Ethos der Weltkulturen Religion und Ethik herausgegeben von
Anton Grabner-Haider
Mit einem Vorwort von Hans Küng
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Ethos der Weltkulturen Religion und Ethik herausgegeben von
Anton Grabner-Haider
Mit einem Vorwort von Hans Küng
Vandenhoeck & Ruprecht
Die Bibliografische lnfoonalion Der Deutschen BibliOlhek Die Deulsche Bibliothe,k verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie: delaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrulbar. ISBN 13: 978-3-525-57305-1 ISBN 10: 3-525-57305-7
Gefordert von der Karl Franzens Universität Gral..
CI 2006. Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG. Göttingen. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Umerrichlszweckc. Primed in Geonany. Salz und Layout: Helmut Lenhan. Druck und Bindung: Hubert & Co.. Göuingen. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Bayerische Staatsbibliothek München
Inhalt
Vorwort (Hans Kiing)
Einleitung
__
7
11
AIltOIl Grabner-Haider
Ethos und Kulmr
17
Amotl Quack
2 Ethos der Starnmeskulturen
37
Heike Michael·Murmann 3 Indische Kultur
5S
Amotl Grabtler·Haider 4 Buddhistische Kultur
75
AnIon Grabner-Haider 5 Chinesische Kultur
103
Amoll Grabller·Haider 6 Japanische Kultur
131
Karl Premier 7 Werteordnung des Alten Orients und Ägyptens
159
Johanll Maier 8 Ethos des Judentums
179
Anton Grabner-Haider 9 Ethos des Christentums
243
Karl Premier 10 Islamische Kultur
277
6
lnhah
Amotf Qllack
11 Afrikanische Kulturen
Mar;ano De/gado 12 Zum Ethos der lateinamerikanischen Kultur
319
__
331
Grabner-Haider 13 Europäische Philosophie der Moral
349
Anhang Namensregister
399
AlIIon
Autorenverzeichnis Delgado. Mariano: Prof. fLir Patristik. Universität Fribourg. Grabner-Haider, Aman: Prof. für Religionsphilosophie. Universität Graz. Maier. Johann: Prof. fUf Judaistik. Universität Köln. Michael-Munnann. Heike: Indologin. Universität Mainz.. Prenner. Karl: Prof. rur Religionswissenschaften. Universitäl Graz. Quack. Anion: Prof. rur Religionswissenschaft. Theologische Hochschule SI. AugustinIBonn. Remeie. Kurt: Prof. rur Soz.ialethik. Universität Graz.
Vorwort Hans Küng
..Dogmatik trennt - Ethik eine'; das ist nur bedingt richtig! Für den ersten Teil des Satzes sprechen die Erfahrungen vieler, dass in Glaubensfragen sich Religionen vielfach uneins sind und sich gegenseitig verketzern und verteufeln. Doch gibt es gerade in neueslcr Zeit auch Erfahrungen. dass sich Religionen in ihrem Glauben annähern und feststellen. dass sie trotz aller Differenzen sich in vielem nahestehCl1. Man denke an den christlich-jf.idischcn. aber zunehmend auch den christlich-muslimischen Dialog, denke aber auch an die Annäherungen zwischen Konfuzianismus und Daoismus - "Dogmatik" braucht also nicht unbedingt zu trennen. Auch in Glaubensfragen ist Konvergenz möglich und erwünscht.
Umgekehrt gibt es auch in Mora/fragen zwischen den Religionen und selbst innerhalb der Religionen viele Gegensätze, man denke nur an die Sexual moral. Doch ist es ebenfalls eine Erfahrungstatsache, dass auch Menschen verschiedenen Glaubens und verschiedener Dogmatik recht gut zusammenleben können, solange sich alle an bestimmte Regeln des Umgangs halten. Ja, es ist möglich, trotz Unterschieden in der Dogmatik in der Ethik übereinzustimmen. Ethik kann einen. Doch ist dies zu präzisieren. Es ist heute allgemein anerkannt: Nonnen sind kulwrabhängig. In verschiedenen Kulturen gewachsen, bleiben sie von ihnen geprägt und auch durch die jeweilige Kulturstufe bestimmt. Doch ist es eine Einsicht der neuesten Zeit, dass es auch gewichtige kulturübergreijellde ethische Werte und Nonnen gibt. Die ethischen Systeme. also die Ethik im Sinn der Doktrin, unterscheiden sich gewiss mannigfach. Aber Übereinstimmung gibt es bezüglich elementarer konkreter ethischer Normen, Werte ulld Einsichten. Diese haben sich freilich allmählich - in einem höchst komplizierten soziodynamischen Prozess - herausgebildet. Je nachdem, wo sich Bedürfnisse des Lebens anmeldeten. wo sich zwischenmenschliche Dringlichkeiten und Notwendigkeiten zeigten, da drängten sich von Anfang an Handlungsorientierungen und -regulative für menschliches Verhalten auf: bestimmte Konventionen. Weisungen, Sitten, kurz: bestimmte ethische Maßstäbe, Regeln, Normen. Sie wurden im Lauf der Jahrhunderte. ja Jahrtausende überall in der Menschheit erprobt. Sie mussten sich sozusagen einschleifen.
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Hans Küng
Es ist auffallig: Bestimmte elementare sittliche Standards scheinen sich überall auf der Welt zu gleichen. Ungeschriebene ethische Norme" bilden nach Auffassung von Kulturanthropologen den ,.Felsen", auf dem die menschliche Gesellschaft aufgebaut ist. Man kann dies ein "Ur-Ethos" nennen, das den Kern eines gemeinsamen Menschheitsethos, eines Weltelhos. bildet. Dies ist gerade nicht im Sinn einer einzigen, in irgendeinem Stamm oder Volk vorfindbaren (aber tatsächlich nirgends auffindbaren) "Urreligion" gemeint. Im Gegcnlcil: Ein solches ..Ur-Ethos" findet sich in allen möglichen Stämmen und Völkern. Ein "Well· Ethos" hat also sein Fundament nicht nur (syn+chronisch) in den heule gemeinsa-
men Grundnonnen der verschiedenen Religionen und Kulturen. Es gründet sich auch (dia-chronisch) auf den schon in vorgeschichtlicher Zeit (vor dem Einsetzen schriftlicher Quellen) sich durchsetzenden Grundnonnen der Stammeskulturen. Auch wenn selbstverständlich nicht jede Nonn Element eines ursprünglich schon gegebenen Ethos ist, lässt sich doch zur Betonung der bei allen Transformationen gegebenen Kontinuität sagen: Heute gelebtes Welt-Ethos im Raum basiert letztlich auf einem biologisch-evoluliv vorgegebenen. in der Zeit erprobten Ur-Ethos. Erst nach Perioden von Eingewöhnung und Bewiihrung kam es zur allgemeillen Allerkellfllmg solcher eingelebter Normen. die später auch satzhaft formuliert. ja. in einzelnen Kulturen werden sie unter eine höhere religiöse Autorität. ja. unter den Willen des Einen Gottes gestellt. exemplarisch in den "Zehn Geboten" der Hebräischen Bibel. wie sie Israel nach der Sinai-Tradition durch eine Gonesoffenbarung erhielt: Nicht nur .,nicht morden. stehlen. falsches Zeugnis ablegen. Unzucht treiben". sondern: "Ich bin der Herr. dein Gott ... Du sollst nicht ,., !" (Exodus 20,1-17; DeUieronomium 5.6-21), Man entdeckt nun, dass bei allen Unterschieden und all dem verschiedenen Eingebettetsein es doch gemeinsame ethische Werte und Maßstäbe gibt. die in ähnlichen Lebensbedürfnissen und Lebensnotwendigkeiten gründen. Es ist also keine Zufälligkeit. wenn sich schon beim Begründer des Yoga. Patanjali. wie auch im buddhistischen Kanon. aber auch in Judentum. Christentum und Islam analoge ethische Imperative finden: nicht morden. nicht lügen. nicht stehlen. nicht Sexualität missbrauchen, Es ist kein Zufall. dass gerade diese Nonnen sich in verschiedenen Kulturen zeigen. Geht es doch um zentrale Bereiche menschlichen Zusammenlebens: den Schutz des Lebens, des Eigentums. der Wahrheit, der Geschlechtlichkeil. Dass dabei ethische Anschauungen in manchen Interpretationen divergieren. ist angesichts der Verschiedenheit der Kulturen selbstverständlich. Doch wichtiger ist es für unsere heutige globalisierte Welt. in der Kinder verschiedener Religionen in derselben Schulklasse, Studenten verschiedener Länder an derselben Universität. Männer und Frauen aus verschiedenen Kulturen und Religionen in demselben
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Vorwort
Büro, in derselben Fabrik, in derselben Geschäftsleitung zusammen sind und zusammen arbeiten, dass es ethische Werte und Nonnen gibt, die überall und für alle gehen. Doch wenn man sich selber als ,.Dogmatiker" nicht nur in das Glaubensverständnis. sondern auch in die Ethiken der verschiedenen Religionen einarbeiten musste. weiß man, wie viel Mühen dies kostet. wie sehr es sich aber auch lohnt. So werden denn viele Leser dem Herausgeber des Buches, Prof. Dr. Anton Grabner-Haider, dankbar sein für diese Initiative, in diesem Buch einen Überblick über die Ethiken der verschiedenen Religionen zu geben; der Herausgeber hat darüber hinaus in einer ausführlichen Einleitung überzeugend dargelegt. wie auch die größten philosophischen Geister der Menschheit- von den Vorsokratikern, Platon und Aristoteles über Augustin und Thomas von Aquin, über die Philosophen der Aufklärung und zu Immanuel Kant bis zu den Heutigen - um die Maßstäbe eines echt menschlichen, humanen Verhaltens gerungen haben. Erst recht dankbar wird man den verschiedenen Autoren sein, die sich in die so unterschiedlichen und doch in manchem ähnlichen Ethiken der einzelnen Kulturen eingearbeitet haben - vom chinesen und japanischen religiösen Stromsystcrn über das indische bis hin zum nahöstlich-scmitischen (Judentum, Christentum und Islam), während andere Autoren auch die Ethiken der altorientalischen, der afrikanischen und süd~ amerikanischen Kulturen behandeh haben. Unterschiede und Gemeinsamkeiten treten auf diese Weise plastisch hervor. Ich wünsche dem Leser viel Freude auf der Entdeckungsreise durch das Ethos der Religionen und Philosophien. Tübingen. im Juli 2005
Hans Küng
Einleitung AntOll Grabner-Haider
Mit der fortschreitenden Globalisierung der Wirtschaft rücken auch die Lebensformen und Lebenswerte fremder Kulturen vermehrt in unser Blickfeld. Wir schauen häufiger und deutlicher auf die Regeln des Verhaltens. auf die Normen des richtigen Handeins, auf Gebote und Verbote, auf das Verhältnis der Geschlechter und auf praktische Lebenswelten in fremden Regionen der Erde. Unter Ethos bzw. Moral fassen Wif die Gesamtheit der Lebenswerte und der Verhaltensregeln in einer Kultur zusammen. Ethik ist dann die wissenschaftliche Disziplin, die sich mit diesen Regeln und Werten befasst. Dabei erkennen wir. dass Lebenswerte, Pflichten und Normen immer von der Entwicklung einer Kultur bzw. von Kulturstufen abhängen und sich folglich verändern. Gleichzeitig wird deutlich. dass die Grundwerte des sozialen Lebens in aBen Kulturen sehr ähnlich bzw. fast gleich sind. Sie gehören nämlich zu den Überlebensbedingungen menschlicher Gruppen. Zum einen folgen unsere Lebenswerte einer biologischen Struktur, sofern sie es ermöglichen. elementare Lebensbedürfnisse zu befriedigen. Zum andern aber werden sie in bestimmten Lebenssituationen von normsetzenden Personen und Gruppen festgelegt. um konkrete Problemfelder auf vernünftige Weise zu bewäl~ tigen. Offensichtlich haben Lebenswerte auch einen emotionalen Hintergrund, sofern in ihnen emotionale Prozesse und Dynamiken zum Ausdruck kommen. Sie gehören zu den Überlebensstrategien menschlicher Kulturen, denn mit beliebigen Werten und Verhaltensweisen konnte keine Sozietät überleben. Dieses Buch versucht. in übersichtlicher und gestraffter Weise die Nonnensyslerne und Wertordnungen der großen Kulturen der Welt zusammen zu stellen und in allgemein verständlicher Weise darzulegen. Am Anfang steht ein allgemeiner Beitrag über Ethos und Kuhur,derdie Verflochtenheit von moralischen Werten mit der menschlichen Kulturentwicklung zeigt. Es folgt ein Überblick über das Ethos der Srammeskulturen in verschiedenen Kontinenten, welche ihre Lebenswerte vor allem mündlich tradieren, weil sie noch keine Schrift entwickelt haben. Dann folgen die Darstellungen des Ethos der großen Schriftkulturen Ostasiens, nämlich Indiens, des Buddhismus. Chinas und Japans. Dabei wird deutlich. dass die verschiedenen sozialen Schichten unterschiedliche Wertordnungen gebildet
12
Anion Grabncr-Haidcr
haben. die ihnen helfen, das Leben z.u bestehen. Es wird erkennbar, wie philosophische Schulen der Lcbensweisheit auch die Wcrtordnungen verändert haben.
Einen anderen Schwerpunkt bilden die Wertordnungen der Kulturen des Alten Orients (Ägypten, Sumerer, Babylonien. Persien Kanaan), sowie der jüdischen Kultur. der christlichen und der islamischen Religion. Heute wird mehr als die Hälfte der Menschheit, nämlich ca. 2 Milliarden Christen und 1,4 Milliarden Moslems. von den Wertordnungen dieser beiden Großreligionen geprägt. Es folgt ein Überblick über die Wcrtordnungen der afrikanischen und der lateinamerikanischen Kulturen und ihrer Anpassungen an modeme lebensbedingungen.
In einer kompakten Kurzfassung wird die Wertediskussion der europäischen Philosophie. von den griechischen Anfangen bis zu den Modellen der Gegenwart umfassend wiedergegeben. Dabei gehl es darum. die rationale Triebfeder der europäischen und der nordamerikanischen bzw. australischen Werteniwicklung scharf in den Blick zu bekommen. Deswegen werden die großen Themen der philosophischen Wertediskussion übersichtlich dargestellI. Im Blick auf den beginnenden .. Dialog der Kulturen" wird es uns möglich. die Lebensformcn fremdcr Kulturräume besser zu verstchen. Denn wenn wir dcren moralischen Werte und Zielsetzungen. ihre Pflichten und Gebote besser kennen. dann wird uns ihr alltägliches. ihr politisches und wirtschaftliches Handeln ver· trauter. Kulturen TÜcken dann näher zusammen. wenn sie beginnen. einander zu verstehen. Denn dann können viele der alten Vorurteile und Feindbilder abgelegt werden. Der Dialogder Kulturen aufvielen Ebenen ist eine unabdingbare Voraussetzung für einen möglichen Weltfrieden. Er ist im weitesten Sinn Friedensarbeit. Trotz aller Verschiedenheiten und daraus resultierenden möglichen Konflikten scheint es real möglich, dass wir uns in vielen kleinen Schritten auf ein globales "WeIlethos" zu bewegen, von dem Hans Küng nachhaltig spricht. Die Verständigung und Versöhnung der Religionen scheint eine Voraussetzungen für das friedliche Zusammenleben der Völker zu sein. Das Buch verfolgt ähnliche Grundannahmen und Zielwerte. indem es zeigen will. dass die Grundwerte des Überlebens und des Zusammenlebens in allen Kulturen und auf allen Kulturstufen der Tendenz nach sehr ähnlich sind. Denn es darf aufgrund unseres biologischen Wissens angenommen werden. dass die Grundbedürfnisse des Lebens für alle Menschen dieselben sind. Dazu gehören die Bedürfnisse nach Schutz, nach Nahrung. nach Überleben, nach SchmerLfreiheit, nach sozialem Austausch, nach Orientierung und nach Lebensdeutung u.a. Diese Bedürfnisse werden je nach Kulturstufe, nach wirtschaftlicher oder klimatischer Möglichkeit unterschiedlich befriedigt. Wahrscheinlich haben nur solche Gruppen und Kulturen überlebt, welche die Befriedigung dieser elementaren Bedürfnisse hinreichend gewährleisten konnten. Denn Lebenswene fallen nicht vom Himmel und sind keineswegs beliebig. sie entwickeln sich aus biologischen und emotionaJen Wurzeln und speichern eine
Einleitung
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Vielfalt von empirischen Erfahrungen und von Problemlösungsstrategien. Denn unsere evaluierenden Lebensorientierungen sind reflexive Standards zu Bewer· tungen unserer Präferenzen, aber auch stark emotional besetzte Vorstellungen über Wünschenswertes und Notwendiges. Sie stützen sich auf Gefühle der Evidenz und Gewissheit und haben immer mit dem ganzheitlichem Erleben einer Person zu tun. l Denn unser Bewertungsgedächtnis gehört neben dem Orientierungsgedächtnis zu unserem ältesten biologischem Erbe. 2 Wenn die Grundwerte des Zusammenlebens und des Überlebens in einer Kultur gesichert sind, dann erscheint die Pluralität der praktischen Lebenswerte nicht als Bedrohung. sondern als Berei· cherung einer Lebensweltln der westlichen Zivilisation bzw. in den "atlantischen Kulturen" hat sich der Glaube an die allgemeinen Menschenrechte bzw. an die Menschenwürde und Sakralität der Person weitgehend durchgesetzt. Doch dieser Lernprozess wurde erst durch den exzessiven Kulturschock der beiden Weltkriege und des Holocaust möglich. Denn darin sind auch die Religionsbilder und Menschenbilder auf der Basis der Herrschaft des Stärkeren weitgehend zusammen gebrochen. Erst heute beginnen wir zu begreifen. was hier im Bezug auf die moralische und religiöse Orientierung eigentlich passiert ist Die alten Goltcsbildcr und Moralvorschriften der Kleriker. auf die sie seit Kaiser Konstantin gesetzt haben. wurden von den Laienchristen weitgehend verabschiedet J Seit ca. sechzig Jahren buchstabieren wir aufs neue die Grundwertedes Zusammenlebens, wie sie von der griechischen Aufklärung (Sophisten) und viel später von der europäischen Aufklärung fornlUliert wurden. Es sind dies die Orientierungen an den allgemeinen Menschenrechten. an Religionsfreiheit und Demokratie, an der freien und sozialen Marktwirtschaft und an der Erhaltung des Weltfriedens. Denn dieser ist die notwendige Voraussetzung für den freien Handel an Gütern und für die Optimierung des individuellen und des soziaJen Lebensglücks. Manche Soziologen (z.B. Emile Durkheim) vertreten die Meinung, dass der Glaube an die allgemeinen Menschenrechte zur Primärreligion der modemen und postmodernen Gesellschaft werde bzw. schon geworden sei. Die politische und kulturelle Universalisierbarkeit dieser Wertorientierung sei real möglich geworden. 4 Woher kommen nun die Widerstände gegen den Glauben an die Universal isierbarkeit der allgemeinen Menschenrechte und damit gegen das Projekt "WeItethos"? Zunächst wird betont, dass sich die menschlichen Kulturen mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten entwickeln und daher differente Wertordnungen bilden. Die großen Religionen (z.B. Islam, Buddhismus, indische Religionen) transportieren Lebenswerte. die kaum mit einander verträglich seien. Ein DiaH. Joas, Die Entwicklung der Wene. Frankfun 1997.44-60. Ders.. Braucht der Mensch Religion? Freiburg 2004. 44ff. I J. Kuh!. Der Kalle Krieg im Kopf. Freiburg 2005. 68-77. G. Roth, Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Frankfun 1994, 198ff. J R. Polak (Hg.). Megatrend Religion? Neue Religiositälen in Europa. Sluttgan 2002. 38ff. • H. Joas. Braucht der Mensch. 155-168. I
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AnIon Grabncr-Haidcr
log oder Polylog der Kulturen (Jacques Derrida, Franz Wimmer) sei wegen der behaupteten Offenbarungsbezüge und MonopolanspTÜche fast unmöglich. Nur durch die Relativierung und Auflösung starker religiöser Überzeugungen seien kulturelle Lernprozesse möglich. Diese Einwände sind gewiss sehr ernst zu nehmen. doch sie widersprechen nicht dem angestrebten Austausch der Kulturen.
Gewiss muss der Glaube an die allgemeinen Menschenrechte mit der Akzeptanz der allgemeinen Menschenpflichten verbunden werden, wie wir z.B. aus den Kulturkreisen des Islam oder Chinas lernen können. So wird der Dialog der Kulturen zu einem wechselseitigem Austausch an Überzeugungen. Orientierungen und Lebenswerten. Heute strebt eine interkulturelle Philosophie danach, alle philosophisch relevanten Probleme und folglich auch alle moralischen Fragen im Blickfeld aller Kulturen zu beleuchten, die uns darüber Reflexionen hinlerlassen haben. 5 Angestrebt wird dabei eine ..Entkolonialisierung'" der philosophischen und der moralischen Begriffe und Denkkonzepte. denn der traditionelle Euro- bzw. Amerikanozcntrismus sei überwindbar. Dem Dialog der Kulturen und dem Projekt "Weltethos" hinderlich ist eine subtile Mentalität der "Herrenmenschen", die ursprünglich aus der christlichen Religion stammt und vom Nihilisten Friedrich Nielzschc ins Unerträgliche persifliert wurde. Mit dieser oft unbewussten GrundeinsteIlung können die lebensordnungen fremder Kulturen vorurteilsfrei gar nicht gesehen werden. Wer von der zeitlosen Überlegenheit seiner Weltdeutung überzeugt ist, kann kein Gespräch auf gleicher Augenhöhe führen. Nicht weiter kommen auch jene philosophischen und theologischen "Erbsenzähler", die möglichst viele unterschiedliche Details der Wehdeutung heraus arbeiten und dann die großen Konvergenzen gar nicht mehr sehen können oder wollen. Hinderlich sind auch alle religiösen Monopolisten und kulturellen Fundamentalisten, die sich geistig nicht bewegen können. Sie schreien dann lauthals, ein Austausch der Kuhuren auf der Basis der Gleichwertigkeit sei gar nicht möglich, Nicht weiter kommen auch jene Philosophen, welche die gesamte Moralphilosophie auf Fragen der Metaethik und der Methodik des Diskurses reduzieren wollen. Sie tragen nicht nur zur Marginalisierung der Philosophie bei, sondern folgen auch einem konsequent skeptischem und relativistischem Standpunkt, indem sie auf Wertpräferenzen verzichten. Da auch sie ohne Wertungen nicht leben und überleben können, verhalten sie sich wertkonservativ und lassen alles, wie es ist. Für den Austausch der Kulturen scheint hingegen ein Standpunkt der Pragmatischen Philosophie optimal zu sein. wie ihn William James und in seinem Gefolge Ludwig Wittgenstein und Richard Rorty fonnuliert haben. 6 Denn es geht beim
'F. Wimmer.lnlerkulturelle Philosophie. Wien 2004, I63ff. • W. James, Thc variclics of religious cltperiencc. London 1902. L Wingenstcin. Philosophische Untersuchungen. Frankfun 1967. R. Rony. Dewey zwischen Hegcl und Darwin. In: H. 103S (Hg.), Philosophie der Demokratic. Frankfun 2000. 20-43.
