heil in die konkrete Unmittelbarkeit und in den Zusammenhang seiner Geschichte, des Geschlechts, seiner Mitwelt und Umwelt zurückgebracht. »Die Reue bringt
150 Cf. Les Mouches III.2, Oreste: »Les gémissements de ma mère, crois-tu que mes oreilles cesseront jamais de les entendre? et ses yeux immenses – deux océans démontés – dans son visage de craie, crois-tu que mes yeux cesseront jamais de les voir ?« Deutsch: Das Winseln meiner Mutter, glaubst Du, dass meine Ohren jemals aufhören werden, es zu hören ? Und ihre immensen Augen – zwei demontierte Ozeane – in ihrem Kreidegesicht, glaubst Du, dass meine Augen jemals aufhören werden, sie zu sehen ? 151 Sören Kierkegaard, 1.-36. Abt., Gesammelte Werke, übersetzt und kommentiert von E. Hirsch, H. Gerdes H. M. Junghans. 36 Abteilungen in 26 Bdn. Düsseldorf/Köln 1950-1966, 2./3. Abt., p. 264.
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das Individuum in die innigste Verbindung und den genauesten Zusammenhang mit einer Umwelt.«152 Nur indem das Selbst bereut, wird es konkret, d.i. wirklich frei. Reue ist die höchste Bedingung der sich selbst wählenden Freiheit. Die nihilistische Dichtung der ›Fliegen‹ wertet die Reue um. Sie versperrt das Sich-selber-Wählen der Existenz und bannt das Dasein ins Bewusstsein, verworfen zu sein. Sie hält es gerade davon ab, in sich selbst, d.i. auf den Grund seiner Freiheit zu schauen.153 Der Orest Sartres bleibt zwangsläufig reuelos. Auch hat er es nicht nötig, von einem menschlichen Gericht freigesprochen zu werden.154 Dafür hat er die Verlassenheit erfahren und darin seine Freiheit entdeckt. Er existiert im Stande einer Reuelosigkeit, deren grundlegende begriffliche Explikation von Sartre in »Lʹêtre et le néant« vollzogen wird: »Celui qui réalise dans lʹangoisse sa condition dʹêtre jeté dans une responsabilité qui se retourne jusque sur son délaissement, nʹa plus de remords, ni regret, ni excuse; il nʹest plus que liberté qui se découvre parfaitement elle-même.«155 Wer in der Angst seine Seinsstellung realisiert, in eine Verantwortlichkeit geworfen zu sein, die sich bis auf seine Verlassenheit erstreckt, hat keine Gewissensbisse mehr, keine Anwandlungen von Reue.[...]; er ist weiter nichts als eine Freiheit, die sich in vollkommener Weise selbst entdeckt.«156 Orest hat »das schmerzliche Geheimnis« der Götter und Könige durchschaut: »cʹest que les hommes sont libres.«157 Auch enthüllt sich ihm das zweite Geheimnis: »Wenn einmal die Freiheit in einer Menschenseele auf-
152 Ibid. op. cit., pp. 256–257. 153 Cf. Les Mouches, (Fortsetzung von Zitat 96) »Et lʹangoisse qui te dévore, crois-tu quʹelle cessera jamais de me ronger? Mais que nʹimporte: je suis libre. Par-delà lʹangoisse et les souvenirs. Libre. Et dʹaccord avec moi.« Deutsch: Und die Angst, die Dich verschlingt, glaubst Du, dass sie jemals aufhört, mich zu zermürben ? Aber was macht das schon, ich bin frei. Jenseits von Angst und Erinnerungen. Frei. Und mit mir selbst in Übereinstimmung. 154 Cf. K. Hamburger op. cit., p. 60: »Erlösung und Entsühnung wären für Sartre Indizien der Unfreiheit und Abhängigkeit des Menschen, da sie ihn auf andere Instanzen verweisen als die er in sich selber findet.« 155 EN, p. 642. 156 Dt.: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie. Neuausgabe: Übersetzt von J. Streller, K.A. Ott und Alexa Wagner, Reinbeck 1962 (SN), p. 527. 157 Cf. MS III,2.
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gebrochen ist, können die Götter nichts mehr gegen diesen Menschen.« 158 Für den Gott ist die Wiederentdeckung der totalen menschlichen Freiheit eine fürchterliche Katastrophe.159 Jupiter bleibt zwar König der Götter, der Steine, der Sterne, der Meereswogen, nicht aber mehr Herr über den Menschen. Die Natur – der Lauf der Planeten, die Harmonie der Sphären, die Zeugung der Lebewesen – unterliegt nach wie vor seiner Ordnung nach ewigen Gesetzen. In ihr folgt alles Existierende einem wesenhaft Allgemeinen. Sartres Neuorientierung dieser Ordnung kehrt diese Ordnung allein im Falle des Menschen um. Sein Orest hat erfahren, dass er sein eigentliches Sein nur findet, indem er es er-findet. Diese Erfahrung bezahlt er mit dem Leid der Verzweiflung und Verlassenheit. Darum graut der Natur vor dem aufständischen Menschen.160 Sartres Orestie endet in einer Katharsis der Verzweiflung, deren Ursache Sartre in der ›terreur‹ und der ›pitié‹161 sieht. Im Drama les Mouches allerdings ist das Mitleid die Ursache für die Katharsis: »Ce sont les Argiens qui le jour de la fête des morts, en proie aux remords, réclament la pitié dʹEgisthe et des revenants: mais certes pas Oreste.« 162 Nach J.F. Louette nimmt Sartre hier indirekt Bezug auf Platon und dessen ästhetisches Modell in ›Ion‹, und zwar auf dessen berühmtes Bild »de lʹaimant qui comme une série de pierres attitrées unit au dieu le rhapsode et les auditeurs.« 163 Er
158 Les Mouches, p. 60, Oreste: »[...] car la liberté, cʹest lui [mon acte].« 159 Ibid. II, T. II, 5: Jupiter: »Le secret douloureux des Dieux et des rois: cʹest que les hommes sont libres. [...] Oreste sait quʹil est libre.« II,2 Deutsch: Das schmerzhafte Geheimnis der Götter und der Könige ist, dass die Menschen frei sind. [...] Orest weiß, dass er frei ist. 160 Ibid.op. cit. 161 Cf. Hervé Couchot, »Le sujet de la pitié. Quelques remarques sur une morale de jeunesse«, in: Harumi Ishizaki und Nao Swada Hgg., LʹHéritage de Jean-Paul Sartre, Aoyamagakuin, 2001, pp. 137-164. Couchot weist darauf hin, dass sich hinsichtlich des ›être-pour-autrui‹ in Sartres Theater einmal Scham ein andermal das Mitleid als Bestimmungsmoment der Katharsis feststellen lasse. 162 Cf. J.F. Louette: Deutsch: Es sind die Argier, die sich am Festtag der Toten, ihren Gwissensbissen preisgeben, Ägisth und die Wiederkehrenden um Erbarmen anflehen, sicherlich aber nicht Orest. »Quant à la catharsis, Sartre en conteste les deux ressorts, la terreur et la pitié.« In: op. cit., p. 238 und »Gardez votre pitié, dit Inès à Garcin«, ibid., op. cit. Deutsch: Was die Katharsis angeht, so bestreitet Sartre die beiden Bereiche, den Terror und das Mitleid. [...] Behalten Sie Ihr Mitleid, sagte Inès zu Garcin im Theaterstück Huis Clos. 163 J.F. Louette, ibid., op. cit.
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stellt die Hypothese auf, dass Sartre, um sich des Modells des Fegefeuers zu entledigen »et pour finir du modèle de la contagion« auf die Parallelisierung der beiden »charmeurs« des Dramas Les Mouches zurückgegriffen habe: »[...] ce Jupiter burlesque (qui dʹailleurs fait aussi un miracle avec une grosse pierre 164...) et lʹOreste du dénouement.«165 Im Schlussbild des Dramas nimmt Orest, da er fortgeht, die Fliegen mit sich fort wie der Rattenfänger die Ratten.166 Hinter ihm bleibt jedoch die Angst einer gottverlassenen, ordnungslosen Leere, durch die jeder muss, der zum Leben will. »La vie humaine commence de lʹautre côté du désespoir.«167 Der rezeptionsästhetische Blick auf Sartres Theaterstück sieht auch Sartres ethische Implikationen: Der Ausgangspunkt für den Existenzentwurf der Freiheit ist eine »ursprüngliche Verzweiflung.« Das frei gewordene Leben hat die absolute Geworfenheit (délaissement) des Menschen in die Welt erfahren und macht ernst damit, »dass Gott nicht existiert und man daraus die Folgerungen ziehen muss bis zu Ende.«168 6. Die philosophisch-intersubjektive Bedeutung von Sartres Produktionsästhetik Nach dieser hermeneutischen Analyse des Dramas ›Les Mouches‹ werden wir die praktische weil lebensweltbezogene Bedeutung der Blickanalyse
164 Ibid., op. cit., p. 241. 165 Louette bezieht sich auf den Stein, der die Höhle der Toten verschließt, in: ibid., op. cit. 166 Cf. J.F. Louette: »Le départ dʹOreste qui entraîne toutes les mouches dʹArgos derrière lui, comme les rats, signifie [...] un autre modèle dramaturgique qui est celui de lʹinfluence par contagion et ou attraction.« In: op. cit., p. 240. Deutsch: Die Abreise Orests, der alle Fliegen von Argos hinter sich herzieht, wie die Ratten, bezeichnet [...] ein dramaturgisches Modell, das der Kontagion und oder Attraktion. 167 Cf. MS III,3. Das menschliche Leben beginnt am anderen Ende der Hoffnungslosigkeit. 168 Cf. Sartre, EH, »Ce qui compte, cʹest lʹengagement total [...] il [lʹexistentialisme] définit lʹhomme par lʹaction ; il (lʹexistentialisme) dit [...] que la seule chose qui permet à lʹhomme de vivre, cʹest lʹacte«, p. 62, ibid. p. 83 »[...] la liberté comme définition de lʹhomme.« Deutsch: Was zählt, ist das totale Engagement [...] er (der Existenzialismus) definiert den Menschen nach seiner Tat; er (der Existenzialismus) sagt [...] dass die einzige Sache, die dem Menschen erlaubt zu leben, das Handeln ist.[...] die Freiheit als Bestimmung des Menschen.
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unter produktionsästhetischen Kriterien Sartres erörtern, um danach in diesem Kapitel den ethisch-ästhetischen Gehalt des Dramas Huis Clos überdies auch philosophisch erkennbar zu machen. Im Ausgang von Sartres eigenartiger These, dass der Tod der Triumph des Anderen über mich ist und der Sterbliche den Sinn des Todes begreift, wenn er sich als künftige Beute der Lebenden entdeckt,169 stellt sich die Frage: Was konstituiert menschliches Miteinandersein überhaupt? Wie wir bereits im 1. Teil der Arbeit in Auseinandersetzung mit Sartres phänomenologischer Ontologie170 erörtert haben, ist der Blick ja der unmittelbare und fundierte Bezug des existierenden Ich zum Fremd-Ich. Um zur Gewissheit zu gelangen, ist der Ansatz vom Sehen des Ich auf das Gesehenwerden vom Anderen umzukehren. Wie dieses transzendentale Fundierungsverhältnis in Teil 1 auf der Ebene der reinen Theorie gezeigt wurde, leistet das Sartres Blickanalyse und lange vor ihr Fichtes Lehre von der Aufforderung. Sartres phänomenologische Analyse des Blicks zeigt in seiner philosophischen Hauptschrift LʹÊtre et le Néant aufbereitet in Form eines Dramoletts in zwei Auftritten bereits ästhetische Züge. Beim ersten Auftritt ist der Protagonist allein, entschlossen, seiner Eifersucht durch das Belauschen einer vermuteten Liebesbeziehung auf den Grund zu gehen. Er schleicht zur Tür, beugt sich über das Schlüsselloch und späht hindurch. Plötzlich – der zweite Auftritt beginnt– hört er Schritte. Er schaut auf und sieht den Blick des Anderen. Ihn ›durchfährt‹ von Kopf bis Fuß ein Schreck. Vor dem forschenden Blick des Anderen findet er sein Tun auf einmal ordinär. Der Andere führt ihm die Gewöhnlichkeit seines Tuns deutlich vor Augen. Sartres Analyse zeigt bei näherer Betrachtung des Eifersüchtigen, dass dieser sich offensichtlich durch alle vier Momente der Faktizität in seine Weltlage gebracht findet: 1. Durch sein zufälliges Am – Platze – Sein. (was die raum-zeitliche Nähe zum vermeintlichen Schauplatz des Treuebruchs bedeutet); 2. Durch seine Leiblichkeit (hierdurch wird er da erst mit seinem Liebesneid konfrontiert); 3. Durch seine Vergangenheit (in der es eine
169 EN, op. cit. p. 585 »elle (la mort) est le triomphe du point de vue dʹautrui sur le point de vue que je suis sur moi-même« und »La caractéristique dʹune vie morte, cʹest que cʹest une vie dont lʹautre se fait le gardien.« Ibid., p. 586. Deutsch: er (der Tod) ist der Triumph aus der Sicht des Anderen über die Sicht, aus der ich selbst über mich bin. [...] Das Charakteristische eines toten Lebens ist ein Leben, über das sich der Andere zu einem Wächter macht. 170 Ibid. op. cit., 4. Kapitel.
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Vielzahl von Erlebnissen gibt, die ihn an diese Situation erinnern); 4. Schließlich durch seine soziale Position (als Liebhaber oder Ehemann). Solche Welt der Eifersucht spiegelt zugleich Transzendenz und Freiheit des jeweiligen Daseins wider. Sein Entschluss, den Zusammenhängen auf den Grund zu gehen und zwar so, dass er diese ganze quälende Welt der Eifersucht aus freien Stücken überschreiten und ein Anderer werden kann, brachte ihn doch überhaupt erst in diese für ihn schamvolle Lage. Eben durch die ständige Möglichkeit das, was er an sich ist, zu transzendieren, verschleiert sich dem Eifersüchtigen sein Bewusstsein. Er kennt sich nicht als der, der er an sich ist. Vielmehr ist er darauf aus, der zu sein, der er nicht ist, nämlich nicht eifersüchtig oder hinterhältig, sondern der Bewahrer seiner Ehre oder der Rächer verletzter Treue. Für sich allein entgeht jedermann dem, was er an sich ist. Er ist ständig über sein An-Sich-Sein hinaus, zumeist sogar in Zuflucht zu falschen Bildnissen seiner selbst. Die Bequemlichkeit dieser angenehmen Situation (der »mauvaise foi«) ändert sich aber mit einem Schlage durch das Auftauchen des Anderen. Der Auftritt des Anderen geschieht unvermittelt, der Andere begegnet uns als der Blick, der uns trifft. Auf einmal, in unvermitteltem Übergang, finden wir unser Tun, das lauschende Herumspähen an der Tür, gewöhnlich. Das bedeutet: Unsere Geradehin-Einstellung verändert sich mit einem Schlag: »le moi vient hanter la conscience irréfléchie.«171 Das unreflektierte Bewusstsein vom Ich heimgesucht bedeutet, wir gehen nicht mehr im Vollzug der Eifersucht auf, sondern erleben uns in unserer peinlichen Lage. Die Bedingungen, die ein solches Erlebnis ermöglichen, sind nach Sartre Scham oder Stolz: »Die Scham oder der Stolz enthüllen mir den Blick des Anderen und mich selbst am Ziele dieses Blickes, sie bewirken, dass ich die Situation eines Erblickten erlebe, nicht erkenne.« (p. 348) Für die Poiesis Sartres ist die Entdeckung des Existenzials der Scham (und dessen Korrelat, Hochmut und Stolz) als konstituierendes Moment ursprünglicher Interexistenzialität von ausgesprochener Relevanz. Denn dass sich jenes auf drei Konstitutionsmomenten aufbaut, wird in Sartres literarischen Produktionen einen zentralen Stellenwert einnehmen. Im Drama Les mains sales lassen sich die drei Konstitutionsmomente: 1. Eine Art Reflexion, 2. Intentionalität und 3. Intersubjektivität exemplarisch aufwei-
