JEAN-PAUL SARTRE IN SELBSTZEUGNISSEN UND BILDDOKUMENTEN
DARGESTELLT VON WALTER BIEMEL
ROWOHL
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JEAN-PAUL SARTRE IN SELBSTZEUGNISSEN UND BILDDOKUMENTEN
DARGESTELLT VON WALTER BIEMEL
ROWOHL
HERAUSGEGEBEN VON KURT KUSENBERG
Dieser Band wurde eigens für «rowohlts monographien» geschrieben Den Anhang besorgte Helmut Riege Umschlagentwurf Werner Rebhuhn
1.-20. Tausend Januar 1964 21.—30. Tausend Dezember 1964 31.-40. Tausend Februar 1965 41.-48. Tausend Mai 1967 49.-58. Tausend Mai 1968 59.-63. Tausend November 1969 64.-70. Tausend Juni 1970
Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, Januar 1964 © Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, 1964 Alle Rechte dieser Ausgabe, auch die des auszugsweisen Nachdrucks und der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten Gesetzt aus der Linotype- Aldus-Buchschrift und der Palatino (D.Stempel AG) Gesamtherstellung Clausen & Bosse, Leck/Schleswig Printed in Germany ISBN 3 499 $0087 6
INHALT BIOGRAPHISCHE EINLEITUNG WAS BEDEUTET: LITTERATURE ENGAGEE?
7 24
DAS AUFBRECHEN DER FREIHEIT: DIE FLIEGEN DER BLICK
31 43
DAS ERSTARREN DER FREIHEIT: BEI GESCHLOSSENEN TÜREN
53
DIE UNAUFRICHTIGKEIT
63
DIE WEGE DER FREIHEIT I. Z E I T D E R R E I P E
70 71
II. D ER A UESCHU B III. D E R P F A H L IM F L E IS C H E
75 77
D I E FR E IH E I T I N DE R U N F R E I HE I T : TOTE OHNE BEGRÄBNIS
80
ÜBERHEBLICHKEIT UND BE SCHEIDUNG: DER TEUFEL UND DER LIEBE GOTT
93
FREIHEIT UND WAHL
102
FREIHEIT UND FAKTIZITÄT: SITUATION
114
FREIHEIT UND VERANTWORTUNG
128
SARTRE ALS POLEMIKER: LES TEMPS MODERNES
131
SARTRE UND DER MARXISMUS
149
SCHLUSSBEMERKUNG
162
ANMERKUNGEN
165
ZEITTAFEL
167
ZEUGNISSE
169
BIBLIOGRAPHIE
172
NAMENREGISTER
185
QUELLENNACHWEIS DER ABBILDUNGEN
186
BIOGRAPHISCHE EINLEITUNG Der Grundzug, den wir in Sartres Leben finden, ist das WirkenWollen durch das geschriebene Wort. Das beginnt sehr früh. Es wird uns berichtet, daß der achtjährige Junge mit einer wahren Begeisterung schon «Romane», d. h. Erzählungen aus dem Material der ihm zugänglichen Abenteuerromane schrieb. Als Vorbild dafür mag die Gestalt seines Großvaters mütterlicherseits gedient haben, der Schwerpunkt der Familie, der Professor war und «Bücher schrieb». Dadurch hatte er in diesem bürgerlichen Milieu ein besonderes Ansehen. Der Wunsch, so angesehen und verehrenswert wie der Großvater zu sein, bildete zweifellos den ersten Antrieb für das Schreiben-Wollen. Nun ist ja allen Kindern die Freude am Fabulieren eigen; hier verbindet sich damit das Nachahmen-Wollen der wichtigsten Person, die man auch sein will. Das Ungewohnte ist aber, daß dieser Wunsch keine Kinderlaune blieb, sondern der grundlegende «Entschluß», die Wahl seiner Existenz, die sein ganzes Leben bestimmt. Simone de Beauvoir berichtet aus der Zeit fünfzehn Jahre später (1929): «Sartre lebte, um zu schreiben. Er war berufen, von allen Dingen Zeugnis abzulegen und sie, unter dem Primat der Notwendigkeit, denkend neu zu erschaffen.»1* Und weiter: «Der Mensch mußte neu geschaffen werden, und diese Erfindung würde zum Teil unser Werk sein. Unseren Beitrag dazu würden wir jedoch ausschließlich in Büchern leisten.»2 Diese Überzeugung beherrschte Sartre und übertrug sich auch auf Simone de Beauvoir, obwohl er zu diesem Zeitpunkt noch gar nichts veröffentlicht hatte. Dieses Festhalten an dem einmal gefaßten Entschluß, diese Unbeirrbarkeit ist ein ganz entscheidender Charakterzug Sartres. Seine Theorie der Wahl ** ist von ihm selbst gelebt. Die gelebten Wurzeln des Existentialismus gilt es nun zu Gesicht zu bekommen — im Ausgang von der Kindheitssituation Sartres. Sartre wurde 1905 in Paris geboren. Als er zwei Jahre alt war, starb sein Vater, in Übersee erkrankt — er war Marineoffizier. Sartre hat ihn faktisch nicht gekannt. Die Mutter zog zu ihren Eltern. Sartre wuchs bei seinen Großeltern auf. Als er zwölf Jahre alt war, heiratete seine Mutter wieder. Wir sind unmittelbar an die Situation Baudelaires erinnert.*** Es besteht jedoch ein kardinaler Unterschied. Während bei Baudelaire die Trennung von der Mutter, bei ihrer Wiederverheiratung, zur Isolierung führte, zu dem Entschluß, zur Einsamkeit verdammt zu sein, zur Absonderung von den Mitmenschen, zu einer Verbitterung, ist für Sartre das Fehlen des Vaters, das Aufwachsen in einer «fremden» Familie der Grund für eine energische Selbstbehauptung. Während andere Kinder sich durch die elterliche Liebe geborgen * Die hochgestellten Ziffern verweisen auf die Anmerkungen S. 165 f. ** Vgl. «Freiheit und Wahl», S. 102 f *** Vgl. ebd. 7
Vorbild: der Großvater
fühlen, die Liebe als etwas Selbstverständliches hinnehmen, als ein Geschenk, das einem zusteht, ja, die Welt ihnen auf dem Wege über diese Geborgenheit zugänglich wird, kennt Sartre diesen Zustand nicht. Das normal aufwachsende Kind findet in der Zuneigung seiner unmittelbaren Umgebung eine Selbstbestätigung und findet sich dadurch in seinem Selbst gerechtfertigt. Bei Sartre treffen wir auf eine ganz andere Situation, obwohl er, nach den Berichten zu urteilen, von den Großeltern durchaus freundlich aufgenommen wurde, so schwand doch nie das Gefühl, daß er irgendwie ein Fremdling sei, ein Gast, zu dem man nett ist, der aber nicht eigentlich zur Familie gehört, sondern nur geduldet wird. Er muß sich durch sein Benehmen dieser Aufnahme würdig zeigen, sie sich gleichsam verdienen. 8
Eine Folge davon ist das Fehlen von so etwas wie Besitz-Instinkt. Wie wir aus einer Äußerung wissen: Ich habe nie ein Gefühl für das Eigentum gehabt; nichts hat mir jemals wirklich gehört, denn ich habe zuerst bei meinen Großeltern gelebt und, nach der Wiederheirat meiner Mutter, mich bei meinem Stiefvater auch nicht «zu Hause» gefühlt; die Andern gaben mir immer, was ich benötigtet Diese Aussage bezieht sich nicht nur auf seine Kindheit, sie stimmt für das spätere Leben ebenso. Solange man nichts hat, ist es leicht, zu sagen, daß man keinen Besitz-Instinkt habe, aber als Sartre berühmt wurde und nicht mehr aus bescheidenen Lehrer-Einnahmen leben mußte, hat er dieses Fehlen eines Sinnes für Besitz nicht nur darin gezeigt, daß er weiter in einem bescheidenen Hotelzimmer wohnte, wie in den Jahren vorher, sondern vor allem auch in der Großzügigkeit seinen Freunden gegenüber und denen, die Hilfe bedurften. Es sei hier nur auf den Maler Wols verwiesen, der im gleichen Hotel wie Sartre wohnte (Hotel de la Louisiane, rue de Seine) und den Sartre förderte — einer von vielen. Er sah darin nichts Besonderes, kein großartiges Verdienst, keine Tugend, der Verzicht auf Besitz gehörte zu seinem Lebensentwurf. Hatte er kein Geld, so konnte er sich aufs äußerste einschränken, ohne im mindesten darunter zu leiden, traf wieder welches ein, konnte er genießerisch feiern. Wenn Sartre seine Großzügigkeit durch den fehlenden Besitztrieb und die Kindheitssituation gleichsam entschuldigt, so ist das eine gewisse, für ihn wiederum typische Bescheidenheit, denn gerade das anfängliche Fehlen von etwas Eigenem hätte ihn nachher zu einer Geizreaktion treiben können. Aus der Aussage Sartres über die Situation seiner Kindheit wird aber noch etwas Entscheidenderes deutlich. Es geht nicht nur um die Stellung zum Besitz, darum: zu haben oder nicht zu haben, sondern darum, daß die eigene Existenz einem nicht geschenkt wird, daß man sie zu rechtfertigen, zu leisten hat. So wie der Gast seinen Aufenthalt in der fremden Familie rechtfertigen muß — denn es ist doch keineswegs selbstverständlich, daß er aufgenommen wird —, so wird diese Rechtfertigung zu einem Grundproblem von Sartres Deutung der menschlichen Existenz. Wir existieren nur insofern, als wir unser Sein zu rechtfertigen vermögen, durch unser Tun und Verhalten. Unser Sein ist etwas zu Leistendes. In Sartres Kindheit wird dies Leisten vollzogen durch sein Theaterspielen mit dem Großvater, der einen komödiantischen Hang besaß und sich daran erfreute, mit dem Jungen bestimmte Szenen zu erfinden und vorzuspielen. Das ist wiederum ein Hang, der den meisten Kindern eigen ist, bloß geschieht es selten, daß die Erwachsenen daran Gefallen finden und ein Spielen von gleich zu gleich gestatten. Sartre gewinnt in diesem Spielen Autorität. Denn sein Partner ist die Autoritätsperson seiner unmittelbaren Umgebung. Hier scheint uns auch die Wurzel — die erlebnismäßige Wurzel — für Sartres Theorie zu liegen, daß unsere Existenz «gespielt» wird, daß jeder Mensch sich selbst spielen muß, eine Rolle übernehmen 9
Acht Monate alt
Zwei Jahre
11
Der Sechsjährige
muß, um so mit dem Mitmenschen zusammen sein zu können.* Eine These, die ja durchaus nicht selbstverständlich ist und auch häufig Kritik hervorgerufen hat. Sartre spielte das kluge, witzige, geistreiche, einfallsreiche Kind, das die Erwachsenen unterhielt, und war durch diese Rolle gerechtfertigt. Für eine andere Grundthese Sartres, die im folgenden ausführlich analysiert wird (vgl. Der Blick), finden wir auch hier die Ausgangssituation : daß der Bezug zum Mitmenschen primär der des AngeblicktWerdens, des durch das Angeblickt-Werden Beurteilt-Werdens ist. Das vaterlose und dadurch familienlose, heimlose Kind ist immer der Kritik derer ausgesetzt, die es sozusagen auf Bewährung aufgenommen haben. Es ist eine Art Eindringling und muß ständig trachten, das zu überspielen, vergessen zu lassen. Der Eindringling fühlt sich ständig beobachtet. Wird, wie das bei Sartre der Fall war, durch das Spielen die Rechtfertigung des eigenen Seins erbracht, dann ist dies Beobachtetwerden noch provoziert. Das geborgene Kind lebt von vornherein in der Selbstverständlichkeit, daß sein Tun anerkannt, gelobt und bewundert wird, und selbst Kritik bedeutet Anerkennung, im Sinne des ErnstgenommenWerdens — die Kritik erschüttert also nicht die Zugehörigkeit zur Familie. Für das «fremde» Kind ist eine mögliche Kritik mit dem möglichen Ausschluß aus der «Familie» verbunden. Ist die Haltung des «eigenen» Kindes von einem g r u n d s ä t z l i c h e n Zutrauen * Es sei hier eine Stelle aus Das Sein und das Nichts angeführt: Betrachten wir diesen Kaffeehauskellner. Er hat rasche und sichere Bewegungen, ein wenig allzu bestimmte und ein wenig allzu schnelle, er kommt ein wenig zu rasch auf die Gäste zu, er verbeugt sich mit ein wenig zuviel Beflissen- \ heit, seine Stimme und seine Blicke drücken eine Interessiertheit aus, die ein wenig zu sehr von der Besorgnis um die Bestellung des Kunden in Anspruch genommen ist; dort kommt er zurück und versucht durch seine Art zu gehen die unbeugsame Härte irgendeines Automaten nachzumachen, während er gleichzeitig sein Tablett mit einer Art Seiltänzerkühnheit trägt, wobei er es in einem fortwährend labilen und fortwährend gestörten Gleichgewicht hält, das er mit einer leichten Bewegung des Armes oder der Hand fortwährend wiederherstellt. Seine ganze Verhaltensweise sieht wie ein Spiel aus... Er spielt, er unterhält sich dabei. Aber wem spielt er etwas vor? Man braucht ihn nicht lange zu beobachten, um sich darüber klar zu werden: er spielt, Kaffeehauskellner zu sein. Darin liegt nichts Überraschendes: das Spiel ist eine Weise des Sichzurechtfindens und des Nachforschens. Das Kind spielt mit seinem Körper, um ihn zu erforschen, um eine Bestandsaufnahme zu machen; der Kaffeehauskellner spielt mit seiner Stellung, um sie r e a l zu setzen. Das ist für ihn ebenso notwendig wie für jeden Kaufmann: ihre Stellung ist ganz Zeremonie, und das Publikum verlangt von ihnen, daß sie sie wie eine Zeremonie realisieren; es gibt den Tanz des Kolonialwarenhändlers, des Schneiders, des Auktionators, durch den sie ihre Kundschaft davon zu überzeugen sich bemühen, daß sie weiter nichts sind als ein Kolonialwarenhändler, ein Auktionator, ein Schneider. (S. 106) (Sartres Werke sind, soweit nicht anders vermerkt, nach der deutschen Ausgabe im Rowohlt Verlag, Reinbek b. Hamburg, zitiert, wobei die Übersetzungen gelegentlich leicht abgeändert wurden.)
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getragen, nämlich das Zutrauen, daß es in der Familie «daheim» ist, daß das sein angestammter Platz ist, an den es gehört, so ist das «aufgenommene» Kind von einem grundsätzlichen Mißtrauen beherrscht, es hat das Gefühl, wann immer ausgestoßen werden zu können. Jedes Vergehen kann den Anlaß dazu geben. Es darf sich nicht erlauben, unangenehm aufzufallen. Die Grundstimmung ist die Furcht vor dem Ausgestoßen-Werden. Das Beurteilt-Werden wird zu einer Frage von Leben und Tod. Das aufgenommene Kind, der Eindringling, darf sich nie sicher fühlen, darf sich nie auf etwas verlassen, er ist ja nur geduldet und die Duldsamkeit kann jeden Augenblick zu Ende sein. Weil die Beziehung zu den Mitmenschen im Medium der Gefahr vollzogen wird, ist die Einstellung die des Kampfes, der Aggressivität. Einer Aggressivität, die sich selbst tarnen, verbergen muß. Ständiger Argwohn beherrscht den Beurteilten. Er weiß gar nicht, wie er beurteilt wird. Das macht ihn doppelt argwöhnisch. Es könnte ja sein, daß sich unter der freundlichen Maske die fatale Ablehnung verbirgt Wir finden all diese Momente in Sartres Darstellung der mitmenschlichen Beziehungen. Ohne Kenntnis der lebensgeschichtlichen Kindheitssituation scheinen sie willkürlich zu sein. Ohne Einsicht in das verborgene Leiden des Kindes ist auch nicht verständlich, wieso Sartre mit einer so maßlosen Aggressivität sich gegen das Bürgertum richtet, also das Milieu, in dem er aufgewachsen ist und das er für diese Qualen verantwortlich macht. Qualen, die er nicht zeigen durfte. In dem Augenblick, da er die Selbständigkeit errungen hat, entlädt er seinen ganzen Haß gegen die Klasse, der er selbst entstammt. So wie die Großzügigkeit, die Treue für seine Freunde, die er gerade in den gefährlichen Augenblicken verteidigt, für Sartre typische Charakterzüge sind, so auch seine Aggressivität, die sich in erster Linie gegen seine eigene Herkunft richtet und dann gegen die, die er als Gegner bezeichnet. Er verfährt mit ihnen unerbittlich. Sein scharfer Intellekt entdeckt Widersprüche in ihrer Haltung, Schwächen in der Beweisführung, sein psychologischer Spürsinn entdeckt - oder erfindet — degradierende Motive, die einleuchtend sind, den Betreffenden unmöglich machen. Um gerecht zu sein, muß hinzugefügt werden, daß Sartre seine Gegner nicht systematisch verfolgt. Der Periode der Aggressivität folgt gewöhnlich eine der Abklärung —ist der Kampf vorbei, siegreich beendet, dann wird auch versucht, dem Gegner Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Der Gegner verwandelt sich in einen Partner — einen Partner im selben Streit, im selben Suchen nach dem, was unsere Zeit bestimmt und trägt. Als Beispiele solcher Auseinandersetzungen seien hier die beiden Nachrufe auf Merleau-Ponty und Camus * angeführt. Wobei der erstere eine der interessantesten Analysen einer bestimmten Generation ist ' Vgl. S. 146 f 13
An der Elementarschule. Mit gestreiftem Sweater: Jean-Paul. Der Lehrer trägt Uniform, weil er zum Militärdienst einberufen ist. Um 1916/(17
Vierzehn Jahre alt
15
Jugendbildnis im Alter von sieben Jahren
Der Achtzehnjährige 17
und der Wandlungen, die sie durchgemacht hat. Es fehlen darin nicht Momente der Selbstrechtfertigung, aber tragend ist das Bestreben der aufrichtigen Analyse einer Freundschaft, bis zu ihrem Ende und dem Beginn der neuen Annäherung, die durch den Tod unterbrochen wurde.* Der einzige Haß, von dem Sartre behauptet, daß er ihn bis zum letzten Atemzug nicht verlassen wird, ist der gegen das Milieu seiner Herkunft. Seine Entstehung versuchten wir aufzuzeigen. Den Gegenpol dazu bildet seine grundlegende Sympathie für die Unterdrückten, die Proletarier, die zu einem Idealbild hypostatiert werden.** Auf dem literarischen Gebiet äußert sich die Aggressivität Sartres besonders in seinen ersten Erzählungen: Die Mauer (Le Mur), durch die Darstellung des Provozierenden, die Erschütterung überkommener Wohlanständigkeit durch Betonung des Obszönen (z. B. in Herostrat (Erostrate)). Das Vorhergehende läßt verständlich werden, daß Sartres These: der Mensch ist nur, was er aus sich selbst macht, was er leistet, von ihm selbst gelebt wurde. Als «Fremdling» mußte er sich zuerst in der Familie behaupten, die nicht die seine war, dann in der Schule, wo er es durch sein nicht einnehmendes Äußeres sicher nicht leicht hatte. Was ihm an physischen Reizen fehlte, ersetzte er durch seine geistige Überlegenheit. Er erreichte es, auf die französische EliteHochschule aufgenommen zu werden, die Éicole Normale Superieure, die eine der schärfsten Auslesen vollzieht und deren Studenten für die ganze Zeit des Studiums Staatsstipendiaten sind. 1929 machte er die Agregation — das Abschlußexamen — als Erster; seine Freundin und Gefährtin Simone de Beauvoir als Zweite und der beste französische Hegel-Kenner und Übersetzer der «Phänomenologie des Geistes», Jean Hyppolite, sein Freund, als Dritter. Der Heim-lose wählte die Heimlosigkeit zu seinem Schicksal, verwandelte sie in ein Zeichen der Freiheit und Ungebundenheit. Wie Simone de Beauvoir berichtet: «Seiner Meinung nach sollte der Schriftsteller, der Geschichtenerzähler, dem ›Baladin‹ von Synge gleichen: nirgends läßt er sich endgültig nieder. Und bei niemandem.»4 Auch seine Beziehung zur Freundin durfte nicht zu einer starren Bindung werden. «Sartre war nicht zur Monogamie berufen; er war gern in Gesellschaft von Frauen, die er weniger komisch fand als Männer. Er war nicht bereit, mit dreiundzwanzig Jahren für immer auf die Freuden der Abwechslung zu verzichten. ›Bei uns beiden‹, erklärte er mir unter Anwendung seines Lieblingsvokabulars, ›handelt es sich um eine notwendige Liebe: es ist unerläßlich, daß wir auch die Zufallsliebe kennenlernen.) Wir waren von gleicher Art, und unser Bund * Erschienen in deutscher Übersetzung von Hans Heinz Holz im InselVerlag, Frankfurt a. M. 1962, unter dem Titel: Freundschaft und Ereignis. ** Vgl. zu Sartres Stellung zum Marxismus — und die Entdeckung der Proletarier S. 149 f.
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würde so lange dauern wie wir selbst; er bot jedoch keinen Ersatz für den flüchtigen Reichtum der Begegnungen mit anderen Wesen. Warum sollten wir freiwillig auf die Skala der Überraschungen, der Enttäuschungen, der Sehnsüchte, der Freuden verzichten, die sich uns anboten?»? Zunächst schlug Sartre einen Zwei-Jahres-Pakt vor. «Ich konnte es einrichten», schreibt Simone de Beauvoir, «diese zwei Jahre in Paris zu bleiben, und wir würden sie in möglichst engem Zusammenleben verbringen. Danach, so schlug er mir vor, sollte auch ich mich um einen Posten im Ausland bewerben. Wir würden einander zwei, drei Jahre nicht sehen und uns dann irgendwo in der Welt wiedertreffen, in Athen zum Beispiel, um auf mehr oder weniger lange Sicht von neuem ein mehr oder weniger gemeinsames Leben zu führen, wir würden einander nie fremd werden, keiner würde je vergebens an den anderen appellieren, und nichts würde dieser Allianz den Rang ablaufen; aber sie durfte weder in Zwang noch in Gewohnheit ausarten. Um jeden Preis müßten wir sie vor dieser Zersetzung bewahren.»6 Sartre hatte geplant, einen Auslandsposten anzunehmen, möglichst weit weg, in einer anderen Welt, und gehofft, eine Stelle in Tokio zu bekommen. Das gelang ihm nicht. Ein Zug dieser einzigartigen Freundschaft sei noch festgehalten, da er für beide Partner kennzeichnend ist: das Bedürfnis nach Aufrichtigkeit. «Wir schlössen einen weiteren Pakt: weder würden wir einander je belügen noch etwas voreinander verbergen. Die ›petits camarades‹ empfanden den größten Abscheu vor dem sogenannten ›Innenleben‹. In jenen Gärten, wo die edlen Seelen zarte Geheimnisse hegen, sahen sie nur stinkenden Morast; dort war die heimliche Brutstätte für Lug und Trug, dort labte man sich an den fauligen Wonnen des Narzißmus. Um diese Schatten und Miasmen zu verscheuchen, stellten sie ihr Leben, ihre Gedanken, ihre Gefühle öffentlich zur Schau. Begrenzt wurde dieser Drang nach Zurschaustellung nur durch ihren Mangel an Neugier: wer zu viel von sich sprach, langweilte die Anderen. Aber zwischen Sartre und mir galt diese Einschränkung nicht: es wurde also abgemacht, daß wir einander alles sagen würden. Ich war an Schweigen gewöhnt, und die Befolgung dieser Regel fiel mir zunächst schwer. Aber ich begriff schnell ihre Vorteile; ich brauchte mich nicht mehr mit mir selbst auseinanderzusetzen: ein Blick, wohlwollend zwar, aber unparteiischer als mein eigener, lieferte mir von jeder meiner Bewegungen ein Abbild, das ich für objektiv hielt; diese Kontrolle schützte mich vor Ängsten, falschen Hoffnungen, müßigen Zweifeln, Hirngespinsten, den Erregungszuständen, gängigen Begleiterscheinungen der Einsamkeit. Ich trauerte der Einsamkeit nicht nach, im Gegenteil, ich war glücklich, ihr entronnen zu sein. In Sartre konnte ich hineinsehen wie in mich selbst: welche Beruhigung!»7 Wie sehr für Sartre selbst, nach dem Druck der Kindheit, dem Sich-verstellen-, Immer-artig-sein-, Sich-nach-den-Anderen-richten-
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Müssen usw., diese neue Einstellung eine Art Erlösung, ja Konversion bedeuten mußte, können wir uns vorstellen, auch das Ablehnen jeglicher starren Bindung verstehen wir nach der Zeit des Ausgeliefertseins. Daß Simone de Beauvoir diese freizügige Bindung nicht immer leicht fiel, ersehen wir aus ihrem Roman «Sie kam und blieb». Nach seinem Militärdienst bei einer Meteorologie-Einheit in Tours, von Oktober 1929 bis Februar 1931, unterrichtete Sartre Philosophie an einem Gymnasium in Le Havre und ging anschließend an das Französische Institut in Berlin (1933—1934). Von 1934 bis 1936 kehrte er nach Le Havre zurück, anschließend wurde er nach Laon versetzt (1936—1937) und kam dann an das berühmte Pasteur-Gymnasium in Paris. Er hatte das erste sich selbst gesetzte Ziel erreicht — in Paris zu unterrichten, nicht mehr in der Provinz bleiben zu müssen. In die Berliner Zeit fällt die nähere Bekanntschaft mit der Philosophie Edmund Husserls, des Begründers der Phänomenologie, für den das Interesse in Frankreich so rege war, daß er 1929 zu Vorlesungen an die Sorbonne eingeladen wurde.* Ein erster Niederschlag der Auseinandersetzung mit Husserl ist der 1936 erschienene Aufsatz: La Transcendance de l'ego. Esquisse d'une description phenomenologique. Gleichfalls von der Phänomenologie beeinflußt ist die Studie über die Einbildungskraft, L'Imagination (1936). Die erste Berührung mit Heidegger war schon früher erfolgt, durch einen japanischen Schüler Heideggers, der Sartre «Sein und Zeit» geschenkt hatte. Nach den Berichten Simone de Beauvoirs reichte das Verständnis allerdings zunächst nicht sehr weit. Erst im 1943 erschienenen philosophischen Hauptwerk Sartres Das Sein und das Nichts (L'Etre et le Neant) wird der Einfluß Heideggers deutlich sichtbar, wir finden gelegentlich Stellen, die beinahe wortwörtliche Transpositionen von Heidegger sind. Der dritte Denker, der in diesem Zusammenhang unbedingt genannt werden muß, ist Hegel. In der Vorliebe für dialektische Formulierungen klingt Hegel immer wieder an. In der Zeit von 1936—1943 entfaltet Sartre eine große schriftstellerische Aktivität, die sich in philosophischen und literarischen Veröffentlichungen manifestiert. Nach der Abhandlung über die Einbildungskraft erscheint 1937 die erste Novelle Die Mauer in der führenden französischen Literaturzeitschrift «Nouvelle Revue Francaise». 1938 folgt der erste Roman Der Ekel (LaNausee), 1939 die Novellensammlung Die Mauer, die neben der schon genannten Titelnovelle noch die Erzählungen Das Zimmer (La Chambre), Herostrat, Intimität (Intimite) und Die Kindheit eines Chefs (L'Enfance d'un chef) umfaßt. Durch diese beiden Veröffentlichungen hatte sich Sartre eine Stellung unter den führenden französischen Literaten errungen. Im gleichen Jahr erschien noch seine philosophisch-psychologische Ab* Der Text dieser Vorträge ist im ersten Band der Gesammelten Werke Husserls enthalten, der von Stephan Strasser herausgegeben wurde. 21
handlung Esquisse d'une theorie des emotions, im Jahre darauf die größere Arbeit über das Imaginäre: L'lmaginaire, mit dem Untertitel Phänomenologische Psychologie der Einbildungskraft. Durch die Kriegsereignisse tritt zunächst eine Unterbrechung ein. Im April 1941 gelingt es ihm, aus dem Gefangenenlager zu entkommen. Er nimmt seine Lehrtätigkeit am Pasteur-Gymnasium wieder auf und ist von 1942—1944 am Condorcet-Gymnasium. Es ist kennzeichnend für Sartre, daß die Besatzungszeit keineswegs seine schriftstellerische Tätigkeit hemmt. Er erprobt sich am Widerstand, er empfindet ihn als eine Herausforderung — gerade für die Bewährung der Freiheit. Niemals waren wir freier als unter der deutschen Besatzung. Wir hatten alle Rechte verloren und zuerst dasjenige, zu sprechen; man beschimpfte uns jedenTag und wir mußten schweigen; man verschleppte uns in Massen, als Arbeiter, als Juden, als politische Gefangene; überall — auf den Mauern, in den Zeitungen, auf der Leinwand- fanden wir dies abscheuliche und fade Gesicht wieder, das uns die Unterdrücker von uns geben wollten: wegen all dem waren wir frei. Da das Nazigift sich bis in unsere Gedanken einschlich, war jeder rechte Gedanke eine Eroberung; da eine allmächtige Polizei uns zum Schweigen zwingen wollte, wurde jedes Wort wertvoll, wie eine prinzipielle Erklärung; da wir verfolgt waren, besaß jede unserer Gesten die Schwere eines Engagements? Sartre nahm an der Widerstandsbewegung mit großer Sympathie Anteil. Die Widerstandsbewegung war eine wahrhafte Demokratie: für den Soldaten wie für den Befehlshaber gab es die gleiche Gefahr, die gleiche Verantwortung, die gleiche absolute Freiheit in der Disziplin. So wurde im Schatten und im Blut die stärkste Republik gegründet, jeder ihrer Mitglieder (citoyen) wußte, daß er für alle da war und nur mit sich selbst rechnen konnte; jeder verwirklichte, in der größten Hilflosigkeit, seine historische Rolle. Jeder von ihnen verwirklichte sein Selbstsein gegen die Unterdrücker auf unwiderrufliche Weise, und indem er sich in seiner Freiheit wählte, wählte er die Freiheit aller.9 1943 erscheint sein erstes Drama Die Fliegen (Les Mouches), und sein umfassendes philosophisches Werk Das Sein und das Nichts, 1945 die beiden ersten Bände der Romantrilogie Die Wege der Freiheit (Les Chemins de la Liberte), nämlich Zeit der Reife (L'Äge de Raison) und Der Aufschub (Le Sursis) sowie das Drama Bei geschlossenen Türen (Huis Clos). Seine schriftstellerische Tätigkeit reißt von nun an eigentlich nicht mehr ab. Zunächst treten die literarischen und zwar dramatischen Werke in den Vordergrund — zwischendurch aber auch philosophische und literaturwissenschaftlich-philosophische Studien und politische Abhandlungen. So die Studie über Baudelaire (1947), Entretiens sur la politique (mit David Rousset und Gerard Rosenthal) 1949, die große existential-psychologische Arbeit Saint Genet, comedien et martyr 1952 (als erster Band der Genet-Ausgabe veröffentlicht). Die kürzeren Studien sind in den Bänden Situations I, II und III gesammelt.
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1946 erscheint das Drama Tote ohne Begräbnis (Morts sans sepulture) und Die ehrbare Dirne (La Putain respectueuse); 1947 das Filmszenario Das Spiel ist aus (Les ]eux sont faits); 1948 Im Räderwerk (L'Engrenage) und Die schmutzigen Hände (Les Mains sales); 1949 der dritte Band der Trilogie Der Pfahl im Fleische (LaMort dans t'äme); 1951 DerTeufel und der liebe Gott (Le Diable etlebonDieu); 1954 Kean (eine Adaptierung nach A. Dumas); 1956 das Theaterstück Nekrassov und i960 Die Eingeschlossenen (Les Sequestres d'Altona). Im gleichen Jahr erscheint auch Critique de la raison dialectique, die Sartres Auseinandersetzung mit dem Marxismus und seine eigene Gesellschaftstheorie enthält. Um sich ganz seiner schriftstellerischen Tätigkeit widmen zu können, ließ sich Sartre 1945 vom Staatsdienst beurlauben. Zunächst lebte er besonders vom Verfassen und Mitarbeiten an Filmszenarien. 1945 gründete er die Zeitschrift «Les Temps Modernes», die bis heute sein Organ ist, in dem er zu den aktuellen politischen und kulturellen Fragen Stellung nimmt und in der gewöhnlich seine und Simone de Beauvoirs Arbeiten vorveröffentlicht werden. Lange Zeit hatte er als engsten Mitarbeiter seinen Freund Merleau-Ponty (vgl. das Kapitel: Sartre als Polemiker). Die Zeitschrift steht links, ohne jedoch die Grenze zu den Kommunisten zu überschreiten, wenn auch öfter ihnen sehr ähnliche Stellungnahmen bezogen werden. Der Versuch, eine eigene Partei zu gründen, scheiterte. Während Sartre von den Kommunisten jahrelang sehr heftig befehdet wurde, seine Werke im Osten nicht verkauft werden durften, ist er in der letzten Zeit wiederholt nach Moskau und zu Treffen, die von Moskau inspiriert wurden, eingeladen worden. Vermutlich deswegen, weil er als Verbindungsglied zwischen den Kommunisten und der nicht-kommunistischen Linken angesehen, ja, überhaupt zu den einflußreichen Sympathisanten aus der Reihe der Bürgerlichen gezählt wird. Das hindert ihn aber keineswegs, eine sehr heftige Kritik am gegenwärtig verwirklichten Marxismus vorzunehmen (vgl. Sartre und der Marxismus, S. 149 f). Sartres Unabhängigkeitsdrang beugt sich auch den Kommunisten gegenüber nicht, wenn er auch die Tendenz hat, ihnen oft entgegenzukommen, weil er in ihnen die Partei derjenigen sieht, die sich gegen die Unterdrückung richten. Sartre ist von dem Bewußtsein beseelt, eine Mission zu erfüllen. Zur Klärung dieses Bewußtseins sei damit begonnen, seine Auffassung vom engagierten Schriftsteller darzustellen.
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WAS BEDEUTET: LITTERATURE ENGAGEE? Sartre nennt sich einen «engagierten» Schriftsteller. Er erhebt die Forderung, daß die Schriftsteller sich «engagieren», sich einsetzen müssen. Was bedeutet die Forderung? Sartre scheidet radikal zwischen Dichtung und Literatur. Beide bewegen sich im Medium der Sprache und sind doch scharf zu trennen. Denn als was die Sprache verstanden und genommen wird, ist jedesmal etwas anderes. Die Sprache selbst wandelt sich, wenn von der Sprache der Dichtung zur Sprache der Literatur übergegangen wird. Für den Schriftsteller ist die Sprache ein Instrument. Er bedient sich der Sprache, um einen Sachverhalt zu klären, zu fassen. Der Dichter dagegen will die Sprache nicht als Instrument gebrauchen, er stellt sich vielmehr selbst in den Dienst der Sprache. Dichter sind Leute, die sich weigern, die Sprache zu benutzen.' 10 Und: Tatsächlich hat der Dichter sich entschlossen von der Sprache als Instrument zurückgezogen; er hat ein für allemal die dichterische Haltung gewählt, die die Wörter als Dinge und nicht als Zeichen betrachtet. Denn die Doppeldeutigkeit des Zeichens schließt ein, daß man es nach Belieben wie eine Glasscheibe durchdringen, und daß man durch das Zeichen hindurch das bezeichnete Ding verfolgen kann, oder daß man den Blick auf seine R e a l i t ä t richten und es als Objekt betrachten kann. Der sprechende Mensch steht jenseits der Wörter, bei dem Objekt; der Dichter steht diesseits der Wörter. Für ersteren sind die Wörter Diener, für letzteren bleiben sie in einem Zustand der Wildheit. Für jenen handelt es sich um zweckdienliche konventionelle Formen, um Werkzeuge, die sich allmählich abnutzen und die man wegwirft, wenn sie einem nicht mehr dienen können; beim zweiten handelt es sich um naturgegebene Dinge, die ganz natürlich auf der Erde wachsen wie das Gras und die Bäume. 11 Das Wort des Schriftstellers ist ein Zeichen. Das Wesen des Zeichens besteht darin, auf etwas zu verweisen. Klammert man sich an das Zeichen, ohne seinen Verweisungscharakter zu begreifen, dann versteht man es nicht.* Der Zeichencharakter geht dann verloren, genauer gesprochen, er kommt gar nicht zum Tragen. Weil das Zeichen seine Funktion im Zeigen erfüllt, im Verweisen auf etwas anderes als es selbst, deswegen gebraucht Sartre das Bild vom «Glas». Man sieht durch das Glas hindurch, ohne auf das Glas selbst zu achten, man achtet vielmehr auf die Dinge, die sich hinter dem Glas darbieten. Die Worte des Schriftstellers sollen den Zugang zu den Dingen vermitteln, sollen selbst verschwinden, wie das Glas, um die Dinge sichtbar zu machen. Die Dinge interessieren, nicht das, was uns den Zugang vermittelt (die Worte). Nun ist aber die Rückwendung auf das Glas sehr wohl möglich — d. h., die Rückwendung auf die Worte selbst. Das geschieht beim Dichter. Für ihn werden die Worte zu Sachen (Dingen), er entdeckt * Vgl. Martin Heidegger, «Sein und Zeit», Kapitel 17
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in ihnen Eigenschaften, die vorher verborgen geblieben waren, er betrachtet sie als selbständige Wesen, deswegen der Vergleich mit den auf der Erde wachsenden naturhaften Dingen, deswegen die Nennung der «Wildheit», im Sinne des Ungebändigten, Unberührten. Der Klang eines Wortes, die Länge, der Rhythmus, all das erhält eine Bedeutung, die bei der Instrumentalfunktion nicht in Erscheinung tritt, nicht in Erscheinung treten kann, weil es für diese Funktion nicht von Bedeutung ist. Statt zu bezeichnen erhält die Sprache eine andere Aufgabe, sie repräsentiert die Welt, wird zum Bild für die Welt. Es ist ein Unding, vom Dichter so etwas wie ein «engagement» zu verlangen, denn das setzte voraus, daß er seine Beziehung zur Sprache, seine Bindung an die Sprache aufgibt, auf ihre magische Wirkung verzichtet, um die Sprache bloß als Instrument zu gebrauchen. Worauf kommt es dem Schriftsteller bei seinem Umgang mit der Sprache an? Die Prosa ist im wesentlichen zweckbedingt; ich würde den ProsaSchriftsteller gern als einen Menschen definieren, der sich der Wörter bedient... Der Schriftsteller ist ein Sp r e eher: er bezeichnet, beweist, befiehlt, verweigert, fragt, beschwört, beleidigt, überzeugt, flüstert ein. Wenn er das ins Leere hinein tut, xoird er deswegen kein Dichter, sondern ein Prosa-Schriftsteller, der spricht, ohne etwas zu sagen. Damit haben wir die Sprache genug verkehrt herum betrachtet; es ist jetzt an der Zeit, sie richtig zu sehen. Die K u n s t d e r P r o s a übt man im Gespräch, ihr Material ist naturgemäß bezeichnender Art: d. h. die Wörter sind zunächst nicht Objekte, sondern Objekt-Bezeichnungen. Wir brauchen zunächst nicht zu wissen, ob sie gefallen oder mißfallen, sondern ob sie ein bestimmtes Ding in der Welt oder einen bestimmten Begriff korrekt bezeichnen. So kommt es häufig vor, daß wir im Besitz einer bestimmten Vorstellung sind, die man uns durch Worte beigebracht hat, daß wir uns aber nicht eines einzigen Wortes entsinnen können, das uns diese Vorstellung vermittelt hat. Die Prosa ist zunächst eine Geisteshaltung: um Prosa handelt sich's, wenn das Wort (um mit Valery zu sprechen) unseren Blick passiert wie der Sonnenstrahl das Glas. Wenn man in Gefahr oder in einer Schwierigkeit ist, greift man nach einem beliebigen Werkzeug. Ist die Gefahr vorüber, dann entsinnt man sich nicht einmal mehr, ob es ein Hammer oder ein Holzscheit war. Man hat es übrigens nie gewußt: wir brauchten einfach eine Verlängerung unseres Körpers, ein Mittel, um die Hand nach dem höchsten Zweig ausstrecken zu können; ein sechster Finger war's, ein drittes Bein, kurz — eine reine Funktion, die wir uns angeeignet haben. So auch die Sprache: sie ist unser Rückenschild und unser Fühler, sie nimmt uns gegen die Anderen in Schutz und klärt uns über sie auf, sie ist eine Verlängerung unserer Sinne. Wir stecken in der Sprache wie in unserem Körper; wenn wir durch sie hindurch andere Ziele anstreben, fühlen wir sie unwillkürlich, wie wir unsere Hände und unsere Füße fühlen; wir nehmen sie wahr, wenn ein anderer sich ihrer bedient, wie wir die Gliedmaßen anderer wahrneh-
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men. Es gibt das gelebte Wort und das Wort als Begegnung. In beiden Fällen handelt sich's um ein Unternehmen — von mir in bezug auf die Anderen oder vom Anderen in bezug auf mich. Das Wort bezeichnet ein ganz bestimmtes Moment der Tätigkeit und ist auflerhalb dieser Tätigkeit nicht zu begreifen.12 Haben wir die «bezeichnende» Funktion der Sprache gefaßt, also die Sprache als ein Instrument, vermittels dessen wir der Dinge habhaft werden, so tritt gleich ein neues Merkmal hinzu. Der Handlungscharakter der Sprache. Was will Sartre uns zu verstehen geben, wenn er sagt: Sprechen heißt Handeini *3 Das könnte banal so verstanden werden, daß das Sprechen eine Tätigkeit ist, bei der die Sprachwerkzeuge gebraucht werden. Das ist natürlich nicht gemeint. Im Sprechen geschieht ein Benennen der Dinge (dieser Begriff ganz weit gefaßt). Das benannte Ding ist nicht mehr dasselbe wie das unbenannte, es hat, in Sartres Ausdrucksweise, seine Unschuld verloren. Es ist durch das Benennen festgelegt worden. Da das Benennen aus einer bestimmten Intention erfolgt, wird etwas Bestimmtes in den Vordergrund gestellt, anderes unberücksichtigt gelassen. Betrachte ich eine Landschaft, so setze ich bei diesem Betrachten nach meinem Belieben die Elemente der Landschaft in eine Beziehung zu einander. Ich kann allein auf Farbmomente achten, ich kann Bewegungsmomente heraussehen, ich kann Kontraste zwischen hell und dunkel festhalten, oder die Härte des Bodens zu der Weichheit des Himmels in Beziehung setzen. All das ist meine Tätigkeit, durch die mir das Seiende zugänglich wird, so daß gesagt werden kann, das Seiende warte auf mich, um sich zu zeigen. Es ist auch ohne mich, aber es erscheint nicht. Es bedarf des Auges, um erscheinen zu können — wobei das Auge hier für das mögliche Verstehen steht. Husserl faßte diesen Vorgang des Zum-Erscheinen-Kommens des Seienden im Subjekt und für das Subjekt als Akt der Konstitution. In meinem Verständnis konstituiert sich das Erscheinende. Durch diesen Begriff sollte die Beteiligung des Subjekts am Vorgang des Erscheinens deutlich gemacht und die übliche These vom passiven Aufnehmen des Gegebenen aufgehoben werden. Heidegger wies darauf hin, daß der griechische Begriff der Wahrheit nicht verstanden werden darf als Adäquation von Vorstellung und Sache, als Sich-Richten der Vorstellung nach der Sache, sondern als Un-Verborgenheit (a-letheia), also im Sinne von: dem Verborgenen Entreißen und in die Helle Hervorholen. Das sei hier nur ganz kurz angedeutet, da Sartre beide Deutungen hier voraussetzt und Momente daraus entnimmt, ohne ausdrücklich darauf hinzuweisen. Das Beispiel Sartres vom Sehen der Landschaft zeigt uns, daß keineswegs nur in der Sprache ein Zum-Erscheinen-kommen-Lassen, ein Sichtbarmachen geschieht, daß diese Tätigkeit vielmehr wesenhaft zum Menschen gehört, daß es die ursprüngliche menschliche Tätigkeit ist. Das Sprechen ist eine Weise dieser Tätigkeit.