Einleitung
15
Projekt ..Wehethos" und der interkulturellen Philosophie grundsätzlich um einen Austausch von Lebensfonnen und Lebenswerten, von gedeuteten Lebenswelten und von ..Sprachspielen". Nun bringen nicht alle Teilnehmer am interkulturellem Dialog bzw. am Polylog die gleichen Voraussetzungen mit. Wichtig erscheint eine gefestigte kulturelle Identität, welche zu einem hohem Maß an Toleranz für fremde Überzeugungen und Wertungen fahig ist. Dann kann nämlich auf alle MonopolanspfÜche der Lebcnsdeutung verzichtel werden. Gemessen an den Grundbedürfnissen des menschlichen Lebens zeigl sich dann sehr schnell, dass unsere Lebenswerte niemals beliebig sein können, wenn das Überleben der Gruppe gesichert werden soll. So scheitert ein strikter Kulturrelativismus schon an unserem biologischem Erbe. Der Maßstab aller Lebenswerte ergibt sich aus dem Bedürfnis nach Überleben und nach Lebcnsentfaltung. Auch hier erkennen wir, dass die allgemeinen Menschenrechte und Menschenpflichten universalisierbar sein können. Ein weiteres Hindernis für den wechselseitigen Lernprozess der Kulturen ist jene Grundhaltung vieler Wissenschaftler. die Julius Kuhl den "kalten Krieg im Kopr' genannt hat. Er meint damit die strikte Trennung zwischen der kognitiven und der emotionalen Intelligenz. Denn viele Kulturwisscnschaftler, auch Philosophen und Theologen, sind nicht fahig oder bereit, das Integrationsgedächtnis mit dem Extensionsgedächtnis zu verbinden bzw. das objektive Erkenntnissys· tem mit dem intuitivem Steuerungssystem zu vernetzen. 7 Mit dieser epistemisehen ,.Apartheid" bzw. mit einem szientistischem Monopolismus lässt sich kein herrschaftsfreier Dialog oder Polylog der Kulturen führen. Hier sind nachhaltige Lernprozesse vieler Wissenschaftler dringend nötig. Das vorliegende Buch geht von der starken Überzeugung aus, dass der Dialog bzw. der Polylog der Kulturen möglich ist und dass wir mit dem globalen Projekt "Weltethos" voran kommen können, wenn sich genügend Wissenschaftler, Philosophen und Theologen, Journalisten, Juristen, Techniker und Künstler. Politiker und interessierte Laien daran beteiligen. Es weitet den Blick für die Lebensformen und Lebenswerte fremder Kulturen, es zeigt Unterschiede, aber auch Konvergenzen der Daseinsdeutung auf. Seine Absicht ist es, das moralische Jmegrotionsgedächrnis mit dem kulturellem Extensionsgedächrnis zu verbinden und zu vernetzen. Es hegt die Hoffnung. dass der "Kampf der Kulturen" (Samuel Huntington) nicht unser unausweichliches Schicksal ist. In der Tat scheint die Versöhnung der Religionen und der Wcrtordnungen eine unabdingbare Voraussetzung für den Weltfrieden zu sein. 8
J. Kuhl. Der Kalte Krieg. l50ff. ~ H. KüngfD. Senghaas (Hg.). Friedenspolitik. Ethische Grundlagen internationaler Beziehungen. München 2003. 17-56. J. Habermas. Zwischen Naturalismus und Religion. Frankfurt 2005. 7
324-365.
Anton Grabner-Haider
Der Begriff "Ethos" leitet sich vom griechischen Wort ethos ab. das "Gewöhnung". "Sitte"... Brauch" und "Charakter" bedeutet. Es hat entfernt auch mit aidos (Scham) zu tun. Folglich verstehen wir unter Ethos die Gesamtheit dereingespielten Regeln des Verhaltens der Einzelnen in sozialen Gruppen und Gemeinschaften. Diese formen die Verhaltensweisen und Lebensformen der Menschen in einer Kultur. das Zusammenwirken der Gruppen, die Weisen der Kommunikation und das gesamte soziale Leben. Geregelte Verhaltensweisen sind die Voraussetzung dafUr. dass menschliche Gruppen überleben können. Unsere Verhaltensweisen sind uns zum Teil angeboren und biologisch determiniert. wie wir aus der vergleichenden Verhaltensforschung erkennen können. Zum andem Teil aber werden sie in den Gruppen gelernt. also ..sozialisiert" und im Lauf der Kulturentwicklung verändert. Wir Menschen folgen einem biologischen Grundprogramm. das wir mit den Hominiden weitgehend gemeinsam haben. Gleichzeitig haben wiraberdie Möglichkeit. dieses Grundprogramm durch fortschreitende rationale Erkenntnis zu verändern und weiter zu entwickeln. Die sprachliche Formulierung des Ethos ist ein wesentlicher Schritt in der menschlichen Kulturentwicklung.
Das biologische Programm Blicken wir nun zuerst auf jenes ererbte Programm unseres Verhaltens. mit dem wir unser Überleben sichern. Dieses können wir aus der vergleichenden Verhaltensforschung an höher entwickelten Säugetieren. die in Gruppen zusammenleben. vor allem aber an den Hominiden gut erkennen. Sie alle haben wie wir Menschen ein begrenztes Reservoir an Verhaltensmöglichkeiten. Da sie auf das Überleben der Gruppe. aber auch des Individuums programmiert sind, verhalten sie sich überlebenssichernd. Nur wenige scheren aus diesem Programm aus. die Mehrheit verfolgt instinkthafldie MaximierungderLebenschancen.lnderGruppe
18
AnIon Grabncr-Haider
geben sie einander Schutz. sie sichern ihre Nahrungsquellen und verteidigen ein Territorium. 1 Zu dieser biologischen Programmierung kommt schon bei den höher entwickelten Säugetieren das soziale Lernen. das die Überlebensvorteile verstärken soll. Jungtiere lernen bald nach ihrer Geburt. meist von den Müttern. aber auch von anderen Bezugstierenjenes Verhalten. das ihr Leben optimal schützt. Fehlver· halten wird durch Körpersprache bestraft. das bestrafte Tier erleidet körperlichen Schmerz. der es vor Verhaltensfehlem bewahren soll. Das richlige d.h. überlebenssichemde Verhalten wird in der Gruppe vor allem durch Imitation gelernt. die jungen Tiere ahmen die äheren nach. Sobald das Überleben für die Gruppe gesichert ist. werden die Verhaltensspielräume für die einzelnen Gruppenmitglieder größer. Sehr ähnlich verläuft die Sozialisation des überlebenssichernden Verhaltens bei uns Menschen. Auch wir lernen zum einen durch Imitation der erwachsenen Bezugspersonen. zum andern aber durch Belohung und Bestrafung. Schmerz und Frustration sollen uns vom falschen Verhalten abhalten. Die Belohung als Befriedigung ursprünglicher Bedürfnisse leitet uns zu einem Verhalten an. das unser Überleben sichen und die Gruppc zusammenhält. Als soziale Wesen können wir unser Leben nur im Bezug auf andere Menschen sinnvoll und befriedigend gestaltcn. 2 Die Regeln des richtigen Verhaltens werden in der menschlichen Kultur über lange Zeitepochen hin durch Körpersprache weitergegeben: durch Bewegungen. Gesten. Laute. Zeichen, Mimik des Gesichts. durch manuelle Belohnungen z.B. Streicheleinheiten. und Bestrafungen. Bereits höher entwickelte Tiere (z.B. Bonobos) warnen einander mit unterschiedlichen Lauten vor unterschiedlichen Feinden. um zum richtigen Verhalten anzuregen. In der menschlichen Kultur ist die Körpersprache vielfaltig weiter entwickelt worden. sie ist unsere ursprüngliche Sprachfonn. die wir mit den Tieren gemeinsam haben. Mit ihr kommunizieren wir vor allem unser emotionales Erleben. Wir erkennen. dass viele Regeln des riChtigen Verhaltens mit unserem emotionalem Erleben (z.B. Angst) zusammenhängen. Wir fühlen uns durch das Verhalten von Mitmenschen gestön, geängstigt oder bedroht. darauf reagieren wir mit dem Repcnoire unserer Körpersprache. Noch immer stellen sich uns die inzwischen kurz gewordenen Körperhaare auf. wenn wir Angst erleben. Das biologische Programm sagt uns. dass wir dann für den Angreifer größer und bedrohlicher aussehen. Ganz anders reagien unser Körper. wenn wir uns glücklich und sicher fühlen.! F. Wukclits. Warum uns das Böse fasziniert. Die Nalur des Bösen und die Illusion der Moral. Slullgart 1999. 110-121. : K. l..orenz. Der Aufbau des Menschlichen. München 1983. 171-180. I. Eibl-Eibcsfckh. Die Biologie des menschlichen VerbalIens. München 1984.4>-56. I
, I. Eibl-Eibesfeldl. Universalien menschlichen Sozialverhahens und ihre Bcdcurung rur die
Normenfindung. In: D. Neumann u.a. (Hg.). Die Nalur der Moral. Stuugart 1998. 99-111.
Ethos ulld Kultur
19
Ethos und Sprache Mit der langsamen Entwicklung der verbalen Sprache. die wir in der heutigen Fonn erst beim ern-Magnon-Menschen (seit 200.000 Jahren in Afrika. seit 40.000 Jahren in Europa) erkennen können, werden die Regeln des richtigen Verhaltens verbal sprachlich ausgedrückt. Die Menschen enlwickeln aufgrund eines veränderten Kehlkopfes bestimmte Laule, Lautfolgen. Wörter. Wortverbindungen und Sätze. um das erwünschte oder geforderte Verhalten zu erreichen. Auf dieselbe Weise wird das störende. das nicht erwünschte und das gefcihrliche Verhalten bestimmt. Nun werden die verbalen ..Sprechakte" (speech acts) der Warnung. des Verbots. des Tadels. aber auch des Wunsches, des Gebots und des Lobes entwickelt. Später kommen noch viele andere Sprechhandlungen hinzu. um Verhalten in der Gruppe zu regeln. Auch in der verbalen Sprache drücken wir erleble Gefühle aus. die durch das Zusammenleben ausgelöst werden: etwa GefOhle der Abgrenzung, der Abwehr, der Aggression. der Feindschaft. des Hasses, der Zerstörung. des Neides oder der Rache fur erlittenen Schmerz. Auf diese Weise kommunizieren wir ebenfalls Gefu hle der Geborgenheit. der Zune igu ng. der Hingabe. der Zugehörigke iI. der Liebe. der Versöhnung. des Lebensglücks u.a. Grundsätzlich kommunizieren wir unsere Gefühle sowohl durch Körpersprache. als auch durch verbale Sprechakte.· Die sprachlichen Fonnulierungen der Regeln des richtigen und falschen Verhaltens kennen wircrsl seit derZeit. als einigeAckerbaukulturen begonnen haben. sprachliche Zeichensysleme und Schriften zu entwickeln. Mit den frühen rudimentären Zeichen konnte nur eine partielle Orientierung zum Ausdruck gebracht werden; z.B. ,.Gefahr"..,richtiger Weg", ..Wasserstelle" u.a. Mit der Entwicklung der Schriftsysteme wurde es aber möglich. alle Ausdrücke der verbalen Sprache durch Symbole und Zeichen darzustellen. Jetzt wurden auch die Anweisungen zum richtigen Verhalten bzw. die Verbote des falschen Verhaltens detaillierter und komplexer. Es wurden Regeln fonnuliert. die das annähernd konfliktfreie Zusammenleben in der Gruppe sichern sollten. Gleichzeit wurden Verbote aufgestellt. die bestimmte Handlungen und Verhaltensweisen unter Strafe stellten. Ersl von den frühen Schriftkuhuren (Sumer. Babyion. Ägypten. China. Indien u.a.) haben wir ein genaueres Wissen über die Regeln des Zusammenlebens in menschlichen Gruppen. Diese Regeln verändern sich mit der Größe der Gruppen, mit den Kulturtechniken und den sozialen Strukturen. Frühe Jäger und Sammler folgten anderen Regeln als spätere Hirtennomaden oder Ackerbauem. Wir erkennen eine große Variationsbreite bei den Regeln des erwünschten Verhaltens. auch bei den angesetzten Belohnungen und angedrohten Strafen.~
• F. WuketiLS. Warum uns das Böse. 148-157. R.D. Ale:under. Thc biology of moral syslems. Ncw Yon: 1987.]4 44. R. Axelrod. Die Evolution der Kooperation. MOnchen 1987,65-76.
s eh. Redman, Die ältesten schriftlichen Dokumente. In: G. Burenhult (Hg.), Die Kuhuren der Alten Welt - die ersten Sllidte und Sta;llen. Augsburg 2000, 21-26.
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Anion Grabner-Haidcf
Kulturen der Jäger und Sammler Die Menschen lebten die längste Zeit auf dieser Kuhurstufe. über 99% ihrer bis· herigen Geschichte, in kleinen Gruppen zwischen 15 und 50 Personen. ln den im 19. Jh. erforschten Kulturen erkennen wir egalitäre Strukturen, weder eine Dominanzder Männer, noch der Frauen. Erwachsene wurden aufgrund ihrer Leistungen fUf die Gruppe als höher bewertet als Kinder und Alte (sofern es diese gab). Die Gruppen hanen keine stabilen Führerrollen. die Anflihrer wurden für jedes Unternehmen neu bestimmt. Zwischen den Gruppen war auch Auktuation möglich. Zu den Grundregeln des Verhaltens gehörte der Schutz der Gruppe vor wilden Tieren und anderen Menschengruppen, die Sicherung des Lebcnsraums zum Sammeln von Nahrung und zur Jagd von Tieren. die Weitergabe des Lebens. die Schlichtung von Streit und die hinreichende Verteilung der Nahrungsmittel. Die Regeln des erwünschten Verhaltens wurden durch Riten und Kultfeiem internaIisiert. 1I In den verschiedenen Riten der Abwehr wollten die Gruppen lebensfeindliche Kräfte von ihrem Lebensraum fernhalten. Deswegen erzeugten sie Lärm. riefen bedrohliche Laute und zeigten aggressive Gesten. Sowie sie fremde Menschen· gruppen fernhiehen. so wollten sie es auch mit den vorgestellten unsichtbaren Kräften tun. Beim Ritual kommunizierten die Teilnehmer ihre erlebten Geftihle (z.B. Angst) und stabilisierten die Gruppen. Mit den Riten der Vertreibung wollten die Menschen böse Lebenskräfte aus ihrem Lebensbereich austreiben. von denen sie annahmen, dass sie dort eingedrun· gen waren. Zu diesem Zweck erzeugten sie wiederum Länn oder sie entzündeten Feuer. entwickehen Rauch. schlugen mit Hölzern und Steinen aufeinander. Nun werden diese Riten nur im Kontext der mythischen Wehdeutung verständlich. Jäger glaubten. dass in den gejagten Tieren unsichtbare Kräfte wirkten, die sie in sich aufnehmen konnten. Gleichzeitig glaubten sie an imaginäre Schutzkräfte der Tiere und der Menschen. die sie als göttliche Wesen anriefen. Und sie lebten mit der Überzeugung. dass auch in jedem Menschen eine unsichtbare Seelenkraft wirksam ist. Diese Seelenkraft kann beim Tod des Körpers nicht sterben, sie lebt in einem Seelenland weiter. Dieser Glaube ist der Hintergrund der Ahnenverehrung. die imaginären Ahnen sollten nun bei den Lebenden die Einhaltung der Regeln des richtigen Verhaltens überwachen. Denn es wurde unterstellt. dass jadieAhnen diese Regeln aufgestellt und eingerichtet hatten. Von ihnen wird nun angenommen. dass sie das riChtige Verhalten mit Lebensglück belohnen. das falsche Verhalten aber mit Krankheit und Unglück. bestrafen. Die Regeln des richtigen Verhaltens werden durch den Bezug auf imaginäre Wesen und Kräfte legitimiert. Jedes Unglück im Leben wird nun als Folge eines moralischen Fehlverhaltens gedeutel.'
• F. Vjvclo. Handbuch der Kuhuraßlhropologie. Sluttgan 1981. 71-79. J J. Campbcll. Mythen der Mcnschheit. München 1993. 7-14.
Elhos und Kultur
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Die Regeln der Moral werden durch den erzählten Mythos legitimiert. Zuerst waren es die Schamanen und Mantiker. welche diese Regeln aufstellten und vorgaben. Sie sagten. diese Regeln seien ihnen von den Ahnen oder den Schutzgöttern ..geoffenbart" worden. Dies ist die stärkste denkbare Motivation. um diese Regeln zu befolgen. Deul1ich mit der moralischen Nonnsetzung verbunden sind die Riten der Reinigung von Schuld. Die ..Sünde" galt als Verstoß gegen die Regeln des geforderten Verhaltens. sie beschmutzte und schwächte die Seelenkraft des Übeltäters. Wie Staub legte sie sich auf die Seele und hatte beim Sünder Krankheit und den frühen Tod zur Folge. Beim Ritual der Reinigung versuchten die Menschen. sich vom Staub der Sünde zu reinigen. Sie wollten den Tabustoff des Bösen aus ihrem Leben venreiben. Deswegen besprengten sie sich mit Wasser oder tauchten in dieses ein. um alle Kräfte des Bösen abzuwaschen und die Lebenskraft zu erneuern. Frühe Jäger fühlten sich schuldig. wenn sie ein Tier töteten. Außerdem fürchteten sie die Rache der Seelenkraft des getöteten Tieres. Deswegen feierten sie ein Ritual der Versöhnung mit der Seele des gejagten Tieres (z.8. Bärenritual). Dabei saglen sie. sie häuen aus Irrtum und Versehen dns Tier getötet. oder fremde Jäger hätten dies getan. Schamanen verkündeten. die Seele des getöteten Tieres würde im Seelenland weiterleben und zu einem neuen Leben geboren werden. Mit diesem Ritual wollten sie sich mit dem lier versöhnen und gleichzeitig dessen Lebenskraft auf ihr eigenes Leben übertragen.' Wenn die Feiernden die Masken von Bären oder Löwen lrUgen. wähnten sie. deren Kräfte in sich zu tragen. Ähnlich verhielten sich spätere Kulturen bei den Menschenopfern. Die Priester sagten den Opfern vor ihrem gewaltsamem Tod. ihre Seelenkräfte würden im Land der Ahnen einen besonderen Platz erhalten oder sie würden zu einem neuen Leben aufstehen. Mit den Riten der Reinigung wolhen sich die Menschen von der zerstörenden Kraft der Sünde (Regelverletzung) befreien. Deswegen besprengten sie sich mit dem Blut der geopferten liere oder Mitmenschen.
Kulturen der Hirtennomaden Mit dieser Kulturstufe wurden die Gruppen wesentlich größer (50 bis 200 Personen). es mussten neue Regeln des Zusammenleben gefunden werden. Jägergruppen hatten durch die Technik des Einpferchens entdeckt. dass sie wilde Tiere in Pferche sperren konnten und dass diese sich dort vennehrten. Auf diese Weise begannen sie. Tiere zu domestizieren und in ihre Verfligbarkeit zu zwingen. Die Menschengruppen konnten zeitweilig sesshaft werden sofern die Futtervorräte für die Tiere reichten. Sie lebten nun mit dem Schaf. der Ziege. dem Esel. dem Rind. dem Hund. dem Pferd und dem Kamel zusammen und nutzten deren Milch, das Aeisch und die Haut. IW. Burken. Kulte des Allenums. Biologische Grundlagen der Religion. München 1998. 50-63.
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Doch sie mussten für ihre Tierherden genügend Weideland finden und sie muss· ten beide gegen andere Menschengruppen verteidigen. Nun bildete sich eine frühe Arbeitsteilung, bewaffnete Krieger mussten das Weideland und die Herden schützen.ln diesen Gruppen entwickelte sich nun einedeudiche Dominanzder Männer. denn sie zähmten die wilden liere und entwickelten die Waffen zur Veneidigung. Frauen betreuten dje Kinder und waren für die Zubereitung der Nahrung und der Kleider verantwortlich. Dieses geänderte Geschlechterverhältnis erkennen wir in den Mylhen. den Riten und später in den schriftlich fixierten Gesetzen der
Hirtennomaden (z.B. Gesetze des Hammurapi).' So bildeten Hirtennomaden die ersten patriarehaien Kulturen: Männliche Gölter leiten die Gruppen. Männerpriestervollziehen die großen Riten. Männerhäuptlinge führen die Krieger an. Weibliche Schutzgöuinnen des Lebens werden in den Mythen degradiert. sie müssen sich den männlichen Himmelsherren unterordnen. Der Himmel wird als großes Nomadenzelt vorgestellt. Männliche Gesetzgeber le· gen fest. dass sich die Frauen in der Ehe den Männem unterordnen müssen und dass sie nicht selbständig die Ehepartner wählen dürfen (Gesct7-c des Hammurapi). Je nach den wirtschaftlichen Möglichkeiten dürfen Männer mehrere Frauen haben. Nun verändern sich die Regeln des Zusammenlebens. die Sippen beanspruchen den Besitz von Tieren und Herden. Die soziale Schichtung wird deutlicher. die Träger der Waffen gewinnen an politischer Macht und an Besitz. Die Sippen vereinigen sich zu größeren Stämmen. diese führen gegen andere Stammesbündnisse Kriege um Herden und um Weideland. Auch Menschen werden von fremden Stämmen geraubt und zu Sklaven degradiert, in diesen Kulturen beginnt ein früher Sklavenhandel. Die moralischen Werte orientieren sich am Besitzrecht von Tieren. von Waffen. von Werkzeugen und von Menschen. Der Verstoß gegen diese Besitzrechte wird als Raub oder Diebstahl schwer geahndet. den Dieben und Räubern werden häufig die Hände oder die Füße abgehackt oder sie werden mit der Tötung bestraft. Die Männer beanspruchen Eigentumsrechte über ihre Frauen und Kinder, der ..Ehe· bruch" wird als Einbruch im männliche Besitzrechte bestraft. Ehebrecher werden ihrer Geschlechtsteile beraubt (Kastration) oder sie werden durch Steinigung getötet. Reste dieses Strafrechtes finden sich noch in der jüdischen Bibel (christlich: Altes Testament) und in den Schriften des Islam (Koran). 10 Auch in diesen Kulturen werden die Regeln des riChtigen Verhaltens durch den Bezug auf die Ahnen und die Schutzgötter legitimiert. Die männlichen Hirn· melsgöner geben den Menschen die Gesetze und wachen über deren Befolgung. Auch männliche Stammeshäuptlinge oder Stammväter gehen die Regeln des ge· wünschten Verhaltens vor. Die Mitglieder der Sippe oder des Stammes müssen sich dem Häuptling unterwerfen und seinen Befehlen folgen. Es gelten die Regeln der unbedingten Treue zum Stamm bzw. zur Sippe, die Unterwerfung unter den • F. Vivelo. Handbuch. 122-132. .. K. Prenner. Die Stimme Allahs. Religion und Kultur des Islam. Graz 2002. 57-70.