171 Ibid. op. cit. p. 306. Deutsch: Das Ich kommt das unreflektierte Bewusstsein heimsuchen.
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sen. Alles Schämen bedeutet ein Sichschämen über etwas vor jemandem. »La honte est honte devant soi devant autrui.« Für Sartre zählt Scham zu den präreflexiven modi cogitandi. Sie ist eine Weise des Ich-stelle-vor. So repräsentiert Hugo alle drei Seiten dieses Konstitutionsgefüges: erstens erhält er die Aufgabe, zur Legitimation seiner Aufnahme in die Partei ausgerechnet einen Ihrer Führer, die fast schon von Sartre als Ikone stilisierte Person Hoederer zu töten. Für Hugo ist Hoederer nicht nur ein Vertreter der Parteispitze, sondern auch der Erzrivale im Kampf um die Gunst einer Parteigenossin. Nun führt aber das Gespräch mit Hoederer selbst zu der Einsicht, dass keine sachlogischen Gründe für das Töten vorliegen, und mehr noch zu der Einsicht, zum Vollstrecker anderer Interessen degradiert worden zu sein. So enthalten die Vollzüge des Schämens nicht nur den Rückbezug auf ein Subjekt, das sich schämt, sondern zugleich die Bedeutung der Scham auf der Ebene der Intersubjektivität: Hoederer weiß, dass Hugo den Auftrag erhalten hat, ihn zu töten und macht diesem nicht ohne Spott die Minderwertigkeit dieses Mordes klar, weil er im Begriff ist, entgegen seiner eigenen Einsicht zum Handlanger fremder Interessen zu werden. Die Reaktion Hugos auf den Spott Hoederers zeigt, dass der Selbstbezug des Schamgefühls indessen keine Selbsterkenntnis im Sinne des sich wissenden Wissens ergibt. Indem wir uns schämen, unterscheiden wir uns dennoch von uns selbst, nämlich in erlebnismäßiger Weise. Im Gefühl der Scham sucht das Ich unser unreflektiertes Sein heim. In Bezug auf unsere Eifersucht sind wir nicht bloß nur eifersüchtig, sondern wir schämen uns unserer Eifersucht. Das Schämen ist zugleich intentional, d. h. gerichtet auf etwas, das im Modus der Scham zur Vorstellung kommt. Wir schämen uns stets über etwas, das wir getan oder unterlassen, gesagt oder verschwiegen, gedacht oder auch nicht gedacht haben. Im Fall Hugos führt die Scham zum Vorsatz, den von ihm geforderten Mord nicht zu begehen, nicht zum Vollstrecker fremder Befehle zu werden, selbst wenn dies ihn sogar die Aufnahme in die Partei kostet. Sartres ästhetisch vermittelte Botschaft gibt hier eindeutig zu verstehen, dass das, worüber wir uns letztlich in jedem Fall schämen, wir selbst sind, weil jegliches, dessen wir uns zu schämen haben, ein von uns selbst zu verantwortendes Tun oder Lassen ist. Da alle Scham aus dieser Perspektive ein pures Phänomen präreflexiver Selbstdurchdringung zu sein scheint, wird der dritte entscheidende Bestandteil der Scham, der Bezug zum Anderen, sehr leicht übersehen. Da Gott nicht existiert, zieht eine atheistische Position daraus die Konsequenz, dass es
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nur ein Forum gibt, vor dem sich der Mensch schämt, das ist der Blick des anderen Menschen.172 Sartres Theaterstücke lassen sich als Exemplifizierung seiner phänomenologischen Ontologie des cogito verstehen, denn diese nimmt – in der Form ästhetisierender Darstellung – die alles übergreifende Kategorie der Entfremdung auf. Daher wirft Sartres Analyse des Existenzials der aliénation ein letztes Schlaglicht auf das Konzept von Mitwelt und ›Intersubjektivität‹.173 In Überschreitung des Hegelschen Begriffs der ›Entfremdung‹
172 Cf. in diesem Kontext die Studie von Gregor Schwering, »Über das Auge triumphiert der Blick, Perspektiven des Voyeurismus«, in: Friedrich Balke, Gregor Schwering und Urs Stäheli, Hg., Big Brother, Beobachtungen, Bielefeld 2000, pp. 129-150. Nach Ansicht Schwerings äußert sich voyeuristisches Interesse beim Fernseh- oder Internetzuschauer im Blick durch das ›elektronische Schlüsselloch‹. In Anbindung an Sartres Ausführungen zum Blick sowie Lacans kritischem Kommentar zu Sartre wird aufgezeigt, wie Lacan Sartres Thesen zum Blick neu formuliert und eine Diskussion darüber entfacht, ob es sich hier um eine korrekte phänomenologische Analyse handelt. So wird auch erläutert, wie in der Heimlichkeit des Voyeurs sich dessen Angst ausdrückt, bezüglich des Objekts des Begehrens feststellen zu müssen, dass es am Schlüsselloch für ihn gar nichts zu sehen gibt, es sei denn einen leeren Blick. Darin bestätige sich, so Schwering, Lacans These vom Triumph des Blicks über das Auge. 173 Das Ich ordnet, entfernend, jegliches innerweltlich Begegnende auf sich zu und übersieht notwendigerweise sich selbst als entfernungs-leibhaftes Objekt in der Welt. In diesem Ordnungsgefüge unserer Welt tritt der Andere zunächst als ein Objekt mehr neben anderen Objekten auf. In Sartres legendärem Beispiel taucht in einem Park, den wir als die Welt unserer Erholung um uns herum haben, neben der Bank hinter dem Rasen vor dem Denkmal ein Spaziergänger auf. Das so eingeordnete Objekt ist aber mit unendlicher Wahrscheinlichkeit den anderen inner-weltlichen Dingen gegenüber privilegiert. Es enthüllt sich als Subjekt, das seinerseits die Gegenstände unserer Welt auf sich hinzieht. Der Andere bildet damit so etwas wie ein Loch in unserem um uns geschlossenen Weltkreis. Die Dinge rinnen durch dieses Loch unaufhörlich ab, weil sie dem Anderen eine Seite darbieten, die mir grundsätzlich entgeht. Die so geartete Entäußerung lässt sich jedoch aufheben. Die Dezentralisierung unserer Welt durch den Anderen ist negiert, wenn wir den Anderen als autrui-sujet nichten. Den Anderen als solchen nichten heißt, ihn zu einem Ding unserer Welt erstarren zu lassen. Jede Freiheit sucht die andere mit den Mitteln der Verdinglichung vom Anteil an ihrem Weltbesitz auszuschließen. Eine schlichte phänomenologische Beschreibung verweist uns so auf die Tragödie menschlichen Miteinanderseins. Während das Phänomen, dass uns unausweichlich Schattierungen unserer Weltvorstellung entgehen, die dem Fremd-Ich zufließen, zunächst ein harmlo-
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gewinnt Sartres These von der aliénation ihre Brisanz aber erst auf der Grundlage der Blickanalyse. Der Aspekt der Entfremdung verschärft sich, wenn der Blick des Anderen bewirkt, dass wir uns vor ihm in unserem An-sich-Sein jenseits unseres zentralen In-der-Welt-Seins festgenagelt finden, gleichsam »cloué« in einer fremden Welt. Wir entkommen der Entfremdung nicht, selbst wenn wir versuchen, den Blick des Anderen zum Objekt unserer Welt zu machen, denn er kommt nirgendwo als Objekt vor. Da diese heillose Entfremdung wechselseitig ist, ergibt sich daraus der Zirkel eines Höllenkreises, in welchem keiner dem Anderen entkommt. 6.1. Huis Clos, das Trio Infernal oder Die Hölle, das sind die Anderen Sartre bringt in seinem Theaterstück Huis Clos das Thema der Tertiarität der dritten Figur ins Spiel. An seinem Trio Infernal174 veranschaulicht Sartre das hinter allen Alteritätstheorien verborgene Modell einer Triade, dass allerdings das dyadische Intersubjektivitätsmodell mit einer paradoxen
ser Sachverhalt zu sein scheint, zeigt es in Wahrheit die Entmenschlichung des Menschen durch den Menschen als dramatische Begegnung. 174 Man sieht, dass Intersubjektivität immer schon auch triadisch strukturiert ist, dass die dyadischen Figuren latent trianguliert sind. Eine sozialtheoretisch relevante Reflexion auf die Figuren und Funktionen des Dritten gibt es bereits in G. Simmels formaler Soziologie der Zweier und Dreierverbindungen, bei Freuds Familientheorie ödipaler Konstellation (Freud 1930), in Theodor Litts Sozialphilosophie des Beobachters (Litt 1926), Fragmente, die man untereinander verknüpfen und mit neueren Tendenzen bei Sartre, Serres, Luhmann und Lévinas bündeln muss, um einen Vorgriff auf einen Paradigmenwechsel in der Sozialtheorie zu erreichen. Sozialtheoretisch relevante Synopsen und Verdichtungen zur Figur des Dritten sind bei Siep (1979), Hartmann (1981) und Waldenfels (1997) zu finden. Girards Vergleichsstudie zu fünf großen Romanschriftstellern der Weltliteratur führt ihn zu der Einsicht, dass alle diese Romane die gleiche Grundstruktur haben. Während die Kritiker meist nur die augenscheinlichen Unterschiede sehen, die die Werke trennen, und sie in jedem Unterschied den einzigartigen Ausdruck einer kreativen Autonomie sehen, legt Girard auf überzeugende Weise deren gemeinsame Grundstruktur frei, nämlich jene des nachahmenden, des triangulären Begehrens. Girard geht dabei weit über das Feld der Literaturkritik hinaus und berührt grundlegende Fragen und Probleme der modernen Kultur. (René Girard, Figuren des Begehrens, das Selbst und der Andere in der fiktionalen Realität, Münster 1999). Eine interessante sozialtheoretische Auseinandersetzung mit der Figur des Dritten in Form von (Massen)Medien findet sich bei Joachim Fischer, Figuren und Funktionen der Tertiarität, Zur Sozialtheorie der Medien, Dresden 2000, p. 83 sqq.
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und genuin kritischen Pointe relativiert.175 Gegenüber solchen Subjekttheorien, in denen eine Vorgängigkeit des Anderen als Initialzündung des Dialogs impliziert wird, handelt es sich in Huis Clos um eine Kommunikation, die nicht auf Selbsterkenntnis, Selbststärkung des Einzelnen gegenüber dem Anderen hinausläuft, sondern um seine kritische Depotenzierung. So macht Sartre mit der Ästhetisierung seiner bereits theoretisch formulierten Aussagen176 deutlich, dass der Dritte intersubjektivitätstheoretisch eine anthropologische Größe katexochen, abwesend und anwesend zugleich, die Ordnung durch Exklusion und Inklusion aufrechterhaltend und unterlaufend, eine wertungsambivalente Figur ist. Mit dem Einen, dem Anderen und der dritten Figur zugleich anzusetzen, bringt vom Ansatz aus, vom Beginn an, eine elementare Konstellation in den Blick.177 So lässt Sartre in Huis Clos einen weiteren Anderen neben dem Anderen in einem konstitutionellen Sinn erscheinen: Sein Auftauchen ruft Effekte hervor, die ein nochmaliger Anderer nicht auszulösen vermag. Sartre bringt diesen figurativen Dritten so ins Spiel, dass in ihm das gesamte Spektrum der Kategorie des Dritten zusammengehalten wird. Das Spektrum umfasst nicht nur den Zuschauer bzw. Beobachter, sondern auch den Übersetzer; nicht nur den Boten, sondern auch den Verräter; nicht nur den Intriganten, sondern auch den Vermittler; nicht nur den Ri-
175 Die Regiearbeit als mise en espace dieses Stückes verlangt die Strukturierung des interpersonalen Raums nach Nähe und Entfernung der Individuen. Die Proxemik regelt im Theater die räumlichen Abstände zwischen den Schauspielern. Das Theater als Mimesis gesellschaftlicher Interaktion wird von Sartre aber zum Rekonstruktionsort dieser Raumgesetze umfunktioniert, um die aus der Alltagswarnehmung der Regelung unserer Sozialkontakte entstandenen Grundlagen zu dekonstruieren und die Choreographie des Teufelskreises eines unlöbaren Beziehungsdramas zu entwickeln. »Le bourreau, cʹest chacun de nous pour les deux autres« / Garcin: »Nous nous courrons après comme des chevaux de bois, sans jamais nous rejoindre«, loc. cit., p. 23 und p. 37. Deutsch: Der Henker, das ist jeder von uns für die beiden anderen. Garcin: Wir rennen hinter uns her wie Holzpferde, ohne uns jemals einzuholen. 176 CRD, p. 189 sqq. 177 »Bei einer Verbindung zu dreien wirkt jedes einzelne Element als Zwischeninstanz der beiden anderen und zeigt die Tendenz einer solchen, sowohl zu verbinden wie zu trennen« in: Georg Simmel, Die quantitative Bestimmtheit der Gruppe, Soziologie, Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Berlin 1968 (1908) pp. 32-100, spez. 73-94.
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valen, sondern auch den begünstigten lachenden Dritten; nicht nur den Hierarchen, sondern auch den Sündenbock, den ausgeschlossenen tertius miserabilis. In Huis Clos macht Sartre diesen Facettenreichtum von Interexistenzialität durch die Figur des Dritten besonders deutlich. Bringt die Dyade mit ihrer Reziprozität der Perspektiven für die Subjektkonstitution eine erste Dezentrierung der elementaren Selbstvertrautheit, so bringt der erblickte Blick des Dritten auf beide erst das ›Verhältnis‹ die Reziprozität selbst, vor Augen und ist damit Katalysator des distanzierenden Vergleichs, den das Subjekt nun in sich ausbilden kann. Zugleich macht es im wechselseitigen Blick zwischen Drittem und Anderem und dem darin möglichen Einverständnis und Bündnis die existenzielle Erfahrung des Ausgeschlossenseins der eigenen Position aus der Beziehung, mit der es nun rechnen muss.178 Der Dritte, so verdeutlicht Sartre in seinem Theaterstück anhand des Trio infernal, ist Bedingung der Exklusions- und Einsamkeitserfahrung, des Inklusions- und Zugehörigkeitsbegehrens.179 Den sich einbeziehenden fremden Dritten in die triadische Grundfiguration bezeichnet Sartre als den Inbegriff der ›fusionierenden Gruppe‹, die die Negation der sozialen Ohnmacht bedeutet. Der Dritte dehnt seinen Bezugsrahmen auf die anderen aus. Er ist als Vermittler hier die synthetische Macht gegenüber der wechselseitigen Beziehung. Aber genuin gibt es noch keine »apriorische Hierarchie, weil ja alle drei Glieder der Dreierbeziehung gegenüber den beiden anderen zum Dritten werden können.«180
178 Die Rolle des Dritten ist auch auf Sartres Studien des Künstlerportraits anzuwenden, wie wir in Kap. 6 zu Sartres Tintoretto-Studie ermitteln werden. 179 »Et cʹest là surtout, dans cette inter-projection des trois »damnés« lʹun sur lʹautre, que Sartre est à son affaire, quʹil met en marche, physiquement et mentalement, ses reflexions philosophiques sur »lʹêtre-pour-autrui et lʹêtre-par autrui sur le mensonge et la mauvaise foi, sur la liberté et sur lʹencroûtement dans la paresse et la lâcheté collectives.« Michel Cournot, in: Le Monde, 12.5. 90. Deutsch: Und hier ist es vor allem, innerhalb dieser Inter-Projektion der drei »Verdammten« des Einen auf den Anderen, dass Sartre bei seinem Thema ist, dass er seine philosophischen Reflexionen über das Für-Andere-Sein und das Durch-Andere-Sein über die Lüge und die Unaufrichtigkeit, über die Freiheit und über die Verkrustungen in der kollektiven Trägheit und Feigheit, physisch und mental in Gang setzt. 180 Sartre, Kritik der Dialektischen Vernunft Bd I. Theorie der gesellschaftlichen Praxis, Hamburg 1967, p. 126. Deutsch: Aber es ist etwas ganz anderes, was ich sagen will. Ich will sagen, dass wenn die die Beziehungen mit den anderen verdreht, vergiftet sind, dann kann der Andere nur die Hölle sein. Warum? Weil die Anderen im
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Sein anthropologisches Grundmodell in Huis Clos ist also das eines ›homme séquestré‹ wie sich an der entsprechenden Metaphorik dieses literarischen Werks zeigen lässt. Sartres These »lʹenfer, cʹest les autres« war aber als eine Theaterreplik gedacht, auf deren Stufe Sartre keineswegs stehen bleiben wollte. »Lʹenfer, cʹest les autres« sagt Sartre, wurde immer missverstanden. Man hatte ihm unterstellt, mit diesem Theaterstück vermitteln zu wollen, dass alle unsere Beziehungen zu den Anderen vergiftet seien. Dies bezeichnet Sartre aber als grobes Missverständnis: »Or, cʹest tout autre chose que je veux dire. Je veux dire que si les rapports avec les autres sont tordus, viciés, alors lʹautre ne peut être que lʹenfer. Pourquoi ? Parce que les autres sont au fond ce quʹil y a de plus important en nousmêmes.«181 Wenn wir über uns nachdenken, wenn wir versuchen, uns kennenzulernen, benutzen wir im Grunde jene Kenntnisse, die die Anderen bereits von uns haben: »Nous nous jugeons avec les moyens que les autres ont, nous ont donnés de nous juger. Quoique je dise sur moi, toujours le jugement dʹautrui entre dedans.«182 Was immer ich auch fühle, das Urteil des Anderen dringt in unser Gefühl ein, was nach Sartre besagt, dass dann, wenn meine Beziehungen schlecht sind, ich mich in ein Verhältnis totaler Abhängigkeit vom Anderen begebe. Und so bin ich tatsächlich in der Hölle. Sartre hierzu: »[...] il existe une quantité de gens dans le monde qui sont en enfer parce quʹils dépendent trop du jugement dʹautrui.« 183 Louette
Grunde dasjenige ist, was es am Wichtigsten in uns selbst gibt. Dazu Wolfgang Eßbach, Studium Soziologie, München 1996, p. 140: »Der oder die Dritte erblickt den erblickenden Blick. In der Dreiersituation wandern die Blicke, und dieser dritte Blick wiederholt sich für alle, die zu der Gruppe stoßen werden. In diesem Sinne ist die soziale Gruppe eine Gruppe von Dritten.« 181 Cf. Sartre in: Huis Clos, Un théâtre de situations, Folio essais, p. 282. 182 Ibid. op. cit. Deutsch: Wir beurteilen uns selbst mit den Mitteln, die die anderen haben, uns gegeben haben, uns zu beurteilen. Was immer ich auch über mich sage, immer tritt das Urteil des Anderen hinein. 183 Ibid. op. cit. Deutsch: es gibt eine Menge von Menschen in der Welt, die in der Hölle sind, weil sie zu sehr vom Urteil anderer abhängen. Cf. Jean- François Louette, der in seinem Beitrag in Les Temps Modernes, Notre Sartre, Sartre inédit, N° 632, 633, 634 (Juillet – Octobre 2005), pp. 208-267 berichtet, dass Patrice Pavis in seinem Artikel »théâtre à thèses«, in seinem ›Dictionnaire du théâtre‹ (1987) von der Frustration des Publikums spricht »à qui on fait la leçon«, wie einem Kind, und das sich diese Kritik auf das Theaterstück Huis Clos beziehe, dem er den Wert zuspreche, ein Stück zu sein »pour les enfants philosophiquement très avancés.«
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interpretiert den Satz Sartres allerdings noch schärfer als Sartre selbst: »Cʹest dire ici: les autres ne sont lʹenfer que si Jʹen fais les Autres, de grands fétiches hypostasiés, des figures divines – puisque lʹAutre par excellence, dans lʹesprit de Sartre, cʹest Dieu.« Und weiter: »Lʹenfer, cʹest lʹautre vécu comme un Dieu, juge suprême et perpétuel.«184 Der genaue Blick auf Sartres Theaterstück verdeutlicht den Sachverhalt des dem Anderen vollständig Ausgeliefertseins anhand der eigenartigen These, die Sartre über das Dasein nach dem Tode entwickelt: Totsein bedeutet, den Blicken der Anderen völlig ausgeliefert zu sein. 185 Den Toten kommt ein Seinstypus zu, denn niemals existiert der Mensch ohne den Zusammenhang mit den Toten. Jene aber existieren ganz übergegangen in die Seinsweise des An-sich-Seins und völlig entfremdet im Sein-für-Andere. Nur die Lebenden können sich dagegen wehren, abschließend verdinglicht zu werden. Der Blick des Anderen nagelt den Gewesenen schicksalhaft fest. Solch ewiges Verdammtsein durch den Blick der Anderen ist genau das Leitmotiv in Sartres höllischem Kammerspiel Bei geschlossenen Türen, dessen ursprünglicher Titel bekanntlich Les Autres war. Die drei Toten – Garcin, Estelle und Ines -, die in die Hölle einer zerfleischenden Dreierbeziehung geführt werden, sind alle drei mörderische Betrüger. Der Schleier der willentlichen Selbsttäuschung wird aber vor dem Blick der Anderen nach und nach entfernt, mehr und mehr werden sie ganz das, was sie wirklich gewesen waren und nun unabänderlich sind. Die Anderen machen ihnen schonungslos die Selbstverlorenheit bewusst, denn ihr Tod
184 Ibid.op. cit. Deutsch: Hier bedeutet es, die anderen sind nur dann die Hölle, wenn ich aus Ihnen die Anderen mache, große hypostasierte Fetische, göttliche Figuren, denn der Andere ist im Geist Sartres der Gott par excellence. »Dieu cʹest lʹAutre. LʹAutre absolu et infini«, Saint Génet 1952 p. 160, zit. in: J.F.Louettte, in: op. . cit., p. 220. Deutsch: Gott, das ist der Andere. Der Andere absolut und unendlich. 185 Deutsch: Die Hölle, das ist der Andere, erlebt als Gott, oberster und immerwährender Richter. Cf. hierzu der Beitrag von Michael Lommel, Schon tot? Szenen des Blicks bei Sartre, Bielefeld 2004. Lommel stellt die intermedial angelegte Blicktheorie in den Fokus seines Beitrags und weist unserer Meinung nach zu Recht darauf hin, das Sartre in Huis Clos die Tertiarität der Figuren und ihre Beziehungen untereinander zur Darstellung bringt. Seine psychologische gegründete Interpretation der double-bind Situationen zwischen den Figuren, die Verdoppelung ihrer wechselseitigen Rollenerwartungen, könnte im Rekurs auf sozialtheoretische Theoreme in einer gesonderten Studie noch erheblich erweitert werden. Siehe dazu unsere o.g. Ausführungen.
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hat ihnen mit der Zukünftigkeit und Transzendenz jede Chance zur Veränderung ihrer Lage genommen. So ergeht es Garcin, dem ›Helden‹ dieses existenzialistischen Totentanzes. Vor dem Blick der unbarmherzigen Ines zerbröckelt der Schutz seiner Lebenslüge. Garcin, ›Journalist und Literat‹, macht sich vor, aus pazifistischer Überzeugung in den Tod gegangen zu sein. Aber im Seconde Empire-Salon der Unterwelt für Betrüger gibt es keine Spiegel. Mit ihren eigenen Augen können Tote in der Hölle sich selbst nicht mehr sehen. Es gibt nur einen Spiegel: die wimpernlosen Augen der Anderen. Diese richten darüber, wer Garcin in seinem Leben wirklich gewesen ist. So werden die Anderen seine Henker. Vor ihren Augen – in der folternden Helle des Tag und Nacht brennenden elektrischen Lichts – enthüllt er sich als das, was er wesenhaft war: der Feigling, der sich aus Angst davongemacht hat, als es sich zu bewähren galt. Fortan wird er nun für immer ein ans Licht gezogener Feigling sein. Seine Qual wird darin bestehen, dass der Blick der Anderen sein Bewusstsein wach hält. »Die Hölle« das ist Garcins Entdeckung, nachdem das Spiel der mauvaise foi ausgespielt ist – »das sind die anderen.«186 Für Sartre sind Theater und Philosophie vergleichbar, denn beide veranschaulichen den Spielraum der menschlichen Freiheit: »Le théâtre est geste, et le geste est un acte qui nʹa pas sa fin en lui-même, un mouvement destiné à montrer autre chose.«187 Sartres ästhetisch-ethische Intersubjektivitätslehre am Beispiel des Theaterstücks ›Huis Clos‹ zu untersuchen, heißt auch, wenigstens schlaglichtartig in diesem Kontext einen Blick auf seine Theatertheorie zu werfen. Der Charme des Sartreschen Theaters liegt – so François Regnault – in der Kunst seiner Schauspieler, die interpersonale Beziehung untereinander in ständig feinerer nuancierter Auseinandersetzung zur Darstellung zu bringen.188 Sie sind daher auch im-
186 BgT Dt. Bei geschlossenen Türen, Reinbeck 1979, p. 97. 187 Cf. Michel Contat et Michel Rybalka, Hg., un théâtre de situations, Paris 1973, pp. 104-151. 188 Cf. François Regnault, Lʹexception théâtral, in: Revue du collège international de philosophie, Sartre contre Sartre, Paris 2005, pp. 66-77. Conf. Jean- François Louette, op. cit., p. 209 »[...] tout récemment, François Regnault blâme dans le théâtre de Sartre des personnages qui réfléchissent trop, […] livrés à un examen de conscience de droit infini, autour duquel lʹaction, se resserrant, sʹappauvrit au point de produire un ›solipsisme dramaturgiqueʹ«, in: ders. »Lʹexception théâtrale«, Rue Descartes, n°47, janvier 2005.