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Sobald klargestellt ist, daß die Bedeutung des Sprechens im Sehenlassen liegt, wird von Sartre der zweite Schritt vollzogen; ob er in dieser Weise wirklich notwendig ist, bleibe dahingestellt. Im Sichtbarmachen, im Enthüllen begnüge ich mich nicht damit, etwas freizustellen, sondern jegliches Aufdecken und Enthüllen geschieht im Hinblick auf eine Änderung der menschlichen Gesellschaft. Der Schriftsteller ist der Mensch, der zu seinem Beruf das Handeln im Sinne des Aufdeckens der Änderungsmöglichkeiten gewählt hat. So ist der Prosa-Schriftsteller ein Mensch, der eine gewisse Art zweitrangigen Handelns gewählt hat, das man ein Handeln durch Enthüllen nennen könnte. Es ist also berechtigt, ihm diese ziueite Frage zu stellen: welche Ansicht von der Welt willst du enthüllen, welche Veränderung willst du durch diese Enthüllung auf der Welt herbeiführen? Der «gebundene» Schriftsteller weiß, daß das Wort Handlung ist; er weiß, daß Enthüllen Verändern ist, und daß man nur enthüllen kann, wenn man die Absicht hat, etwas zu verändern. Er hat den unmöglichen Traum, ein unparteiisches Bild von der Gesellschaft und von der Situation des Menschen zu entwerfen, aufgegeben.14 Was ergibt sich daraus für den «engagierten» Schriftsteller? Er weiß, daß sein Sprechen nicht ein einfaches Beschreiben ist, sondern eine Tätigkeit des Aufdeckens, des Sichtbarmachens. Diese wiederum ist geleitet von dem Vor-Entwurf der Gesellschaftsform, die wir anstreben. Das Sichtbarmachen soll dem angestrebten Wandel dienen. Der Schriftsteller hat gewählt, die Welt zu enthüllen, insbesondere den Menschen den anderen Menschen, damit sie angesichts des so entblößten Objekts ihre ganze Verantwortung auf sich nehmen.15 Das Freilegen der menschlichen Verhaltungsweisen in der Gesellschaft, soll die Mitmenschen zur Stellungnahme aufrufen. Sie sollen selbst sehen, was vor sich geht und dann dafür mitverantwortlich sein. Solange die Zusammenhänge nicht freigelegt waren, konnte der Einzelne sich der Verantwortung entziehen. Es ist die Funktion des Schriftstellers, so zu wirken, daß keiner die Welt ignorieren und keiner in ihr sich unschuldig nennen kann.16 Wie steht es aber mit dem Stil? Wir beurteilen doch einen Schriftsteller nach seinem Stil? Sartre tut das Gegenteil. Nicht daß der Stil nebensächlich wäre, aber er darf nicht ausschlaggebend sein. Zuerst muß der Schriftsteller sich über das im klaren sein, worüber er schreiben will, wozu er Stellung nehmen will und warum er dazu Stellung nehmen will. Ist das geklärt, dann muß er den entsprechenden Stil finden. Der Stil soll nicht unsere Aufmerksamkeit auf sich lenken, sondern unbemerkt bleiben. Ja, der Stil wirkt um so mehr, je weniger er unsere Aufmerksamkeit erregt. Er versetzt uns in eine gewisse Stimmung, ohne daß wir auf sie selbst gerichtet wären oder auf die Mittel, durch die sie erzeugt wird. Sprechen (und Schreiben) bedeutet freilegen, aufdecken und ist somit ein Handeln. Das Handeln ist getragen von einem bestimmten Entwurf der sein-sollenden Gesellschaft, es erstrebt eine Wandlung 27
des Bestehenden, das sind die bis jetzt herausgestellten Momente, die zur Literatur gehören. Dazu kommt noch folgendes, was bisher nicht berücksichtigt war: die Zweiseitigkeit. Was bedeutet das? Die vereinte Anstrengung des Autors und des Lesers läßt das konkrete und imaginäre Objekt erstehen, das das Werk des Geistes ist. Kunst gibt es nur für und durch den Anderen.'17 Ob es sehr glücklich ist, das Kunstwerk ein imaginäres Gebilde zu nennen, ist zweifelhaft, wenn das auch oft getan wird und wir auch noch bei Husserl diese Kennzeichnung finden. Das soll hier nicht diskutiert werden. Worauf es ankommt, ist das Zusammenspielen des Schriftstellers und des Lesers. Worin besteht die Rolle des Mitmenschen, wir können ihn ganz allgemein den Kunstbetrachter oder in diesem besonderen Fall den Leser nennen? Gewöhnlich wird der Leser als passives Medium angesehen, dem sich die Worte einfach einprägen, die er über sich ergehen läßt. Der Leser hat das Bewußtsein, gleichzeitig zu enthüllen und zu schaffen, im Schaffen zu enthüllen und durch Enthüllen zu schaffen. Man sollte wirklich nicht glauben, das Lesen wäre ein mechanischer Vorgang und würde durch die Buchstaben beeindruckt wie eine photographische Platte durch das Licht. Wenn der Leser zerstreut, müde, dumm oder leichtfertig ist, werden ihm die meisten Beziehungen entgehen, er wird sich vom Objekt nicht und den <Sinn>. So liegt der Sinn zunächst nicht in den Wörtern; im Gegenteil, er erlaubt es erst, die Bedeutung jedes Wortes zu begreifen .. .l8 Sartre versucht, das Zusammenspiel des Gegebenerv und des Subjekts, dem es gegeben ist, zu fassen. Ohne Gegebenes gibt es kein literarisches Werk, aber andererseits bedarf das Werk des Aufnehmenden. Und dies Aufnehmen ist kein passiver Vorgang, wie das Belichten einer fotografischen Platte, sondern der Aufnehmende muß selbst tätig sein, mitwirken, sonst gibt es für ihn keinen Sinn. Der Sinn des Gesagten liegt nicht einfach in den ausgesprochenen oder geschriebenen Worten, sondern ergibt sich erst, wenn vom Leser eine Synthese des Vorliegenden vollzogen wird, die über das unmittelbar Gesagte hinausgeht. Ist er dazu nicht fähig, wird ihm der Text sinnlos erscheinen. Das schöpferische Moment beim Lesen ist die «Sinnfindung». Das Wundersame des «Grand Meaulnes», der Babylonismus von Armance, der Grad von Realismus und Wahrhaftigkeit in der Mythologie Kafkas — dergleichen ist nie gegeben; der Leser muß das alles in einer fortgesetzten Überwindung des Geschriebenen erfinden. Zweifellos führt der Autor ihn; aber er führt ihn nur; die Riehtpunkte, die er angegeben hat, sind durch Leeres voneinander ge-
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trennt, man muß sie miteinander vereinen, muß über sie hinausgehen. Mit einem Wort: Lesen ist gelenktes Schaffen.19 Weil der Beitrag des Lesers gewöhnlich vernachlässigt wird, übertreibt ihn Sartre in seinen Formulierungen. So will er sichtbar machen, daß im Lesen vom Leser eine Leistung erforderlich ist. Falls er dazu nicht im Stande ist, bleibt ihm das Werk verschlossen, sagt es ihm nichts. Allerdings ist die Sinnfindung nicht beliebig, deswegen wird sie gelenktes Schaffen genannt. Vielleicht ließe sich besser sagen: Die Sinnfindung ist Nach-Erfinden. Bei ihr wird vom Leser allerdings gefordert, daß er sich mit seiner ganzen Person einsetzt, seiner Sensibilität, seinen Stimmungen, seinen Urteilen. ... die Erwartung Raskolnikoffs ist meine Erwartung, die ich ihm leihe; ohne diese Ungeduld des Lesers blieben nur nichtssagende Schriftzeichen übrig; sein Haß gegen den Untersuchungsrichter, der ihn vernimmt, ist mein Haß, den die Schriftzeichen in mir erwecken und mir abschmeicheln, und der Untersuchungsrichter selbst würde ohne den Haß, den ich durch Raskolnikoff hindurch gegen ihn hege, gar nicht existieren; dieser Haß macht ihn lebendig, er ist sein Fleisch und.Blut.20 Der Leser schafft durch seine Beteiligung etwas, das schon da ist und doch taub bleibt, wenn er sich nicht mit dem Geschaffenen identifiziert. So bleibt für den Leser noch alles zu tun, und doch ist alles schon getan; das Werk existiert nur genau auf der Ebene seiner Fähigkeiten; wahrend er liest und schafft, weiß er, daß er in seiner Lektüre immer weitergehen, daß er immer tiefgründiger schaffen könnte; und deshalb kommt das Werk ihm unerschöpflich und undurchdringlich vor wie ein Ding.21 Auf Grund dieser Kennzeichnung des Beitrags des Lesers — eines notwendigen Beitrags, wie wir sahen — läßt sich das literarische Werk als ein Appell verstehen. Schreiben heißt: einen Appell an den Leser richten, er möge der Enthüllung, die ich durch das Mittel der Sprache vorgenommen habe, zu objektiver Existenz verhelfen.22 Erst in der Aufnahme durch den Leser erfüllt das Werk seine Bestimmung, weil sein Sinn zum Sinn des Lesers geworden ist. Was hat das alles mit dem Begriff der «engagierten Literatur» zu tun? Verlieren wir uns nicht in einer Theorie über das Verstehen von Kunstwerken? Keineswegs. Denn dasjenige, woran der Schriftsteller appelliert, wenn er sich an den Leser wendet, das ist seine Freiheit. Und zwar dient das Werk nicht einfach der Freiheit, so wie man sagen kann, daß die Werkzeuge dazu da sind, um vom Menschen gebraucht zu werden, also von einem freien Wesen in Dienst genommen zu werden, sondern der Mensch wird durch das Werk zu seiner Freiheit aufgerufen. Ohne Zutun der Freiheit kann das Werk nicht zustande kommen. Deswegen darf der Schriftsteller auch nicht versuchen, den Leser zu zwingen, zu faszinieren, denn dann raubt er ihm seine Freiheit. Er muß vielmehr den Leser in seiner Freiheit anerkennen, er muß dieser Freiheit vertrauen. 29
So werden die Regungen des Lesers nie vom Objekt beherrscht, und da keinerlei äußere Realität sie bedingen kann, haben sie ihren permanenten Ursprung in der Freiheit, d. h. sie sind alle großherzig — denn großherzig nenne ich eine Regung, deren Ursprung und Zweck die Freiheit ist.23 Die Voraussetzung des Zusammenwirkens von Schriftsteller und Leser ist eine gegenseitige Anerkennung und Forderung der Freiheit. Je mehr wir unsere eigene Freiheit empfinden, um so mehr erkennen wir die Freiheit des Anderen an; je mehr er von uns verlangt, um so mehr verlangen wir von ihm.24 In dieser gegenseitigen Anerkennung vollzieht sich das Vertrauen, das unerläßlich ist für das Zusammenwirken von Schriftsteller und Leser. So ist das Lesen ein Pakt der Großherzigkeit zwischen Autor und Leser: jeder vertraut dem Anderen, jeder rechnet auf den Anderen und verlangt vom Anderen ebensoviel wie von sich selbst. Und dieses Vertrauen ist an sich schon Großherzigkeit: nichts kann den Autor zu dem Glauben verpflichten, der Leser werde sich seiner Freiheit bedienen; nichts kann den Leser zu dem Glauben verpflichten, der Autor habe sich seiner Freiheit bedient. Beide fassen einen freien Entschluß.25 Die Kunst überhaupt — Sartre ordnet in diesem Übergang zweifellos die Literatur der Kunst ein — geht darauf aus, auf Grund der Darstellung einzelner Gegenstände oder Ereignisse die Welt als Ganzes zu fassen. Denn das ist wohl der Endzweck der Kunst: diese Welt wieder in Besitz zu nehmen, indem man sie so zeigt, wie sie ist, aber als wenn sie ihren Ursprung in der menschlichen Freiheit hätte ... der Schriftsteller wählt den Appell an die Freiheit der anderen Menschen, damit sie, durch die wechselseitigen Verwicklungen ihrer Ansprüche, dem Menschen die Totalität des Seins wiedergeben und die Menschheit in das Universum einordnen.26 Was sehr wohl seinen Ursprung in dieser Freiheit hat, das ist die menschliche Gesellschaft; deswegen ist letzten Endes für Sartre diese menschliche Gesellschaft das Ziel des schriftstellerischen Gestaltens und der Zusammenarbeit von Leser und Schriftsteller. Zum gesellschaftlichen Sein gehört natürlich auch ein bestimmtes WeltVerständnis. Jedes geschichtliche Menschentum besitzt ein bestimmtes Welt-Verständnis. Es offenbart sich unmittelbar in der Tätigkeit, in dem Wirken auf die Umwelt, in ihrer Umgestaltung. Ich eigne mir meine Umwelt an, insofern ich auf sie einwirke, sie ändere. Dies Ändern-Wollen erfuhren wir auch als Grundzug der schriftstellerischen Tätigkeit. Die Bindung des Schriftstellers, sein «engagement» besteht im Ändern-Wollen der gesellschaftlichen Welt, durch den Appell an die Freiheit der Mitmenschen, durch den Bund des Vertrauens, den er mit dem Leser schließt, um ihn so mitverantwortlich zu machen. Die ästhetische Freude wird von Sartre als Freude an der eigenen 30
Freiheit verstanden, die sich im Einverständnis von Schreibendem und Lesendem offenbart; diesem Einverständnis entspringt das WeltVerständnis, das nicht auf den Einzelnen beschränkt bleiben kann. Schreiben heißt also die Welt enthüllen und sie gleichzeitig der Großherzigkeit des Lesers als Aufgabe anheimstellend Die vornehmste Aufgabe des Schriftstellers beim Ändern-Wollen der gesellschaftlichen Welt besteht im Bekämpfen der Unterdrückung der Freiheit. Er kann es nicht dulden, wenn die Freiheit beschränkt oder gar geraubt wird. Er macht uns alle mitverantwortlich an dieser Unterdrückung. Daraus ergibt sich, daß die Literatur eine sittliche Forderung voraussetzt. Und wenn man mir diese Welt mit ihren Ungerechtigkeiten darbietet, dann nicht, damit ich diese kalt betrachte, sondern damit ich sie mit meinem Unwillen belebe, damit ich sie enthülle und sie in ihrer Natur als Ungerechtigkeiten und Mißbräuche erschaffe. So wird das Universum des Schriftstellers sich in seiner ganzen Tiefe zweifellos nur bei der Prüfung, bei der Bewunderung, bei dem Unwillen des Lesers offenbaren; die großherzige Liebe ist ein Versprechen, an etwas festzuhalten, und der großherzige Unwille ist ein Versprechen, etwas zu verändern, und die Bewunderung ist ein Versprechen der Nacheiferung; obwohl die Literatur eine Sache ist und die Moral eine ganz andere, erkennen wir hinter dem ästhetischen Imperativ den moralischen Imperativ. Da nämlich der Schreibende durch die Tatsache, daß er sich die Mühe des Schreibens macht,, die Freiheit seiner Leser anerkennt, und da der Leser allein dadurch, daß er ein Buch aufschlägt, die Freiheit des Schriftstellers anerkennt, ist das Kunstwerk, von welcher Seite man es auch betrachten mag, ein Akt des Vertrauens zur Freiheit des Menschen.2^ Die Bindung des Schriftstellers ist eine Bindung und ein Appell an die Freiheit. Widersprechen Bindung und Freiheit sich nicht? Keineswegs. Nur der Freie vermag die Verantwortung für seine Welt, und das besagt für seine Mitmenschen, zu tragen. Wer nicht bereit ist sich einzusetzen, sich zu etwas zu verpflichten, der ist nicht frei, sondern einfach bindungslos. Das Thema der Freiheit steht im Mittelpunkt von Sartres erstem Drama: Die Fliegen.
DAS AUFBRECHEN DER FREIHEIT: DIE FLIEGEN Das Thema von Die Fliegen läßt sich in einem Satz zusammenfassen. Es handelt sich um die Rache von Orest und Elektra an Ägist und Klytämnestra, die gemeinsam Agamemnon nach seiner Rückkehr aus Troja umgebracht haben. Geht es Sartre also um die Wiederaufnahme des griechischen Tragödienstoffes? Was hat solch eine Wiederaufnahme gerade mit der These der engagierten Literatur zu tun? Um es gleich vorwegzunehmen, das griechische Thema interessiert Sartre nicht als griechisches. Er versucht keineswegs die alte Atriden-
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tragödie aufzunehmen, um uns einen Einblick in die Schicksalhaftigkeit des menschlichen Lebens zu geben, einen Einblick in den Umschwung von Glück zu Unglück, wie Aristoteles das in seiner Poetik formuliert hat. Vielleicht hat Sartre gerade ein bekanntes Thema gewählt, um die Aufmerksamkeit nicht durch das Geschehen und die Spannung, die in ihm liegt, fesseln und ablenken zu lassen — denn das Thema ist ja allen Gebildeten bekannt —, sondern um sichtbar zu machen, was in den durch und durch neuzeitlich konzipierten Subjekten vor sich geht. Die Fliegen sind das erste existentialistische Thesenstück, geschrieben bzw. publiziert und aufgeführt 1943, während der deutschen Besetzung.Weswegen heißt dieses Stück Die Fliegen und nicht Elektra oder Szenenbild aus «Les Mouches» («Die Fliegen»)
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Orest oder etwa Klytämnestras Ende? Was skid die Fliegen, was bedeuten die Fliegen? Sehen wir uns das Stück näher an, versuchen wir eine Analyse desselben. Das Stück beginnt mit der Rückkehr Orests nach Argos — in der Verkleidung eines Fremden aus Korinth. Er ist überrascht von der abweisenden Haltung der Einwohner der Stadt. Sie verschließen ihre Tore, flüchten in die Häuser, sind alle in Trauerkleidung. Es ist eine Stimmung der Angst, des Verfolgtsems, die aus ihren Gesten spricht. Sie wirken um so erstaunlicher, wenn man die griechische Gastfreundschaft kennt, die Aufgeschlossenheit der Menschen, ihre Zutraulichkeit. Aber hier hat sich eine merkwürdige Wandlung vollzogen. Orest wird von Jupiter, der inkognito auftritt, belehrt, um was es sich handelt. Einmal im Jahr findet eine große Trauerfeier statt. Der Hohepriester läßt einen Stein vor einer Höhle wegschieben, und die toten Seelen kehren für 24 Stunden nach Hause zurück. Zwar können die Lebenden die Toten nicht sehen, aber sie haben Angst vor ihren Vorwürfen über das an ihnen begangene Unrecht. Zur Zeremonie der Trauerfeier gehört, daß jeder sich öffentlich anklagt und seine Schuld eingesteht und Reue zeigt. Diese Trauerfeier findet statt, seit Ägist und Klytämnestra Agamemnon ermordet haben. Auch der König gesteht offen seine Mordschuld ein. Die Fliegen, die seit diesem Mord die Bevölkerung unablässig quälen und verfolgen, sind das Symbol für die Gewissensbisse. Durch die Herrschaft der Gewissensbisse leben die Menschen in einer ständigen Furcht vor ihren Toten. Die Wandlung des Verhaltens der Bevölkerung ist also die Folge der «Fliegen», die Jupiter der Stadt geschickt hat, zugleich um die Herrschaft Ägists zu festigen. Denn der Mord, den Ägist begangen hat, war ein guter Grund, um die Bevölkerung in der Knechtschaft der Gewissensbisse zu halten. Sie sind ja alle mitschuldig am Tod Agamemnons, da niemand etwas gegen Ägist unternommen hat. Orest, dessen Rückkehr nicht aus Motiven der Rache dargestellt ist, sondern der einfach kommt, um seine Vaterstadt kennenzulernen (er wurde mit drei Jahren aus ihr ausgestoßen), ein feiner, sensibler, gebildeter Jüngling, der die Reise mit seinem Lehrer unternimmt, ist von diesem Empfang so abgeschreckt, daß er die Stadt verlassen will. Es beginnt sich eine Spannung zu entwickeln um die Entscheidung: in der Stadt bleiben oder die Stadt verlassen. Im Gespräch mit seinem Lehrer lernen wir dessen Auffassung der Freiheit kennen, die sogenannte Freiheit des Geistes, daß man alles kennt und sich gerade deswegen mit keiner Bindung belastet, weil man sich über.alles stellen will. Diese intellektuelle Freiheit des bloßen Wissens ist Örest zu wenig, sie läßt ihn über den Sachen schweben, er hat kein Gewicht: Du hast mir die Freiheit jener Fäden gelassen, die der Wind ans den Spinnennetzen reißt und die zehn Fuß über dem Boden schweben.2? Das Leben ohne Bindungen ist wurzellos. Das Über-den-Sachen-Stehen erweist sich plötzlich als ein Mangel. Nicht das bloße Wissen verschafft Bindungen, sondern die Erin-
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nerungen, die die Frucht des tagtäglichen Umgangs mit den Sachen sind. Wir finden hier Anklänge an Heideggers Auffassung aus «Sein und Zeit», daß durch den Umgang mit einer Sache die Sache selbst sich einem entdeckt, man erfährt, was es mit ihr auf sich hat. Was eine Stadt ist, das können wir nicht durch Wissen über die archäologischen Sehenswürdigkeiten erfahren, sondern indem wir da leben, uns jeder Platz, jede Ecke vertraut ist, weil wir damit Ereignisse aus unserer Jugend in Verbindung bringen. Weil diese Erinnerungen, diese Bindungen fehlen, ein König muß die gleichen Erinnerungen haben wie seine Untertanen 3°, entschließt sich Orest zum Weggehen. In der dritten Szene beginnt der Umschwung durch den Auftritt Elektras, die sich allein meint, und statt Weihegaben den Mülleimer an der Statue Jupiters (der abschreckend, mit blutigem Antlitz dargestellt ist, um der Bevölkerung Angst einzuflößen) ausschüttet und ihn mit Schmähungen überschüttet. Zugleich gibt sie ihrer Hoffnung auf die Wiederkehr des Bruders Ausdruck, der der Herrschaft des Gottes der Toten ein Ende setzen und sein Standbild mit dem Schwert entzweischlagen wird, so daß alle sehen, daß es aus bloßem Holz ist. Im anschließenden Gespräch erfährt Orest alle Demütigungen, denen Elektra im Palast ausgesetzt ist, erfährt er ihre furchtbare Einsamkeit, da sie keinen Freund, keinen Vertrauten hat — ihr Leben ist dem Haß der Mörder ihres Vaters gewidmet. Sie steht außerhalb der Gemeinschaft, verlacht die Reuezeremonien mit der angeblichen Rückkehr der Seelen der Verstorbenen. Sie entdeckt Orest, daß die Reuebekenntnisse zugleich eine Lüge sind, denn sie sollen dazu dienen, nur bestimmte Vergehen einzugestehen, um andere zu verdecken. Die Verzweiflung Elektras, ihre einzige Hoffnung, das Auftauchen des Bruders, ihr Leiden, ihre Erniedrigung, ihre grenzenlose Verlassenheit — all das bewegt Orest zu bleiben, mindestens einen Tag, um bei der Trauerfeier der Stadt anwesend zu sein. Der zweite Akt beginnt, ähnlich wie der erste, mit der Darstellung der Stimmung der Angst und Verzweiflung. Die Menge wartet vor der Höhle auf den Anfang der Trauerzeremonie — der König und die Königin sind verspätet, weil Elektra, die bei solchen Gelegenheiten als die Prinzessin vorgeführt wird, mit ihrem Auftreten zögert. Und als sie nachher erscheint, so nicht im Trauerkleid, sondern im Festtagskleid, zum Zorn Ägists, der sie wegen dieser Provokation und ihrer aufrührerischen Haltung vernichten will. Denn Elektra stachelt das Volk an, sich durch den König und sein Trauerritual nicht mehr unterdrücken zu lassen. Sie beginnt schon einen Teil der Anwesenden zu überzeugen, als Jupiter durch sein Eingreifen den König unterstützt und das Volk wieder unterwürfig macht. In der vierten Szene vollzieht sich die Wandlung Orests zum Rächer. Zuerst will er noch Elektra zur Flucht überreden. Er gibt sich ihr zu erkennen. Aber sie weist ihn zurück, weil er so wenig dem Bild entspricht, das sie sich von ihm gemacht hat.
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Noch weiß Orest nicht, wie er die Bindungen zur Stadt, zu seiner Schwester gewinnen soll — plötzlich sieht er den Weg. Man muß hinuntergehen, verstehst du, hinuntergehen bis zu euch. Ihr seid ganz unten, auf dem Grund eines Loches, ganz unten .,. Ich bin zu leicht, ich muß mich mit einer schweren Freveltat belasten, so daß ich auf den Grund gehe, bis auf den schweren Grund von Argos31 Es ist nicht möglich jemandem zu helfen, wenn nicht eine Gemeinsamkeit zwischen dem Helfenden und dem, dem geholfen werden soll, besteht. Um diese Gemeinsamkeit zu finden, entschließt sich Orest zu der Tat. Er will dadurch ihre Gewissensbisse auf sich laden, um sie von ihnen zu befreien. Nun erkennt ihn Elektra wieder. Jupiter deckt die Verschwörung auf, warnt Ägist, fordert ihn auf, die beiden zu verhaften, aber Ägist ist müde, er hat keine Kraft mehr. Jupiter vergleicht die Könige den Göttern, sie sind da, um die Leute in Zucht zu halten. Ein Verbrechen, das dazu dient, dieses Ziel zu fördern, sieht er gerne — so den Mord Agamemnons durch Ägist, da die Bevölkerung seither besser auf ihn hört, ihm durch die Gewissensbisse hörig ist. (Diese Szene ist übrigens zu dick aufgetragen und es ist auch nicht deutlich, warum Ägist, der gerade noch Elektra vernichten wollte, plötzlich kraftlos dasitzt und nichts mehr unternehmen will.) Eine Replik Jupiters ist aufschlußreich. Er sagt zu Ägist: Das schmerzliche Geheimnis der Götter und der Könige: daß nämlich die Menschen frei sind. Sie sind frei, Ägist. D u weißt es, und s i e wissen es n i e h f.32 Und: Wenn einmal die Freiheit in einer Menschenseele aufgebrochen ist, können die Götter nichts mehr gegen diesen Menschen. Denn das ist eine Menschenangelegenheit, und es ist Sache der anderen Menschen — und nur ihre —, ihn laufen zu lassen oder ihn zu erwürgend.33 Das sind die Schlüsselzitate. Jupiter wünschte zuerst, daß Orest die Stadt verlassen möge und nachdem ihm das nicht gelingt, versucht er Ägist zu überreden, ihn gefangenzunehmen, weil Orest der Mensch ist, der weiß, daß er frei ist, und weil sein Vorbild ansteckend wirken und die künstlich aufrecht erhaltene Ordnung zerstören kann. Der Freie hat keine Angst mehr vor der «Autorität». Das Thema wird im dritten Akt im Zwiegespräch zwischen Jupiter und Orest fortgesetzt werden. Nachdem Orest Ägist und Klytämnestra getötet hat, fühlt er sich frei. Wir sind frei, Elektra. Mir ist, als wärst du durch mich geboren und ich mit dir zugleich; ich liebe dich, und du gehörst mir. Gestern war ich noch allein und heute gehörst du zu mir. Das Blut bindet uns zweifach, denn wir sind eines Blutes, und wir haben Blut vergossen.34Und weiter: Ich bin frei, Elektra! Die Freiheit hat mich getroffen wie der Blitz. Elektra: Frei? Ich, ich fühle mich nicht frei. Kannst du machen, daß das alles nicht gewesen ist? Etwas ist geschehen, und wir sind nicht mehr frei, es ungeschehen zu machen. Kannst du es verhindern, daß wir die Mörder unserer Mutter sind? Orest: Glaubst du, ich wollte es verhindern? Ich habe meine Tat getan, Elektra, und diese Tat war gut. Ich werde sie auf meinen Schultern tragen, wie ein Fährmann die Reisenden durchs Walser trägt, ich
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werde sie ans andere Ufer bringen und darüber Rechenschaft geben. Und je schwerer sie zu tragen ist, um so mehr werde ich mich freuen, denn meine Freiheit, das ist diese Tat. Gestern noch ging ich aufs Geratewohl über die Erde, und Tausende von Wegen flohen unter meinem Schritt, denn sie gehörten andern. Ich bin sie alle gegangen, den Weg der Treidler, der den Fluß entlangführt, und den Saumpfad, und die gepflegte Straße der Wagenlenker, aber kein einziger gehörte mir. Heute gibt es nur einen, und Gott weiß, wohin er führt; aber es ist m e i n Weg. 35 Elektra versteht Orests Freude nicht, sie sieht das Unwiderrufliche, das durch den Mord geschehen ist, sie fühlt sich unfrei, denn das Geschehene kann nicht ungeschehen gemacht werden. Orest dagegen ist glücklich, da er durch diese Tat seinen eigenen Weg gefunden hat, endlich das schwerelose Schweben in der puren Betrachtung der Dinge aufgegeben hat. Nun ist er der Mann, der Ägist und Klytämnestra umgebracht hat, um die Stadt von ihren Zwingherrn zu erlösen, dadurch ist Argos s e i n e Stadt geworden und Elektra, die besonders unter ihnen litt, s e i n e Schwester — er hat die Hoffnung erfüllt, die sie am Leben erhielt. Der dritte Akt spielt im Tempel Apolls, in den sich Orest und Elektra geflüchtet haben. — Die Erinnyen lauern auf ihre Beute. Sie versuchen Elektra zu überreden, sich von Orest zu trennen, um sie Orest an der Leiche Ägists und Klytämnestras
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Orest, von den Erinnyen überfallen. Zeichnungen von John Flaxman
so schneller in ihre Gewalt zu bekommen. Orest warnt sie: Deine Schwäche ist ihre Kraft. Sieh, mir wagen sie nichts zu sagen. Höre: ein namenloses Entsetzen hat sich deiner bemächtigt und trennt uns. Dennoch, was hast du erlebt, was ich nicht auch erlebt hätte? Das Stöhnen meiner Mutter, glaubst du, daß meine Ohren jemals es nicht mehr hören werden? Und ihre ungeheuren Augen — zwei entfesselte Ozeane — in ihrem kreideweißen Gesicht, glaubst du, daß meine Augen sie jemals nicht mehr sehen werden? Und die Angst, die dich zerfrißt, glaubst du, daß sie jemals aufhören wird, an mir zu nagen? Aber was tut's: ich bin frei. Jenseits der Angst und der Erinnerungen. Frei. Und im reinen mit mir. Du darfst dich selbst nicht hassen, Elektra. Gib mir die Hand: ich werde dich nicht verlassen.36 Sein Versuch mißlingt. Elektra beginnt Orest zu hassen. Wir haben hier den vollständigen Umschlag, vom erwarteten Bruder, der sie erlösen soll, dem sie ihr Heil anvertraut, zum gehaßten, den sie verabscheut. Die entscheidende Szene dieses Aktes ist das Gespräch zwischen Jupiter, Orest und Elektra. Jupiter verspricht beiden ihre Hilfe, ja, er verspricht ihnen den Thron von Argos, unter einer Bedingung: daß sie ihre Tat bereuen. Orest geht darauf nicht ein. Er fühlt sich nicht schuldig und will nicht für das büßen, was seiner Meinung nach kein Verbrechen ist. Jupiter weist auf das Leiden seiner Schwester hin. Orest: Ich liebe sie, mehr als mich selbst. Aber ihre Qualen kommen aus ihr allein. Nur sie selbst kann sich davon befreien, sie 37
ist frei. Jupiter: Und du? Bist du vielleicht auch frei? Orest: Das weißt du nur zu gut. Jupiter: Schau dich an, schamloses und dummes Geschöpf, du siehst ganz danach aus, tatsächlich zusammengekauert, wie du bist, zwischen den Füßen eines helfenden Gottes, mit diesen ausgehungerten Hündinnen um dich herum. Wenn du zu behaupten wagst, du seist frei, dann müßte man auch die Freiheit des Gefangenen rühmen, der mit Ketten beladen zuunterst in einem Verlies liegt, und die eines gekreuzigten Sklaven. Orest: Warum nicht?37 Sartre will sagen, daß Freiheit nichts mit äußerer Macht zu tun hat. Man kann sehr wohl gefangen sein, ja, sogar gekreuzigt werden und doch seine Freiheit nicht aufgeben. Elektra kann aber diesen Ausführungen Orests nicht folgen, sie willigt in Jupiters Bedingung ein, der ihre Handlungsweise damit entschuldigt, daß sie den Mord ja nur geträumt habe, um sich über ihr schweres Los hinwegzutäuschen. In dem Augenblick, da sie Jupiters Deutung anerkennt, wird sie nach Orest wirklich schuldig. Elektra! Elektra! Erst jetzt wirst du schuldig. Was du gewollt hast, wer kann es wissen, wenn nicht du? Du wirst doch nicht einen anderen darüber entscheiden lassen? 38 Wie kann Orest das behaupten? Weil sie sich nicht mehr mit ihrer Handlung identifiziert, weil sie sich selbst verleugnet und weil das die größte Schuld ist, die ein Mensch begehen kann. Der feigste aller Mörder ist der, der bereute. Was unsere Tat ist, das hängt davon ab, was wir aus ihr machen, wie wir uns zu ihr stellen, wie wir sie in unser Leben eingliedern oder nicht. Wer seine Taten durch die Anderen deuten läßt, die Anderen ihren Sinn herausstellen läßt, der verleugnet nicht nur die Tat, sondern sein eigenes Leben, denn sein Leben: das sind ja seine Taten. Der Dialog mit Jupiter gipfelt in der Anerkennung der Freiheit des Orest. Als Jupiter sieht, daß es ihm nicht gelingt, Orest zur Reue und d. h. zur Unterwerfung unter sein Gesetz zu überreden, gesteht er ein, daß die Zeit der Götterdämmerung eingetreten ist. Wohl ist Jupiter der Gott der Natur, richtet sich in der Natur doch alles nach seiner Anordnung, aber indem er den Menschen geschaffen hat, hat er ein Wesen erschaffen, das frei ist und deswegen die Möglichkeit hat, sich seinem Einfluß zu entziehen. Orest ist weder der Herr noch der Knecht seiner Freiheit. Er i s t seine Freiheit und dadurch dem Einfluß Jupiters entzogen. Plötzlich ist die Freiheit auf mich herabgestürzt, und ich erstarrte, die Natur tat einen Sprung zurück, und ich hatte kein Alter mehr, und ich habe mich ganz allein gefühlt, inmitten deiner kleinen, harmlosen Welt, wie einer, der seinen Schatten verloren hat, und es war nichts mehr am Himmel, weder Gut noch Böse, noch irgendeiner, um mir Befehle zu geben. Jupiter: ... Kehre zurück: schau doch, wie allein du bist, selbst deine Schwester verläßt dich. Du bist bleich, und die Angst weitet deine Augen. Hoffst du, zu leben? Siehe, ein unmenschliches Übel nagt an dir, das meiner Natur fremd ist, dir selber fremd... Orest: Mir selber fremd, ich weiß. Aber ich werde nicht unter dein Gesetz zurückkehren:ich
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hin dazu verurteilt, kein anderes Gesetz zu haben, als mein eigenes. Ich werde nicht zu deiner Natur zurückkehren: tausend Wege sind darin gezogen, die zu dir führen, aber ich kann nur meinem Weg folgen. Denn ich bin ein Mensch, Jupiter, und jeder Mensch muß seinen Weg erfinden .. . 4° Im Bahnen seines Weges vollzieht sich die Freiheit. Die Menge belagert den Tempel Apolls, um Orest beim Verlassen umzubringen. Er versteckt sich nicht, sondern bittet seinen alten Lehrer, die Tempeltüren weit zu öffnen, um zum Volk sprechen zu können. Ihr schreit nicht mehr? (Die Menge schweigt.) Ich weiß, ich jage euch Angst ein. Vor fünfzehn Jahren, auf den Tag genau, hat ein anderer Mörder vor euch gestanden; er trug rote Handschuhe bis zu den Ellbogen, Handschuhe aus Blut, und ihr hattet keine Angst vor ihm, denn ihr habt in seinen Augen gesehen, daß er einer der euern war und daß er nicht den Mut hatte, zu seinen Taten zu stehen. Ein Verbrechen, das sein Urheber nicht ertragen kann, das ist schon beinah ein Unglücksfall. Ihr habt den Verbrecher als euern König aufgenommen, und das alte Verbrechen hat zioischen den Mauern der Stadt herumgespukt und leise gewinselt, wie ein Hund, der seinen Herrn verloren hat. Ihr schaut mich an, Leute von Argos, ihr habt verstanden, daß mein Verbrechen mir gehört; ich nehme es für mich in Anspruch vor dem Angesicht der Sonne, es ist der Grund meines Lebens und mein Stolz; ihr könnt mich weder züchtigen noch strafen, und darum jage ich euch Angst ein. Und dennoch, o meine Leute, liebe ich euch, und um euretwillen habe ich getötet. Für euch. Ich war gekommen, um mein Königreich zurückzuverlangen, und ihr habt mich zurückgestoßen, weil ich keiner der Eurigen war. Jetzt bin ich einer von euch, o meine Untertanen, wir sind durch das Blut gebunden, und ich verdiene, euer König zu sein. Eure Schuld und eure Reue, eure nächtlichen Ängste, das Verbrechen des Ägist, all das ist mir, ich nehme es auf mich. Fürchtet eure Toten nicht mehr, es sind meine Toten. Und schaut: Eure treuen Fliegen haben euch verlassen und sind bei mir. Aber fürchtet euch nicht, Leute von Argos: ich werde mich nicht, noch blutig, auf den Thron meines Opfers setzen; ein Gott hat ihn mir angeboten, und ich habe nein gesagt. Ich will ein König ohne Land und ohne Untertanen sein. Lebt wohl, meine Leute, versucht zu leben: alles ist neu hier, alles ist von vorn zu beginnen. 41 Orest schreitet durch die Menge — die Erinnyen folgen ihm. Es bleibt ungewiß, ob die Menge seine Erklärung verstanden hat. Das Stück endet keineswegs mit einem Triumph Orests. Zwar ist ihm die Beseitigung des Tyrannen gelungen, und er hat die Bürger von den Fliegen befreit. Aber diese Tat sollte ihm ja Heimatrecht in Argos geben, die Bürger sollten ihn als ihresgleichen anerkennen. Und statt dessen versuchen sie ihn wiederum zu töten. Daß er Argos verlassen kann, indem er einen Trick anwendet, ihnen die Geschichte des Rattenfängers vorspielt und sie dadurch fasziniert, ist ja auch eher ein Eingeständnis seines Mißerfolges.
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Dieses Drama ist kein Gesellschaftsdrama, auch kein psychologisches Drama, es wird sehr wenig innerer Monolog und auch wenig Gefühlsanalyse gegeben, es ist erst recht kein klassisches Schicksalsdrama. Es ist das Drama, in dem versucht wird, die Selbstwerdung des Menschen darzustellen, des Menschen, wie ihn der moderne französische Existentialismus versteht. Sartre hat gesagt, um einen Schriftsteller zu verstehen, müßten wir die metaphysischen Voraussetzungen begreifen, von denen er ausgeht. Dieses Gebot läßt sich selbstverständlich auch auf ihn anwenden, um so mehr, als Sartre ausdrücklich versucht hat, eine bestimmte Deutung des Menschen zu geben. Wir werden auf diese Frage zurückkommen, nach der Analyse weiterer Stücke. Sehen wir, welches im Drama die entscheidenden Momente der Selbstwerdung sind. Es ist ausdrücklich gesagt, daß Orest als zarter Jüngling nach Argos kommt. Dies soll anzeigen, daß er noch in einem unbestimmten Zustand ist, daß er noch nicht eigentlich Mann und das heißt ja französisch zugleich, daß er nicht eigentlich Mensch ist. Zwar hat er bildungsmäßig schon sehr viel erfahren, aber, wie wir sahen, läßt ihn diese Erfahrung unbefriedigt, weil sie ihn, nirgends heimisch werden läßt; er weiß über die verschiedenen Städte ausgezeichnet Bescheid, aber keine ist die seine. Er kennt die verschiedenen Ansichten der Gelehrten, der Philosophen — aber es sind Ansichten und er hat gerade gelernt, indem er sie kennenlernt, sich nicht mit ihnen zu identifizieren, über ihnen zu stehen. Er hat keinen Bezug zu seinen Angehörigen — kennt seine Mutter nicht und sieht seine Schwester zum ersten Male bei dieser Fahrt nach Argos. Es ist erwähnt worden, daß er nicht als Rächer nach Argos kam, sondern aus einer unbestimmten Sehnsucht, seine Geburtsstadt zu sehen. Es gehörte zu dem Spannungsmoment, darzustellen, wie er durch das Kennenlernen Elektras und ihrer Hoffnung auf Rache und Erlösung überhaupt erst dazu kommt, in der Stadt zu bleiben. Als Elektra durch ihre Auflehnung bei der Totenfeier Gefahr läuft, mit dem Leben zu büßen, da versucht Orest zunächst immer noch, sie zur Flucht mit ihm zu überreden. Und erst als sie ihn zurückweist und als Bruder nicht anerkennen will, weil er nicht auf Rache sinnt, beginnt überhaupt in ihm der Gedanke der Rache, genauer der Tötung von Ägist und Klytämnestra Gestalt anzunehmen. Trotzdem liegt das Schwergewicht des Dramas gar nicht auf dem Racheakt als Racheakt, das darf nicht übersehen werden. Der Racheakt ist vielmehr der entscheidende Schritt, um mit Argos — wir versuchten es zu zeigen — eine gültige Bindung zu bekommen, nicht mehr als Fremder in der Stadt zu sein und zugleich sich als Bruder Elektras zu erweisen. Und das wiederum ist kein Zweck an sich, sondern in dem Erfahren dieser Bindungen geschieht etwas Grundlegendes, die Einsicht, daß nur durch eine bestimmte Entscheidung, die zu einer bestimmten Tat führt, unser Leben zu dem unsrigen wird. Was war es bis dann? Bis dann war es das Allerweltsleben, oder wie Heidegger sagen würde, das Leben in der verfallenen Form
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des «Man» — man sagt und tut, was getan wird, zugleich hält man sich aber aus dem Tun und Sagen heraus, gibt die Verantwortung dafür den Anderen, genauer der ungreifbaren Öffentlichkeit. Erst wenn wir diesen Zusammenhang begriffen haben, wird uns deutlich, weshalb Orest auf keinen Fall Reue zeigen will. Denn für ihn besagt Reue, die Tat nicht übernehmen zu wollen, einzugestehen, daß man etwas getan hat, das man nicht verantworten kann. Die Reue bedeutet in diesem Zusammenhang nicht, einzugestehen, daß man etwas getan hat, das böse ist — sondern einzugestehen, daß ich meine Tat ungeschehen machen will. Das ist das größte Vergehen. Warum? Weil ich ja durch meine entscheidende Tat überhaupt erst als ich, als dieser Einzelne zu existieren beginne. Weil dadurch, wie Sartre wiederholt sagt, erst mein Lebensweg beginnt. Bis dahin ging ich den unbestimmten Weg aller, der mir durch meine Erzieher vorgeschrieben wurde. Ich ging also nicht meinen Weg, sondern folgte bloß einem vorgeschriebenen Weg. So lange ich keinen selbstgewählten Weg habe, bin ich nicht frei — ich bin strenggenommen gar nicht. Gewiß, ich lebe, aber ich existiere nicht. Was heißt das? Ich kann nichts für das, was ich tue. Denn ich bin es ja gar nicht. Wieso? Weil ich nicht die Verantwortung dafür trage. Erst indem ich die Verantwortung übernehme für meine Tat, ist sie meine Tat. So lange wir für unsere Taten keine Verantwortung übernehmen, sind wir nicht wir selbst. Wir können noch so alt sein und noch so viel verrichtet haben. Deswegen ringt Orest darum, Elektra möge nicht Jupiters Entschuldigung für ihre Tat anerkennen, da sie dadurch die Tat nicht ungeschehen mache, aber sich selbst verleugne, da sie nicht den Mut habe für sie und sich selbst einzustehen. So kommen wir dazu, das, was anfangs paradox schien, einzusehen. Erst mit der Verantwortung, mit der Belastung, die wir auf uns nehmen, erst wenn wir uns mit unserer Tat eins fühlen, haben wir das Recht, uns frei zu nennen. Das Entdecken der Freiheit ist also Befreiung und Belastung zumal. Befreiung zum Eigenen und Belastung mit der Verantwortung, die in dem Augenblick beginnt, da man sich selbst gefunden hat und nicht mehr in der Verantwortungslosigkeit lebt, bzw. in der Abwälzung der Verantwortung auf die Anderen, sei es die Autorität oder einfach die Öffentlichkeit. Wir wollen hier nicht versuchen aufzuweisen, welche Vorgänger Sartre bei dieser Auffassung der Freiheit hat, von Kants Selbstgesetzgebung des Subjekts, bis zurück zu Platons «Gorgias», wo Sokrates auch die Freundschaft mit sich selbst fordert, die darin besteht, daß wir nur das tun, wofür wir einstehen können, was gerecht ist. Frei ist der, der sich entschieden hat und für seine Entscheidung einsteht. So kann gerade im Mord an Ägist und Klytämnestra Orest die Freiheit aufgehen, aufbrechen, ja, wie es im Stück heißt, kann sie ihn überfallen. Dadurch, daß er die Tat als seine Tat anerkennt, daß er sie nicht mit den Bürgern von Argos zu teilen versucht, sich nicht auszureden versucht auf Elektras Beeinflussung, was ja sehr einfach gewesen wäre.