Ethos und Kullur
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Häuptling. die Ehrlichkeit in der Kommunikation. die Arbeit flir den Lebensunterhalt der Gruppe. sowie die Verpflichtung zur Lebensweitergabe. Nun tragen auch hier Riten zur Internalisierung und Indoktrination der moralischen Regeln bei. Hier sollen nun die Opfeniten näher betrachtet werden, die bei den Hirtennomaden weit verbreitet sind. Die Menschen opfern ihren Ahnen und den Schutzgönern regelmäßig wertvolle liere, oft die Erstgeburten eines Jahres. Sie opfern aber auch Mitmenschen, nämlich Sklaven und Besiegte an ihre Götter, um ihre eigene Kampfkraft zu stärken. Den rituellen Mord an Mitmenschen deuten sie als Stärkung dereigenen Lebenskraft. denn sie glauben. dass sie die Seelenkraft des geopferten Menschen in sich aufnehmen können. Die Hirtennomaden opferten ihren Schutzgöttern Tiere und Mitmenschen. Unter ihnen bildete sich ein eigener Priesterstand, der mit den Opfern und Riten befasst war. Sie versprachen den Menschenopfern einen besonderen Platz im Seelenland der Ahnen oder eine baldige neue Geburt. Sei den Opferriten zeigten sich die Häuptlinge und die Priester als die Herren über Leben und Tod ihrer Mitmenschen. Auch dadurch wurde die Geltung der Geselze und der moralischen Normen eingeschärft. ll Beim Opfer erlebten die Menschen auch tiefe Angst. denn sie wussten, dass bei Regelverstößen auch ihr Leben den Schutzgöttern geopfert werden konnte. Die Feiernden mussten unter der Anleitung der Priester die genaue Einhaltung der priesterlichen Gesetze beschwören. Mit den Todesstrafe werden bedroht: der Ehebruch. der Viehraub. der Verrat der Stammesgeheimnisse. die Untreue zum Häuptling U.3. Das Opfer deuten die Priester als die Verbindung zur Welt derAhnen und der Schutzgötter. jede Opferhandlung kann zur Sühne von Schuld beitragen. Wer aus seinem BesilZStand TIere oder Sklaven opfert. kann damit viele SUnden tilgen. Im Lauf der Kulturentwicklung wurden die Menschenopfer schrittweise durch Tieropfer ersetzt. Dies sehen wirz.S. in der jüdischen Geschichte vom Stammvater Abraham. dem ein göttlicher Bote mitteilte, dass Gott ab sofort keine Menschen· opfer. sondern nur noch Tieropfer möchte. Eine andere Entwicklung ging dahin, statt eines Menschenlebens nur mehr einen Körperteil den Göttern zu opfern (Teilopfer). Die Feiernden opferten dann einen Finger. einen Zahn. ein Ohrläppchen oder Geschlechtsteile (Beschneidungsriten). Bei den Opferriten zeigten sich die Priester und Häuptlinge als die Herren über Leben und Tod. Die Feiernden mussten unterTränen und Klagen beschwören. dass sie die Gesetze der Herren genau einhalten wollten. Eine solche Szene sehen wir in der jüdischen Bibel, wo die Priester dem Volk die göttlichen Gesetze vorstellten. Den Gesetzesübertretern werden harte Strafen und häufig die Todesstrafe angedroht. So lebten die Menschen in großer Angst. ihr Leben zu verlieren, wenn sie gegen die Grundregeln des Stammes oder des Volkes verstießen. ll W. Bun::ert. Kulte des Altertums. 63-14. C. Bell. Ritual theory. ritual prnctice. New Von 1992.61-14. U N. Bischof: Das Rätsel des Ödipus. Die blologischen Wurzeln des Ur\:onftikts von Intimität und Autonomie. München 1985.94-117. D.P. Barnsh. Soziobiologie und Veffialten. Bertin 1980.46-60. 11
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In der weiteren Entwicklung traten Mantiker und Propheten gegen die Priester und Häuptlinge auf, indem sie sich aufeine direkte Botschaft oder Offenbarung der Ahnen oder der Schutzgötter beriefen. Sie verkündeten öffentlich, der Bundesgolt oder die Schutzgötter hätten nun an Tier- und Menschenopfern gar kein Interesse mehr; sie forderten vielmehr ein reines Herz der Menschen. eine aufrichtige Ge· sinnung und die Verwirklichung der moralischen Tugenden. Damit ist der Punkt erreicht. wo die archaischen Opferriten in gelebte Moral transformiert werden. Eine allgemeine Moral der Mitmenschlichkeil löst nun langsam die Opferriten ab. doch die Priester widersetzen sich diesen lehren. Wir erkennen dies etwa am persischen Reformer zarathustra oder an den jüdischen Propheten.
Kulturen der Ackerbauern
In einigen Flusstälern und deren Scitcnannen haben Menschengruppen erkannt. dass sie wilde Gräser an ein und demselben Ort vermehren und kuhivieren konnten. Sie lernten. den Wild weizen. dieGerstc. die Hirse. den Reis und den Wildhafer auf bewässerten und schlammigen Feldern auszusäen und zu ernten. Nun konnten die Menschengruppen für längere Zeit oder dauerhaft sesshaft werden. Sie bauten Wohngruben in die Erde. später errichteten sie Dörfer aus Lehm und aus Stein aus der Erde heraus. Ihre Gruppen wurden größer. sie lebten zwischen 200 und 1.000 Personen in Dörfern zusammen. Gezähmte liere gehörten ebenso zu ihrer wirtschaftlichen Grundlage. l ) Die niederen Ackerbauem (ohne den Pflug. das Rad und die künstliche Bewässerung) veränderten ihre soziale Struktur und entwickehen deutliche Arbeitsteilung. In ihren Mythen erzählen sie. dass die Frauen eine besondere Rolle bei der Aussaat. der Pflege und der Ernte des Getreides spielten. So wird erzählt. die Erde sei ein weiblicher Schoß. aus dem das Getreide geboren werde. Beide Geschlechter flihrten die Riten der Fruchtbarkeit aus. um das Wachstum des Getreides zu stärken. Bei vielen Riten hatten die Frauen eine leitende Funktion. Die Feiernden tanzten um die Felder oder an den Kuhplätzen und riefen die weiblichen Schutzgöttinnen der Fruchtbarkeit an. Männer und Frauen paarten sich an den Festzeiten am heiligen Ort oder auf den Feldern. um die Kräfte der Fruchtbarkeit zu stärken und das Wachstum zu wecken. Die moralischen Regeln beziehen sich nun auf die Verteilung der Früchte. den Schutz der Ernten. die Kooperation bei der Arbeit. die Achtung vor privatem Eigentum. Die Männer roden neue Felder und machen sie bebaubar. sie verteidigen die Dörfer und die Felder. sie bilden Gruppen von Kriegern. die auf die Waffen spezialisiert sind. Nun wird die soziale Schichtung deutlicher. es bildet sich die Oberschicht der Besitzenden und der Krieger. dann die Mittelschicht der Feldarbeiter, der Hirten. der Handwerker und der Händler. und als Unterschicht
" F. Vivclo. Handbuch. 89--96. E.R. Wolf. Peasants. Englc:woddlCliffs 1986.84-102.
Ethos und Kuhur
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die Unfreien und Sklaven. Für alle drei Schichten gelten besondere Regeln des riChtigen Verhaltens. Die höheren Ackerbauem entwickeln das Rad. den Pflug und die künstliche Bewässerung: bald lernen sie. ihre Werkzeuge und Waffen aus Metall (Kupfer, Bronze und Eisen) herzustellen. Ihre Gruppen werden nochmals größer. sie bilden die ersten Stadtkulturen mit I.OOQ bis 6.00Q Einwohnern (Jericho. Catal Hüyük). Die Dominanz der Männer im Bereich der Waffen, der Werkzeuge und des Rituals schreitet voran. Der ArbeilSbereich der Frauen bleibt die Sorge um die Kinder, die Zubereitung der Nahrung und der Kleider, aber auch Feldarbeit und partiell das Ritual. Diese Sozialstruktur spiegelt sich in den erzählten Mythen. männliche Götter fUhren die Krieger an und herrschen über den Götterhimmel, Göttinnen werden häufig in ihrem Rang degradiert (z.B. Athena. Hera). ihnen bleibt der Bereich der Fruchtbarkeit. 14 Auch die Ackerbauern haben ihre Opferriten. sie opfern ihren Schutzgöttern und Ahnen die Erstlingsfrochte ihrer Felder. aber auch Tiere und Mitmenschen. In ihren Städten bauen sie große Tempel und richten eine zentrale Tempelwirtschaft ein. die Stadtkönige. die Priester und die Schreiber werden für die Verwaltung des Landes zuständig. Sie selZen die Regeln des richtigen Verhaltens und die Gesetze des Zusammenlebens fest, die sie jetzt in Stein einmeisein und in den Städten aufstellen lassen. Sie haben flir Verwaltungszwecke die erste Schrift entwickelt (Donaukulruren. Sumer. Ägypten u.a.). Die Mythen dienen weiterhin der Legitimalion des geforderten Verhaltens. So lehren die Priester. aber auch Mantiker und Propheten. dass die vielen Schutzgötter der Sippen und der eine Bundesgott der Stadt dje guten Taten der Menschen mit Glück und Gesundheit belohnen. dass sie aber die Übeltäter mit Unglück und Krankheit bestrafen. Da die Belohnung oder Bestrafung in diesem Leben oft nicht erkennbar sind, werden sie hinter die Todesgrenze verschoben. Die moralisch Guten werden im Land der Ahnen ein glückliches Leben haben. die Übeltäter werden dort viel leiden müssen. Auch hier dient der Mythos dazu. das moralische Leben zu unterstützen und die Einhaltung der Gesetze zu erleichtern. Bei den großen Kuhfeiern am Tempel werden die moralischen Nonnen und die Gesetze der Stadt regelmäßig vertieft. Dies geschieht bei den kleinen und großen Opferriten, bei den Versöhnungsfeiern mit den Schutzgöuern und bei den Kultmählern. Die Menschen wollen sich mit den göttlichen Kräften vereinigen. um ein langes und gutes Leben zu haben. Wenn sie die göttlichen Kräfte in sich aufnehmen. stärken sie ihre Lebenskraft.l~ Zu den Riten der Vereinigung gehören vor allem die Tänze am heiligen Ort. Durch langsame und schnelle Bewegungen können die Tanzenden in Ekstase ge-
,. eh. Redman. Friihe mesopotamische Sliche und ihre Umgebung. In: G. Burenhuh (Hg.): Die Kuhuren der Alten Weh. Augsburg 2000. 21-26. J. AMmann. Hemchaft und Heil. München 2(XX). 76-84. "J. Campbell. Mythen. 7-16. K. Hubig. Die Sumerer. München 1989.34--45.
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raten, dann wissen sie sich mit den göttlichen Kräften verbunden. Oder sie feiun sexuelle Riten und heilige Hochzeiten. um die Kräfte der Fruchtbarkeit in sich zu stärken. Die Feiernden umannen und küssen einander am heiligen Ort. heilige Personen legen ihnen die Hände auf und salben sie mit dem Öl von Pflanzen. Und im kultischen Mahl verbinden sie sich mit den Schutzgöttern der Stadt und den Ahnen der Sippe.
Die moralischen Regeln sind hier eng milden Riten undden Lehren der Mythen verflochten. Bei den Hirtennomaden und den höheren Ackerbauem schreitet die männliche Dominanz in der Kultur und der Moral deutlich fort. Männer erhalten mehr Rechte als Frauen. Männliche Göuer verdrängen die weiblichen oder degradieren sie. Herrschaft und Anwendung von Gewalt sind auch im Himmel der Gölter vorwiegend männlich. Einige Kulturen von Hirtennomaden und Ackerbauern entwickeln sogar Kuhmonopole für männliche Bundesgöuer. das deutlichste Beispiel liefern die jüdische und die islamische Kultur. 16 So hatte der ägyptische König Echnaton im 14. Jh. v.Chr. versucht, die Verehrung der vielen Reichsgöuer durch ein Kultmonopol für den Sonnengott Aton zu ersetzen. Er ist damit gescheiten. denn seine Nachfolger haben wieder die Vielheit der göulichen Wesen hergestellt. Zarathustra in Persien hatte die Herrschaft eines obersten Gottes verkündet. in Babyion galt die Herrschaft des obersten Stadtgottes. Priester in Israel bzw. Juda konnten durchsetzen, dass in Zeiten des Krieges nur der Kriegsgolt Jahwe verehn werden durfte. Später versuchten sie. durch ein großes Schriftwerk (Tora. Bibel) das Kultmonopol dieses Bundesgottes zu erzwingen. Das Christentum und der Islam sind ihnen auf diesem Weg später gefolgt. So wurden die Gottesbilder und die Tempel von den Priestern und Königen immer zur Legitimation ihrer Herrschaft benötigt. Stadtgöuer und Bundesgötter setzten dann die Normen des richtigen Verhaltens fest. Aufgabe der Priester war es. diese Normen zu verkündigen. So sind alle Religionen der Erde mit klaren moralischen Vorgaben verbunden. sie haben wesentlich zur Ausbildung von Ethiksystemen und von Lebensformen beigetragen. Doch immer spiegeln sie dabei bestimmte Kulturstufen und Formen der Sozialisation. 17 Schon früh wurden in verschiedenen Kulturen die Nützlichkeit der sog. "GoldeIle" Regel" des richtigen Verhaltens erkannt. Sie geht von der Einsicht aus. dass es sinnvoll und nützlich ist. den Mitmenschen das Leidvolle und Schmerzliche nicht anzutun. das man selber nicht erleben möchte. Ins Positive gewendet bedeutet diese Einsicht. den Mitmenschen alles das an Befriedigung zu geben. was man selber bekommen möchte. Diese Einsicht in die Reziprozität des menschlichen Verhaltens hat wohl den größten Lernschritt in der menschlichen Kultur ausgelöst. Freilich ist es ein weiter Weg von dieser Einsicht zu ihrer praktischen Verwirklichung. Nun zeigt sich. dass diejenigen Kulturen die größten Chancen der •• J. Assmann. Ägypcen. Theologie und Frömmigkeit einer Hochkuhur. Stuugan 1984. 21-T. Den.. Herrschaft und Heil. 102-114. lJ J. Assmann. Hernchaft und Heil. Politische 1beologie in Ahägypten. Israel und Europl. München 2000. 145--156. B. Lang. Jahwe. der biblische Gou_ München 2002. 65-84.
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Entwicklung und der Überlebens hatten, die der Verwirklichung der Goldenen Regel am nächsten gekommen sind. Heute bauen fast alle großen Kulturen auf dieser Einsicht auf, nur intolerante Gruppen wollen sie nicht akzeptieren. Zunächst wurde diese Regel nur innerhalb der eigenen Gruppe angewandt. dort gab es die Verpflichtung, einander in Not zu helfen und wichtige Bedürfnisse des Lebens hinreichend zu befriedigen. Ein weiterer Lernschritt der Kultur wurde erreicht, als die Goldene Regel auch auf Mitglieder fremder Sippen ausgedehnt wurde. Nun galt die Pflicht zu gegenseitiger Hilfeauch gegenüber fremden Gruppen, was aber nicht kontrollierbar war. In der chinesischen Kultur hat diesen Übergang der Lehrer Mo Ti (3. Jh. v.ehr.) vollzogen, im Judentum wurde er von einigen Propheten angedeutet, im frühen Christentum wurde er von Jesus von Nazareth gelehrt. Die Menschen erkannten, dass sie dann auch selbst auf fremde Hilfe hoffen konnten, wenn sie anderen in No(situationen unter die Arme griffen. Auf dieser Einsicht basiert die gegenseitige Kooperation in allen großen Kulturen der Erde. la
Ansätze matriarchaler Ethik
Wir erkennen in den Kulturen deutlich patriarchale und matriarchale Ethikformen, die in den Inhalten erheblich differieren. Häufig können sie direkt einer bestimmten sozialen Schicht zugeordnet werden. Als Beispiel einer matriarchalen Ethik soll die Lehre des chinesischen Daoismlls (Taoismus) skizziert werden, sie ist die Daseinsdeutung der unteren sozialen Schichten, nämlich der Bauern, der Hirten und der Unfreien. Z.T. auch der Handwerker und Händler. Diese Gruppen hatten nie Zugang zu den Waffen der Krieger und damit zur Herrschaft, folglich haben sie andere Verhaltensregeln entworfen. In China (aber auch in Indien und Japan) sind uns auch die Morallehren der unteren sozialen Schichten in schriftlicher Form überliefert worden; z.B. im Buch ..Tao teh ching" und bei einigen Philosophen. Nach dieser Lehre ist der göttliche Urgrund (Dao) des ewigen Anfangs weiblich und wird mit einer Urmutter bzw. einem Urweib verglichen. Aus diesem Urgrund werden die beiden Kräfte des Werdens Vin und Yang, und aus diesen entstehen alle Dinge und Lebewesen. 19 Nun kämpfen diese beiden Urkräfte nicht gegen einander, sondern sie greifen in einander und ergänzen sich. Das Dunkle verbindet sich mit dem Lichten, das Weiche mit dem Harten, das Weibliche mit dem Männlichen, die Erde mit dem Himmel. Doch das Dunkle. Weiche und Weibliche ist das Ursprüngliche, es ist dem ewigen Dao am nächsten. In der patriarchalen Kultur Chinas ist die weib· liehe Kraft jetzt abgewertet, aber auf Dauer wird sie stärker als die männliche sein. Auch das Wasser ist das weichste Element und höhlt doch auf Dauer den härtesten Stein aus. W. Bauer. Geschichte der chinesischen Philosophie. Mi1nchen 2002. 127-138. 19 Tao Ich ching. Dt. von R. Wilhe1m. Köln 1978. Kap. 1-5. 11
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Damit wird das Wasser zum Symbol für das ewige Dao. aber auch für die Kräftc des Weiblichen, des Weichen und des Lebendigen. Es sucht immer den unterstell Platz in der Weh, spendet aber allen Wesen das Leben. Das Weiche ist näher beim Leben als das Harte. denn wenn ein Mensch geboren wird, ist er weich und zart: wenn er auf den Tod zu geht, ist er hart und steif. 20 Ausdiesen Lehren werden nun die Regeln des richtigen moralischen Verhaltens
abgeleitet. Diese Regeln haben den unieren sozialen Schichten das Überleben und die optimale Entfaltung ennöglicht. Der weise Mensch lässt sich vom weiblichen Urgrund leiten, er lebt nicht überheblich und stellt sich nicht über Mitmenschen. Vielmehr ist er bestrebt. allen nützlich zu sein. Er sucht in der Gesellschaft die unieren sozialen Ränge, weil erdas Wasser zum Vorbild hat, das immer nach unten Aießt. Die unteren sozialen Schichten nehmen ihre niederen Ränge bewusst an und erkennen darin sogar einen Vorteil: sie sehen sich näher beim ewigen Urgrund. Sie wissen darum, dass es im Leben auf Dauer keine Vorteile geben kann. mit dellen nicht auch Nachteile verbunden sind. Der Nachteil der oberen sozialen Schichten besteht darin, dass sie vom ewigen Ursprung weiter weg sind und mit ihrer einseitigen Herrschaft die ursprüngliche Kommunikalion stören. Freilich gibt es im Leben auf Dauer auch keine Nachteile. die nichl mit einem Vorteil verbunden wären. Die Menschen der unteren sozialen Schichten können weitgehend ohne Herrschaft miteinander umgehen. Der weise Mensch, der sich vom ewigen Dao leiten lässt. lebt nicht hektisch und nicht aggressiv gegen Mitmenschen. Er lässt sein Leben geschehen (wu wei), sowie es kommt, und versucht, aus allen Situationen das Beste zu machen. Auf keinen Fall will er als mehr erscheinen, als er tatsächlich ist. Auch macht er keine schönen und großen Worte. denn das Leben ist oft nicht schön, es ist oft sehr klein. Seine Worte sollen wahr sein und nicht täuschen. Seine Mitmenschen überzeugt er durch seine moralische Lebensfonn und nicht mit Worten. 21 Wer vom ewigen Urgrund her lebt. hilft den Mitmenschen. wenn sie in Not geraten sind. Er hält sich bei den Kleinen und Niedrigen auf. Und weil er anderen hilft. darf er hoffen, dass auch ihm geholfen wird, wenn es ihm übel ergeht. Er arbeitet für andere und schafft unentwegt Neues und Nützliches. Aber er hält das Geschaffene nicht fest, sondern gibt es an andere weiter. Mit seiner Lebenskraft geht er sparsam um, denn er will lange leben. Den Streit und den Krieg meidet er, denn dabei wird immer Leben zerstört. Im Krieg und Kampf gibt es keine Sieger. sondern nur Verlierer. Dennoch verteidigt sich der Weise mit allen geeigneten Mitteln, wenn er von anderen angegriffen wird, denn sein Leben ist ihm heilig. Zu diesem Zweck entwickelt er viele Kampftechniken der Abwehr und der schnellen Reaktion. die harten Schläge des Angreifers lässt er ins Leere laufen. Die Frauen nehmen ihr Schicksal an mit
ZOG. Bekey. Die Welt des Tao. MUnchen 1983,85-105. Schaoping Gan. Die chinesische Philosophie. Dannstadt 1997. 68-85. 11 Schaoping Gan. Die chinesische Philosophie. 68-80.
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der Überzeugung, dass sie auf Dauer stärker als die kämpfenden Männer sein werden. Aus dieser Sichtweise haben die Harten, die Starken. die Männer und die Krieger keinen dauerhaften Vorteil gegenüber den Schwächeren und den unteren sozialen Schichten. Viele Männer aus diesen Schichten haben diese weiblichen Lebenswerte internalisiert und zu leben versucht.lm Grunde besteht die Hoffnung. dass am Ende der Zeit der weibliche Urgrund die Gegenkräfte des Lebens und des Todes wieder miteinander verbinden wird. Diese Morallehren gehen von der ursprünglichen Gleichwertigkeit aller Menschen aus. 22 Spuren einer weiblichen Ethik finden wir auch imjrühell Buddhismus. obwohl er von männlichen Wanderasketen geprägt wurde. Hier gelten als Grundwerte die Ehrfurcht vor allem Leben, der Verzicht auf Rache und Kriege. die Forderung des Mitgefühls mit den leidenden Wesen. die Forderung der geeigneten Selbstverteidigung. Auch Buddhisten lehen auf der Seite der Kleinen. der Schwachen und der Geringen, sie suchen die Versöhnung der Feinde. die Venneidung der Kriege. Wenn sie von anderen angegriffen werden, dann verteidigen sie sich mit allen geeigneten Mitteln. Es ist ihnen selbstverständlich. dass vom ewigen Urgrund (nirvana) her alle Menschen denselben Wert haben. n Reste einer weiblichen Ethik bzw. einer Morallehreder unteren sozialen Schieh· ten erkennen wir auch im Lebensprogramm des Jesus von Nazareth und der frü· hen Christen. Dort wird soziale Gerechtigkeit gefordert. die Feinde sollen sich versöhnen. Hass. Neid und Krieg sollen vennieden werden. Die Kleinen und die Annen sind dem Göttlichen näher als die Reichen und die Starken. Alle sollen ihren Mitmenschen in der Not helfen und auch ihren Gegnern mit Wohlwollen begegnen. Diese weiblichen Lebenswerte wurden aber schon früh von patriarchalen Lebensordnungen zugedeckt. 24 Zum Ethos der Unleren sozialen Schichten gehört die sichere Erkenntnis, dass von NalUr her alle Menschen denselben Wen hahen. Weil alle dieselbe Luft atmen. sagen griechische Sophisten. haben alle denselben Wert. dieselben Rechte und dieselben Pflichten. Von Natur aus und von der göttlichen Ordnung her gibt es keine Herren und keine Sklaven. alle Menschen werden als Freie geboren. Die Männer haben keinen größeren Wert als die Frauen. sie sollen auch nicht mehr Rechte haben. Diese Denkansätze der allgemeinen Menschenrechte gehen in allen Kulturen von den unteren sozialen Schichten aus.
Ansätze patriarchaler Morallehren
In den patriarchalen Kulturen der Hirtennomaden und der höheren Ackerbauern prägten zunehmend männliche Lebenswcrte das Verhalten der oberen sozialen Tao Ich ching. Kap. 17-24. uM. Hutlcr. Das ewige Rad. Rc:ligion und Kultur des Buddhismus. Graz 2001. 201-224. :I< G. ~ißcn. Die Religion der erslcn Chrislcn. GÜlcr.;loh 2000. 101-120.
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Schichten. Von ihnen haben wir seil Beginn der Schriftkulturen reiche Kenntnisse. sie prägen bald auch die Lebensfonn der minieren sozialen Schichten, die nun
entstehen. Von den Lebenswel1en der unteren sozialen Schichten. der Unfreien und der SchuldskJaven, haben wir kaum Kenntnisse. Die Lebenswerte einer patriarchaJen Kultur lassen sich an einigen Eckpunkten darstellen. als Beispiel möge wieder die chinesische Kultur dienen. Der Wanderlehrer Kungju Ise (Kong 21) hatte im 6. und 5. Jh. v.Chr. zusammen mit seinen Schülern die Grundwerte der Lebensordnung der Krieger und der Verwaltungsbearnten aufgeschrieben. Er halte an mehreren Schulen für junge
Krieger und Schreiber die Kunst der Schrift, die Kampftechniken. die AhnenriteD. die alten Lieder, die Gesetze und Verträge, sowie die moralischen Regeln des tugendhaften Lebens unterrichtet. Die Grundtugenden der Krieger waren die absolute Treue zum Fürsten. die Unterordnung unler den Valer und die Ergcbung untcr dcn Lehrer. Es wurde angenommen. dass der Fürst. der Valer und der Lehrer dicsclben Forderungen an den Schüler steillen. Eine Grundforderung an die Krieger war die absolutc Unterordnung und der blinde Gehorsam, selbständigcs Denken war unerwünscht. Dic allen Regeln und Lcbensgewohnheiten mussten hochgehahen werden. sie haben sich in langen Zci· tepochen bewährt. Kriegerund Beamte mussten ihre Pflichten erfüllen. den Körper abhärten und den Willen trainieren. Von ihnen wurde verlangt. zu heiraten. Kinder zu zeugen und für die Familie zu sorgen. Die Frauen und Kinder mussten sich den Vätern unterordnen. In den Sippen der Adeligen galt die Tapferkeit im Kämpfen als Ziel wert. Schmerz musste ertragen werden. die LOge war zu vermeiden und die Autoritäten waren zu achten. U Die Schüler des Meister Kung haben seine Lehre weiter entwickelt. Einige lehrten. dass in allen Situationen die richtige Mitte zu suchen sei. Extreme im Verhalten müssen vermieden werden, maßlose Verweichlichung und übermäßige Abhärtung schaden dem Leben. Der Lehrer Meng lse (Meng Zi) war überzeugt. dass von der Natur her alle Menschen gut seien und zum Guten strebten. Erst durch schlechtes Beispiel und durch widrige Lebensumstände werden einige zu Verbrechern und Übeltätern. Sie müssen für ihre bösen Taten bestraft werden, um aus der Strafe das richtige Verhalten zu lernen. Alle Menschen. auch die Übeltäter. können das moralische Gute erlernen. wenn sie dazu gezwungen werden. In der konfuzianischen Schule galt die alte Lehre. dass der Fürst dem ganzen Volk ein moralisches Vorbild sein muss. Aber auch die Krieger und Beamten mussten gerecht. tapfer und gehorsam sein. Der Lehrer Mo Di kam zur Überzeugung. dass die sozialen Verpflichtungen über die Sippengrenzen hinaus Gellung haben müssen. Von der allgemeinen Nächstenliebe im Volk haben alle den größten Nutzen. 26
2S W. Ba~r. Geschichle. 57--64. Schaoping Gan. Die chinesische Philosophie. 47-55. »H. Schleichen. Klassische chinesische Philosophie. Münchcn 1980.84-96.