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merfort durch den anderen verdoppelt, sie verdoppeln den anderen, sie sind zugleich sich selbst und ihre Doppelgänger. Offensichtlich geht es darum, ob einer von ihnen zur Wahrheit findet, in dessen Besitz der jeweils andere sich glaubt, und wer von ihnen als erster zur Wahrheit findet in diesem Wettspiel der Bewusstseine: »GARCIN Est-ce que vous savez que cette petite sera votre bourreau? INÈS Peut-être bien que je mʹen doute. GARCIN Cʹest par elle quʹils vous auront. En ce qui me concerne, je... je ... je ne lui prête aucune attention. Si de votre côté ... INÈS Quoi?. GARCIN Cʹest un piège. Ils vous guettent pour savoir si vous vous y laisserez prendre. INÈS Je sais. Et vous, vous êtes un piège. [...] Tout est piège. Mais quʹest-ce que cela me fait? Moi aussi, je suis un piège.«189 Die Helden in diesem Theaterstück mögen es, einander zu überschreiten, ihre Gesprächspartner vor intellektuelle Herausforderungen zu stellen, welche von diesen unverzüglich angenommen werden.190 Daraus folgt, dass es im Theater Sartres niemandem gelingt, den Anderen je zu überra-
189 Huis Clos, scène 5. Deutsch: GARCIN: Wissen Sie, dass die Kleine Ihr Henker sein wird ? INÈS: Vielleicht zweifle ich daran. GARCIN: Sie ist es, durch die Sie ergriffen werden. Was mich betrifft, ich… ich… ich schenke ihr keinerlei Beachtung. Wenn von Ihrer Seite …INÈS: Was ? GARCIN: Das ist eine Falle. Sie belauern Sie, um zu wissen, ob Sie sich dort erwischen lassen werden. INÈS: Ich weiß. Und Sie, Sie sind eine Falle. [...] Alles ist Falle. Aber was macht mir das schon? Auch ich bin eine Falle.
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schen. Einer jeden Enthüllung begegnet der Andere sofort damit, den Inhalt der Enthüllung bereits gewusst zu haben, und zwar seit langem schon. In einem Artikel Sartres mit dem Titel »Visages« (den Sartre für eine Ausgabe der Zeitschrift Verve geschrieben hatte) liest man: »[...] le sens dʹun visage, cʹest dʹêtre la transcendance visible«, das heißt »la propriété quʹa lʹesprit de se dépasser et de dépasser tout autre chose.«191 Eine solche Theaterstrategie findet man häufig im französischen Theater des 20. Jahrhunderts, z.B. bei Genet in Form deliberativer Künstlichkeit, aber auch bei Montherlant und Giraudoux, die indessen keine positiven Beispiele für Sartre darstellen. Bei Sartre glaubt der Mensch im Allgemeinen nicht, in die Falle zu tappen, die ihm sein Bewusstsein und mehr noch, sein Unterbewusstsein (hier besonders seine Sprachspiele192), stellen. Sartres Theaterhelden sind immer sehr ernsthaft,193 denn sie suchen, wenn sie mit Anderen zusammen sind, immer nach der eigenen Wahrheit. Hier zeigt sich der Unterschied zum Roman Sartres: Der Roman ist der Ort der Wahrheit. Indem das Bewusstsein sich im Roman analysieren kann, vermag es zu einer Wahrheit des Subjekts vorzudringen. Wenigstens glaubt es das, wie Sartre am Beispiel Roquentins oder seiner Helden in Les chemins de la liberté deutlich zeigt. Im Theaterstück dagegen belügt der Andere mich, und mir selbst, ergriffen von meiner »mauvaise foi«, ergriffen aber auch von der »mauvaise foi des Anderen, bleibt keinerlei Raum mehr für eine Analyse. Es bleibt nur noch die Hölle. Diese Hölle ist das Bewusstsein, die Entfremdung in ein verworfenes An-sich-Sein ohne Aussicht auf Erlösung immer wieder zu durchleben, als tiefste Qual menschlicher Existenz. Diese Grenzsituation menschlichen Bewusstseins hat Sartre in Huis Clos in Szene gesetzt. Das so erlebte Bewusstsein lässt die Furcht vor Marterwerkzeugen und die Angst, d. h. die
190 Der Satz Garcins »On est ce quʹon veut« weist unmissverständlich darauf hin, dass er kaum derjenige geworden ist, den er zu werden beabsichtigt hatte, nämlich ein Held. Auf einen Schlag wird er daher zur Beute der Anderen, die seine Schwäche erkennen. 191 Les écrits de Sartre, Paris 1970, p. 564. Deutsch: der Sinn eines Gesichtes ist, sichtbare Transzendenz zu sein. [...] die Eigenart, die der Geist hat, sich zu überschreiten und alles andere zu überschreiten. 192 Sartre macht solche Anspielungen, die seine Kritik am Freudschen Begriff des Unterbewusstseins verdeutlichen. 193 Cf. Noëlle Guibert, op. cit.
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Furcht, sich zu fürchten, erlöschen. Das Wissen um die Faktizität des eigenen Todes führt zur Verzweiflung, da man sterben will und nicht in der Lage ist, es tun zu können. Wenn Estelle sich mit einem Brieföffner auf Ines stürzt, um sie zu töten und so den Kreis des gegenseitigen Quälens zu durchbrechen, so besteht die Komik in dieser Situation darin, dass diese verzweifelte Bewegung jäh erstarrt im Bewusstsein, dass der Tod den Verlorenen keine Erlösung bieten kann. Kierkegaards Vorstellung von der ›Krankheit zum Tode‹ – dieser entsetzliche Widerspruch, zu sterben und doch nicht zu sterben, wird von Sartre antithetisch aufgriffen: »Der Verzweifelte kann nicht sterben so wenig der Dolch Gedanken töten kann.«194 Aber in Sartres dialektischer Argumentation, die die Theatertheorie überhaupt kennzeichnet, verwandelt sich die Fatalität in Freiheit. Es liegt darin eine Paradoxie, aber auch die Vieldeutigkeit der Interpretationsressourcen in Sartres Stücken. Man kann aber diese Strategie der paradoxen Argumentation, der (Vor)täuschung (Simulation) neben Les Mouches auch in Huis Clos und Les mains sales‹ wiederfinden. Sartre entlarvt in diesen Stücken den Glauben an die Fatalität als Täuschung.195 Er zeigt, reflektiert und entlarvt den Mythos der Fatalität auf der Ebene des dramatischen Diskurses im Theater. Dieselbe Ironie und Paradoxie, die Les Mouches fast als Parodie der antiken Schicksalstragödie und Mythologie erscheinen lässt, bestimmt auch Huis Clos. Sartre konzipiert die Figuren in diesem Stück als solche, die sich in dem von Kierkegaard und Sartre sogenannten Zustand der Sklerose befinden, ihre vorgegeben Rollen nur wiederholen und als Tote und Eingeschlossene allem Anschein nach keine Freiheit mehr haben. Selbst die Entdeckung, dass die Türen gar nicht verschlossen sind, sie sich also öffnen lassen, führt zu keiner Lösung des Konflikts, weil die Figuren trotz dieser Erkenntnis ihren Glauben an die Ausweglosigkeit ihrer Situation nicht aufgeben wollen. Diese Entdeckung in Szene 5, dass die Türen sich öffnen lassen, ist daher der Höhepunkt der grotesken, farcenhaften Komik des Stückes und bildet seine ironische Pointe. Die Ironie, die sich in Sartres Gleichsetzung des Jenseits mit dem alltäglichen Leben
194 24./25. Abt. p. 14. 195 Mit seinem Urteilsspruch »On est ce quʹon veut« zeigt Garcin die Bandbreite der Kausalattribuierungen: wenn er nämlich das Urteil der Anderen als grausam einstuft und dies als Ursache für seine Feigheit vorschiebt. Auch muss man ziemlich feige sein, wenn man den Satz verbreitet »Lʹenfer, cʹest les Autres.« Sartre zeigt mit dieser Analyse der Feigheit profunde motivationspsychologische Kenntnisse.
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zeigt, ist ein Kunstgriff Sartres, dem die Ambiguität und Paradoxie der vielzitierten Formel »Lʹenfer, cʹest les autres« in Huis Clos genau entspricht. Entscheidend ist dabei, dass das Bewusstsein der Freiheit von der Hölle und den möglichen Höllenängsten nicht den dargestellten Figuren, sondern dem Zuschauer vorbehalten ist. Nimmt man Sartres Literaturbegriff ernst, so hat der Zuschauer die Aufgabe, das Spiel als solches, die Ironie des Spiels, und damit die Hölle, das Gefängnis, als Symbole der Literatur, als literarisches Spiel, zu durchschauen. Es ist bezeichnend für die Darstellung des Spiels in den Theaterstücken Sartres, dass die Figuren in der Regel als Beispiel für die Negativität des Spiels (im Sinne der Realitätsflucht) fungieren. Trotz dieser evasiven Grundstruktur kehrt das theatralische Spiel diese Negativität aber um und wendet es als Denkspiel für die Zuschauer um ins Positive. Sartre selbst hat die Jenseitsperspektive in seinen Stücken mit Brechts Verfremdungseffekt verglichen und meint damit eine Form der Distanz des Spiels, das den Zuschauer befremdet, ihn aber zugleich zu einer Einsicht seiner Situation führt.196 6.2. Sartres ästhetische Konzeption des Spiels Sartre präsentiert das Spiel nicht nur als existenzialistisch-ideelles Thema im Sinne einer Vermittlung philosophischer Inhalte, sondern immer zugleich als eine Facette der eigenen, den jeweiligen Text konstituierenden Schreibweise. Die Literalität des Spiels beruht für Sartre auf der Künstlichkeit und Konstruierbarkeit seiner Regeln, so wie die Literatur selbst auf der Distanz zwischen Leben und Werk beruht, der Notwendigkeit des Abstandnehmens, des »recul«. Laut Sartre schafft erst diese Haltung der Distanz die Voraussetzung dafür, dass der Schriftsteller den nötigen Spielraum für seine Kunst eröffnet: »lʹécrivain doit en jouer, non rêver de lʹabo-
196 Sartre: »Remarquez que ce procédé Voltaire lʹutilisait dans ses romans. Il suffit de présenter des personnages dʹun autre monde.[...] Cʹest le moment où le public devient lui-même collaborateur de lʹauteur: en se reconnaissant, mais dans lʹétrangeté, comme sʹil était un autre.« In: Un théâtre de situations, op. cit., p. 101. Deutsch: Bemerken Sie, dass Voltaire diese Prozeduren in seinen Romanen brauchte. Es reicht, Personen aus einer anderen Welt zu präsentieren [...] Das ist der Moment, wo das Publikum selbt zum Kollaborateur des Autors wird: Indem es sich wieder erkennt, aber in der Fremdheit, als ob es ein anderes wäre.
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lir.«197 Im Kontext philosophischer Betrachtungen hatte Sartre diesen Gedanken schon in Lêtre et le Néant am Beispiel des »garçon de café« anhand dessen »Kellnerspiels« anschaulich beschrieben. Diese Distanz schafft dem Schriftsteller erst den notwendigen Spielraum für seine Kunst. Sartres Spieltheorie wird häufig mit seiner Philosophie und seiner existenzialistischen Psychoanalyse in einen unmittelbaren Zusammenhang gebracht.198 Im Rahmen der Philosophie und existenziellen Psychoanalyse enthält Sartres Spieltheorie die grundlegende Konzeption des Menschen als ›persona‹. Bewusst knüpft Sartre an die antike Deutung von ›persona‹ als Rolle bzw. Rollenmaske. Hier zeigt sich Sartres Vorliebe für die voridealistischen und damit im Sinne Sartres auch vorbürgerliche Formen des Theaters. Diese Sympathie führt Sartre auch zur Übernahme von Spielformen des mittelalterlichen Theaters vor allem der Farce, sowie den Formen des ›gran teatro del mundo‹ des Barock, die den Menschen als Rollenspieler wie eine Marionette vorführt; die christliche Weltdeutung schreibt dem Menschen nur die Rolle einer Figur innerhalb des göttlichen
197 EN p. 98 sq. Deutsch: Man muss damit (Distanz) spielen und nicht davon träumen, sie abzuschaffen. 198 Cf. »Rôle, jeu, projet littéraire. Der Rollenbegriff Sartres im Schnittpunkt von Literaturpsychologie und Literatursoziologie«, in: H. Krauss, R. Wolff, Hgg., Psychoanalytische Literaturwissenschaft und Literatursoziologie, Frankfurt 1982, pp. 39-66 Wir verweisen aber an dieser Stelle auf die oben bereits erwähnte Distanz, die Sartre selbst zum Biologismus Freuds eingenommen hat und auf die Tatsache, dass eine existenzialistische Psychoanalyse die Faktizität des Un- bzw. Unterbewussten ablehnt, indem sie das Gesamt der Emotionalität des Menschen in sein Bewusstsein verlagert. Der einzige Bezug aus der Philosophie ergibt sich aus dem Tatbestand des »präreflexiven Bewusstseins«, das aber keineswegs mit dem Unterbewusstsein der Psychoanalyse gleichgesetzt werden darf. Auch lehnt Sartre daher die von Freud behauptete Determinierung menschlichen Handelns durch libidinöse oder destruktive Triebkräfte bzw. deren Sublimierungen kategorisch ab, denn werden diese reflexiv erfasst – und nur so sind sie dem Bewusstsein präsent- können sie auf den Menschen nicht mehr den determinierenden Einfluss haben, den die Psychoanalyse Freudscher Prägung ihnen konzediert. Sartre hält dieser Behauptung entgegen, dass jedem Tun des Menschen sein individueller Entwurf zeitlich vorausgeht. Damit werden traditionelle psychoanalytische Werkbetrachtungen der literarischen Kunstprodukte Sartres in ihrem Aussagewert gegenstandslos, denn Sartre konzipiert geradezu eine ›psychanalyse existentielle‹ deren Sinn- und Bedeutungshorizont von ihm besonders in seiner umfassenden Flaubert-Studie zum Ausdruck gebracht wird.
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Schauspiels zu.199 Als Marionetten verlieren die Figuren in dem Spiel den Glauben an ihre Autonomie, ihre Unabhängigkeit und Individualität: »le jeu, en effet, comme ironie kierkegaardienne délivre la subjectivité.«200 Wie Sartre anmerkt, setzt das Spiel selbst die Subjektivität frei und gibt den Spieler der Lächerlichkeit preis: »il faut remarquer dʹabord que le jeu, en sʹopposant à lʹesprit de sérieux, semble lʹattitude la moins possessive, il enlève au réel sa réalité.«201 Für Sartre sind unter dieser Vorausetzung antikes und barockes Theater vergleichbar und gelten als Beispiele eines nichtpsychologischen Theaters, das jeweils den ›ganzen Menschen‹ darzustellen suche: »elle [la passion de Dullin] se rapproche par là de la tragédie grecque qui est [...] conflit de droits [...].«202 So stellt das Theater Dullins für Sartre nicht eine für die Franzosen exotische »violence barbare« dar, son-
199 Cf. M. Contat: »Dans ses notes sur le baroque italien de la Contre-Réforme, Sartre note que cʹest un art publicitaire qui méprise les foules à qui il sʹadresse. Et il se demande: »Pourquoi jʹaime le baroque, alors que je nʹaime rien de ce qui le produit?« Sa réponse, la voici: »Je ne peux aimer les arts baroques comme on aime un tableau de Van Gogh, une statue de Donatello. Pourquoi ? Parce quʹil ne sʹadressent pas à ma liberté. Mais ils ne réussissent pas non plus à mʹémouvoir parce que je nʹy crois pas. Pourtant ils mʹémeuvent par leur impuissance même. Tant de monuments pour rien. Cela redevient gratuit. Mais ce qui est gratuit et vain cʹest cet énorme effort pour signifier qui est vaincu.« In: Les Temps modernes, Jg 60 op. cit., p. 267. Deutsch: In seinen Notizen über das italienische Barock der Gegenreform notiert Sartre, dass es eine publizitäre Kunst sei, die die Volksmassen verachtet, an die sie sich richtet. Und er fragt sich: »Wieso mag ich den Barock, während ich doch nichts von dem mag, was er produziert.« Seine Antwort, hier ist sie: »Ich kann die barocken Künste nicht so mögen wie ein Bild von Van Gogh, eine Statue von Donatello. Warum? Weil sie sich nicht an meine Freiheit richten. Aber es gelingt ihnen auch nicht, mich zu rühren, weil ich nicht daran glaube. Dennoch bewegen sie mich durch ihre Machtlosigkeit selbst. So viele Monumente für nichts. Das wird wieder vergeblich werden. Aber das, was umsonst und vergeblich ist, das ist diese enorme Anstrengung um zu bezeichnen, wer besiegt ist.« 200 Ibid.p. 669. Deutsch: Das Spiel, als Ironie nach Art Kierkegaards befreit die Subjektivität. Hier folgt Sartre dem Gedanken Kierkegaards. 201 Deutsch: man muss zunächst bemerken, dass das Siel, indem es sich dem Geist des Ernsten entgegensetzt, die am weinigsten besitzergreifende Verhaltensweise zu sein scheint, es nimmt dem Realen seine Realität. cf. »Dullin et lʹEspagne«, in: Un théâtre de situations,op. cit., pp. 51-53, hier 52. Dort auch: »le style dramatique«, p. 30 sq. 202 Ibid., pp. 51-53.