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Das Erfahren der Freiheit ist verbunden mit einer Belastung — während Orest vorher über allem schwebte, in einem bloßen Wissen, hat er nun durch die Tat einen Tiefgang erhalten, der ihm eine Reihe von Möglichkeiten entzogen hat. Denn mit der Wahl des Weges gehen einem ja eine Reihe von Möglichkeiten verloren. Freiheit kann nicht besagen, eine möglichst große Reihe von Möglichkeiten sich offen zu halten, sondern Freiheit besagt für Sartre, Sich-Entscheiden können, im Bewußtsein, daß diese Entscheidung meine ist, daß ich mich mit ihr identifiziere. Die Menschen sind frei, aber sie wissen es nicht —
dieser Ausspruch Jupiters könnte als Motto für das Stück genommen werden und überhaupt für Sartres Existentialismus. Den Menschen das Bewußtsein ihrer Freiheit zu geben, sie damit zu belasten und zu befreien, das wird das Hauptanliegen Sartres sein. Man kann im Gefängnis sein, man kann zum Tode verurteilt sein und doch frei sein, wenn man für seine Taten einsteht, sich in seinen Taten wiedererkennt. Wir haben darauf hingewiesen, daß das Stück keineswegs siegreich endet, und das ist nur konsequent. Denn wir wissen ja gar nicht, ob die Bürger durch diese Wandlung, die Beseitigung von Ägist und Klytämnestra, nicht unglücklich geworden sind, denn sie haben die für ihr Leben Verantwortlichen verloren. Sartre wies bei der Darstellung der Romantechnik darauf hin, daß das Unbestimmte, Unklare, Unentschiedene zum Leben gehört und verwirklicht das in die42
sem Stück auch. Zur Kritik wäre noch zu sagen, daß er es nicht genug verwirklicht, daß er besonders Orest oft zu thesenhaft sprechen läßt. Das ist insofern verständlich, als dies das erste Stück ist und er zugleich seine Thesen deutlich auftragen mußte, damit sie gehört würden. Die Gespräche sind oft zu rationalistisch, wobei eben Orest sich als Vertreter des Existentialismus ei weist. Trotzdem behält es auch heute noch seine Kraft, denn Sartre versteht es, den Stimmungshintergrund sehr lebendig darzustellen, das Zögern Orests, den Haß Elektras, die Angst der Bevölkerung, die Überheblichkeit und den Überdruß Ägists. Man kann im Stück auch engagierte Literatur sehen in dem Sinne, als Orest sich für die unterdrückte Bevölkerung einsetzt, sie aufklären, von falschen Mythen befreien will. (Das Stück entstand zur Zeit der deutschen Besetzung, als die Besatzungsmacht der französischen Bevölkerung Gewissensbisse über ihre Niederlage einimpfte, um sie auf diese Weise besser beherrschen zu können.) Obwohl dies Moment zweifellos auch mitspielt, so liegt doch nicht auf ihm das Schwergewicht, sondern auf der Wandlung Orests, dem plötzlich aufgeht, was Freiheit bedeutet. Nicht auf Grund einer theoretischen Abhandlung über die Freiheit, sondern weil er erfährt, welche Änderung mit ihm vorgegangen ist, seit er eine entscheidende Handlung ausgeführt und damit seinem Leben Schwere verliehen hat. Das Stück ist ein Anfang, wäre es vollendeter, dann hätte der Leser bzw. Zuhörer auf Grund der Geschehnisse von sich aus die Theorie über die Freiheit entwickeln müssen, die Sartre nun seinen Personen und besonders Orest in den Mund legt. Das Stück ist aber auch 'ein Anfang, weil der Prozeß der Selbstwerdung des auf sich gestellten Subjekts eigentlich gar nicht in seiner ganzen Entfaltung gezeigt wird. Es ist bloß ein Moment, allerdings ein entscheidendes, herausgegriffen, das Umschlagen vom unbeschwerten Leben zum selbstverantwortlichen Leben durch eine Tat, mit der ich mich identifiziere, so furchtbar sie als Tat auch sein mag. Aber es wird nicht gezeigt, wie diese Tat wirkt und wie ich selbst mich später zu ihr verhalte. Bei den philosophischen Erörterungen dieses Problems werden wir aber sehen, wie wichtig das zeitliche Moment bei der menschlichen Freiheit ist. Von der Bestimmung des Menschen als Freiheit haben wir hier nur die erste Phase — die abstrakte — zu Gesicht bekommen. Wir müssen sehen, ob Sartre in seinen späteren Dramen diese Problemstellung weiter durchgeführt hat. Zunächst gilt es, das menschliche Zusammensein zu untersuchen an Hand der Analyse des Blickes.
DER BLICK Sartres Ausführungen über den Blick (le regard) stehen an der zentralen Stelle seines philosophischen Werkes Das Sein und das Nichts. Weder bei Husserl noch bei Heidegger, von denen Sartre ausgeht,
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Manuskriptseite aus «L'Être et le Néant»
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ohne ihren Weg bis zu Ende zu verfolgen — die eigentliche Seinsproblematik Heideggers z. B. findet bei Sartre keinen Niederschlag —, steht der Blick im Mittelpunkt der Untersuchungen über das Wesen des Menschen. Mit den Untersuchungen über den Blick eröffnet sich die Dimension des Mit-seins, d. h. des Zusammenseins von Mensch zu Mensch. Der Mensch ist wesentlich auf die Mitmenschen angewiesen, sein Leben vollzieht sich im Bereich des Zusammenseins mit den Anderen. Es ist nicht so, daß der Mensch zuerst allein existiert und dann auf die Mitmenschen stößt, sondern von Beginn an bewegt er sich im Bereich des Mitmenschlichen. Wir bedürfen einer sehr künstlichen Abstraktion, wenn wir uns ein vollständig isoliertes menschliches Dasein ausmalen wollen. Das Faktum, daß der Mensch nur im Zusammensein mit Anderen existieren kann, enthebt uns aber nicht der Aufgabe, die Strukturmomente dieses Zusammenseins aufzuzeigen, sichtbar zu machen, was in diesem Zusammensein geschieht, welche Möglichkeiten darin enthalten sind. Ja, noch mehr, inwiefern dieses Zusammensein die Voraussetzung dafür ist, daß wir zu uns selbst gelangen. Versuchen wir, auf Grund der Analyse eines Beispiels das Geschehen des Blickens zu verdeutlichen. Denn das Blicken wird als ein Ereignis angesehen, in dem etwas geschieht, und nicht etwa als der physiologisch beschreibbare Vorgang verstanden, wonach auf die Netzhaut Bilder fallen, so daß wir durch sie von den Gegenständen Kenntnis nehmen. Ich sitze in einem Park und sehe die alten Bäume, die Allee, den Rasen, den Himmel, die ziehenden Wolken. Ich selbst bin der Mittelpunkt für all diese «Dinge», alles, was ich sehe, gruppiert sich um mich. Genauer gesprochen, ich gruppiere im Sehen alles um mich als den Nullpunkt. Mein Sehen ist ein Ordnen. Durch das Sehen vollziehe ich eine bestimmte Anordnung des Seienden. Heidegger hat gezeigt, daß das Dasein seinem Wesen nach Entfernungen entfaltend ist, daß in dem Ent-fernen, verstanden als Beseitigung der Ferne, sich für das Dasein der Raum allererst konstituiert. Der Raum ist mir nicht als mathematisches Gebilde gegeben, als dreidimensionale Mannigfaltigkeit, sondern als der Bereich, der sich mir im Entfernen erschließt. Bei Sartre erhält dieser Vorgang dadurch eine besondere Note, daß das Dasein sich als Mittelpunkt fühlt, als Zentrum und das heißt als beherrschend, weil alles auf das Zentrum ausgerichtet ist. So wie ich die Dinge sehe, mit den bestimmten Abschattungen (mit Husserl gesprochen), die sie mir darbieten, sind sie für mich. Ja, sie scheinen nur für mich und meine mögliche Anordnung geschaffen zu sein. Aber nun geschieht folgendes. Plötzlich taucht ein anderer Mensch im Park auf. Zunächst nehme ich ihn als einen Gegenstand, ein Objekt unter den anderen gegebenen Objekten. Zu den bestehenden Bezügen, die ich zu den Dingen entfaltet habe und wodurch sich meine Umwelt konstituierte, kommt eben der neue Bezug zum Objekt-Mit-
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menschen dazu. Aber bald gebe ich mir Rechenschaft, daß dieses neue Objekt ein privilegiertes Objekt ist. Wodurch? Dadurch, daß er sich nicht einfach durch die Abstände, die zwischen den Dingen festgelegt wurden, einfangen läßt, sondern daß er selbst Entfernungen entfaltend ist. Die Dinge lassen sich durch Distanzen festlegen, der Mensch ist distanzlos, weil er das Wesen ist, das Entfernungen entfaltet, Bezüge herstellt. Die Dinge können keine Bezüge herstellen, sondern sind auf Grund der vom Menschen entfalteten Bezüge in verschiedene Distanzen eingeordnet. Was geschieht, sobald ich mir Rechenschaft gegeben habe, daß der Andere kein Objekt unter Objekten ist, sondern zu der ausgezeichneten Art von Seienden gehört, die selbst Entfernungen entfalten? Sartre schildert diesen Vorgang sehr eindringlich. Ich verliere meine zentrale Stellung, mit Bestürzung stelle ich fest, daß ich nicht das einzige Zentrum bin, sondern daß der Andere auch Zentrum ist. Ja mehr noch, indem er die Dinge aus meiner Umgebung im Betrachten auf sich zu gruppiert, raubt er mir meine Welt. Ich gehe meiner Welt verlustig. So ist plötzlich ein Objekt erschienen, das mir die Welt gestohlen hat. Alles ist an seinem Platz, alles ist immer noch für mich da, aber alles ist zugleich durch ein unsichtbares und starres Ausfließen zu einem neuen Objekt hin durchzogen. Das Erscheinen des Anderen in der Welt entspricht also einem starren Entgleiten (meines) gesamten Universums, (bedeutet) eine Dezentrierung der Welt, die die Zentrierung unterhöhlt, auf die ich zugleich aus binA2 Der Andere ist also ein Dieb, ein Einbrecher — ja, schlimmer noch, ein Usurpator, denn er raubt mir nicht nur bestimmte Gegenstände, sondern er verdrängt mich aus der zentralen Stelle, die ich einnahm. Die Welt, die ich vorher zu besitzen meinte, ist angebohrt und fließt aus, verblutet durch den Blick des Anderen. So ist also dasjenige, was ich das Erscheinen eines Menschen in meinem Mikrokosmos nenne, die Erscheinung eines Elementes der Auflösung m e i n e s Mikrokosmos zwischen den Dingen dieses Mikrokosmos. Der Andere, das ist zunächst die beständige Flucht der Dinge auf ein Ziel hin, das ich in einer gewissen Entfernung von mir als Objekt erfasse, was mir aber gleichzeitig insoweit entgeht, als es um sich herum seine eigenen Entfernungen entfaltet. Und diese Auflösung schreitet immer weiter fort.. .43 Nach dieser ersten Phase, in der der Andere in meine Welt einbricht, zunächst noch als Objekt, allerdings als privilegiertes Objekt, und die Welt, die ich als die meine ansah, mir raubt —weil die Dinge, die ich zu meiner Welt zählte, nun in seine eingegliedert werden, und ich nicht weiß, wie diese Eingliederung erfolgt — ereignet sich eine zweite Phase, in der der Andere nicht nur ein privilegiertes Objekt ist, sondern ich in ihm ein Subjekt sehe. Zuerst war für mich der Andere ein Wesen, das sah, was ich sehe und dadurch meine Welt bedrohte, eben indem er sie zu der seinen machte. Sobald der Andere als Subjekt verstanden wird, erfasse ich, daß er nicht nur die Dinge meiner Umwelt in den Blick zu bekommen vermag, sondern daß ich 46
selbst auch von ihm gesehen werden kann. Wenn der Objekt-Andere in Verbindung mit der Welt als das Objekt definiert wird, das das sieht, was ich sehe, muß meine Grundbeziehung zum Subjekt-Anderen zurückgeführt werden können auf meine ständige Möglichkeit, vom Anderen gesehen zu werden.44 Was heißt diese Möglichkeit des Gesehen-werden-Könnens? Nichts weniger, als daß der Andere mich selbst zum Objekt werden läßt, indem er mich anblickt. Der Andere wird für mich erst eigentlich zum Anderen, wenn ich ihn als Blickenden erfahre, d. h. als mich zum Objekt-Machenden. Das «Vom-Anderen-gesehen-Werden» ist die Wa h r h e i t des «Den-Anderen-Sehens».45 Das heißt nichts anderes als: Erst wenn ich mich vom Mitmenschen angeblickt weiß, erst dann ist er für mich ein Mitmensch, ein Anderer. Der Andere ist grundsätzlich der, der mich anblickt.46 Was ist das Entscheidende beim Erblickt-werden? Der Blick des Anderen ruht abstandslos auf mir und zugleich hält er mich in einem bestimmten Abstand von sich. Ich fühle seinen Blick auf mir ruhen, zugleich bin ich ihm ausgeliefert. Indem ich mich erblickt weiß, sehe ich nicht auf den Anderen, ist meine Intention nicht auf den Anderen gerichtet, sondern auf mich selbst, sofern ich eben dem Blick des Anderen ausgesetzt bin. Der Blick des Anderen vermittelt mir die Erfahrung meiner selbst. So ist der Blick zunächst ein Vermittler, der von mir auf mich verweistA? Solange ich einfach selbst auf die Dinge hinsah, war ich ganz bei den Dingen und nicht bei mir. Die Erfahrung des Angeblicktwerdens wirft mich auf mich selbst zurück. Nach Sartre stoße ich erst in dieser Erfahrung auf mein «Ich», ja, erhalte so etwas wie ein Ich. Bis dahin lebte ich einfach in meinen Akten, ohne Ich-Bewußtsein. Das Erblickt-werden muß nun noch genauer erfaßt werden, an einem exemplarischen Beispiel. Wir nehmen das Phänomen des Sichschämens. Ich horche an der Tür, um zu erfahren, was im Zimmer gesprochen wird. Plötzlich erscheint jemand und überrascht mich, wie ich das Ohr an die Tür presse, um besser hören zu können. Ich werde plötzlich rot. Warum? Weil ich mich nun plötzlich entlarvt sehe. Während ich lauschte, war alles auf das Erfahren-können des Verborgenen gerichtet. Alle Gegenstände erschienen im Lichte dieses Entwurfes. Die Tür war zu dick, der Lärm von draußen zu stark, ich erfuhr alles aus der Perspektive des Lauschers. Ich war aber so bei der Sache, daß ich mich selbst dabei gar nicht eigens erfaßte. Ich lebte, wie Sartre sagt, in meinen Akten, ohne mein Ich, dieses bestimmte Ich des Lauschenden zu Gesicht zu bekommen. Ich lebte in der Unmittelbarkeit des Horchens, ohne auf mich selbst zu reflektieren. Sobald der Andere auftaucht, weiß ich mich gesehen, überrascht. Ich sehe mich plötzlich — vermittels des Anderen — als den, der ich in diesem Augenblick bin. Ich erhalte durch den Anderen das Ich des Lauschers. Das Sich-schämen ist nach Sartre ein Akt des Wiedererkennens.
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Der Blick des Anderen, (Ausschnitt aus einem männlichen Bildnis des Antonello da Messina. London, National Gallery)
Ich erkenne mich in der Scham wieder, als der, der ich bin. Das Unglückliche an der Situation des Erblickt-werdens ist, daß ich mein Ich bloß durch den Anderen gewinne, im Ertappt-werden, im Überrascht-werden — das führt uns wieder zum Moment des Ausgeliefert-seins. Im Gesehen-werden bin ich dem, der mich sieht, ausgeliefert. Für Sartre ist damit eine Auflösung, ein Verbluten meiner Welt verbunden. Im Schämen erkenne ich das Urteil des Anderen über mich an. Das Angeblickt-werden ist also ein Beurteilt-werdcn. Der Blick des Anderen ist ein Richter. Das ist eine für Sartre entscheidende Deutung des Mitmenschen. Der Bezug zu meinen Mitmenschen ist der eines ständigen Beurteilt-werdens. Tue ich etwas, was sich nicht gehört, so kommt zu diesem Beurteilt-werden natürlich noch das Moment des Ertappt-werdens, des Überrascht-werdens. In diesen Situationen ist das Moment des Richtens durch den Anderen noch deutlicher. Aber für Sartre ist jegliche Berührung mit dem Anderen ein Beurteilt-weiden, ein seinem Urteil Ausgesetztsein. Nun kann ich natürlich so darauf reagieren, daß ich den Anderen selbst wiederum beurteile, z. B. sage, er sei ein Idiot, um so sein Urteil über mich zu entkräften. Das ändert aber nichts an dem Gesamtsachverhalt, daß Sartre die Beziehungen zwischen den Menschen als ein Beurteilt-werden empfindet und interpretiert. Wir wollen hier nicht auf die Frage eingehen, warum das so ist, wohl wird zu untersuchen sein, welches Menschenbild es ermöglicht, ,die zwischenmenschlichen Beziehungen in dieser Weise zu interpretieren. Zum Sein des Menschen gehört die Freiheit. Bin ich beim Angeblickt-werden dem Urteil des Anderen ausgeliefert, so bedeutet das, daß ich seiner Freiheit preisgegeben bin. Da er frei ist, kann ich nicht voraussagen, wie ich seinem Blick erscheine. Nun könnte man sagen, ich verzichte einfach auf sein Urteil. Das ist für Sartre unmöglich, 48
da ich bloß aus der Auseinandersetzung mit dem Anderen im Rückstoß von seinem Blick mein Ich gewinne. Zwei Momente bestimmen das menschliche Sein: die Transzendenz und die Faktizität. Was besagt das? Transzendenz ist das Vermögen des Menschen, sich auf Möglichkeiten zu entwerfen, Möglichkeiten zu wählen und zu verwirklichen. Weshalb nennt Sartre das Transzendenz? Weil ich durch dieses Vermögen nicht ein für allemal auf ein bestimmtes Sein festgelegt bin, sondern jeweils mein Sein überschreite, nämlich im Entwurf, den ich vollziehe, bilde. Einem Ding kommt keine Transzendenz zu, es kann nicht seinen gegenwärtigen Zustand übersteigen, es hat nicht die Möglichkeit, sich zu sich selbst zu verhalten. Faktizität dagegen bezeichnet das Moment des Festgelegt-seins, des Verwirklicht-seins. Zur Faktizität gehört, welcher Nation ich angehöre, was für eine Begabung ich mitbekommen habe — aber auch, was ich bisher verwirklicht habe. Wenn ich etwas veröffentlicht habe, habe ich mich dadurch festgelegt, das ist unwiderruflich geschehen; Faktizität und Transzendenz sind die beiden Gegenspieler im Menschsein, die beide immer wirksam sind. Die Weise ihres Zusammenspiels wird eigens Thema werden bei der Erörterung des Begriffs der «mauvaise foi», der Unaufrichtigkeit. Was geschieht nun beim Angeblickt-werden? Ich verliere meine Transzendenz. Dadurch, daß der Andere mich als indiskreten, neugierigen Lauscher überrascht, legt er mich auf diese Möglichkeit meines Seins fest und verweigert mir andere Möglichkeiten. Ich erstarre zu einer Faktizität. Da dasjenige Seiende, das Sartre das An-sich nannte, zur puren Faktizität verurteilt ist, werde ich nun quasi zu einem An-sich, obwohl mein Sein dadurch ausgezeichnet ist vor dem Sein des übrigen Seienden, das ich gerade für-mich bin, also mich zu mir selbst verhalten kann. Ich werde also durch das Auftauchen des Anderen zu so etwas wie ein Ding unter Dingen. Mein eigentlicher Sündenfall ist die Existenz des Anderen.48 Denn der Blick des Anderen ist medusenhaft: Ich ergreife den Blick des Anderen als eine Verhärtung und Entfremdung meiner eigenen Möglichkeiten.49 Meine Transzendenz (also das Vermögen, mein faktisches Sein zu übersteigen) wird vom Anderen transzendiert und dadurch dem Anderen ausgeliefert. Der Andere ist als Blick weiter nichts als: meine transzendierte Transzendenz.50 Wir sahen schon zu Beginn dieser Ausführungen, daß mit dem Auftauchen des Anderen meine Welt, d. h. die von mir organisierte Anordnung der Dinge, in Gefahr ist, weil er ja eine Anordnung mit sich selbst als dem Zentrum vollzieht. Indem der Andere eine Neuordnung der Dinge vollzieht, entzieht er mir meine Welt, da er mir meine Möglichkeiten entfremdet. Ich bin aus meiner Weh verstoßen und in eine fremde Welt eingeordnet, ohne über diese Einordnung bestimmen zu können. Meine Möglichkeiten des Seins und die ihnen entsprechenden Entbergungen des Seienden verwandeln sich unter dem Blick des Anderen.
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Ich erfahre sie nun als Möglichkeiten, die vom Anderen aufgehoben werden können. Ja, der Andere selbst erscheint mir als derjenige, der mir auflauert, darauf aus ist, meine Möglichkeiten zu zerstören, um über mich verfügen zu können. Während ich zunächst ganz stolz war auf mein über die Dinge Verfügen-können, zeigt sich nun, daß dies Verfügen-können ständig der Gefahr ausgesetzt ist, durch den Anderen mir entfremdet zu werden. So wird meine Beziehung zum Anderen eine Furcht vor ihm, da er meine Welt ständig bedroht und meine Transzendenz in Frage stellt. Erblickt-werden heißt, sich als unbekanntes Objekt unerkennbarer Beurteilungen erfassen.51 Insofern ich angeblickt werde, bin ich Objekt für den Anderen; weil der Andere frei ist, kann ich seine Beurteilung auch nicht voraussehen. So gelangt Sartre dazu, das Angeblickt-werden dem Versklavt-werden gleichzusetzen. Ich bin in dem Maße Sklave, in dem ich in der Tiefe meines Seins von einer Freiheit abhängig bin, die nicht die meine ist und die doch die Bedingung meines Seins ist.52 Sartre kann nicht eindringlich genug diesen Zustand des Preisgegebenseins fassen, des Ausgeliefert-seins, der Hilflosigkeit, des Versklavt-seins. Ich bin in Gefahr. Und diese Gefahr ist keine zufällige, sondern die beständige Struktur meines Für-den-Anderen-Seins.53 Die Furcht ist Furcht vor der Freiheit des Anderen; Stolz und Scham sind Akte des Wiedererkennens des eigenen Wesens, durch die Gegenwart des Anderen; die Stimmung des Knecht-seins, Versklavt-seins entspringt der Entfremdung meiner Möglichkeiten. Das Unheimliche des Blickes des Anderen besteht darin: Er ist mir gegenwärtig als mich anvisierend, ohne selbst von mir anvisiert zu sein. Er hält mich fest, läßt mich geradezu dinghaft erstarren, er gibt mir in seiner Welt einen Platz, über den ich nicht verfügen kann, weil ich nicht mehr Entfernungen entfaltend bin, sondern in die von ihm entfalteten Entfernungen eingehe. Noch eine Behauptung Sartres muß hier erwähnt werden: Daß das Sich-selbst-Kennen unbedingt des Anderen bedarf. Warum? Weil ich, um mich zu kennen, mir selbst Objekt werden muß. Das ist aber nur möglich über den Anderen. Ich selbst kann für mich nur Subjekt sein. Um mir selbst zum Gegenstand zu werden, dazu bedarf ich des Umweges über den Anderen, der mir mein Bild zurückwirft, da ich ja für ihn und seine Beurteilung nichts anderes als Objekt bin. Mein Für-Andere-Sein ist ein Sturz durch die absolute Leere hindurch auf die Objektivität zu. Und da dieser Sturz E n t f r e m d u n g ist, kann ich mich für mich selbst nicht zum Objekt werden lassen, denn in keinem Falle kann ich mich mir selbst entfremden.54 Sind wir nun immer und ewig ausgeliefert, versklavt, geängstet, bedroht, oder besteht die Möglichkeit, sich dagegen aufzulehnen, dagegen zu reagieren? Bis jetzt kam es darauf an, das Phänomen des Blickes als Erblickt-werden durch den Anderen zu fassen. Dabei ist der Andere als der Blickende Subjekt, und ich bin das Objekt. Nun gilt es, den Umschlag sichtbar zu machen, der dadurch eintritt, daß ich mich dem Erblickt-werden entziehe, daß ich mich aus der Abhän50
gigkeit vom Anderen losreiße, daß ich meine Transzendenz (also die Möglichkeit des Überstiegs zu meinen Möglichkeiten) zurückgewinne. Wie geschieht das? Indem ich mir meiner Spontaneität, meiner Freiheit bewußt werde, indem ich mir dessen bewußt werde, daß ich einen Spielraum von Möglichkeiten besitze, indem ich mich auf eine selbstgewählte Möglichkeit entwerfe. Sobald ich das tue, wandelt sich das Verhältnis. Nicht mehr der Andere ist es, der die Verantwortung für mein Sein trägt, sondern ich selbst. Ja, ich trage nun plötzlich auch die Verantwortung für das Sein des Anderen. Insoweit ich als (von) mir selbst als (von) einer meiner freien Möglichkeiten Bewußtsein erlange und insoweit ich mich auf mich selbst hin entwerfe, um diese Selbstheit zu realisieren, insoweit bin ich für Fremdexistenz verantwortlich: ich selbst bewirke durch die Behauptung meiner freien Spontaneität, daß es einen Anderen gibt und nicht bloß eine unendliche Verweisung des Bewußtseins auf mich selbst.55 Das Entscheidende dabei ist nicht das bloße Bewußtsein, sondern das Entwerfen. Im Entwerfen meiner Möglichkeit erfahre ich Simone de Beauvoir
mich als Selbstheit, lade die Verantwortung für mein Sein nicht dem Anderen auf, sondern umgekehrt, das Sein des Anderen wird mir zugesprochen. Es hängt von mir ab, nicht der Andere zu sein. Seine Transzendenz wird von mir überstiegen, im Verwirklichen meiner selbst. Da; Sein des Anderen erscheint mir als degradiertes Sein. War ich vorher für den Anderen Objekt, und der Andere das blickende Subjekt, so bin ich nun zum Subjekt geworden und der Andere zum Objekt. Der Andere ist nun für mich der, der ich nicht sein will. 56 Ich werde nun die Stimmungen los, die mein Ausgeliefert-sein an den Anderen bekundeten, z. B. die Stimmung des Sich-schämens. Die reine Scham ist nicht das Gefühl, dieser oder jener tadelnswerte Gegenstand zu sein; sondern überhaupt e i n Gegenstand zu sein, das heißt, mich in jenem degradierten, abhängigen und starr gewordenen Gegenstand, der ich fü, Andere geworden bin, w i e d e r z u e r k e n nen. Die Scham ist das Gefühl des S ü n d e n fa l l e s , nicht deshalb, weil ich diesen oder jenen Felder begangen hätte, sondern einfach deshalb, weil ich in die Welt «gefallen» bin, mitten in die Dinge hinein, undweil ich der Vermittlung des Anderen bedarf, um zu sein, was ich bin.57
Das Sich-bekleiden ist nach Sartre ein Versuch, den Objekt-Charakter zu verhüllen, nicht gesehen werden zu wollen, sondern bloß selbst zu sehen. (Daß das Sich-beldeiden gerade auch die Rolle spielen kann, den Blick auf sich zu lenken, weswegen die Mode bei dem weiblichen Geschlecht eine größere Rolle spielt als bei dem männlichen, wird von Sartre hier nicht berücksichtigt.) Wir haben versucht, den Prozeß des Auftauchens des Anderen in meiner Welt, vom Moment, da er als Objekt gefaßt wird, übfr sein Subjekt-sein, das mich unterwirft, bis zum Ausgeliefert-sein des Anderen an mich zu verfolgen. Der Einfachheit halber wurden die verschiedenen Phasen der Reihe nach durchgegangen, aber es ist nun keineswegs so, als ob mein Herr-sein über den Anderen ein endgültig errungener Sieg wäre, als ob der Andere für immer in meiner Gewalt stünde, ich die Furcht vor ihm endgültig losgeworden wäre. Vielmehr handelt es sich um ein sehr unstabiles Verhältnis. So ist der Andere ein mit Sprengstoff geladenes Instrument, das ich mit Sorgfalt handhabe, weil ich ... die ständige Möglichkeit spüre daß man es platzen läßt und daß ich zugleich mit diesem Platzen plötzlich die Flucht der Welt von mir weg und die Entfremdung meines Seins erfahren würde. Meine beständige Sorge ist es also, den Anderen in seiner Gegenständlichkeit zusammenzuhalten, und meine Beziehungen zum Objekt-Anderen bestehen im wesentlichen aus Listen, die den Zweck haben, zu bewirken, daß er Objekt bleibt.& Sartre hatte die Stimmungen, die ich als Objekt für den Anderen erfahre, sehr eindringlich geschildert. Man war gefaßt, nun auch die Stimmungen analysiert zu finden, die meine Situation als Herrscher dem Knecht gegenüber entsprechen. Sie fehlen. Wir wissen nun, warum. Weil der Sieg sehr fragwürdig ist, weil der Kampf nie zu Ende . 52
ist. Deswegen werde ich die Sorge um den Anderen und sein Michunterwerfen nie los. Ja, wir könnten sagen, wenn der Andere als Objekt von mir ständig Listen verlangt, um ihn niederzuhalten, dann bin ich ihm ja auch ausgeliefert. Wir sind an das von Hegel so großartig gefaßte Herrschafts-Knechtschafts-Verhältnis erinnert. Das ist kein Zufall, sondern kennzeichnet Sartres Auffassung vom Menschen. Was wir hier an Hand der theoretischen Ausführungen zu klären versuchten, findet seinen unmittelbaren literarischen Niederschlag im Drama: Bei geschlossenen Türen.
DAS ERSTARREN DER FREIHEIT: BEI GESCHLOSSENEN TÜREN Zur Entstehung dieses Stückes schreibt Simone de Beauvoir im zweiten Band ihrer Memoiren: «Sartre setzte die Arbeit an Der Aufschub fort. Er unterbrach sie, als wir nach Paris zurückkehrten, um ein neues Stück zu schreiben.* Er unternahm das, wie auch beim ersten, um Anfängerinnen einen Gefallen zu erweisen. Wanda, die Schwester Olgas, wollte auch Schauspielerin werden. Sie nahm am Unterricht bei Dullin teil, der ihr im Oktober eine kleine Rolle in Die fliegen gab. Andererseits hatte Olga, die braune, gerade Barbezat geheiratet, der in der Nähe von Lyon einen pharmazeutischen Betrieb leitete und auf eigene Kosten jedes Semester eine luxusvoll ausgestattete Zeitschrift herausgab, ›L'Arbalete‹. Er druckte sie selbst, mit einer Handpresse. Er wünschte, daß seine Frau ihren Beruf als Schauspielerin gründlich erlernen möge und regte Sartre an, für sie und Wanda ein Stück zu schreiben, das leicht zu inszenieren sei und mit dem sie in ganz Frankreich auf Tournee gehen könnten. Er wollte das Unternehmen finanzieren. Der Gedanke, ein ganz kurzes Schauspiel aufzubauen, mit einem einzigen Bühnenbild und nur zwei oder drei Darstellern, reizte Sartre. Er dachte gleich an eine geschlossene Situation: an Menschen, die während eines langen Luftangriffs in einem Keller eingeschlossen sind; dann kam ihm der Einfall, seine Helden auf ewig in die Hölle zu sperren. Er schrieb mit Leichtigkeit Bei geschlossenen Türen, das er zuerst ›Les Autres‹ nannte und das unter diesem Titel in der Zeitschrift ›L'Arbalete‹ erschien.» 59 Man kann sich schwerlich einen äußerlicheren Anlaß zur Entstehung eines Stückes denken. Aber wir müssen mit der überkommenen Auffassung aufräumen, daß nur aus «Inspiration» entstehende Werke gelungen sein können. Denn Bei geschlossenen Türen gehört zu den besten Stücken Sartres. Es ist von Anfang bis zum Ende aus einem Guß. Während in Die Fliegen noch zu viel theoretisiert wurde, um den Gang der Ereignisse zu interpretieren, so wird hier gar nicht über Thesen gesprochen, sondern durch die Handlung, durch das * Im Herbst 1943.
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Gespräch der drei Personen, wird uns unmittelbar dargestellt, worum es eigentlich geht. Der Zuhörer muß die Folgerungen ziehen, nicht der Schriftsteller. Das ist Sartre hier wirklich gelungen. Nun dürfen wir allerdings den Anlaß nicht verwechseln mit dem eigentlichen Entstehungsgrund. Um dieses Stück schreiben zu können, mußte Sartre die Problematik des mitmenschlichen Zusammenseins so durchdacht haben, wie das in Das Sein und das Nichts geschehen war. Das Stück wartete geradezu darauf, geschrieben zu werden. Die Theorie des Zusammenseins der Menschen, ihre Art, sich zueinander zu verhalten, gründete ja auf einer bestimmten Erfahrung dieses Zusammenseins. Diese Erfahrung unmittelbar darzustellen, sichtbar, ja fühlbar zu machen, das drängte sich Sartre förmlich auf. Handelte es sich nicht um eine ausgefallene Sondererfahrung, sondern — was Sartre beanspruchte — um eine allgemein menschliche, dann mußte auch der Nachvollzug, die Nachvollziehbarkeit allgemein sein. Beim Sehen oder Hören dieses Stückes mußte jeder sich sagen: das ist es, das habe ich auch erfahren. Wir wissen, daß Sartre kein Charakterdrama, kein Schicksalsdrama, kein psychologisches Drama im überkommenen Sinne schreiben will, sondern ein Situationsdrama, also ein Drama, in dem das Verhalten des Menschen in einer bestimmten Situation sichtbar gemacht werden soll, so daß wir überhaupt verstehen, wie er für die Situation, in die er gelangt ist, auch verantwortlich ist. Welches ist nun die Schlüssel-Situation für Bei geschlossenen Türen und was geschieht in diesem Drama? Denn wir verlangen ja von einem Drama, daß da ein Geschehen zur Entfaltung kommt, das uns anspricht und mitreißt, so daß wir Stellung nehmen müssen durch unser unmittelbares Gestimmtsein. Denn wenn wir Furcht und Mitleid empfinden, um die aristotelische Definition aufzugreifen, so sind ja Furcht und Mitleid nicht einfach subjektive Gefühlszustände, sondern Weisen der unmittelbaren Stellungnahme. Auf den ersten Blick ist man geneigt zu sagen, Bei geschlossenen Türen sei das Drama, in dem am wenigsten geschieht, ja überhaupt nichts geschieht. Es kann hier gar nichts geschehen. Denn wir sehen, wie drei Personen in einen Raum gesperrt werden und man sagt uns, daß das für alle Ewigkeit andauern soll. Niemand kommt hinzu, niemand kann den Raum verlassen. Hat sich Sartre damit nicht jeglicher Möglichkeit beraubt, uns irgendein Geschehen vor Augen zu stellen? Ja, es wird uns mitgeteilt, daß die drei Personen, ein Mann (Garcin) und die beiden Frauen (Ines und Estelle) gestorben sind. Wir sehen sie nach ihrem Tode — im Jenseits, in der Hölle. Das Stück ist so von äußeren Vorfällen entblößt, daß sein Inhalt sich leicht zusammenfassen läßt. Drei Personen werden nach ihrem Tod in einem Zimmer für alle Zeiten eingesperrt — das ist die Hölle. Aber was ist das Quälende daran? Die Hölle ist ja als Strafe für begangene Untaten gedacht. Jedesmal, wenn eine Person in den Salon mit Stilmöbeln geführt wird, ist sie überrascht. Garcin: Ach...? Na, gut, gut, gut, gut. (Er sieht sich um.) Immerhin
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hatte ich nicht erwartet, daß ich hier... Sie wissen ja wohl, was man draußen erzählt? Kellner: Worüber? Garcin: Na ... (Mit einer unbestimmten, die Szene umfassenden Gebärde:) über all das, Kellner: Wie können Sie solche Narreteien glauben? Leuten, die hier niemals den Fuß über die Schwelle gesetzt haben. Denn schließlich, wenn sie hergekommen wären ... Garcin: Ja. (Beide lachen.) Garcin (plötzlich wieder ernst werdend): Wo sind denn die Pfähle? Kellner: Was? Garcin: Die Marterpfähle, die Bratroste, die Blasebälge? Kellner: Sie machen wohl Witze? Garcin (ihn ansehend): A c h ? . . . Na, schön. Nein, das sollte kein Witz sein. (Kurzes Schweigen. Er geht im Zimmer umher.) Keine Spiegel, keine Fenster, natürlich. Nichts Zerbrechliches. (Plötzlich heftig auffahrend:) Und warum hat man mir meine Zahnbürste weggenommen? Kellner: Da haben wir's. Schon kommt die Menschenwürde wieder zum Vorschein. Ist ja toll! Garcin (zornig auf die Sessellehne schlagend): Wollen Sie mich gefälligst mit Ihren Vertraulichkeiten verschonen! Ich bin mir keineswegs darüber im unklaren, wo und was ich hier bin; aber ich dulde nicht, daß Sie ... Kellner: Na, na... Entschuldigen Sie schon. Was wollen Sie; alle Gäste stellen dieselbe Frage. Sie kommen daher: «Wo sind die Pfähle?» Aber ich kann Ihnen schwören, in d e m Augenblick, da denken sie nicht an Körperpflege. Aber wenn man sie dann ein bißchen beruhigt hat — gleich haben sie's mit der Zahnbürste. Aber um Himmels willen, könnt ihr denn nicht nachdenken? Denn schließlich und endlich, wozu wollen Sie sich noch die Zähne putzen? 6o An dieser Stelle wird aber nicht nur die Überraschung, sondern eine typische Reaktion sichtbar. Das Moment der Allgemeinheit wird in einem so unscheinbaren Gespräch festgehalten. Immer wieder gilt die erste Frage den Marterinstrumenten und die zweite, sobald diese Angst beseitigt ist, der Zahnbürste. Denn man meint, wenn es in der Hölle nicht so furchtbar zugeht, könne man sein gewohntes Leben fortsetzen. Gleich zu Beginn wird also durch das «immer wieder» die Dimension des Allgemeinen angedeutet, werden wir unscheinbar in sie versetzt. Auch wir würden so handeln. Daß das Zimmer nichtssagend eingerichtet ist, in einem Pseudo-Stil, das gehört auch zum Charakter der Allgemeinheit. Man kann doch nicht von allen Menschen verlangen, daß sie Geschmack haben. Sie leben gewöhnlich in einer Umgebung, die gewisse Prätentionen «rhebt, faktisch aber bloß zeigt, daß sie keinen Geschmack haben. Das Zimmer hat kein Fenster. Wohin sollte es auch gehen? Es gibt ein gleichmäßiges elektrisches Licht, das von den Bewohnern nicht abgeschaltet werden kann.
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Es gibt keine Betten — die Toten haben übrigens auch keine Augenlider — all das soll andeuten, daß es hier keine Unterbrechung gibt, keinen Rhythmus, wie im Leben, zwischen Wachen und Schlafen, Sehen und die Augen schließen, Hell und Dunkel. Die Zeit wird zum Stehen gebracht — das ist auch eines der Momente, die ein «Ereignis» unmöglich machen. Das Zwielichtige dieser Existenz, die keine Existenz mehr ist, versucht Sartre so zu fassen. Denn irgendwie müssen die Toten, wenn sie durch ihren Aufenthalt in der Hölle bestraft werden sollen, doch sein — und doch dürfen sie nicht mehr leben. Wer sind die drei Personen, die zum Zusammenleben bestimmt sind? Garcin, ein Schriftsteller, Ines Serrano, «Mademoiselle», eine Postangestellte, und Estelle Rigault. Die Namen besagen nichts — das ist aus dem früheren Leben gleichgeblieben. Aber aus dem Verhalten der Personen beginnen wir etwas über sie zu erfahren. Wie verhalten sie sich in der unerwarteten Situation? Garcin: Er will der Situation ins Auge sehen, sich nichts vormachen lassen. Ihn soll man nicht überrumpeln können. Jedenfalls kann ich Ihnen versichern, daß ich keine Angst habe. Ich nehme die Situation nicht auf die leichte Achsel; ich bin mir ihrer Schwere durchaus bewußt. Aber Angst habe ich nicht.61 Daß er wiederholt sagt, keine Angst zu haben, sich nichts vormachen lassen will, könnte verdächtig wirken. Aber zunächst haben wir ja nur seine Aussagen. Sein systematisches Befragen des Bediensteten, der ihn ins Zimmer geleitet, gehört auch zu diesem «der Situation ins Auge sehen wollen». Er will sein Leben in Ordnung bringen. Ines: Sie stellt an den Bediensteten überhaupt keine Frage, hält keine großen Reden, sondern wendet sich sofort an Garcin, den sie für den Henker hält und erkundigt sich nach Florence, ihrer Freundin. Im Gespräch mit Garcin ist sie sehr sachlich, beinahe brutal, weist ihn zurecht, wenn er in einem Tic seinen Mund verzieht, sagt ihm auf den Kopf zu, daß er feige ist. Sie behaupten, Sie seien höflich, aber Sie lassen Ihrem Mienenspiel freien Lauf. Sie sind nicht allein und haben nicht das Recht, mir das Schaupiel Ihrer Angst aufzudrängen. 63 Sie ist illusionslos, besitzt zweifellos eine intellektuelle Schärfe. 56
Szenenbild aus «Huis Clos» («Bei geschlossenen Türen»)
Estelle: Sie beschwert sich über die Disharmonie der Farben des für sie bestimmten Kanapees und ihres Kleides. Behandelt den Bediensteten, als ob er ihre Kammerzofe wäre, nach der sie jederzeit schellen kann. Ist auf Erfolge aus, die sie durch ihre weiblichen Reize erringt, jegliche Fragen sind ihr lästig, es genügt ihr, wenn sie von einem Mann bewundert wird. Wer es ist, das ist ihr egal. Wir erfahren zunächst nur Fragmente von den Geschehnissen nach dem Tode der drei Personen. Sie können eine Zeitlang verfolgen, was auf der Erde vor sich geht. Durch diese Art der Darstellung will Sartre sichtbar machen, daß der Tod darin besteht, daß wir keinen Einfluß mehr haben auf das, was die Anderen von uns denken, von uns sagen. Wir sind ihnen ausgeliefert. Wenn jemand über uns lästert, wir können nichts dazu tun, wir sind abwesend und langsam verschwinden wir auch im Gedächtnis der Überlebenden, die andere Sorgen haben als an uns zu denken. Wenn man nur noch einmal für einen Augenblick zurückkehren könnte, aber das ist ausgeschlossen. Das Unwiderrufliche des Todes ~ wir können nichts mehr ändern, wir können nicht mehr interve57
nieren, das Leben geht ohne uns weiter. Sobald man den Menschen aus dem Leben nichts mehr bedeutet, bricht auch der Kontakt der Gestorbenen ab. Zuerst geschieht das bei Ines — dann bei Estelle und schließlich bei Garcin. Durch dies Abbrechen sind die drei Personen erst recht auf sich angewiesen. Nun beginnt eine neue Phase, nämlich sie bekennen sich gegenseitig, warum sie zur Hölle verdammt wurden. Estelles Reaktion ist kennzeichnend: Aber ich weiß doch nicht, ich weiß es überhaupt nicht! Ich frage mich sogar, ob es nicht ein Irrtum ist. (Zu Ines:) Lächeln Sie nicht. Denken Sie an diellnzahl von Leuten, die ... alltäglich... abwesend werden. Zu Tausenden kommen sie hierher, und haben es immer nur mit Unterbeamten zu tun, mit ungebildeten kleinen Angestellten. Wie sollen da keine Irrtümer vorkommen! Lächein Sie doch nicht. (Zu Garcin:) Und Sie, sagen Sie auch etwas. Wenn die sich in meinem Fall geirrt haben, so können sie das auch in Ihrem Fall getan haben. (Zu Ines:) Und in Ihrem ebenfalls. Ist es nicht besser, wir glauben, daß wir irrtümlich hier sind?63 Und als Ines insistiert, erzählt sie eine rührende Geschichte vom Waisenkind, das für den jüngeren Bruder sorgen mußte und deswegen das Heiratsangebot eines alten Freundes ihres Vaters angenommen hat. Was sollte sie tun, ihr Bruder war krank, der Unterhalt für ihn teuer. Dann, vor zwei Jahren, traf sie den Erwählten ihres Herzens, er wollte mit ihr fliehen, aber sie weigerte sich standhaft — dann bekam sie eine Lungenentzündung und starb. Garcins erste Geschichte läßt ihn als Helden erscheinen: Er war Pazifist. Beim Ausbruch des Krieges, als alle auf ihn blickten, leistete er passiven Widerstand und wurde erschossen. Ines durchschaut diese Wunsch träume. Für wen spielen Sie diese Komödie? Wir sind unter uns. 64 Sie sind unter sich, unter Verbrechern, die Ordnung ist unfehlbar, wenn sie zur Hölle verdammt sind, dann hat es keinen Sinn, den Anderen etwas vorlügen zu wollen —weil sie jemanden zu Tode gepeinigt haben, deswegen sind sie hier. Ines durchschaut auch die Situation, in die sie geraten sind. Es gibt keinen Folterknecht von Amts wegen, weil sie gegenseitig dazu bestimmt sind, sich zu peinigen, sich bis zum Überdruß zu quälen. Der Entschluß, daß jeder für sich in seiner Ecke bleibt und mit niemandem ein Wort spricht, um so die Höllenordnung zu durchkreuzen, gelingt nicht. Estelle braucht wenigstens einen Spiegel — aber es gibt ja keinen Spiegel im Raum. Früher war es ihr Stolz, sich immer spiegeln zu können. Ines bietet sich nun als Spiegel an und damit beginnt der Kampf, das eigentliche Geschehen des Dramas. Wenn jeweils der Andere als Spiegel nötig ist, dann können sich die Personen nicht abschließen, können sie sich nicht in ihre Ecke zurückziehen, wie Garcin das vorgeschlagen hatte. Sagt Ines Estelle, wie sie aussieht, und erfährt sie dadurch, wie sie ist, dann hängt Estelle ja ganz von Ines ab. Es ist kein Zufall, wenn gerade die scharf sehende Ines diesen Zusammenhang durchschaut und ausspricht. Zu Estelle:
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Wie war das, wenn der Spiegel sich aufs Lügen verlegte? Oder, wenn ich die Augen schlösse, wenn ich mich weigerte, dich anzusehen, was fingst du mit all der Schönheit an?65 Und zu Garcin: Selbst mein Gesicht haben Sie mir gestohlen: Sie kennen es, und ich kenne es nicht.66 Es ist nicht wichtig, auf die Einzelheiten des Kampfes einzugehen. Ines, die lesbisch veranlagt ist, will Estelle für sich haben. Estelle wehrt sich, ihr geht es nur darum, einem Mann zu gefallen. Garcin laßt sich zunächst mit Estelle ein, aber im Grunde genommen liegt ihm nur am Urteil von Ines. Die nächste Phase des Prozesses, denn es handelt sich um einen Prozeß, ist das Eingeständnis der begangenen Verbrechen. Garcin hat seine Frau unmenschlich gequält. Ines hat den Mann von Florence zum Selbstmord getrieben, indem sie ihn bei Florence auf raffinierte 59
Weise angeschwärzt hat. Genauer gesagt, indem sie Florence auf seine unscheinbaren Fehler hinwies, sie dazu brachte, daß sie ihn mit Ines' Augen sah und so nicht mehr lieben konnte. Estelle hat ihren Mann betrogen, ihr Kind von ihrem Geliebten umgebracht — der Geliebte erschoß sich. Sie gesteht ihre Feigheit ein. Garcin hat nicht passiven Widerstand geleistet beim Ausbruch des Krieges, sondern ist geflüchtet — an der Grenze wurde er verhaftet und ist unter miserablen Umständen erschossen worden. Er will nun seine Handlungsweise rechtfertigen und bedarf deswegen des Urteils der Anderen. Aber auf das Urteil von Estelle kann er nichts geben, da sie ja selbst feige und zudem dumm ist und gar kein Urteilsvermögen hat. Zwar behauptet sie zuerst, daß sie Garcin nicht lieben könnte, wenn er ein Feigling wäre, aber Ines zwingt sie zum Geständnis, daß ihr alles egal ist, wenn es nur ein Mann ist, der sie liebt. So muß Garcin um das Urteil, um den Blick Ines' kämpfen. Denn sie ist unbestechlich und klug. Jeder ist also dem Anderen ausgeliefert. In dem Augenblick, als Garcin den Mut verliert, Ines überzeugen zu können, gibt er sich Rechenschaft, daß er sie durch sein Verhalten zu Estelle quälen kann. In ihrer Verzweiflung sagt Ines: Macht, was ihr wollt, ihr seid die Stärkeren. Aber denkt daran: ich bin da und schaue euch zu. Ich lasse meine Augen nicht von Ihnen, Garcin.67 Welches ist also das Geschehen in diesem Drama? Es ist der Kampf um das Gesehen-werden. Genauer gesprochen: Wenn wir von den Anderen abhängen, um zu erfahren, wer wir sind, dann müssen wir ja ständig um ein günstiges Bild in ihren Augen kämpfen. Das entspricht genau der Theorie, die wir zu entwickeln versuchten. Aber Sartre hat hier ein Moment hinzugefügt, das in seiner theoretischen Abhandlung unentwickelt blieb. Es ist nicht gleichgültig, um wessen Blick (Urteil) wir kämpfen. Garcin kann mit Leichtigkeit Estelle da von überzeugen, daß er gut gehandelt hat, aber weil sie dumm ist und nicht urteilen kann, ist ihm damit nicht gedient, er ist auf Ines verwiesen, der es darum geht, ihn von Estelle zu trennen. Es kommt also nicht darauf an, einfach das Urteil"irgendeiner Person günstig ausfallen zu lassen, sondern das der Person, an der uns gelegen ist. Natürlich kann das gleich zu Möglichkeiten der Selbsttäuschung führen, wenn wir nämlich eine uns gutgesinnte Person, deswegen, weil sie uns gutgesinnt ist, gleich auch als objektiv und vernünftig an sprechen. Also, dies ist die Hölle. Niemals hätte ich geglaubt... Ihr ent sinnt euch: Schwefel, Scheiterhaufen, Bratrost... Ach, ein Witz! Kein Rost erforderlich, die Hölle, das sind die andern.68 Das ist die im Stück selbst gegebene Erklärung für unsere Beziehung zu den Anderen. Weil wir den Anderen ausgeliefert sind, sind sie unsere Peiniger — die Hölle ist nichts anderes als dieses Ausgeliefertsein. Wir finden keine Ruhe, wir müssen immer auf dem Sprung sein, um die Anderen von der Edelmütigkeit unserer Handlungen zu überzeugen, oder, wenn wir gefehlt haben, von der Geringfügigkeit unserer Schuld.