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Eine besondere Fonn der patriarchalen Moral vertreten die sog. LegalisteIl. Denn sie gehen davon aus, dass alle Menschen von ihrer Naturher böse sind und zu bösen Taten neigen. Nurdurch strenge Gesetze und harte Strafen können sie davon abgehalten werden. einander zu schädigen und zu zerstören. Die Strafen müssen öffentlich durchgeführt werden. um das Volk von Übeltaten abzuschrecken. Die Menschen müssen vor dem Herrscher zittern. sie dürfen ihn nicht lieben. Und dieser verachtet und fUrchtet das Volk. Ein größerer Staat kann nur durch Härte und Schrecken regien werden. Die Lehrer dieser Schule gelten in China als die Vordenker des autoritären Staates. 27 Eine patriarchale Moral und Rechtsordnung haben uns auch die aristokratischen Philosophen Griechenlands. Platon und Aristoteles. hinterlassen. Sie treten entschieden gegen die Lehre der Sophisten auf. dass von der Natur her alle Menschen gleichwcrtig seien. Für Platon ist die soziale Ordnung im Staat eine göttliche Einrichtung. Denn die Götter hällen den Herren und Adeligen Gold in das Blut gemiSCht. der minIeren Schicht nur Silber und den unteren sozialen Schichten gar nur Er/.. Von den Göttern erhielten die Adeligen und Krieger das Recht. über die Mitmenschen zu herrschen. Für alle drei sozialen Schichten galten unterschiedliche moralische Regeln und Pnichtcn. Die Tugend der Weisheit komme nur den Herrschenden zu, die Tugend der Tapferkeit sei den Wächtern vorbehalten. und die Tugend der Mäßigung sei für die unteren sozialen Schichten eingerichtet. Die Gerechtigkeit aber sei rür alle Menschen. sie teile jedem das seiner Schicht Gemäße (to heauton) zu. 2I Die Menschen setzen sich nicht selber die Maßstäbe des richtigen Verhaltens. wie einige Sophisten gelehrt hatten; nein. die Götter setzen diese unverrückbaren Maßstäbe. Auch für Aristoteles setzt der Gott. den die Menschen mit ihrer Vernunft erken· nen können. die Maßstäbe für das sittliche und unsittliche Handeln. Er hat es so eingerichtet. dass die Männer den Frauen überlegen sind. weil bei den Männern die Vernunft höher entwickelt sei. Die Frauen seien "Mängelwesen" und müssten durch die männliche Weisheit und Planung gelenkt werden. Nur den freien Männern in der Stadt kommt es zu. die Gesetze festzulegen und das richtige Verhalten für beide Geschlechter zu bestimmen. 29 Das frühe Christentum hat diese patriarchale Moral geerbt und weitcr entwickelt. Ln den Anfangen hatten Frauen die christliche Lebensfonn maßgeblich mitgestaltet. doch schon im 2. und 3. Jh. n.Chr. übernahmen die Männer die Dominanz. Frauen bekamen dienende Rollen und mussten in der Versammlung schweigen. sie mussten sich in der Familie den Männem unterordnen. Die Männertheologen sagten, Frauen seien leicht zur Sünde verflihrbar und sowohl körperliche. als auch geistige Mängelwesen. W. Bauer. Geschichte. 177-190. H. Schlekhen. Klassische. 127-136. 1lI A. Graeser. Die Philosophie der Antike 11. München 1983. 168-187: 232-250. ~ A. Graeser. Die Philosophie. 234-246.
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Anton Grabner·Haidcr
Der Islam hat bis heute eine extrem patriarchaJe Moral und Rechtsordnung. die kaum zu verändern ist. Durch die Reformen des Propheten Muhammad im 7. Jh. n. ehr. hauen die Frauen viele Rechte. die sie bisher hauen. verloren. Die weiblichen Götter wurden zu bösen Dämonen degradiert. nun herrschte im Götterhimmel nur mehr der Gott Allah. Seither bestimmen bei den Menschen die Männer die Regeln des moralischen Verhaltens und die GeselZe. Die Frauen haben sich diesen Regeln unterzuordnen, sie haben nicht die gleichen Rechte wie die Männer. JO
Moral der Herrenmenschen Schon in einigen frühen Stadtkuhuren erkennen wir die Absicht. über andere Städte herrschen zu wollen. Auch die Hirtennomaden wollten andere Stämme unter ihre Abhängigkeit zwingen. In China bereiteten zur ..Zeit der streitenden Reiche" (ca. 500 bis 221 v.Chr.) mehrere Fürstentümer die Herrschaft über andere vor. Ihre Lehrer entwickelten optimale Gesetze für die Herrschaft und ein hartes Training der Krieger. Sie zeigten. wie ein Fürstentum organisicrt scin muss. damit es über andere Stadtkulluren die Herrschaft erringen und für lange Zeit auch behahen kann. Die beiden Säulen eines solchen Staates sind der Ackerbau und die Krieger. J ' Der Mythos von der Überlegenheit der eigenen Schutzgötter gab dann die Le· gitimation für die Eroberung fremder Fürstentümer. Mit dieser Motivation gelang es dem Stadtstaat Qin im 3. Jh. v.Chr.. andere Städte zu erobern und ein k.leines Reich zu schaffen. Immer wurden der Mythos und die Religion auch dazu benutzt. um die eigene Überlegenheit über fremde Länder und Kulturen zu behaupten. Der oberste Himmelsgolt (tien) wurde nun zum Herrscher über alle Menschen im neu· en geeinigten Reich. Die Religion stellte eine Ideologie der Herrschaft bereit. Dieses Modell gilt im Grunde rur alle späteren Großreligionen. Auch im Christentum hat sich der eine Weltgolt und Schöpfer aller Menschen nur den Christen geoffenbart. Deswegen sind sie befugt und ermächtigt. über andere Länder und Völker Einfluss zu gewinnen. ja die Herrschaft zu errichten. Mit dieser Überzeugung hatten christliche Fürsten durch viele Jahrhunderte hindurch fremde Länder und Kulturen erobert. um deren Schätze auszubeuten und den Menschen den wahren Glauben und die einzig richtige Moral zu bringen. Der ..Herrengou" der Christen legitimierte alle Kriege der Eroberer und auch den Handel mit Millionen von versklavten Menschen. J2 Denselben Anspruch auf Eroberung und Herrschaft finden wir in der Religion des Islam. Muhammad halte diesen Anspruch von den Juden und den Christen gelernt. Allah war nun nicht nurder Herrschergott über allearabischen Stämme. nein .. er war der Herrscher über alle Völker und Länder der Erde. Deswegen mussten lO K. Prcnncr. Die Slimme. 289-311. J' W. Bauer. Geschichle. 180-195. H. Schleichen. Klassische. 90-98. Jl R. Wilken. Die frühen Chrislen. Wtc die Römer slc sahen. Gm 1986. 190-197. B. Lang. Jahwe. 211-230.
Elhos und Kultur
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sich alle gläubigen Moslems bemühen, den allein wahren Glauben und die allein richtige Moral über alle erreichbaren Länder zu verbreiten (dschihad). Im Grunde untermauern alle Religionen mit einem Monopolanspruch auf den wahren Glauben eine Moral der Herrenmenschen. Denn weil sich ihnen der eine Weltgott geoffenbart habe, erheben sie den Anspruch auf Überlegenheit und Herr~ schaft. Im 19. Jh. entstanden in Europa säkulare Ideologien der Herrenmenschen, die den religiösen Anspruch säkularisiert hatten. Da wurde von nordischen oder arischen Rassen gesprochen, denen als Urvölkern das natürliche Recht der Weltherrschaft zukomme. Aus den Erkenntnissen der Biologie (Ch. Darwin) wurde das natürliche Recht der Stärkeren auf Herrschaft abgeleitet. Einige Philosophen (z.B. F. Nietzsehe) hatten für dieses Modell der "Herrenmenschen" angeblich philosophische Argumente beigebracht. Die blonde nordische Rasse sollte über das "Hornvieh" der GeSChichte herrschen und bestimmen. Der "Übermensch" müsse sich um keine Regeln der herkömmlichen Moral mehr kümmern, denn er setze selber ständig neu und völlig autonom die Regeln des richtigen Verhaltens. Etwas später sah sich auch die marxistische und kommunistische Ideologie zur Weltherrschaft bestimmt. Am Ende des 20. Jh. hatten diese Ideologien der Herrenmenschen mehr als 120 Millionen gewaltsam getöteter Menschen zur Folge gehabt.J3
Oie allgemeinen Menschenrechte
Es waren in allen Kulturen die unteren sozialen Schichten, die im Ansatz an die Gleichwertigkeit aller Menschen glaUbten. Die griechischen Sophisten (AlkidamaSt Lykophro1l. Antiphon) gingen von der allgemeinen menschlichen "Natur" (physis) aus, die nicht zwischen den Herren und den Sklaven unterscheide. Daraus haben viele Denker späterein allgemeines Naturrecht abgeleitet, welches das Verhalten der Menschen bestimmen soll. Sowohl die griechische, als auch viel später die europäische Aufklärung argumentieren mit diesem Naturrecht. wenn sie für alle Menschendieselben Rechte und Pflichten einmahnen. Fürdie europäische und westliche Kultur sind die griechischen Sophisten und einige sokratische Schulen (Kyniker, Stoiker. Epikuräer) die Vordenker der allgemeinen Menschenrechte. 34 Das erste Argument dafür war, dass alle Menschen dieselbe Luft atmen und dieselben Bedülinisse haben. Daher seien von der Natur her die Männer und die Frauen, die Freien und die Unfreien, die Griechen und die Nichtgriechen gleichwertig. Von der Natur her gäbe es keine Wertunterschiede der Menschen, dies müsste nun auch in den Gesetzen und Moralregeln der Städte zum Ausdruck kommen .. Diese Ideen wurden von den Stoikern und Kynikern aufgegriffen und verbreitet, vom frühen Christentum wurden sie geerbt. Der christliche Missionar Paulus aus Tarsos war in der stoischen Philosophie gebildet und lehrte, auch in 1. Derrida. Politik der Freundschaft Frankfurt 2000,158-190. }I A. Gracser. Die Philosophie. 20-32: 63-80.
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AnIon Grabner-Haider
der Schule der Christen seien die Rangunlcrschiede der Menschen aufgehoben (Gal 3.28). Die allgemeinen Rechte und Pflichten der Menschen seien in der göttlichen Weltordnung (Logos) vorgegeben. Freilich hat sich die chrisl1iche Reichskirche sehr schnell von diesen allgemeinen Rechten und Pflichten der Menschen verabschiedet und das aristokratische Modell der Moral verbreitet. Humanistische Denker der Renaissancezeit haben sich wieder der Denkmodelle der Stoiker und der Kyniker erinnert, sie sprachen fortan von einer allgemeinen "Menschenwürde". die jedem zukommt (Pico von Mirandola).3~ In der europäischen Neuzeit begannen einige "Freidenker", mehr Freiheit im Denken. im Glauben und in der praktischen Lebensgestahung zu fordern. Sie glaubten, dass dadurch das persönliche Lebensglück jedes Einzelnen verbessert werden könnte. Das geschlossene und autoritäre Moralsystem wurde Stück für Stück aufgebrochen und die Freiräume der Einzelnen wurden größer. Einige Län~ der (USA und Frankreich) machten die allgemeinen Menschenrechtc zur Grund· lage ihrer neucn Staatsverfassungen. In den nächsten 200 Jahren sind diese Freiheitsrechte in fast allen demokratischen Staaten der Welt verwirklicht worden. Durch den Dialog mi~ fremden Kulturen mussten neben den Menschenrechten auch die allgemeinen Pflichten für die Gemeinschaft und den Staat in Erinnerung gerufen werden.
Sichtweisen der Ethik Heute tasten wir uns in mehreren Sichtwcisen an das Phänomen der Ethik heran, um unser soziales Vcrhallen besser zu verstehcn. Eine biologische Sichtweise macht uns darauf aufmerksam, dass wir in unscrem Verhalten immer unseren bi~ alogischen Vorgaben folgen und dass folglich unser Vcrhaltensrepertoire begrenzt ist. Mit der soziologischen Sicht weise erkennen wir die Abhängigkcit unscrer Lebenswerte von sozialen Schichtungen und Strukturen einerGeseUschaft. Dabei achten wir auf die Formen der Kommunikation, das Verhältnis der Geschlechtcr. die Verteilung der Arbeit und die Weisen der Abhängigkeit. Wir nehmen an, dass sich in jedem Moralsystem soziale Strukturen spiegeln. auch wenn einige Grundwerte allgcmein akzeptiert werden. Subgruppen der Gesellschaft können in Teilbereichen ihre eigenen Wertesysteme entwickeln. Als Beispiele dafür mögen Pazifisten. Umweltschützcr, Esotcriker oder Fundamen~ talistcn dicnen. Seit langem betrachten wir unsere Wertordnungen auch untcr psychologischen Gesichtspunktcn. Wir fragen, welche emotionale Dynamikcn in bestimmten Geboten und Verpflichtungen zum Ausdruck kommen. Starke Angstgefüh le vor Feinden oder vor Bedrohung kann zu strcngcn Normen und Gesetzen führen. 36 Ein "Erasmus von Rouerdam. Ciceronianus. Vgl. A. Gail, Erasmus. München 1999.34--50. J& E. Fromm. AnalOmie der menschlichen Destruktivität. Reinbck 1917, 84-96.
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negatives Menschenbild, das alle Menschen als böse bewertet, hat offensichtlich rigide Moralnormen zur Folge. Wird von einem positiven Menschenbild ausgegangen, werden den Einzelnen mehr Freiräume des Verhaltens erlaubt. So hängen Wertordnungen immer auch von den Personstrukturen der wertsetzenden Personen ab. Die großen europäischen Diktaturen des 20. Jh. hatten alle ein sehr negatives Menschenbild und folglich ein autoritäres und totalitäres Moralsystem. Die wertsetzenden Personen waren durch ein negatives Selbstbild und durch starke destruktive Dynamiken geprägt. wie wir heute wissen. Viele \Ion ihnen wollten subtil oder offensichtlich Leben zerstören. dabei fanden sie ihre begeisterten Anhänger für diese Ziele. Wirsehen in manchen Moralsystemen auch eine selbstzerstörende Dynamik, die gar nicht so leicht zu erkennen ist. Andere Wertmodelle prägen Personen mit einem positiven SeJbslbild. mit einer lebensfreundlichen GrundeinsteIlung und mit unbedingter Lebenserlaubnis. Sie gehen davon aus. dass alle Menschen mehr das Gute als das Böse wollen, um das eigene Leben optimal zu entfalten. Auch sie wissen um die destrukti\len Dynamiken des sozialen Lebens. aber sie wollen sich optimal da\lor schÜI7..en. Die Strafe für Verbrechen erhält einen therapeutischen Sinn. damit auch Rechtsbrecher soziale Verantwortung lernen und einüben können. Die Wcrtordnungen der demokratischen Staaten gehen heute zumeist von diesen positiven Grundeinsteilungen zum Leben aus. n Wenn wir uns kulturgeschichtlich an Moralsysteme annähern. dann achten wir auf die kulturellen Bedingungen der Wertsetzung. Alle Kulturstufen entwickeln Lebenswerte als Überlebensstrategie der Gruppen. In größeren Gruppen werden die Wertordnungen komplexer. sie bekommen flexible Strukturen. Wenn wir uns mittels der sprachlichen Analyse den Wertordnungen nähern. sofern diese sprachlich ausgedruckt werden. dann versuchen wir. Inhalte und Gehungsbereiche besser zu verstehen. Wir untersuchen logische Strukturen der Normensysteme und fragen nach deren semantischen Gehalten. Oder wir fragen nach dem pragmatischen Lebensbezug, nach der "Lebensfonn" und der ..LebensweIt" (Ludwig Wittgenstein 11). aus der moralische Werte entstehen. In einer philosophischen Metaethik untersuchen wir die sprachlichen und logischen Regeln \Ion moralischen Werten. Mit der Beliebigkeit moralischer Werte ist keine Gruppe und keine menschliche Kultur überlebensfahig. Dies erkennen heute auch die Theoretiker der postmodernen Werte lehre. Die erkannte Relativität der moralischen Werte besagt keineswegs ihre Beliebigkeil. Denn diese würde nur den sozial Stärkeren nützen und die sozial Schwächeren schwer schädigen. Heute blicken wir vennehrt auf die Handlungsfolgen von moralischen Werten und fTagen nach den praktischen Konsequenzen von Moralnormen (Konsequentialismus). Wir erkennen. dass unsere Einstellungen und Gesinnungen in vielen F.men nicht ausreichend sind, um uns in der Gesellschaft sozial verträglich und kooperativ zu verhalten. J1
E. Fromm. Psychologie der Religion. Frankfun 1967. 57-65. J. Oerrida. Politik. 112-158.
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AnIon Grabncr-Haider
Ebenso erkennen wir. dass wir mit einer reinen Pftichtcnethik im praktischen Leben nicht das Auslangen finden. Denn wenn wir blind und ohne kritischen Blick bestimmten Pflichten folgen. dann können wir unter den Mitmenschen auch großes Unrecht anrichten. Daher scheint es nötig. dass wir die praktischen Folgen unserer Entscheidungen und Handlungen im Auge haben. Auch unsere Rechtsordnung misst problematische Handlungen immer an den konkreten Handlungs-
folgen. Sozial veranlwonJiches Handeln besteht dann darin, die Handlungsfolgen zu bedenken. sodass keine nachteiligen Wirkungen ftif konkrete Mitmenschen zu erwarten sind. Auch in der Moral sind wir immer Lernende. wir haben in keiner Lebenssituation die optimalen Regeln fUT unser Zusammenleben. Die Relativität unserer Wertordnungen erkennen wir im Blick auf fremde Kulturen und deren Nonnen. Viele nähern sich heute auf selektive Weise solchen Wertordnungen. um sie mit den eigenen Lebensregeln in Verbindung zu setzen. Der wirtschaftliche Dialog zwingl uns zum wechselseitigen Kennenlernen auch der Wcrtordnungen der Kulturen. Darin erkennen wir wohllihnliehe Grundwerte des Verhaltens. aber große Variationsbreiten in der konkreten Umsetzung dieser Grundwerte. J8 Wenn wir in einen interkulturellen Lernprozess eintreten. dann sind wir Ge· bende und Nehmende. Der Dialog der Kulturen ist wohl nur auf der Basis der allgemeinen Menschenrechte und Menschenpflichten erfolgreich zu führen .
H. KüngID. Sc:nghaas (Hg.). Friedenspolitik. Ethische Grundlagen inlemalionaler Bezie· hungen. München 2OIB. 71-99. J. Habermas. Zwischen Naturalismus und Religion. Fl1Inkfun 2005.155-165. .11
Ethos der St
eskulturen
Anton Quack
Das Ethos der Stammeskulturen. ihre Wertordnung in den Grundzügen darzustellen, ist nicht ganz einfach, zumal in der hier gebotenen Kürze. Zum einen sind die Begriffe Stamm. Stammeskulturen. Stammesgesellschaflcn, Stammesreligionen in der Ethnologie nicht unumstritten. ihr Gebrauch bedarf dahereiner Erläuterung; zum anderen ist die Thematik "Ethos" von Stammenskulturen den Ethnologen als eigenes Stichwort, als eigener Gegenstand von Forschung und ethnographischer Darstellung bisher kaum in den Blick gekommen. Dies spricht natürlich auch für die Notwendigkeit dieses Beitrages. Die vergleichsweise gute Überschaubarkeit von Stammesgesellschaftcn und -religionen erleichtert ihre Darstellung, sie erlaubt es, auch im engen Rahmen dieses Beitrages ihr Ethos vorzustellen. wenigstens in groben Strichen. Dabei darf natürlich nicht übersehen werden. dass wir es im Bereich der Stammeskulturen mit fast unendlich vielen unterschiedlichen Variationen und Ausprägungen von Lebens· und Denkweisen. von Religionen und charakteristischen Geisteshaltungen und Verhaltensweisen zu tun haben. Diese Darstellung wird also nicht allen Stammeskulturen gerecht werden können. Doch sollen einige der wichtigsten Aspekte ethischen Verhaltens vorgestellt werden.
Klärung wichtiger Begriffe Im Sprachgebrauch der Ethnologie und Soziologie bezeichnet Stamm die Menschen einer ethnischen Einheit mit gemeinsamer oder verwandter Sprache, Religion und Kultur, die eine gemeinsame Verwandtschaft und Geschichte. bzw. der Glaube daran, verbindet und deren Mitglieder ein Siedlungsgebiet teilen. Ein Stamm kann eine politische Organisationseinheit bilden (z.B. Häuptlingstümer), in der Regel fehlt ihm jedoch eine politische und rechtliche Zentralautorität; man spricht dann von akephalen oder segmentären Gesellschaften. Charakteristisch für den Stamm ist das Wir-Gefühl seiner Mitglieder; er bildet vielfach den Rahmen für
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Anton Quack
religiöse Riten und Feiern. Mehrere Stämme können sich lweck- und zielgerichtct zu Konföderationen zusammenschließen, die meist zeitlich eng befristet sind. ' Über die Nützlichkeit und Brauchbarkeit der Begriffe "Stamm", "SIammesgesellschaften" , "Stammesreligionen" usw. lässt sich bei Ethnologen keine Einmütigkeit feststellen. Während an einer Stelle z.B. ein wenig apodiktisch dekretiert wird: ,.Der Begriff .Stamm' ist nach unserem heutigen Sprachempfinden untragbar"',2 urteilen andere Kollegen zurückhaltender. Man lässt etwa den Begriff durchaus gelten; zum einen sei der Begriff "StammesgeseUschaften" wertnculraleT als andere Termini. zum anderen verweise er ..auf die große Bedeutung. die der realen oder auch fiktiven verwandtschaftlichen Zugehörigkeit als Grundlage sozialer Organisation in nicht-staatlichen Gesellschaften zukommt".) Doch die meisten der einschlägigen Einführungs- und Nachschlagewerke enthalten sich jeglicher wertender Kommentierung: allenfalls schließt man sich E. W. Müller an. der lapidar festhält: ..Der Gebrauch dieses Terminus ist in der Ethnosoziologie uneinheitl ich'·.4 Eine gewisse Unschärfe ist dem Begriff ..Stamm" freilich nicht abzusprechen. Doch cr hat nicht den pejorativen Beigeschmack, der dem englischen und fran1.Ösischen Äquivalent tribe b1.w. Irihu zugcscllricbcn wird. In jedem Falle z.iehe ich die Begriffe .,Stammeskulturen, Stammesgesellschaften, Stammesreligionen" Begriffen wie "Naturvölker", ,.schriftlose Völker" ooer gar ..Primitivkulturen" .~ "ethnische Religionen" ...Elementarreligionen" usw. vor. Wenn hier also von Stammeskulturen die Rede ist. im Gegensatz zu Wellkul~ luren, gehl es um die Denk- und Lebensweise der Menschen eines Stammes. Was Stammeskulturen von anderen. komplizierteren kulturellen Organisationsfonnen abhebt und sie eigentlich charakterisiert, ist ihre relativ große Geschlossenheit. ist die Tatsache, dass bei ihnen Kultur und Religion dem Umfang nach deckungsgleich sind. Kultur und Religion und ihr Verhaltenskooex sind allen Mitgliedern einer solchen kulturellen Gruppe gemeinsam, in der Regel jedenfalls. Und wenn von Religion oder Gesellschaft einer Stammeskultur die Rede ist. geht es immer auch um Fragen der Wertordnung, "Kultur" sei hier in einem weiten Sinn verstanden. 6 Dieser holistische, umfassende Kulturbegriff der Ethnologie unterscheidet sich von dem engeren. wie er dem landläufigen Sprachgebrauch eigen ist. Man denkt bei letzterem eher an ..geistige Kultur, Geistesleben", etwa im Sinne der deutschen Umgangssprache.