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dern Dullin habe vielmehr zeigen wollen, welche Konsequenzen sich aus dem Prinzip der Willensentscheidung ergeben.203 Mit denselben Formeln, die er auch für sein eigenes Theater in Anspruch nimmt, beschreibt Sartre das Barocktheater und zeigt auch hier die Paradoxie des »monde libre et fatal« auf. Aber seine Sympathie für Dullin und das spanische Theater des siglo de oro, die Sartre mit Camus und Jean-Louis Barrault teilt, enthält auch einen ironischen und kritischen Vorbehalt. Sartres Distanz zeigt sich gerade in jenen Stücken, die am deutlichsten Motive und Darstellungstechniken des Barocktheaters aufnehmen.204 Huis Clos ist, wie auch les Jeux sont faits, in der Art und Weise, wie die Figuren in ihren Rollen präsentiert werden, wie mit ihnen gespielt wird, in seiner Struktur als ›Jenseitsstück‹ neben anderen Bedeutungen auch eine Parodie der Konzeption des Calderónschen Theaters. 205 Die re-
203 Deutsch: sie (die Leidenschafft Dullins) nähert sich hierdurch der griechischen Tragödie, die [...] Konflikt von Rechten ist. »La passion espagnole que Dullin nous a révélée, ne fait quʹun avec le droit et la volonté. Elle est lʹhomme tout entier, engagé dans une entreprise quʹil sait désespérée et qui pourtant veut aller jusquʹau bout de son projet.[...] Ce monde libre et fatal, sans repos, sans détente, dont lʹimpitoyable dureté sʹexprime en phrases fleuries et même précieuses, cʹest le grand mérite de Dullin de lʹavoir transporté sur la scène française.« In: ibid., pp. 51-53. Deutsch: Die spanische Leidenschaft, die Dullin uns enthüllt hat, macht nur eins mit dem Recht und dem Willen. Sie ist der ganze Mensch, engagiert in einem Unternehmen, das er hoffnungslos weiß und der dennoch bis an das Ende seines Projekts gehen will. [...] Diese freie und fatale Welt, ohne Ruhe, ohne Entspannung, deren erbarmungslose Härte sich in blumigen und sogar wertvollen Sätzen ausdrückt, das ist das große Verdienst Dullins, es auf die französische Bühne transportiert zu haben. 204 Cf. M. Contat: »[...] le mélange des genres, le sérieux, voire le sublime, et le grotesque, entre le drame et la farce, apparaissent, [...] comme la nature commune à toutes les pièces de Sartre, qui nʹobéissent non pas au réalisme mais à un romantisme moderne et [...] à un post-modernisme avant la lettre.« In: op. cit., p. 258. Deutsch: [...] die Mischung der Genres, der Ernst, insbesondere das Sublime, und das Groteske, zwischen dem Drama und der Farce, erscheinen, [...] als die allen Stücken Sartres gemeinsame Natur, die nicht dem Realismus gehorchen sondern einem modernen Romantismus und [...] einem Post-Modernismus vor der Literatur. 205 Sartre: Il suffit de présenter des personnages dʹun autre monde. De sorte que lʹon puisse rire, puisque lʹon se dise en sortant: »Tiens, mais ce monde – là, cʹest le mien !« In: Un théâtre de situations, p. 101. Deutsch: Es reicht aus, Personen einer
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Teil 2: Sartres Ästhetik und Ethik
flexive Selbstbezüglichkeit des Sartreschen Theaters bestimmt seine Theatralität als »conscience quʹune pièce manifeste dʹêtre une pièce par le biais des personnages ou dʹune structure attirant lʹattentention sur son caractère théâtral.«206 Barocke Themen werden von Sartre parodiert, indem die Rolle Gottes, der ein solches Welttheater in Szene setzt und dem Menschen im Wesentlichen nur die Wahl zwischen Himmel und Hölle überlässt207 nunmehr vom Autor übernommen wird, der seine Komödie so inszeniert, dass der Zuschauer durch die Künstlichkeit des Spiels und die Distanz des Autors die Umkehrbarkeit der Prämissen des Spiels durchschauen kann. Nach Louette äussert sich in Sartres Theater der »goût [...] pour le baroque (entendu comme esthétique de la métamorphose et de lʹostententation), sa passion pour le jeu, acte libre et type de projet dans lequel le faire est irréductible à lʹêtre – et surtout pas au désir dʹêtre un »en-soi-pour-soi« comme Dieu –, la définition de la conscience comme jeu (au double sens de non-coïncidence et de comédie) avec soi [...].« 208 Es handelt sich – wie immer bei Sartre – um die Dialektik von Determination und Freiheit. Für das Theaterstück Huis Clos lässt sich dieser Gedanke an der Situation des Eingeschlossenseins gerade als notwendige Voraussetzung der Veranschaulichung von Freiheit erkennen. Für Sartres Theater selbst, aber auch für seine Theatertheorie ist dieses Paradox allerdings konstitutiv. Es führt zu einer Konzeption des Theaters als Spiel im Spiel, die deutliche Paralleli-
anderen Welt zu präsentieren. Auf die Weise, dass man lachen kann, dass man sich beim Rausgehen sagen kann: »Schau an, aber diese Welt da, das ist meine.« 206 »on songe à des énoncés du type »Nous jouons la comédie«, à une forme comme le théâtre dans le théâtre.« In: J.F. Louette, op. cit., p. 242, der sich auf Josette Féral, La théâtralité, in: Poétique, n°75, 1988, bezieht. Deutsch: man denkt an Aussprüche vom Typus »Wir spielen Komödie, an eine Form wie das Theater im Theater.« 207 Cf. F. Link, G.Niggl, Hgg., Theatrum mundi, Götter, Gott und Spielleiter im Drama von der Antike bis zur Gegenwart, Berlin 1981, bes. p. 17 sqq., p. 161 sqq. die Ausführungen von K. Reichenberger und R. Kleszewski. 208 J.F. Louette, op. cit., p. 242. Deutsch: der Geschmack für den Barock (verstanden als eine Ästhetik der Verwandlung und Prahlerei), seine Leidenschaft für das Spiel, freier Akt und Projekttyp, in welchem das Machen nicht reduzierbar aus dem Sein – und vor allem nicht aus dem Wunsch, ein An-Und-Für-Sich zu sein wie Gott – die Definition des Bewusstseins als Spiel mit sich, (im doppelten Sinn von NichtKoinzidenz und Komödie) [...].
6. Die philosophisch-intersubjektive Bedeutung
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täten zum barocken Topos des ›teatrum mundi‹ aufweist.209 Ist die Welt ein Schauspiel, ist das Spiel »à lʹorigine du monde« und sind die Menschen prinzipiell nur Schauspieler, Rollenspieler, so kann das Theater ebenfalls nur Spiel im Spiel sein. Der Theaterkritiker Sartres brachte diesen Gedanken 1943 in seiner Artikel über die Aufführung von Les Mouches im ›Théâtre Sarah-Bernardt‹ pointiert zum Ausdruck. Für ihn ergibt sich der Eindruck, dass sich Sartres Elektra von den Zuschauern wesentlich weiter in die Vergangenheit zurückdatieren lässt als diejenige von Sophokles selbst: »Cela tient à lʹœuvre [...] qui cherche son originalité sans la trouver, entre quatre ou cinq imitations, mais surtout au spectacle qui nous restitue, dans un invraisemblable bric-à-brac cubiste et dadaïste, une avantgarde depuis longtemps passée à lʹarrière garde.«210 Ihm kann demnach keine andere Aufgabe zukommen, als diese Grundsituation zu veranschaulichen, zu verdeutlichen und zu problematisieren. Wir erkennen darin auch eine pädagogische Funktion des Theaters, denn für Sartre ist die ›persona‹, die Rolle, eben nicht festgelegt. Der Mensch ist nicht prädeterminiert, sondern kann seine Rollen offen, frei wählen wie der Schauspieler verändern, vertauschen. Aber auch der Zuschauer ist in Sartres Stücken gefordert. Indem das Paradox der Fremdheit ausgespielt wird, muss sich der Leser oder Zuschauer mit seiner Irritation, Provokation und Verunsicherung auseinandersetzen. Sartre hatte die Verfahrensweisen der Ver-
209 Cf. M. Contat: »La mise en scène des Mouches par Charles Dullin, en 1943, [...] a été [...] la plus proche de cette inspiration baroque à laquelle je crois.« In: op. cit., p. 259. Deutsch: Die Inszenierungen der Fliegen durch Charles Dullin, 1943, [...] ist [...] die am nahesten an diese barocke Inspiration gewesen, an die ich glaube. 210 Weiter heißt es in dieser harschen Kritik: »Sa technologie, qui remonte à la découverte de lʹart nègre et aux expositions de dessins de fous dont les années dʹaprès lʹautre guerre [...] est aujourdʹhui plus caduque et décrépite que les pâtisseries modern-style de 1900. Ce que fait que la tragédie de M. Sartre, dans le parti pris révolutionnaire dʹil y a vingt ans du metteur en scène est à de milliers de lieues plus éloignées de nous quʹEschyle, Sophocle et Euripide.« zit. von M. Contat, in: op. cit., p. 259. Deutsch: Seine Technologie, die auf die Entdeckung der Negerkunst und auf die Zurschaustellungen von Zeichnungen Geisteskranker zurückgeht, von denen die Jahre des anderen Kriegs [...] ist heutzutage morscher und abgelebter, als die Backwaren im modern-style des 19. Jahrhunderts. Das macht es, dass die Tragödie von Herrn Sartre in dem revolutionären Teil von vor zwanzig Jahren des Inszenesetzens mehrere tausende von Meilen entfernter ist von uns als Äschylos, Sophkles oder Euripdes.
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Teil 2: Sartres Ästhetik und Ethik
fremdung, Distanz und Ironisierung auch im Rahmen der Literaturtheorie von Quʹest-ce que la littérature? als Formen des Appells an den Zuschauer erläutert und damit auch der modernen literaturwissenschaftlichen Rezeptionsästhetik entscheidenden Impulse gegeben. Die Konzeption der Literatur als Spiel und damit des Theaters als Spiel im Spiel widerspricht nicht der Theorie und Praxis des ›engagement‹, sie enthält auch den Begriff des ›dégagement‹. Gemeint ist die ästhetische Distanz, das literarische Spiel ›als ob‹, die Simulation und zwar nicht als Selbstzweck der Literatur, als ästhetisches Spiel, sondern als Mittel der Erkenntnis, die auch in der grotesken Kehrseite unserer Wirklichkeit bestehen könnte. 7. Die funktionale Äquivalenz von Ästhetik und Ethik in Sartres Kunstbegriff »Widerspiegelung« fungiert als fundamentalster und umfassendster Begriff, als Kategorie von grundlegend ontologischem, anthropologischem und erkenntnistheoretischem Status und hat demnach sowohl kulturtheoretische als auch ästhetiktheoretische Bedeutung.211 Legt man auch Maßstäbe marxistischer Literaturbetrachtungen wie Lukácsʹ weltschaffende Mimesis an die Betrachtung der literarischen Produktionen Sartres an, so handelt es sich hier ebenfalls um die Produktion von Wirklichkeitsmodellen in der ästhetischen Form individueller Werkwelten. Gemeint ist die Form in der historisch – praktischen Welt, d.i. menschliches Leben, in der der Mensch seiner selbst ansichtig wird, sich als »Mensch ganz« erfährt, erfühlt und erkennt. Gegenstand der Kunst ist das gesellschaftliche Subjekt im Verhältnis zu sich selbst, zur Geschichte, zur Natur und zur Kunst selbst. Es ist das Medium, in dem sich in einem paradigmatischen Sinn das Selbstbewusstsein der menschlichen Gattung ausbildet, wie wir an den Konzepten Fichtes und Sartres aufzeigen können. Die in sich selbstständige, durch sich selbst wirkende Totalität der Kunst steht in einem Korrespondenzverhältnis zur gattungsgeschichtlichen Wirklichkeitserfahrung,
211 Cf. Wolfgang Palaver, René Girads mimetische Theorie. Im kontext kulturhistorischer Fragen, Münster 2004 Dieses Buch bietet eine systematische Einführung in die mimetische Theorie des französisch-amerikanischen Literatur- und Kulturwissenschaftlers René Girard, indem es die drei Grundpfeiler dieses Denkansatzes (mimetisches Begehren, Sündenbockmechanismus, Mythos versus biblische Offenbarung) anhand von Beispielen darstellt.
7. Die funktionale Äquivalenz von Ästhetik und Ethik
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und zwar in einem je »gegebenen historischen Entwicklungsstadium der Menschheit.«212 In diesem Sinne bezieht sich Kunst auf den realen Geschichtsprozess, der zwar außerhalb der Kunst seine materielle Existenz hat, der aber ohne Kunst um die Dimension des humanen Selbstbewusstseins verkürzt wäre. Ausdrücklich spricht Lukács vom »universalistischen Humanismus der Kunst«, dem »die schärfste klassenmäßige Entscheidung zugrunde liegen kann.« Kunst ist vox humana. Sie spricht die Wahrheit des historischen Moments für das Leben der Menschen aus.213 In seinen Analysen von Künstlerexistenzen betrachtet Sartre den Umgang mit der Totalverantwortlichkeit stets als obersten Maßstab seiner Bewertungen. Dabei greift er auf Erkenntnisse unterschiedlicher Wissenschaftszweige zurück, indem er diese zusammen mit den zahlreichen methodischen Bemerkungen in den Künstlerportraits geschickt zu einer eigenen Kunsttheorie verdichtet. Er wendet diese Kunsttheorie bei der Überprüfung der ästhetischen Möglichkeiten von Kunst und Literatur immer wieder an. Mit diesem Verständnis von Ästhetik grenzt sich Sartre von Kant ab, der sich als Verfechter einer puristischen Autonomie des Ästhetischen versteht. In der »Kritik der Urteilskraft« wird deutlich, dass Kant die Ästhetik nicht expressis verbis in den Zusammenhang zur Ethik bringt. Kants Ästhetik verdankt sich der Intention, eine Brücke zwischen den antinomischen Geltungsbereichen von Freiheit und Notwendigkeit, von praktischer und theoretischer Vernunft zu finden. Eben diese Verbindung findet Kant in der ästhetischen Urteilskraft, die auf dem Prinzip der Zweckmäßigkeit ohne Zweck beruht und sich in dieser »Interesselosigkeit« von der Finalität des moralischen Urteils und von der Gesetzmäßigkeit des wissenschaftlichen Urteils unterscheidet. Allerdings betrachtet Kant die »ästhetischen Ideen« als versinnlichte Vernunftideen und macht damit die strenge Trennung von Kunst und Moral rückgängig. Wenn das Kunstwerk nicht reines Ornament ist, dann bezieht es sich auf eine Idee, die ihm Substanz verleiht. Die Verhältnisbestimmung des ethischen und des ästhetischen Urteilstyps bekommt damit wieder ihre aktuelle Relevanz. Auch wenn Kant primär an einer Analyse des Geschmacks-
212 Gerhard Pasternack, Georg Lukács. Späte Ästhetik und Literaturtheorie, Königstein 1985, p. 120. 213 Georg Lukács, Die Eigenart des Ästhetischen, Neuwied, Berlin 1963,1. Halbband, p. 849.
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urteils und nicht an einer Analyse des Kunstwerks interessiert war, ist damit eine definitive Trennung von Ethik und Ästhetik nicht fixiert. Kants berühmte Formel von der »Schönheit als Symbol der Sittlichkeit«214 spricht für ein Ineinanderspielen der Kategorien, so dass die Interdependenz von ästhetischer und ethischer Wertung auch einer philosophischen Betrachtung zugänglich gemacht werden kann.215 Ein weiteres Argument für Differenzierungen und Erweiterungen im Begriff der Kunstautonomie ist die historische Entwicklung des Streits um die Ethik in der Institution Kunst, denn selten geht es darum, Kunst moralfrei zu gestalten, sondern um das Recht, ethische Fragen im Kunstwerk frei und ohne Zensur zu thematisieren. In einem Vortrag hat Sartre am 1. November 1946 an der Sorbonne anlässlich der Gründung der UNESCO den ästhetischen Anspruch seiner Theorie dargelegt. Die Auffassung, so Sartre, ein Kunstwerk sei nur eine Darstellung ohne Verpflichtung des Künstlers, sei nur ein Rückgriff auf die Unverantwortlichkeit des Schriftstellers.216 Das Konzept des ästhetischen Vergnügens widerlege einen derartigen Kunstbegriff. Der Schriftsteller hege nicht die Absicht, seine Werk als »Aufschrei«, sondern als »résultat dʹune création réglée« verstanden zu wissen.217 Der Künstler kann daher zum »moralisateur« oder »demoralisateur« werden, wenn er eine ethische Perspektivierung seines Stoffes bewusst vermeidet, jedoch z.B im Roman lebensweltliche Probleme behandelt, die dem ethischen Diskurs zugänglich sind. Seine Darstellung kann für den Leser je nach Standort zur Provokation werden, gegen deren Folgen kein Literat immun ist. Eine Immunisierung des Literaten kann nicht durch die angebliche Unschuld der Kunstautonomie erklärt werden, weil jede Provokation dadurch ihre Spitze verlieren würde. Obwohl der moralische Affront als ästhetischer Effekt eingesetzt werden kann, bleibt
214 KdU § 58. 215 Cf. Kant: W. Welsch, Unsere postmoderne Moderne, Weinheim 1987, p. 297sqq. Welsch thematisiert die von Kant gefundenen Übergänge zwischen verschiedenen Rationalitätstypen und formuliert sein eigenes [...] (postmodernes) Konzept einer »transversalen« Vernunft in der Tradition der Kantischen Urteilskraft. Obwohl Sartre sich ausdrücklich von Kant distanziert hat, lassen sich doch aufgrund der Parallelen mit Fichte auch im Blick auf Sartres Philosophie exemplarische Fragen von Kant her erarbeiten. 216 Sartre, op. cit. 217 Manfred Frank, op. cit.
7. Die funktionale Äquivalenz von Ästhetik und Ethik
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er diskutierbar. Die Zuordnung von künstlerischer Form und provokativem Amoralismus spiegelt die Krise der Ethik wider, wie sie die ästhetische Moderne wahrnimmt, die als leere Konvention völlig ihre Bedeutung verliert. Autoren der Moderne (wie Rimbaud und Lautréamont) stellen der Unauthentizität der ›bourgeoisie‹ verdeckt das verklärende Pathos der absoluten Authentizität entgegen. Die Wahrheit über die wirklichen Handlungsimpulse des Menschen ist nur noch im mimetischen Nachvollzug des Un-Menschlichen zu entdecken. Die kaum zu überschätzende Bedeutung der Ethik für das Entstehen der modernen Literatur rührt daher, dass nach Sicht der Autoren in der Ethik die Unwahrheit der Gesellschaft zusammengefasst ist, die diese als ihre Wahrheit ausgibt. Der »Erkenntnisanspruch der modernen Literatur ist von dem Angriff auf die Moral nicht zu trennen.«218 7.1. Sartres Bestimmung der Kunst Die interexistenzielle Abhängigkeit vom Anderen wird von Sartre als eine fundamentale Kategorie des menschlichen Daseins bestimmt. Die Beziehungen zum Anderen können aber auch auf die Betrachtung des Kunstwerks übertragen werden, denn im gleichen Maße, wie jemand durch den anderen in seinem Bewegungsspielraum eingeschränkt wird, kann das Kunstwerk gleichsam als materielle Form des Blicks die Reaktionen des Betrachters beeinflussen.219 Zum Wesen dieser modernen Kunst gehört auch ihre Skepsis gegenüber allgemein gültigen Ansprüchen, denen sich der individuelle und kreative Ausdruck unterzuordnen hätte. Das Prinzip intersubjektiv überprüfbarer Richtigkeit gilt ihr als wesenfremd, bestimmend bleibt für sie das Pathos unauswechselbarer Authentizität. Es ist die Authentizität des Subjekts, die die enge Verbindung zwischen künstlerischer und ethischer Wertung herstellt. Die für Sartre so charakteristische Überhöhung des Subjekts in der modernen Literatur ist konsequenter Ausdruck der Verbindung von (Künstler-)Ethik und Ästhetik. Freilich soll nicht unerwähnt bleiben, dass Sartre dieses Verhältnis selbst nicht so poin-
218 p. Bürger, op. cit. p. 23. 219 »Quelque chose tourne autour du regard.« cf. Jean-Luc Nancy op. cit. p. 16 und Levinas dazu: »Le visage dʹautrui est sa manière de signifier«, in: Altérité et transcendance, Montpellier 1995, p. 172.