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Wenn dies das Zentralthema ist, so dürfen wir doch nicht übersehen, daß noch ein sehr wesentliches Moment mitwirkt im Stück, nämlich die Selbsttäuschung. Wenn wir im Laufe der Interpretation von einem Prozeß sprachen, so war es der Prozeß der fortschreitenden Aufhebung der Selbsttäuschung. Das wurde an dem Vergleich der verschiedenen Lebenserzählungen sehr deutlich. Zuerst wurde so getan, als ob man durch ein Versehen in der Hölle gelandet sei. Dann wurde ein kleines Vergehen eingestanden und erst zum Schluß kam die Wahrheit zutage. Die Selbsttäuschung ist kein auf das Ich beschränkter Vorgang, sondern ereignet sich vielmehr im Kontakt des Ich mit anderen Menschen. Man will ja, wenn man durch die Spiegelung in den Anderen sich selbst wiedergewinnt, die Anderen über sich selbst täuschen, um so ein gutes Bild von sich zu vermitteln. Wir haben hier den Vorgang der «mauvaise foi», der Unaufrichtigkeit (S. 63 f). Die Selbsttäuschung ist oft so konsequent, daß man ihr selbst zum Opfer fällt. Man glaubt ja so gerne etwas Gutes über sich selbst, gerade wenn man sich kennt, gerade wenn man weiß, wie oft man versagt hat, wie groß der Unterschied ist zwischen dem, was man vorgibt zu sein, und dem, was man tatsächlich ist. Dieser Prozeß der Auflösung wird im Stück in der Auseinandersetzung zwischen Garcin und Ines sichtbar gemacht. Garcin: Hör mich an, ein jeder hat sein Ziel, nicht?... Ich ... ich pfiff auf das Geld, auf die Liebe. Ich wollte ein Mann sein. Ein Kerl. Ich. habe alles auf ein einziges Pferd gesetzt. Ist es möglich, daß man ein Feigling ist, wenn man sich die gefährlichsten Wege erwählt hat? Kann man ein Leben nach einer einzigen Tat beurteilen? Ines: Warum nicht? Dreißig Jahre lang hast du dich in demTraum gewiegt, du habest Mut; du ließest dir tausend kleine Schwächen hingehen, weil den Helden alles erlaubt ist. Wie bequem das war! Und dann, in der Stunde der Gefahr, als du Farbe bekennen solltest ... nahmst du den Zug nach Mexiko. Garcin: Von solchem Heldentum habe ich nicht bloß geträumt. Ich habe es erwählt. Man ist, was man will. Ines: Beweise es. Beweise, daß es kein Traum war. Nur die Taten entscheiden über das, was man gewollt hat. Garcin: Ich bin zu früh gestorben. Man hat mir keine Zeit gelassen, meine Taten zu tun. Ines: Man stirbt immer zu früh — oder zu spät. Aber das Leben ist nun einmal da zu Ende; der Strich ist gezogen, es gilt, die Rechnung abzuschließen. Du bist, was dein Leben ist.69 Aus diesem Gespräch sehen wir, wie Garcin sich sträubt, seine Selbsttäuschung aufzugeben, wie er Ausflüchte sucht. Er vertritt die existentialistische These: Man ist, was man gewählt hat. Er hat diesen Heroismus gewählt, folglich war er tapfer. Aber sofort kommt auch das Gegenargument. Es genügt nicht, sich als Ausnahmemensch zu wählen, es genügt nicht, sich für einen außergewöhnlichen Weg zu entscheiden, wenn man nicht im Stande ist, 61
diese Entscheidung auch durch Taten zu beweisen. Nicht die Wahl des bestimmten Weges entscheidet darüber, was man ist — das ist vielmehr nur ein Schritt —, sondern wie man auf dem gewählten Weg, sich diesem gemäß, auch wirklich verhält. Die Berufung auf die Wahl des Weges (die Entscheidung) ist ein Akt der Selbsttäuschung, wenn man diesen Weg dann nicht tatsächlich durchhält und sich Schritt für Schritt durch seine Taten er-geht. Wir fanden in Die Fliegen eine ähnliche Stelle, nämlich als Elektra, die zwar ihr ganzes Leben lang von der Rache geträumt hatte, sich die Rache erwünscht hatte, nicht mehr zu der vollzogenen Handlung stehen konnte: sie war ihr zu grausig, sie konnte die Verantwortung dafür nicht übernehmen und war glücklich, als sie durch die Reue die Verantwortung auf Jupiter abwälzen konnte. Sartre will den Unterschied deutlich machen zwischen der Entscheidung, die eine leere Entscheidung ist, da man nicht zu ihr stehen kann, und der Entscheidung, die mit unseren Handlungen im Einklang steht, die durch unsere Taten allererst zur vollzogenen, durchgeführten Entscheidung wird. Es ist z. B. sehr leicht, zu sagen, daß man eine gutmütige, großzügige Natur ist, einem bloß die Mittel fehlen, um die Großzügigkeit in die Tat umzusetzen. Ohne Taten ist die Entscheidung gar keine Entscheidung, sondern bloß ein Akt der Selbsttäuschung. Wir schaffen uns ein Wunschbild und sammeln unsere ganze Energie, um dies Wunschbild lebendig zu halten und es den Anderen auch glaubhaft zu machen — bei der ersten Bewährung fällt es zusammen. Garcin klammert sich an die Ausrede, er sei zu früh gestorben, um seine Taten vollbringen zu können. Nun kann es zwar möglich sein, daß einen der Tod ereilt, durch einen Unfall, durch Krieg, durch Krankheit, und einem so die Möglichkeit der Entfaltung nimmt, aber Garcin hatte ja gerade diese Möglichkeit, er war in einer Situation, in der sein Heldenmut sich bewähren konnte und gerade in dieser Situation, die ihm auf den Leib zugeschnitten war, hat er gekniffen, zeigte er sich nicht als Held, sondern als Feigling. Jeder Mensch hat das Leben, das er sich wählt — aber er darf nicht bloß nach der Wahl beurteilt werden, sondern nach der Erfüllung des gewählten Lebens. Solange man lebt, so lange darf man einem Menschen die Möglichkeit der Änderung nicht aberkennen, darf man ihn nicht auf eine bestimmte Möglichkeit festnageln, denn dann mißachtet man seine Freiheit. Aber in diesem Fall, wie auch in Das Spiel ist aus, ist ausdrücklich der Moment gewählt, wo das Leben abgeschlossen ist. In diesem Augenblick vollzieht sich so etwas wie eine Erstarrung — man erstarrt zu den bestimmten Möglichkeiten, die man verwirklicht hat und hat kein Recht mehr, sich auf die anderen Möglichkeiten zu berufen, die man noch hätte verwirklichen können. Mit dem Tod ist die Möglichkeit der Wahl und die Möglichkeit der Verwirklichung, also der Tat, zu Ende. Der Mensch hat keine Transzendenz mehr, sondern ist nur das, was er wirklich vollbracht hat.
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Damit sehen wir einen neuen Aspekt der Hölle. Die Hölle, das sind die Anderen, aber die Hölle, das bin ich zugleich selbst, insofern ich mit meinem Leben allein bin, insofern mir nicht mehr die Ausflucht bleibt, daß ich noch das und das tun werde, um mich so vor mir zu rechtfertigen. Sartre will hier unser Gewissen wachrufen, ständig dessen eingedenk zu sein, daß wir jeden Augenblick sterben können und daß wir dann nach dem beurteilt werden, was wir getan haben und nicht nach dem, was wir tun wollten. Dieses Erstarrt-sein unseres Lebens, die Augen nicht schließen zu können, soll, wie wir sahen, andeuten, daß nun kein Zeitrhythmus mehr möglich ist, keine Gliederung aber es bedeutet auch, daß die Toten ihrem Leben gegenüberstehen nicht mehr als einem zu gestaltenden, sondern als einem unwiderruflich erstarrten. Mit seinem Leben allein zu sein und die Augen vor dem Getanen nicht schließen zu können, gehört wesentlich zur Qual der Hölle. Wir fürchten die Anderen, weil sie uns auf das stoßen, was wir getan haben und nicht, was wir tun wollten. Die Furcht vor der Hölle ist die Furcht vor der Klarheit über das eigene, erstarrte Leben, an dem wir nichts mehr ändern können. Gerade wenn zwischen dem, was wir sein wollten und dem, was wir wirklich sind, ein Abgrund klafft, werden die Mitmenschen zu Henkern. All diese Blicke, die mich verzehren.70 Es soll nun der Versuch gemacht werden, Sartres Erfassen der menschlichen Situation durch die Erläuterung des Begriffs der Unaufrichtigkeit zu verdeutlichen.
DIE UNAUFRICHTIGKEIT Ein entscheidender Begriff bei Sartres Versuch, das Wesen des Bewußtseins, und das heißt des Mensch-seins zu fassen, ist der Begriff der mauvaise foi. Wir übersetzen mit Unaufrichtigkeit *. Um was es dabei geht, was darunter gemeint ist, sollen die folgenden Ausführungen zeigen. Sartre sagt: Das menschliche Sein ist nicht nur das Sein, durch das die Negiertheiten in der Welt enthüllt werden, es ist auch dasjenige, was sich zu sich selbst negativ einstellen kann. 71 Was bedeutet das? Zunächst, inwiefern ist das Sein des Menschen in Zusammenhang zu bringen mit Negiertheiten (negatite), was ist damit gemeint? Um das zu verstehen, müssen wir einen kurzen Blick auf das 1. Kapitel des I. Teils des Werkes Das Sein und das Nichts werfen. Der Titel dieses Buches ist in Parallele zu Heideggers «Sein und Zeit» entworfen. Gerade in diesem ersten Kapitel gibt es sehr sichtbare Anleihen aus «Sein und Zeit» und aus Heideggers Antrittsvorlesung «Was ist Metaphysik?». In diesem ersten Kapitel soll * In der Übersetzung von Justus Streller ist dafür «Unwahrhaftigkeit» gewählt.
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der Ursprung der Verneinung erklärt werden. Weswegen ist das wiederum wichtig? Weil in der Verneinung ein wesentlicher Zug des Mensch-seins sichtbar wird. ... daß das Menschenwesen zunächst inmitten des Seienden ruht und sich dann durch einen nichtenden Schritt nach rückwärts von ihm losreißt,72 Der Mensch gelangt zu sich selbst, indem er Abstand gewinnt vom übrigen Seienden, sich davon absondert, ausscheidet. Dieses Abstand-gewinnen ist wiederum nur möglich, weil durch den Menschen so etwas wie das Nichts in die Welt kommt. Denn das Sein selbst, wie Sartre es versteht, ist so durch und durch von sich selbst durchdrungen, daß gleichsam kein Platz für das Nichts übrig bleibt. Das Nichts, als Nicht-seiendes, vermag aber auch nicht aus eigener Kraft zu «sein», sonst wäre es ja nicht das Nicht-seiende. Es gibt aber das Nichts, z. B. wenn ich eine Verneinung ausspreche, dann appelliere ich doch an das Nichts. Der Mensch allein ist es, der das Nichts inmitten des Seienden aufgehen läßt. Der Mensch stellt sich, wenigstens in diesem lalle, als ein Seiendes dar, das das Nichts in der Welt anbrechen läßt, insofern es sich selbst zu diesem Zwecke mit Nicht-Sein belastete In diesem Aufgehen-lassen des Nichts, in dieser Möglichkeit, sich aus dem in sich vollen, geschlossenen Sein herauszulösen, im Distanz-gewinnen finden wir überhaupt den Quellpunkt der Freiheit. Wäre es dem Menschen nicht möglich, sich vom übrigen Seienden loszureißen, dann wäre er bloß ein Punkt unter anderen Punkten des Gesamt des Seienden, dadurch, daß durch ihn das Nichts zustande kommt, gewinnt er eine hervorragende Position — die Klärung dieser Position ist die eigentliche Aufgabe von Sartres Ontologie, die im Grunde genommen eine Anthropologie ist. Im Bezug zum Nicht (bzw. Nichts) wird Sartres Bestimmung des Bewußtseins sichtbar, denn in dieser Bestimmung ist das Nicht ausdrücklich aufgenommen. Sie lautet: Das Bewußtsein ist nicht, was es 64
ist, und es ist, was es nicht ist. Wenn wir diese in Das Sein und das Nichts immer wieder auftauchende Formel einfach so zitieren, so ist damit nicht viel anzufangen, abgesehen davon, daß man sagen kann, sie enthalte einen doppelten Widerspruch; denn im ersten Teil des Satzes wird doch gesagt, daß das Bewußtsein nicht sei, was es ist und im zweiten, daß es sei, was es nicht ist. Sartre liebt widersprüchliche Formeln, wir dürfen uns davon nicht abschrecken lassen, sondern müssen vielmehr sehen, was hier unter Sein und Nicht-sein verstanden wird. Nehmen wir den ersten Teil: Das Bewußtsein ist nicht, was es ist... Welchen Sinn hat dieser Satz? Was wird hier unter «was es ist» verstanden? Wir können versuchen, das Was-sein als das Wesen zu verstehen. Dann würde der Satz bedeuten: Das Bewußtsein steht mit seinem Wesen in Widerspruch. Das ist keineswegs gemeint, denn diese Formel soll uns ja gerade die Wesensbestimmung des Bewußtseins geben. Unter Was-sein ist die faktische Existenz verstanden, Sartre sagt auch einfach Faktizität. Gesetzt also, Was-sein heißt hier das faktisch verwirklichte Sein, das jeweils erreichte, das jeweils vorliegende Sein. Wie kann dann gerade von diesem Sein behauptet werden, daß das Bewußtsein es nicht sei? Es ist es doch gerade. Wenn die Formel, die das Wesen des Bewußtseins sichtbar machen soll, genauer gefaßt wäre, dann müßte sie lauten: Das Bewußtsein ist nicht nur das, was es wirklich ist. Denn das ist es ja auch, aber nicht nur das. Im ersten Teil der Definition wird ausgesprochen, daß man das Bewußtsein nicht auf sein faktisches Sein festnageln darf, daß man es nicht darauf einschränken darf. Warum nicht? Das soll durch den zweiten Teil der Definition ausgesprochen werden: Das Bewußtsein ist, was es nicht ist. Worauf geht diese Bestimmung, was besagt sie? Sie klingt auch widersprüchlich, denn Sein und Nicht-sein werden scheinbar gleichgesetzt. Aber um wessen Sein handelt es sich? Etwa um das Sein schlechthin? Keineswegs. Um ein dinghaft Seiendes, wie etwa diesen Tisch? Auch nicht. Wir dürfen nie von einem Ding aussagen, es sei, was es nicht sei. Im Gegenteil, es ist, was es ist. Um die eigentümliche Seinsweise des Bewußtseins gegenüber allem übrigen Seienden hervorzuheben, wird von ihm behauptet, es sei, was es nicht ist. Dabei bezieht sich das Nicht also nicht etwa auf nichtbewußtseinsmäßig Seiendes, sondern auf Seinsmöglichkeiten, die dem Bewußtsein offen sind. Der zweite Teil der Definition: Das Bewußtsein ist, was es nicht ist — soll also bedeuten, das Bewußtsein sei dasjenige Seiende, das wesenhaft durch seine Möglichkeiten bestimmt ist. In seinen Möglichkeiten übersteigt es jeweils das faktische Gegeben-sein. Der Gegenbegriff zur Faktizität tritt hier ins Spiel, nämlich der Begriff der Transzendenz. Unter Transzendenz versteht Sartre den Überstieg des schon Verwirklichten zum Möglichen. Dabei geht Sartre von einer Bestimmung des Daseins aus, bzw. läßt sich von ihr anregen, die Heidegger zu Beginn von «Sein und Zeit» gibt. Da heißt es nämlich, daß das Wesen des Daseins in seiner Existenz liegt und daß unter Existenz diese Eigentümlichkeit verstanden werden muß,
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daß das Dasein nicht einfach ist, wie Tisch, Baum, Gebirge, sondern daß es zu sein hat, daß ihm das Sein als etwas zu Verwirklichendes aufgetragen ist. Das Dasein ist dasjenige Seiende, das sein Sein eigens zu übernehmen hat. Es ist ein Wesen der Möglichkeit. Was ich sein kann, das sind meine Möglichkeiten. Sie werden aber nur zu meinen Möglichkeiten, wenn ich sie wirklich ergreife. Ich kann sie auch verfehlen. Sagt Sartre: das Bewußtsein ist, was es nicht ist, so ist unter dem Nicht-sein also keineswegs das schlechthin Andere verstanden, sondern das, was das Bewußtsein als seine Möglichkeit sein kann. In der Wesensbestimmung des Bewußtseins werden die beiden Momente Faktizität und Transzendenz zusammengenommen, so daß im ersten Teil der Definition behauptet wird, das Bewußtsein ist nicht nur das, was es gerade faktisch ist und im zweiten Teil gesagt wird, was es über sein faktisches Sein hinaus noch ist — eben Überstieg zu seinen Möglichkeiten. Wir werden sehen, wie dieses Zusammenspielen von Faktizität und Transzendenz gerade den Spielraum eröffnet für das Phänomen der Unaufrichtigkeit. Man pflegt von jemandem, der eine Unwahrheit sagt, zu behaupten, er sei unaufrichtig. Die erste Abgrenzung, die erfolgen muß, ist die zwischen Unaufrichtigkeit im Sinne der Lüge und Unaufrichtigkeit im Sinne der mauvaise foi. Wenn jemand lügt, so muß er die Wahrheit kennen, um lügen zu können. Die Lüge ist ja eine bewußte Entstellung der Wahrheit. Die Lüge erfolgt, um jemanden täuschen zu können. Die mauvaise foi soll sich von der Lüge dadurch unterscheiden, daß der Täuschende und der Getäuschte nicht mehr zwei verschiedene Personen sind, sondern ein und dieselbe Person. Ich bin derjenige, der täuscht, und ich bin auch derjenige, der getäuscht wird. Die Unaufrichtigkeit ist also ein Selbstbetrug. Wie ist aber so ein Selbstbetrug überhaupt möglich? Denn wenn der Lügende und der Belogene ein und dieselbe Person sind, dann muß angenommen werden, daß der Belogene darum weiß, daß er belogen wird, und wenn er das weiß, wird doch die Lüge wirkungslos. Das geschieht ganz besonders dann, wenn man, wie Sartre es tut, das Sein des Bewußtseins als Bewußtsein des Seins definiert, wobei hier Sein das eigene Sein meint. Der Unwahrhaftige muß Bewußtsein (von) seiner Unwahrhaftigkeit haben, denn das Sein des Bewußtseins ist Seinsbewußtsein.74 Sartre setzt das «von» in Klammern, um so anzuzeigen, daß dieses Bewußtsein kein thematisches Bewußtsein ist, sondern ein vor jeder Reflexion stattfindendes, also ein präreflexives. In Sartres Formulierung: ... Sicher handelt es sich für den, der unwahrhaftig ist, darum, eine unangenehme Wahrheit zu verschweigen oder einen angenehmen Irrtum als Wahrheit hinzustellen. Du Unwahrhaftigkeit hat also in ihrer Erscheinung die Struktur der Lüge. Nur wird alles durch den Umstand verändert, daß ich in der Unwahrhaftigkeit mir selbst die Wahrheit verschweige. Hier besteht die Dualität von Täuscher und Getäuschtem nicht. Die Unwahrhaftig-
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keit beinhaltet im Gegenteil wesenhaft die Einheit e i n e s Bewußtseins ... die Unwahrhaftigkeit kommt nicht von außen her zur menschlichen Realität. Man erleidet die Unwahrhaftigkeit nicht, man xoird nicht mit ihr angesteckt, sie ist kein Zustand. Es bedarf einer ursprünglichen Absicht und eines Entwurfs der Unwahrhaftigkeit; dieses Entwerfen beinhaltet ein Verständnis der Unwahrhaftigkeit als solcher und eine präreflexive Erfassung des von der Unwahrhaftigkeit gestalteten Bewußtseins. Es folgt daraus zunächst, daß der, den man belügt, und der, der lügt, ein und dieselbe Person sind, was bedeutet, daß ich als Täuschender die Wahrheit kennen muß, die mir als Getäuschtem verborgen ist. Mehr noch, ich muß die Wahrheit sehr genau kennen, u m sie vor mir sorgfältig verstecken zu können — und dies nicht in zwei verschiedenen Momenten der Zeitlichkeit —, was zur Not gestatten würde, einen Anschein von Dualität zoiederherzustellen, sondern in der vereinheitlichenden Struktur des gleichen Entwurfs. Wie kann aber die Lüge bestehen, wenn die 75 Dualität, die sie bedingt, aufgehoben ist? Wir müssen aus diesem Zitat noch hervorheben, daß die Unaufrichtigkeit nicht einfach ein Zustand ist, den wir ertragen müssen, wie z. B. eine Krankheit, sondern daß sie einem besonderen Entwurf dessen entspringt, der sie besitzt. Sie ist also eine eigene Leistung des Bewußtseins. Um so schwieriger wird es, zu verstehen, wieso dann noch eine Täuschung möglich ist. Um die Bedingungen der Möglichkeit des Entstehens und Bestehens der Unaufrichtigkeit ausfindig zu machen, beginnen wir damit, Fälle, in denen die Unaufrichtigkeit das Verhalten bestimmt, zu beschreiben. Denn bis jetzt ist ja noch gar nicht gesagt, daß es so etwas wie den Selbstbetrug, die Selbsttäuschung in der Unaufrichtigkeit überhaupt gibt. Da ist zum Beispiel eine Frau, die zu einem ersten Rendezvous geht. Sie kennt sehr genau die Absichten, die der Mann, der mit ihr spricht, in bezug auf sie hat. Sie weiß auch, daß sie sich früher oder später irgendivie entscheiden muß. Aber sie will von dem Drängen nichts merken: sie hält sich allein an das, was die Haltung ihres Partners an Respektvollem und Zurückhaltendem sehen läßt. Sie faßt dieses Verhalten nicht als einen Versuch auf, das ins Werk zu setzen, was man «die ersten Annäherungen» nennt, das heißt, sie will die Möglichkeiten zeitlicher Fortentwicklung nicht sehen, die diese Haltung in sich trägt: sie schränkt dieses Benehmen auf das ein, was es in der Gegenwart ist, sie will aus den Worten, die man an sie richtet, nichts anderes heraushören als ihren offenbaren Sinn; wenn man zu ihr sagt: «Ich bewundere Sie so sehr», so nimmt sie diesem Satz seinen sexuellen Hintergrund, sie legt dem Gespräch und dem Benehmen ihres Partners unmittelbare Bedeutung bei, die sie wie objektive Eigenschaften betrachtet. Der Mann, der mit ihr redet, erscheint ihr aufrichtig und respektvoll, so wie der Tisch rund oder viereckig, so wie die Wand blau oder grau gemalt ist. Und die Eigenschaften, die in dieser Weise der Person, der sie zuhört, beige-
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legt worden sind, erstarren zu einer dinglichen Fortdauer, die nichts anderes ist als die Projektion ihrer strikten Gegenwart auf den zeitlichen Ablauf. Sie weiß also nicht über das Bescheid, was sie wünscht: sie ist zutiefst empfänglich für die Begierde, die sie erregt, aber diese rohe und unverhüllte Begierde würde sie erniedrigen und würde bei ihr Abscheu hervorrufen. Indessen würde sie nichts Reizvolles an einem Respekt finden, der einzig und allein Respekt wäre. Um sie zufriedenzustellen, bedarf es eines Gefühls, das sich ungeteilt an ihre P e r s o n wendet, das heißt an ihre vollkommene Freiheit, und das eine Anerkenntnis ihrer Freiheit ist. Aber gleichzeitig muß dieses Gefühl ganz und gar Begierde sein, das heißt, es muß sich an ihren Körper als Gegenstand der Begierde wenden. In unserem Falle weigert sie sich also, die Begierde als das aufzufassen, was sie ist, sie gibt ihr nicht einmal einen Namen, sie erkennt sie nur in dem Maße, in dem die Begierde sich in Richtung auf die Bewunderung, die Hochschätzung, den Respekt transzendiert, so daß sie nur noch als eine Art von Wärme und Verdichtung der Situation erscheint. Aber jetzt ergreift man ihre Hand. Diese Handlung ihres Gesprächspartners enthält die Gefahr, die Situation zu verändern, indem sie zu einer unmittelbaren Entscheidung aufruft: dem Manne diese Hand überlassen heißt: dem Flirt von sich aus zuzustimmen, sich darin zu engagieren. Sie zurückziehen heißt, die unklare und schwankende Harmonie zu zerstören, die den Reiz der Stunde ausmacht. Es kommt darauf an, den Augenblick der Entscheidung soweit wie möglich hinauszuschieben. Man weiß, was nun geschieht: die junge Frau überläßt ihm ihre Hand, aber s i e m e r k t n i c h t , daß sie sie ihm überläßt. Sie merkt es nicht, weil es sich zufällig so fügt, daß sie in diesem Augenblick ganz Geist ist. Sie reißt ihren Partner mit fort bis in die höchsten Höhen empfindsamer Spekulation, sie redet vom Leben im allgemeinen, von ihrem Leben im besonderen; sie zeigt sich von ihrer wesenhaften Seite: eine klare bewußte Persönlichkeit. Und inzwischen vollendet sich die Trennung von Leib und Seele; die Hand ruht regungslos zwischen den warmen Händen ihres Partners: weder zustimmend noch widerstrebend — eine SacheJ 6 Inwiefern kann gesagt werden, daß dies Verhalten der Frau unaufrichtig ist? Inwiefern kann hier von einer Selbsttäuschung gesprochen werden? Sartre zeigt, wie sie verschiedene Mittel ins Spiel bringt, um sich selbst zu betrügen. Erstens sieht sie in dem Verhalten des Verehrers, in seinen Worten, seinen Gesten, nur das, was sie unmittelbar sind, als was sie sich unmittelbar zu verstehen geben. Sie verbirgt sich die Absicht, die hinter seinen Worten steckt, nämlich einen Versuch der Annäherung zu machen. Sie will nicht sehen, daß das, was er sagt, was er tut, nur die ersten Schritte sind, sie nimmt die ersten Schritte für das Ganze. In der Sartreschen Terminologie heißt das, sie sieht in dem Verehrer so etwas wie ein Ansich Seiendes, also etwas, was ein für allemal in seinem Sein festgelegt ist, während ja das Wesen des Bewußtseins gerade darin besteht, nicht An-sich, sondern Für-sich zu sein, und das heißt, wie
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schon früher angedeutet, sich verwirklichend, durch Möglichkeiten bestimmt zu sein. Zugleich fühlt die Frau die erwachende Begierde, aber sie verneint sie als das, worauf es nicht ankommt, was überschritten, transzendiert werden muß. Sie fühlt ihren eigenen Körper, seine beginnende Erregung, und zugleich verneint sie ihn, indem sie sich als reinen Geist betrachtet. Indem sie zutiefst die Gegenwart ihres eigenen Körpers empfindet — vielleicht so stark, daß sie davon beunruhigt wird —, realisiert sie sich als ihr eigener Körper n i c h t s e i e n d , und sie betrachtet ihn von ihrer Höhe herab wie einen passiven Gegenstand, dem Ereignisse z u s t o ß e n können, der sie aber weder hervorrufen noch vermeiden kann, weil alle seine Möglichkeiten außerhalb seiner selbst liegen.77 Was haben wir an diesem Beispiel sehen können? Daß zur Verhaltensweise der Unaufrichtigkeit ein Spielen mit widersprüchlichen Begriffen gehört. Man appelliert an einen widersprüchlichen Begriff, indem man bald die eine These, bald die Gegenthese als einzig wahr annimmt. Kehren wir zum Beispiel zurück. Zur Liebe gehört Verehrung, Bewunderung, Anbetung — aber es gehört auch die Begierde dazu, die Sexualität, also die Sinnlichkeit, die Hingabe. Klammert man sich an einen Aspekt, den ätherischen, den rein geistigen, so ist man unaufrichtig, insofern man zwar weiß, daß auch die Sinnlichkeit zur Liebe gehört, aber sich das verschweigt. Die Unaufrichtigkeit ist um so größer, je lebhafter die Begierde selbst schon erwacht ist. Man versucht, sie zu überspielen durch den Hinweis, das sei ja etwas bloß Körperliches. Die Möglichkeit der Selbsttäuschung, des Ausweichens gründet letzten Endes in dem Zusammenspiel von Faktizität und Transzendenz. Diese beiden Aspekte der menschlichen Realität sind fähig und müssen genaugenommen fähig sein, wirksam koordiniert zu werden. Aber die Unwahrhaftigkeit will sie weder koordinieren noch in einer Synthese überwinden. Ihr kommt es darauf an, die Identität beider zu bejahen und ihre Unterschiede aufrechtzuerhalten. Sie muß die Faktizität bejahen, als s e i s i e die Transzendenz, und die Transzendenz, als s e i s i e die Faktizität, so zwar, daß man sich in dem Augenblick, in dem man die eine erfaßt, plötzlich gegenüber der anderen befinden kann.78 Was besagt das? Faktizität und Transzendenz gehören gemeinsam zum menschlichen Dasein. Der Mensch ist, was er gerade ist, und zugleich kann er auch über das, was er ist, hinausgehen oder dahinter zurückfallen. Als Wesen der Möglichkeit ist er —wir sahen es schon — nicht ein für allemal in seinem Sein festgelegt. Er muß dieses Sein jeweils gewinnen und kann es durch das Verfehlen seiner Möglichkeiten auch jeweils verlieren. In der Haltung der Unaufrichtigkeit will man dieses Zusammenspielen von Faktizität und Transzendenz nicht wahrhaben. Es wird die Identität beider Momente behauptet, zugleich aber will man ihnen auch ihre Verschiedenheit bewahren. Weswegen? Weil dann immer ein Ausweichen möglich ist. Hat man
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etwas getan, dessen man sich schämt, dann kann man immer sagen: das bin nicht ich, das ist bloß ein faktisches Ereignis, ich bin aber mehr als ein bloß faktischer Zustand, ich bin in meinem Wesen Transzendenz, also Überstieg des jeweils bloß Faktischen zum Möglichen. Der Trost ist dann «ich bin nicht der, der ich bin». Zugleich wird aber damit gemeint, daß man seine Transzendenz ist im Sinne der Faktizität, denn sonst müßte man zugeben, daß sie eine bloße Möglichkeit ist und mir nicht in den Schoß fällt, sondern errungen werden muß. Ein anderes Schema, das das Entstehen der Unaufrichtigkeit erklären soll, liegt im Zusammenspiel des Für-sich-seins und des Fürden-Anderen-seins. Einfacher ausgedrückt, ich sehe mich auf eine bestimmte Weise an, der Andere kann mich auf eine ganz andere Weise ansehen und das besagt beurteilen. Immer ist es mir möglich, die beiden Blickrichtungen, meine und die des Anderen, auf irgendeine meiner Verhaltensweisen konvergieren zu lassen.79 Sobald das, was der Andere von mir hält, mir unangenehm ist, kann ich seinem Urteil mein Urteil gegenüberstellen und so tun, als j ob seines notwendig nur die Oberflache kennen und beurteilen könnte. Umgekehrt kann ich aber auch, wenn ich selbst mit mir unzufrieden bin, mich in das Urteil der Anderen flüchten, das mir vorteilhaft ist. Der mit sich selbst Unzufriedene sucht deswegen krampfhaft nach Widerhall bei den Anderen, bei der Öffentlichkeit. Schließlich kann auch die zeitliche Struktur unserer Existenz eine Möglichkeit für die Verwirklichung der Unaufnchtigkeit geben. Zu unserer Existenz gehören die drei Ekstasen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Der Unaufrichtige kann sich an ein Moment der Vergangenheit klammern, versuchen, dieses Moment krampfhaft festzuhalten und so tun, als ob es nicht ständig eine neue Gegenwart und Zukunft geben würde. Oder es kann umgekehrt die Vergangenheit gerade verleugnet werden, weil sie Ereignisse enthält, die mir und meinem Ansehen nicht vorteilhaft sind. In diesem Fall insistiere ich darauf, daß ich ein freies Wesen bin und in jedem Augenblick mich neu schaffen kann, daß es also unangebracht ist, mich auf einen bestimmten Zustand festzulegen. Was wir hier zunächst vom theoretischen Ansatz her zu klären versuchten, findet wiederum seinen Niederschlag im literarischen Schaffen. Das wird die folgende Analyse der Romantrilogie zeigen. Das darf allerdings nicht bedeuten, daß wir sie auf das Moment der Unaufrichtigkeit reduzieren wollen.
DIE WEGE DER FREIHEIT Der Titel von Sartres Roman-Trilogie zeigt an, worum es dem Verfasser geht: um die Möglichkeiten der Freiheit. Ist die Freiheit das Wesen des Menschen, dann muß das in all seinem Tun und Lassen
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sichtbar werden. Auch in demjenigen, in dem er sein Leben verspielt, penn er kann nur sein Leben verspielen, wenn er ein freies Wesen ist. Gerade dies Verspielen steht im Mittelpunkt des ersten Bandes. I. ZEIT
DER
REIFE
Die Freiheit wird von den Personen des Buches so mißverstanden, daß sie sie gerade im Hinauszögern der Entscheidung zu verwirklichen meinen. Die Möglichkeit des Aufschubs bestimmt ihre Existenz. Das führt notwendig zu einer ständigen Selbsttäuschung. Die Personen sammeln ihre Kraft darauf, ihre verfehlte Existenz zurechtzudeuten. Das hat wiederum zur Folge, daß der Schwerpunkt des Romans auf dem Räsonieren über die eigene Existenz liegt, besonders beim Haupthelden, Mathieu, aber auch bei seinem «Freund» Daniel und beim Studenten Boris, der Mathieu, seinen ehemaligen Philosophielehrer, bewundert. Die Personen erwecken den Eindruck, lauter Randexistenzen zu sein. Sie sind durch und durch von der Unaufrichtigkeit beherrscht. Der Beginn des eigentlichen Lebens soll aufgeschoben, hinausgeschoben werden. Mit dieser Unentschiedenheit verfällt die Freiheit zur bloßen Disponibilität. An Stelle des Frei-seins finden wir das Reden über die Freiheit, das Sichbegnügen mit dem Bewußtsein der Freiheit. So sagt Mathieu: Sie hat recht: leer und steril hin ich geworden, um nur noch Erwartung zu sein. Leer hin ich jetzt, das stimmt. Aber erwarten tu ich nichts mehr. So Und an einer anderen Stelle heißt es: Bei alldem aber war er einzig darauf bedacht gewesen, sich zur Verfügung zu halten. Für eine Tat. Für eine freie, überlegte Tat, die sein ganzes Leben binden und am Anbeginn einer neuen Existenz stehen sollte. . . Es kam ihm immer so vor, als wäre er anderswo, als wäre er noch nicht ganz geboren. Er wartete. Indessen waren heimlich, still und leise die Jahre gekommen und hatten ihn hinterrücks gepackt. 80 Hier ist auf das Moment der Wahl hingewiesen, daß unser Leben mit der entscheidenden Wahl, der ursprünglichen Wahl beginnt und von ihr getragen wird. (Vgl. S. 102 f) Wird aber diese Wahl hinausgeschoben, so gelingt es einem keineswegs, das Leben aufzuhalten, sich für das Leben aufzubewahren, sondern es verfließt als ungenutzte Möglichkeit. Die Zukunft wird ständig als Zukunft hinausgeschoben, und man wird ihrer so verlustig. Das Leben wird nichtig. Er senkte den Kopf: er dachte an sein eigenes Leben. Die Zukunft hatte ihn tief durchdrungen, alles Dringendes und lauter Aufschub. Die frühesten Kindheitstage, der Tag, an dem er gesagt hatte: ich werde frei sein, der Tag, an dem er gesagt hatte: ich werde groß sein, kamen ihm heute noch mit ihrer besonderen Zukunft wie ein hübscher, kleiner persönlicher Himmel vor, und diese Zukunft war er, er — so wie er jetzt war: müde und alternd, sie hatten Ansprüche an ihn, durch all die verflossene Zeit hindurch, bestanden auf ihren Forderungen, und er hatte oft arge
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Gewissensbisse, weil seine unverbindliche und blasierte Gegenwart die alte Zukunft jener vergangenen Tage war. Auf ihn hatten sie zwanzig Jahre gewartet; von ihm, diesem müde gewordenen Menschen, hatte ein strenges Kind die Verwirklichung seiner Hoffnungen verlangt. Von ihm hing es ab, ob diese kindlichen Schwüre immerfort kindlich blieben oder die ersten Anzeichen eines Schicksals würden. Seine Vergangenheit litt unaufhörlich unter den Retuschen der Gegenwart; jeder Tag betrog immer wieder diese alten Träume von Größe, und jeder Tag hatte eine neue Zukunft; von Warten zu Warten, von Zukunft zu Zukunft glitt Mathieus Leben gemächlich dahin ... Wohin? Ins Nichts.82 Da diese Existenz unbefriedigt läßt, sucht man ständig Ausflüchte. Eine Art von Ausflucht ist die Sehnsucht, etwas Unwiderrufliches zu tun. Alles, was ich tue, tu ich umsonst; als ob man mich um die Folgen meiner Taten bestähle; alles geht vorbei, als wenn ich meine Züge immer wieder zurücknehmen könnte. Ich weiß nicht, was ich alles für eine unwiderrufliche Tat geben würde.83 Bei Boris besteht die Ausflucht darin, daß er nicht alt werden will. Er fürchtet sich vor dem Alter, will sein Leben beenden, wenn er zu altern beginnt. Kennzeichnend ist wiederum, daß dieser Entschluß für später aufgeschoben wird — den Beginn des Alterns. Daß die Beziehung der Personen zueinander von der Dialektik des Blicks beherrscht wird, braucht nicht mehr analysiert zu werden. Nur ein Beispiel. Mathieu, der Ivich, Boris' Schwester, den Hof macht (er könnte ihr Vater sein), fürchtet sich davor, wie sie ihn beurteilt, wenn er nicht mehr anwesend ist, wenn er also nicht mehr auf sie wirken, sie beeinflussen kann. In einer Stunde wird sie frei sein, mich unwiderruflich beurteilen und ich werde mich nicht verteidigen können. Das Frei-sein von Ivich bedeutet jetzt, daß sie über Mathieu urteilen kann und er auf dieses Urteil keinen Einfluß hat. Es ist die typische Situation des zwischenmenschlichen Zusammenseins, das nach Sartre auf ein Beherrschen oder Beherrschtwerden hinausläuft. Die Grundsituation von Zeit der Reife ist das sich an die Freiheit Klammern, im Räsonieren und zugleich das sie Aufsparen-wollen, weil man nicht weiß, womit man dem Leben eine entscheidende Richtung geben kann. Aber das Aufsparen ist eine Illusion, die Freiheit wird nicht aufgespart, sondern verspielt. Wenn wir sagten, daß in Die Fliegen die Freiheit noch abstrakt dargestellt wird, da nur ein Moment der Freiheit gesehen ist, das Übernehmen der Verantwortung für die geschehene Tat — so ist in Zeit der Reife die Situation noch abstrakter, denn es kommt gar nicht zu einer entscheidenden Handlung, jede der Personen schiebt sie auf und befriedigt sich mit Ersatzhandlungen. Wenn die alternde Sängerin einen Selbstmordversuch macht, um Boris an sich zu fesseln, so will sie ja auch keine Entscheidung, keinen wirklichen Selbstmord, sondern nur so tun als ob — um Boris zu erschrecken. Dieses Hinausschieben der Entscheidung wird verdeutlicht an der Handlung des Romans — die
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eine negative ist: Nämlich der gescheiterte Versuch, eine bindende Entscheidung hinauszuschieben. Marcelle, die Freundin Mathieus, erwartet ein Kind und nun bemüht sich Mathieu, eine Abtreibung durchführen zu lassen. Eine Person muß gefunden werden, die sie ausführt — und dann Geld, um sie zu bezahlen. Denn wenn Marcelle das Kind bekäme, dann müßte sich Mathieu an sie binden, dann gäbe er einen Teil seiner Disponibilität auf. Alle Bemühungen um die Abtreibung sind schon deswegen sinnlos, weil Marcelle das Kind haben will. Zwar hatten die beiden verabredet, keine Kinder zu bekommen und sich nicht zu heiraten, aber das war eine unaufrichtige Verabredung. Daß Daniel Mathieu überhaupt erst klarmachen muß, Marcelle sei gegen die Abtreibung, ist ein Zeichen dafür, wie wenig Mathieu von ihrer Reaktion weiß, wie sehr er einfach in seinen eigenen Entwurf der Ungebundenheit eingesponnen ist. So kommt es dann dazu, daß Daniel, der Homosexuelle, der einen Abscheu vor Frauen hat, Marcelle heiratet, nur um Mathieu auf diese Weise auszuspielen. Wenn Mathieu gegen Ende sagt: Niemand hat meine Freiheit behindert, mein Leben hat sie ausgetrunken 84 — leuchtet etwas von der Einsicht auf, daß die Freiheit nicht aufgespart werden kann. Die als Ungebundenheit mißverstandene Freiheit ist ein Zeichen der Unreife. (Die meisten Personen dieses Romans sind unreif.) Mit der Einsicht in das Verfehlte dieser ungebundenen Existenz beginnt die Zeit der Reife für Mathieu.