A. Quack. Stamm. In: LThKl, Bd. 9; 920-921. Freiburg 2000; Quack. A.. Heiler. Hexer und Schamanen. DarmstadI2004. IIL 1 F.J. Thiel. Grundbegriffe der Ethnologie. Berlin 1992, 86. l K.H. Kohl, Ethnologie. München 1993,25 . • E.W. Müller, Stamm. In: W. Bemsdorf (Hg.). Wörterbuch der Soziologie. Stuugart 1969. 1121 f. S Vgl. W. Duprt, Kultur und Ethos. Zum Problem der Sittlichkeit in Primitivkulturen. In: CH. Ratschow (Hg). Ethik der Religionen. Ein Handbuch. Stuttgart 1980, 79-176. • A. Quack. Inkulluration und Synkretismus. Religionscthnologische Anmerkungen. Theologie der Gegenwart 36. 1993. 134-145. I
Ethos der Stammeskulturen
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und assoziiert damit Begriffe wie Bildung, Erziehung, Literatur, Kunst, das Schöngeistige. Kultur in diesem Verständnis umfasst also all das, und nur das, was sich im Feuilleton einer Zeitung wiederfindet. So lässt sich von höherer und niederer Kultur reden, von Kulturgesellschaften gegenüber Naturgesellschaften; so kann man sagen, jemand habe Kultur oder jemand habe keine Kultur. Natürlich wurde über diesen zentralen Begriff der Ethnologie. der Kultur\vissenschafl par excellence, immer diskutiert, und Einheitlichkeit wird es auch in dieser Frage sicherlich nie geben. Doch würde man heute bei Ethnologen wahrscheinlich große Übereinstimmung für folgende Definition finden: Kultur ist das erworbene und mit anderen geteilte Wissen, das Menschen dazu dient. ihre Erfah* rungen zu interpretieren und gesellschaftliches Verhalten zu bestimmen. Kultur wäre demnach, kurt gesagt, der einer Gruppe gemeinsame geistige Horizont, der ihr Handeln bestimmt: die Denk- und Lebensweise einer Gruppe von Menschen, der "way of life" und seine Dokumente und Ergebnisse. alle Eigenarten und Besonderheiten, die einem an einem fremden Volk auffallen. Kuhur ist den Mcnschen nicht angeboren, sie wird durch Sozialisation odcr Enkulturation crworben. Man wächst in eine Kultur hinein. Der Begriff KulIOr umfasst also: Sprache. Philosophie. Religion, Weltanschauung, Riten, Werte, Vorurteile. JX>litische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Verhaltensweisen. technische Fertigkeiten usw. Kultur. so verstanden. kann nicht, entgegen der Metapher von der kulturellen Einkleidung, wie ein Kleidungsstück angezogen und bei Bedarf abgelegt werden. Kultur ist wesentlich dynamisch und der geschichtlichen Entwicklung unterworfen. sie ist offen für Veränderungen und Einflüsse von außen. Das erschwert natürlich ihre Erforschung und Untersuchung, wie sie der Ethnologie obliegt. Da Kultur eine komplexe Einheit ist. in der alle Elemente zusammenhängen und zusammenwirken, ist es unmöglich, einen Teil herauszulösen und isoliert zu verändern. ohne dass dies Auswirkungen auf das gesamte System hat. Ändert sich ein Teil. hat das Auswirkungen auf alle anderen Teile der Kultur, etwa auch auf ihr Ethos. Legt man den umfassenden. ganzheitlichen Kulturbegriff der Ethnologie zu Grunde. muss ..Religion" verstanden werden als Teil der Kultur. als ein Aspekt, der in allen Bereichen der Kultur gefunden werden kann. Was für die Definitionen von Kultur gilt, gilt auch für die Definitionen von Religion. Es gibt fast soviele Definitionen von Religion, wie es Leute gibt, die über Religion nachdenken und schreiben. Gelegentlich wird zwischen "substantiellen" und "funktionalistischen" Definitionen von Religion unterschieden. Erstere sagen, was Religion ist, letztere sagen, was Religion leistet. was ihr Sinn ist.' Die folgende Begriffsbestimmung versucht
G. Kehrer. Definitionen der Religion. In: H. CancikJB. GladigowlK.-H. Kohl (Hg.). Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe. Stuttgart 1998. Bd. 4; 418-425. 1
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AnIon Quack
einen Mittelweg,' sie fasst beide Aspekte von Religion zusammen: darüberhinaus wird auf die emotionelle Dimension religiösen Verhaltens hingewiesen: Religion umfass!: Glaubensvorslcllungen und -überzeugungen: die darauf auf· bauenden Verhaltensweisen (Kult. Riten); Verhaltensnormen; Gefühle.
Also: I) Vorstellungen zur Erklärung von Phänomenen und Erfahrungen der Wirklichkeit, deren Existenz durch Methoden der sog. exakten Wissenschaft nicht
nachweisbar iSI - ein System von Glaubellsvorstellllllgell also. Glaube an übermenschliche Wesen undloder Mächte. Die Lebenserfahrung einer Gruppe. vorhandene kulturelle Strukturen, wie z.B. das politische und soziale Geflige. wirken auf diese Vorstellungen ein. Diese Vorstellungen dienen ihrerseits zur ErkHirung der Umwelt und ihrer Entstehung. sowie zur Ordnung der sozialen Beziehungen und empfangener Eindrücke. 2) Den Killt. die Riten. in denen Menschen Beziehungen zu übennenschlichen Wesen aufnehmen. sei es um auf das Einwirken dieser Mächte in den menschlichen Bereich zu rC
Die in Klammem gesetzten Wörter (aus Israel) sind signifikant und wa· ren daher ofl ein Grund ruf antijüdische Vorwürfe. In den jeweiligen Kontexten treffen aber beide Varianten sachlich zu. Im Rahmen schöpfungstheologischer Thematik kommt die Menschheit ins Blickfeld. und diese uni ....crsalistische Deutung wird von modernen. liberalen Autoren energisch verfochtcn:l! aber auch von orthodoxen Rabbinern vertreten. So verteidigte ein rriiherer,langjähriger MilitärChefrabbiner Israels nachdrücklich die kürzere Lesart und bezeichnete sie rUf seine - lange Zeit als maßgeblich geltenden - halakischen Entscheidungen als grundlegend.~3
Im Rahmen traditioneller heilsgeschichtlicher Betrachtung gelten die WeItvölker allerdings als geradezu irrelevant. daher braucht man sie nicht zu missionieren und auch nicht pauschal einer Verdammnis zu überantworten. man kann sie prinzipiell ihrer geschichtlichen Eigenverantwortlichkeit überlassen. Sie tr'Jgen zum Fortschritt der Heilsgeschichte ja nur insofern positiv bei. als sie Israel bei seiner Erfüllung der Erwählungs;:lufgabc nicht behindern und im besten Fall fördern. Die negativen Erfahrungen mit der jeweils herrschenden Macht. mit einzelnen feindlichen Völkern und Personen während einer langen Diasporageschichte. lassen die Völkerwelt aber als heilsgeschichtlich sehr wohl relevant erscheinen: und im Extrem werden sie als Teil goufeindlicher Mächte empfunden. die in der Endzeit durch Gou und sein Volk eben Uberwunden werden mUssen. Die Verfasser der jü· dischen Traditionsliteratur waren sich dieser exponierten Position als Israel unter den WellVölkern stets bewusst und forderten. die so provozierten Konfrontationen als Preis flir die Erwählung und Gott zuliebe in Kauf zu nehmen und Leiden um Gottes willen gern zu ertragen. bis die messianische Herrschaft eintritt. und auch dabei ist sowohl die kollektive Leiderfahrung'" wie das individuelle Leid als Israelit miteinander verwoben:~s ., Siehe mSanh IV.5 und die Kommenlaredazu. Vgl. Abot de-R. NatanA.IlI; XXXI; B XXXVI; bBB Ila; bSanh 37a: NumR XXIII.6; LamR 11.40; IV.16: KohR X: Tanch.B mSJ iv: Tanch. fflS] v: Midrasch Mishle I u.6. 41 R. Gradwohl, ..Wer einen einzigen Menschen (am Leben) erhllll. erhält eine volle Weil". Des Menschen Gottebenbildliehkeit in der jOdischen Lehre. in: Malhys. (Hg.). Ebenbild 1998. 107-122. ' l S. Goren. Mdib milhamah. Bd. I Jerusalem 1982/3. 3: ..Ohne Zweifel ist das menschliche Leben der höchstc Wert in der Torah Israels. in der Halakah und nach der Ethik der Prophctcn. und zwar ist nicht bloß vom Leben eines Israelilen die Rede. sondern vom Leben eines jeden Menschen. der im Bilde Gones geschaffen worden ist. Und wenn es in der Mischna von bSanh 37a heißt: Es l4'urd~ gnilgt: darum l4'urd~ d~r M~nsch~" als ~i"zjg(art)ig~r uschuff~". um dich so :.u l~hn". daß ~;n~m ~d~m. du dn M~nsch~nl~bt!naus Israd \'~rnichln. di~ Schrift ~s annchn~t. als hii,,~ ~r ~;,,~ ganu "~1I ~'~rnichl~t, und ~d~m. d~r ~in Mensch~n/~bt!n aus Israd erhii/t. die Schrift es anr~chn~l. als hii,,~ ~r dn~ gunt.~ "~/t uhulten. so hat doch die Handschrift Leiden des Jeru~lmi das Wen aus Israd nichl und es findet sich auch in Babli-Handschriften derGenizah von Sanhedrin nicht. Und auch der RMB"M in HilkÖl Sanhcdrin XII.3 gibt den Wortlaut der Mischna ohne aus Isra~1 wieder.... Das bedeulet: es gibt keinen Unterschied zwischen einem Menschenlc:ben aus Israel und anderen Menschenleben.....• ... A.L. Mintz. Human_ Responses to Suffering in Hebrew Literature. 1984. &J S. Catmy (Hg.). Jewish Perspectives on Ihc ~perience of Suffering. Nenhvale_ NJ 1999:
Ethos des Judentums
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Die Lebensbewahrung hat sogar Vorrang vorGebotserfüllungen, Lebensgefahr verdrängt z.B. das Gebot der Arbeitsruhe am Sabbat. Auch hier kommt die erwählungslheologisch bedingte Einschränkung zum Zug. denn dieses Torahgebot gilt wie die ganze Torah nur für Israel. Ob man am Sabbat auch einen Nichtjuden reuen soll oder nicht reuen darf, stellte sich als rechtliches wie ethisches Problem. Streng urteilende Autoritäten entschieden negativ, andere suchten einen Kompromiss. Manchmal mit dem ausdrücklichen Verweis auf die Auswirkungen auf das Ansehen in der Umwelt und damit auch Gottes. Denn im Blick aufGottesAnsehen kann eine strikte Verweigerung ja eine öffentliche Entweihung des Namens (GOIles) bedeuten. Diese Bandbreite der Argumentation wird Z.B. in der Gegenwart im Fall der Frage sichtbar,ob im Kriegsfall am Sabbat außer den eigenen Verwundeten auch feindliche Verwundete versorgt werden dürfen. Oie Mehrheit der Militärrabbiner richtete sich nach schöpfungslheologischen Gesichtspunkten,46 aber manche Autoren bestehen auf dem Vorrang des Sabbat-Ruhegebots und wollen eine lebensrenende Maßnahme prinzipiell nur bei eigenen Leuten zulassen. gestatten sie jedoch auch bei Feinden aus Rücksicht auf die öffentliche Meinung. 47 Das Verbol der Arbeit am Sabbal iSI ein konkreter Problemfall, und er iSI nicht der einzige. denn wie in jedem Gruppcnrccht wird zwischen Angehörigen der eigenen Gruppe bzw. Staatsbürgern und Fremden sowohl in strafrechtlichen wie zivilrechtlichen Belangen oft differenziert. Das ist keine jüdische Besonderheit und selbst heute noch enthält jedes staatliche Recht in seiner Geltung für StaatsbürgerRelikledesGruppenrechts und entspricht somit nicht dem Prinzip "gleiches Recht für alle". Hinsichtlich der Einschätzung des menschlichen Lebens enthält die biblischjüdische Tradition jedoch zwei maßgebliche Punkte. Zum einen wird das Blut allgemein als Sitz des Lebens und die Verfügungsgewalt über Leben und Tod als göttliches Privileg veTSlanden, was zwei gesetzliche Konsequenzen halte: Ein Blutgenussverbot und ein Verbot des Blutvergießens. Beide Verbote sind nicht bloß für Israel (als Torahgebote) verbindlich. für das im Dekalog auch noch das
L.G. Seligson. Yissurim: A blessing in disguise. Southfield, Mi., 2000; J.D. Soloveitchik, Out ofthe Whirlwind. Essays on Mourning. Suffering an
rödef. in: M. Arad (Hg.). 'obarjanilt O-se\ijah
häbratit. Ramat Gan 200 1/2. 215-249. '-' J. Maier. Berechtigung und Grenzen der Notwehr und Selbstverteidigung im jüdischen Recht. in: M. Perani (Hg.). The Words of a Wisc Man's Mouth are Grneious. Festschrift forGünter Stemberger on lhe Occasion of his 65 111 Binhday. Berlin 2005. 333-384. )0 N. Ben-Yehuda, Polilical Assassinations by Jews. A rhclorical deviee for juslice. Albany. NJ 1993. "R.O. Freedman. The Growth ofPolilical Violenee in Israel. An unwelcome legacy ofthe Begin era. ReconSlructionist 49/4. 1984. 17-20; R. Gradwohl. !sI Fanatismus im Judentum vertretbar? Neue Zürcher ZeilUng 13.12.1984: R.R. Kimelman. Tomh against Terror: Does Jewish Law SarlClion lhe Vengeance of Modem-day ZeaIOls? Bnai Brilh International Jewish Monthly 99n. 1984. 16-20.22; ders.. A Jewish Underslanding of War an
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Dass solche Aktionen letztlich das jüdische Ethos selbst gefahrden, wird von vielen wahrgenommen.~7 Aber in der Frontslcllung gegen den Terror zähh für viele verantwortliche Politiker nur mehr die Unterdrückung und Ausmerzung der Feinde. Die Beseitigung der- zum Großteil selbst verschuldeten - Ursachen wird hingegen immer seltener thematisiert, und wenn, wird Kritik flugs als Provokation oder gar als Gefahrdung jüdischer Existenz bzw. der Existenz des Staates Israel abgestempelt. Dennoch rügen jüdische und auch israelische Kritiker die Verfahrensweise mit nichtjüdischen Gegnern. insbesondere Palästinensem. S8 Die Missachtung von Menschenrechten, die Verletzungen internationalen Rechts und die Ignorierung von UN-Resolutionen werden gerade auch mit Verweis auf jüdisches Ethos verurteilt. Die qualitative Differenz in der Verantwortlichkeit. die zwischen Aktionen von Terroristen und Aktionen regulärer staadicher Sicherheitskräfte besteht. wurde immer wieder hervorgehoben. Und dabei wurde von israelischen Sicherheitskräften eine dreimal so große Anzahl palästinensischer Kinder und Jugendlicher totgeschossen und ein Mehrfaches davon schwer verletz!. Das alles sind Symptome einer profunden ethischen Krise..w Eine Anzahl mutiger israelischer Offiziere und Soldaten sah sich infolgedessen zu dem höchst ungewöhnlichen Schrill veranlasst. den Dienst in den besetzten Gebieten (nicht den Dienst überhaupt!) zu verweigern: .,We. reserve combat officers and soldiers of the Israel Defense Forces. who were raised upon the principles of Zionism. sacrifice and giving to the people of Israel and to the Stare of Israel, who have always served in the front lines, and who were the first to carry OUI any mission. light or heavy. in order to protect the State of Israel and strengthen i!. We. combat officers and soldiers who have served the State of Israel for long weeks every year, in spite of lhe dear COSI to our personal lives, have been on reserve duty all over the Occupied Territories. and were issued commands and directives that had nothing to do with the security of our country. and that had the sole purpose of perpetuating our control over the Palestinian people. We. whose eyes have seen the bloody 1011 this Occupation exacts from both sides. We. who sensed how Ihe commands issued to us in the Territories. destroy all the values we had absorbed while growing up in this country. We. who understand now thatlhe price ofOccupalion is the loss of I(srael) D(efence) F(orces)'s human character and the corruption of the entire Israeli society. We. who know that the Territories Me not Israel. and that all settlements are bound to be evacuated in the end. We hereby declare that we shall not continue to fight this War ofthe Settlements. We shall not continue 10 fight beyond the 1967 borders in order to dominate. expel, starve and humiliate an emire people. We hereby declare
'1 Y. Yishai. The Jewish Terror OrganisaIons. Pasl or Future Danger?
Conflict 6. 1986.307-332:
D.C. Rapoport (Hg.). The Moralily ofTerrorism. New York 1982. " Vgt. z.B. A. Pedahzur. Halred b)' hated pcoplc: xcnophobia in Israel. $ludies in Conflict & Tcrrorism 2212.1999,101-117. '" O. Ben-Naftali. Living in Dcnial: thc applicalion of human fights in the occupicd lerritorics. Israel Law Review 37. 2003-2004. 17-118.
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thai we shall continue serving in the Israel Defense Forces in any mission thai serves Israel's defense. The missions oloccupation ond oppression do not sene this purpose - ond we shnll take 110 part ill fhem. " Dieser eindrucksvoll fonnulierter Protest, ein grundlegendes Dokument jüdischen Ethos der Gegenwart. hat aber wenig Beifall gefunden. In erster Linie wegen dem propagandistisch aufgezäumten Bedrohungsszenarium. mit dem eine extreme otwehrsituation postuliert wird. so dass schon eine solche TeilDienstverweigerung in das denkbar schlechteste Licht gerät. Aber auch außerhalb blieb das positive Echo verhalten. und zwar kennzeichnender Weise gerade dort. wo man aus konkreten historischen Gründen eine unkritische Gehorsamhaltung ansonsten (zumindest rhetorisch einmal jährlich zu bestimmten Gedenktagen) pathetisch zu verurteilen und Widerstand zu loben pflegt. Man verzichtet schon seit geraumer Zeit gegenüber jüdischen bzw. israelischen Sachverhalten auf die Anwendung gleicher ethischer Maßstäbe. und das aus zwei Gründen: Einmal wegen der harschen, religiös-ethisch begründeten Kritik jener. die das Judentum (Israel) wie in alten Zeilen nur als Gouesvolk werten und daher religiös-ethischen Beurteilungen unterwerfen. die der komplexen Realitiit der jOd ischen Exislenz von heule nichl entsprechen und darum ausgesprochen einseitig ausfallen. Zum andem. weil sachliche Kritik sehr rasch als Manifestation eines neuerlich akuten Antisemitismus gebrandmarkt wird. Hauptursache dieses Moral- und Rechtsverzichts. der übrigens der (einmal sehr starken) Friedensbewegung in Israel 60 und den jüdischen und israelischen Menschenrechtsorganisationen in den Rücken fallt. ist eine mit allerlei Zwängen befrachtete machtpolitische Konstellation und mit ihr die geradezu bedingungslose Unterstützung Israels. vor allem durch die Regierungen der USA und Deutschlands. Diese Konstellation wird sich in absehbarer Zeit kaum ändern. da weiterreichende strategische Zielsetzungen im Nahen und Miuleren Orient mitspielen. nämlich die Kontrolle über die Erdö)reserven und ein Glacis gegenüber der aufstrebenden Wirtschaflsmacht China, die als Bedrohung der Vonnachtstellung der USA gesehen wird. Seit den Attentaten am 11. Sept. 200 1 in den USA hat sich ein Begriff des Terrorismus durchgesetzt. der die Grenzen zwischen KriegsreCht. Notstandsrechl und Strafrecht verwischt. eigene Aggressionen als Not wehr hinstellt. zwischen den Begriffen Gegner, Feind und Verbrecher nicht mehr unterscheidet, und Menschen und Völker einfach in Gute und Schurken bzw. Terrorislen einteilt. denen man weder den Status von Kriegsgefangegen zuerkennt. noch eine nonnale Behandlung als Straftäter zugesteht - und das in ekJatantem Widerspruch zum eigenen staatlichen und zum internationalen Recht. Auch innerhalb der Judenheit hat sich unter diesem weltpolitischen Vorzeichen die oben skizzierte Tendenz zur erweiterten Anwendung des rMel- Prinzips verstärkt. und ein ..Terrorist" gilt natürlich als ein .. rOde]". dessen vorsorgliche TÖlung als gerechtfertigt erscheint. Die in der letzten Zeit völlig offen prak'tizierten. geOll