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tiert herausgestellt hätte. Schließlich bedeutet Engagement für Sartre nicht die Anwendung gegebener Normen, sondern die Erforschung neuer Werte. Indem er in eigenen literarischen Produktionen den konventionellen Formen in recht eigenwilliger Weise Formen veränderte, mit ihnen spielte, indem er sie variierte,220 repräsentiert er die ästhetische Moderne wie kaum ein anderer durch die theoretische Auseinandersetzung mit einigen ihrer bedeutendsten Vertreter, wie Baudelaire, Flaubert und Mallarmé. Kunst und Ethik verbinden sich nicht automatisch in einer kommunikativen Praxis, die dem freien gesellschaftlichen Diskurs offen stände. Sie sind vor allem Ausdruck einer individuell ausgestalteten ethisch-ästhetischen Lebensform, die sich dem tradierten Allgemeinen entzieht. Für den rationalen Diskurs der Ethik, der dazu tendiert, eindeutige und widerspruchsfreie normative Festlegungen zu machen, ist dies eine Herausforderung, da hier paradigmatisch die schwierige Vermittlung von Individuellem und Allgemeinem evaluiert werden muss.221 Es scheint aber problematisch, Sartre als einen »Situationsethiker« zu bezeichnen, der allgemeine Normen ablehnt und nur den persönlichen, situativen Freiheitsentscheid gelten lässt.222
220 Hierzu zählt Sartre Dekonstruktion von Raum und Zeit, was mit den Begriffen ›Heterotopie‹, ›Heterochronie‹ bezeichnet wird. Conf. V. Roloff, »Der Ort des Fernsehens in der Nouvelle Vague: Anmerkungen zur Theorie und Praxis intermedialer Analyse«, in H. Kreuzer/ H. Schanze, Hg., Bausteine III, Beiträge zur Ästhetik, Pragmatik und Geschichte der Bildschirmmedien, Siegen 1994, pp. 133 -139. 221 Uwe Töllner, Sartres Ontologie und die Frage einer Ethik, Zur Vereinbarkeit einer normativen Ethik und/oder Metaethik mit der Ontologie von LʹÊtre et le néant, Frankfurt 1996, Zwar beschränkt sich die breit angelegte Studie Töllners (ca. 600 Seiten) im Wesentlichen auf Sartres philosophisches Hauptwerk, kommt aber unter Einbeziehung sämtlicher zeitgenössischer Forscher auch aus dem angelsächsischen Sprachraum zu dem [...] – kaum überraschenden – Schluss, dass man mit dem Ethikkonzept Sartres so ziemlich jede traditionelle Form von Ethik gleichsetzen könne. Wir machen diesen Verweis an dieser Stelle, weil er auch in den Kontext der Untersuchung der Sartreschen Ästhetik passt. 222 W. Lesch ist der Ansicht, dass mit Sartres Ansatz eine Letztbegründung der Ethik nicht möglich sei, da Ethik bei ihm in die dialektische Totalisierung einer jeweils individuell zu betrachtenden Genese von Werten und Normen transponiert wird. In: Imagination und Moral. Interferenzen in Sartres Literaturverständnis, Würzburg 1989 p. 41. Lesch kann hier mit U. Töllner [op. cit.] verglichen werden. Es scheint aufgrund der Ermangelung transzendentalphilosophischer Vergleichskriterien un-
7. Die funktionale Äquivalenz von Ästhetik und Ethik
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Trotzdem gibt es bisher – trotz poststrukturalistischer Beteuerungen – keine überzeugende Alternative zu Sartres totalisierender Theorie, die mit dem Vorgehen aller historischen Wissenschaften übereinstimmt und als Methode der Empathie bezeichnet werden kann.223 Konsequenterweise wird eine Methode der Dekonstruktion notwendig, da überlieferte Denkmodelle phantasievoll destruiert werden müssen, um auf dieser Grundlage eine neue Synthese entstehen zu lassen. In der Praxis der Textinterpretation bedeutet dies freilich, dass wir in Sartres eigenem Werk immer wieder auf (auto-)biographische Elemente stoßen, deren Auslotung gleichsam den roten Faden und die synthetisierende Kraft in der Vielfalt der Texte darstellt. Die Selbststilisierung des authentischen Autors wird somit selbst zur ethisch-ästhetischen Form erhoben. Sartre hat – anders als die Autoren des Neostrukturalismus –, bei denen Habermas die »Einebnung des Gattungsunterschieds zwischen Philosophie und Literatur«224 bemängelt, stets an der Differenz zwischen lite-
möglich zu sein, Sartres ethische Position existenzialistisch-idealistisch zu verorten. 223 Cf.F. Gaillard, »Totalisieren oder nicht totalisieren?« In: L. Dällenbach, Chr. L. Hart Nibbrig, [...], Hg. Fragment und Totalität, Frankfurt a.M. 1984, p. 7. 224 Cf. Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt. a.M. 1985, p. 219 sqq. »Das philosophische Denken wird, wenn es gemäß Derridas Empfehlung von der Pflicht, Probleme zu lösen, entbunden und literaturkritisch umfunktioniert wird, nicht nur seines Ernstes, sondern seiner Produktivität und Leistungsfähigkeit beraubt. Umgekehrt büßt auch die literaturkritische Urteilskraft ihre Potenz ein, wenn sie, wie es Derridas Gefolgschaft von den literary departments vorschwebt, von der Aneignung ästhetischer Erfahrungsinhalte auf Metaphysikkritik umgestellt wird. Die falsche Assimilation der einen Unternehmung an die andere raubt beiden ihre Substanz.« (Ibid., p. 246) In diesem Kontext sei auf »Einige Gedanken zum performativen und dekonstruktiven Charakter intellektueller Redlichkeit« von Walburga Hülk, verwiesen (in: Intellektuelle Redlichkeit. Intégrité intellectuelle, Literatur – Geschichte – Kultur, op. cit.) In diesem Aufatz setzt sie bei der Überzeugung an, dass sich intellektuelle Redlichkeit auch dort ablesen lässt, wo die Autonomie des Intellektuellen radikal sprachlich und »in der Erarbeitung eines genuin ästhetischen Wahrnehmungsmodus« (J.Jurt) durchdacht und durchgespielt ist. Als Vorbedingung der Rede im Sinne freier, intellektueller Rede sollte daher dem Künstler, ähnlich dem Konzept der art pour lʹart, die Rolle des Beobachters zukommen. Wir denken, dass Montaigne in dieser Hinsicht für Sartres Literaturproduktionen in genau diesem Sinne ein großes Vorbild war, was noch eine breite Forschungsaufgabe für eine vergleichende Literaturwissenschaft wäre.
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rarischen und philosophischen Texten festgehalten. In einem Gespräch mit Pierre Verstraeten betonte er 1965, dass die philosophische Prosa im Idealfall reine Kommunikation sei, die durch keine Beimengung von Sprachmagie getrübt sein dürfe. Allerdings räumt er ein: »[…] il y a au fond de nous-mêmes trop de choses qui conditionnent le langage: il y a un rapport de la signification au signifiant qui est un rapport en arrière, un rapport centripète qui change les mots. Nous disons toujours plus ou moins autre chose que ce que nous voulons dire par lʹusage même des mots.«225 Sartres idealtypische Gegenüberstellung von Prosa und Poesie enthält fließende Grenzen, die – trotz der Gattungsunterschiede – den Umgang mit seinem Werk bestimmen müssten. Denn es wäre wenig sinnvoll, die Werkbetrachtung Sartres wie bisher meistens in Form einer arbeitsteiligen Zuweisung an die Fachbereiche Philosophie und Literaturund Medienwissenschaft zu vollziehen. Das Textkorpus der vorliegenden Untersuchung ist daher auch mit Absicht so gewählt worden, dass ein breites Spektrum von künstlerischen Produktionen Sartres zur Sprache gekommen ist. 7.2. Die ethischen Implikationen in der Ästhetik des Künstlerportraits Die Frage nach dem Verhältnis des Künstlers zu seinem Werk und dessen Wirkung ist der eigentliche Gegenstand aller Portraitstudien Sartres. In diesem Sinne sind die einzelnen Portraits weitaus mehr als nur bloße Biographien. Weit davon entfernt, sich als Kunsthistoriker präsentieren zu wollen, verortet Sartre seine Künstlerstudien häufig fragmentarisch in disparaten Teilen seines Gesamtwerkes, dessen Vielfalt bei Niederschrift dieser Untersuchung noch längst nicht beendet ist.226 In diesen Schriften unterzieht er die theoretischen Voraussetzungen der Tradition für den von
225 Lʹécrivain et sa langue, in: Situations IX, pp. 40-82. Sein Selbstverständnis als Philosoph hat Sartre 1959 in einem posthum veröffentlichten Text formuliert: Pourquoi des philosophes?, in: Le débat n° 29, mars 1984 pp. 29-42. Deutsch: es gibt im Inneren von uns selbst zu viele Dinge, die unser Sprache konditionieren: es gibt eine Beziehung des Bezeichnenden und des Bezeichneten, was eine nach hinten gerichtete Beziehung ist, ein zentripetales Verhältnis, das die Worte verändert. Wir sagen immer mehr oder weniger anderes, als das, was wir durch den Gebrauch der Worte selbst sagen wollen. 226 Anlässlich des 100 jährigen Geburtstags 2005 wurden Sartre-Kongresse abgehalten und zahlreiche neue Publikationen editierter Schriften Sartres veröffentlicht.
7. Die funktionale Äquivalenz von Ästhetik und Ethik
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ihm gerade beobachteten Künstler und sein Werk einer eingehenden Betrachtung, an die sich die Beschreibung der Methode und deren Weiterentwicklung notwendig anschließen. Sartre verfolgt mit seinen derart anthropologisch-biographischen Künstlerstudien ein ganzes ästhetisches Programm, dessen ethischen Inhalt wir uns vorgenommen haben, zumindest idealtypisch einmal genauer zu erörtern. Mit der Fundierung seiner Künstlerportraits auf seinen philosophischen Arbeiten enthüllt uns Sartre die Grundlage seiner Ästhetik. Seine Portraitstudien, mit denen er das künstlerische Bewusstsein der Maler, Schriftsteller und Dichter untersucht, sind Protokolle der Versuche Sartres, eine adäquate Analyse zu erarbeiten, deren programmatischer Charakter sich durch alle seine Werkteile zieht, ja sogar die Einheit aller seiner Werkteile geradezu ausmacht. Wir werden daher am Anfang der Darstellung des ästhetisch-ethischen Zusammenhangs in Sartres Künstlerportraits eine Analyse vollziehen, mit dem Ziel, herauszuarbeiten, wie Sartre seine eigenen Begriffe in den Portraitstudien angewandt und weiterentwickelt hat. In seiner Unterscheidung zwischen Philosophie und Literaturkritik liefert Sartre eine fundierte Reflexion über seinen umfassenden Anspruch an die Ästhetik:227»Le peintre ou lʹécrivain comme entièrement à la base de lʹœuvre dʹart se met à exister comme une intention originelle de sa liberté: cʹest sur ce plan aussi que jʹaurais montré dans mon Esthétique, comment la liberté humaine est la seule possibilité de peindre ou dʹécrire. Si on peint ou on écrit avec la liberté, il y a dans lʹœuvre dʹart quelque chose de particulier ou de spécial: lʹœuvre dʹart nʹest jamais la copie de la nature […], mais une production hors dʹelle.«228 So habe er reine Ästhetik konzipieren
227 Nach der Bedeutung der Ästhetik in seiner Philosophie gefragt, erklärt Sartre, dass sie vollständig in seinen Schriften enthalten sei. cf. Sartre »The Interview« (M.Rybalka, F. Pucchiani, S. Gruenheck 1975), in: Schilpp, The philosophy of Jean-Paul Sartre, ,La Salle, Illinois 1981, p. 15. 228 Sartre, Sicart, »Penser lʹart«, in: Obliques 24/25, Sartre et les arts, M. Sicard, Hg., Noyons 1981, p. 16. Deutsch: Der Maler oder Schriftsteller, als vollständig an der Basis des Kunstwerks seiend, beginnt zu existieren als eine ursprüngliche Intention seiner Freiheit. Auf dieser Ebene hätte ich auch in meiner Ästhetik gezeigt, wie die menschliche Freiheit die einzige Möglichkeit darstellt, zu malen oder zu schreiben. Wenn man mit der Freiheit malt oder schreibt, dann gibt es im Kunstwerk etwas Eigentümliches oder Spezielles: das Kunstwerk ist niemals die Kopie der Natur [...], aber eine Produktion außer ihr.
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Teil 2: Sartres Ästhetik und Ethik
wollen, in der die »art littéraire figurerait, mais dans ses rapports avec les autres arts.«229 Die Bestimmung seiner Ästhetik weist ihr daher keinen normativen, sondern einen allgemeinen Gültigkeitsanspruch zu, der sich auf die Werke aller Künstler bezieht. Vor diesem Hintergrund bestimmt Sartre die Summe der Ergebnisse seiner Künstlerportraits als jene Ästhetik, die nicht von Künstlern selbst hervorgebracht wird und an der die Literatur gerade durch ihre Beziehungen mit den anderen Künsten einen Anteil hat. Sartres Kritik an Kant klingt allerdings hier so ähnlich wie diejenige Fichtes an Kant. Kant hatte das als von ihm ursprünglich so bestimmte interesselose Wohlgefallen gegenüber dem ästhetischen Objekt als nicht ausschlaggebend für die Beziehung zwischen Betrachter und Kunstwerk bezeichnet.230 Während für Kant zuerst das Kunstwerk existiert und dann erst entsteht, beginnt es nach Sartre erst dann zu existieren, wenn es betrachtet wird. Aus seinem Anspruch zu existieren, resultiert nach Sartre der Appellcharakter der Kunst. Die Rezeption des Schönen ist nicht allein bestimmend für die Definition des Schönen. Das von Sartre verfasste Vorwort zu dem Ausstellungskatalog für den Künstler Robert Lapoujade macht seinen erweiterten Ästhetikbegriff deutlich. Seine Definition des Schönen bezieht sich nicht nur auf die jeweiligen Elemente des Kunstwerks oder den idealtypisch – exemplarischen Charakter des Kunstwerks selbst, sondern darauf, dem Kunstwerk die Aufgabe zuzuweisen, geradezu den »Anstoß« zu einer profunden Reflexion über die Malerei als Medium zu geben. Der manifeste wie auch der latente Bedeutungszusammenhang des Kunstwerks bilden nach Sartre jene Bestimmungsmomente, in denen die Beteiligung des Betrachters erst jene Schönheit des Ganzen schafft, die es dem Maler erlaubt, die beabsichtigte Vereinigung seiner manifesten und latenten Botschaften zu verwirklichen. Erst diesen Vorgang bezeichnet Sartre als ästhetisch und verdeutlicht dabei implizit die ethische Dimensi-
229 Ibid., op. cit., p. 15. Deutsch: [eine Ästhetik], in der die literarische Kunst aufträte, aber in ihren Beziehungen mit anderen Künsten. 230 Cf. I. Kant, Kritik der Urteilskraft, in: Werke [...] Preußische Akademie der Wissenschaften, Bd. V. Berlin 1913, p. 204sq.: »§2. Das Wohlgefallen, welches das Geschmacksurteil bestimmt, ist ohne jedes Interesse.« Cf. R.Lüthe, »Kants Lehre von den ästhetische Ideen«, Kant-Studien I, Berlin 1984, pp 65-74 und Cf. Sartre, Quʹest-ce que la littérature?, op. cit. p. 61.
7. Die funktionale Äquivalenz von Ästhetik und Ethik
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on dieses Prozesses: Die Beteiligung des Betrachters ist für das Eigenleben des Kunstwerks geradezu ausschlaggebend, denn ohne sie kommt dem Kunstwerk überhaupt kein Eigenleben zu.231 In Sartres Ästhetik ist die zwischen Kunstwerk und Betrachter bestehende ›unité transcendante‹ das Fundierungsmoment: »Par elle, le mouvement du regard est assuré de ne sʹarrêter jamais: cʹest ce tourniquet des yeux qui produit la permanence de lʹunité invisible ; donc nous tournerons ; si nous arrêtions, tout éclaterait.«232 Sartre fordert vom Rezipienten des Kunstwerks einiges mehr als vom Maler, dem er in Quʹest-ce que la littérature? die Möglichkeit des Engagements vollständig abspricht: »[…] le peintre ne veut pas tracer des signes sur la toile, il veut créer une chose ; et sʹil met ensemble du rouge, du jaune et du vert, il nʹy a aucune raison pour que leur assemblage possède une signification définissable, cʹest-à-dire renvoie nommément à un autre objet.«233 Da die Bedeutung einer Sache aber bildtechnisch nicht zu
231 Sartres Kunstbeschreibung mutet aufgrund von fiktional anmutenden Zügen wie ein romanhafter Bestandteil seiner Ästhetik an: »En effet, les chemins tracées par le peintre pour nos yeux, encore faut-il que nous entreprenions à parcourir: à nous accoler ces brusques expansions de couleurs, ces condensés de matière; à nous dʹéveiller les échos, des rythmes. Cʹest à ce moment que la Présence, intuition refusée, nous prête son concours: elle ne détermine pas elle-même lʹitinéraire, elle le surdétermine; pour construire, il suffira dʹétablir des rapports visibles ; pour garantir cette construction, pour la sauver dʹune absurdité totale, lʹunité transcendante est nécessaire.« In Sartre, »Le peintre sans privilèges«, in: ders., Situations, IV, Portraits, Paris 1964, pp. 371 sq. Deutsch: In der Tat, müssen wir es unternehmen, die für unsere Augen vom Maler vorgezeichneten Wege zu durchlaufen: uns diese brüsken Farbausdehnungen, diese Materialdichte aufzuhalsen; an uns ist es, die Echos, die Rhytmen zu erwecken. In diesem Moment verleiht uns die Präsens, die verweigerte Intuition, ihren Wettbewerb: sie bestimmt nicht selbst den Verlauf, sie überbestimmt ihn; um zu konstruieren, wird es genügen, sichtbare Beziehungen aufzustellen; um diese Konstruktion zu garantieren, um sie vor einer totalen Absurdität zu retten, ist die transzendente Einheit vonnöten. 232 Ibid. op. cit. Deutsch: Durch sie [die transzendente Einheit] ist die Bewegung des Blicks gesichert, niemals aufzuhören: es ist diese Drehscheibe der Augen, der die Permanenz dieser unsichtbaren Einheit produziert; wir werden also drehen; wenn wir aufhörten, würde alles zerplatzen. 233 Sartre, Quʹest-ce que la littérature?, op. cit., p. 12. Deutsch: Der Maler will keine Zeichen auf das Tuch zeichnen, er will eine Sache kreieren, und wenn er rot, gelb und grün zusammenbringt, dann gibt es keinerlei Grund dafür, dass diese Assemblage irgendeine definierbare Bedeutung besitzt. Das heißt wörtlich, dass es auf ein anderes Objekt zurück verweist.
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erfassen ist, muss der Betrachter sein Engagement hinzufügen. Neben diese Akzentuierung der Rolle des Betrachters hat Sartre aber auch die Rolle des Künstlers dahingehend interpretiert, dass ein Teil seines möglichen Engagements auch darin bestehen könne, dem Betrachter mittels seiner illustrativen Technik signifikante Aufgaben zu stellen. Damit kommt dem Kunstwerk Zweckmäßigkeit zu, die ihm vom Künstler gegeben wurde, denn Kausalität im Kunstwerk ist für Sartre reine Illusion. Dass aber das Kunstwerk sich niemals auf das von ihm Abgebildete bezieht, sondern auf eine totale Übernahme der Welt abzielt, ist das Endziel der Kunst. Die »Welt vereinnahmen, indem man sie so vorführt, wie sie ist, aber als wenn sie ihre Quelle in der menschlichen Freiheit hätte.«234 Endziel der Kunst ist für Sartre, die Welt menschlich zu machen, denn im Kunstwerk wird eine Zweckmäßigkeit nach menschlichen Maßstäben geschaffen, Kunst wird vom Künstler intendiert und inszeniert, während die Schönheit in der Natur zufällig und vollkommen dem Betrachter anheim gegeben ist. Den Gedanken allerdings, dass das Kunstwerk sein Wesen nur durch das ständige Bemühen des Betrachters offenbare, ohne es indessen definitiv greifbar zu machen oder definitiv aufzuzeigen, da seine Einheit auch seine Schönheit zunichte machte, expliziert Sartre bereits in seinem philosophischen Hauptwerk LʹÊtre et le Néant, wo er das Schöne als einen Wert bestimmt. An den Dingen sei, so Sartre hier, das Schöne implizit wie etwas Abwesendes erkennbar. Man könne es aufgrund der mangelhaften Perfektion der Welt entdecken. Für den Blick auf die philosophischen Grundlagen von Sartres Kunstproduktion öffnet sich hier allerdings ein Zusammenhang zur Ästhetik, der sich generell auf jedes von Sartre durchgeführte Künstlerportrait beziehen lässt. Für Sartre ist die Aufgabe, die das Kunstwerk dem Betrachter stellt, eine weitaus bedeutungsvollere als die des Künstlers selbst. Der Künstler – wie auch der Autor als ein Vertreter der Kunst – tritt hinter die Aufgabe seines Kunstwerks zurück, indem er mit seinem Werk die Möglichkeiten des Betrachters nur andeutet.235 Es eröffnet sich so für den Betrachter ein weites Feld von Möglichkeiten der
234 Ibid. op. cit., p. 48. 235 Die Methode, mit der Sartre in seiner Studie über Gustave Flaubert Madame Bovary untersucht, baut auf seinen philosophischen Vorüberlegungen über die Ästhetik auf. Die in Lʹidiot de la famille angewandten Prinzipien sind ein Indiz dafür, dass erst hier seine Ästhetik in ihrer praktischen Ausführung ihr eigenes Fundierungsmoment erfährt.