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II. D ER A UFSCHUB Hier fällt zunächst die Romantechnik auf, bei der wir den Einfluß Faulkners spüren.* Um die Gleichzeitigkeit von Ereignissen zu verwirklichen, um zu zeigen, daß es eine Art Einheit gibt, die die verschiedenen Individuen — ja Völker umgreift, springt Sartre oft mitten in einem Satz, der von einer Person gesagt wird, zu dem Satz einer ganz anderen Person. Das können historisch bedeutsame Personen sein, wie die Teilnehmer am Münchner Abkommen, oder unbedeutende Individuen, wie die einer tschechischen Familie in einem Sudetendorf oder einer französischen Familie. Was will Sartre in diesem Band zeigen? Es gibt natürlich auch die alten Themen, daß eine Person sich als feige entdeckt (Pierre — auf dem Schiff), als unseriös (Maud, von der Damenkapelle), und dergleichen mehr. Aber das Neue in diesem Band ist zweifellos, daß plötzlich die verschiedensten Menschen einer und derselben Situation ausgesetzt sind — nämlich der drohenden Kriegsgefahr. Wie sie durch eine äußere Situation plötzlich einander angepaßt werden, wie die Gedanken, überhaupt die Reaktionen sich angleichen. Natürlich gibt es Unterschiede — ein rechtsgerichteter gutbürgerlicher Franzose wird die Tendenz haben, Hitler zu verteidigen, seine Ansprüche als gerechtfertigt anzusehen, ein Arbeiter wird gegen den Faschismus wettern, aber in diesen Unterschieden gibt es doch große Gruppen, die Gemeinsamkeiten haben. Am liebsten möchte man der Sache aus dem Wege gehen, und sollte man darüber auch seine Verbündeten aufgeben müssen. Diese Haltung des einfachen Mannes ist zugleich die Haltung der führenden Politiker. Der ganze zweite Band behandelt bloß eine Woche, die Woche, die dem Münchner Abkommen vorausging, bis zum Abschluß dieses Abkommens. Sartre versucht nicht große Theorien darzustellen, sondern eine möglichst sachliche Darstellung der Reaktionen zu geben. Man ist immer wieder geneigt zu sagen: so ist es, so war es, so muß es gewesen sein. Die Sorgen und «Probleme» der Personen aus dem ersten Band werden lächerlich angesichts der Kriegsdrohung. Können wir also sagen, der zweite Band hebe den ersten auf? Nein! Wir verlassen die Sphäre der unverbindlichen Randexistenzen — was wir aber nun zu Gesicht bekommen ist eine Universalisierung der Haltung des Aufschubs, den Aufschub als Kennzeichen für eine bestimmte historische Epoche und den Wendepunkt dieser Epoche. Im Mittelpunkt steht die Frage: Gibt es Krieg? Soll ein Krieg riskiert werden, um die Verbündeten zu schützen? Sartre zeigt sehr deutlich, wie Hitler durch seine Taktik den Anschein erweckt, nur gerechtfertigte Forderungen zu stellen — so daß dann manche Franzosen sich sagen: Sollen wir in den Krieg gehen, weil die Sudetendeutschen weiße Strümpfe tragen wollen? Hier erfahren wir die Unaufrichtigkeit im großen. Man will sich nicht den Ernst der Lage * Vgl. Situationen, S. 154 f
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klarmachen, man will nicht selbst die Fragen durchdenken und die Folgen auf sich nehmen, es fehlen einem auch die Unterlagen, man ist ja froh, daß man irgendeine Meinung findet, der man sich anschließen kann — das ist die Meinung: Frieden um jeden Preis. Die Diplomaten der Westmächte, die das Münchner Abkommen annahmen, haben den Vertretern der Tschechoslowakei gegenüber ein schlechtes Gewissen, diese haben gar keine Möglichkeit, sich dazu zu äußern, sie werden einfach gezwungen, es anzunehmen oder allein zu bleiben. Das Buch schließt mit der Landung des Flugzeuges von Daladier in Frankreich — er nimmt an, daß die Volksmenge gekommen ist, um ihn zu lynchen — aber sie jubeln ihm zu. Er drehte sich zu Leger um und murmelte: «Diese Idioten!» 85 Die Flucht vor der Verantwortung, die im ersten Band bei den einzelnen Personen das beständige Element war, wird also hier in der welthistorischen Perspektive gezeigt. Der zweite Band stellt eine «Situation» dar — eine entscheidende Situation unserer Generation. Situationen sind aber nicht Schicksalsentscheidungen, die der Einzelne über sich eigehen lassen muß, sondern Situationen sind von den Menschen mitbewirkt, sind ihre Leistungen.* Es gehört zur Unaufrichtigkeit, zu meinen, daß Situationen über uns hereinbrechen und wir nichts dazu tun können. Wären die Franzosen kritischer gewesen, hätten sie Hitler früher durchschaut, hätten sie früher die Konsequenzen gezogen, auch unliebsame Maßnahmen getroffen, dann hätte Hitler voraussichtlich gar nicht den Mut gehabt, so rücksichtslos ein Land nach dem anderen zu besetzen. Aber wenn man sich von seiner Pro- j paganda täuschen läßt, wenn man sich täuschen lassen will, um nicht Opfer auf sich zu nehmen, wenn man die Berichte der Emigranten nicht hören will und was dergleichen mehr, dann kommt man in die Situation, die einem zum Verderben wird. Die Initiative für alles übernimmt immer Hitler, die Franzosen reagieren bestenfalls. So eine bloße Reaktion ist auch die Mobilmachung. Niemand zieht mit Begeisterung zu seinem Standort; Mißmut, Verzweiflung herrschen vor. Immer wieder die Frage: Warum soll man sich für die Sudeten schlagen, da man nicht einmal weiß, wo das Land liegt, um das es geht. In den Kasernen selbst herrscht Unordnung, es sind gar nicht genügend Uniformen da, um die Soldaten einzukleiden. Gomez, Sarahs Mann, der spanische Maler, der im Bürgerkrieg kämpft und inzwischen General geworden ist, fährt zu einem kurzen Urlaub nach Marseille. Er ist froh, daß die Franzosen plötzlich die Gefahr sehen müssen. Beim Kampf der Republikaner wollten sie sich nicht einmischen — es geht in Spanien dem Ende zu, nur ein großer allgemeiner Krieg kann die Situation noch wenden.
* Vgl. «Freiheit und Verantwortung», S. 128 f
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III. D ER P FAHL
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Das Verderben ist nicht aufzuhalten; der Fortgang der Ereignisse ist im dritten Band dargestellt, der den französischen Zusammenbruch schildert — den Fall von Paris, die Kapitulation, das Leben in einem Gefangenenlager, bis zu dem Augenblick, da die Gefangenen nach Deutschland gebracht werden. Wir wollen kurz drei Situationen fassen, die für den Roman tragend sind. Der Fall von Paris. Wir wohnen ihm nicht unmittelbar bei, sondern erfahren ihn über die Wirkung, die er in New York auslöst. Gomez, der nach dem Zusammenbruch der republikanischen Front in Spanien nach den Vereinigten Staaten geflüchtet ist, ist enttäuscht darüber, daß die Amerikaner nicht verstehen können und wollen, was der französische Zusammenbruch bedeutet. Natürlich paßt er nicht in ihre Mentalität des keep smiling, «not to grin is a sin». So wie die Franzosen vorher nicht verstanden haben, was in Spanien vorging und sich unter allen Umständen heraushalten wollten, verstehen die Amerikaner nicht, was der Fall von Paris bedeutet. Gomez gönnt einerseits den Franzosen die Niederlage, weil sie die Spanier im Stich gelassen haben, und ist zugleich darüber entsetzt. Bei der Truppe. Bei den Soldaten herrscht Unsicherheit. Sie wissen nicht, was geschieht, leben in den Tag hinein. Bei Mathieus Einheit fährt eines Abends der Stab einfach weg und läßt die Truppe im Stich. Einige Soldaten haben einen Weinkeller entdeckt und betrinken sich sinnlos. Ein kleiner Haufen einer Fronteinheit will das Dorf noch verteidigen. Einer aus Mathieus Gruppe schließt sich an. Mathieu will ihm die Sinnlosigkeit des Unternehmens klarmachen — dann ergreift er aber doch ein Gewehr und geht mit ihm mit. Sie werden auf den Kirchturm postiert. Die anderen sind zunächst mißtrauisch — aber mit dem Auftauchen der gemeinsamen Bedrohung und der Angst entsteht plötzlich das Vertrauen. Einer nach dem anderen fällt. Mathieu will aushalten — fünfzehn Minuten aushalten. In seiner letzten Tat zeigt er, daß er nicht feige ist; er ist beinahe ohne es zu wollen in die Situation hineingeschlittert, aber nun übernimmt er sie, und durch sie die unwiderrufliche Tat, über die zu Beginn immer gesprochen wurde. Mathieu betrachtete seinen Toten und lachte, jahrelang hatte er vergeblich zu handeln versucht: man stahl ihm regelrecht seine Handlungen; er zahlte überhaupt nicht. Aber diesen Schuß hatte man ihm nicht gestohlen. Er hatte auf den Abzug gedrückt, und mit einemmal war etwas geschehen. Etwas Endgültiges.. ß6 Jetzt am Schluß seines Lebens tut er wirklich etwas — er tötet. «Mein Gott», sagte er, «es soll nicht heißen, wir hätten keine fünfzehn Minuten ausgehalten.» Er trat an die Brüstung und begann stehend zu schießen. Eine gewaltige Rache war's; jeder Schuß rächte ihn für einen alten Zweifel. Ein Schuß auf Lola, die zu bestehlen ich nicht gewagt hatte, ein Schuß auf Marcelle, die ich sitzenlassen mußte, ein Schuß auf Odette,
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mit der ich nicht schlafen wollte. Der Schuß auf die Bücher, die ich nicht zu schreiben wagte, der auf die Reisen, die ich mir nicht gegönnt hatte, der auf alle, die ich gerne verachtet hätte und doch zu verstehen suchte. Er schoß auf den Menschen, auf die Tugend, auf die Welt: die Freiheit — das ist der Terror... er schoß, er sah auf die Uhr: vierzehn Minuten, dreißig Sekunden; er hatte nichts mehr zu fordern, nur einen Aufschuh von einer halben Minute, gerade so viel Zeit, um auf den schönen, stolzen Offizier zu schießen, der auf die Kirche zulief; er schoß auf den schönen Offizier, auf alle Schönheit der Erde, auf die Straße, auf die Blumen, auf die Gärten, auf alles, was er geliebt hatte. Die Schönheit machte einen obszönen Kopfsprung, und Mathieu schoß immer noch. Er schoß: er war rein, er war allmächtig, er war frei, fünfzehn Minuten. 87 Niemand kann von dieser Tat künden, sie sind alle tot. Sie hat etwas Sinnloses an sich und soll doch Krönung eines vergeblichen Lebens sein. Sie ist im Grunde genommen absurd. Lohnten sich so viele Tote, um den deutschen Vormarsch fünfzehn Minuten aufzuhalten, als Paris schon gefallen war und die Front in Auflösung begriffen, der Waffenstillstand kurz vor der Ausführung steht? Wie erfüllt sich Mathieus Disponibilität? Im Vernichten. Er will sich von seinen Hemmungen befreien, von früheren Skrupeln, Prinzipien, Bindungen. Zugleich ist es der Machtrausch eines Menschen, der sein ganzes Leben lang unter seiner Ohnmächtigkeit litt. In dieser besinnungslosen Schießerei fühlt er sich frei. Er übernimmt den sinnlosen Auftrag, fünfzehn Minuten auszuhalten, daran bindet er sich, er erfüllt sein Leben, indem er es der Vernichtung preisgibt. Diese letzte Szene hat allerdings etwas von einem Wunschtraum — gerade auch das Räsonieren in diesem Rausch des Tötens ist unwahrscheinlich. Als dritte Situation, die typisch ist für die Zeit: das Gefangenenlager. Hier tritt die Gestalt des Kommunisten Brunet in den Vordergrund. Er läßt sich nicht unterkriegen. Während die anderen der Ungewißheit ausgeliefert sind, den ständig sich ablösenden Gerüchten, sucht er nach möglichen Kampfgefährten. Er verachtet im Grunde genommen die Mitgefangenen, weil sie so weich sind, sich vom Moment treiben zu lassen, statt einem unwandelbaren Ziel zu dienen. Jedesmal, wenn die Gefangenen einen Rückschlag erleben, freut es ihn. Der größte Rückschlag ist, daß sie nicht in Frankreich demobilisiert werden, sondern nach Deutschland in ein Gefangenenlager kommen. Sagten wir, daß im ersten Band Randexistenzen im Mittelpunkt stehen, so sind es im dritten Band Durchschnittsexistenzen, auf denen das Schwergewicht liegt. Boris, Lola, Ivich, Gomez, seine Frau Sarah, treten auch auf, aber im Mittelpunkt steht der anonyme Durchschnittsmensch. Er ist durch die Ereignisse nicht verändert, hofft, macht sich etwas vor, um auszuhalten, ist genügsam, lebt dem Augenblick — es ist der gleiche Mensch, dessen alltägliches Leben unbedeutend dahinfließt, der gar nicht weiß, was Freiheit be-
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deutet, sich einfach treiben läßt. Und dazu als Gegenspieler der Kommunist Brunet, den so etwas wie Freiheit nur interessiert, sofern er sie in den Dienst seiner Partei stellen kann. Es scheint Sartre darauf anzukommen, durch das Vorführen der Durchschnittsexistenz in ihrer Verantwortungslosigkeit, in ihrem Versagen bei entscheidenden Situationen zur Selbstbesinnung, zur Erfüllung der Freiheit aufzurufen. Es ist sinnlos, zu meinen, durch den Aufschub der Aufnahme von Bin dungen könnte man seine Freiheit erhalten; das führ t dazu, daß unser Leben ver rinnt und wir dann fest stellen, daß es zu spät ist . Dieses Sich-heraus-haltenWollen finden wir im John Dos Passos zweiten Band als Haltung eines ganzen Volkes. Der Original-Titel des dritten Bandes La Mort dans l'äme bedeutet tiefe Bekümmernis, Niedergeschlagenheit. An einer Stelle wird das sehr deutlich: Sie s e h e n uns. Immer dichter wurde die Menge, sie sah sie diese historische Pille schlucken, sie wurde alt, wich langsam zurück und flüsterte: «Die Besiegten von 40, die geschlagenen Soldaten, ihretwegen liegen wir in Ketten.» Sie blieben da, unwandelbar unter diesen wandelbaren Blicken, gesichtet, anvisiert, vernommen, angeklagt, entschuldigt, verurteilt, eingekerkert in diesen unauslöschlichen Tag... in alle Ewigkeit schuldig in den Augen ihrer Söhne, ihrer Enkel und Urenkel, die Besiegten von 40 immerdar. Er gähnte, die Millionen Menschen sahen ihn gähnen: «Er gähnt — sauber, sauber, ein Besiegter von 40 hat die Frechheit zu gähnen!» ... Er musterte seine Kameraden, sein vergänglicher Blick begegnete bei ihnen dem ewigen Medusen-Blick der Geschichte: zum erstenmal war ihnen etwas Großes widerfahren: sie w a r e n die sagenhaften Soldaten eines verlorenen Krieges. Zu Bildern versteinert! Mein Gott, ich hob gelesen, hab gegähnt, ich schüttelte das Schellengeläut meiner Probleme, ich entschloß mich nicht zu einer Wahl, offen gestanden hatte ich schon gewählt: diesen Krieg hatte ich gewählt, die-
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se Niederlage, insgeheim hatte ich auf diesen Tag gewartet. Alles muß noch einmal getan werden, nichts ist mehr zu tun: diese beiden Gedanken durchdrangen einander und hoben sich gegenseitig auf; übrig blieb die ruhige Oberfläche des NICHTS.98 Der Roman ist ungleich. Manche Einzelszenen sind sehr nüchtern und treffend gefaßt, ganz in der Art, die Sartre an Dos Passos lobte. Dann wieder verliert sich die Erzählung im Räsonieren, im Ausschweifen. Zwar will Sartre die alte Erzählweise des allwissenden Schriftstellers überwinden, aber er verfällt dann doch wieder in sie. Es bleibt in der Trilogie so viel in der Luft, daß angenommen werden kann, Sartre wollte ursprünglich den Roman fortsetzen. Er wandte sich dann aber dem Drama zu. Camus hat unserer Ansicht nach Bedeutenderes auf dem Gebiet des existentialistischen Romans geleistet. Welche Situation bildet den Ausgangspunkt des ersten Nachkriegsdramas? Wie wird in ihr die Freiheitsproblematik sichtbar gemacht?
DIE FREIHEIT IN DER UNFREIHEIT: TOTE OHNE BEGRÄBNIS Die Hölle, das ist das Gesehen-werden durch die Anderen, die zur Hölle Verdammten haben ihr Leben abgeschlossen, können nichts mehr daran ändern, können sich aber zugleich auch nicht vor dem Vergangenen verschließen, sie müssen die Augen immer geöffnet halten und zugleich müssen sie das Urteil der Anderen über das gelebte Leben über sich ergehen lassen. In der Höllen-Situation wird das Leben zur Qual, weil es als unabänderliches Geschehnis in alle Ewigkeit festgehalten ist. Die Situation, in die uns das Drama Bei geschlossenen Türen stellt, ist die des Rückblicks. Auch der Kampf der Personen geht um die Deutung dieses Rückblicks, um die Entschuldigung, die man bei den Anderen für das Getane finden will. Wir sagten, es sei der Prozeß der Auflösung der Selbsttäuschung, eben weil die Mitmenschen sich mit unseren Scheinerklärungen nicht zufrieden geben wollen. In Die Fliegen ist die Freiheit noch eine abstrakte Freiheit, nur erfahren im Übergang vom unbeschwerten über den Dingen Schweben zum Akt, der eine Bindung schaffen soll, wobei diese Bindung jedoch mißlingt; Orest zieht allein aus Argos ab — die Einsamkeit scheint sein Los zu bleiben. Es ist bloß die Rede von einem Akt und dem Treubleiben, sich mit diesem Akt Identifizieren. In Tote ohne Begräbnis wird eine ganz andere Situation heraufbeschworen. Das Erwachen der Freiheit, das sich Rechenschaft geben über die Unwiderruflichkeit des Lebens und die Auseinandersetzung mit den Mitmenschen als Gesehen-werden, das sind allgemeine Situationen, sie gehen jeden von uns an. Diesen allgemeinen Situationen kann man A u s n a h m e s i t u a t i o n e n gegenüberstellen, die nur die wenigsten von uns erleben werden. Das Drama Tote ohne
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Bei einer Probe zu «Morts sans sepulture» («Tote ohne Begräbnis»)
Begräbnis ist die Darstellung einer Ausnahmesituation, in der Jasperschen Terminologie, einer Grenzsituation. Wenn wir von vornherein zugeben, daß das der Fall ist, dann stellt sich sofort die Frage: Was für einen Sinn hat die Darstellung solch einer Grenzsituation? Kann in ihr etwas sichtbar werden, was uns alle angeht oder ist diese Grenzsituation an eine bestimmte historische Zeit gebunden, in der der Mensch in eine Grenzsituation geworfen ist, z. B. die Zeit des Krieges, bei der Töten und Getötetwerden zur alltäglichen Situation werden, was ihre Furchtbarkeit nicht mildert, selbst wenn man dagegen abstumpft? Wenn das Stück Tote ohne Begräbnis meines Wissens nach nicht so viele Aufführungen erlebt hat wie andere Dramen Sartres, so liegt das nicht an der Zeitgebundenheit — denn leider Gottes hat sich die dargestellte Situation seither in den verschiedensten Ländern wiederholt —, sondern weil das Gespielte bis an die Grenze des Erträglichen 81
geht, den Zuschauer zu sehr strapaziert, und das will er ja nicht haben. Das Stück soll ihm die Freiheit lassen, zu sagen, es sei ja nur ein Schauspiel. Das geht bei diesem Stück nicht. Wenn es gut gespielt wird, zerrt es uns so in die Qual, die dargestellt wird, daß wir uns daraus nicht lösen können. Es sei versucht, die Situation des Stückes zu kennzeichnen, um dann anschließend die Frage zu stellen, was der Schriftsteller hier sichtbar machen wollte, und das ist ja zugleich die Frage, was uns aus diesem Stück anspricht, uns, die wir solch eine Situation nicht erlebt haben, zumindest nicht aus solch einer Nähe. Der Zeitpunkt, in dem das Stück spielt, ist — im Unterschied zu den beiden anderen Dramen — genau feststellbar. Es ist der Moment der Landung der alliierten Truppen in Südfrankreich. Eine Gruppe französischer Widerstandskämpfer hat den Auftrag bekommen, ein Dorf zu besetzen und zu halten. Der Auftrag ist fehlgeschlagen, das ganze Dorf wurde niedergebrannt, die Einwohner, ungefähr 300 Personen, kamen alle ums Leben, Männer, Frauen, Kinder, ein Teil der Widerstandsgruppe fiel auch, der Rest, drei Männer (Sorbier, Canoris, Henry), eine Frau (Lucie) und ein fünfzehnjähriger Junge (Francois) sind in der Hand der französischen Miliz — sie werden auf dem Speicher einer Schule gefangengehalten, gefesselt, und waiten darauf, verhört zu werden. Das ist die Situation, in der das Drama einsetzt. Die Gefangenen machen sich keine Illusionen über das zu erwartende Verhör. Sie wissen, daß sie mit einer Tortur zu rechnen haben. Die Miliz Petains trieb es nicht besser als die Gestapo und war auch von den Franzosen noch mehr gehaßt, weil das ja ihre Landsleute waren. Zu diesem Zeitpunkt, als der Ausgang des Krieges keinen Zweifel mehr bilden konnte, steigerte sich die Grausamkeit der Miliz anhänger, die ihr baldiges Ende kommen sahen und nun erst recht brutal wurden, und auch der Haß der Widerstandskämpfer und überhaupt der Franzosen gegen die Miliz. Die Deutschen selbst tauchen im Stück nicht auf. Es ist Sartre nicht darum zu tun, den Haß zwischen den Völkern anzustacheln, er will auch nicht die Zwiespältigkeit der Situation dadurch beseitigen, daß auf einer Seite die bösen Besatzungsmächte, auf der anderen die guten Franzosen stehen, sondern die Franzosen sind sowohl Widerstandskämpfer als auch Kollaborateure. Die Gefangenen sprechen über den mißglückten Handstreich, sie sind in Gedanken noch bei den furchtbaren Ereignissen, daß ihretwegen das ganze Dorf vernichtet wurde, die Einwohner unter furchtbaren Umständen ums Leben kamen. Sorbier: Ich denke an das schreiende kleine Mädchen. Lucie (erwacht plötzlich aus ihren Träumen): Was für ein kleines Mädchen? Sorbier: Die Kleine aus dem Bauernhof. Ich hörte sie schreien, während sie uns abführten. Die Treppen brannten schon. Lucie: Mußt du uns daran erinnern?
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Sorbier: Viele sind umgekommen. Kinder und Frauen. Aber ich habe ihr Sterben nicht gehört... Die Schreie der Kleinen höre ich noch immer.. . Lude: Sie war erst dreizehn jähre; wir sind schuld, daß sie tot ist. Sorbier: Alle sind durch unsere Schuld gestorben?? Und später: Sorbier: Es hätte gelingen müssen. Francois: Es konnte nicht gelingen. Sorbier: Ich weiß es. . . und doch hätte es gelingen müssen. (Pause.) Dreihundert — dreihundert, die nicht sterben wollten und die verreckt sind für nichts und wieder nichts. Sie Hegen zwischen den Steinen, und die Sonne färbt ihre Haut schwarz. Man hat sie von allen Fenstern aus gesehen — und wir sind schuld. Wir sind schuld, daß es in Vercors Miliz gibt. Es wird nicht leicht zu krepieren sein mit diesem Todesgeschrei in den Ohren 9°
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Gleich zu Beginn ist das Furchtbare der Situation so sichtbar, nämlich daß das mißglückte Unternehmen 300 Menschen das Leben gekostet hat, die ganz unvorbereitet in die Ereignisse gezogen wurden, die selbst gar nichts entschieden. Ihr Tod überfiel sie, sie waren unschuldig, sie hatten vom ganzen Unternehmen gar nichts gewußt. Das Unternehmen war sinnlos und die mit ihm Betrauten hatten der Leitung die Sinnlosigkeit von vornherein mitgeteilt. Es war klar, daß innerhalb von 24 Stunden die deutschen Truppen das Dorf erobern würden, aber sie haben den Befehl erhalten und ihn ausgeführt. Nun tragen sie an dem Tode dieser Menschen. Das Furchtbare ist zunächst gar nicht ihr eigenes Schicksal, ihre eigene Zukunft, sondern was sie den anderen Menschen zugefügt haben, ohne daß das Ganze sinnvoll oder nötig gewesen wäre. Damit sind wir gleich in der Ausnahmesituation des Krieges, wo solch sinnlose Operationen etwas Alltägliches sind. Eine Hohe muß gehalten werden, man weiß genau, daß der Feind sie nach zwölf Stunden eingenommen haben wird, aber der Befehl lautet eben, daß sie gehalten werden muß. Hier ist die Lage insofern furchtbarer, weil die friedliche Bevölkerung gar nicht an den Ereignissen beteiligt war. Gewiß können die Widerstandskämpfer sich sagen, der Befehl sei nicht von ihnen gekommen. Aber sie hätten eben doch versuchen müssen, das Unternehmen gelingen zu lassen. Francois, selbst noch ein Kind, kann die Verantwortung für so eine Handlung nicht tragen. Er ist der Situation nicht gewachsen. Er hat Angst vor dem Tod und möchte heraus und weiß doch, daß das nicht geht. Ich will aber nicht denken 91 — das ist das Bekenntnis, daß es für ihn zu viel ist. Lucie, seine Schwester, klammert sich an die Erinnerung ihres Verlobten, er ist frei, er wird leben, er wird an sie denken. Das ist ihr Trost. Die Anderen haben diesen Trost nicht. Henry ist allein, Canoris' Frau lebt in Griechenland, er ist schon längere Zeit von ihr getrennt, sie ist ihm fern. Sorbier denkt an seine Eltern, aber es ist ihm kein eigentlicher Trost. Sorbier: Ich liebe meine Eltern. Sie glauben, daß ich in England bin. Wahrscheinlich setzen sie sich jetzt zu Tisch. Wenn ich mir wenigstens einbilden könnte, daß sie plötzlich ein schweres Herz bekämen, eine Vorahnung oder etwas Ähnliches. — Aber ich bin überzeugt, daß sie vollkommen ruhig sind. Sie werden Jahre auf mich warten; immer ruhiger und ruhiger, und ich werde in ihren Herzen sterben, ohne daß sie es merken. Mein Vater spricht sicher vom Garten, das tut er immer beim Abendessen. Und nachher wird er seinen Kohl begießen. (Er seufzt.) Arme Eltern. Es hilft nichts. Wozu an sie denken?92 In dieser Erinnerung, die trostlos ist, weil die Eltern gar nicht wissen, was ihm zugestoßen ist, gar nicht an ihn in seiner Situation denken können, wird zugleich auch der Kontrast zwischen dem gemüt84
Saint-Germain-des-Prés. Die älteste Abteikirche von Paris liegt mitten im «Existentialisten-Viertel. Unweit davon befindet sich Sartres Stammlokal «Cafe Flore».
liehen, friedlichen Alltagsleben und der Ausnahmesituation deutlich. Dort die kleinen Sorgen, das Pflegen des Gartens, das Begießen der Pflanzen, und hier der Tod eines ganzen Dorfes und der eigene Tod. Zugleich ist angedeutet, wie im langsamen Vergessen der Angehörigen der eigene Tod vollzogen wird. Die Wartenden — außer Lucie — sind mit sich allein. In diesem Alleinsein bewegt sie die Frage, was noch kommen wird. Sie wissen, daß ihnen eine schwere Bewährung bevorsteht: das Verhör und die Folter. 85
Das ist die brennende Frage: Wie werde ich mich verhalten, wenn mein Körper der Tortur ausgesetzt ist? Ich kenne mich ja nicht in einer solchen Situation, ich weiß nicht, wie weit meine Widerstandskraft reicht, wie lange meine Nerven durchhalten. Ich bin mir selbst unbekannt. Denn alles, was ich mir vorstelle, ist bloß eine Vorstellung. Ein vorgestellter Schmerz ist kein wirklicher Schmerz.* Und dann: wenn ich nachgegeben habe, wenn ich gestanden habe. Wie kann ich mich noch ertragen? Und schließlich: der Tod. Der absurde Tod. Wenn man eine Schuld an seinem Tod hätte, wenn man die Schuld sähe, dann könnte man den Tod rechtfertigen. Aber der ungerechtfertigte Tod ist furchtbar. * Vgl. Sartres Erzählung Die Mauer: Der Körper macht sich selbständig, man ist nicht mehr Herr seiner selbst, angesichts der Gewißheit des Todes. Aber nicht nur der Körper, überhaupt das Bewußtsein, Erinnerungen tauchen auf und verschwinden. Man ist sich selbst entfremdet. Mit Jean Cau (Mitte) und Jean Genet (rechts) in der Bar
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«Pont-Royal»
Henry ruft aus: Herrgott, ein Mensch kann doch nicht wie eine Ratte krepieren. Für nichts und ohne «Muh» zu machen! 93 Diese Auseinandersetzung mit sich selbst, die letzte Abrechnung mit seinem Leben wird unterbrochen durch das beginnende Verhör. Das Verhalten beim Verhör erhält deswegen eine einzigartige Bedeutung, weil das die letzte Tat ist, die die Widerstandskämpfer leisten können. Ihr Leben ist zu Ende, aber wie sie dieses Ende ausstehen, das gewinnt nun unermeßlich an Gewicht. Wenn es sonst irgendeine Handlung wäre, dann könnten sie sich sagen: was wir gefehlt haben, das können wir ein anderes Mal besser machen. Das geht nun nicht mehr. Das müssen wir uns deutlich machen, um zu verstehen, weshalb den Gefangenen so viel daran liegt, nicht nachzugeben. Sie haben zunächst gar nichts zu verheimlichen. Das ist das Paradoxe, sie müssen so tun, als ob sie ihr Geheimnis nicht preisgeben wollten, aber sie haben gar kein Geheimnis. Die Auseinandersetzung mit den Henkern wird zu ihrer letzten Tat. Und da kommt nun das Moment des Kampfes in den Vordergrund. Die Peiniger wollen sich selbst beweisen, daß die Menschen überhaupt nichts wert sind, daß es bloß darauf ankommt, sie richtig in die Zange zu nehmen, um sie klein zu kriegen. Der Miliz-Mann Landrieu: Ich sag dir, sie werden reden. Sie sind Tiere, man muß nur wissen, wie man sie anfaßte Von vornherein sind die Menschen für die Peiniger Feiglinge. Das ist notwendig, denn wenn sie nicht dieser Ansicht wären, dann würden sie gar nicht zu foltern versuchen. Daß sie selbst auch Feiglinge sind, weil sie sonst die Möglichkeit des Widerstandes anerkennen müßten, kommt dazu. Auf die verschiedenen Folterszenen brauchen wir nicht einzugehen. Wichtig ist die Auseinandersetzung der Gefangenen mit ihren Peinigern. Henry: Siegen! Zwei Gegner stehen sich gegenüber — der eine will den anderen zum Reden zwingen. (Er lacht.) Blöd ist das. Aber was bleibt uns übrig? Wenn wir reden, ist alles verloren. Sie haben einige Punkte voraus, weil ich schreien mußte, aber im großen ganzen Hegen wir nicht schlecht im Rennen! 95 Eine Wandlung tritt ein, als der Chef der Widerstandsgruppe, durch Zufall aufgegriffen, von den Miliz-Soldaten nicht erkannt, auch auf den Speicher gesperrt wird. Nun gibt es bei dem Verhör wirklich etwas zu verschweigen. Zugleich wird deutlich, daß der Junge, Francois, beim Verhör nicht durchhalten wird. Als Sorbier zum zweitenmal zum Verhör gebracht werden soll, verübt er Selbstmord, weil er weiß, daß er nicht mehr Widerstand leisten kann. In der Gruppe vollzieht sich nun eine Umdisposition. Jean, der Chef, wird von der Gemeinschaft der Anderen ausgeschlossen. Obwohl Lucie ihn liebte und ihre Hoffnung auf ihn setzte und die Anderen ihn vorher als ihren Anführer anerkannten, gehört er plötzlich nicht mehr zu ihnen. Wie hat sich diese Änderung vollzogen? Ist sie eine Willkür des Schriftstellers, was besagt sie? Zu einer Gemeinschaft gehört das Ertragen derselben Lebensbedingungen, derselben Interessen, derselben Sorgen, ganz besonders, 87
Simone de Beauvoir
wenn es sich um eine Kampfgemeinschaft handelt. Wenn plötzlich einer in dieser Gemeinschaft eine Sonderstellung einnimmt, wie hier Jean — der nicht gefesselt ist, der nicht mit dem Tod zu rechnen hat, denn sie haben ihn nicht identifiziert und er hofft, sich aus der Schlinge zu ziehen, der vor allem nicht der Tortur ausgesetzt ist —, so fällt er dadurch aus der Gemeinschaft heraus. Kurze Zeit danach wird Jean freigelassen. Er hat ihnen ein Versteck mitgeteilt, das sie als Aufenthaltsort des Chefs angeben sollen — vier Stunden, nachdem er weg ist; er wird dem Leichnam, der in der Grotte liegt, seine Papiere geben. Aber es gibt noch eine heftige Diskussion unter den drei Gefangenen. Canons will die List anwenden, die anderen beiden wollen es nicht. Sie haben zu viel mitgemacht — auch der Mord an Francois, damit er nicht gestehen soll, lastet so auf ihnen, daß sie sich 88
nicht mehr vorstellen können weiterzuleben, zudem wollen sie den Peinigern nicht den Triumph gönnen, daß sie sie untergekriegt haben. Canoris teilt das angebliche Versteck mit — der Anführer der Miliz hat sein Versprechen gegeben, daß sie frei werden, wenn die Angabe stimmt. Ein anderer Miliz-Offizier läßt sie aber trotzdem gleich hinrichten. Fragen wir nach der Sinnhaftigkeit dieses Dramas, wobei natürlich die Sinnlosigkeit auch eine Antwort sein kann. Was wollte Sartre hier darstellen? Gerade die Auseinandersetzung zwischen Jean und der übrigen Gruppe führte uns auf ein entscheidendes Moment: Die Verschiedenartigkeit des menschlichen Seins, je nachdem, ob es eine Grenzsituation durchmachen mußte oder nicht. Die Gemeinschaft, die aus der gemeinsamen Situation erwächst. Was die Menschen zusammenschließt und zugleich verschiedene sich voneinander absondern läßt, das ist die Verschiedenartigkeit der Situationen, denen sie ausgesetzt sind. Es ist z. B. schwer, ja ausgeschlossen, für einen, der im Wohlstand lebt, sich vorzustellen, was es bedeutet, wenn man dem Elend und der Not preisgegeben ist. Wir müssen allerdings nuancieren. In einer und derselben Situation können die Menschen verschieden reagieren. So war hier in der Widerstandsgruppe Francois seiner Situation keineswegs gewachsen. Er gab zu verstehen, daß er Jean preisgeben würde. Als er sich der Widerstandsgruppe anschloß, hatte er sich die extreme Situation, in die ihn das bringen könnte, nicht vergegenwärtigt. Wir sahen, daß solch eine Vergegenwärtigung schwer ist. Erst in der Erprobung wissen wir, ob wir feige oder tapfer sind. Bis wir einer solchen Prüfung ausgesetzt sind, haben wir nicht das Recht, uns als nicht feige zu bezeichnen. ' Sartre predigt allerdings nun keineswegs einen Heroismus. Als Sorbier darüber verzweifelt ist, daß er geschrien hat, als er sich als feige bezeichnet, tröstet ihn Canoris: Canoris (zu Sorbier): Sorbier! — Ich schwöre, daß du nicht sprechen wirst. Du kannst es nicht tun. Sorbier: Und ich sage dir, daß ich meine Mutter ans Messer liefern würde. (Pause.) Es ist ungerecht, daß eine Minute genügt, um ein ganzes Leben mit Dreck zu beschmieren. Canoris (sanft): Es braucht mehr als eine Minute. Meinst du, daß ein Augenblick der Schwäche die Stunde beschmutzen kann, in der du dich entschlossen hast, alles zu verlassen, um mit uns zu gehen? Diese drei Jahre — dein Mut — deine Geduld — und der Tag, an dem du trotz deiner Erschöpfung das Gepäck und das Gewehr des Kleinen geschleppt hast. Sorbier: Zerbrich dir nicht den Kopf. Jetzt weiß ich — jetzt weiß ich, was ich wirklich wert bin. Canoris: Was du wert bist? Warum solltest du heute, nur weil sie dich gequält haben, weniger wert sein als gestern, wo du nicht trinken wolltest, um deinen Teil an Lude abzutreten? Wir sind 89
nicht dazu geschaffen, immer bis zu den Grenzen unserer Möglichkeiten zu leben. Auch in den Tälern gibt es Wege.. .96 Sehen wir uns den Fall Sorbiers an. Er hat eingesehen, daß seine Widerstandskraft begrenzt ist, daß es einen Punkt gibt, an dem er einfach nicht mehr durchhalten kann. Heißt das wirklich, daß er feige ist? Nein, aber daß er seine Grenze kennt. Diese Grenze ist nicht allein durch seinen puren Entschluß bestimmt, sondern auch durch seine leibliche Konstitution. Wir haben die Tendenz, diese leibliche Konstitution einfach zu überspringen, so zu tun, als ob der Mensch ein pures Geistwesen wäre. Das ist er nicht. Deswegen können wir sagen, daß Sartre in diesem Stück den Menschen erstmals nicht bloß vom Bewußtsein erfaßt, vom Bewußtsein des Frei-seins (Orest), dem Bewußtsein des Gesehen-werdens (Bei geschlossenen Türen). Das Bewußtsein allein ist unzureichend. Warum ist uns Sorbier sympathisch, obwohl er zweifellos weniger Widerstand leisten kann als Canoris, Henry und Lucie? Weil er in seiner Not sich nicht über sich selbst täuscht. Weil er die Freiheit wahrt, sich nicht zu belügen. Weil er den Mut hat, sich der Tortur und einem möglichen Nachgeben durch den Tod zu entziehen. Durch diesen Akt beweist er, daß er letzten Endes über seinen Körper Herr bleibt. Aber das Stück will uns nicht nur die Bedingtheit des menschlichen Seins durch die Verleiblichung zeigen, sondern auch die Begrenztheit unseres Lebens durch die Möglichkeit der Sinnlosigkeit. Wir haben keine Garantie, daß unser Leben sinnvoll verläuft. Es gibt keine höhere Macht, die uns verbürgt, daß alles, was geschieht, einen tieferen Sinn hat. Wir können in eine Situation kommen, wo die Absurdität aufbricht. Unser Leben ist von Sinnlosigkeit umgeben, im Absurden eingebettet. Wir müssen versuchen, ihm einen Sinn zu verleihen, aber dieser Versuch kann sehr wohl scheitern. Das Einsehen in das Scheitern-können, die Auflösung der Hoffnung, daß wir einzigartige Wesen sind, deren Einzigartigkeit unzerstörbar ist, das ist die andere Einsicht, die uns durch dieses Stück sichtbar gemacht werden soll. Diese Sinnlosigkeit kann durch den Einbruch einer Naturgewalt erfolgen — wenn Menschen durch ein Erdbeben ums Leben kommen, kann schwerlich diesem Naturereignis ein Sinn beigelegt werden —, aber diese Sinnlosigkeit kann auch durch das Verhalten der Mitmenschen geschehen. Es gehört zum Spielraum des menschlichen Seins, daß er auch die Unmenschlichkeit umfaßt. Die Vertreter der Miliz im Stück sind nicht einfach als Gegenspieler eingeführt, sondern um die Möglichkeit der Perversion vor Augen zu führen. Ja, diese Perversion geschieht beinahe unauffällig. Es sind Menschen, die gerne Schlager hören, sich amüsieren, ihre «Pflicht» erfüllen und was dergleichen mehr. Wir brauchen uns nur an die verschiedenen Konzentrationslagerleiter zu erinnern, die als brave Familienväter, tierlieb usw. in Erscheinung treten. 1948: in Berlin
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Aber was hat das alles mit der Freiheit zu tun? Wären die Menschen nicht frei, dann gäbe es auch nicht die Möglichkeit der Perversion, der grausamen, vernichtenden Gewalt. Die Freiheit im Sinne der Verwirklichung der Eigentlichkeit muß dieser Möglichkeit abgewonnen werden, die Freiheit muß sich des möglichen Einbruchs der Sinnlosigkeit bewußt sein. Erst wenn das der Fall ist, erst wenn wir unserer Gebrechlichkeit und Zerbrechlichkeit bewußt sind, vermögen wir das Durchhalten und den seltenen Gewinn der erreichten Einzigartigkeit wirklich zu schätzen. Das Erfahren der Unfreiheit ist nicht eine Aufhebung der Freiheit, sondern zeigt die Freiheit als der Unfreiheit abgerungen. Dadurch verliert die Freiheit nicht, sondern wir gewinnen, sofern wir zur Freiheit gelangen, auf dem schmalen, schwierigen Pfad. Die Frage, ob das Stück situationsgebunden im Sinne des Verhaftetseins an eine bestimmte Zeitstelle ist, dürfte ihre Antwort gefunden haben. So bewahrt es seine Aussagekraft, selbst heute, wo der Krieg schon so weit zurückliegt — allerdings auch Bei denProben zu «LeDiable et le bon Dieu» («Der Teufel und der liebe Gott») in Paris
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die Bedrohung eines neuen Unheils heraufzieht. Die Darstellung von Sartres dramatischem Schaffen sei abgeschlossen mit einer Analyse von Der Teufel und der liebe Gott.