D. Hall-Cathala. The Peace-Movement in Israel. 1967-87.london 1990.
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ziehen Ennordungen palästinensischer Politiker und Widerstandskämpfer werden als Maßnahmen berechtigter Selbstverteidigung im Rahmen einer Kampfsituation ausgegeben und jeder strafrechtlichen Beurteilung entzogen. Zusätzlich erhielt diese offiziell als Terroristcnbekämpfung begründete vorsorgliche Tötung die religiöse Dimension der unumgänglichen Pflicht zur Bewahrung jüdischen Lebens und des gebotenen Verhaltens gegenüber den "Feinden Gottes". In den Augen der Fundamentalisten handelt es sich überhaupt um einen endzeitlichen Kampf gegen gleichermaßen israclfeindliche wie goufeindliche Mächte. Man hört derzeit viel über islamischen Fundamentalismus bzw...Islamismus", aber kaum etwas über jüdischen Fundamelllalismus und das Wirken militanter jüdischer Organisationen; und viel zu wenig über viele Millionen .,christlicher'· Fundamcntalistcn in den USA, die diesen Endzeitkampf im sogenannten Heiligen Land mittragen, finanziell massiv unterstützen und in Washington politisch erfolgreich verfechten. Allerdings mit der für Juden eigentlich recht befremdlichen Erwartung. dass mit der Verfügung über das ganze Land Israel zwar dcr Messias erscheinen werde. aber mit dem für das Volk Israel überraschenden Ergebnis. dass der Messias der Juden mit dem wiederkehrenden Christus identisch sein und die Bekehrung der Juden einleiten werde. In denselben Zusammenhang gehört die Zerstörung tausender von Häusem durch israelische Sicherheitskräfte. sei es als Strafmaßnahme gegen Familien von Attentätern. sei es unter dem Vorwand, es läge keine Baubewilligung vor; ein Verfahren. das neuerdings ganz massiv im arabischen Teil Jerusalems und im Gebiet östlich von Jerusalem angewandt wird. um die dortigen Siedlungen mit der Stadt zu vereinen. Hier geht es um Maßnahmen mit dem Ziel einer ethnischen Säuberung aller Gebiete. die als Land Israel angesehen werden. Der religiöse Anspruch auf das Land wird nämlich weithin zu einem nationalen und politisch nicht hinterfragbaren Anliegen umgedeutet. Einen beklemmend dunklen Punkt in der biblischen Überlieferung stellt der gougebotene Genozid an den "sieben Völkem" des Landes Kanaan dar, ein viel umstrittenes Thema. das hier jedoch insofem belanglos ist. als das jüdische Recht darin eine historisch erledigte Angelegenheit und keine aktuelle Verpflichtung erblickt. Eine Ausnahme bildet allerdings ,.Amalek" als Inbegriff der Israelund Gottesfeindschaft zugleich. Amalek. ein Esau-Nachkomme. hat sich laut Ex 17,8-16 nach dem Exodus aus Ägypten dem Volk Israel in der Wüste als erster und besonders grausamer Feind entgegengestellt. In der Folge wurde Amalek zur Bezeichnung des jeweils ärgsten Feindes der Juden. Der böse ..Agagiter" Haman im Esterbuch gilt z.B. als Amalekiter. Zuletzt wurde die Chiffre auch auf das nationalsozialistische Deutschland angewendet,61 und neuerdings taucht es im Zusammenhang mit Palästinensern und Arabern auf. Diese Anwendung im Kontext der aktuellen politisch-militärischen Konfrontation erschien einem prominenten Vgl. dazu etwa S. ßoylan. A Halakhic Perspcctive on the Holocaust. in: ß.H. Rosenbcrg (Hg.) Theological and lialakhic Rcflcctions on the Holocaust. New York 1992. 195-214. .1
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Reformrabbiner und Professor schon vor Jahren als höchst bedenklich und er sah darin eine Gefahr für das Judentum selbst. 62 Dass es sich um ein besonders empfindliches Hühnerauge handelte. zeigte sich in den allergischen Reaktionen auf eine - stellenweise in der Tat nicht glücklich formulierte - Studie eines skandinavischen Theologen,6l dem flugs das Etikett "antisemitisch" angeheftet wurde. Immerhin wurde so das Thema ein Diskussionsgegenstand. 6oI DieethischeProblemalik besteht in der intensiven Verankerung des Konzepts in heilsgeschichtstheogischen Traditionen. wobei die Kategorien "Gut" und "Böse" eine maßgebliche Rolle spielen. Man kann das an einer Passage eines recht umfangreichen und militanten Buches nachvollziehen. dessen Verfasser die religiösethische Begründung in etwa so zusammenfasst: Die Liebe zu Gott äußert sich auf der Basis einer festen Werteskala. Diese Liebe verpflichtet gleichzeitig, ein Feind der gegenteiligen Werte zu sein. "so zicht die Verhaltensweise der Wert· schätzung der Kraft des Guten den Hass und die Verachtung für die Kraft des Bösen nach sich. und wäre dieser Hass nicht vorhanden. ergäbe sich ein Mangel an der Vollkommenheit der Liebe gegenüber dem positiv Gewerteten. Und aus diesem Grund sagten wir auf Grund der Voraussetzung.. Freunde (Liebende) des HERRN' zu sein. dass es verpflichtend ist. Hasser von Bösem zu sein, denn aus jener Verhahensweise der Wertschätzung und der Anerkennung der Erhabenheit des HERRN folgt notwendigerweise Verachtung und Entweihung gegenüber der Kraft des Bösen. Und dies bedeutet das Gebot der Torah, Amalek zu hassen ... denn es gibt keine bösere Macht als ihn. und so bezeugt es die Torah in bezug auf Ihn: Der Name ist "icht vollkommen und der Thron ist niclu vollkommen, solange nicht getilgt wird der Same Amaleks insgesamt. Und entsprechend der Verpflichtung. Freunde des HERRN hassen Böses. befahl die Torah zwei Gebote: Denke daran. was Amalek dir angetan. und Tilge das Andenken Amaleks. Denn die Form des Hasses verteilt sich auf zwei Anliegen: I. Hass im Herzen - Denke daran. was Amalek dirangetall; 2. Hass in der Tat- Tilge das Andenken Amaleks.'· 65 Es handelt sich nicht nur um die Meinung eines Einzelnen. und was es in der Realität bedeuten kann. wurde selbst der - schon längst nicht mehr liberalen - Zeitung ,.Jerusalem Post" kJar. als ein bestimmter Militärrabbiner die Konsequenzen im Klartext formuliertc. 66 Ein weiterer Aspekt ist alarmierend. 1m biblisch-jüdischen Strafrecht und Rechtswesen hat die Folter keinen Platz, ein höchst beachtenswerter CharakterJ J. PelUehowski. Thinking in Our Anceslor's Categories. Judaism 32. 1983. 196-204. fOJ N. Mar101a, Amalek i Halaka. Nordisk Judaistik. Scandinavian Jewish SlUdies 15. 1994. 1-24. M A. Sagi. The Punishment of Amalek in Jewish Tradilion. HThR 87. 1994.323-346: Schuil. Auke. Amalek. Onderzoek naar oorsproong cn onlwikkeling van Amaleks rol in hel Oude Teslamenl. Zoetermeer 1997. ~ A. Ben-Hayyim. Sefar re'~it gojim' Amaleq. Jerusalem 1993. 341. 60 Laul Jerusalem POSt vom 8.05.1986 kam es wegen einer Aussendung des damaligen Militäroberrabbiners rurdie beselzten Gebiete zu einem Ekla!. ..The Arm)' spokesman has no comment to offer on the injuoclion issued 10 the lroops b)' Ihe chief army chaplan in Ihe occupied lerrilories. tJ
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zug. der in der christlichen Rechtstradition Europas unbegreiflicher Weise schon früh missachtet worden ist. Im Kampf israelischer Sicherheitskräfte gegen den Terror des palästinensischen Widerstandes sind Praktiken eingerissen, die eine erregte Diskussion über unkontroUierte Inhaftierungen und über Fohermethoden zur Erlangung von Informationen nach sich gezogen haben. und zwar nicht nur auf Grund der aJlgemeinen Menschrechte, sondern gerade auch des jüdischen Rechts. 61 Ein anderer Gesichtspunkt in diesem Zusammenhang ist die Nonwendigkeit. auf der Gegenseite möglichst viele Informanten zu haben. dje gegenüber ihren palästinensichen Mitbürgern aJsodas begehen. was im jüdischen Recht dem maser (Denunzianten) als schweres Vergehen. als Volksverrat angelastet wird. 61 Diese recht variablen und widersprüchlichen Wertungen des menschlichen Lebens. von grundlegenden schöpfungstheologischen über verengende heilsgeschichtstheologische Sicht weisen bis zu extremen nationalistischen und fundamentalistischen Auswüchsen. bilden die heikelste Problemzone der aktuellen jüdischen Elhik. Die innerjüdischen Standpunkte sind diesbezüglich weithin unvereinbar. Wie schwierig die Lage und das ethische Dilemma ist. kann auch an der deutschsprachigen Publikation zweier gegensätzlicher rabbinischer Stellungnahmen zum Problem der vorsorglichen Tötung nachvollzogen werden. Ein Refonnrabbiner verurteilt diese Maßnahmen kategorisch. ein anderer Rabbiner gelangt nach offensichtlich schwieriger Güterabwägung zu einer bedingten Zustimmung. 69
Themen der Bioelhik Von den schöpfungstheologischen Voraussetzungen her begründet. haben bioemische Themen zur Zeit in jüdischen Publikationen einen weiten Raum eingenommen und in diesem Rahmen wurden gewichtige Beiträge zur inlemationalen wissenschaftlichen Diskussion geleistet. 1O Besonders faszinierend ist dabei. wie I... Ito extenninale alliauer-day Amaleldles. (...1His two-monlh-old. four page missive jusl eorne to light. is the mosl odious and nauseous e:<pression ofzoologieal racism to ha\'e surfaced in this country far a long while. if ever. It alone would justify the immediate enaclment of an anli-racism law without any exception being allowed for rabbinicaltcachings. (... 111 is - at Icast it should be considercd - an insuffer.tble affront to Israd's honour and to thc Jewish Pcoplc's herilage." n F. Langer. Thc Historyoflhe Legal Strugglc against Tonure. in: N. Gordon Neve (Hg.). Tonurc. Human Right. Medieal Elhics and the ease of Israel. LondonITcl Aviv 1995.75-80: M. Krcmnitl.cr. Tne Legality of Interrogational Tonurc: a queslion of proper aUihorization or a subslantive moral issue? Israel Law Review 34. 2000. 509-559. .. H. Cohen. Human Righl$ Dilemmas in Using Informers 10 Combal Terrorism: lhc IsraeliPilleslinian case. Terrorism anti Polilieal VtQlence 17.1-2, 2005. 229-243. .. Jüdische Allgemeine vom4.11.2003: Nahostgespräch: Mord oder Mizwa? Darf Israel potenltelle Attentäter liquidieren? Pro: Rabbiner Yuval Cherlow: Tölen um des Lebens willen. Contra: Rabbiner Michael Lerner: Akt der Barbarei. • Siehe aus der lelzten Zeit elwa: F. Rosner/J.D. Bleich (Hg.). Jewish Bioethics. New Yor\: 1979: Y. Nordmann. Zwischen Leben und Tod_ Aspekte der jüdischen Medil.inethik. Bem-Fnlnkfun a.M. 12000: E.N. Dorff. MauersofLife and Death. Jewish MedieaJ Ethies. Philadelphia 1998: J.D. Bleich. Bio-Ethical Dilemmas. A Jewish perspeclive. Hoboken. NJ 1998: A. Steinberg. Eocyklopedia of Jewish Medical Ethies. Bd. 1-111. Jerusalem 2<XH.
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in orthodoxen Kreisen die traditionelle Halakah laufend und effektiv dem aktuellen Stand der technischen und naturwissenschaftlichen Entwicklung angepasst wird. l1 Das heißt aber nicht, dass im Staat Israel etwa der Naturschutz ein hochrangiges Anliegen wäre. denn auch hier erweist sich die crwählungstheologische Zuspitzung als wirksam: Es geht in erster Linie um das Land Israel. dessen Eroberung und Besiedlung, nicht um Umwelt. Auch in bioethischen Fragen kommt häufig die Relevanz für Israel als Erwählungskollektiv als Maßstab zum Tragen und erst in zweiter Linie Recht und Würde des Individuums. Irritierend wirkt in dem Zusammenhang das aktuelle Interesse an der Gen-Forschung mit den Bemühungen, bei Juden aus möglichst allen Teilen der Diaspora gleiche Merkmale nachzuweisen. 12
Der Einzelne ""d die Familie Die Gestaltung des jüdischen Lebens von der Geburt bis zum Tod wird durch vielerlei überkommene Bräuche. vor allem aber durch die Halakah und durch eine Vielfalt ethischer Richtlinien bestimmt. 7J Das erste Gebot in der Bibel erging Jaul Gen 1.28 an das erste Menschenpaar: ..Seid fruchtbar und mehret euch". Aber die Tradition sah darin keines der sieben ,.noachidischen Gebote". also kein allgemein·menschliches Gebot. sondern ein Gebot für Israeliten. genauer: für den israe· litischen Mann. mindestens einen Sohn und eine Tochter zu zeugen. Für ..Singles" bietet dies keinen Raum. der Mann muss ein HallS i" Israel gründen; und dieser Umstand wirkt sich demographisch zugunsten der Orthodoxie aus, denn sie wächst mit hohen Geburtenraten. während die liberalen Kreise eher schrumpfen. Auf die Frau und speziell die alleinstehende Frau bezogen geraten daher andere Maßstäbe zur Anwendung. die einer modemen Sichtweisc näher kommen. Aus dieser aufden Mann bezogenen Sicht kann Geburtenkontrolle nur bedingt gut geheißen werden. 14 Und eine Abtreibung wird nur in Fällen äußerster Gefahr toleriert. u Im Vergleich mit vielen nichtjüdischen Positionen gewährt jedoch die jüdische Beurteilung des
Instruktiv für diese Bemühungen sind die Beiträge in PAOJS (Proceedings ofthe Association of Onhodox Jewish Scientists. I. 1966 me.). n J. Greene·Hamilton. The Use of Genetie Markers in Oriental Jewish Historieal Studies. JQR 62. 197112.288-313: A.E. MourantlA. KopetfK. Domaniewska-Sobczak (Hg.). The Geneties of the Jews. Oxford 1978: Roychoudhury. A. K.. Genetic Distancc between Jews and Non-Jews of Foor Regions. Human Hercdity 3214. 1982. 259-263: A.A. Bonne-Tamir (Hg.). Gcnctie Divenity among Jews. Diseases and Markers at the DNA Level. New York 1992. Allgemeiner und noch ohne Ergebnisse der Genforschung: Landmann. Salcia. Die Juden als Rasse. Wiesbaden J1981. 7l M. Lamm. The Jewish Way of Death and Mouming. New York 1969: '1981: San Francisco 1982: L.M. Rochelle. Women. Binh. and Death in Jewish Law and Practice. Hanover. NE 2004. 7' D.M. Feldman. Binh Control in Jewish Law. Marital relations. eontraception and abonion as set fonh in the c1assic texts of Jewish law. New Vor\: 1968: Westpon. Conn. 1980: Nonhvale. NJ 1998: M.D. Tendler. Population Control: The Jewish View. in: F. Rosnerl J.D. Bleich. (Hg.). Jewish Bioelhics. New York 1979. 59-79: G. Ellinson. Natural Family Planning as Refleclcd in Contcmporary Rabbinic Responsa. Journal of Semitic Studies 46. 1984. 51-60. 75 D. Schiff. Abortion in Judaism. Cambridge 2002 (mit weiteren LileTaturangaben). 11
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Fötus einen erweiterten Entscheidungsraum. 76 Eine künstliche Befruchtung soll nur mit dem Sperma des Partners erfolgen, obschon die Zugehörigkeit zu Israel ansonsten durch die Abstammung von einer jüdischen Mutter definiert wird.T Hier kommen jedoch auch religiös-spekulative Vorstellungen mit ins Spiel. 78 Alles in allem sucht man die genealogische Kontinuität auch mit allen verfügbaren medizinischen Mitteln zu gewährleisten. 79 Das Emos der tradilonellen jüdischen Familie llO ist durch die Aufgabe der Erziehung zur Torah geprägt, was vorrangig die männlichen Mitglieder betrifft. die ja auch allein als voll kultfahig gelten; ein Prinzip, das in reformjüdischen und konservativen Kreisen nicht mehr aufrechterhalten wird. Die Sexualmoral fügt sich in den Rahmen der Erwählungsaufgabe ein: Es gilt vor allem, die genealogische Kontinuität der Erwählungsgemeinschaft zu sichern. die moralische und rituelle ..Reinheit" zu wahren: und das heißt konkret vor allem auch, nicht mit Nichtjuden intime Kontakte zu pflegen.' 1 Aber auch im Judentum treffen solche Restriktionen vor allem die Frau. ihr Ehebruch wird in jedem Fall strafrechtlich geahndet. beim Mann nicht der Bruch der eigenen Ehe, sondern nur der Verkehr mit der Frau eines anderen Juden. Der Verkehr mit einer Nichtjüdin wird zwar moralisch verurteilt. was auch in der despektierlichen Bezeichnung ,.Schikse" (von hebräisch Iiqqüf. ..Gräuel") zum Ausdruck kommt;'2 aber selbst ein Ehe, bruch mit einer verheirateten Nichtjüdin ist rechtlich irrelevant. weil nach dem Prinzip des Gruppenrechts Nichtjuden über keine jüdisch gültige Eheschließung verfügen. Vorehelicher Geschlechtsverkehr des Mannes ist wegen möglicher neo gativer Begleiterscheinungen und Folgen verpönt und soll durch eine möglichst flÜhe Eheschließung vermieden werden. Die Wertung der Jungfräulichkeit weist zwar keine religiösen Züge auf; und das uneheliche Kind einer jüdischen Mutter
,., R. Kirschner, The Halakhic Status of Ihe Fetus with Respect to Abonion, Conservalive Judaism 34/5, 1981, 3-16: D. Shnil. The Foelus as a Person under Israeli Law, in: Israel Yearbook on Human Rights 16. 1986.308-320. 71 F. Rosner. Anificial Inseminalion in Jewish Law, Judaism 19. 1970.452-464: J. Green. Anificial insemination in isracl- a legal view, Proccedings of the Association of Onhodox Jewish Seienlists 9. 1987. 213-234: M. Haiperin. Appl)'ing the Prineiples of Halakhah 10 Modem Medieine: in-vilro fcnilization. embryo transfer and frozen embryo. Proccedings of the Association of Onhodox Jewish Scienlists 8-9, 1987. 197-212: J. Green. Anifieiallnsemination in Israel. A legal view. Procccdings of the Association of Onhodox Jewish Sciemists 8-9, 1987. 212-234. 11 DJ. Lasker, Kabbalah. Halakah, and Modem Medicinc. The ease of artifieial insemination. Modem Judaism 8/1. 1988. 1-14. 79 R.V. Grau, (Hg.). Be Fruitful and Multipi)'. Fenility Thcrapy and the Jewish Tradition, Jerusalem 1994. III D. Kraemer (Hg.), The Jewish Family. Met3phor and Memory. New York 1989: S.M. Cohen. (Hg.), The Jewish Famil)'. M)'lh and Realit)', New York 1986: R. Berger. SexuaJilät. Ehe und Familienleben in der jüdischen Moralliteratur (WO-I900). Jüdische Kultur 10. Wiesbaden 2003. " M. Lamm. The Jewish Way in Love and Marriage. San Francisco 21984: J. Magonet (Hg). Jewish ExplorationsofSexuality, Providenee 1995; L.D. Solomon. ThcJewish Tradition, Sexualil)', 3nd Procreation. Lanham 2002. 1:2 C. Benvenuto, Shiksa: the gentile woman in the Jewish world, New York 2004.
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gilt als vollwertiger Israelit. de facto waren aber der Sozialdruck. das Familienprestige und das Streben nach ..reiner" Nachkommenschaft für das Verhalten entscheidend. Moderne jüdische Frauen erkennen in alledem eine verwerfliche Doppelmoral und Diskriminierung. Hinsichtlich der Sexualmoral ist auch im Judentum ein wachsender Unterschied zwischen konservativen Kreisen und anderen. ,.moderneren" zu beobachten, doch ist die Hahung orthodoxer Autoritäten trotz prinzipieller Strenge in der Praxis eher nachsichtig.1! Die Diskussion über Rolle und Status von Mann und Frau verläuft je nach religiöser und weltanschaulicher Ausrichtung äußerst kontrovers. selbst in der Orthodoxie werden divergierende Positionen vertreten.~ Aber nicht nur Feministinnen finden am herkömmlichen jüdischen Mann(e)sbild einiges auszusetzen. 15 Status und Rolle der jüdischen Frau werden von orthodoxer Seite als schöpfungstheologisch angemessen und sozial empfehlenswert angesehen. S6 In der Vergangenheit. aber leilwiese auch heute noch. ist auch oft eine idealisierende literarische Darstellungsweise anzutreffen. Von den modemen Gesichtspunkten der Menschenrechte und Gleichberechtigung aus wird jedoch dagegen Stunn gelaufen. In dcrersten Hälfte dcs 20. Jh. hat man im Geist der Zeil die jüdische Frau idealisiert und damit die problematischen Aspekte in ein milderes Lichl gerückt." Man hat die patriarchalische Grundstruktur gern durch Verweis auf die tragende Rolle der jüdischen Frau als Mutter zu neutralisieren versucht. wofLir in der Tat reichlich Belege zu finden sind." Aber dabei wird das Schicksal der ledigen und kinderlosen Frauen wenig beachtet. ebenso die schwierige Lage mittelloser geschiedener Frauen ohne familiären Hintergrund. Auch mit Hinweisen auf die unstriuige Tatsache. dass den Frauen in wohlhabenden Familien im Unterschied zu ihren zum Torahstudium und zur Beachtung aller Gebote und Verbote verpflichteten Männern sowohl wirtschaftlich wie kulturell weitreichende Freiräume
J.S. BrewcrlL. DavidmanlE.G. Avcry. Scx and t!lc Modem kwish Woman: An Annolatoo Bibliography. New York. 1986. JO D. Golinkin. Ma"'mad ha-'i~Sah ba·h'lakah. S"cIÖl ü-t'~üböl. Jerusalem 2001. ruhn ncun Varianlcn vor. U W. Rosenbcrg. Legacy of Rage: Jewish MasculinilY. Violence. and Culture. Amherst 200 I. 1m Vcrglcich dazu nicht ausreichend infonnaliv iSI R. Westheimer. Himmlische LuSI: Licbe und Sc" in der jUdischcn Kultur. Frankfun a.M. 1996. .. M. Meiseiman. Jewish Woman in Jcwish Law, The Library of Jcwish Law and Elhics 6. Ncw York 1978: S. Applcman. Tbc Jewish Woman in Judaism. Thc Significancc of Woman's Status in Rcligious Cullure. Hicksvillc. NY 1979: R. Bialc. Wornen and Jcwish Law: An cxploration of womcn's issues in halakhic SOUf"CCS. Ncw York t984: M. K..aufman. Tbc Woman in Jcwish Law and Tradition. Nonhvalc. NJ 1993. Vgl. LO. H.E. Gha!all. Tbc InvaJuablc Pearl. Tbc uniquc Slatus of wornen in Judaism. Ncw York t986: W. Ore.nslcin. Leltcrs 10 my Daughler: A Fathcr Writcs aboul Torah and thc Jcwish Woman. Nonhvalc. NJ 1996. fl Vgl. LO. N.R. l.aza.Ns. Dasjüdischc Wcib. Leipzig 1892: Berlin JI896: 't922; Frankfun a.M. 1999: A. Levi, Rebecca oder das jüdisc!lc Weib in ihrem religiÖSen Berufc, Frankfun a.M. t86I: 1 1920. • R.M. Herv.cg. Diejüdischc Multer. Das \'crborgcnc Mauiarchal. DannSladt t994195. IJ
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und Entfaltungsmöglichkeitcn offen standen, kann man das Schicksal der in ungünstigeren Verhältnissen lebenden Mehrheit nicht ausblenden.8'.l Das alles kann
aber - zumindest für die Vergangenheit - nicht als spezifisch jüdisches soziales Phänomen gelten, es handelt sich um gesellschaftsbedinglc Erscheinungen. die allerdings im Rahmen eines jüdisches Staates auch ein spezifisch jüdisches Gewicht erhalten. 90 Die Sonderstellung der Frau wird nicht zuletzt von rituellen Reinheitsvorstcllungen her begründet. Vor allem für eine durch Blutfluss ..unreine'; (Iliddah) gelten penible Separierungsrcgcln und rituelle Reinheits- und Reinigungsvorschriften, für den Abschluss ein rituelles Tauchbad in der ..Mikwe'·.91 Die Auswirkungen auf das Familienleben und auf das Selbstwertgefühl werden auch von manchen orthodoxen Frauen als psychische Negativerfahrungen und als moralisches Problem empfunden. Eine Abschaffung dieser Sonderposition scheitert aber ebenso wie eine Änderung der patriarchalischen Sozialstruktur92 in der Orthodoxie über massive religionsgesetzliche Schranken hinaus auch an grundsätzlichen. theologisch begrtindeten Widerständen. und in Kreisen mit mystisch (kabbalistisch) geprägter Frömmigkeit sogar an theosophisch begrtindeten Bedenken. Die in dieser Hinsicht im Reformjudentum und konservativem Judentum durchgcführtcn Reformen hatten auch religiös-institutionell weitreichende Konsequenzen. 93 nämlich die volle Ku Itfahigkeit der Frau. die gleichberechtigte GOllesdienslteilnahme und dic heftig umstrittene Ordination von Rabbinerinnen in refonnjüdischen und konservativen Gemeinden. 9ol Im Staat Israel, dessen Recht die Gleichberechtigung der Frau vorschreibt. herrscht ein orthodoxes Religionsmonopol. das anderen jüdischen Denominationen nur begrenzte Wirkungsmöglichkeiten lässt und die Gleichberechtigung der Frau in mancher Hinsicht spürbar einschrJ.nkt. 95 Das wird in säkularen Kreisen
" J.R. Baskin (Hg.). Wornen of the Word: Jewish Wornen and Jewish Writing. Dctroit. Waync Stute Univcrsity Press. 1994; S. Pamel Zohy, ..And All Your Childrcn Shal1 Be Lcamed". Wornen und the Sludy ofTorah in Jewish Law and History. Nonhvale. NJ 1993. 'OJ M. Freeman. Wornen. Law. Religion, and Politics in ISl1lcL a human rights perspective. in: M. Kalpana (Hg.). Jewish Feminism in Israel. Hanover. NE 2003. 57-75. 91 M. Morgan. 'rwg, hbSm. A Guide tO the Laws of Nidah. A comprehensive guide to the laws offamily purity. including woman's personal checklist for the Mikveh. Reviewcd by and including Psokim from the Debrecener Rav. Hagaon Moshc Stem. Brooklyn 1983. 91 A. Cantor, Jewish WomeniJewish Men: The Legacy of Patriarchy in Jewish Life. New York 1995. 9) S. Grossman (Hg.). Daughters of the King. Wornen and the Synagogue. Philadelphia 1992. 90 P.S. NadelI. Wornen Who Would Be Rabbis: A History of Wornen's Ordination. 1889-1985. Boston 1998; P. Nav~·Levinson, Die Ordination von Frauen als Rabbiner. Zeitschrift fLir Religionsund Geistesgeschichte 38. 1986,289-310; S. Greenberg. The Ordination of Women IlS Rabbis: Sludies and Responsa. Moreshet Series 14. New York 1988. ., M. KalpanalM.S. Rich (Hg.). Jewish Feminisrn in Israel: Some Contemporary Perspc S. Rosenblou, 'The High Ways 10 Pcrfection' of Abraham Maimonidcs. New York 1927; Nachdruck 1966: Jerusalem 11970. 101 D. Ouensoser, Sefar behinat ·ölam. Warschau 1864. Nachdruck Jerusalem 1973: Bcrlin 192617. Sefrir haj-ja.sar. Jerusa1em 1967. loI'l Teile in englischer Übersetzung enthält E. Munk. Aqaydal Yitzchaq. Bd. I-li, Jerusalcm 1986. I.,
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erbaulicher Schriften verschiedenen Charakters stammt von Jonah b. Abraham Gerondi (gest. 1263 in Spanien).'~ In den meisten dieser Werke haben gewisse philosophische Grundlagen wie Erkenntnislehre einen Platz, aber eben als Voraussetzungen für eine an der Torah orientiene Ethik. Und diese konzentrieIl sich vorrangig auf das Thema der ,.Umkehr'" ("'subah), weshalb manche Erbauungsschriften überhaupt den Titel .,Buch der Umkeh(' oder ähnlich aufweisen. Das Prinzip, dass die .,Tore der Umkehr" stets offen sind, hat nämlich dem jüdischen Ethos auch in schwierigsten Krisen eine Zukunftsperspektive gewährleistet, die Möglichkeit des Neuanfanges und der Selbstkorrektur. 151 Das geforderte Ethos entspricht einer ausgesprochenen Miuelwegethik und bleibt trotz allen rationalen Komponenten und ungeachtet einzelner Versuche zur Erstellung religiös neutraler ethischer Entwürfe letztlich fest in den Rahmen der TorahfTÖmmigkeit eingebunden. In Fällen, in denen dies nicht mehr zutraf. handelte es sich schon um eine Abkehr von der jüdischen Gemeinschaft.