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Bezugnahme auf Kunstwerk und Künstler, was beide in das Spannungsverhältnis einer (fiktiven) intersubjektiven Auseinandersetzung führt, die nachgerade Ausdruck für die höchste Form der Freiheit ist. Interessant ist hier der vorläufig letzte Rekurs auf Fichte. Wir erinnern uns, dass Fichte dem pädagogischen Wert der Kunst einen hohen Rang zugesprochen hatte. So hatte Fichte anhand des Selbstbildnisses von Albrecht Dürer236 klargemacht, welche didaktische Bedeutung diesem Selbstbildnis Dürers für die ästhetisch-ethische Erziehung des Menschen zukommt.237 Das pädagogische Ziel der durch Kunst vermittelten Selbsttätigkeit hat aber auch für Sartre einen hohen Stellenwert. Man kann also durchaus die These vertreten, dass sowohl Fichte als auch Sartre der Selbsttätigkeit qua Kunst einen hohen pädagogischen Stellenwert beimessen. 7.3. Produktionsästhetik und Rezeptionsästhetik in Sartres TintorettoStudien Sartre hat auf seinen vielen Reisen nach Italien238 die (Portrait)Kunst studiert und insbesondere die Künstler, die diese Kunst hervorbrachten, in ihrem Kunstschaffen portraitiert. Uns fällt dabei allerdings auf, dass Sartre die Kunst und die Künstler unter der Perspektive dessen studiert haben muss, was der jeweilige Künstler gerade nicht als Wirklichkeit und Wahrheit darstellt, sondern bewusster als gleich eine Maske angenommenen Entwurfs des Ich beziehungsweise der dargestellten Person(en), wobei ihn besonders der sozialkulturelle Hintergrund interessiert, in den die Selbstdarstellung, Selbstformung als Inszenierung, als Präsentation oder Verkleidung des Künstlers biographisch eingebettet sind. Die künstlerische Selbstreflexion steht offensichtlich in Sartres Fragehorizont ganz vorne, so dass sich seine Portraitstudien der bildenden Kunst239 so ausnehmen, als such-
236 Siehe Abb.I, Albrecht Dürer, »Selbstbildnis«, Holz 67 X 49, in: Gisela Goldberg, Bruno Heimberg, Martin Schawe, Albrecht Dürer, Die Gemälde der Alten Pinakothek, Heidelberg 1998, p. 121. 237 Der Hinweis hierauf findet sich in: Walter Becher, Platon und Fichte, die Königliche Erziehungskunst, Jena 1937, p. 195. 238 Die unterschiedlichen Kommentare zu den verschiedenen Anspielungen der Tintoretto-Studie Sartres in seinen anderen Werken werden ausführlich referiert von Heiner Wittmann, Sartre und die Kunst, Tübingen 1996, pp 142-144. 239 bei Rainer Wittmann, op. cit. finden sich zahlreiche Kunstinterpretationen Sartres, die Bezug auf die Periodizität der Kunst- und Künstlerstudien nehmen und daher
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ten sie eine Antwort auf die Fragen nach den Entstehungsbedingungen des Mythos vom Individuum, dem autonomen und einzigartigen Subjekt als der höchsten Verwirklichungsform des Menschen, die sich am treffensten im Portrait widerspiegelt. Auch hat Sartre der Zusammenhang interessiert, wie der künstlerische Akt und die Darstellung des Künstlers als Gestus der Selbstdarstellung, Selbstformung als Produkt kunstästhetisch zu verstehen und in einer ebensolch ethisch-ästhetischen Art zu erklären sind,240 denn auch für Sartre stellt sich die Portraitstudie, und in unserem Fall die Jacopo Robustis, genannt Tintoretto, als Manifest des rational-autonomen und selbstbewussten Subjekts dar. In der Form jedenfalls liest sich Sartres Tintoretto-Studie als breitgefächerte ethisch-ästhetische Analyse des Künstlers und seiner Vita, der sein Leben eigenverantwortlich gestaltet. Für Sartre ist das Selbstportrait Tintorettos nicht nur ein sichtbarer Beweis für die Vita des Künstlers als Menschen, sondern auch für dessen Individualität und dessen innerster Charakter des künstlerischen Individuums, was sich insgesamt in seiner äußeren Erscheinung, genauer in seinen individuellen Gesichtszügen manifestiert. Bestimmt hat Sartre aus dem Gesicht Tintorettos als pars pro toto die emotionale Befindlichkeit in einfühlender Weise erschlossen. Die für ihn sichtbar werdende Ausdrucksästhetik forderte ihn zu einer intimen monologischen Offenbarung der Persönlichkeit des Künstlers heraus. Sartres Studie des Selbstportraits Tintorettos, dessen autonomes Künstlerbildnis, konzentriert sich darauf, dass Tintoretto seine ganze Aufmerksamkeit auf die Erkundung des eigenen Selbst gerichtet hat, wofür ihm das Medium des Kunstwerks Voraussetzung war und Anlass bot. Das Künstlerportrait Tintorettos ist für Sartre die bildgewordene Suche nach dem eigenen Selbst des Künstlers als Ab-
schon die Studien, die Sartre über den Künstler Wols angefertigt hat, ausführlich charakterisieren. 240 Jakob Burghardt, (1818-1897) einer der Gründungsväter der Kunstgeschichte und dem die Entdeckung des Individuums in der italienischen Renaissance zu verdanken ist, schuf die Voraussetzung dafür, dass das Selbstportrait mehr als jede andere Kunstgattung als Selbstbildnis, als ›Schauplatz‹ des Individuums, als visuelles Dokument der Existenz des Künstlers und seines So-Seins begriffen wurde. In: ders., Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch (1860), Reprogr. Nachdr. Hg. Konrad Hoffmann, Stuttgart 1985 conf. Reto Luzius Fetz u.a., Hg. Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität, 2 Bde, Berlin ohne Jg.
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schnittsbilanz eines Lebensabschnittes241 – wie seine Wols-Sudien bereits zeigen – oder wie bei Tintoretto eines ganzen Lebens. So manifestiert sich in Sartres Künstlerportraits u. E. sogar die Darstellung eines Gradmessers von Modernität, die sich im »modernen Menschen in gesteigerter Subjektivität entäußert, die sich in seinem Bildnis entsprechend niederschlägt.«242 Sartres Aufenthalt in Venedig, Florenz, Rom und Neapel hat ihn offensichtlich zu der Wahrnehmung geführt, dass die mediävistische Zuspitzung auf das Florenz der Renaissance als Geburtsort des sich selbst entdeckenden Individuums notwendig an eine empathische Zäsur zwischen Mittelalter und Renaissance geknüpft war, was er selbst zum Themenschwerpunkt seiner Auseinandersetzung mit Tintoretto bestimmt. Vor dem Hintergrund seiner existenzialistischen Konzeption des Subjekts leitet Sartre allerdings in Auseinandersetzung mit postmodernen Konzeptionen wie denjenigen des Surrealismus und Strukturalismus eine – wie auch allgemeine – spektakuläre Verabschiedung des Subjekts ein, die den Leitvorstellungen über die Kohärenz und Autonomie der Subjekte ein Ende bereitete.243 Laut Pfisterer244 sind die Formen der Selbstdarstellung des ›Renaissance-Menschen‹ nur sehr bedingt als Vorläufer der modernen Suche nach Subjektivität und Innerlichkeit zu sehen. Sartres Tintoretto-Studie enthalten allerdings Hinweise darauf, dass er die Individualvorstellungen zu Zeiten Tintorettos in ihrer Andersartigkeit in Bezug auf Denk- und Wertvorstellungen in der frühen Neuzeit gegenüber den Individualvorstellungen des 20. Jahrhunderts präzise erfasst hat: Besonders anhand der Darstellung des Künstlers Tintoretto hat Sartre auf die Bedeutung der »Arbeit am Selbst« im Sinne der Erscheinung und Einnahme einer Rolle in den (überwiegend) höfisch strukturierten Gesellschaften hingewiesen.
241 Manuel Gasser, Das Selbstbildnis. Gemälde großer Meister, Zürich 1961, p. 7. 242 Jan A. Aertsen u.a.,Hg., Individuum und Individualität im Mittelalter, Berlin 1986, p. 34, cf. Jacques Derrida, Aufzeichnungen eines Blinden, Das Selbstportrait und andere Ruinen, München 1997. 243 Später gipfelte diese Verabschiedung des schöpferischen Subjekts bei Michel Foucault in seiner provokanten Formel vom »Tod des Autors« und bewirkte so eine nachhaltige Zerstörung des Mythos vom original-schöpferischen Künstlersubjekt. 244 Ulrich Pfisterer, Valeska von Rosen, Hgg. op. cit., pp. 13-15 – wir haben Pfisterer und von Rosen eine Summe von Einsichten in die Systematik der Betrachtung von Künstlerportraits zu verdanken.
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Das gesellschaftliche Überleben auch des Künstlers war unmittelbar davon abhängig, wie geschickt er seine eigentlichen Gedanken, Interessen und Ambitionen unter einer solchen Maske verbarg oder zurücknahm (dissimulatio). Identität und Charakter waren mithin an bestimmten Modellen, Normen und sozialen Konventionen zu formen, man gab sich eine bewusst konstruierte Identität. Hier ist auch der von Sartre innerhalb seiner Theaterkonzeptionen so verwendete Begriff der »persona« für die Bestimmung des Künstlerportraits relevant. Denn lat. ›persona‹ »Maske« bezeichnet in der Antike zunächst die Rolle, die ein Mensch in der Gesellschaft spielt. Ganz in diesem Sinn bezeichnet Erasmus von Rotterdam in seinem Lob der Torheit das Leben als »Schauspiel, in dem jeder seine Maske vor das Gesicht nimmt und seine Rolle spielt.«245 Bei der semiotischen Entschlüsselung von Markierungen dieses Anspruchs oder der Einnahme der Rolle sind, wie Sartre in der Portraitstudie Tintorettos zeigt, den bildlichen Mitteln kaum Grenzen gesetzt: Körperhaltung und Kopfwendung, Mimik und Blickrichtung, Gestik und Kleidung oder Kostümierung, Frisuren, symbolträchtige Attribute und Requisiten, Informations- und Bedeutungsträger wie Inschriften, beigeordnete Figuren, fingierte Aktionen, das szenische Arrangement – sei es im Künstleratelier oder im höfischen Ambiente – und schließlich der Gestaltungsmodus des Bildnisses selbst. All diese visuellen Zeichen, die Anspruch und Aussagen des Künstlers formulieren, werden von Sartre rezeptionsästhetisch aufgefasst und ethisch-ästhetisch verortet, denn der Künstler zeigt sich, wie er gesehen werden will. Genau in demselben Sinn, wie der Autor sein erster Leser ist, setzt sich der Künstler zu dem fiktiven Betrachter in ein bestimmtes Verhältnis und überlässt dem Betrachter die Rolle des Dritten.246 Erst der Dritte, der unbeteiligte Betrachter des (Selbst)Portraits kann die Versuche der (Selbst)stilisierung entschlüsseln, die zum einen die Beanspruchung einer höheren sozialen Rolle, als dem Künstler eigentlich zusteht, mithin »simulieren« (hochstapelnd) oder zum anderen »dissimulieren« (tiefstapelnd). Sartres Künstler- und Kunstinterpretationen enthal-
245 »Enconium moriae«, 1509, in: Pfisterer, von Rosen, Hgg., op. cit. p. 15. 246 Die Interpretation des Künstlerportraits vor der Matrix Sartres Theorie der Interexistenzialität würde noch einen interessanten rezeptionsästhetischen Beitrag liefern.
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ten einen Großteil dieser Wertungskategorien der Kunst des Selbstportraits. Das Werk Tintorettos resümierend, kommt Sartre zu der Einsicht, dass dieser zu einer neuen Rezeptionsästhetik überleitete, indem er seine Kunst wie auch die Darstellung seiner Identität im Selbstportrait nicht mehr als Darstellung von Rollen verstanden hat, sondern als Ausdruck des tieferen Wesens seiner Person. Am Portrait Tintorettos wird für Sartre deutlich, dass dieser sein ipse und ego schriftlich im Bild markiert, worin sich erkennen lässt, dass hier ein Regisseur selbst am Werk war; ein Künstler, der uns sein Wesen mit Masken und Rollen überblendet. Auch Unmittelbarkeit und unverstellte Authentizität sind Zeichen. Sie können ebenso kalkulierte Effekte sein, wie die Offenlegung einer pathologischen Obsession als Gestus, und die Introspektion des leidenden Künstler-Märtyrers einem visuellen Muster folgen kann, wie wir genauer im Folgenden erörtern werden. Zu den bisher unveröffentlichten Dokumenten, die in der Pariser Sartre-Ausstellung 2005 zu sehen sind, zählt ein Text über Tintoretto. Schon bei seinem ersten Venedig-Besuch im Jahre 1933 erschreckte Sartre der »fast sadistische Fleiß«, mit dem Tintoretto die Riesensäle der Scuola di San Rocco ausgemalt und auf diese Weise für immer in Besitz genommen hatte.247 Die bisher veröffentlichte fragmentarisch erhaltene TintorettoStudie vereinigt die wichtigsten Ergebnisse aus den Frühwerken Sartres LʹImagination (1936) und LʹImaginaire (1938/40). Seine Aussagen über den Grad des Bewusstseins, den Tintoretto gehabt haben soll, veranschaulichen das von Sartre verstandene Engagement des Betrachters: »A partir de 52, il sait où il va, il fait exactement ce quʹil veut: donc il nʹa plus peur de tourmenter le public, sûr de nous rattraper par la manche quand nous allons partir excédés.«248 Deutlich wird, dass Sartres Rede vom Engagement mit traditionellen kunsthistorischen Betrachtungsweisen wenig gemein hat. Entsprechend fielen auch die Reaktionen der Fachwelt aus.249 Die Tintoretto-Studie Sartres lässt sich – unabhängig von der Biographie ihres
247 Eindrucksvoll findet sich die Dokumentation in dem Bildband von Francesco Valconover, Jacopo Tintoretto und die Scuola von San Rocc, Venezia 1983. 248 Sartre, Saint Marc et son double, loc.cit., p. 189. Deutsch: Ab 52 weiß er, wohin er geht, er macht genau das, was will: er hat also keine Angst mehr, das Publikum zu plagen, seiner sicher, uns am Ärmel zu fassen, wenn wir erschöpft weggehen werden.
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Autors – als Quintessenz seiner Ästhetik lesen.250 Eine Methode der Bildanalyse, die lediglich zur Ermittlung des Verhältnisses des Malers zu seiner Stadt herangezogen wird oder sich lediglich als Biographie Tintorettos versteht, ignoriert die Impulse Sartres zu einer subtilen Kunstbetrachtung. Sartres Ästhetik verweist gerade auch in Bezug auf seine Kunstanalyse, dass dem Betrachter ein nicht zu unterschätzender Anteil an der Entwicklung der Kunst zukommt. Indem Sartre durch seine Kunstanalyse dem Betrachter und dem Künstler die Aufgabe zuschreibt, die Freiheit darzustellen, zeigt er zugleich, inwiefern der Mensch durch seine Beschäftigung mit allen Gebieten der Kunst an seine Verantwortung erinnert wird, die das Resultat seiner Freiheit ist.251 Sartres Portraitstudie über den venezianischen Maler zeigt, dass seine Methode auch auf andere Kunstwerke angewandt werden kann, denn Sartre beabsichtigt keinerlei Bewertung des Werkes. Die ethische Implikation seiner Studie lässt sich aber deutlich an jener Stelle bemerken, wo Sartre uns vor die Betrachtung stellt, dass es dem Menschen grundsätzlich möglich ist, seine Situation aus eigenem Antrieb zu überschreiten: »Quand Robusti (Tintoretto) peint pour la Seigneurie, il truque, il se défend comme il peut. Mais aux confrères aux paroisses, il fait voir de loin la politique du Ciel et ses dessins impénétrables. Lʹartiste nous restitue sa condition – qui finalement – malgré les siècles est aussi la nôtre. Il nous jette sans coupe-file et sans carte de presse au milieu dʹune foule ignare et nous montre tout à lʹenvers.« 252 Sartre ver-
249 K. Kohut schrieb noch in seinem Sartrebeitrag 1971, Jean-Paul Sartre, in: W.-D. Lange, Hg., Französische Literatur der Gegenwart in Einzeldarstellungen, Stuttgart 1971, pp. 159-192, hier p. 169 sqq. »Es bleibt das merkwürdige Faktum, dass Sartre seine Methoden nur an Schriftstellern demonstriert hat«, was vor dem Hintergrund unserer Einsichten so nicht haltbar ist. 250 Die unterschiedlichen Kommentare zu den verschieden Anspielungen der Tintoretto-Studie Sartres in seinen anderen Werken werden ausführlich referiert von Heiner Wittmann, Sartre und die Kunst, Tübingen 1996, pp 142-144. 251 »Et quand nous disons que lʹhomme est responsable de lui-même, nous ne voulons pas dire que lʹhomme est responsable de sa stricte individualité, mais quʹil est responsable de tous les hommes.« In: Sartre, Lʹexistentialisme est un humanisme, op. cit. p. 24. Deutsch: Und wenn wir sagen, dass der Mensch für sich selbst verantwortlich ist, dann meinen wir nicht, dass der Mensch die Verantwortung für seine strikte Individualität hat, sondern dass er für alle Menschen verantwortlich ist. 252 Cf. Sartre, Les produits finis du Tintoret, loc.cit., p. 28. Deutsch: Als Robusti (Tintoretto) für die Herrschaft malt, schwindelt er, verteidigt sich so gut er kann. Aber
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deutlicht diesen Gedanken an der Beantwortung der Frage, ob Robusti die Dinge nicht nur lediglich so zeige, wie ein jeder sie aus derselben Blickperspektive sehen könne. In Anspielung auf die soziale Stellung Tintorettos kommt er zu dem Schluss, dass die perspektivische Abbildung der Welt auf der Leinwand ebenfalls die soziale Stellung des Künstlers wiedergebe.253 Das Gemälde »LʹAnnunciazione«, das Tintoretto zwischen 1583 und 1587 für den unteren Saal der Scuola di San Rocco malte254, wird von Sartre zum Anlass genommen, die Vielfalt interdisziplinärer Forschungsmethoden in seine Kunstbetrachtung zu integrieren. Der Erzengel Gabriel schwebt durch die Tür herein – was der Szene durchaus Realitätscharakter verleiht –, Maria hat gerade ihr Buch sinken lassen. Man kann sehen, wie sie zurückweicht, denn offensichtlich hat sie die Botschaft des Engels Gabriel, der durch zahlreiche Engel unterstützt wird, die sich durch das Oberlicht der Tür drängeln, noch nicht vernommen. Sartre nimmt diesen Tatbestand zum Anlass, die verschiedenen Hinweise des Bildes aufzugreifen, die etwas über die Stellung des Künstlers in der venezianischen Gesellschaft aussagen. Auf diesem Gemälde scheint eine Summe von zwanzig Engeln, um eine einzige Botschaft abzuliefern, ein Hinweis auf die soziale Lage Tintorettos in Venedig zu sein. Sartre will nicht den Eindruck erwecken, er sei Kunsthistoriker. Allerdings trägt er in seinen Analysen der Werke Tintorettos protokollarisch alle Faktoren zusammen, die sich speziell auf jene Personen im Werk Tintorettos beziehen, die kunstgeschichtlich den Begriff des Manierismus repräsentieren. Sartres methodenreicher interdisziplinärer Ansatz255 zur Konzeption seiner Portraitstudie richtet sich
seinen Mitbrüdern in den Gemeinden zeigt er von weitem die Politik des Himmels und seine undurchdringlichen Gemälde. Der Künstler restituiert uns seine Lebensbedingung, die – schließlich – trotz der Jahrhunderte, auch die unsere ist. Er wirft uns, ohne Passierschein und ohne Presseausweis, inmitten einer unwissenden Menschenmenge und zeigt uns alles von seiner Kehrseite. 253 Ibid., op. cit. 254 Tintoretto, »LʹAnnunciazione«, Öl auf Leinwand, 542 X 440, in: Bernari, Lʹopera completa del Tintoretto, op. cit. Abb. Nr. 267 A, 422 x 546 cm, Tafel LI, Abb. II 255 Cf. C.Ginzburg, Indagini su Piero. Il Battesimo, il ciclo di Arezzo, la Flagellazione di Urbino, Turin 1981, p. XXI: »Di richerce interdisciplinari si è parlato certamente troppo (senza praticarle, il più delle volte): ma non cʹè dubbio che storici e storici dellʹarte abbiano tutti i motivi per lavorare insieme, ciascuno con i propri strumenti e le proprie competenze, per giungere a una comprensione più approfondita delle testimonianze figurale« Deutsch: Von den interdisziplinären Forschungen hat
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besonders auf die Frage nach dem Handlungsspielraum, der Tintoretto in seiner venezianischen Gesellschaft zur Verfügung steht. Erst ein Vergleich der Gemälde Tintorettos mit den anderen Malern seiner Zeit erlaubt ein Urteil darüber, wie Tintoretto auf seine ihm eigene Weise die Situation überschritten hat. Sartre verdeutlicht diesen Sachverhalt an seiner Analyse des von Tintoretto gemalten heiligen Markus,256, das so genannte Markuswunder. Sartres ästhetische Untersuchungen dieses Gemäldes zeigen deutlich, worauf es in seiner Kunstbetrachtung ebenfalls ankommt: Tintoretto spielt seine eigene Rolle. Mit seinem Werk gelingt ihm eine Lösung von seinen Vorgängern, deren Schüler er gewesen war und die ihm in seiner Stadt immerhin noch vertraut sind. In der Tat braucht er jedoch ein Publikum, und sei es nur darum, sich die ständig wachsende Distanz zu ihm in sein Bewusstsein zu bringen: »Rapprochez à présent la ›Présentation de Marie‹ et la toile que le Titien a peinte sur le même sujet, vous saisirez dʹun coup la rupture, le fossé qui sépare Jacopo de ses contemporains et qui ne cessera pas dʹélargir.«257 Sartre kommt hier wieder zum Kern der Sache: Wie gelingt es dem Künstler, seine Distanz zum Betrachter zu bewahren und dennoch seine Möglichkeiten voll auszuschöpfen?258 Tintorettos Kunst zeigt jedenfalls, dass er aus dieser Distanz erst zu Neuschöpfun-
man sicher zuviel gesprochen (ohne sie in den meisten Fällen am häufigsten zu praktizieren): aber es gibt keinen Zweifel, dass Historiker und Kunsthistoriker alle Motive haben, um zusammen zu arbeiten, jeder einzelne mit den eigenen Instrumenten und der eigenen Kompetenz, um ein tieferes Verständnis des figuralen Zeugnisses zu erreichen. 256 Tintoretto, »San Marco libera lo Schiavo« op. cit., im Anhanng Abb.III. Cf. Sartre, Saint Marc et son double, loc.cit. p. 175 f, cf. Bildanalyse: Swoboda, K.M., »Tintoretto, Ikonographische und stilistische Untersuchungen«, in: W. Huber, S. Pohl, Hg., Wien, München 1982. 257 Sartre, op. cit. p. 186. Deutsch: Bringt jetzt die Présentation de Marie mit dem Gemälde zusammen, das Titian über dasselbe Thema gemalt hat, werden Sie mit einem Schlag den Riß erfassen, den Graben, der Jacopo von seinen Zeitgenossen trennt und der nicht aufhören wird, größer zu werden. 258 Cf. Francois Noudelmann, »LʹImaginaire iconoclaste de Sartre«, in: Sartre, Catalogue dʹExposition à la Bibliothèque Nationale, Paris 2005, p. p. 66sqq. »…lʹimaginaire iconoclaste de Sartre nʹa-t-il pas conduit à oubli des images, mais à une mise en situation du regardeur, requis et engagé par les pratiques imageantes.« Deutsch: [...] das bildersturmartige Imaginäre Sartres, hat es nicht bis zum Vergessen des Bildes geführt, sondern zu einem sich in die Situation Begebens des Betrachters, gefordert und engagiert durch imaginierende Praktiken.