ÜBERHEBLICHKEIT UND BESCHEIDUNG: DER TEUFEL UND DER LIEBE GOTT Es ist nicht einfach, für das bisher umfassendste Drama Sartres, Der Teufel und der liebe Gott, eine Art Kennwort zu finden. Der Versuch: Überheblichkeit und Bescheidung, sei bloß als Hinweis verstanden, nicht etwa als moralisierende These. Um so besser, wenn wir nachher darauf verzichten können. Wir müssen uns darauf beschränken, der Führung des Stückes zu folgen, um der zugrunde liegenden Intention inne zu werden, und können keine Einzelanalysen geben. Gegenüber: Die Fliegen, Bei geschlossenen Türen, Tote ohne Begräbnis und Die schmutzigen Hände finden wir hier eine umfassendere Problematik. Es geht nicht bloß um den Moment des Erwachens der Freiheit, auch nicht bloß um das Beurteilt-werden durch die Anderen, auch nicht nur um den Versuch, die Mehrdeutigkeit unseres Handelns herauszustellen und das Eingespanntsein in den Apparat — all das ist im Hegeischen Sinne aufgehoben, aufbewahrt. Bei diesen Stücken sammelt sich die Problematik in einer bestimmten Situation, die zum Kreuzpunkt wird. Deswegen kann die traditionelle Einheit von Raum und Zeit gewahrt werden. In Der Teufel und der liebe Gott ist es dagegen nicht eine bestimmte Situation, die gegenwärtig gemacht werden soll, sondern ein Wechsel von Situationen. Das heißt: es wird nicht ein Moment aus dem Leben herausgegriffen, in dem alles zusammenfließt, sondern der Fluß als Ganzes soll ergriffen, verstanden werden. Dazu gehört nicht nur die Wahl, der grundlegende Entwurf, der unser Leben trägt, sondern gerade auch die Möglichkeit des Wechsels dieses Entwurfes. Es muß jeweils sichtbar gemacht werden, wie die Welt, die zu dem entsprechenden Entwurf gehört, konstituiert ist, welche Beziehungen zum Mitmenschen ausschlaggebend sind, welches Selbstverständnis der Person sich entfaltet. Eine eingehende Analyse müßte all das berücksichtigen. Der Teufel und der liebe Gott ist Sartres Faust-Drama: Der Mensch auf der Suche nach seinem Wesen, die Auseinandersetzung mit dem Absoluten und mit den Mitmenschen. Der Hauptheld ist Götz. Er wird als Bastard dargestellt. Warum? Der Bastard ist ein Individuum, das nicht von Beginn seines Daseins an in eine gesicherte, oder zumindest gesichert scheinende Existenz hineinwächst, ihm wird vielmehr seine Existenz problematisch. Niemand will ihn als seinesgleichen anerkennen. Wohin gehört er eigentlich? Die Adeligen erkennen Götz nicht als ihresgleichen an und die Bauern auch nicht. Nun muß zwar jeder Mensch seine Existenz verwirklichen, das bleibt niemandem erspart — am Fall des Bastard wird aber beispielhaft gezeigt,
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wie die Verwirklichung eine zu vollbringende Leistung des Einzelnen ist, der dabei einzig und allein auf sich gestellt bleibt. Während die anderen Menschen der Hilfe von ihresgleichen gewiß sein können, muß der Bastard darauf verzichten, weil er nicht seinesgleichen hat. Er hat also mehr zu leisten als die anderen Menschen, weil er den Ausgangspunkt, der den Anderen durch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schicht mitverliehen ist, sich auch noch erringen muß — und ihm von den Mitmenschen auch kein gültiges Vorbild verliehen werden kann. Im Gespräch mit Heinrich, der insofern auch ein Bastard ist, als er zwischen der Kirche und den Armen steht, von der Kirche ausgestoßen und von den Armen nicht anerkannt wird, sagt Götz: ... Auch du bist ein Bastard! Um dich zu zeugen, hat der Klerus mit der Armut gebuhlt: eine traurige Liebesnacht!... Ein halber Pfarrer, ein halber Armer, das gibt keinen ganzen Mann. Wir beide s i n d nichts und h a b e n nichts. Alle ehelich geborenen Kinder dürfen die Erde genießen, ohne dafür zu zalrlen. Aber nicht du, und nicht ich. Seit meiner Kindheit sehe ich die Welt durch ein Schlüsselloch: ein hübsches, rundes, volles Ei, in dem jeder den Platz einnimmt, der ihm zugewiesen ist, aber du kannst mir glauben, wir beide sind nicht mit darin. — Und dann als Schlußfolgerung, wodurch Götz seine Handlungsweise zu rechtfertigen sucht: Verschmähe doch lieber selbst diese Welt, die nichts von dir wissen will! Tu das Böse, und du wirst sehen, wie leicht dir auf einmal wird.97 Gerade die Bodenlosigkeit, gegen die er anzukämpfen hat, stachelt Götz an, eine Stellung zu erringen, die ihn weit über seine Mitmenschen erhebt. Er kann sich nicht damit begnügen, einfach eine Stelle inmitten der Anderen einzunehmen, die ihn nicht anerkennen. Um anerkannt zu werden, muß er sich über sie stellen. Nur in einer Ausnahmestellung ist er sicher, daß ihm sein Bastard-sein nicht vorgeworfen wird. Das führt zu einer maßlosen Überheblichkeit. In dieser Überheblichkeit lernen wir Götz zu Beginn kennen. Er fühlt sich als Gegenspieler Gottes.98 Gott tut das Gute, er will das Böse tun. Er will also eine Art Teufel auf Erden sein. Alle Konventionen, alle Verabredungen, Treueschwüre, überhaupt alles, was irgendwie bindet, gilt für ihn nicht. Er freut sich am Verrat, hat seinen eigenen Bruder Konrad verraten und dadurch dessen Tod herbeigeführt. Die Frau, mit der er zusammenlebt, demütigt, mißhandelt er, wie man es sich ärger kaum vorstellen kann. Diese Phase seines Lebens ist durch die Gewalt gekennzeichnet. Nur was er sich mit Gewalt nimmt, indem er fremden Willen bricht, macht ihm Freude, alles andere verachtet er. Bei seiner Truppe ist er gefürchtet, sie gehorcht ihm nur'aus Angst. Von Zeit zu Zeit versuchen sich seine Offiziere aufzulehnen, ihn zu beseitigen, aber es gelingt ihnen nicht. Zwar steht Götz im Dienste des Erzbischofs, der ihn zur Belagerung von Worms aussandte, weil die Wormser sich gegen ihn aufgelehnt haben. Aber er tut nicht das, was ihm befohlen wird, sondern das, wodurch er Anderen Schaden zufü-
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Szenenbild aus «Der Teufel und der liebe Gott» in der Aufführung am Staatlichen Schauspielhaus, Hamburg (mit Walter Tranck als Götz)
gen kann. Durch den Brudermord will Götz sein Bastard-sein noch übersteigern. Bastard war ich schon durch Geburt, aber den stolzen Namen eines Brudermörders verdanke ich mir selbst.^ Über diese erste Periode läßt sich der Ausspruch Götz' setzen: Das Böse ist mein Lebenswerk.100
Wodurch geschieht aber nun der Umschwung? Wodurch verliert plötzlich die Anmaßung, daß der Mensch nur im Tun des Bösen schöpferisch sein und sich so behaupten kann, gegenüber seinen Mitmenschen und gegenüber Gott, der ja als Urheber des Guten angesprochen wird, ihren Reiz? Durch die Auseinandersetzung mit Heinrich, dem Armenpriester, der, von Worms geflüchtet, Götz die Stadt 95
Mit Pierre Brasseur, dem Darsteller des Götz, in der Pariser Aufführung
verraten hat und somit auch die Armen und zugleich auch die Kirche. Zwar hatte er den Auftrag bekommen, Götz heimlich in die Stadt zu lassen, um so das Leben der bedrohten Geistlichen zu retten, aber er weiß, daß Götz rücksichtslos alle vernichten wird. Heinrich macht sich über Götz' Ausspruch lustig, als Gegenspieler Gottes aufzutreten, als Satan. Er kann höchstens als «Hanswurst» des Satans angesehen werden. Götz will seine Einzigartigkeit durch das Böse-tun erringen. Haß und Schwachheit, Gewalt, Tod, Ärgernis, das alles kommt nur vom Menschen; dies ist meine Domäne, und ich allein bewohne sie auch ... Habt ihr so etwas schon gesehen wie mich: einen Mann, der den Allmächtigen in Verlegenheit bringt? Bei meinem Anblick graust es Gott vor sich selbst! Es gibt zwanzigtausend Adelige, dreißig Erzbischöfe, fünfzehn Könige, es hat schon drei Kaiser auf einmal gegeben, sogar gleichzeitig Papst und Gegenpapst, aber zeigt mir einen zweiten Götz! Manchmal stelle
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ich mir die Hölle wie eine Wüste vor, die einzig mich erwartet. 101 Heinrich bringt ihm zum Bewußtsein, daß es das Los der Menschen überhaupt ist, Böses zu tun. Götz: Meine Bosheit ist anderer Art als die ihre; sie tun das Böse um ihrer Wollust oder Selbstsucht willen, ich aber tue das Böse um des Bösen willen. Heinrich: Wer fragt nach den Gründen, wenn doch feststeht, daß f man nichts tun kann als Böses? tGöfz: Steht das wirklich fest? Heinrich: Ja, du Prahlhans, das ist ausgemacht. Götz: Ausgemacht? Von wem? Heinrich: Von Gott selbst. Gott hat gewollt, daß das Gute auf Erden unmöglich sei. Götz: Unmöglich? Heinrich: Völlig unmöglich: unmöglich die Liebe, unmöglich Gerechtigkeit! Versuche doch, deinen Nächsten zu lieben, und sage mir, ob es dir glückt. Götz: Warum sollte ich ihn nicht lieben, wenn mir der Sinn danach steht? Heinrich: Weil es genügt, daß ein einziger Mensch einen anderen haßt, damit Haß die ganze Menschheit verseucht.. , 102 Aus der Verzweiflung heraus, daß sein Bestreben Gutes zu tun ihn letzten Endes Götz ausgeliefert hat, gibt Heinrich diese Deutung des Menschseins, daß Gott selbst es den Menschen unmöglich gemacht habe, auf der Erde Gutes zu tun. Das Gute wird getötet, das Böse dagegen hat Erfolg und breitet sich aus. Heinrich: Ich war unschuldig, doch das Verbrechen hat mich wie ein Strauchdieb überfallen. Wo war das Gute, du Bastard? Wo war es? Oder das kleinere Übel auch nur? (Pause.) Du mühst dich gewaltig ab für nichts, du, der du mit deinen Lastern prahlst! Wenn du die Hölle gewinnen willst, kannst du im Bett liegenbleiben. Die Welt ist voller Unbill; findest du dich damit ab, so bist du schon ein Mitschuldiger, und wenn du sie verändern willst, mußt du zum Henker werden. 103 Aus dieser Auseinandersetzung entsteht Götz' Entschluß, wenn alle Menschen sich darin gleichen, daß sie das Böse tun, den unmöglichen Versuch zu wagen, das Gute zu tun. Ich wette also mit dir, daß ich Gutes tun werde. Es scheint mir schließlich die beste Art, für mich allein zu bleiben. Ich war ein Verbrecher, ich wandle mich, ich drehe meine Weste um, und — was wollen wir wetten — es wird noch ein Heiliger aus mir.104 Der Umschwung geschieht also nicht aus einer Sinnesänderung, sondern aus dem Versuch, die Einzigartigkeit da zu erreichen, wo bis jetzt alle Menschen gescheitert sind. Die Frage ist, ob es tatsächlich möglich ist, das Gute aus einem Entschluß, der nur die Selbsterhöhung im Auge hat, zu tun. Kennzeichnung der zweiten Phase: Götz als der Wohltäter. Das Leben soll von der Liebe geleitet sein. Damit die Menschen sich aber
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lieben können, dürfen sie nicht der Not ausgeliefert sein. Folglich beginnt Götz mit der Verteilung der Güter, die ihm durch den Tod seines Bruders zugefallen sind. Er gründet eine christliche Siedlung, die Sonnenstadt. Aber durch diese Gründung stellt er sich wieder zwischen die Adeligen, denen die Verteilung seiner Güter ein Dorn im Auge ist, und Nasty, den Bauernführer, der voraussieht, daß durch sein Vorgehen die anderen Bauern zu einem Aufstand angestachelt werden, den sie noch nicht durchhalten können. Auch er ist also gegen Götz. Götz vertritt die Ansicht, daß eine gute Tat nicht üble Folgen haben kann, und daß es um so besser ist, je früher man damit beginnt. Wenn aber, so argumentiert Nasty, die Verteilung der Güter zu einem Bauernaufstand führt, für den die Bauern noch nicht genügend organisiert sind, so daß er blutig niedergeschlagen werden wird, so kann das eben keine gute Tat sein. Götz sieht, daß das Gute schwerer zu tun ist als das Böse. Das Böse vereinzelt, im Guten steht man für den Mitmenschen ein, mit dem man sich solidarisch fühlt. Es ist nicht einfach, den Bauern, die in ihm ihren Herrn gesehen haben, beizubringen, daß er ihr Bruder sein will. Sie können das nicht begreifen, fassen es als einen bösen Scherz auf. Es ist auch schwer, ihnen beizubringen, daß sie nicht von Tetzel Ablaßscheine kaufen sollen, da sich die Barmherzigkeit Gottes nicht bezahlen und nicht erschachern läßt. Götz muß selbst einen Schwindel begehen, sich Stigmate einritzen, um als wundertätiger Prophet geehrt zu werden. Selbst die Gründung der Sonnenstadt stößt bei Hilda auf Widerstand, also gerade bei der Person, die ihr Leben den Armen gewidmet hat. Die Solidarität im Elend ist ihr lieber als die Absonderung im Glück. Auf dieser verblutenden Erde ist alle Freude obszön, und dir glücklichen Menschen sind allein.105 Götz predigt seinen Bauern die christliche Nächstenliebe, Ablehnung jeglicher Gewalt, Verurteilung des Krieges. Während seiner Abwesenheit wird die Sonnenstadt vernichtet; weil die Bauern nicht mit in den Krieg ziehen wollen, werden sie erschlagen und ihre Siedlung niedergebrannt. Götz ist gescheitert. Er zieht sich von den Menschen zurück, versucht als Einsiedler zu leben, indem er sich Kasteiungen unterwirft, Gott immer wieder in seiner Verzweiflung anruft. Hatte zunächst die Periode des Gut-seins den Anschein, als ob Götz sich durch das Gut-sein über die anderen Menschen erheben, seine Einzigartigkeit unter Beweis stellen wolle, so ist er nun völlig seiner Nichtigkeit bewußt. Hilda, die ihn liebt, quält er durch seine Kasteiungen. Sie versucht ihm deutlich zu machen, daß diese Kasteiungen ein Selbstbe trug sind, aus der Verzweiflung über das Versagen seiner Gründung zum Wohle der Bauern entspringen. Nach einem Jahr, beim Auf tauchen Heinrichs, mit dem er die Wette abgeschlossen hatte, daß es ihm gelingen werde, das Gute zu tun,
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versucht Götz, sich so aufrichtig wie nur möglich zu prüfen. Hat er nicht durch seine Handlungen, die dem Guten dienen sollten, die Seelen erst recht ins Verderben geführt? War nicht sein Versuch, das Böse durch das Gute zu ersetzen, nur eine noch raffiniertere Weise, um die Menschen, die er früher durch Grausamkeiten und Gewalttaten quälte, jetzt durch das Gute zu vernichten? Diese Selbstenthüllung, diese Selbstanklage führt zu einem erschütternden Bekenntnis: Ich flehte, ich rang um ein Zeichen, ich sandte dem Himmel Botschaften zu, doch es kam keine Antwort. Der Himmel weiß nicht einmal, wer ich bin. In jedem Augenblick fragte ich mich, was ich in den Augen Gottes wohl sei. Ich kenne die Antwort jetzt: nichts. Gott sieht mich nicht, Gott hört mich nicht, und Gott kennt mich auch nicht. Du siehst diese Leere zu unseren Häupten? Diese Leere ist Gott. Du siehst die Öffnung in der Tür? Ich sage dir, sie ist Gott. Du siehst dies Loch in der Erde? Gott. Das Schweigen ist Gott. Die Abwesenheit ist Gott, die Verlassenheit der Menschen ist Gott. Was da war, war einzig ich: ich allein habe mich für das Böse entschieden, habe das Gute erfunden. Ich habe betrogen und Wunder getan, ich selber klage mich heute an, und auch freisprechen kann nur ich mich, der Mensch. Wenn Gott existiert, ist der Mensch ein Nichts; wenn der Mensch existiert.. .lofi Heinrich, der Bastard-Gegenspieler, ist von dieser Eröffnung Götz' erschüttert, er wollte Götz beweisen, daß er unfähig sei, das Gute zu tun, daß sich das Gute nicht tun lasse, denn er, Heinrich, wollte ja auch das Gute tun und war in eine ausweglose Situation geraten, zum Verräter geworden und konnte das nicht mehr verwinden. Nun ist er von Götz' Konsequenz empört. Götz: Aber du weißt ja noch gar nicht, was ich sagen will. (Sieht ihn an; plötzlich:) Du weißt es! Heinrich (schreit): Das ist nicht wahr! Ich weiß nichts, ich will nichts wissen. Götz: Heinrich, ich möchte dir noch eine tolle Posse erzählen: Gott existiert nämlich nicht. (Heinrich wirft sich auf ihn und schlägt ihn. Unter seinen Schlägen lacht Götz und schreit:) Er existiert nicht. Halleluja! Eitel Freude und Tränen der Freude! Du Narr! Schlage mich doch nicht. Ich befreie uns ja. Wenn es keinen Himmel gibt, gibt es auch keine Hölle mehr: nichts außer der Erde bleibt da. Heinrich: Ach! Möge er mich hundertfältig, tausendfältig verdammen, wofern er dennoch existiert. Götz, die Menschen haben uns Verräter und Bastarde genannt und haben uns verdammt. Wenn Gott nicht existiert, so gibt es kein Mittel mehr, den Menschen zu entrinnen. Mein Gott, dieser Mensch hier lästert Dich, ich aber glaube an Dich, ich glaube, mein Gott. Unser Vater, der Du bist im Himmel, ich möchte lieber gerichtet werden von einem unendlichen Wesen, als von denen, die meinesgleichen sind. Götz: Zu wem sprichst du denn? Eben noch hast du gesagt, er sei taub. (Heinrich sieht ihn schweigend an.) Keine Möglichkeit mehr,
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den Menschen zu entrinnen. Es ist aus mit den Ungeheuern und den Heiligen. Aus mit dem Stolz. Nur die Menschen sind da. Heinrich: Die Menschen, Bastard, wollen nichts wissen von dir. Götz: Ach was! Ich komme schon zurecht. (Pause.) Heinrich, ich habe meinen Prozeß nicht verloren; er hat nicht stattgefunden, weil kein Richter erschienen ist. (Pause.) Ich fange xoieder von vorn an.107 Es ist für Heinrich viel schlimmer, den Mitmenschen ausgeliefert zu sein als Gott, obgleich er vorher behauptete, daß Gott die Menschen so geschaffen habe, daß es ihnen unmöglich sei, gut zu sein. So wird die Rechtfertigung Götz' zugleich eine Anklage gegen Heinrich, der vorgibt, mit dem Teufel in Verbindung zu stehen und so dem Urteil der Menschen enthoben zu sein. Heinrich will Götz umbringen — wird im Kampf aber von ihm getötet. So endet diese Periode, die dem Guten gewidmet sein sollte, mit einem Mord. Aber nicht der Mord an Heinrich ist entscheidend, sondern die neue Verkündung Götz', daß es keine höhere Gewalt mehr gibt, kein Absolutes, dem gegenüber wir uns zu rechtfertigen haben, in dessen Dienst wir uns stellen können. In dieser Wendung erkennen wir Nietzsches Verkündung vom Tode Gottes. Und wie bei Nietzsche sollte diese Verkündung dazu führen, daß die Menschen sich nicht in eine Hinterwelt flüchten, sondern «der Erde treu bleiben». Nasty, der Bauernführer, kommt zu Götz, um ihn, den besten Heerführer, als Anführer für die Bauern zu gewinnen, die ihre erste furchtbare Niederlage erlitten haben. Bis jetzt hatte Götz sich diesem Angebot immer widersetzt, nun nimmt er es an. Wohl wissend, daß es keineswegs leicht sein wird, richtig zu handeln, aber aus der Überzeugung heraus, daß es keinen Sinn hat, für ein unerkennbares Absolutes sein Leben hinzugeben, sondern daß einzig und allein das Mensch-sein unter Menschen, also als ihresgleichen und nicht als Ausnahmeperson, überhaupt eine sinnvolle Aufgabe ist. Ob diese Aufgabe gelingt oder nicht, das ist nicht vorauszusehen, aber es ist der einzige Weg, der Götz noch bleibt. Nach der Überheblichkeit ein Sichbescheiden, und zwar ein Sich-bescheiden, das schwerer wiegt als der Dienst am Absoluten, denn die Rechtfertigung muß vor den Menschen erfolgen und nicht vor einem alles wissenden, gerechten Richter. Götz will neu anfangen, mit seinen Mitmenschen kämpfen und leiden. Auf Nastys Frage, was der Anfang sei, antwortet er: Das Verbrechen. Die Menschen von heute kommen als Verbrecher auf die Welt, da muß ich teilhaben an ihren Verbrechen, wenn ich teilhaben will an ihrer Liebe und den Tugenden. Ich wollte reine Liebe: Unsinn! Sich lieben bedeutet: man haßt den gleichen Feind; ich muß mir euren Haß aufs tiefste zu eigen machen. Ich xoollte das Gute: Torheit! Auf dieser Welt und zu dieser Zeit sind Gut und Böse verquickt; ich muß mich abfinden, böse zu sein, um gut werden zu können.103 Das Stück endet aber keineswegs mit der Verkündung einer gro-
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Charles Baudelaire. Selbstbildnis
ßen Hoffnung, die nun, nach dem Tode Gottes, den Menschen gepredigt werden kann. Die Herrschaft inmitten der Menschen beginnt vielmehr wieder mit einem Mord. Ein Anführer, der Götz nicht gehorchen will, wird vor den Augen der Anderen niedergestochen. Das Reich des Menschen ist angebrochen. Ein schöner Beginn. Gut, Nasty, ich werde Henker und Schlächter sein.10? Götz sucht die Gemeinschaft. Aber er beginnt gerade damit, sich von den Anderen zu isolieren. Um ihnen Respekt einzuflößen, muß er sich bei ihnen verhaßt machen. Und das soll der erste Schritt zur Verwirklichung der mitmenschlichen Liebe sein? Wird dieses Reich gerechter sein, als das, das im Namen einer höheren Macht errichtet wurde und sich auf sie berief? Selbst der aufrichtige Nasty muß, um herrschen und die Bauern leiten zu können, sie belügen. Es geht nicht ohne Kompromisse. Was haben wir durch den Umschwung gewonnen, das Sich-Lossagen von
Gott? Leichter ist das Leben nicht geworden, denn jetzt muß der Mensch für alles die Verantwortung selbst übernehmen. Die Bescheidung ist keineswegs ein Akt der Bescheidenheit, ja, die anfängliche Überheblichkeit erscheint bescheiden gegenüber der nun übernommenen Bescheidung. Keine Versöhnung, keine friedliche, besinnliche Lösung des Konflikts, kein Ausgleich, keine Harmonie, sondern das Ringen des Menschen um sich selbst, das ist geblieben. Er kann nicht außer sich nach Haltepunkten Ausschau halten — er bleibt auf sich selbst gestellt: ein Bastard. Der Versuch, über Sartres Dramen in den Kernpunkt seiner Fragestellung zu dringen, das aufzufinden, was ihn als engagierten Schriftsteller ständig in Atem hält, muß nun ergänzt werden durch seine theoretische Darstellung der Freiheitsthematik. Das wird in den folgenden drei Kapiteln unternommen. FREIHEIT UND WAHL Sartres Interpretation von Baudelaire beginnt mit folgenden Ausführungen : «ER HAT NICHT DAS LEBEN GEHABT, DAS ER VERDIENTE.» Diesen trostreichen Spruch scheint Baudelaires Leben ausgezeichnet zu illustrieren. Sicherlich: diese Mutter, diese ständige Geldverlegenheit, diesen Familienrat, diese habgierige Geliebte und diese Syphilis hat er nicht verdient. — Und was ist ungerechter als ein früher Tod? Beim Nachdenken darüber melden sich jedoch Zweifel: der Mensch Baudelaire ist weder ohne Fehl, noch ohne Widersprüche. Dieser Pervertierte hat sich ein für allemal die banalste und kompromißloseste Moral zu eigen gemacht; dieser Raffinierte hat Umgang mit den traurigsten Prostituierten. Der Geschmack am Elend fesselt ihn an Louchettes mageren Körper, und seine Liebe zu «der schrecklichen Jüdin» ist wie eine Vorahnung jener Liebe, die er später für Jeanne Duval empfinden wird. Dieser Einsame hat entsetzliche Angst vor der Einsamkeit: nie geht er ohne Begleitung aus. Er sehnt sich nach einem Heim, nach Familienleben. Dieser Verfechter der Willensanstrengung ist ein «.Willensschwächling», unfähig, sich zu regelmäßiger Arbeit zu zwingen. Er verfaßt eine «Aufforderung zur Reise», er ersehnt örtliche Veränderungen und träumt von unbekannten Ländern: aber er zögerte sechs Monate lang, ehe er nach Honfleur aufbrach, und die einzige Reise, die er je unternahm, empfand er wie eine Strafe. Er zeigte Verachtung und sogar Haß gegenüber den gestrengen Personen, die mit seiner Vormundschaft beauftragt waren, und hat doch nie den Versuch unternommen, sich von ihnen loszumachen — ja, er versäumte keine Gelegenheit, ihre väterlichen Rügen anzuhören. Ist er also so anders als das Leben, das er geführt hat? Und wenn er sein Leben nun verdient hätte? Wenn nun, entgegen den eingebürgerten Vorstellungen, die Menschen überhaupt nie ein anderes Leben hätten als das, welches sie verdienen? 110
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Hier stoßen wir auf eine erregende These. Es ist unsinnig zu sagen, jemand habe ein Leben gehabt, das er nicht verdiente — man hat immer das T eben, das man verdient. Es gibt nicht einerseits unser Leben und andererseits unsere kostbare Substanz, unser kostbares Wesen, so daß der Fall eintreten kann, daß man ein Leben hat, das mit dieser Substanz nicht in Einklang ist, das hinter dieser Substanz zurückbleibt. Wir sind das, was unser Leben war. Haben wir in unserem Leben versagt, dann sind wir eben ein Versager.
Sehen wir, wie Sartre diese These zunächst an Baudelaire selbst exemplifiziert. Baudelaire hing abgöttisch an seiner Mutter, liebte sie über alles. Sie war für ihn die Rechtfertigung seiner Existenz, er fühlte sich mit ihr für immer vereint. Als die Mutter wieder heiratete, wurde er in ein Pensionat geschickt. Dies Ereignis bedeutete für ihn einen Bruch in seinem Leben. Er konnte es nicht fassen, daß seine Mutter, statt mit ihm zusammen zu bleiben, wieder heiratete und ihn entfernte. Das ist nicht etwa eine künstliche Interpretation, sondern Baudelaire hat sich selbst dazu geäußert. Von diesem Moment an fühlt er sich verlassen, verstoßen, zur Einsamkeit verdammt. In «Mon Cceur mis ä nu» finden wir diesbezüglich eine aufschlußreiche Stelle: «Gefühl der Einsamkeit seit meiner Kindheit. Trotz der Familie — und vor allem inmitten der Gefährten — immer das Gefühl eines in alle Ewigkeit einsamen Schicksals.»111 Was ist an diesem Ausspruch das Entscheidende? Daß Baudelaire seine Einsamkeit nicht als vorübergehenden Zustand ansieht, daß er nicht darauf aus ist, neue Freunde zu gewinnen, um die Einsamkeit zu überwinden, sondern vielmehr, wie Sartre sagt: Ergrimmt wirft er sich in sie hinein, schließt er sich in ihr ein, und da er nun einmal verurteilt ist, will er, daß diese Verurteilung unwiderruflich sei.112 Er will diese Einsamkeit als sein Schicksal übernehmen. Er wählt sich die Einsamkeit als seine Lebensform, wir müssen genauer sagen, die Einsamkeit wird von nun an sein Leben durch und durch bestimmen. Nicht, weil keine andere Möglichkeit bestünde, sondern weil er diese Möglichkeit als die Grundmöglichkeit seines Lebens gewählt hat. Um das zu verstehen, müssen wir Sartres Deutung der Wahl erläutern. Das ist um so nötiger, da wir Sartres Freiheitsbegriff nicht verstehen können, wenn wir nicht wissen, was er unter der Wahl versteht. Untersuchen wir zunächst das menschliche Handeln. Das Handeln unterscheidet sich von jeglichem Wirken dadurch, daß beim Wirken das Verursachende das Vorhergehende ist. Der Zustand A muß dasein, damit der Zustand B als Wirkung von A verstanden werden kann. Das, was schon ist, ist Ursache des Werdenden. Beim Handeln verhält es sich anders. Das Handeln ist durch das bestimmt, was noch nicht ist, nämlich durch den zu erreichenden Zweck, das Ziel. Wenn ich mir vorgesetzt habe, Maler zu werden, so bin ich jetzt gerade noch kein Maler. Dies, was ich noch nicht bin, was ich lediglich in meinem Entwurf bin, das ist das entscheidende Moment der Handlung. Dieser bekannte Sachverhalt nimmt bei Sartre eine besondere Bedeutung an. Daraus, daß ich durch etwas Nicht-Seiendes, nämlich nicht wirklich Seiendes im Sinne der Dinge, bestimmt werden kann, ist ersichtlich, daß mein Wesen fundamental von einer Nichtung durchwaltet ist. Sartre wird nicht müde, diesen Sachverhalt in seinem philosophischen Hauptwerk immer wieder aufzunehmen. Seine These ist ja, daß das Für-sich-sein, also das menschliche Sein, erst durch eine Nichtung des An-sich-seins, das für Sartre das
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Sein schlechthin ist, entspringen kann. Das Bewußtsein (ein anderer Harne für das Für-sich-sein oder die menschliche Realität) kann nur zum Bewußtsein werden durch ein Sich-Losreißen vom An-sich-sein. pas An-sich-sein wird von Sartre so als mit sich selbst ausgefüllt gedacht, daß da gar keine Möglichkeit für eine Nichtung besteht. Im Bereich des An-sich-seins von Freiheit zu sprechen, ist ein Unding, eben weil dieses Sein ganz und gar als Fülle vorgestellt wird. Nur das Seiende, das die Möglichkeit der Nichtung besitzt, das von Nichtigkeit durchherrscht ist, vermag von sich aus etwas zu leisten, was es noch nicht gibt, weil es vermag, einen Bezug zum Nicht-Seienden (Noch-nicht-Seienden) zum Zweck der Handlung herzustellen. So ist also die erste Voraussetzung für die menschliche Freiheit der Bezug zum Nicht-sein, das Durchwaltet-sein von diesem Bezug. Und Sartre kann die paradoxe Formulierung gebrauchen: Weil die menschliche Realität n i c h t genug ist, ist sie frei; weil sie fortwahrend sich seihst entrissen wird und weil das, was sie gewesen ist, durch ein Nichts von dem getrennt ist, was sie ist und sein wird.113 Gerade
der Mangel an Sein ist so die Größe des menschlichen Seins, denn er ermöglicht die Freiheit. Der Mensch ist nicht nur von der Fülle des Seins durch einen Mangel getrennt, sondern er ist auch ständig von sich selbst losgerissen, von seiner Vergangenheit und von seiner Zukunft durch etwas Nichthaftes getrennt. Er ist n i c h t - m e h r, was er war, und noch-nicht, was er sein wird. Ist aber mein Handeln nicht ganz und gar durch meine Vergangenheit bestimmt? Handle ich nicht so, wie ich auf Grund meiner Vergangenheit handeln muß? Wäre ich ganz im Banne der Vergangenheit, stieße ich nicht ständig die Vergangenheit von mir ab, dann könnte ich nie etwas Neues tun, sondern müßte immer das schon Getane wiederholen. Die Zukunft ist dasjenige, was mein Handeln bestimmt. Um in die Zukunft vorauszueilen, muß ich mich von Vergangenheit und Gegenwart abstoßen können. Im Voreilen in die Zukunft entwerfe ich mein Ziel, das gerade noch nicht wirklich ist. Heidegger hatte in «Sein und Zeit» dargelegt, daß Zeit nicht ist im Sinne eines bloßen Vorhandenen, sondern als Zeitigung des Daseins. Er hatte zudem gezeigt, daß das eigentliche Zeitigen immer von der Zukunft her erfolgt. Er hatte auch dem eigentlichen Zeitigen das uneigentliche gegenübergestellt — worauf Sartre nicht eingeht, aber Sartre übernimmt die Heideggersche Deutung des Zeitigens des Daseins von der Zukunft her. So etwas wie Zukunft, Zeitigen der Zukunft, kann es nur geben durch die eigenartige Nichthaftigkeit des Menschen, die ihn geradezu zwingt, sich selbständig zu machen, sein Sein als ständige Aufgabe zu fassen und nicht etwa als ein für allemal abgeschlossen. Die Freiheit ist eben das Nichts, das im Herzen des Menschen zu e i n e m gewesenen gew or den i s t und die menschliche Realität zwingt, s i c h zu machen, anstatt z u s e i n."4 Gäbe es für den
Menschen keine Nichthaftigkeit, dann gäbe es für ihn auch keine Freiheit. Die Freiheit ist nicht irgendeine Eigenschaft des Menschen,
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sondern sein Sein ist nur möglich als ständiges Sich-entwerfen. Dieses Sich-entwerfen auf seine Möglichkeiten, das ist die Wahl seiner Möglichkeiten. Sich-wählen und Sein ist für den Menschen ein und dasselbe. Wir haben nicht irgendeine geheimnisvolle Substanz, die ist und dann gelegentlich sich für irgend etwas entscheidet, also etwas will, sondern Sein bedeutet für den Menschen zur Freiheit verdammt sein, dazu verdammt sein, sich wählen zu müssen. Der Mensch erhält seine Existenz nicht geschenkt, sondern muß sich selbst verwirklichen, eben durch seine Wahl. Jetzt darf uns folgender Ausspruch Sartres nicht mehr unverständlich erscheinen: So sind Freiheit, Wahl, Nichtung und Zeitigung ein und dasselbe?115 Denn es ist immer ein Aus dem Film «Les ]eux sont faits» («Das Spiel ist aus»)
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und derselbe Sachverhalt, der von verschiedenen Seiten anvisiert ist. Freiheit bedeutet für den Menschen keineswegs Beliebigkeit, Willkür, sondern sich selbst wählen müssen. Jegliche Wahl ist aber immer schon ein Neu-setzen und somit das Bisherige nicht als das Bestimmende zulassend, also sich von sich selbst Losreißen, indem die eigene Vergangenheit genichtet wird. In diesem Nichten vollzieht sich die Zeitigung des Daseins als Entwerfen auf sein Ziel. Die Angst ist für Sartre ein Beleg dafür, daß wir uns nicht in unserem Sein gesichert fühlen, ein für allemal, sondern im Gegenteil ein ursprüngliches Wissen darüber haben, daß unser Sein ständig auf dem Spiel ist und nicht endgültig gesichert werden kann. (Auf die Wandlung der Angstanalyse von Heidegger zu Sartre kann hier leider nicht eingegangen werden.) Wir dürfen aber nun nicht einfach die Wahl gleichsetzen mit dem, was gewöhnlich als Willensentscheidung, als Entschluß bezeichnet wird. In seiner Liebe für übertriebene Formulierungen sagt Sartre sogar: Daraus ergibt sich, daß die willentliche Überlegung immer verfälschtist.116 Was soll das bedeuten? Dem, was wir unseren Entschluß nennen, z. B. etwas Bestimmtes zu tun, uns auf eine bestimmte Weise zu verhalten, geht voraus die Wahl unserer selbst. Was ich als Motiv für meine Handlung ansehe, welchen Zweck ich ihr zuschreibe,das ist immer schon vorbestimmt durch die Wahl meiner selbst. Was überhaupt zur Erwägung steht und wie ich die verschiedenen Momente abwäge, steht immer schon im Zeichen des ursprünglichen Entwurfs meiner selbst. Habe ich mich als «Feigling» gewählt, so werde ich immer Gründe finden, um in einer bestimmten Situation nicht zu intervenieren. Es gibt eine ursprüngliche Spontaneität des Sichwählens, die jeglichem Willensentschluß vorangeht. Um das Sich-wählen zu verdeutlichen, sei ein Beispiel herangezogen: die Wahl der Minderwertigkeit. Daß es so etwas überhaupt geben kann, scheint zunächst fragwürdig. Wir sind doch gewöhnt, daß man immer etwas Gutes, Freudiges wählt. Dabei denken wir dann an die vielen kleinen und größeren «Entscheidungen», die wir im Laufe eines Tages treffen. Ob wir Tennis spielen gehen sollen, ob wir arbeiten sollen, einen Freund anrufen sollen usw. Hier ist von einer anderen Wahl die Rede, der Wahl unserer selbst, wie wir sein wollen. Entsprechend dieser Wahl wird sich dann nachher bestimmen, wie wir uns verhalten, was wir tun, was wir als wünschenswert ansehen. Die Wahl unserer selbst kann durchaus durch eine bedrükkende Erfahrung bestimmt sein. Denken wir an den Fall Baudelaire, der sich als Einsamer, als zur Einsamkeit Verdammter wählt, in dem Augenblick der erschütternden Trennung von seiner Mutter. Diese Trennung ist kein Grund für seine Wahl, wäre das der Fall, dann wäre die Freiheit illusorisch. Aber die gleiche Trennung hätte geradesogut durch eine übertriebene Anlehnung an die Mitmenschen beantwortet werden können. Baudelaire übernimmt freiwillig die Trennung als sein Schicksal, man könnte beinahe sagen, er verbockt sich in die Trennung, in die Einsamkeit, um sich und den Anderen
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Szene aus dem Film «Les Jeux sont faits»
zu beweisen, daß er sie nicht nötig hat. Und wenn er gerade zu abstoßenden Frauen Bindungen aufnimmt, so deswegen, um mit der Aufnahme dieser Bindung sie zugleich als illusorisch darzustellen, anders ausgedrückt, um sich selbst zu beweisen, daß die Bindungen sinnlos sind, da sie gar keinen Anspruch erfüllen können. Wir können uns als Fliehenden, Ungreifbaren, Zögernden usw. wählen; wir können uns sogar dazu erwählen, uns nicht zu wählen: x in diesen verschiedenen Tüllen werden Ziele von jenseits der faktischen Situation gesetzt, und die Verantwortung für diese Ziele fällt uns zu: was auch unser Sein sein mag, es ist Wahl. 117 Das Sich-nichtWählen ist auch eine Wahl, nämlich die Wahl, vor der Wahl auszuweichen, sie hinauszuschieben, sie unbestimmt zu lassen, dann haben : wir ein Dasein, dem eine bestimmte Konturlosigkeit zukommt, ein Schwanken, ein Unbestimmt-sein — aber diese Momente bestimmen unser Sein, es ist keineswegs so, wie sich der Betreffende das vielleicht vormacht, daß er sich für etwas Besseres aufhebt.* Wichtig ist, daß die Wahl nicht einfach durch eine bestimmte Situation determiniert ist, denn dann wäre es gar keine Wahl mehr, sondern durch Vgl. «Die Wege der Freiheit», S. 70 f
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das Setzen von bestimmten Zwecken. Durch das, was ich für mich als erstrebenswert ansetze, wähle ich mich zugleich. Kommen wir zur Wahl der Minderwertigkeit. Sie scheint sinnlos. Warum wählt jemand die Erniedrigung, das Hinter-den-Anderen-Zurückbleiben, das Verbittert-sein? Ist es möglich, daß durch solch eine Wahl auch bestimmte Zwecke erreicht werden? In der Tat. So wie beim Masochismus kann die Selbsterniedrigung als Mittel angesehen werden, um die Verantwortung für unser Sein den Anderen aufzubürden, sie von uns selbst abzuwälzen, wir können so versuchen, uns unserer Freiheit zu entledigen. Um also diese Wahl zu treffen, müssen wir um die Möglichkeit des Mit-den-Anderen-Seins wissen. So ist die gefühlte und erlebte Minderwertigkeit das erwählte Werkzeug, um uns einer Sache ähnlich zu machen, das heifit, um uns als reines Draußen inmitten der Welt existieren zu lassend8 Wird die Minderwertigkeit als ein bestimmtes Instrument gebraucht, so ist sie nicht einfach als Fatalität erduldet, sondern eigens gewollt. Zu dieser Wahl gehört, daß wir die Schande, den Ärger, bzw. die Wut und die Bitterkeit des ständig Zurückbleibenden ausdrücklich übernehmen. Wer sich als minderwertig gewählt hat, wird ausdrücklich auf dem Gebiet sich zu produzieren versuchen, wo er von vornherein gar keine Aussicht hat, etwas zu leisten. Denn das Versagen ist für ihn eine Befriedigung, er hat es ja vorausgesagt. Diesem Versagen kann zugrunde liegen ein Sich-absondern-Wollen, nicht in der Masse Aufgehen-Wollen, überhaupt das Anders-sein-Wollen. Ohne genaue Analyse des einzelnen Falles ist gar nicht zu sagen, welcher Grund vorliegt. Bei dieser Wahl kommt das Zusammenspielen des bewußten Willens und der gelebten Minderwertigkeit zum Vorschein. Der reflektierte Wille will durchaus, daß ich ein berühmter Maler werde. Denn wenn ich von vornherein wählen würde, ein bescheidener Maler zu sein, dann gäbe es nicht den klaffenden Abstand zwischen dem gesteckten Ziel und der dahinter zurückbleibenden Verwirklichung. Der Abstand zwischen dem bewußt gesteckten Ziel und dem wirklich Geleisteten ergibt die Erfahrung der Minderwertigkeit, die gerade ursprünglich von mir gewollt ist. Wir können hier unmittelbar ein Beispiel der Unaufrichtigkeit fassen. Der Wille, der am Werk ist, ist unaufrichtig, er tut so, als ob er darauf aus wäre, ein großartiges Werk als Maler zu wollen, aber das unmittelbare spontane Bewußtsein hat die Minderwertigkeit als unsere Lebensform gewählt. Der Wille (wir müssen immer sagen, der bewußte Wille) widerspricht nicht der grundlegenden Wahl, wie das zunächst den Anschein hat, sondern steht im Dienste derselben. Die Trennung zwischen dem bewußten Willen und seinem Wollen und dem unmittelbaren Bewußtsein dessen, was wir sind, ist durch unsere Freiheit eigens gewollt. Aber gerade diese Zwietracht enthält die Tatsache, daß die willentliche Überlegung mit Unwahrhaftigkeit beschließt, unsere Minderwertigkeit durch Werke auszugleichen oder zu verbergen, deren eigentlicher Zweck es ist, es uns im Gegenteil zu ermöglichen, diese Minderwertigkeit zu b e u r t e i l e n.119 So kommt Sartre dazu, sich einer110
seits mit den Thesen des Psychologen Adler zu identifizieren und doch sich von ihm zu unterscheiden. Mit Adler setzt Sartre, daß die Minderwertigkeit ausdrücklich gewollt wird und daß durch eine Reihe von Akten das Gefühl der Minderwertigkeit verdeckt oder überkompensiert wird. Im Unterschied zu Adler setzt Sartre, daß die Anerkennung der Minderwertigkeit nicht unbewußt erfolgt, sie ist ja die Grundlage für die Unaufrichtigkeit. Den Unterschied, den Adler zwischen bewußt und unbewußt aufstellt, verlegt Sartre in die Scheidung des unreflektierten Bewußtseins, das das eigentliche, das unmittelbare Bewußtsein ist, wie er sagt, das fundamentale Bewußtsein und das reflektierte Bewußtsein, das von ihm abhängt. Die Rolle der Zensur, der Verdrängung, des Unbewußten wird in der Sartreschen Deutung von der Unaufrichtigkeit übernommen. Für Sartre ist es unmöglich, die Einheit des Bewußtseins in bewußt und unbewußt aufzuspalten, wohl gibt es nach ihm das unmittelbare Bewußtsein, das noch nicht die Reflexion auf sich selbst vollzieht, und das reflektierte Bewußtsein. Im Vergleich zu Adler ist nach Sartre die Minderwertigkeit dem Subjekt nicht nur bekannt, von ihm eingestanden, sondern ausdrücklich gewählt. ... der Wille strebt nicht nur danach, diese Minderwertigkeit durch ungesicherte und schwache Behauptungen zu verbergen, sondern ihn durchdringt eine tiefer liegende Intention, die die Schwäche und Unsicherheit dieser Behauptungen gerade wählt, und zwar in der Absicht, diese Minderwertigkeit, die wir angeblich fliehen und die wir in der Scham und im Gefühl des Scheiterns empfinden, noch fühlbarer zu machen.120 Derjenige, der die Minderwertigkeit als seine Seinsform wählt, hat zugleich die Schande und die Quälerei gewählt, die damit verbunden sind. Zum Abschluß dieser Ausführungen sei versucht zu verdeutlichen, wie in der Wahl zugleich eine bestimmte Weltauslegung und Selbstauslegung erfolgt. Die ursprüngliche Wahl, die wir vollziehen, darauf wurde schon hingewiesen, ist nicht ein ausdrücklich gefaßter Entschluß, weil sie jeglichem Entschluß vorhergeht und ihn fundiert. Wenn wir einen Entschluß fassen, dann vollziehen wir eine bestimmte Auswahl von Gründen, und dieser Vollzug ist selbst immer schon in unserem ursprünglichen Entwurf gegründet. Was als möglich und unmöglich angesehen wird, hängt von dem ursprünglichen Entwurf, der ursprünglichen Wahl unserer selbst ab. Man darf jetzt aber nicht gleich meinen, die ursprüngliche Wahl unserer selbst sei folglich unbewußt. Sie kann nicht unbewußt sein, weil sie nach Sartre unser Bewußtsein selbst ist. Wie ich als Bewußtsein bin, das hängt von der ursprünglichen Wahl meiner selbst ab. Das Bewußtsein der Wahl ist das Bewußtsein unserer selbst. Und da unser Sein eben unsere ursprüngliche Wahl ist, ist das Bewußtsein (von) Wahl identisch mit dem Bewußtsein, das wir (von) uns haben. Man muß bewußt sein, um wählen, und man muß wählen, um bewußt sein zu können. Wahl und Bewußtsein sind ein und dasselbe.121 Wie wir uns selbst wissen, so haben wir uns gewählt. Diese Wahl ist immer ein bestimmter Be-
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zug zum Sein, in der Sartreschen Formulierung der Entwurf zu einer Lösung des Seinsproblems122, aber kein willentlich zuerst gewollter und dann verwirklichter Entschluß. Wir sind dieser Bezug und verwirklichen ihn, indem wir leben. Gerade weil diese Wahl wir selbst sind, haben wir kein analytisches und detailliertes Bewußtsein davon, denn wir sind es in der Totalität, wir sind es in eins und zumal. Von dem Entwurf unserer selbst (wir können das Wort Entwurf gleichbedeutend mit Wahl gebrauchen) hängt zugleich ab, wie uns die Welt erscheint. Wir wählen die Welt — nicht in ihrem Aufbau als solchem, sondern in ihrer Bedeutung —, indem wir uns wählen.123 112
penn was uns vom Seienden anspricht, was uns etwas bedeutet, das ist alles in Funktion unserer Wahl. Die Dinge der Welt sind, ob sie uns etwas bedeuten oder nicht, aber als sinnvolle, als einen Zusammenhang bildende werden sie erst durch unser Verständnis, das von unserem Selbstentwurf abhängt. Welt meint hier immer den von mir gestifteten Sinnzusammenhang der Dinge. In Sartres Formulierung: Der Wert der Dinge, ihre werkzeughafte Rolle, ihr reales Nahebeiund Entferntsein (was ohne Zusammenhang mit ihrem räumlichen Nahebei- und Entferntsein ist) * tun nichts anderes, als mein Bild zu entwerfen, das heifit meine Wahl. Meine vernachlässigte oder gepflegte, gesuchte oder gewöhnliche Kleidung (Uniform oder Straßenanzug, weiches oder gestärktes Hemd), meine Möbel, die Straße und die Stadt, in der ich wohne, die Bücher in meinem Zimmer, die Zerstreuungen, die ich mir leiste, alles, was mir gehört, das heißt schließlich die Welt, deren ich ständig bewußt bin — wenigstens in ihrer Eigenschaft einer Bedeutung, die der von mir betrachtete oder benutzte Gegenstand in sich begreift —, alles das unterrichtet mich über meine Wahl, das heißt über mein Sein. 124 Oder wie es an einer anderen Stelle erläutert wird: Wenn die Intention die Wahl des Zieles ist und wenn die Wahl sich durch unsere Verhaltensweisen hindurch enthüllt, dann enthüllt die intentionale Wahl des Zieles die Welt, und die Welt enthüllt sich, je nach dem gewählten Ziel, so oder so (in dieser oder jener Geordnetheit).125 Es kommt Sartre darauf an, zu zeigen, daß unsere Wahl nicht etwa bestimmt ist durch das Gegebene, nicht dem Gegebenen hörig ist, sondern daß jegliches Gegebene immer verstanden ist von dem Ziel aus, das ich mir setze und dem gemäß ich mich als Seiender verstehe. Um überhaupt etwas verstehen zu können, muß ich einen Abstand vom Gegebenen gewinnen und muß selbst einen Stand gewinnen, von dem aus ich das Verstehen und das Beurteilen vollziehe. Es liegt hier ein einheitliches Geschehen vor: So setzt die Intention mit ein und demselben einheitlichen Auftauchen das Ziel, erwählt sich und beurteilt das Gegebene von diesem Ziele aus. 126 In diesem Setzen des Zieles engagiert sich der Mensch, so kommen wir dazu einzusehen, daß gerade im «engagement» die Freiheit am Werk ist. Frei sein bedeutet nicht, sich jeder Entscheidung enthalten oder sich jede mögliche Entscheidung vorbehalten, sondern Freiheit bedeutet, sich auf einen Zweck entwerfen zu können und in diesem Entwerfen sein eigenes Sein zu wählen und sich einzusetzen. Wenn der Mensch sich einsetzen muß, wenn er sich wählen muß, haben wir dann überhaupt noch ein Recht, von Freiheit zu sprechen — zeugt dies «muß» nicht von einem Zwang? Wir hatten schon auf Sartres Formulierung hingewiesen: zur Freiheit verdammt zu * Diese Unterscheidung des neutralen, festgelegten Raumes vom Raum des Daseins hat Sartre von Heidegger übernommen. Vgl. «Sein und Zeit», Kap. 23, und zur Interpretation «Le Concept du monde chez Heidegger» vom Verf.