Das Blich "Pfade Gerechler" Wiesich die bishererwähnten Voraussetzungen traditioneller und philosophischer An zu einer Anleitung zu jüdischem Ethos verbinden ließen, zeigt ein Erbauungsbuch mit dem Titel Pfade GerecJuer. IS2 Fast alle FacelIen der damaligenjüdischen Ethik wurden hier in leicht fassbarer Form aufgearbeitet und in den Rahmen der traditionellen Religiosität gestellt, Gegen Ende der Einleitung (5. 23) wird der Zweck des Buchs so fomlUlien: ,.Nun wollen wir die Wurzeln der (menschlichen) Eigenschaften und deren Venweigungen bekannt machen, ihren Nutzen und ihren Schaden. und es ist unsere Absicht, die Anlagen des Menschen von der Torheit abzukehren. hin zur Liebe der Zucht, damit sich die Einfaltigen bemühen, die Eigenschaften der Weisen zu erkennen. Und vom NAMEN (Gott) - sein Gedächtnis werde erhobenl - erbitten wir Hilfe, dass er uns die rechten Wege und die Pfade der Gerechtigkeit bekannt gebe, um die Stämme Jeschuruns. die Gemeinde der Gnade. zu belehren." In 28 Kapiteln behandelt das Werk vor allem gegensätzliche Verhaltensweisen und deren negative und positive Auswirkungen: I. Stolz und 2. als Gegenstück Demut bzw. Bescheidenheit. 3. Scham als spe· zifisch menschliches. vemunftbedingtes Empfinden. (5, 76) "So verfügen auch alle Lebewesen abgesehen vom Menschen über keine Scham, da sie über keine Weisheit verfügen. Doch jeder Herzensweise kennt den Rang des Verstandes und der Weisheit. dass er durch sie zur wahren Beschaffenheit der Dinge gelangt und durch sie auch zur (Erkenntnis der) Einheit seines Schöpfers - Er ist gepriesen - gelangt. und sich durch sie den Engeln anzugleichen vennag.'" Dazu als Gegenstück
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A.T. $hrock. Rabbi Jonah ben Abraham of Gerona. His Life and Ethical Works. London
1948. S. Shokek. Rcpentancc in Jewish Ethics. Philosophy and Mysticism. Lewiston. NY 1995. "2 SJ. Cohen. Orchot t7..addikim. The Ways of the Righteous. JerusalemlNew York 1969: New York 1982. IS!
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4. Anmaßung bzw. Unverschämtheit. Sie wirkt in der Regel negativ, ist aber im Sinne von unbeirrter Beharrlichkeit gegenüber den Bösen am Platz: "Doch diese Eigenschaft ist überaus lobenswert als Beharrlichkeit in Torah und Goues - Dienst, nämlich beharrlich zu sein gegenüber den Frevlern und sich ihnen gegenüber als halsstarrig zu erweisen, nicht auf ihren Rat zu hören und ihre Lügen und Gräuel nicht gut zu heißen und ihnen nicht zu schmeicheln. Und man muss sich auch als beharrlich erweisen in der Erfüllung der Gebote. falls die Menschen einen darob auslachen. und man soll beharrlich sein und von seinen Lehrern erfragen. was man nicht weiß. und sich dessen nicht schämen. Und man muss sich auch beharrlich erweisen, Menschen zurechtzuweisen. ihnen ihre Vergehen offen zu legen." S. Liebe und 6. Hass...Die Liebe enthält viele Wirksamkeiten. mehr als alle übrigen menschlichen Verhaltensweisen. Und wenn der Mensch seine Liebe auf Schlechtes ausrichtet. dann gibt es keine schlechtere Verhaltensweise als diese. Wenn der Mensch aber seine Liebe auf das Gute richtet. dann steht sie höher als alle Verhaltensweisen. wie geschrieben steht (Dtn 6.5): U"d du sollst den HERRn. deine" Gou. lieben. Und keine Rangstufe im Dienst des Schöpfers gleicht jener dessen. der aus Liebe dient." Eine Passage deliniert die Rolle der Frau untcrdem Vorzeichen des rabbinischen männlichen Bildungsideals. (S. 104): .. Er (der Gerechte) bedenke. dass sie ihn vor der Sünde bewahrt und vom Ehebruch femhäJl. dass er durch sie das Gebot der Fruchtbarkeit und Vennehrung erfüllt. sie ihm die Kinder aufzieht. und dass sie für ihn all ihre Tage arbeitet. ihm sein Essen zubereitet und die übrigen Erfordernisse des Haushaltes erledigt. so dass er dadurch frei ist für das Lernen der Torah und zur BeSChäftigung mit den Geboten. und sie ihm so beim Dienst des Schöpfers - Er ist gepriesen! - hilft:' Ein anderer Abschniu (S. 116) handelt von ..Liebe zu Vergnügungen. wie Essen und Trinken und Schlaf: Wisse, das der Mensch sein Herz und all seine Tätigkeiten allein darauf ausrichten soll. den NAMEN (GoU) - Er ist gepriesen! - zu erkennen. Und so soll sein Sitzen und Stehen. seine Rede und alles auf diese Sache ausgerichtet sein. Wie das? - Wenn er Handel treibt oder eine Arbeil verrichtet. um dafür Lohn zu erhalten. soll in seinem Herzen nicht nur der Gedanke an das Geld vorhanden sein. vielmehr soll er diese Dinge tun. damit er Dinge erreicht. deren der Leib bedarf: Essen und Trinken und Behausung und Verheiratung. Und desgleichen. wenn er isst und trinkt und Beischlaf vollzieht: er soll sein Herz nicht darauf ausrichten. diese Dinge zu tun, um zu genießen. bis er nichts mehr isst und trinkt außer dem Süßschmeckenden. und den Beischlaf ausführt. (nur) um zu genießen. sondern er richte sein Herz darauf. dass er nur esse. um seinen Leib und seine Glieder gesund zu erhalten. Darum soll er nicht essen. was der Gaumen begehrt. wie der Hund oder der Esel. sondern er esse Dinge, die dem Leib förderlich sind. ob Bitteres oder Süßes; doch esse er nicht Dinge. die für den Leib schlecht sind. auch wenn sie dem Gaumen süß schmecken. Er verhalte sich auf diese Weise und richte sein Herz darauf. dass sein Leib heil und stark bleibe, damit seine Seele in der Lage sei. den NAMEN
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(Gott) - Er ist gepriesen! - zu erkennen. Denn es ist nicht möglich. dass er in der Torah und in den Geboten Einsicht gewinnt und weise wird. wenn er ständig hungen. so dass seine Kraft schwindet und sein Verstand sich verringert. Daher soll man all seine Belange rur den Dienst des Schöpfers - Er ist gepriesen! - zurichten." Der Hass wird ganz unter erwählungstheologischem Blickwinkel behandelt (5. 130): ..Dem Hass, dieser Verhaltensweise gilt ein Verbot (Lev 19.17): Oll sollst deinen Bruder nicht hassen in deinem Herzen. Damit wurden wir ermahnl. die Verhaltensweise des Hasses aus unseren Herzen femzuhahen ...:' Doch nicht in jedem Fall: (5. 136),.Es gibt aber einen Hass. der ist geboten. etwa gegen einen frevelhaften Menschen. der keine Zucht annimmt. da es heißt (Prov 8.13): Fllrcht des HERRn ist Hass des Bösen: und es heißt (Ps 139.21 f.): Soll ich nicht hassen. Herr, die dich hassen. deine Gegner flicht verabscheuen lader: befehden}? (22) Ich Iltisse sie mit tiefstem Hass, zu FeindeIl sind sie mir geworden! Und man hasse Betrug und Lügenrede. KurL: Man hasse jede Sache. die einen von der Liebe zum Schöpfer des Alls entfernt oder dabei behindert. wie es heißt (Ps 139,128): Jeden Uigenpfad hasse ich. Das ist ein großes Prinzip. dass ein Mensch jedwedes Lügenwort hasse. und alles. was den Hass auf Lügenworte vermehrt. mehrt die Liebe zur Torah, da geschrieben steht (Ps 139,169): Trug hasse und verabscheue ich. Deine Torah habe ich lieb". Und man liebe Wahrheit und Frieden. wie es heißt (Sach 8.19): Und die Wahrheit und den Frieden liebt! .. 7. Erbarmen. eine der nachzuahmenden 13 middot Gaues. ist ein Erkennungsmerkmal des Weisen. Dazu als Gegenstück 18. Grausamkeit. Das richtige Erbarmen hat aber Grenzen (S. 238): •.Es gibt mehrere, sehr unterschiedlicheArten von Erbarmen: Das Erbarmen des Vaters gegenüber dem Sohn. das ist ein Erbarmen. das aus der Natur aller Lebewesen erwächst. so wie bei Hunden und beim Vieh. Und der Herr erbarmt sich seines Sklaven und der Mensch seines Gefahrten. wenn er davon Nutzen erhofft. Dennoch ist es sehr gUI. dass man in seinem Herzen die Verhaltensweise des Erbarmens einschlägt. Aber die beste und höchste Form des Erbarmens besteht darin. dass man sich seines Sohnes erbarmt. um ihn zum Dienst des Schöpfers - Er werde gepriesen! - zu bringen, wie es geschrieben steht (Jes 38.19): Ein Valer IInterweist Söhne ZII deiner Wahrheit. Und er erbarme sich seiner Seele mehr als er sich über seinen Leib erbarmt, und darum muss er ihn mil einer Zuchtrute schlagen, sogar mit Grausamkeit. um ihn auf geradem Weg zu führen. denn diese Art Grausamkeit ist eine höhere Fonn von Erbarmen. Denn wenn erdie Zuchtrute seinem Sohn vorenthält. weil er zuviel Mitleid hat. um ihn zu schlagen. und ihn in der Verstockung seines Herzens gewähren lässt. handelt es sich um ein Erbarmen. das den Sohn aus dem Leben der kommenden Weh verstößt und (ihn) zugrunde richtet. Auch darf man nicht zu sehr Mitleid mit sich selber haben. sondern muss sich selber in Zucht halten und seine schlechte Neigung Uefär ha-ra') unterdrücken. Auch über die Armen erbarme man sich. aber am meisten erbarme man sich der Goltesflirchtigen. Das Wesentliche am Erbarmen verkörpert nämlich. wer sich der Gottesdiener und derer. die Seinen Willen tun. erbarmt. Doch gibt es
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ein Erbarmen, das schlechter ist als Grausamkeit: so bei dem. der sich der Frevler erbannt und sie bestärkt ..:' 9. Freude und 10. Sorge. Freude wird äußerst positiv gewertet, doch im rechten
Maß und nicht in jedem Fall. So warnt der Autor hier (166--170) eindringlich vor Unzucht und vor Trinkgelagen und ihren Folgen. 11. Reue. vor allem als Voraussetzung flif Umkehr (Buße), und 12. Ärger als
unangemessene und unkontrollierbare Reaktion auf eigenes Versagen und auf Handlungen anderer. 13. Großmut und 14. Neid; 15. Eifer und 16. Trägheit: 17. Großzügigkeit und 18. Kleinkariertheit; 19. Gedenken und 20. Vergessen. Ferner 21. Schweigen. 22. Falschheit (Betrug. Lüge) und 23. WahrheitIWahrhaftigkeit. Wahrheit ('fImät) bzw.Wahrhaftigkeit. ist eine der 13 middijt. und der Mensch ist zu ihrer Nachahmung geschaffen, sie soll das Verhalten gegenüberGotl und jedermann bestimmen. (S 390): ..Nun. da sich das Exil wegen unserer vielen Verschuldungen über die Maßen hinzieht. obliegt es Israel. sich von den Nichtigkeiten der Weh abzusondern und am Siegel des Heiligen - Er ist gepriesen1- festzuhalten. und das ist die Wahrheit. und sich zu heiligen. selbst noch im Rahmen des Erlaubten. und nicht zu lOgen. weder gegenüber einem Israeliten noch gegenüber einem Nichtjuden (g6)). und sie in keiner Sache zu täuschen. denn es heißt (Zef 3.13)". Dieses Verhalten wird schließlich (S. 392)alsTeil der BundesverpRichtung bezeichnet. deren ErfuUung zum ewigen Heil führt. 24. Heuchelei bzw. Schmeichelei. Das betrifft auch opportunistisches Verhalten. 25. Üble Nachrede ist ein Standardthema der Milsar-Literatur. wobei es nicht bloß um die Verbreitung von Falschbehauptungen geht. sondern um die Verbreitung von rufschädigenden Aussagen überhaupt. Und das selbst fur den Fall. dass der Sachverhalt zutrifft. weil eine öffentliche Beschämung im Gegensatz zu einer korrekten Vermahnung die Würde das anderen verletzt. Gilt dies schon im eigenen. jüdischen Bereich. SO umso mehr gegenüber Nichtjuden und insbesondere nichtjüdischen Obrigkeiten. weil dabei der Sachverhalt der Denunziation mit allen ihren Folgen eintreten kann. Demgegenüber heißt es zuletzt (S. 446). .,So gewöhne man sich in Bezug auf die Zunge. Wone der Torah und der Gouesfufcht zu gebrauchen. die Menschen zurechtzuweisen, seine Söhne bzw. Nachkommen anzuweisen. (die Torah) zu halten und zu praktizieren, Trauernde zu trösten, Elende zu trösten. ihnen mit tröstlichen Wonen gut zuzureden. Wahrheit zu sagen und sich in Liedern und Lobgesängen zu üben. Dann wird man .unten· beliebt und ,oben' wohlgefalJig sein. und sein Lohn wird in dem großen Gut bestehen. das fur die Gerechten aufbewahrt ist." 26. Das Kapitel über die Umkehr bzw. Buße (r'ffibah) ist ein umfangreicher religiös-ethischerTraktat (S. 336--553). was der zentralen Bedeutung des Themas für jüdische Spiritualität entspricht. Alle Israeliten sollen Bußfertige (ba'''Ie r-liibah) sein und damit eine möglichst weitgehende Erfullung des Goneswillens in Gegenwart und Zukunft gewährleisten. (S. 552): ..Die An Bußfeniger ist es. bescheiden und überaus demütig zu sein. Und wenn die Toren sie wegen ihrer früheren Taten schmähen und zu ihnen sagen: Gestern hast du so und SO gehandelt. oder: Gestern hast du so und so gesprochen. so soll sie das nicht erregen. sondern sie sollen es
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anhören. sich freuen und wissen, dass es für sie ein Vorzug ist. Denn wann immer sie sich ihrer vergangenen Taten schämen und sie wegen ihnen beschämt werden, wird ihr Verdienst größer und ihr Rang erhöht sich. Aberes ist eine große Sünde, zu einem Bußfertigen zu sagen: ,Denke an deine früheren Taten'. oder sie vor ihm zu erwähnen. um ihn zu beschämen, und diesbezüglich heißt es (Lev 25,17): Jhrdürft einander nicht bedrücken. Und wer ist ein Bußfertiger? Er muss nach guten Taten streben. sich von den Gedanken dieser Welt femhalten, sich bestärken im Rate des NAMENS - gepriesen ist Er!, auf seinen Schutz vertrauen. das Joch der Torah des NAMENS - Er ist gepriesen! - auf sich nehmen, und (auch) die Schmähung und Verachtung durch Toren (zu ertragen), wie ein Taubstummer. ein Blinder und Toter. wie es heißt (Ps 69,8(0: Denn um Deinetwillen ertrage ich Schmach ... etc." Das Werk schließt mit Grund und Ziel des jüdischen Ethos, den Kapiteln über 27. die Torah und 28. die Gottesfurcht Uir -at sama)im) im Sinne des richtig motivierten Gottes-Dienstes. (S. 626): ••So kommt die Seele. in der alle diese Verhaltensweisen (middot) vorhanden sind. und preist den Heiligen. Er ist gepriesen. in dem alle diese Verhaltensweisen vorhanden sind."
Kabbalistisch motiviertes Ethos Die kabbalistische Ethik unterscheidet sich allein schon durch die Annahme einer ontologischen Differenz zwischen Juden und Nichtjuden. Nur Juden verfügen über die bekannten neuplatonischen Seelenkräfte hinaus noch über eine Art von potentiellem Intellekt. der bei angemessener rabbinischer Vorbildung zur Erkenntnis der kabbalistischen Weisheit befahigt und im Fall der Aktualisierung die meditative und darüber hinaus theurgisch wirksame Verbindung mit den 10 Sefirot ermöglicht. den emanierenden Wirkungskräften der verborgenen Gottheit, des 'en sofC.Unendlichen") und ihrer Einheit. Damit wird nicht die Möglichkeit eines nichtjüdischen Ethos geleugnet. wohl aber ihre Relevanz gegenüber dem jüdischen Ethos reduziert. Inhaltlich brachte die kabbalistische Ethik kaum etwas Neues, aber die Bedeutung des sittlichen Verhaltens und der Frommigkeitspraktiken erhalten im Rahmen der kabbalistischen Systeme bis ins letzte Detail eine unvergleichliche Gewichtigkeit. Der traditionelle Begriff der kawwanah (inneren Ausrichtung) erhielt eine neue Bedeutung. Bei jeder Handlung. selbst gedanklich-meditativer Art, gilt es. den Bezug zu der zuständigen Sefirah zu finden, um so auf das Sefirotgeschehen Einfluss zu nehmen und von da aus wieder auf .,Unten" einzuwirken. Alles Vorhandene wird als vordergründige Auswirkung und Reflex von Sefirotvorgängen begriffen. und auf diese ..Oben" richtet sich die Iwwwanah. Es gibt schwerlich ein spekulatives System. das derart grundlegend und ins Detail gehend zugleich religiöses Ethos motiviert und gestaltet. Nun ist die Kabbalah - recht verstanden -eine anspruchsvolle Disziplin der jüdischen gelehrten Tradition. und mindesl.'.:ns so elitär angelegt wie die Philosophie und trägt den Charakter einer Geheimwissenschaft.