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gen der Kunst gelangt. Mit seiner Darstellung des heiligen Georg im damaligen Venedig bricht Tintoretto sämtliche religiöse, soziale und ästhetische Tabus. Die Darstellung der Geschichte verläuft wie im Film: »[…] chaque présence indique la suivante et se fait disqualifier par elle.«259 Allerdings steht auch hier das Imaginäre im Mittelpunkt der Analyse, da es entsprechend seiner Definition des Schönen immer auch Bestandteil jeder Interpretation ist. Jede der Portraitstudien Sartres ist deutlich an der Frage nach der Methode, dem Verhalten und den Möglichkeiten des Einzelnen in der Gesellschaft orientiert. Die Reihe der Künstlerportraits, die er mit der Studie über Baudelaire in Form eines Vorwortes begann260 und mit den beiden Arbeiten zu Stéphane Mallarmé 261 und 1951 zu Jean Genet262 fortsetzte und die mit der Studie über Gustave Flaubert endete, hat einen in der Forschung kaum beachteten Höhepunkt: Mit seinen Analysen zum Werk Tintorettos, den er bei seinem bürgerlichen Namen Jacopo Robusti zu nennen pflegt, legt Sartre eine Darstellung vor, wie der Einzelne sich trotz jeder Kritik durchsetzen und ein für seine Zeit völlig neuartiges Werk schaffen kann: »la création artistique est donc présentation perpétuelle du monde total comme fondé totalement dans la liberté.«263 Das Gemälde Tintorettos aber, das Sartre am meisten faszinierte, war das Selbstporträt im Louvre aus dem Jahre 1588.264 Sartre blickt auf den siebzigjährigen Tintoretto und
259 Sartre, »Saint Georges et le dragon«, in: Situations IX, p. 206, Abb.IV, National Gallery, London, Öl auf Leinwand, 157,5 X 100,3. Deutsch: [...] jede Präsens weist auf die nächste hin und lässt sich durch sie disqualifizieren. 260 Sartre, Baudelaire, Paris 1947. 261 Sartre, »Mallarmé«, 1842-1898, in: Situations IX, op. Cit., 191-201, ders., Lʹengagement de Mallarmé, loc.cit./ cf., les citations de Mallarmé dans les »Carnets Midi«, in: Sartre: Écrits de jeunesse, M. Contat, M. Rybalka, Hgg., op. cit., p. 487-493. 262 M. Contat, M. Rybalka »Sartre, Jean Genet, Comédien et martyr«, in: J. Genet, Oeuvres complètes, t.I., Paris 31952 263 Sartre, Cahiers pour une morale, op. cit., p. 462. Deutsch: die artistische Schöpfung ist also fortwährende Präsentation der totalen Welt als total in der Freiheit gegründet. 264 Cf. Texte inédit de Jean-Paul Sartre, fragment pour ›Le Séquestré de Venise, 1957ʹ, in Sartre, Catalogue dʹExposition à la Bibliothèque Nationale, Paris 2005, op. cit., pp. 186sqq: »Lʹartiste se livre: il cherche à se faire objet jusque dans sa conscience de soi.« »Le regard va devenir une chose.« Deutsch: Der Künstler liefert sich aus: er
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ist überwältigt von dessen Mut zur malerischen Selbstinszenierung. Tintorettos Mut kommt spät: Zum ersten Male blickt er auf einem Gemälde dem Betrachter direkt ins Gesicht. Die Augen sind größer als sie in Wirklichkeit gewesen sein können, sie »essen das Gesicht auf«, wie Sartre schreibt. Beim genaueren Hinsehen glaubt der Betrachter zu erkennen, dass Tintoretto ihn nur mit einem Auge anblickt, dem linken; das rechte Auge ist tot. Jetzt wird dem Leser deutlich, wie sehr Sartre, der von Geburt an dieses Gebrechen mit dem Maler teilte und am Ende seines Lebens erblindete, in der Beschreibung des Selbstporträts von Tintoretto über sich selbst spricht. »IPSIUS F« hatte Tintoretto in ungewöhnlich großen Buchstaben in die rechte Mitte seines Selbstporträts geschrieben. »Ich selbst habe dies gemacht« – so hätte auch Jean-Paul Sartre sein Leben resümieren können.265
sucht, sich zum Objekt zu machen bis hin zum Bewusstsein von sich. Der Blick wird zu einer Sache werden. 265 Abb. V in: BN, Sartre, op. cit., p. 187, Paris, musée du Louvre, Öl auf Leinwand, 63 X 52.
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8. Nachwort Im ersten Teil, auf der Ebene der reinen Theorie, ließ sich zeigen, dass Ethik in der philosophischen Konzeption Sartres formal bestimmend ist, denn man kann sie aufgrund ihrer konstitutiven Funktion für das Selbstbewusstsein nicht ohne ethische Inhärenz denken. Die ethischen Implikationen in Sartres philosophischem Konzept weisen durchaus auf die Nähe zu einer Pflichtethik hin. Dieses Ergebnis schlägt sich in den von uns aufgewiesenen Parallelitäten zu Fichtes philosophischem Konzept nieder, belegt durch die Kontrastierung beider Denker in dieser Studie. Mit Hilfe der begrifflichen, methodischen und argumentativen Untersuchung des Verhältnisses zwischen Sartre und Fichte konnten wir einsichtig machen, dass bei Sartre ganz ursprünglich in seinem Denken die Voraussetzungen für ethisches Handeln gegeben sind. Besonders ist die Ähnlichkeit zwischen dem ›präreflexiven Cogito‹ bei Sartre und der ›intellektuellen Anschauung‹ bei Fichte hervorzuheben sowie die Rolle der Intersubjektivität für die Konstitution des Selbstbewusstseins. In beiden philosophischen Konzepten ist daher die Intentionalität als Folge der Intersubjektivität und als Bedingung der Möglichkeit von Freiheit anzusehen. Sowohl bei Sartre wie auch bei Fichte eröffnet sich die Welt vermittelt durch den Anderen zuallererst als die originäre Sphäre des Bewusstseins. Dadurch werden freie Handlungen erst möglich, können sich aber, weil vermittelt durch den anderen, nicht anders als ethische Handlungen konstituieren. Die formale Symmetrie zwischen Sartre und Fichte auf der Ebene der reinen spekulativ – systematischen Theorie veranschaulicht den konstitutionellen Charakter der Ethik in Form einer Triade: Ethik begründet das Selbstbewusstsein, Ethik funktionalisiert den Anderen für das Ich, Ethik ist der Grund für die Freiheit. Wir konnten im theoretischen Teil der Arbeit sehen, dass Sartre sich zwar radikal von idealistischen Positionen distanziert, es ihm innerhalb seiner existenzialistischen Philosophie jedoch wegen der dort enthaltenen Grundelemente der Selbstbestimmung als ethische Idee nicht gelingt, auf transzendentale Elemente in seiner philosophischen Konzeption zu verzichten. Die These der Arbeit, dass sich in den Arbeiten Sartres und Fichtes Systemgleichheiten aufzeigen lassen, konnte durch die Nähe der Argumentation Sartres zum Idealismus Fichtes auf eindrucksvolle Weise bestätigt werden. Es wurde deutlich, dass Fichte in der Frage nach der Selbstbestimmung als ethische Idee jedwede empirische Position radikal verwirft und sich von deren Nähe zu Dogmatismus
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und Determinismus kritisch distanziert. Aus ähnlichen Gründen kommt Sartres praktische Explikation der Genese von Ethik ebenfalls nicht ohne transzendentale Momente aus. Wir konnten in diesem Untersuchungsschritt nachweisen, dass die Notwendigkeit der transzendentalen Elemente innerhalb der praktischen Explikation der Genese von Ethik der Grund dafür ist, wieso Fichtes Begriff der praktischen ›Sittlichkeit‹ als ethische Selbstbestimmung auch bei Sartre transzendental verankert ist. Im Ausgang von Fichtes Schlüsselthese zum Verhältnis von Ich-Identität und Anerkennung, als freies Wesen und Selbstzweck anerkannt zu sein, setzt das konkrete Ich sich – logisch, ethisch und biographisch – identisch mit sich selbst In diesem Sinne ist Anerkennung die dialektische Synthesis von grundlegender Selbstständigkeit des Ich zum Anderen. Die damit formulierte »idealistische« Sozialontologie wurde daher zum Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit bestimmt, um im ersten Teil die hier deutlichen Parallelitäten zu der »existenzialistischen « Sozialontologie Sartres zu analysieren. Bei Sartre wie bei Fichte ist der Ausgang von der Anerkennung mit dem Rückgang auf die Unmittelbarkeit des Bewusstseins vom Anderen verknüpft. Auffallend in beiden Konzepten ist, dass Sartre wie Fichte diese Unmittelbarkeit durch die Umkehrung unser traditionell thematischen Beziehung zum Anderen in unser Vom-Anderen-aufgefordertwerden erreicht. Dass wir dem Anderen selbst unmittelbar durch Anerkennung begegnen, heißt negativ: wir nehmen ursprünglich gar nicht seinen Körper wahr und finden ihn überhaupt nicht als raum-zeitliches Objekt in der Welt vor. Sowohl Sartre als auch Fichte begründen in dieser Verhältnisbestimmung die ethischen Implikationen in ihrer jeweiligen Intersubjektivitätstheorie, welche, – jede für sich – hierdurch zu einer besonderen Sozialontologie wird. Die Analyse der Hypothese vom spezifischen Wissen vom Anderen in den Modellen Sartres und Fichtes hatte zum Gegenstand, den funktionalen Bedeutungszusammenhang der Intersubjektivität als grundlegendes Moment der Selbstkonstitution in beiden philosophischen Modellen philosophisch aufzuweisen. Wir konnten zeigen, dass sich die Immanenz der Intersubjektivität im Konzept des Selbstbewusstseins bei Sartre und Fichte als das herausragende Analogiemerkmal beider philosophischer Konzepte darstellt. Wir sehen daher darin die Ursache dafür, dass die Grundmotive des Dialogismus bei beiden Philosophen sowie das damit verknüpfte fundamentalontologische Motiv des In-der-Welt-Seins als Verknüpftsein mit dessen ursprünglichen Mit-Sein enthalten sind. Die Immanenz des Ande-
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ren im Selbstbewusstsein ist sowohl in der Philosophie Sartres als auch in derjenigen Fichtes konstitutiv gegeben. Wir können nun empiristische Sozialontologien eine deutliche Absage erteilen, wonach das agierende Ich lediglich als ein passives Konglomerat zu bezeichnen wäre. Das agierende Ich würde auf die Bedeutung eines bloßen Rollenträgers reduziert, wenn sein Verhalten nicht mehr als Äußerung eines Selbst verstanden würde, sondern als anonymes Ereignis in einem System sozialer Interdependenzen, in dem Funktionen von Vorgängen durch soziale Strukturen bestimmt sind.266 In diesem Sinne formuliert Habermas das Identitätsproblem der ›Moderne‹ als »Entzweiung von Ich und Gesellschaft« deren Lösung er in einer neuen, postmetaphysischen Identität in allseits gewährten »Chancen der Teilnahme an wert- und normbildenden Lernprozessen« sieht, in denen Gesellschaften »diskursiv und experimentell«, d.i. stets revisionsfähig, eine »kollektive Identität«, Individuen eine persönliche Identität auszubilden vermögen.267 Demgegenüber behauptet diese Arbeit, dass das Selbst, das sich in idealistischen Theorien als freie Individualität erweist, von Fichte – in kulturhistorischer Differenz zu Sartre – dem so bezeichneten Sittengesetz verpflichtet, in ethischer Hinsicht im Sinne Habermas aber auf ein sinnliches Bedürfniswesen reduziert wird. In ontologischer Hinsicht würde es auf eine Funktionsgröße in einer mess- und berechenbaren sozialen Matrix als bloß hedonistisch heteronom und vermöge von Dingkategorien bestimmt. Auch Luhmann, der das freie Ich wegen zu entlastender Hyperkomplexität des Systems Gesellschaft als dysfunktionaler Störfaktor einstuft, halten wir entgegen, dass Intersubjektivität sowohl in der idealistischen Theorie Fichtes als auch in der existenzialistischen Theorie Sartres durch Akte wahrer Anerkennung erklärbar ist. Es ließ sich zeigen, dass im Existenzialismus Sartres die mit Fichte korrespondierenden Bestimmungsmerkmale einer schlüssigen Intersubjektivitätstheorie enthalten sind, die das Selbst keinesfalls zu einem »hedonistisch heteronomen Rollenträger« degradieren, weil
266 Cf. Edith Düsing, Modelle der Anerkennung und Identität des Selbst, Fichte, Mead, Erikson. Intersubjektivität und Selbstbewusstsein. Behavioristische, phänomenologische und idealistische Begründungstheorien bei Mead, Schütz, Fichte und Hegel, op. cit., pp. 360-372. 267 Jürgen Habermas, Dieter Henrich, »Zwei Reden«, in: Wolfgang Schild, Anerkennung, interdisziplinäre Dimensionen eines Begriffs, Frankfurt a. M. 1974, p. 45 sq.
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es hier wie dort in reiner Selbstbestimmung zur Konstitution ethischer Akte befähigt ist. Insbesondere die Ansätze von Jürgen Habermas und Niklas Luhmann zählen zu den einflussreichsten soziologischen Theorien der Gegenwart. Beide Autoren verstehen den Gesellschaftsbegriff und den gesellschaftlichen Zusammenhalt und Wandel in Form individualistischer Modelle, die soziale Phänomene als das Ergebnis rationalen Verhaltens einzelner Akteure erklären. Von dieser Folie ausgehend wird mit der Theorie des kommunikativen Handelns ein umfangreiches handlungstheoretisches Konzept verstanden, dass u. a. auf geteilte normative Orientierungen von Akteuren rekurriert, um gesellschaftlichen Zusammenhalt zu erklären. Die Theorie Luhmanns versteht sich als ein Ansatz, der die handlungstheoretische durch eine systemtheoretische Begrifflichkeit ersetzt. Die von Fichte und Sartre erstellten Theoreme über die Selbstbestimmung, Freiheit und Alterität des Menschen sowie deren ethischer Implikationen stehen diesen Auffassungen von den Bestimmungsgründen menschlichen Handelns diametral gegenüber. Habermas wie auch Luhmann werden daher sowohl vom Idealismus als auch vom Existenzialismus widerlegt.268 Im Ergebnis
268 In der gegenwärtigen Forschungspraxis hat sich der Rückgriff auf mathematisch/ökonomische Modelle von Gesellschaft etabliert, welche nach dem Prinzip des Methodologischen Individualismus gesellschaftliche Phänomene auf das (rationale) Verhalten von Individuen zurückführen. Vertreter soziologischer Gesellschaftstheorien betonen den Eigenwert der Kommunikation Die Theorie des kommunikativen Handelns im Sinne Habermas begreift Sozialität (Intersubjektivität) nach dem Muster verständigungsorientierten Handelns vor dem Hintergrund einer gemeinsam geteilten Lebenswelt. In: Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bände. Frankfurt M. 1981. Die Systemtheorie (Luhmann) beobachtet die Gesellschaft und ihre Teilbereiche als im Medium Sinn operierende, geschlossene Kommunikationssysteme. Hier handelt es sich um den Standpunkt einer Gesellschaftstheorie, die sich als Theorie sozialer Systeme versteht: Alle Kommunikation über Gesellschaft findet in der Gesellschaft statt. Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 2 Bände. Frankfurt M. 1997. Insbesondere die Ansätze von Jürgen Habermas und Niklas Luhmann zählen zu den einflussreichsten soziologischen Theorien der Gegenwart. Beide Autoren verstehen den Gesellschaftsbegriff und den gesellschaftlichen Zusammenhalt und Wandel in Form individualistischer Modelle, die soziale Phänomene als das Ergebnis rationalen Verhaltens einzelner Akteure erklären. Von dieser Folie ausgehend wird mit der Theorie des kommunikativen Handelns ein umfangreiches handlungstheoretisches Konzept verstanden, dass u. a. auf geteilte normative Orientierungen von Ak-
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zeigt unsere Untersuchung ebenfalls, dass Sartre wie Fichte ihre Ethik im Gefolge Kantischer Theorie als Widerlegungen des Eudämonismus oder Hedonismus verstehen. Während Fichte die ausdrückliche Fundierung des Sittengesetzes im selbstbewussten Ich leistet, welche bei Kant unbestimmt gelassen ist, leistet Sartre die bei Kant und Fichte fehlende detaillierte Phänomenologie und Psychologie des existierenden subjektiven Geistes. Die Überwindung des ›Egoismus‹269 bzw. des Hedonismus270 erfolgt in den Theorien Fichtes und Sartres durch gezielte Zuordnung jener Glückslehren in eine niedere Bewusstseinstufe innerhalb der gesamten Genesis ethischen Selbstbewusstseins. Egoismus und Hedonismus werden dort als Anfangsstadium der sich mit sich selbst verständigenden Existenz gekennzeichnet. Wenn Ethik – wie für Fichte und Sartre – die grundlegende Disziplin der Philosophie, im Prinzip also praktische Philosophie ist, gewinnt die Ethik den Charakter einer Letztbegründung. Wenn Ethik im Typus der Deontologie gefasst ist, so liegt die Letztbegründung in einem Prinzip, das Pflichten begründet, das aber ebenso – existenzialistisch wie idealistisch – wesentliches, nämlich ethisches Selbstbewusstsein ist. Schon Fichte grenzt sich von der Kantischen Pflichtethik klar ab, indem er keinen Maximen, sondern der individuellen Entscheidung die Priorität für ethisches Handeln zuspricht. Die Tatsache der individuellen ethischen Entscheidung aufgrund der vermögenstheoretischen Voraussetzung Fichtes zeigt auffallende Ähnlichkeiten zum Konzept Sartres, denn auch hier ist es der Ein-
teuren rekurriert, um gesellschaftlichen Zusammenhalt zu erklären. Die Theorie Luhmanns versteht sich als ein Ansatz, der die handlungstheoretische durch eine systemtheoretische Begrifflichkeit ersetzt. Die von Fichte und Sartre erstellten Theoreme über die Selbstbestimmung, Freiheit und Alterität des Menschen sowie deren ethischer Implikationen stehen diesen Auffassungen von den Bestimmungsgründen menschlichen Handelns diametral gegenüber. 269 Zur argumentativen Überwindung von Theorien, die den ›Egoismus‹ als unvermeidlich behaupten, siehe William K. Frankena, Analytische Ethik, übers. und hg. von N. Hoerster, München 1972. Der von Frankena als optimale Ethik subtil vertretene Regel-Utilitarismus, worin das größte Glück der meisten Individuen als Handlungsnorm gefordert wird, vermag u. E. die Probleme nicht zu lösen, wie Glück allgemein zu definieren ist und wie im Konfliktfall zwischen allgemeinem Wohl und individuell-persönlichem Glück des Handelnden zu entscheiden sei. 270 Zu Kants Unternehmen der Widerlegung des Hedonismus vgl. Klaus Düsing: »Kant und Epikur. Untersuchungen zum Problem der Grundlegung einer Ethik.« In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 1976, Teil 2, pp. 39-58.