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sein. Wir können, wenn wir sein wollen, nicht anders sein als frei, d. h. als uns ständig einsetzend, ständig entwerfend. Das der Wahl Ausweichen ist auch ein Sich-wählen, sagten wir. Worin besteht dann aber die Freiheit? Daß die Wahl, die wir treffen, nicht durch die Umstände, durch das Gegebene bedingt ist. Ob wir tapfer oder feige sind, das bestimmen nie die Umstände, sondern wir selbst, ob wir glücklich oder unglücklich sind, das hängt auch von unserem Entwurf ab. Die Freiheit ist selbst nichts Gegebenes, sondern etwas Werdendes, etwas im Vollzug Entstehendes. Allerdings darf die Identifizierung unseres Seins mit der Freiheit nicht so mißverstanden werden, als ob wir der Grund unseres Seins wären. Wird aber durch die Wahl, den Entwurf, meine Freiheit nicht aufgehoben? Das ist nicht der Fall, da durch die grundlegende Wahl meines Seins ein Spielraum von Möglichkeiten eigens eröffnet wird. Meine Freiheit offenbart sich zudem auch darin, daß ich diesen Grundentwurf wiederum in Frage stellen oder bestätigen kann. Meine Freiheit unterhöhlt meine Freiheit, sagt Sartre. Das bedeutet, daß selbst der Grundentwurf nichts Endgültiges, ein für allemal Festgelegtes, Unwandelbares ist. Allerdmgs erhebt sich dann die Frage, inwiefern er dann noch überhaupt als Grundentwurf bezeichnet werden kann. Es soll nicht verschwiegen werden, daß Sartre über den Grundentwurf in einer gewissen Allgemeinheit spricht. Die geplante, zu vollbringende existentielle Psychoanalyse soll seiner Untersuchung gewidmet sein. Gingen wir die Frage der Freiheit von der Wahl aus an und wurde dabei unterstrichen, daß die Wahl nicht durch das Gegebene bedingt ist, so könnte der Eindruck entstehen, als ob diese Wahl im luftleeren Raum vollzogen würde. Nichts liegt jedoch Sartre ferner — deswegen muß nun der Zusammenhang von Freiheit und Faktizität erörtert werden.
FREIHEIT UND FAKTIZITÄT: SITUATION Ein Einwand drängt sich auf, der Einwand des gesunden Menschenverstandes: Weit entfernt, daß wir unsere Situation zoillkürlich ändern können, scheint es sogar, daß wir nicht einmal uns selbst ändern können. Ich bin weder «frei», dem Schicksal meiner Klasse, meines Volkes, meiner Familie zu entgehen, noch auch mir Einfluß oder ein Vermögen zu schaffen, noch meine unbedeutendsten Neigungen oder meine Gewohnheiten zu besiegen. Ich komme als Arbeiter zur Welt, als Franzose, mit Erbsyphilis oder Tuberkulose. Die Geschichte eines beliebigen Lebens ist die Geschichte eines Scheiterns ... Viel mehr als er «sich zu machen» scheint, wird der Mensch scheinbar «gemacht» vorn Klima und der Erde, von der Russe und der Klasse, der Sprache, der Geschichte des Kollektivs, dem er angehört, von der Erbmasse, den individuellen Umständen seiner Kind-
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Sartre in dem Film «La Vie commence demain» («Das Leben beginnt morgen»). Links: Jean-Pierre Aumont heit, den angenommenen Gewohnheiten, den großen und kleinen Ereignissen seines Lebens."7
Hier werden alle Bedingtheiten aufgezählt, denen wir unterworfen sind. Sie scheinen endgültig die These zu widerlegen, daß der Mensch sich selbst wählt, daß er in und durch diese Wahl sich selbst verwirklicht. Beginnen wir also mit dem nächstliegenden, dem Widerstand, den die Dinge im Umgang mit ihnen leisten. Das ist ja offensichtlich ein ganz handfestes Argument. Wir gebrauchen hierbei den Begriff Ding so weit, daß er nicht nur die vom Menschen gefertigten Gebrauchsgegenstände umfaßt, sondern jegliches Seiende, gerade auch das von Natur aus Seiende. Wir wollen einen unbekannten Berg besteigen, unterwegs stoßen wir auf solche Schwierigkeiten, daß wir gezwungen werden, das Unternehmen aufzugeben. Wirkt es nicht lächerlich zu sagen: es stand in unserer Freiheit, es stand in unserer Wahl, das Hindernis zu überwinden oder uns von ihm überwinden zu lassen? Zeigt sich nicht an diesem ganz simplen Beispiel, wie unfrei wir sind? Ist das über Freiheit Ausgeführte nicht ein selbstbetrügerisches Gerede, um uns über unsere miserable menschliche Ausgeliefertheit hinwegzutäuschen? Untersuchen wir den Sachverhalt näher. Zunächst die Ausdrucksweise : die Dinge leisten uns Widerstand. Wenn wir so sprechen, und das tun wir allgemein, dann personifizieren wir die Dinge, sie tun etwas, sie leisten etwas, eben den Widerstand, der uns hindert, das Ziel zu erreichen. Das ist eine naive Redeweise. Strenggenommen leisten die Dinge uns keinen Widerstand, sie sind einfach, wie sie
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sind. Damit sie überhaupt als widerständig erfahren werden können, müssen sie in einen menschlichen Entwurf einbezogen werden. Der Felsen steht doch nicht da, damit ich den Gipfel nicht erreichen kann. Erst wenn ich den Entwurf fasse, den Gipfel zu besteigen, kann überhaupt dieser Felsen als unüberwindliches Hindernis erscheinen. Für sich genommen ist er weder überwindlich noch unüberwindlich, sondern einfach ein Felsen. Der Zusammenhang Weg-Hitze-Felsen-Gipfel wird erst durch meinen Entwurf der Bergbesteigung zu einem solchen. Was besagt das? Wir können nicht einfach behaupten, durch das Sein ,der Dinge, also des unabhängig von uns Gegebenen, werde die Freiheit aufgehoben. Denn wie die Dinge sich uns darbieten, in welchem Zusammenhang, wie sie für uns einen Widerstand bilden oder nicht, das kann sich erst zeigen auf Grund unseres freien Entwurfes. Der Entwurf ist also die Voraussetzung für das Erscheinen der Dinge. Wir hatten früher schon gesagt, daß mit dem Entwurf sich für mich eine Grenze bildet und zugleich ich mich selbst bilde. Das bestätigt sich hier. Ich kann, wenn ich einen ganz anderen Entwurf bilde, den Felsen, der mir als unüberwindliches Hindernis erschien, als wunderbares Motiv für meine Farbaufnahme betrachten. Derselbe Felsen erscheint jetzt anders, weil er zu einem anderen Entwurf gehört. Noch ein weiteres Moment muß aber berücksichtigt werden, wenn wir auf das menschliche Handeln blicken. Wie wir die Sachlage bis jetzt darlegten, sind die Dinge einfach unserem Entwurf ausgeliefert. Es hat sich also eine Umkehrung der gewöhnlichen Meinung ergeben. Vielleicht ist diese einfache Umkehrung nicht viel besser als das, was sie umkehrt. Wie verhält sich das Gegebene zu dem menschlichen Sein, der menschlichen Freiheit? Besteht die Freiheit etwa darin, daß das Gegebene aufgehoben wird, keine Rolle mehr spielt? Oder sollte es eine andere Möglichkeit geben, die nicht einen der beiden Faktoren aufhebt, sondern beide bestehen läßt? Schon eine einfache Analyse des Sachverhaltes führt in der Tat zu diesem Ergebnis. Der Mensch erfährt sich in seiner Freiheit, indem er seinen Entwurf verwirklicht. Das bloße Setzen des Zieles genügt nicht. So etwas geschieht auch ständig im Traum. Unser Handeln tritt aber mit einem anderen Anspruch auf als dem, bloß geträumt zu sein. Woran liegt es, daß das Ziel der Verwirklichung bedarf? Daran, daß das Seiende in eine neue Ordnung, in einen neuen Zusammenhang gebracht werden muß. Wenn ich mein Haus bauen will, so muß ich doch eine Veränderung innerhalb des Seienden bewirken, es genügt nicht, die Pläne zu machen, auch nicht das nötige Kapital zu besorgen. Durch den Entwurf des Hausbaues stelle ich zwischen verschiedenem Seienden einen besonderen Zusammenhang her. Diese Veränderung des Seienden ist eine unerläßliche Bedingung für die Verwirklichung des von mir gesteckten Zieles. Wenn das stimmt, dann sehen wir, daß die Freiheit des Menschen, um sich als Freiheit erfahren und beweisen zu können, keineswegs das Gegebene ausschalten darf, sondern im Gegenteil auf es a n g e w i e s e n ist, um sich
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verwirklichen zu können. So kann dann Sartre sagen: . .. die Widerstände, die die Freiheit im Seienden enthüllt, weit davon entfernt, eine Gefahr für die Freiheit zu sein, ermöglichen es ihr erst viel mehr, als Freiheit aufzutauchen. Es kann ein freies Für-sich nur als eingesetzt in eine Widerstand leistende Welt geben.128 Anders ausgedrückt: die Widerständigkeit des Gegebenen muß nicht beseitigt werden, um der Freiheit des Handelns Platz zu machen, sondern diese Widerständigkeit ist eine unerläßliche Voraussetzung für die Verwirklichung der Freiheit. Der Weg vom Setzen des Zieles bis zu seinem Erreichen geht über das Gegebene. Das darf nicht so verstanden werden, als ob das Gegebene Ursache der Freiheit wäre. Gegebenes kann immer nur auf Gegebenes wirken und nicht auf das so andersartige Sein der Freiheit, im Bereich des Gegebenen ist alles durch eine durchgehende Kausalität determiniert. Das Gegebene ist auch nicht der Grund der Freiheit, denn so etwas wie Grund gibt es bloß durch den Entwurf des Menschen. Das Gegebene ist die pure Kontingenz, an deren Verneinung die zur Wahl werdende Freiheit sich erprobt.129 Um in diesem Zusammenhang noch einmal klarzustellen: Freiheit bedeutet nicht Beliebigkeit, Willkür, alles was man sich vornimmt, erreichen zu können, sondern Freiheit bedeutet «Selbstbestimmung». Und diese Selbstbestimmung bedarf des Gegebenen, um sich verwirklichen zu können. Könnte sie auf das Gegebene verzichten, dann würde sich die Verwirklichung der Freiheit von der bloß ersehnten oder erträumten Freiheit nicht unterscheiden. Freiheit heißt Selbstbestimmung durch den Entwurf seiner selbst (Wahl). Daß der Mensch sich wählen muß, um sein zu können, darüber vermag er nicht zu verfügen, das steht nicht mehr in seiner Freiheit, sondern ist ein Faktum, das er hinnehmen muß. Heidegger hatte den Begriff der Geworfenheit geprägt und darauf hingewiesen, daß der Entwurf des Daseins ein geworfener ist, daß mit anderen Worten der Entwerfende nicht Grund seiner selbst ist. Daß ich als Deutscher existiere, in einer bestimmten Zeit, mit bestimmter Begabung, darüber entscheide ich nicht, das muß ich als meine Geworfenheit übernehmen. Sartre überträgt die Geworfenheit auf das Wesen der Freiheit selbst. Daß ich als freies Wesen existiere, darüber kann ich nicht entscheiden, dazu bin ich geradezu verdammt. Faßt man nun, wie Sartre das tut, die Freiheit als Sich-Ioslösen vom An-sich-sein, als Sich-abstoßen vom An-sich-sein, so setzt sie als Freiheit das, wovon sie sich abstößt, voraus. Das in sich ruhende, seiner selbst erfüllte Sein (eine Deutung des Seins, die von der Heideggerschen ganz abweicht), bedarf keiner Freiheit. Bloß das durch Nichtigkeit gebrandmarkte Wesen, der Mensch, bedarf ihrer und zugleich bedarf er des Seins, als dessen Nichtung er auftaucht. Für diesen lichtenden Charakter der Freiheit gebraucht Sartre auch den Ausdruck Loch im Sein 130. Der Freiheit haftet ein Moment der Faktizität an, da es dem Menschen nicht freisteht, frei zu sein. 117
Dies ist aber nicht das einzige Moment der Faktizität, das andere ist die Bezogenheit auf das Sein. Diesen Bezug gilt es näher zu fassen, um so die Frage des Zusammenhangs von Freiheit und Gegebenheit, wir könnten auch sagen Vorgegebenheit, zu erklären, denn das Gegebene ist das, was der Freiheit vorgegeben ist, was vorliegt, womit sie zu rechnen hat, was sie berücksichtigen muß, z. B. die Freiheit stiftet durch das Entwerfen des Ziels einen bestimmten Zusammenhang innerhalb des Gegebenen. Fehlte jedes Gegebene, so könnte die Verwirklichung gar nicht vollbracht werden. Wie sich das Gegebene aber zur Verwirklichung eignet oder nicht eignet, darüber kann die Freiheit nicht entscheiden, das muß sie als Faktum hinnehmen. Ob der Boden, auf dem ich die Apfelplantage anlegen will, dazu geeignet ist oder nicht, das hängt nicht von meinem Entwurf ab, sondern von seiner Beschaffenheit. Mit dieser Beschaffenheit muß ich rechnen, sei es, daß ich sie verbessern will, durch Düngemittel, sei es, daß ich bestimmte Sorten auswähle, die zu diesem Boden passen. Der Boden ist, so wie ich ihn vorfinde. Wenn er Schwierigkeiten für die Anlegung einer Obstplantage darbietet, so entdecke ich diese Schwierigkeiten erst in dem Moment, als ich den Entwurf fasse, eine Obstplantage anzulegen. Das Einverleiben des Gegebenen in einen Entwurf läßt aus dem Zusammenspiel von Entwurf und Gegebenheit eine bestimmte Sit u a t i o n entstehen. Es gibt so etwas wie eine Situation nur für ein Wesen, das im Stande ist, sich auf Möglichkeiten zu entwerfen. Sprechen wir von einer Situation, so wollen wir aber damit zugleich aufdecken, daß die Freiheit dem Gegebenen Rechnung tragen muß. Solange das Moment der Wahl bei der Untersuchung der Freiheit im Vordergrund stand, solange also das Schwergewicht auf dem Entwerfenden lag, konnte dieser Begriff unerörtert bleiben; sobald wir aber untersuchen wollen, wie sich das Seiende zu dem jeweiligen Entwurf verhält, müssen wir diesen Begriff der Situation in den Mittelpunkt stellen. Wir stoßen hier auf eine gegenseitige Angewiesenheit. Das Gegebene ist auf den Entwurf angewiesen, um in eine Situation einzugehen, die Freiheit ist auf das Gegebene angewiesen, um sich verwirklichen zu können. Diese Angewiesenheit läßt sich in der paradoxen Form aussprechen:Es gibt Freiheit nur in S i t u a t i o n e n , und es gibt Situation nur durchFreiheit. 1 3 1 Um diese noch abstrakt klingende Aussage zu verdeutlichen, sei eine konkrete Analyse zweier zu meiner Freiheit gehörigen Momente versucht, nämlich meines Ortes und meiner Vergangenheit; zweier Momente, die in meiner Freiheit selbst zu ihrer Faktizität gehören. Andere derartige Momente sind mein Körper, meine Umwelt, meine Mitmenschen, der Tod. Ich komme auf die Welt an einem bestimmten Ort, den ich nicht gewählt habe. Die späteren Orte, die ich einnehme, lassen sich als Ortsveränderungen von diesem ersten Ort zurückverfolgen. Es scheint also so zu sein, als ob durch diesen ersten Ort meine Freiheit 118
Bei der jährlich stattfindenden «Vente des ecrivains anciens combattants», auf der Autoren ihre Werke verkaufen.
eine wesentliche Beschränkung erführe. Wir finden aber auch hier ein merkwürdig widersprüchliches Verhältnis. Der Mensch nimmt eine bestimmte Stelle ein inmitten des Seienden, zugleich — und das ist ein Gedanke, den Sartre von Heidegger übernimmt — gibt es so etwas wie einen Ort und eine Gegend erst auf Grund des Entwurfs des Menschen. Der Mensch ist das Wesen, durch das so etwas wie Räumlichkeit zu existieren beginnt. Der mathematisch konzipierte Raum ist ja nur eine bestimmte Verwandlung des unmittelbar gelebten Raumes, durch den der Mensch sich inmitten des Seienden einräumt, indem er dem bestimmten Seienden einen bestimmten 119
Platz zuweist, wobei dies Zuweisen des Platzes vom gebrauchenden Umgang mit den Dingen her erfolgt. So hat z. B. in einem Haus halt jeder zu diesem Haushalt gehörige Gegenstand den Ort inne der ihn leicht zugänglich macht. Von der Organisation des Zeugganzen her ist der jeweilige Ort des einzelnen Zeugs gerechtfertigt. Sehen wir nun den Ort an, den wir selbst einnehmen. Er erhält seine Bedeutung auf Grund des Entwurfes unserer selbst. ... in bezug auf das, was ich zu tun vorhabe — im Zusammenhange mit der Welt als Ganzheit und also mit meinem ganzen In-der-Welt-Sein —, erscheint mir mein Ort als eine Hilfe oder als eine Behinderung. Am Orte sein heißt zunächst, entfernt von... oder nahe bei... sein — das heißt, der Ort ist mit einem Sinn versehen in bezug auf ein noch nicht daseiendes Sein, was man erreichen will. Die Zugänglichkeit oder Unzugänglichkeit dieses Zieles bestimmt den Ort.132 Was besagt das? Der Ort, an dem ich mich befinde, den ich einnehme, ist nicht einfach eine Beschränkung meiner Freiheit, sondern meine Freiheit, durch den Entwurf meiner selbst, verleiht erst dem Ort seine bestimmte Bedeutung. Ganz abgesehen davon, daß ich meinen Ort zu verändern vermag — wenn ich studiere, lebe ich in einer Universitätsstadt, wenn ich Landwirtschaft betreiben will, lasse ich mich auf dem Lande nieder —, wird die Bedeutung des Ortes, also eines faktischen Momentes, für mich durch meinen Entwurf bestimmt 133.
Ich bin kein absolut freies Wesen, in dem Sinne, daß mich nicht beschränkte. Zu meinem Dasein gehören faktische Bestimmungen. Aber diese faktischen Bestimmungen werden mir erst vermittelst meines freien Entwurfes zugänglich. Und ich kann zu ihnen Stellung nehmen, sie z. B. verneinen, was ich im Ortswechsel tue. Damit mir der Ort als Beschränkung erscheinen kann, dazu muß ich vorher einen bestimmten Entwurf meiner selbst vollzogen haben, durch den der Ort als Hindernis empfunden wird.* So kommen wir zu dem Ergebnis, daß die Freiheit zu ihrem eigenen Wesen * Es sei hier auf ein Beispiel Sartres verwiesen. Lebe ich in irgendeiner Kleinstadt, so kann man sagen, das hindert mich, nach New York zu reisen. Lebte ich in einer Weltstadt, so wäre das gar nichts Außergewöhnliches. Aber da stoßen wir auf das schon bekannte Phänomen: erst der Entwurf der Reise nach New York läßt mir die Kleinstadt als Hindernis erscheinen. Wäre ich Markensammler, so wäre das Leben in der Kleinstadt und ihre Entfernung von New York für mich bedeutungslos. Im Lichte des Entwurfes einer Reise nach New York situiere ich mich überhaupt erst in der Stadt als Kleinstadt, als schwerfällig usw. Wir müssen aber untersuchen, ob der Entwurf der Reise nach New York nicht nur ein Vorwand ist, mich über das Leben in der Kleinstadt zu beklagen. Ist das der Fall, dann will ich meine Kleinstadt gar nicht verlassen, sondern will bloß Kritik an ihr üben und die Undurchführbarkeit meiner Reise ist eine Art Selbstbetrug, denn ich will ja von der Stadt gar nicht fort, will aber zugleich doch Abstand von ihr nehmen, will mir selbst und den Anderen zeigen, daß ich mich mit der Stadt nicht identifiziere. Ob ich den Reiseentwurf ernst nehme, das liegt letzten Endes allein an mir selbst.
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der Faktizität bedarf, als ihrer Beschränkung. Es kann nur b e s c h r ä n k t e Freiheit geben, da die Freiheit Wahl ist. Jede Wahl setzt, wie wir sehen werden, Elimination und Auswahl voraus. So kann die Freiheit nur wirklich frei sein, indem sie die Faktizität als ihre eigene Beschränkung konstituiert.134 Werden also in unserer Existenz faktische Momente aufgewiesen so ist dadurch keineswegs die These widerlegt, daß wir freie Wesen sind, denn ohne Freiheit wäre die Faktizität unserer selbst gar nicht zugänglich. In der Freiheit als Freiheit zum eigenen Entwurf liegt nicht nur ein Entwerfen von Möglichkeiten, sondern, worauf Heidegger in «Vom Wesen des Grundes» hingewiesen hat, mit jedem Entwurf von Möglichkeiten geschieht auch zugleich ein Entzug, da durch die gewählten Möglichkeiten andere Möglichkeiten nicht mehr in Frage kommen. Die Freiheit in ihrem Vollzug ist zugleich auch Beschränkung, jede Auswahl ist ja ein Herausgreifen von bestimmtem und ein Abweisen von anderem. Statt sich auszuschließen gehören also Faktizität und Freiheit zusammen. Nun ließe sich allerdings einwenden, der Ort, an dem wir sind, sei etwas sekundär Faktisches, wir können ihn ja leicht wechseln. Es gibt aber anderes Faktisches, mit dem wir nicht so leicht umsprin gen können, davon wollen wir nun eines untersuchen: die Vergangenheit. Die Freiheit, die auf die Zukunft hin entweicht, kann sich nicht eine Vergangenheit nach Gutdünken zulegen, erst recht kann sie sich nicht ohne Vergangenheit hervorbringen. Sie hat ihre eigene Vergangenheit zu sein, und diese Vergangenheit ist unabänderlich; in erster Annäherung sieht es sogar so aus, als ob sie sie auf keine Weise verändern könne: die Vergangenheit ist das, was aufler Reichweite liegt und was uns von fern her heimsucht, ohne daß wir uns auch nur ihm voll zuwenden könnten, um es zu betrachtend Das Entwerfen ist ein Vorauseilen in den Bereich des Noch-nichtSeienden, im Entwerfen sind wir in der Zukunft, zeitigen wir die Zukunft. Um aber entwerfen zu können, müssen wir schon sein, müssen wir schon eine bestimmte Vergangenheit haben. So beliebig zunächst das Entwerfen aussieht, so unwiderruflich erscheint die Ver gangenheit. Sie ist das in unserem Leben, was erstarrt ist, wozu wir keinen Zugang mehr haben, das wir nicht verändern können. Die Freiheit kann nicht einfach die Vergangenheit leugnen, sondern muß sie übernehmen, muß sie aushalten. Auch hier stoßen wir aber auf eine merkwürdige gegenseitige Angewiesenheit: Ich könnte mich ohne Vergangenheit nicht verstehen, mehr noch, ich könnte ohne sie nichts mehr von mir d e n k e n , denn ich denke an das, was ich b i n und was ich in der Vergangenheit bin; andererseits bin ich aber das Sein, durch das die Vergangenheit zu sich und zur Welt kommt.1!6 Inwiefern kann behauptet werden, daß durch mich, durch mein Sein überhaupt erst die Vergangenheit zur Vergangenheit wird, und es so etwas wie Vergangenheit auf der Welt gibt?
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Versuchen wir einen Entwurf nachzuvollziehen. Ich wohne in eier sehr lärmenden Gegend, gegenüber wird in einer kleinen Reparaturwerkstätte ständig gehämmert, gefeilt, die Hupe ausprobiert, die Kinder toben auf dem Platz von nebenan von frühmorgens. Wonach ich strebe, ist Ruhe. Die Ruhe ist in meiner jetzigen Wohnung abwesend, sie ermangelt mir, sie fehlt mir. Um überhaupt dieses Fehlen feststellen zu können, muß ich die Möglichkeit haben, über meine gegenwärtige Lage hinauszusein. Wenn ich immer am Gegebenen kleben würde, könnte ich so etwas wie Abwesenheit gar nicht erfassen, denn das Abwesende ist nicht da. Um die jetzige Wohnung als lärmend zu empfinden, muß ich die Möglichkeit haben, mir eine ruhige Wohnung, die ich nicht habe, vorzustellen. Erst wenn ich das kann, kann ich überhaupt die Feststellung machen, daß die jetzige Wohnung einen großen Fehler hat. Dieser Fehler wird also erst durch das Überschreiten der gegebenen Situation sichtbar. Und das Überschreiten ist nichts anderes, als das, was wir den Entwurf nannten. Durch den Entwurf wird also das schon Bestehende in seinem Sein zugänglich. Andererseits kann es auch nur einen Entwurf geben im Ausgang vom Schon-Bestehenden, bzw. meinem Schon-Sein, also meiner Gegenwart und meiner Vergangenheit. Damit ich aber überhaupt das Bestehende und Vergangene als solches begreife, muß ich mich auf die Zukunft entworfen haben. In Sartres Formulierung: Man sieht, wie die Vergangenheit für die Wahl der Zukunft zugleich unentbehrlich ist. und zwar in ihrer Eigenschaft als «das, was geändert werden muß», wie folglich kein freies Überschreiten stattfinden kann, es sei denn von einer Vergangenheit aus, und wie andererseits dieses Wesen des Vergangen(seins) der Vergangenheit aus der ursprünglichen Wahl des Zukünftigen zukommt.137 Das Vergangene, insofern es vergangen ist, ist nicht mehr zu ändern, denn jede Änderung schafft ja etwas Neues. Diese Unveränderlichkeit des Vergangenen ist die Voraussetzung für die Verwirklichung des Zukünftigen. Weil das Vergangene mir entzogen ist, muß ich mich ständig auf Zukünftiges entwerfen, wenn ich etwas verwirklichen will. Nun ist es aber nicht so, daß meine eigene Vergangenheit mir einfach entschwunden wäre, so wie man von einem historischen Ereignis, das vor 200 Jahren stattgefunden hat, sagen kann, das sei nicht mehr. Meine Vergangenheit ist nicht einfach weg, ich bin sie noch (weswegen Heidegger den Terminus Gewesenheit einführt, um dieses eigentümliche Gegenwärtig-sein der Vergangenheit zu fassen). Kann jedes Entwerfen nur von einem schon Seienden her erfolgen, dann ist das Gewesene und Gegenwärtige im Entwerfen selbst noch da. Das Entwerfen verwirft nicht einfach das Gewesene, sondern behält es, auch und gerade wenn es es ändern will. Behalte ich nicht genau, was in meiner alten Wohnung mein Mißfallen erregte, dann weiß ich gar nicht, wie ich die neue wählen soll, wie sie beschaffen sein muß. Was so von einem Objekt gilt, das gilt erst n
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1954: Mit Simone de Beauvoir in Schweden
recht, wenn es um mich selbst geht. Hahe ich nicht meine Schwächen und Fehler gegenwärtig, so weiß ich nicht, wogegen ich ankämpfen muß, worauf ich mich verlassen kann, wovor ich mich in acht nehmen muß. Wähle ich einen Beruf, so kann ich das nur, wenn ich weiß, welche Veranlagungen und welche Mängel ich habe, wie ich also bin und war. Die Freiheit ist Wahl eines Zieles im Dienste der Vergangenheit ^8 — zugleich aber erscheint mir meine Vergangenheit im Lichte des Entwurfs, also des gewählten Zieles. Möchte ich in der Politik erfolgreich sein, ist dies mein Entwurf, dann erscheint im Lichte dieses Entwurfs meine Vergangenheit als völlig unzureichend, denn alle Momente, die zu einer erfolgreichen politischen Karriere gehörten, fehlten, wie z. B. die Mitgliedschaft in einer großen Partei, Beziehungen, Bekanntschaften mit einflußreichen Personen aus der Welt der Wirtschaft, der Gewerkschaften, der Kirche und was dergleichen mehr. Fasse ich einen anderen Entwurf, dann erscheint meine Vergangenheit plötzlich ganz anders. So stoßen wir auf die gleiche Angewiesenheit zwischen Vergangenheit und Zukunft wie bei der Analyse des Ortes zwischen dem Gegebenen und der Wahl. Aus dem Gesagten ergibt sich aber zugleich etwas Neues. Die 124
Starrheit der Vergangenheit ist keineswegs so absolut, wie wir das zuerst annahmen. Gewiß, was in meiner Vergangenheit geschehen ist, das ist als solches, als pures Faktum nicht mehr zu ändern, aber Jie Bedeutung, der Sinn dieser Tatsache, der steht keineswegs von vornherein fest, sondern hängt vielmehr von meiner Zukunft ab. Ein Mißerfolg in der Schule z. B. ist einfach ein Datum meiner Vergangenheit; ob ich von ihm nicht loskomme, ob mir dieser Mißerfolg ständig gegenwärtig bleibt oder ich ihn als einen unbedeutenden Zwischenfall betrachte, das hängt alles von der Wahl meiner selbst ab. Der Grundentwurf, der ich bin, entscheidet absolut über die Bedeutung, die für mich und für die Anderen die Vergangenheit haben kann, die ich zu sein habe. Ich allein kann nämlich in jedem Wkugenblick über die T r a g w e i t e der Vergangenheit entscheiden: nicht indem ich in jedem Falle die Wichtigkeit dieses oder jenes früheren Ereignisses erörtere, erwäge, beurteile, sondern indem ich mich auf meine Ziele hin entwerfe, nehme ich die Vergangenheit mit mir und e n t s c h e i d e durch das Handeln über ihre Bedeutung.139 Es gehört zu meiner Faktizität, daß ich meine Vergangenheit sein muß, aber dadurch wird meine Freiheit keineswegs aufgehoben. Durch den Entwurf gibt sie der Vergangenheit allererst einen Sinn. So bleibt die Vergangenheit ständig gegenwärtig, habe ich meine Vergangenheit ständig zu sein. Ob sie zum unerträglichen Ballast wird, an dem ich zugrunde gehe, oder zu einer Quelle der Stärkung, der Anregung, das hängt vom Entwurf meiner selbst ab. Denn die Zukunft entscheidet, ob die Vergangenheit lebendig oder tot ist.140 Weil unsere Vergangenheit durch den Entwurf des Ziels erst ihren Sinn erhält, sagt dann Sartre sogar: wir wählen unsere Vergangenheit. Das darf natürlich nicht so verstanden werden, daß wir uns eine Vergangenheit zurechtmachen (was wir oft auch tun, was aber in den Zusammenhang der Problematik der Unaufrichtigkeit gehört), sondern so, daß wir unsere Vergangenheit in unseren Entwurf einverleiben müssen. Mit der Verwirklichung nimmt er eine Stelle ein in der Welt, wird den Mitmenschen zuganglich, und auch mir selbst. Wir versuchten zu zeigen, wie die Vergangenheit keineswegs die Freiheit aufhebt, wie Freiheit und Vergangenheit zusammenspielen in der für die Situation eigentümlichen Weise. Die Freiheit gibt der Vergangenheit ihren Sinn, die Vergangenheit übt eine begrenzende, bestimmende Funktion auf die Freiheit. Damit soll keineswegs gesagt werden, daß der Bezug zur Vergangenheit bei jedem Menschen gleich sei, dies Zusammenspiel von Vergangenheit und Freiheit ist je nach dem Entwurf des Einzelnen verschieden. Es sei hier bloß auf zwei Grenzfälle hingewiesen: die Existenz, die einen ständigen Fortschritt anstrebt, auf die eigene Vergangenheit mit Verachtung zurückblickt, sich ständig von ihr abstoßen will, und diejenige Existenz, die in der Solidarität mit der Vergangenheit ihr höchstes Ziel sieht, die Treue zur Vergangenheit zu verwirklichen bestrebt ist. Bis jetzt galt es sichtbar zu machen, i. daß der Bezug zum Gege125
benen, das nicht von mir geschaffen wurde und unabhängig von mir ist, meine Freiheit nicht aufhebt, und 2. daß auch der Bezug zur eigenen Vergangenheit meine Freiheit nicht aufhebt, obgleich in der Vergangenheit eine bestimmte Begrenzung für mich liegt. Kann es aber nicht sein, daß meine Freiheit trotzdem illusorisch ist? Nanv lieh durch die Einwirkung des Mitmenschen? * Auf den Mitmenschen als beschränkendes Moment, als zu meiner Faktizität gehörig/ haben wir noch keine Rücksicht genommen. Die Welt, in der ich lebe, ist durch eine Reihe von Sinngebungen bestimmt (ein Moment, auf das schon Husserl hinwies), die nicht von mir stammen. Wenn, wie wir zu zeigen versuchten, durch die Sinngebungen meiner Entl würfe meine Welt mir zugänglich wird, dann bin ich durch das Verwiesensein auf die Sinngebungen der Anderen in ihrer Welt und nicht in der meinigen. Die Sinngebungen der Anderen und was damit verbunden ist, z. B. verschiedene Techniken des Umgangs mit den Dingen, müssen wir als ein Moment der Vorgegebenheit ansehen, dem wir Rechnung zu tragen haben. Frei sein heißt nicht, die geschichtliche Welt, indem man auftaucht, erwählen — was keinen Sinn hätte —, sondern sich in der Welt, was für eine sie auch sein mag, erwählen. 141 Um zur Verdeutlichung ein Bild zu gebrauchen. Der Bildhauer ist dadurch, daß er ein bestimmtes Material bearbeitet, Marmor, Stein, Metall, Holz, gebunden. Aber diese Bindung beschränkt keineswegs seinen künstlerischen Erfindungsreichtum, seine Originalität. Die unmittelbare Auseinandersetzung mit dem Anderen erfolgt im Blicken und Angeblickt-werden.** Wie wirkt sich das auf meine Freiheit aus? Es ist nach Sartre die Begrenzung meiner Freiheit. Die wirkliche Grenze für meine Freiheit besteht in weiter nichts als eben der Tatsache, daß ein Anderer mich als Objekt-Anderen erfaßt und in der anderen daraus sich ergebenden Tatsache, daß meine Situation. für den Anderen keine Situation mehr ist, und zu einer objektiven Gestalt wird, in der ich als objektive Struktur vorhanden bin. Diese entfremdende Objektivierung meiner Situation ist die ständige und spezifische Grenze meiner Situation.142 Ich werde also im Blick des Anderen zu einem puren Gegenstand, einem puren Objekt für den Anderen, das heißt einem ein für allemal festgelegten Ding. Hand in Hand damit geht, daß das, was für mich Situation ist, also etwas aus dem Zusammenspiel von Freiheit und Bedingtheit Entsprungenes, von den Anderen wiederum als eine festgelegte objektive Form angesehen wird. In dieser Betrachtung durch den Anderen erfahre ich eine neue Dimension meines Seins, nämlich die Möglichkeit der Entfremdung. Bis jetzt konnten wir sie bei der Untersuchung der Freiheit übersehen, weil ja überhaupt erst einmal herausgestellt werden mußte, wie meine Freiheit zur Verwirklichung kommt. Jetzt darf diese Begrenzung durch den Anderen nicht * Vgl. Das Sein und das Nichts. Mein Nächster, S. 644 f ** Vgl. «Der Blick», S. 43 f
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mehr verschwiegen werden. Sie gehört zu meiner Faktizität. Mein Überstieg, der jeweils im Entwurf meiner selbst vollzogen wird, kann durch den Anderen wiederum überstiegen werden. In der Freiheit des Anderen findet meine Freiheit ihre Grenze. Das hebt keineswegs das bisher über die Situation Gesagte auf, sondern fügt als neues Moment hinzu, daß die Situation nicht nur für mich ist, sondern auch eine Art Äußerlichkeit hat, ihr Sein für den Anderen. Zur Entfremdung gehört nicht nur, daß der Andere meine Situation nicht als Situation ansieht, sondern als etwas einfach Gegebenes, sondern auch, daß ich kein Wissen davon habe, wie sich in seinem Verständnis der Sinn der Situation wandelt. Indem ich meine Situation verwirkliche, leiste ich etwas, das mir entgeht, das ich nicht gewählt habe. Diese Grenzen der Freiheit, die nicht im Entwerfenden selbst liegen, können von ihm doch übernommen werden, dadurch, daß er den Anderen als Anderen anerkennt. Die Anerkennung bedeutet, daß ich freiwillig übernehme, für-ihn zu sein. Ich kann mich als vom Anderen Begrenzten nur insofern erfassen, als der Andere für mich existiert, und ich kann, daß der Andere für mich als anerkannte Subjektivität existiert, nur dadurch bewirken, daß ich mein Für-AndereSein auf mich nehmet Indem ich das Entfremdet-sein durch den Anderen übernehme, freiwillig übernehme, erfahre ich seine Transzendenz, seine Möglichkeit des Überstiegs. Daß die Übernahme freiwillig ist, muß betont werden. Ich kann die Übernahme auch verweigern, dann bedeutet das, daß ich dem Anderen nicht das Recht zuerkenne, daß er mich beurteilt. Merkwürdigerweise wird diese Möglichkeit von Sartre nur am Rande vermerkt, wogegen das Ausgeliefert-sein an den Anderen im Mittelpunkt steht. Daß die Grenzen der Freiheit die Freiheit nicht aufheben, ist daraus ersichtlich, daß ich in meinem Entwurf mich als Freiheit wähle, die durch die Freiheit des Anderen begrenzt ist. Es ist eine äußere Begrenzung, die den Entwurf selbst keineswegs vernichtet, ja überhaupt kein wirkliches Hindernis für den Entwurf sein darf. Da die Begrenzungals äußerliche im Anderen gegenwärtig ist, kann ich sie gar nicht erfahren und folglich auch nicht erleiden. 127
Die Freiheit ist vollkommen und unendlich, was nicht besage will, daß sie keine Grenzen h a b e , sondern daß sie ihnen n i e r n a l s b e g e g n e t . Die einzigen Grenzen, auf die die Freiheit jeden Augen144 blick stößt, sind diejenigen, die sie sich selbst auferlegt.
FREIHEIT UND VERANTWORTUNG Die Bedingtheit hebt die Freiheit nicht auf, die Freiheit bedarf geradezu des Widerstandes des Gegebenen, um sich als Freiheit verwirklichen zu können. Bei der Erläuterung des Begriffs der Situation wurde auf dieses Zusammenspiel von Freiheit und Faktizität hingewiesen Ich kann mein eigenes Sein, nur erlangen im Entwerfen meiner selbst im Ausgang von bestimmten Gegebenheiten. Der Mensch schafft die Gegebenheiten nicht, aber er verleiht ihnen durch seinen Entwurf Sinn, denn sie werden seiner Welt einverleibt. Weder die dinglichen Gegebenheiten noch die in meiner Vergangenheit enthaltene Faktizität oder das Sein der Anderen vermögen meine Freiheit aufzuheben. Daraus ergibt sich die Verantwortung des Menschen für die Welt, in der er lebt, und für sein eigenes Sein. Die Verantwortlichkeit des Für-sich (ist) drückend, denn es ist ja das, wodurch es geschieht, daß es eine Welt g i b t; und da es auch das ist, was s i c h s e l b st m a c h t (welches auch die Situation sein mag, in der es sich befindet), muß das Für-sich diese Situation samt ihrem gegebenenfalls unerträglichen Feindseligkeitskoeffizienten im ganzen übernehmen, es wird sie mit dem stolzen Bewußtsein übernehmen, ihr Urheber zu sein, denn die schlimmsten Unannehmlichkeiten und die schlimmsten Drohungen, die meine Person möglicherweise erreichen, haben Sinn nur infolge meines Entwurfs; und sie erscheinen auf dem Hintergrund des Sicheinsetzens, das ich bin. Es ist also unsinnig, sich beklagen zu wollen, denn nichts Fremdes hat über das entschieden, was wir fühlen, was wir erleben oder was wir sind.1® Es sei zunächst daran erinnert, daß die Behauptung, durch mich gebe es so etwas wie Welt, natürlich nicht so verstanden werden darf, als ob ich die Dinge der Welt erschaffen hätte. Welche Bedeutung die Dinge für mich haben, in welchen Sinnzusammenhang sie gestellt werden, das geschieht durch mich — so bildet jeder Mensch notwendig seine Welt. Das bedeutet nicht, daß ich bei meinem Welt-bilden nicht vom Welt-bilden der Anderen beeinflußt werden kann, sondern bloß, daß mir die Dinge erst zugänglich werden durch das Herstellen eines Sinnzusammenhanges. Dieser Sinnzusammenhang ist abhängig vom Grundentwurf meiner selbst. Die zweite Behauptung, daß der Mensch sich selbst macht, haben wir auch schon erläutert, es ist die entscheidende These, daß der Mensch nicht einfach ist, sobald er auf die Welt kommt, sondern daß er das merkwürdige Wesen ist, das sein Sein als Aufgabe gestellt bekommen hat, daß er sein Sein zu verwirklichen hat: «werde, was du bist».
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Bei der Erläuterung des Beiffs der Situation wurde geigt, wie es so etwas wie Z jne Situation nur für den Menschen gibt. Denn er ist für die Situation verantwortlich, durch seine Stellungnahme zum Gegebenen, sei es die Ablehnung, die Bekämpfung oder die Hinnahme. Es gibt in der Situation nichts für ihn Gleichgültiges, denn er ist seine Situation. Wie die Dinge zu mir stehen, wie die Ereignisse mich angehen, das hängt von mir selbst und meiner Stellungnahme zu ihnen ab. Das heißt also keineswegs, daß ich eben alles über mich ergehen lassen und mich mit allem abfinden muß. Es bedeutet vielmehr, daß meine Stellung zu den Dingen und den Ereignissen abhängig ist von meinem freien Entwurf. Je nach dem Entwurf meiner selbst erhalten auch die abträglichsten Ereignisse ihren Sinn; niemand anders als ich selbst bin für diesen Sinn zuständig. Ein Einwand taucht sofort auf. Es gibt doch Ereignisse, wie den Krieg, den ich nicht gewollt habe; wie kann man sagen, ich sei dafür verantwortlich? Wie kann man da noch behaupten, es gäbe keine bösen Zufälle ^6 in einem Leben? ... wenn ich in einem Krieg einberufen werde, ist dieser Krieg m e i n Krieg, weil ich jederzeit mich ihm hätte entziehen können, durch Selbstmord oder Fahnenflucht: diese äußersten Möglichkeiten 1939: Sartre als Soldat
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sind diejenigen, die uns immer gegenwärtig sein müssen, wenn es darum geht, eine Situation ins Auge zu fassen. Da ich mich ihm nicht entzogen habe, habe ich ihn gewählt; das kann aus Energiemangel oder aus Feigheit gegenüber der öffentlichen Meinung geschehen, weil ich nämlich gewisse Werte höher schätze als eben den einer Weig e. rung, in den Krieg zu ziehen (die Hochschätzung seitens meiner Angehörigen, die Ehre meiner Familie usw.). Wie dem auch sei, es handelt sich um eine Wahl. Diese Wahl wird in der Folge ununterbrochen bis zum Ende des Krieges wiederholt... Wenn ich einmal den Krieg dem Tode oder der Unehre vorgezogen habe, verläuft alles so, als träge ich die volle Verantwortung für diesen Krieg. Ohne Zweifel haben Andere ihn erklärt, und man könnte vielleicht versucht sein, mich als bloßen Mitschuldigen zu betrachten. Aber dieser Begriff der Mitschuld hat nur einen juristischen Sinn, hier hält er nicht stand; denn es hätte von m i r abgehangen, daß dieser Krieg für mich und durch mich nicht existierte, und ich habe entschieden, daß er existiert.147 Wir stoßen hier auf eine Grenzform der Wahl. Ich hätte mich nach Sartre dem Krieg entziehen können, durch Selbstmord oder durch Fahnenflucht, sofern ich es nicht getan habe, habe ich mir den Krieg zu eigen gemacht und bin für ihn verantwortlich. Jeden Tag mache ich mir den Krieg zu eigen, durch meine Verhaltungsweisen, die durch das Soldat-sein bestimmt sind. Es ist sinnlos, zu fragen, was aus mir geworden wäre, wenn es keinen Krieg gegeben hätte, denn ich bin in eine bestimmte Epoche der Geschichte geworfen und muß mit dem darin Gegebenen fertig werden, muß es in meine Situation aufnehmen. Wir stoßen überall auf die Faktizität, aber sie befreit uns nie von unserer Verantwortung, denn als Mensch leben bedeutet, das Faktische in einen Sinn-Entwurf aufnehmen. Obgleich der Mensch weder Grund seines eigenen Seins, noch des Seins des Mitmenschen, noch des Seins der Dinge, die zur Welt gehören, ist, ist er gezwungen, über den Sinn seines eigenen Seins und des Seins außer ihm zu entscheiden. Der Ausdruck dieser paradoxen Situation ist nach Sartre das Gefühl der Angst. Heidegger hatte in seiner Antrittsvorlesung «Was ist Metaphysik?» die Angst als Erfahrung des Nichts gedeutet, eine grundlegende Erfahrung, weil erst durch das Ausstehen des Nichts überhaupt der Gegensatz von Nichts und Sein gefaßt werden kann und die entscheidende Frage der Metaphysik lautet: Warum ist Seiendes und nicht vielmehr Nichts? Für Sartre ist die Angst die Erfahrung der eigenen Nichtigkeit und zugleich der eigenen Freiheit und damit der Verantwortung. Wenn wir diese Verantwortung nicht mehr ertragen können, dann fliehen wir vor der Angst in die Unaufrichtigkeit. Die Ausführungen über die Verantwortung sind kennzeichnend für Sartres Haltung als Philosoph und als Schriftsteller. Sie mögen theoretisch anfechtbar sein, es mag nicht schwer sein, das Übertriebene an ihnen herauszustellen. Aber Sartre tritt ausdrücklich mit dem Anspruch auf, uns aus der Unaufrichtigkeit herauszureißen und uns
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zur Verantwortung zu zwingen. Was in diesem Zusammenhang alles noch sehr theoretisch klingt, das versucht er in seiner schriftstellerisch-journalistischen Tätigkeit zu realisieren. Er fühlt sich verantwortlich für den Indochina-Krieg, den Ungarn-Freiheitskampf, den Algerien-Krieg — um hier nur einige Beispiele anzuführen. Seine Stellungnahmen sind häufig übertrieben, seine Wahl färbt auf seine Urteile notwendig ab; was ihm aber niemand bestreiten kann, ist der Versuch, die Menschen zur Verantwortung aufzurufen und selbst sich ständig dieser Verantwortung zu stellen. Nicht nur der Atomkrieg und seine Folgen für die Menschheit sollen uns aus unseren beschränkten Kreisen lösen und uns mitverantwortlich fühlen lassen, auch wenn jemand ungerecht verurteilt wird in irgendeinem entfernten Land, sind wir mitverantwortlich, um so mehr, je mehr man auf uns hört, je weiter unsere Stimme trägt. Solche unmittelbaren Stellungnahmen Sartres, in seiner Zeitschrift «Les Temps Modernes», sollen uns diese konkrete Haltung Sartres, die in seiner philosophischen Auffassung fundiert ist, näher bringen. Daß es dabei oft nicht leicht ist, richtig Stellung zu nehmen, das zeigte die Frage der Konzentrationslager in der Sowjetunion, über die die Freundschaft mit Camus in die Brüche ging. Denn Camus verlangte, daß hierin auch die volle Wahrheit verkündet und Übelstände angeprangert werden müßten, während Sartre der Ansicht war, eine solche Kritik würde nur die reaktionären Kräfte stärken und der Sache des Proletariats abträglich sein.* Damit sind wir unversehens bei dem Wirken Sartres angelangt, das wir das p o l e m i s c h e nennen können, wobei dieser Begriff keineswegs abschätzig verstanden werden soll.