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Im Welt- und Menschenbild wesentlich neuplatonisch fundiert. verhalf ihr die popularisierte neuplatonische Frömmigkeit dennoch zu einer verblüffenden Verbreitung. Und zwischen dem 15. Jh. und der Aufklärung beherrschte sie nicht nur die theologische Spekulation. sondern auch die Frömmigkeit und die Phantasie breiter Schichten. dies allerdings weithin auf dem Niveau volkstümlichen Aberglaubens. Eine der Folgen war die kabbalistische Einfarbung fast aller Erbauungsschriften aus dieser Periode. Darüber hinaus ging diese Popularisierung der Kabbalah mit Wellen akuter Endzeiterwartung und Bußbcwcgungen Hand in Hand. Mit der pseudomessianischen Bewegung des Sabbataj Zbi geriel im späten 17. Jh. daher nicht nur die traditionelle Endzeilerwartung selber in Misskredit, sondern auch die kabbalistische Theologie. Und im Verlauf der Messias-Euphorie mit ihren totalitären Anspruchen und durch die folgende Enttäuschung verpuffte der emotional so aufgeladene Impetus des kabbalistischen Ethos und bald danach taten jüdische Aufklärer die Kabbalah als Verirrung des jüdischen Geistes ab. In der Orthodoxie und im osteuropäischen Chasidismus blieb dennoch die Pflege der kabbalistischen Geheimlehre in begrenztem und kontrolliertem Maß lebendig. Aber nicht sie war es. die der Orthodoxie in der Abwehr der Aufklärung und des Reformjudentums im 19. Jh. als wirksamste Stütze diente. sondern eine weit nüchternere und realitätsgerechtere Rückbesinnung auf die traditionellen Werte. die als sogenannte "Musar Bewegung" von Litauen aus dem traditionellen Ethos wieder zu einem attraktiven Prestige verhalf und bis heute wirksam blieb. ls3 Die Kabbalah kam erst in den letzten Jahrzehnten wieder mehr zum Zug, und zwar auf zwei Wegen. Zum einen in Verbindung mit der nationalistisch-fundamentalistischen Bewegung für das ganze umd Israel. also mit einer Landtheologie. und zwar zusammen mit einer diasporaweit aufbrechenden Umkehrbewegung. deren Anhänger nach 1967 in der Eroberung und jüdischen Besiedlung der Westbank den Übergang zur entscheidenden Endzeitphase der Geschichte erblickten. Und zum anderen mittels einer modernisierten Popularisierung als Kabbalah für jedermann. losgelöst von den jüdischen Grundlagen. als individualistisch-egozentrische ,.Wellness-Religion" speziell für gutgläubige und zahlungskräftige Nichtjuden konzipiert. und dank effektivem Management und eindrucksvollem Interneteinsatz zur Zeit eine der erfolgreichsten Fomlen des Religionsersatzes. Beide Tendenzen geben hinsichtlich des Ethos Anlass zu Irritationen. 4
Zwischen ethischem Monotheismus und ethnischem Surviva/ismus Die jüdische Aufklärung und der modeme Pluralismus Im Lauf der Neuzeit hat sich in den sefardischen Gemeinden Europas. vor allem inAmsterdam, eine kulturelle Konstellation ergeben. die Vieles vorwegnahm. was D. Katz, 1"nu'at ha-mOsar, Bd. I-V. Jcrusalem '1982; L.S. Eckman. Thc HislOry of Musar Movcmcnt, 1840-1945. Ncw Vork 1975; H. Goldberg. The Firc Within. Thc Living Hcritagc of thc Musar Movcmcnt. Brooklyn. NY 1987. IJJ
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sich jüdische Aufklärer gegen Ende des 18. Jh. zum Ziel gesetzt hatten. Das hat aber die Leitlinien des traditionellen jüdischen Ethos nicht wesentlich verändert. Baruch Spinoza (1632-1677) hat dies mit allen Konsequenzen erfahren und seine Ethik außerhalb des Judentums vertreten müssen. In der jüdischen Aufklärung hingegen kam es zu einer rationalistischen Umpolung der grundlegenden Voraussetzungen. und das unter Berufung auf das Ethos der Bibel im Sinne eines universalistisch verstandenen Dekalogs und einer Deutung der Schriftpropheten als Künder wahrer Sittlichkeit. Außerdem stützte man sich auf rationalistisch interpretierte mittelalterliche Autoren, vor allem auf Mose ben Mairnon. der nun als Vorläufer der jüdischen Aufklärung dargestellt wurde. Die jüdische Aufklärung (Haskalah) setzte sich allerdings regional ganz unterschiedlich intensiv und zeitlich versetzt durch. und so kam zu der bekannten Unterscheidung zwischen .,Westjudentum" und .. Ostjudentum'·.l~ Diese Wende erfolgte auf dem Hintergrund der Religionskritik der (v.a. französischen) Aufklärung, die sich insbesondere gegen die Dogmatik des Christentums gerichtet hatte. Und da und dort bedienten sich aufklärerische Autoren auch einiger bekannt gewordener Argumente aus der jüdischen Polemik gegen das Christentum. Obschon sich chrisllich·lheologische Aufklärer bemühten. die irrationalen Angriffsflächen einzuengen, erschien das Judentum folglich als dogmatisch unbelastet und insofern frei für die universale. ethisch und rational akzentuierte Vernunftreligion der Aufklärung - und damit auch für eine autonome Ethik. Für alle modernen jüdischen Richtungen des 19. Jh. war daher eine rationalistische Ausrichtung und ein pathetisch betonter Vorrang der Ethik kennzeichnend, vor allem aber die Überzeugung, dass das Judentum die maßgebliche bewegende Kraft für den moralischen Fortschritt der Menschheit darstelle. Die traditionelle messianische Hoffnung mit der Erwartung eines eigenen Staates im Land Israel wurde zu dieser universalistischen Menschheitsutopie umgedeutet. Moses Mendelssohn (1729-1786) hatte noch versucht. die Torah im Sinne der traditionellen jüdischen Religionspraxis als offenbartes Brauchtum vor den Konsequenzen der Aufklärung zu bewahren. Diese Einschränkung aufein Ritualgeserl. entwertete die Torah aber als Quelle des jüdischen Ethos, zumal Mendelssohn gleichzeitig die rechtlich-disziplinären Kompetenzen der Synagogengemeinden und Rabbiner auf ein Minimum reduzieren wollte. Und das zu einer Zeit, als der moderne Staat ein einheitliches Rechtssystem durchzusetzen begann und damit die Rechtsautonomie der jüdischen Gemeinden aufhob, mit dem staatlich verordneten Schulwesen die traditionelle jüdische Erziehung reformierte und die Einführung .Jremder" Bildungsinhalte erzwang. Mit der Emanzipation (fortschreitenden bürgerlichen Gleichberechtigung) und rasch fortschreitenden Assimilation veränder-
D. Rudavsky. Modem Jewish Religious Movements. A History of Emancipation and Adjuslment. New York 11979: A.A. CohcnIP. Mcndcs-Aohr (Hg.), Contcmporary Jcwish Religious Thoughl. New York 1988. ,}
R. Specht. Bameh Spinoza. In: Q. HöfTe. Klassiker. 338-359.
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Die menschliche Vernunft entfaltet sich völlig autonom gegenüber den Offenbarungen der Religion. Die Philosophie zielt immer auf eine fortschreitende Erkenntnis der Vernunft. die Religion aber fordert den Gehorsam des Glaubens. Die Inhalte des religiösen Glaubens lassen sich auf das Doppeigeboi der GOltesliebe und der Nächstenliebe reduzieren. Damit wird das moralische Handeln zum alleinigen Kriterium des rechten religiösen Glaubens. Die autonome Erkenntnis der Vernunft und der heteronome Gehorsam des Glaubens sind einander strikt entgegen geselzt. Die Religion darf nicht länger über die Philosophie herrschen wollen. Auch im Staat müssen die Religion und die Wissenschaft strikt voneinander getrennt werden. sonst ist kein ausreichender Fortschritt der Erkenntnis möglich. Allein die religiöse Toleranz führt in die Freiheit der Wissenschaften, der Religion, der Weltdeutung und des Wortes. Diese Toleranz gehöre zum Wesen des Menschen und sei eine Vorbedingung seiner Selbsterhaltung. Wer mit seiner Vernunft das Wesen der Gottheit und der Vernunft erkennt. der versteht auch die moralischen Tugenden des guten Handeins. Die Menschen wollen als vernünftige Wesen in einer freien Gemeinschaft zusammen leben; dabei verbindet siedas Band der Freundschaft. Der Staat aber hat dieAufgabc. die Einhaltung der vernünftigen Gesetze mittels Strafsanklionen sicher zu stellen. l7 Der puritanische Denker Thomas Hooker sieht das staatliche Gesetz als Teil einer universalen und göttlichen Ordnung. Dieses ewige Gesetz (eternallaw) gilt in der gesamten Schöpfung. in der Welt der Menschen. im Bereich der Erkenntnis und der Moral. So wird das menschliche Gesetz (human law) aus der göttlichen Ordnung abgeleitet. Allein mit den Kräften unserer Vernunft gewinnen wir Einblick in die ewige Ordnung der Welt. In den puritanischen Kirchengemeinden wird nun das gleiche Wahlrecht für alle Mitglieder gefordert. weil Gott jeden Menschen als "Eigentümer seiner selbst" geschaffen habe. Deswegen sollen auch im freien Staat alle Bürger mit Privateigentum an der Wahl der Volksvertreter beteiligt werden. Vor dem Hintergrund des englischen Bürgerkrieges entwarf TllOmas Hobbes seine Staatslehre und Moralkonzeption. Da der Bürgerkrieg immer die Auflösung des Staates bedeutet. bedarfes eines strengen Staates. der den Gesetzen der Mechanik folgt. Denn im wirtschaftlichen. im politischen und im religiösen Wettkampf sei jeder Mensch seinen Mitmenschen ein .,Wolf; (homo homini lupus). Dies war der Naturzustand der Menschen. der nur durch einen Staatsvertrag überwunden werden konnte. Jeder Mensch strebe nach seiner Selbsterhaltung. aus diesem Streben leitet er die moralische Bewertung seiner Handlungen ab. Alles. was seine Selbsterhaltung fördert. wird alsein Wert bezeichnet. Was aber die Selbsterhaltung stört oder hindert. gilt als ein Unwert. An die Stelle der zielgerichteten (teleologischen) Anthropologie tritt nun im Anschluss an Galilei und Descartes eine mechanistische Sicht weise des mensch)1
J. Rohls, Geschichte. 211-215.
Europäische Philosophie der Moral
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l.ichen Lebens und des Staates. Allein die Furcht vor dem Tod hält uns davon ab. den Mitmenschen Böses zu tun. Folglich bilden das Streben nach der Selbsterhaltung und die Furcht vor dem Tod die beiden Säulen des Staatsvertrags. Im sog. ,.Naturzustand" kämpfte jeder Mensch gegen jeden auf Leben und Tod, denn es gab keine dem Einzelnen übergeordnete Macht. Das Naturrecht erlaubte jedem Menschen. alles zu tun, was er wollte und konnte. J8 Später haben die Menschen durch die Einsicht der Vernunft und aus dem Streben nach Selbsterhaltung diesen Naturzustand überwunden und den Staat beglÜndet. Dabei erkannten sie. dass der Naturzustand ihrem Streben nach Selbsterhaltung zuwider lief. Deswegen ersetzten sie das natürliche Recht durch das staatliche und positiveGesetz. Dieses enthält nun die vernünftige Regel. dass keinerden Mitmenschen etwas tun soll. was er für sich selber als schädlich ansieht. Aus dieser flÜhen Variante der sog. Goldenen Regel des sittlichen Verhaltens folgen drei moralische Ziele: Der Friede soll solange bewahrt werden. als es nur irgendwie möglich ist. Jeder muss im Stam seine natürlichen Rechte aufgeben und seine eigene Freiheit an der Freiheit der Mitmenschen messen. Drittens müssen die abgeschlossenen Verträge unter allen Umständen eingehalten werden. Die Instanz. an die jeder Mensch seine nalürlichen Rechle abtritl. ist nun der Slaat mit seinem Herrscher bzw. dem Souverän. Der Wille der Vielen im Staat muss sich auf einen einzigen Punkt vereinigen. In diesem "Gesellschaftsvertrag" trin nun jeder Einzelne sein natürliches Recht an den Staat ab, aber nur unter der Voraussetzung. dass alle Menschen dies tun. Nun unterwerfen sich alle dem Herrscher. der im Auftrag aller die Macht und Gewalt ausübt. Er sichert durch die Androhung von Strafen und durch das Schwert den Frieden im Staat. denn jeder hat Angst vor dem Tod . .19 Ein Recht der Bürger auf Widerstand gegen die Staatsgewalt kann es nicht geben, denn dieses könnte leicht in den Bürgerkrieg führen. Erst wenn sich die Staatsgewalt auflöst. verliert sie ihre Verbindlichkeit und muss dann neu errungen werden. Durch die Unterwerfung der Einzelnen konstituiert sich der Staat als Gesamtperson. die Bürger betrachten die Handlungen und Entscheidungen des Herrschers als ihre eigenen. Hobbes vergleicht diesen Staat mit dem biblischen Seeungeheuer Leviathan, über das es keine Gewalt mehr gibt. Dieser Staat fürch· tet nichts. denn er herrscht über die Kinder des Hochmuts. Als einem sterblichen ..Gou" verdanken wir dem Staat den Schutz und den Frieden. Hier erhält nun der Staat die gleichen Befugnisse. welche die Nominalisten im Mittelalter GOII zugesprochen hatten. Die positiven Gesetze des Staates ersetzen nun das universale Naturrecht. Der ethische Offenbarungspositivismus der Nominalisten wurde nun in einen strikten Rechtspositivismus umgewandelt. Allein der Herrscher im Staat bestimmt nun für alle Bürger. was gut und was böse ist, was zu tun und was zu lassen sei. Im englischen Bürgerkrieg hatten alle streiten~
W. Röd, Thomas Hobbcs. In: Q. HÖffe. Klassiker. 280-300.
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J. Rohls. Geschichte. 224-229. 0.0. Raphael, Hobbes - morals and polilics. London 1977.
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Anlon Grabner-Haider
den Parteien eine andere Auslegung der Bibel beansprucht. Folglich genügt die Berufung auf eine göuliche Offenbarung nicht mehr. um das Zusammenleben der Menschen zu regeln. Nicht die Erkenntnis der Wahrheit. sondern die Autorität des Staates erschafft die Gesetze des Zusammenlebens (aucloritas. non verilas fecit leges). Hobbes folgte einer mechanistischen Anthropologie und ging vom subjektiven Wencmpfinden und vom Streben nach Selbsterhaltung aus. Nun folgen aber aus unseren
Wcncmpfindungen keine Verpflichtungen. weil aus einem Sein kein Sollen abgeleitet werden könne. Deswegen kommen die Verpflichtungen zum Handeln allein von den
onn setzenden Autoritäten des Staates. Wenn früher Gott die Nonnen
setzte. so lut dies jetzt der Staat in der Gestalt seines autonomen Herrschers. Jetzt sei der Staat auch die verbindliche Instanz rur die Interpretation der Bibel und der göttlichen Offenbarung. Denn die verschiedenen christlichen Konfessionen können sich auf keine einheitliche Interpretation einigen. Folglich muss sich die kirchliche Moral der staatlichen Normsetzung unterwerfcn. 40
Anfänge der Aufklärung Die Cambridger Platonisten suchten aber nach einer dem Staat übergeordneten moralischen Instanz. Ra/pli Clldworrh sah die ganze Welt von GOIl geordnet. der als das höchste Gute die moralischen ormen fur alle Menschen setzt. Diese Normen gehen gänzlich unabhängig von den staatlichen Gesetzen. Auch Herben vo" Cherbury versuchte auf dieser Basis. eine von den Konfessionen unabhängige und allgemein gültige Ethik abzuleiten. Ausgehend von einem höchsten göulichen Wesen (Deismus) lassen sich allgemeine Grundwerte des menschlichen Lebens erkennen. Die Regeln der Ethik lassen sich aus dem allgemeinen Sinengesetz und aus den Erkenntnissen der praktischen Vernunft finden. Denn mit den Kräften unsererVemunft erkennen wir die Regeln und die Formen einer ..natürlichen" Religion. die sich aus dem Konsens aller Völker (consensus universalis) ergibt. Der Grundgehalt dieser Religion ist allgemein (notitia com· munis) und beruht auf dem Gewissen jedes Menschen. Diese vernünftige und natürliche Religion ruht auffünfGrundwahrheiten auf: a) Es existiert ein höchstes göttliches Wesen. das gut. gerecht. weise und glücklich ist und das Ziel des menschlichen Lebens darstellt. b) Es gebOhrt uns Menschen. dieses höchste Wesen. das alles lenkt. durch unsere Gebete zu verehren. c) Die rechte Frömmigkeit besteht in der Einhaltung der herkömmlichen moralischen Tugenden. d) Alle Übeltaten mOssen bestraft und gesühnt werden. e) Die Menschen erwarten einen jenseitigen Lohn für ihre guten Taten und harte Strafen für ihre Übeltaten."l Das Wesen dieser Religion bestehe in der gelebten Ethik der gelingenden zwischenmenschlichen Beziehungen. Jeder Mensch soll darin frei denken und .. W. Röd. Der Weg. 284-296. L Stnuss. 'The politicaJ phiJosophy of Hobbes. London 1987. .. J. Rohls. Geschichte. 230ff.
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seinem Gewissen folgen können. Nun entsteht die Bewegung der "Freidenker" (ffee thinkers). Die kritische Vernunft selzt dieser Religion ihre Grenzen, sie be· nötig dann keine Berufung mehr auf göttliche Geheimnisse (101m Toland). Eine moralische Vemunftreligion orientiert sich an der Erfüllung der sozialen Pflichten den Mitmenschen gegenüber und führt für alle zu einem glücklichen Leben. Die Gottheit hat jedem Menschen das natürliche Gesetz eingepflanzt, folglich kann jeder zwischen dem Guten und dem Bösen unterscheiden. Das Christentum hat die
ursprünglichen Werte dieser allgemeinen Vemunftreligion wieder in Erinnerung gerufen (Matthew 17nda/). Das Wesen des Christentums besteht folglich in einem moralischen Programm des friedvollen Zusammenlebens. TI/Qmas Chubb sah in Christus das große moralische Vorbild. das die freien Menschen zum moralischen und glücklichen Leben anleitet. Alle Menschen sollen ihr Leben den allgemeinen und vernünftigen Gesetzen der Moral unterordnen. die im Doppelgebot der Gottesliebe und der Nächstenliebe zusammen gefasst sind. Wenn wir aber Böses tun. müssen wir dafür Buße tun und danach zum Guten umkehren. Die letzte Beurteilung unseres Lebens erfolgt im göulichen Gericht. Wer die Gottheit und seine Mitmenschen liebt. ist auf dem Weg zu einem glücklichen Leben (TI/omas Morgall).42 Für 101", Locke impliziert das Christentum die gegenseitige Toleranz der verschiedenen Konfessionen. Wenn der Staat das Gemeinwohl (common wealth) seiner Bürgersichert.dann kümmert ersieh nicht um ihr Seelenheil. DieReligionen dürfen ihren Mitgliedern keine Gewalt androhen. dies zu tun steht nur dem Staat zu. Folglich müssen die Religionsgemeinschaflen klar vom Staat getrennt werden. Von der allgemeinen Toleranz ausgeschlossen aber sind die Atheisten. weil sie keine höchste Instanz anerkennen. und die römischen Katholiken, weil sie von einer fremden politischen Macht (Kirchenstaat) gelenkt werden. Die Toleranz hat ihre natürliche Grenze dort.wo die Sicherheit des Staates gefahrdct wird. lohn Locke aber will den Leviathan zähmen und die staatliche Macht durch vorstaatliche Rechte eindämmen. Denn im Naturzustand war jeder Mensch der freie Eigentümer seiner selbst und verfügte über die Gewalt. alles zu seiner Selbsterhaltung Notwendige selbst zu leisten. Dieses natürliche Gesetz wird aus dem göttlichen Gesetz hergeleitet und bewahrt fortan eine korrigierende Funktion für das staatliche Gesetz. Als eine überpositive Rechtsnonn gilt das natürliche Gesetz für alle Länder und Staaten. es sichert den Einzelnen die natürlichen Freiheiten von allen unvernünftigen Zwängen. Das Recht auf Privateigentum gehört zur natürlichen Freiheit jedes Menschen. Die ungleiche Verteilung der Güter aber ergab sich aus dem Übergang vom Naturzustand zum Slaat. 4l Zum allgemeinen Naturzustand gehören die Freiheit von Gewalt und die Gleichheit aller in Bezug auf diese Freiheit. Jeder Mensch ist aufgrund seiner
.: J. Rohls. Geschichte. 230-232. •) R. Brand!. John Locke. In: O. HÖlTe. Klassiker. 360--378. W. Baumganner. NalUrrecht und Toleranz bei John Locke. München 197.5.56--68.
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Vernunft beHihigt, die geeigneten Handlungen für seine Selbsterhaltung zu selzen. Sofern das Eigentum durch Arbeit erworben wird, ist es unvernünftig. den Besitz der Mitmenschen anzutasten. Der Staat muss nun die vorstaatlichen Rechte der Freiheit und des Besitzes schützen und garantieren. Denn durch die Übertragung der natürlichen Gewah jedes Einzelnen auf die Gemeinschaft gelange der Staat zur Gewalt der Gesetzgebung. der Verwaltung und der Rechtsprechung. Doch mit dieser Übertragung verzichtet der Einzelne nicht auf seine natürlichen Rechte. Um einen Missbrauch der Macht des Staates auszuschließen, sollen die drei Gewaltcn von einander gelrennt werden. Wenn der Staat gegen die natürlichen Rechte seiner Bürger verstößt. nämlich den Schutz von Leben, Besitz und Freiheit. dann ist der Widerstand des Volkes gegen die Staatsgewalt legitim. Der liberale Staat garantiert jedem Bürger die freie Selbstentfaltung und die Beseitigung staatlicher oder kirchlicher Eingriffe in die private Lebensgestaltung. 44 Samuel PufendorJuntcrschied die moralische Natur des Menschen von seiner physischen Natur und sah im Naturrecht ein natürliches Recht der Vernunft. ganz ohne Bezug zur Religion. Dieses natürliche Recht kann von allen Menschen erkannt werden. Unsere Handlungen sind immer nur im Bezug auf ein moralisches Gesetz gUI oder schlecht. und zwar auch dann. wenn ein Gott nicht existierte. Wir Menschen sind von unserer Natur her hilflose Wesen und benötigen die Hilfe der Mitmenschen. um überleben zu können. Aus dem Trieb zur Selbsterhaltung haben wir die Tendenz zur Geselligkeit entwickelt. Diese sagt uns, dass keiner den anderen schädigen soll. dass alle gleich berechtigt handeln und einander unterstützen sollen. Das natürliche Recht basiert auf der Geselligkeit. es verbindet die Menschen mit der gleichen Freiheit miteinander. In der Folge wird immer deutlicher zwischen der persönlichen Moral und dem allgemeinen Recht unterschieden. Chrisrian Thomasills differenziert zwischen der inneren Verpflichtung und den äußeren Pflichten. Die vielen rechtlichen Verpflichtungen dienen der Verwirklichung des höchsten Guten. damit alle Menschen lange Zeit und glücklich leben können und den Frieden bewahren. Die Pflichten der Ehrenhaftigkeit gelten gegenübersich selbst. die Pflichten des Rechts aber sind äußere Zwangspflichten. Die Pflichten der Gewissenhaftigkeit betreffen innere Einstellungen. Im strengen Sinn hat das Naturrecht keinen rechtlichen Charakter, denn dieser kommt allein den positiven Gesetzen im Staat zu. 4S Von einem anderen Ansatz her dachte Gorrjried Will,ei", Leibniz. für ihn sind die obersten Grundsätze der Gerechtigkeit in der göttlichen Weisheit grundge· legt. Später wandte er sich einer idealistischen Begrtindung der Moral zu und kam zu der Überzeugung, dass die obersten Grundsätze, niemandem Unrecht zu tun. jedem das Seine zu geben und moralisch anständig zu leben. auch dann Geltung haben müssen. wenn es Gott nicht geben sollte. Diese obersten Grundsätze ... R. Brandl. John Socke. 366-377. ') J. Rohls. Geschichte. 243-248. U. Dcnzer. Moralphilosophie und Naturrecht bei Samuel Pufendorf. SlUtlg3rt 1972.
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des moralischen Handeins kommen nämlich aus der distinkten Vorstellung von Gerechtigkeit. Doch die Befolgung der moralischen Regeln verlangt nach der Annahme eines göttlichen Richters. Leibnil. hat seine Moralbegründung in die Lehre von den Monaden eingebaut und sah in GOlt die höchste und vollkommenste aller Monaden. Da Gott in höchstem Maß vollkommen ist, muss die von ihm geschaffene Welt die beste aller möglichen Welten sein. Das Universum sei ein sinnvolles Ganzes, welches einer pTästabilisierten Hannonie folge. Selbst die metaphysischen, die physischen und die moralischen Übel stören nicht die beste aller Welten, sie sind zur AbstufungderVerkommenheiten sogar nötig. Physische Übel wieder Schmerz. dienen der Erhaltung des Lebens: moralische Übel können zur Besserung eines Lebens beitragen. Es gibt in der Welt so viele Übel. als zur Erreichung der maximalen Vollkommenheit notwendig sind. Die metaphysischen Übel zeigen uns die Begrenztheit unserer Welt. Doch alles Geschehen in der Welt wird von der hÖChsten Gottheit bestimmt. Auch zwischen den Wirkursachen und den Zweckursachen besteht ein Verhältnis der Harmonie. Das Glück unseres Lebens zeigt sich im Fortschreiten in den geistigen Tätigkeiten zu immer neuen Erkenntnissen und Freuden.# Das Gute und das Beste seien ganz ohne göttliche Offenbarung allein aus den Erkenntnissen der Vernunft erfassbar. lehrte ChriJtiafl WoJff Gut sei alles Handeln, welches der Verwirklichung seiner selbst in Übereinstimmung mit der menschlichen Natur dient. Da die menschliche Selbst vervollkommnung nur in der Gemeinschaft möglich ist, müssen wir immer auch die, Vollkommenheit der Mitmenschen im Blick haben. Im Naturzustand waren alle Menschen frei und gleich. Davon leiten wir das Recht auf Sicherheit. auf Notwehr und auf die Bestrafung der Übeltaten ab. Das letzte Ziel der moralischen Bildung ist eine rechtliche Völkergemeinschaft mit größtmöglicher Wohlfahrt. ol7 Die Jchouischen Moralphilosophen versuchten, die Regeln der Ethik in die Lehren der Metaphysik einzubelten. Weil der Kosmos ein hierarchisches und teleologisch geordnetes System ist. kommt dem moralisch Guten eine ontologische Qualität zu. Ein Mensch ist dann moralisch gut. wenn seine Neigungen mit seiner menschlichen Natur übereinstimmen. Dies ist aber nur dann der Fall. wenn die egoistischen und die altruistischen Bestrebungen in eine ausgeglichene Balance kommen. Unsere moralischen Wertungen haben ihren Ursprung nicht in den Erkenntnissen der Vernunft, sondern in einem allgemeinen Sinn für das Gute (moral sense). Deswegen werden moralische Bewertungen auf intuitive Weise vollzogen. sie brauchen folglich weder eine religiöse. noch eine rationale Begründung. Unsere Handlungen sind aufgrund der ihnen zugrunde liegenden Absichten gut oder böse.
H. Poser. Goufried Wilhelm Leibniz. In: Q. HÖffe. Geschichte. 378-404. J. Rohls. Geschichte. 249-252. n J. Rohls. Geschichte. 253ff.