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zelne, der so handelt, wie er die Gesellschaft als Bild zu formen wünscht. Im Unterschied zu Sartre nennt Fichte in Form mehrerer Teildisziplinen eine Abgrenzung zwischen Recht, Pflicht, Glaube und Ästhetik, so dass mit Ausnahme der Religion eine deutliche Parallelität der Philosophie Sartres mit der Fichteschen zu entdecken ist. Zwar kann Sartres Werttheorie als subjektivistisch bezeichnet werden, die Besonderheit dieser Werttheorie liegt jedoch darin, dass Werte erst ihr zufolge durch Handlungen hervorgebracht werden. Dabei zeigt die Vereinbarkeit der Freiheitstheorie Sartres mit einer normativen Ethik und/oder Metaethik, dass ›Freiheit‹ weder Handlungsfreiheit im traditionellen Sinne frei von äußeren Zwängen, noch Willensfreiheit im üblichen Sinne als Freiheit der kontemplativen Entscheidung bedeutet. Hier ist die Möglichkeit des Pour-Soi gemeint, stets unbeeinflusst jedwelcher Faktoren, unbeeinflusst von Anlässen und Antrieben einer normativen Ethik diesem entsprechend oder widersprechend handeln und dadurch entscheiden zu können. Nichts kann den Menschen dazu bewegen, externen Einflüssen entsprechend oder widersprechend zu handeln. Die Freiheit hat bei Sartre nicht den Charakter des Kontemplativen, sondern der spontanen Handlungen bzw. der Entscheidung oder Wahl durch die spontane Handlung, eben seinem Entwurf. Sie ist daher in keinem Fall reiner Indeterminismus oder vergleichbar mit der Bewegung des epikureischen clinamen. Der Vergleich mit dem Fichteschen Begriff der Freiheit zeigt, dass bei Sartre Freiheit mehr beinhaltet als Indeterminismus. Das Wort Freiheit steht bei Sartre für die Tatsache, dass der Mensch Urheber seiner Handlung ist: »Lʹontologie ne saurait formuler elle-même des prescriptions morales. Elle sʹoccupe uniquement de ce qui est, et il nʹest pas possible de tirer des impératifs de ses indicatifs. Elle laisse entrevoir cependant ce que sera une éthique qui prendra ses responsabilités en face dʹune réalité humaine en situation.«271 Die Verhältnisbestimmung des ethischen Identitätsstrebens und der Intersubjektivität bei Sartre sowie die entsprechenden Verhältnisbestimmungen im Konzept Fichtes führten uns zu der Frage nach der Selbstbestimmung als ethische Idee und deren ästhetischer Motivation. Die ethisch praktische Entwicklung des Individuums und der Pflichtbegriff bei Sartre,
271 Jean-Paul Sartre, LʹÊtre et le néant. Essai dʹontologie phénoménologique, op. cit., p. 720
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d.h. die Prüfung der Faktizität des Ursprünglichen bei Sartre, ließ uns das Phänomen der existenziellen Subjektivität als ›ethisch-praktische‹ in seiner ganzen Tragweite für die idealistische Signatur der praktischen Philosophie Sartres erfassen. Da die Ästhetik in Fichtes Konzept eine notwendige Bestimmung des menschlichen Geistes ist, lag es nahe, gemäß der insgesamt unter ethischen Prämissen stehenden Philosophie Fichtes auch die einzelnen Teildisziplinen, wie z.B. die Ästhetik, unter ethischen Vorgaben zu interpretieren. Unsere These, dass die Analogie der ethischen Implikation der Intersubjektivität im Selbstbewusstsein auch zu einer neuen Bestimmung der Rolle der Ästhetik für die ethische Implikation der Intersubjektivität auf praktischer Ebene führt, konnte im zweiten Teil der Studie bestätigt werden. Unsere Prüfung der Rolle der Ästhetik als praktische Ethik in Sartres und Fichtes Konzept lieferte das Ergebnis dieser Arbeit: Sowohl Sartre wie Fichte brauchen die Ästhetik, um die Ethik zu fundieren. Allerdings unterscheiden sie sich in einigen Punkten in ihren Voraussetzungen und ihren Intentionen, die sie mit der Ästhetik verbinden. Sartre hat ein unmittelbar lebensbezogenes ästhetisches Denken, indem er ethische Aspekte in seiner Literatur an ganz konkreten Beispielen verarbeitet. Im Unterschied dazu geht es Fichte in seinen Ausführungen zur Ästhetik vornehmlich um die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit des ästhetischen Bewusstseins. Dieses ist für ihn die Voraussetzung, um das ethische Bewusstseins zu bestimmen. Konkrete und speziell angewandte ästhetische Bezüge finden sich lediglich in seinen Äußerungen zur Rhetorik, die grundlegend auf dem Theorem von Kopf und Herz basieren, wobei eins das Korrektiv des anderen ist. Trotz dieser scheinbar größeren Differenzen besteht ein grundlegender Bezugspunkt zwischen beiden Autoren in ihrer Stellung zum Gefühl, wie sie sich in Sartres »Théorie des Émotions« und Fichtes »Theorie der Rührung des Gemüts« niederschlägt. Wir wollten zeigen, dass Fichte einen quantitativ umfassenden Kunstbegriff hat, denn er unterscheidet zwischen niederen mechanischen, und höheren schönen und intellektuellen Künsten. In diesem Zusammenhang ist die Ästhetik bei Fichte vorwiegend pädagogisch motiviert und in der Trieb- und Gefühlslehre anthropologisch fundiert. Wichtige Aspekte seiner Ausführungen beziehen sich auf die Rhetorik sowie die enge Verbindung zwischen Ver-
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nunft (Philosophie) – Kunst und schöner Kunst272, die er in erkenntnistheoretischer und ethisch-religiöser Ausprägung entwickelt. Beispielhaft lassen sich diese Ausprägungen in der Rekonstruktion seiner Theorie der Rührung des Gemüts273 nachweisen. Kunst hat bei Fichte keinen Selbstzweck, sondern sie steht als rhetorisch motiviertes Mittel immer im Dienst ethisch-religiösen Erkenntnisgewinnes. Dafür entwickelt er Kriterien des Künstlers, wie die Genie- bzw. Autonomieästhetik und des Kunstwerks, welche für ihn die Manifestation der Idee des Menschen darstellt. Die Funktion der Ästhetik bei Sartre liegt darin, dass die Vermittlung zwischen theoretischer und praktischer Vernunft von Sartre mittels der Ästhetik geleistet wird. Seine Idealvorstellung von literarischer Prosa formuliert Sartre als ein Modell zwangsfreier Kommunikation. So entwickelt Sartre die Antwort auf die Frage nach den Gründen des Schreibens in Auseinandersetzung mit der Ästhetik Kants seine eigene Ästhetik des Schreibens, das für ihn ein freier Appell des Schriftstellers an die Freiheit des Lesers ist, woraus sich das grundlegende Engagement der Literatur ergibt. In seiner Verhältnisbestimmung von Ethik und Ästhetik koppelt Sartre seinen ethischen Imperativ mit seinem ästhetischen Imperativ, in dem er das Spannungsverhältnis von moralischem Engagement und ästhetischer Innovation reflektiert. Der Theorieansatz, den Sartre zur Begründung seiner kreativen Ethik wählt, zeigt im expressiven Sinn eine Ausdrucksanthropologie, in der der ästhetische Schein sich – bezogen auf die nichtende Funktion des Bewusstseins – einer ›Création ab nihilo‹ verdankt (CM). Damit kommt Sartre jener Position nahe, die Friedrich Schiller 1795 in seinem 2. Brief über die ästhetische Erziehung des Menschen formuliert hat, wie wir im ersten Teil unserer Studie ausführlich erörtert haben Sartres Theatertheorie zeichnet sich dadurch aus, dass es ihm in ästhetischer, speziell gattungspoetischer Hinsicht hauptsächlich um den Konnex von Mythos und Farce, Tragik und Komik geht, in dem die Dialektik der Gegensätze, das Spiel mit den Antagonismen als wesentlicher Motor seiner Film- und Theaterästhetik enthalten sind. Den Mythenfilm be-
272 Cf. Beziehung zwischen dem Werk der Wissenschaftslehre und dem Werk der schönen Kunst/ Philosoph und Künstler. 273 Hier zeigen sich pädagogische Analogien zwischen dem Universitätsgelehrten und dem Künstler.
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stimmt Sartre zum Ort und Nicht-Ort einer neuen Mythologie, zu einem Mittel der Parodie und der Entsakralisisierung, der Heterotopie des Theaters im Film. Sartre interpretiert das mythische Geschehen nicht neu, sondern führt es ad absurdum und zeigt es in seiner ganzen tragik-komischen Ambiguität. In ethisch-ästhetischer Hinsicht sind Sartres Mythentheater und Mythenfilme Medium der Reflexion und Transformation der Mythen, vor allem um die traditionellen Prämissen der Fatalität und Rollenzwänge in Frage zu stellen, zu parodieren und durch Rollenspiele zu dekonstruieren. In der spielerischen, satirischen und ironischen Auseinandersetzung mit Rollen- und Identitätsproblemen, mit den Rollenzwängen, Konventionen, der Theatralität und den Tabus der so genannten bürgerlichen Gesellschaft, schafft Sartre verschiedene Formen des existenzialistischen Theaters. Wir haben diesen Gedanken in unserer Studie besonders in unserer Interpretation der Theaterstücke Huis Clos und ›Les Mouches‹ unter diesem Aspekt zeigen können. Um den ethisch-ästhetischen Zusammenhang zu verdeutlichen wurden die Theaterstücke Huis Clos und Les Mouches auch exemplarisch als ein philosophisches Modell des ethischen Individualismus bestimmt und analysiert. Nicht robinson-monadisch handeln die Protagonisten, sondern ihr Handeln ist die philosophische Antwort auf die Ontologie und die sich hieraus ergebenden Folgen für die Ethik in Heideggers Daseinsanalyse in seinem Werk Sein und Zeit. Der existenzialistische Diskurs erscheint in den Prosatexten Sartres nicht thesenhaft in Form explikativer philosophischer Vermittlung von Ideen im Sinne traditioneller Denkschemata und Erklärungsmuster. Deren Negation führt Sartre in seinen Theaterstücken zum Einsatz von Stilmitteln wie Ironie und Paradoxie, der Verweigerung von Sinn, Bedeutung und Bedeutsamkeit. Groteske und Satire, Mehrdeutigkeit und Indifferenz sind Sartres ästhetisch-rhetorische Techniken. Sie bilden das Mittel eines satirisch-karnevalesken Gegendiskurses gegen Ideologien und vielfältige suggestive Sinnangebote, die im Rahmen der faschistischen, bürgerlichhumanistischen oder auch sozialistischen Weltanschauungen der dreißiger Jahre vorherrschen. Der Ästhetik Sartres kommt damit in diesem Zusammenhang eine ethische Bedeutung zu. Aber Sartres Theatertheorie ist deswegen nicht nur eine das Theater selbst betreffende Form von Ästhetik, sondern sie berührt alle seine künstlerischen Produktionen, darin einge-
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schlossen auch seine philosophischen Werke.274 Der Facettenreichtum seiner Theorie macht deutlich, dass Theater in diesem grenzüberschreitenden Sinn viel mehr ist als nur Theater.275 Verstanden als Rückgriff auf die Geschichte und Mythen des Theaters sind bei Sartre Modernität und Tradition, eng und untrennbar verbunden. Das Bindeglied all dieser Inhalte bildet für Sartre allerdings das Spiel. Sartres Spieltheorie liegt seiner Konzeption des Theaters nicht nur zugrunde, sondern sie ist eine Theorie, in der das Spiel als Erklärungsmöglichkeit und Symbol für die Problematik der menschlichen Existenz schlechthin gilt. Damit kommt die ethische Implikation in Sartres Ästhetik deutlich zum Vorschein. Mit seinen anthropologisch-biographischen Künstlerstudien begründet Sartre ein umfassendes ästhetisches Programm, dass uns die interexistentielle Bedeutung seiner Produktionsästhetik enthüllt. Die Grundlage seiner Ästhetik leistet Sartre mit der Fundierung seiner Künstlerportraits in seinen philosophischen Arbeiten. Seine Portraitstudien, mit denen er das künstlerische Bewusstsein der Maler, Schriftsteller und Dichter untersucht, sind Protokolle der Versuche Sartres, eine adäquate Analyse zu erarbeiten, deren programmatischer Charakter sich durch alle seine Werkteile
274 Marielle Macé weist in ihrem Beitrag Sartre considéré comme terminus zu Recht darauf hin, dass Sartre zwischen Philosophie und Literatur eine produktionsästhetische Trennung vollzieht. Sie leitet diese Einsicht von Sartre selbst ab: »ce qui qualifie le »style« pour Sartre, cʹest tout simplement la capacité à »dire trois ou quatre choses en une«, alors quʹen philosophie, »chaque phrase ne doit avoir quʹun sens.« Deutsch: was den Stil für Sarte qualifiziert, ist ganz einfach die Fähigkeit zwei, drei Sachen in einer zu sagen, während in der Philosophie jeder Satz nur einen Sinn haben darf. cf. »Autoportrait à soixante-dix ans«, entretien avec Michel Contat, in: Situations X, Paris 1976, p. p. 137-138, in: Les Temps Modernes, N° 632-634, op. cit.., pp. 160 – 180, hier: p. 174. 275 In diesem Sinne äußert sich Jean-Paul Tribout im diesjährigen Festival von Mayenne, als er von Jean-Luc Jeener danach gefragt wird, wieso er so ein traditionelles Theaterstück aufführt, wie »La guerre de Troie nʹaura pas lieu« von Jean Giraudoux: »[…] On ne peut jamais faire que du théâtre contemporain. La recherche de la modernité par la modernité, cʹest absurde, mais nous sommes modernes, que nous le voulions ou non, même quand on joue du classique […] ce que jʹaime avant tout, cʹest le théâtre qui produit du sens.« In: Le Figaro Magazine, Cah. N°3, 15.7.2006, p. 46. Deutsch: Man kann niemals etwas anderes machen als zeitgenössisches Theater. Die Suche nach Modernität durch Modernität, das ist absurd, aber wir sind modern, ob wir wollen oder nicht, selbst wenn wir Klassisches spielen [...] was ich vor allem mag, das ist Theater, das Sinn produziert.
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zieht, ja sogar die Einheit aller seiner Werkteile geradezu ausmacht. Wir haben daher am Anfang der Darstellung des ästhetisch-ethischen Zusammenhangs in Sartres Künstlerportraits unseren Blick auf Sartre Anwendung und Weiterentwicklung seiner eigenen Begriffe gerichtet. Die Bestimmung seiner Ästhetik weist ihr keinen normativen, sondern einen allgemeinen Gültigkeitsanspruch zu, der sich auf die Werke aller Künstler bezieht. Vor diesem Hintergrund bestimmt Sartre die Summe der Ergebnisse seiner Künstlerportraits als jene Ästhetik, die nicht von Künstlern selbst hervorgebracht wird und an der die Literatur gerade durch ihre Beziehungen mit den anderen Künsten einen Anteil hat. Die funktionale Äquivalenz von Ästhetik und Ethik in Sartres Kunstbegriff resultiert aus der Tatsache, dass das Kunstwerk erst zu existieren beginnt, wenn es betrachtet wird. Nach Sartre ist aufgrund des Appellcharakters der Kunst die Rezeption des Schönen nicht allein für die Definition des Schönen bestimmend. Seine Definition des Schönen bezieht sich nicht nur auf die jeweiligen Elemente des Kunstwerks oder den idealtypisch- exemplarischen Charakter des Kunstwerks selbst, sondern sie weist dem Kunstwerk die Aufgabe zu, geradezu den »Anstoß« zu einer profunden Reflexion über die Malerei als Medium zu geben. Der manifeste wie auch der latente Bedeutungszusammenhang des Kunstwerks bilden nach Sartre jene Bestimmungsmomente, in denen die Beteiligung des Betrachters erst jene Schönheit des Ganzen schafft, die es dem Maler erlaubt, die beabsichtigte Vereinigung seiner manifesten und latenten Botschaften zu verwirklichen. Erst diesen Vorgang bezeichnet Sartre als ästhetisch und verdeutlicht dabei implizit die interexistenzielle, ethische Dimension dieses Prozesses: Die Beteiligung des Betrachters ist für das Eigenleben des Kunstwerks geradezu ausschlaggebend, denn ohne sie kommt dem Kunstwerk überhaupt kein Eigenleben zu. Sartres Ethik offenbart sich vor allem in seiner ästhetischen Produktion. Das ästhetische Moment bedeutet in Sartres Ethik eine zentrale Aufgabe für die Entwicklung des ethischen Individualismus des Menschen und der ganzen Menschheit. Seine Ästhetik ist die zwischen Kunstwerk und Betrachter bestehende ›unité transcendante‹ , was ihn sagen lässt: »Un jour (re)viendra lʹépoque heureuse où lʹon pourra parler de bonheur à demi-
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mot. Mais nous serons bien morts et sʹil se trouve des gens pour lire nos vieux livres, ça les fera plutôt rire.«276
276 Jean-Paul Sartre, »La Reine Albemarle ou le dernier touriste«, Fragments, hg. Von Arlette Elkaim-Sartre, Paris 1991, p. 91. Deutsch: Eines Tages kommt die glückliche Epoche (zurück) wo man auf eine bloße Andeutung hin von Glück sprechen können wird. Aber wir werden bestimmt tot sein, und wenn zufällig Leute unsere alten Bücher lesen, wird sie das doch eher zum Lachen reizen.
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Abbildungen Abb.I, Albrecht Dürer, Selbstbildnis, Holz 67 X 49, in: Gisela Goldberg, Bruno Heimberg, Martin Schawe, Albrecht Dürer, Die Gemälde der Alten Pinakothek, Heidelberg 1998, p. 121. Abb.II, Tintoretto, »LʹAnnunciazione«,Öl auf Leinwand, 542 X 440, in: Bernari, Lʹopera completa del Tintoretto, op. cit. Abb. Nr. 267 A, 422 x 546 cm, Tafel LI. Abb.III., Tintoretto, »San Marco libera lo Schiavo« Venezia, Galerie dellʹAccademia, Öl auf Leinwand 416 x 544 . Abb IV, Sartre, Saint Georges et le dragon, in: Situations IX, p. 206, Abb.IV, National Gallery, London, Öl auf Leinwand, 157,5 x 100,3. Abb. V in: BN, Sartre, op. cit., p. 187, Paris, musée du Louvre, Öl auf Leinwand, 63 x 52.
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