SARTRE ALS POLEMIKER: LES TEMPS MODERNES 1945 gründete Sartre, gemeinsam mit seinem alten Freund aus der Studienzeit, dem Philosophen Merleau-Ponty, die Zeitschrift «Les Temps Modernes». Obwohl beide gleich an der Zeitschrift beteiligt waren, wollte Merleau-Ponty doch nicht als Mitdirektor auftreten, wie Sartre uns in dem eindrucksvollen, schon zitierten Nachruf auf Merleau-Ponty berichtet. Er enthält auch die bis heute eingehendste Darstellung der Geschichte dieser Zeitschrift, bis zum Bruch zwischen beiden Freunden im Jahre 1952. Die Zeitschrift sollte sowohl eine politische wie literarische Aufgabe erfüllen. Merleau-Ponty übernahm die politische Leitung. Die wichtigen Artikel wurden aber jeweils gemeinsam besprochen. Es soll hier nicht versucht werden, eine Geschichte dieser Zeitschrift zu geben, sondern wir werden einige Auszüge von Stellungnahmen Sartres bringen, um zu zeigen, in welcher Art *Vgl. «Die Mandarins von Paris» von Simone de Beauvoir, deren Personen Schlüsselfiguren sind. 131
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und Weise Sartre sich zu den aktuellen Fragen äußertr Nicht der Philosoph, auch nicht der Literat soll zu Wort kommen, sondern der Polemiker. Es ist also ein neuer Aspekt, der zu den bisher dargestellten dazugenommen werden muß, wenn wir auch nur einen annähernden Eindruck von Sartres Gestalt erhalten wollen. Nach dem ungarischen Freiheitskampf im Jahre 1956 veröffentlichte Sartre eine Sondernummer über die ungarische Erhebung. Eine 120 Seiten umfassende Analyse Sartres leitete die Nummer ein. Wir entnehmen daraus einige Stellen. Das Phantom Stalins Bei der Schriftsteller-Vereinigung, im Petöfi-Kreis, war die Bewegung der Intellektuellen vor allem k r i t i s c h und n e g a t i v : sie hatte sich auf eine ständig heftiger werdende Opposition festgelegt, statt positive Entwürfe für die Regierung aufzustellen; weil die Situation d i e s e H a l t u n g und keine andere forderte. Die Aufgabe der Intellektuellen war es, die Negativität zu vertreten. Es konnte sich nicht darum handeln, Rakosi einige Verbesserungen des Systems vorzuschlagen. Seine Verbrechen mußten für alle bloßgelegt werden, er mußte vollständiger Mißachtung anheimfallen und zur Abdankung gezwungen werden. Es ist bekannt, daß ihnen das gelungen ist. Wenn ihre Kritik auf die Arbeitermassen einen unbezweifelbaren Einfluß ausübte, so deswegen, weil sie negativ war. Die polnischen Ereignisse zeigten den Weg, der zu begehen war: man mußte sich zusammenschließen und vor jeder sonstigen Änderung nationale Kommunisten an die Macht bringen, die mit der Sowjetunion verhandeln konnten. Das ganze Land verlangte Nagy. Dieser Kommunist hatte ein gutes Spiel: weder das Programm noch die Methoden, der Rhythmus oder die Tragweite der Demokratisierung waren festgelegt worden. Augenblicklich bildete all das den Gegenstand energischer und präziser Forderungen, die jedoch den praktischen Möglichkeiten angepaßt und koordiniert werden mußten: der Schriftsteller, der den Jdanovismus anprangerte, und der Arbeiter, der eine Erhöhung seines Lohnes verlangte, trugen gemeinsam dazu bei, den Sinn und Gehalt der Demokratisierung zu bestimmen. Dazu war es auch erforderlich, im Ausgang von diesen Gegebenheiten eine Gesamtpolitik auszuarbeiten, die zugleich den russischen Dispositionen, den ungarischen Bestrebungen, der wirtschaftlichen Lage und den revolutionären Bedrohungen Rechnung trug. Das war das Glück von Nagy: die Demokratisierung mußte, wenigstens zu Beginn, für die Ungarn mit der Tätigkeit einer aufrichtigen Regierung identisch sein, die über eine politische Erfahrung verfügte, sich auf Fachleute und Techniker stützen konnte und fähig genug war, die Probleme in ihrer Gesamtheit ins Auge zu fassen. Indem er sich an die Spitze der Reformbewegung stellte, die ganze Wahrheit sagte, einige Forderungen ü b e r s c h r i t t , zugleich dem Land auch mitteilte, weswegen andere nicht unmittelbar erfüllt werden konnten, war die Regierung Nagys imstande, den
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Einfluß der Kommunistischen Partei zu vergrößern und den der Sozialdemokraten zu beschränken. Eine aufrichtige und totale Demok r a t i s i e r u n g machte die L i b e r a l i s i e r u n g unmöglich. In der Nacht vom 23. zum 24. wird alles umgeworfen; die Demokratisierung gerät in den Hintergrund, der sowjetische Angriff ruft einen Ausbruch des Nationalismus hervor. All die Menschen, die noch am Vorabend versuchten, sich über ein politisches und soziales Programm zu verständigen, treffen sich innerhalb der Einheitsfront, die spontan gebildet wurde und deren unmittelbare Aufgabe die Bekämpfung des Angreifers ist. Der russische Angriff hat ihre Bindungen verstärkt, ihre latente antisowjetische Einstellung kristallisieren lassen, diese in Aufruhr befindliche Bevölkerung zusammengeknetet, ihr neue Ziele gesetzt, die in erster Linie negativ waren. In diesem Aufruhr darf man keine blinde und unordentliche Reaktion sehen, noch eine organisierte Bewegung in einer einzigen Richtung... fahre der Bedrückung haben diese Menschen und die echten Bande, die sie vereinen, geformt. Die Einheit der Partei, ihrer Methoden und ihres Terrors haben im Volk — trotz der Verschiedenheit der Interessen — eine diffuse Einheit des Widerstandes geformt. Es handelte sich um identische, unorganisierte, aber nicht vereinzelte Reaktionen: niemand hatte es nötig zu sprechen, um zu wissen, daß seine persönliche Einstellung die aller war. Bei uns stützt sich die Ausbeutung auf zerstörerische Kräfte: eine ständige Anstrengung ist nötig, um die Einheit zu bewahren. Die Diktatur Räkosis dagegen, indem sie die Integration mit Gewalt 1 envaklichen wollte, brachte die Arbeiter einander näher, einander näher in der Ablehnung der Diktatur; indem sie sie durch falsche Bindungen zusammenbrachte, die ihre Abhängigkeit verbargen, brachte sie ihnen ihre eigentlichen Beziehungen zum Bewußtsein... Jede Gruppe von Kämpfern hat das Bewußtsein, das Volk als Ganzes zu repräsentieren, gerade weil ihre einzelne Reaktion eine Vereinzelung der allgemeinen Reaktion ist. Der einzelne Aufständische braucht nicht im Detail die Episoden der Schlacht zu kennen, für jeden Einzelnen sind diese zerstreuten Gefechte schon n a t i o n a l , sie enthalten das Versprechen und zeigen die Notwendigkeit der aufständischen Einheit. Jede Gruppe gibt sich einen Anführer; binnen kurzer Zeit werden zwischen den Verantwortlichen Verbindungen hergestellt: Einige von ihnen erhalten eine ganz besondere Bedeutung (am meisten hört man auf Maleter, einen Kommunisten). Aber der Aufstand wird bis zum Schluß eine mehrköpfige Hydra bleiben ... Herr Stil* weist verachtungsvoll auf die große Jugendlichkeit der Kämpfenden hin (eine Art von Halbstarken): diese Verachtung paßt wunderbar für den Vertreter eines verknöcherten Apparates, dem es nicht gelingt, unter den jungen Leuten Anhänger zu gewinnen und * Führender kommunistischer Schriftsteller Frankreichs. 23. Oktober 1956: Volksaufstand in Ungarn
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dessen Durchschnittsalter sich von Jahr zu Jahr erhöht. Aber seine Bemerkung kehrt sich gegen ihn selbst: im Jahre 194.5, im geteilten, verwüsteten, durch die Jahres des Faschismus belasteten Ungarn, auf wen konnte da das Regime zählen, wenn nicht auf die Jugend, die es bilden mußte? Es besaß zwölf Jahre, um diese Jugend an sich zu binden. Das einzige Ergebnis seiner Bemühungen war, daß die Jungen nun am eifrigsten darum bemüht waren, das Regime zu stürzen. Wie pedantisch und scholastisch mußten doch ihre Lehrer gewesen sein1. Wie simplistisch und dumm mußten sie die Lehre des Marxismus vorgetragen haben! Unter den Studenten gibt es diejenigen, denen Stalin Marx verleidet hat: da sie jeglichen Kontaktes mit der westlichen Kultur beraubt waren, besitzen sie keine Möglichkeit, die Ideologie zu wechseln. Sie wenden sich ihrer nationalen Literatur zu, die immer politisch war und die seit mehr als 100 Jahren die Bestrebungen des Volkes nach Unabhängigkeit widerspiegelt. Kein Zweifel, sie sind Nationalisten und nur Nationalisten; einige sind links gebliehen, aber ihr Haß des bürokratischen Despotismus dehnt sich auch auf die Prinzipien aus, die die Tyrannen für sich reklamieren: siewollenvor allem Fre i h e i t e n , die Freiheit zu sprechen und ihre Gedanken auszudrücken, die Freiheit zu kritisieren, die Freiheit informiert zu werden, die Freiheit,sich nachBelieben versammeln zu können. Diese durch-
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aus berechtigten Forderungen glauben sie leider nicht mehr auf einen Marxismus stützen zu können, von dem man ihnen nur den autoritären Aspekt gezeigt hat. So führen sie sie, wie einige Schriftsteller, zu einer unbewußten Rückkehr zu einer Art Anarchismus. Zweifellos kann diese Tendenz gefährlich werden. Aber erst nach langer Zeit: sie führte eher zu einer Disziplinlosigkeit als zum Faschismus; und die Disziplinlosigkeit verschwand, solange die Kämpfe dauerten, vor der freiwilligen Zucht der Kämpfenden. Und dann gab es die Anderen — vielleicht die Besten —, diejenigen, denen der beschränkte Katechismus des Stalinisten die unglaublichen Möglichkeiten des Marxismus nicht verbergen konnte. Sie kämpften, um die Kultur zu retten. Unter dem Namen des Rakosianismus bekämpfen zahlreiche Kleinbürger bewußt oder unbewußt den Sozialismus. Aber sie sind nicht sehr zahlreich zwischen den Aufständischen und es wäre ein schwerer Irrtum, sie mit den Mitgliedern des Apparates zu verwechseln, den Angehörigen der Kader, die bürgerlich lebten und von denen trotzdem einige zu den Waffen griffen. Vor allem ist es eine unbezweifelbare Wahrheit, daß die Arbeiter den Großteil der Kämpfenden bildeten. Hach einigen Erklärungen eines ungarischen Syndikatsmitgliedes, den die Leiter der C. G. T. * in Prag trafen, scheint es, daß die Arbeiter der industriellen Vororte zunächst nicht bewaffnet waren. Das ist erklärlich: der Aufstand brach im Zentrum Budapests aus, die ersten Waffenausgaben wurden in Eile von den Kasernen an die Menge vorgenommen: in der Menge gab es alles, Arbeiter, aber auch vor allem Studenten und Kleinbürger. Diese ersten Waffenausgaben haben sehr schnell die zugänglichen Vorräte erschöpft und während einigen Stunden oder einigen Tagen blieben die Angehörigen der großen Werke mit leeren Händen. Aber es ist heute erwiesen, daß Nagy systematisch das Proletariat bewaffnete — wahrscheinlich über die Syndikate —, um die wirklich revolutionären Kräfte einer möglichen Rückkehr der Reaktion gegenüberstellen zu können. Man wird das Zeugnis von Marschall Schukow, der am 30. Oktober sagte: «Ich bin der Ansicht, daß die Bewaffnung der Arbeiterklasse ein Beweis ist, daß die neue ungarische Regierung sich tatsächlich auf die Arbeiterklasse stützte», nicht bezweifeln. Unglücklicherweise für ihn hat sich •die Arbeiterklasse dieser Waffen bedient, um das ungarische Volk gegen die sowjetischen Soldaten zu verteidigen: in Csepel ist es, also bei den Arbeitern, daß die Schlacht am heftigsten wütet; da hat sie am längsten gedauert. Was hielte man bei uns von einem Aufstand, der sich vor allem in «dem roten Gürtel» von Paris abspielen würde?... Schlecht ernährt, schlecht untergebracht, überarbeitet, bespitzelt, gaben sich die Arbeiter trotz ihres Schweigens Rechenschaft von dem Gewicht, das sie besaßen, sie wurden sich ihrer eigentlichen Bedeutung bewußt. Bedrückt durch die erniedrigenden Lügen der Pro* Französische Gewerkschaft.
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paganda, durch die Polizei-Inquisition, fühlten sie doch ihren Wert, da man sie so außerordentlich notig hatte. So bestärkten die Widersprüche des Regimes ihren Mut und ihr Klassegefühl. Sie haben zu den Waffen gegriffen, um eine Tyrannei, die das Land an den Rand des Abgrundes brachte, zu stürzen, aber nie — ob es sich um Kommunisten handelte oder Sozialdemokraten — stellten sie die Sozialisierung der Industrie in trage: sie haben lange Zeit eingewilligt, sich für das sozialistische Ungarn zu opfern; sie haben revoltiert, als sie sahen, daß diese unnützen Opfer weder denUntergang der Nation verhinderten, noch die — früher oder später erfolgende—Auflösung der sozialistischen Grundlagen. Was man auch immer vom Aufstand in Budapest denken kann und was daraus erfolgt wäre ohne die Intervention vom 4. November, es kann nicht eindringlich genug auf die entscheidende Tatsache hingewiesen werden, die sie kennzeichnet: die Arbeitel standen unter Waffen, sie wollten nicht — weichet Wahn hätte sie dazu treiben können? — die Fabriken zurückerstatten, sondern, wie die Ereignisse es gezeigt haben, die Kontrolle der Industrie übernehmen, indem sie Unternehmungsausschüsse und
Arbeiterräte bildeten. Diese Arbeiterräte, die in den ersten Tagen des Aufstandes gebildet wurden, die nie aufhörten zu funktionieren, die noch funktionieren, sie sind es, die den bewaffneten Aufstand in einen Generalstreik verwandelt haben. Sie sind es, die es verstanden, in mehreren Provinzstädten die reaktionären Unruhen zu überwinden. Sie sind es, die Kadar gezwungen haben, mit ihnen zu verhandeln: nach dem Niederschlagen des Aufstandes sind sie die einzig lebendige Kraft, die zugleich sozialistisch und national ist, die sich den Russen entgegenstellt und zugleich auch der Wiedererrichtung einer Bürokratie; wer wagte zu verneinen, daß es sich hier um eine positive Vergangenheit für den ungarischen Sozialismus handelt? Im besonderen möchte ich die Kommunisten, die noch zögern, fragen, ob dieser verlängerte Streik trotz des Terrors und der zahlreichen Verhaftungen, ob diese Verhandlungen, die immer wieder unterbrochen und aufgenommen werden, von denen Radio Budapest uns tagtäglich informiert, nicht dazu angetan sind, den gegenrevolutionären Charakter des ungarischen Widerstandes sehr in Zweifel zu stellen? Die sowjetischen Zeitungen behaupten, daß die Rote Armee gegen die Aufständischen eingegriffen hat, Seite an Seite mit den Arbeitern; die Arbeiter selbst strafen sie Lügen: ihr Streik und das Aufrechterhalten ihrer Ansprüche zeigen, daß sie mit den Aufständischen waren und bleiben und gegen die Rote Armee kämpften. Welches auch die Gefahren und die Fehler dieser niedergeschlagenen Revolution gewesen sein mögen, die ungarische Arbeiterklasse beansprucht sie für sich, ist ihr Erbe und ihr Wächter. Wenn die Russen selbst gezwungen sind, die Verhandlungen von Budapest zuzugeben, wer von den kommunistischen Parteiführern wagte dann noch, dieses Zeugnis eines gesamten Proletariats zurückzuweisen? 148 Als Beleg für Sartres, bzw. der «Temps Modernes» Stellungnahme zu den Folterungen in Algerien bringen wir den Leitartikel aus der Nr. 145 vom März 1958. Die Antwort von Henri Alleg Im Juni 1957 von den Fallschirmtruppen aus Algier verhaftet, gefoltert gemäß den Methoden, von denen man heute weiß, daß sie geläufig und sozusagen offiziell sind — Schläge, Wasser, Elektrizität, Drogen —, ist Henri Alleg, der immer noch im Gefängnis sitzt, als Sieger dieser Prüfungen hervorgegangen, die er in einen Kampf Verwandeln konnte. Sieger: es gibt in der Tat kein anderes Wort, um diesen Menschen zu kennzeichnen, dessen Bericht in den Händen aller sein müßte. Die Folterknechte konnten ihn weder in einen Leichnam noch in einen Verräter verwandeln; sie haben ihn wider Willen zum Zeugen ihrer Schande und vor allem — das ist noch viel nichtiger — ihrer Niederlage gemacht. Sein Bewußtsein wiederfindend, das das Pentotal nur verschleiern konnte, ohne es zu entfrem-
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Beim Weltfriedenskongreß in Wien (November 1952) den, gelang es ihm auszurufen: «Ihr könnt mit eurem Tonhand wiederkommen; ich erwarte euch. Ich habe keine Angst vor euch.» Die Kraft, aus der er seinen schwierigen Mut schöpfte, ist zugleich einfach und vorbildlich: von Anfang an hat Älleg zurückgewiesen, das Spiel seiner Folterknechte mitzumachen. Er hat der Tortur jede Bedeutung abgesprochen. Er wollte in ihr nicht ein Mittel sehen, durch das ein Qeständnis erpreßt werden kann, zugleich ist ihm deswegen das Geständnis nie als ein Mittel erschienen, um die Tortut zu beenden; es gab für ihn nie diese furchtbare Versuchung. AlhS hat nicht einmal versucht, sich durch eine Lüge, die die Fallschirmtruppen einen Augenblick glauben konnten, eine Atempause zu verschaffen; er hat die Tortur angenommen, wie man ein äußeres Schicksal annimmt, wortlos, ohne Widerspruch ... Indem er freiwillig übernahm, nur ein gequälter, armer Körper zu sein, entging er den Fol-
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terknechten: «Man wird aus ihm nichts mehr herausholen», sagte schließlich einer von ihnen. Er hat im Grunde genommen die Wirkung der Folterung aufgehoben, indem er sie sinnlos werden ließ. Selbstverständlich, das ist leicht zu sagen. Es ist weniger leicht es zu leben, und niemand, der «Die Frage»149 liest, kann sich darüber täuschen. Aber was Alleg uns verständlich machen will, die «Antwort», die er auf die «Frage» gibt, und die unbedingt hervorgehoben werden muß, das ist gerade, daß so ein Weg möglich ist, und daß der Henkersknecht von jetzt ab der eigentlich Besiegte sein kann. Er ist zweifellos nicht der Einzige, der das in der Macht der Gefängnisse bewiesen hat, aber er ist der Erste, der es in dieser schlichten und un~ widerleglichen Weise gezeigt hat. Es sind schon andere Berichte über Folterungen veröffentlicht worden, und man muß sie auch kennen. Aber sie zeigten das Ungestraftbleiben der Henkersknechte. Ihre zweifellos vergebliche, aber nicht in Frage gestellte Gewalt. Sie vermittelten vor allem das Gefühl einer unübersteigbaren Grausamkeit und waren weniger dazu angetan, Vertrauen zu erwecken als zu rühren, Wut zu erregen: gequälte Wesen riefen um Hilfe. Auch Alleg läßt uns diesen Ruf hören. Aber er gibt ihm eine ganz andere Bedeutung: es handelt sich nicht so sehr darum, einen gequälten Menschen zu rächen, als einem Kämpfer zu helfen, den der Feind nicht niederzwingen konnte. In diesem Sinne ist es durchaus nicht paradox, zu sagen, daß dieses Buch das erste optimistische Buch über den Krieg in Algerien ist. Es behauptet, daß es möglich ist, zu siegen, daß «die Zeit der Verachtung» die Verheißung des Sieges enthält. Es ist zugleich ein Buch, das alle Zweideutigkeit zerstreut. Zu viele gute Apostel haben die Folterungen um ihrer selbst willen verurteilt — was natürlich auch getan werden muß —, aber indem sie sie aus dem Zusammenhang lösten, dem Krieg, als ob man die ersten zurückweisen könnte und sich mit dem zweiten, abfinden könnte. Alleg zerstört diese Lüge oder diese Unaufrichtigkeit. Seine Folterknechte und ihre Anführer sind weder isolierte Spezialisten noch einfache Ausführende; einige sind verantwortliche Offiziere, einer von ihnen ist der Adjutant des Generals Massu, der von Lacoste seine Polizeigewalt innehat. Es ist die gleiche Politik, wenn man das so nennen darf, die sich in diesem Krieg und in diesen Folterungen ausdrückt. Zu behaupten, daß das zu trennen wäre, käme darauf heraus, das Spiel derjenigen zu machen, die verantwortlich sind für das eine sowohl wie für das andere. Es würde bedeuten, Henri Alleg zu verraten. Eine andere Stellungnahme zum Algerien-Krieg aus dem Jahre 1957 (Mai), erschienen in Nr. 135 der «Temps Modernes», unter dem Titel Vous etes formidables:
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Ihr seid prächtig Soeben ist eine Sammlung von Aussagen und Dokumenten über unsere Methoden der Befriedigung erschienen: Einberufene sagen aus. Haben Sie sie gelesen? Diese Einberufenen sind Christen, Priester, Militär geistliche. Es ist wahrscheinlich, daß ihre Ansichten über die allgemeine Politik auseinandergehen, sie sagen darüber kein Wort. Ihnen allen gemeinsam ist jedoch der Wille, dieses Krebsgeschwür aufzudecken — das noch weit davon entfernt ist, sich auf die gesamte Armee auszudehnen, das jedoch nicht mehr ganz und gar lokalisierbar ist —, die zynische, systematische Anwendung der absoluten Gewalt. Plünderungen, Vergewaltigungen, Vergeltungsmaßnahmen gegen die Zivilbevölkerung, summarische Hinrichtungen, der Rückgriff auf die Polterung, um Geständnisse oder Nachrichten zu erhalten. Sie -prangern alle Kriegsverbrechen an, die man unter ihren Augen verübt hat. Diese maßvollen, intelligenten Berichte, bemüht, jedem gerecht zu werden, selbst dem Schuldigsten, bilden die erdrückendste Aktensammlung. Die Lektüre ist geradezu unerträglich; um von einer Linie zur anderen zu gelangen, muß man sich zwingen. Trotzdem nehme ich es auf mich, diese Broschüre inständig all jenen zu empfehlen, die sie noch nicht kennen, und ich persönlich wünsche, daß alle Franzosen sie lesen mögen. Wir sind nämlich krank, sehr krank; fieberhaft und geschwächt, besessen von seinen alten Siegesträumen und dem Gefühl der eigenen Schande quält sich Prankreich in einem unbestimmten Albtraum, den es weder fliehen noch deuten kann. Entweder sehen wir klart oder wir werden krepieren. Seit achtzehn Monaten ist unser Land das Opfer des Unternehmens, das das Gesetzbuch ein «Unternehmen der Demoralisierung-» nennt. Nicht indem man ihre «Moral» untergräbt, demoralisiert man eine Nation, sondern indem man ihre Moralität erniedrigt; was das Vorgehen anbetrifft, so kennt es alle Welt: indem man uns in ein abscheuliches Abenteuer stürzte, erlegte man uns von außen eine gesellschaftliche Schuldhaftigkeit auf. Aber wir wählen, wir erteilen Mandate, und in einem gewissen Maße können wir sie rückgängig machen: die Erregungen der öffentlichen Meinungen bringen Minister zum Sturz; die Verbrechen, die man in unserem Namen verübt, wir müssen wohl an ihnen persönlich mitschuldig sein, da es in unserer Macht steht, sie aufzuhalten. Diese Schuldhaftigkeit, die in uns ruhte, träge, gleichsam fremd, wir müssen sie auf unsere Rechnung übernehmen, und wir müssen uns selbst erniedrigen, um sie ertragen zu können. Wir sind jedoch noch nicht so tief gefallen, daß wir ohne Entsetzen die Schreie eines gefolterten Kindes hören können.150 Diese Schreie — wie einfach wäre alles, wie schnell könnte es in Ordnung gebracht werden, wenn sie einmal, ein einziges Mal unsere Ohren treffen würden! Aber man leistet uns den Dienst, sie zu ersticken. Es ist nicht der Zynismus, es ist nicht der Haß, die uns demoralisieren: nein, es 142
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ist die falsche Unkenntnis, in der man uns leben läßt und zu der wir selbst beitragen, indem wir sie beibehalten. Um unsere Ruhe zu sichern, geht das Mitgefühl der uns Leitenden so weit, daß sie sogar heimlich die Freiheit der Äußerung unterminieren, man verbirgt die Wahrheit oder dämmt sie ein. Wenn die Fellachen eine europäische Familie massakrieren, erspart uns die. große Presse nichts, selbst nicht die Aufnahmen der verstümmelten Körper: aber wenn ein muselmanischer Rechtsanwalt gegen die französischen Henkersknechte kein anderes Mittel findet als Selbstmord zu verüben, so wird die Tatsache in drei Zeilen angeführt, um unsere Sensibilität zu schonen. Verbergen, täuschen, lügen: das ist eine Pflicht für den Nachrichtenübermittler des Mutterlandes; das einzige Verbrechen wäre, uns zu beunruhigen ... Wenn wir wenigstens schlafen könnten, alles ignorieren könnten! Wenn wir von Algerien durch eine Mauer des Schweigens getrennt wären! Wenn man uns w i r k l i c h täuschen könnte! Die Ausländer könnten unsere Intelligenz in Frage stellen, aber nicht unsere Treuherzigkeit. Wir sind nicht treuherzig, wir sind schmutzig. Unser Bewußtsein ist nicht getrübt worden und ist dennoch trübe. Die uns Leitenden wissen das sehr wohl; so lieben sie uns: was sie durch ihre sorgfältige Aufmerksamkeit und ihr Schonen erreichen wollen, ist unsere Mitschuld auf Grund einer gefälschten Unkenntnis. Die Folterungen, alle Menschen haben davon sprechen gehört. Trotz allen Vorsichtsmaßnahmen sind einige Dinge in der großen Presse bekannt geworden, ehrenhafte Zeitungen, aber mit einer geringen Auflage, haben Zeugenaussagen veröffentlicht, Broschüren sind im Umlauf, Soldaten kehren heim und berichten. Gerade das dient aber denen, die uns demoralisieren: denn alles verliert sich und stumpft ab im Dickicht der Gesellschaft. Den mitgeteilten Nachrichten muß ein Weg gebahnt werden, und dann verläuft er in einer Sackgasse und die Nachrichten sterben. Diese Nachrichten, diese Broschüren, die meisten Franzosen haben sie nicht gelesen und können sie nicht lesen: sie kennen Menschen, die sie lesen; viele von uns haben nie die Zeugenaussage eines heimgekehrten Soldaten gehört, man hat ihnen übermittelt, was einige Soldaten berichteten. Diese einander zugeflüsterten Nachrichten, die offiziell abgeleugnet werden, diese fernen Zeugenaussagen erfahren beim Umlauf einen schrittweisen Verlust an Glaubwürdigkeit... Man muß abwarten, man darf nicht urteilen, bevor man sich richtig informiert hat. Folglich urteilt man nicht. Aber man informiert sich auch nicht: sobald man versucht, sich die Akten des Prozesses zu beschaffen, verwandelt sich unsere klare Gesellschaft in einen Urwald: man hört vage, von ferne den Lärm des Tamtam und geht im Kreis herum, wenn man sich ihm nähern will. Und dann haben wir ja schließlich natürlich auch genug persönliche Sorgen, ohne es nötig zu haben, uns auch noch die der Anderen anzuhängen. Wer den ganzen Tag gearbeitet und in seinem Büro die tausend kleinen Angriffe des Alltagslebens erfahren hat,
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kann man von ihm verlangen, seinen Abend damit zu verbringen, Nachrichten über die Araber zu sammeln? ... Die Zeitungen machen uns den Hof: sie möchten uns glauben maen, daß wir gut sind. Wenn der Rundfunk oder das Fernsehen von uns eine Mark verlangen, betiteln sie ihre Sendungen: «Ihr seid prächtig» ... Aber wir sind nicht prächtig. So wie wir auch nicht treuherzig sind... Über die Lösung des algerischen Problems konnten Freunde verschiedener Ansicht sein, ohne dadurch ihre Zuneigung zu verlieren. Aber die summarischen Hinrichtungen? Aber die Tortur? Kann man dem die Freundschaft erhalten, der sie bejaht?... Die Zerrissenheit unseres Geistes, das Versteckspiel, das wir uns selbst vormachen, diese Lampen, die wir zu Nachtlämpchen herunterschrauben, diese schmerzhafte Unaufrichtigkeit — wir sehen in ihr nicht unser Heil, sondern das Zeichen einer tiefen Zersetzung. Wir versinken. Wir sind schon wütend, da wir uns von den Anderen verurteilt wissen, und unser Ärger stößt uns noch tiefer in die Mitschuld: «Amerika hat kein Recht zu sprechen! Wenn wir unsere Schwarzen so behandeln würden, wie sie die ihren!.. .» Es ist wahr. Amerika hat nicht das Recht zu sprechen. Auch nicht Schweden, das keine Kolonie hat. Niemand hat das Recht zu sprechen: aber wir, wir haben die Pflicht. Und wir sprechen nicht. Es gibt aufrichtige, mutige Nachrichtenübermittler, die sagen, was sie wissen, jeden Tag oder jede Woche: man will sie ruinieren oder ins Gefängnis werfen und ihr Zuhörerkreis erweitert sich nicht. Was ist aus den großen tugendhaften Stimmen geworden, die wie Orgeln vibrierten im vergangenen November?"' ]a! In der Zeit waren wir noch prächtig: wir schöpften aus unserer Unschuld entsetzte Akzente, um die sowjetische Intervention in Ungarn zu verdammen — und mit Recht. Aber Ihr großen Stimmen mit Eurem erhabenen Gedonner, habt Ihr nicht die Verpflichtung auf Euch genommen, uns alles zu sagen auch über uns selbst? Denn Ihr wißt. Ihr habt selbst nicht die Entschuldigung der Unwissenheit. Die Dokumente, die Zeugnisse, Ihr kennt sie. Diesmal geht es um uns. Wir haben nötig zu zoissen, zu glauben. Uns könnt Ihr befreien von unseren Albträumen, uns retten von unserer Schmach. Ihr schweigt nun — es ist eine schlechte Berechnung ... Falsche Unschuld, Flucht, Unaufrichtigkeit, Einsamkeit, Schweigen, zurückgewiesene und zugleich angenommene Komplicität, das haben wir im Jahre 1948 Kollektivschuld genannt. Zu der Zeit durfte die deutsche Bevölkerung nicht beanspruchen, keine Ahnung von den Konzentrationslagern zu haben. Geht doch! sagten wir. Sie wissen alles! Wir hatten Recht, sie wußten alles, und es ist erst heute, daß wir begreifen können: denn wir wissen auch alles. Die meisten von ihnen hatten nie Dachau oder Buchenwald gesehen. Aber sie kannten Leute, die andere kannten, die wiederum die Stacheldrahtverhaue gesehen oder in einer Dienststelle die vertraulichen Kartei* Gemeint ist der ungarische Freiheitskampf.
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karten gelesen hatten. Sie dachten so wie wir, daß diese Informationen nicht gewiß seien. Sie schwiegen, einer fürchtete sich vor dem anderen. Wagen wir noch, sie zu verdammen? Wagen wir noch, uns freizusprechen?... Es ist noch Zeit, das Unternehmen der nationalen Vernichtung zum Scheitern zu bringen, es ist noch möglich, den Teufelskreis dieser unverantwortlichen Verantwortung, dieser schuldhaften Unschuld und dieser Unwissenheit, die Wissen ist, zu durchbrechen-, sehen wir der Wahrheit ins Antlitz! Sie nötigt jeden von uns, öffentlich die begangenen Verbrechen zu verurteilen oder sie bei vollen Bewußtsein auf sich zu nehmen. Deswegen habe ich es für nötig befunden, der Öffentlichkeit die Broschüre der Einberufenen bekannt zu machen. Das ist der Beleg. Das ist der Schrecken, der uns e r e : wir können ihn nicht sehen, ohne ihn von uns zu reißen und zu vernichten. Zum Abschluß: Der Nachruf auf Albert Camus, mit dem Sartre befreundet war; 1952 kam es jedoch zum Bruch. Der in Nr. 82 der «Temps Modernes» veröffentlichte Briefwechsel zwischen Camus und Sartre besiegelte das Zerwürfnis. Der deutsche Text des Nachrufes erschien in Heft Nr. 137 der Zeitschrift «Der Monat». Albert Camus Vor sechs Monaten, eben noch, hat man sich gefragt: «Was wird er tun?» Er hatte vorläufig, hin- und hergerissen von Widersprüchen, die man respektieren muß, das Schweigen gewählt. Aber er gehörte zu jenen seltenen Menschen, auf die man warten kann, weil sie ihre Wahl langsam treffen und dieser Wahl treu bleiben. Eines Tages würde er schon sprechen. Wir hätten nicht einmal eine Vermutung darüber zu äußern gewagt, was er sagen würde. Aber wir waren der Ansicht, daß er wie jeder von uns sich wandelte: das genügte, um seine Gegenwart lebendig zu erhalten. Wir beide waren miteinander verstritten. Doch so ein Streit will nichts besagen, auch wenn man sich niemals wiedersehen soll. Es ist nichts weiter als eine andere Form des Zusammenlebens; auch auf diese Weise verliert man sich in unserer kleinen engen Welt nicht aus den Augen. Es hinderte mich nicht, an ihn zu denken, seinen Blick auf die Seite des Buches oder der Zeitung geheftet zu fühlen und mich zu fragen: «Was sagt er dazu? Was sagt er in eben diesem Augenblick dazu?» Sein Schweigen, das. ich je nach den Ereignissen und nach meinei eigenen Stimmung manchmal als allzu vorsichtig und manchmal als schmerzlich empfand, es war ein Bestandteil jedes Tages, wie die Wärme oder das Licht, aber ein menschlicher Bestandteil. Man lebte mit seinem Denken oder in Widerspruch zu seinem Denken, wie es uns seine Bücher offenbarten — vor allem «Der Fall», vielleicht sein schönstes und das am wenigsten verstandene —, immer jedoch
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durch das Medium seines Denkens. Innerhalb unserer Kultur war es ein einzigartiges Abenteuer, eine ständige Bewegung, deren einzelne Phasen und deren Endziel man zu erralen versuchte. Er stellte in unserem Jahrhundert, und zwar gegen die Geschichte, den wahren Erben jener langen Ahnenreihe von Moralisten dar, deren Werke vielleicht das Echteste und Ursprünglichste an der ganzen französischen Literatur sind. Sein eigensinniger Humanismus, in seiner Enge und Reinheit ebenso nüchtern wie sinnlich, stand in einem schmerzlichen Kampf gegen die wuchtigen und gestaltlosen Ereignisse dei Gegenwart. Umgekehrt aber bekräftigte er durch die Hartnäckigkeit seiner Weigerung von neuem das Vorhandensein des Moralischen, mitten in unserer Epoche, entgegen allen Machiavellisten und dem goldenen Kalb des Realismus zum Trotz. Er war gewissermaßen selbst diese unerschütterliche Bekräftigung. Sobald man etwas las oder überdachte, stieß man unweigerlich auf die menschlichen Werte, die er in seiner geballten Faust bewahrte: er stellte das politische Handeln in Frage. Man mußte ihn umdrehen oder ihn bekämpfen: mit einem Wort, er war unentbehrlich für die Spannung, die dem Leben des Geistes zugrunde liegt. Selbst sein Schweigen hatte in diesen letzten Jahren einen positiven Aspekt. Dieser Cartesianer des Absurden weigerte sich einfach, das sichere Gebiet der Moral zu verlassen und sich auf die Ungewissen Pfade der Praxis zu begeben. Das ahnten wir, wie wir die Konflikte ahnten, die er mit Schweigen überging: denn die Moral, für sich betrachtet, fordert zugleich die Revolte und verurteilt sie. Wir warteten ab, was blieb uns anderes übrig, denn eines war gewiß: was er auch immer in der Folgezeit tun oder beschließen mochte, Camus würde nie aufhören, eine der Hauptkräfte unseres kulturellen Ackers zu sein und auf seine Weise die Geschichte Frankreichs und unseres Jahrhunderts darzustellen. Aber vielleicht hätten wir sonst seinen Weg gekannt und verstanden. Er hatte alles getan,
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ein ganzes Werk geschaffen, und wie es immer geschieht, blieb noch alles zu tun. Er sagte selbst: «Mein Werk liegt noch vor mir.» Und nun ist es vorbei. Das besondere Skandalon dieses Todes ist die Aufhebung der menschlichen Ordnung durch etwas Unmenschliches. Die menschliche Ordnung ist auch nur eine Unordnung — sie ist ungerecht und labil, in ihrem Rahmen wird gemordet und Hungers gestorben, aber wenigstens ist sie von Menschen gesetzt worden, wird sie von Menschen aufrechterhalten oder bekämpft. In einer solchen Ordnung sollte Camus leben: im Vorwärtsschreiten stellte dieser Mensch uns in Trage, er war selbst eine Trage, die ihre Antwort suchte: er lebte inmitten eines langen Lebens; für uns, für ihn selbst, für die Menschen, welche die Ordnung herrschen lassen, und diejenigen, die sich ihr widersetzen, war es von Wichtigkeit, daß er aus dem Schweigen heraustrat, daß er sich entschied, daß er die Schlußfolgerung zog. Manche Menschen sterben alt, manche können, gleichsam auf Abruf, zu jeder erdenklichen Minute ihres Lebens sterben, ohne daß deshalb ihr Leben oder das Leben überhaupt dadurch verändert würde. Tür uns aber in unserer Ungewißheit und Kompaßlosigkeit ist es unbedingt erforderlich, daß unsere Besten das andere Ende des Tunnels erreichen. Selten haben wohl die Grundzüge eines Werkes und die Bedingungen eines historischen Augenblicks so deutlich gefordert, daß ein Schriftsteller am Leben bliebe. So nenne ich den Unfall, der Camus getötet hat, ein Skandalon, weil er inmitten der Welt der Menschen die Absurdheit unserer zutiefst verwurzelten Forderungen bloßlegt. Camus hat, als er mit zwanzig Jahren plötzlich von einem Übel heimgesucht wurde, das sein ganzes Leben umwarf, das Absurde entdeckt — die törichte Negation des Menschen. Er hat sich daran gewöhnt, er hat seine unerträgliche Lage gedanklich verarbeitet, er hat sich aus der Affäre gezogen. Und sollte man nun dennoch glauben, daß nur seine ersten Werke die Wahrheit über sein Leben aussagen, weil der geheilte Kranke jetzt durch einen unvorhersehbaren, ganz woanders hergekommenen Tod zerschmettert worden ist? Das Absurde wäre demnach jene Trage, die ihm nun niemand mehr stellt, die er selbst niemand mehr stellt, jenes Schweigen, das nicht einmal mehr Schweigen ist, sondern das völlige Nichts. Das glaube ich einfach nicht. Sobald es sich manifestiert, wird auch das Unmenschliche zu einem Teil des Menschlichen. Jedes zum Stillstand gebrachte Leben — auch das eines so jungen Menschen ist zugleich eine zerbrochene Platte und ein vollständiges Leben. Tür alle, die ihn geliebt haben, liegt in diesem Tode eine unerträgliche Absurdität. Aber wir müssen lernen, dieses verstümmelte Werk ak etwas Vollständiges zu betrachten. Im gleichen Maße, in dem Camus Humanismus eine menschliche Haltung gegenüber dem Tod enthält der ihn überraschen sollte, im gleichen Maße, in dem seine stolze und reine Suche nach dem Glück die unmenschliche Notwendigkeit des Sterbens mit einschloß und erforderte, erkennen auch wir in seinem Werk und in seinem Leben, das davon untrennbar ist, den reinen
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und siegreichen Versuch eines Menschen, jeden Atemzug seiner Existenz seinem künftigen Tod abzuringen.
SARTRE UND DER MARXISMUS Wenn wir den Versuch wagen, einen Einblick in das literarische und philosophische Schaffen Sartres zu geben, so muß dieser Versuch sich auf wesentliche Punkte beschränken und vieles unberücksichtigt lassen, um hier nur auf die beachtlichen Frühabhandlungen Die Imagination und Das Imaginäre hinzuweisen, die in der vorliegenden Untersuchung nicht berücksichtigt werden konnten, obwohl sie für die Entwicklung seines Philosophierens den entscheidenden Anstoß gaben. Vom literarischen Schaffen konnte auf den Roman Der Ekel und die Sammlung von Erzählungen Die Mauer, die zweifellos zum Besten gehören, was er geschrieben hat, nicht eingegangen werden. Ist es dann zu verantworten, wenn in einem besonderen Kapitel Sartres Stellung zum Marxismus untersucht wird? Geschieht dadurch nicht eine Gewichtsverlagerung, die dem Gesamtverständnis abträglich ist? Im Gegenteil, wenn diese Frage unerörtert bliebe, dann geschähe eine Verzerrung von Sartres Werk und Wirken, die nicht zu verantworten wäre. Sartre ist sehr sparsam mit Äußerungen über seinen Werdegang, über Philosophen und Texte, die ihn angeregt haben. Gewiß, bei der Analyse von Teilen aus Das Sein und das Nichts stießen wir immer wieder auf Husserl, Heidegger und Hegel. Und oft, wenn Heidegger nicht genannt war, stießen wir auf Gedankengänge aus seiner Sphäre. Es sind aber nicht die einzigen Philosophen, die ihn anregten. In dem i960 erschienenen Werk Critique de la raison dialectique finden wir eine aufschlußreiche Stelle: Als ich zwanzig Jahre alt war, 1925, gab es keinen Lehrstuhl für Marxismus an der Universität und die kommunistischen Studenten hüteten sich wohlweislich, in ihren Dissertationen sich auf den Marxismus zu stützen, ja überhaupt ihn zu nennen; sie wären bei allen Prüfungen zurückgewiesen worden. Der Abscheu vor der Dialektik war so groß, daß Hegel selbst uns unbekannt war. Zweifellos gestattete man uns, Marx zu lesen, man empfahl uns sogar seine Lektüre: man mußte ihn kennen, «um ihn zu widerlegen». Aber ohne hegelianistische Tradition und ohne marxistische Lehrmeister, ohne Studienprogramm und ohne Denkwerkzeuge ignorierte unsere Generation, wie die vorhergehenden und die nachkommende so gut wie alles vom historischen Materialismus.* Man lehrte uns dagegen sorgfältig die aristotelische Logik und die Logistik. Um diese Zeit las ich * Das macht es verständlich, daß die marxistischen Intellektuellen meines Alters (ob Kommunisten oder nicht) so schlechte Dialektiker sind. Ohne es z« wissen sind sie zum mechanistischen Materialismus zurückgekehrt.
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«Das Kapital» und «Die deutsche Ideologie». Ich verstand alles sonnenklar und ich verstand absolut nichts davon. Verstehen heißt sich wandeln, über sich selbst hinausgehen: diese Lektüre rief bei mir keine Wandlung hervor. Was mich dagegen zu wandeln begann, das war die W i r k l i c h k e i t des Marxismus, die drückende Gegenwart der Arbeitermassen an meinem Horizont, des riesigen und dunklen Körpers, der den Marxismus l e b t e , ihn p r a k t i z i e r t e und der aus der Entfernung eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf die kleinbürgerlichen Intellektuellen ausübte. Lasen wir diese Philosophie in den Büchern, dann erfreute sie sich in unseren Augen keinerlei Vorrechte... Weder die Idee erschütterte uns, noch die Bedingungen der Arbeiterexistenz, von der wir nur eine abstrakte Kenntnis und keinerlei Erfahrung hatten. Nein, aber beide in ihrer Verknüpfung, das war, wie wir damals in unserem ]argon von Idealisten, die mit dem Idealismus gebrochen hatten, gesagt hätten: das Proletariat als Verkörperung und Träger einer Idee. Und ich glaube, daß man hier die Marxsche Formel ergänzen muß: wenn die aufsteigende Klasse das Bewußtsein ihrer selbst erlangt, wirkt dieses Bewußtwerden aus der Entfernung auf die Intellektuellen und zersetzt die Ideen in ihren Köpfen. Wir wiesen den offiziellen Idealismus zurück, im Namen der «Tragik des Lebens». Dieses ferne, unsichtbare, unzugängliche Proletariat, das jedoch seiner selbst bewußt war und handelte, war für uns der Beweis — für viele von uns bloß in unklarer Weise —, daß nicht alle Konflikte gelöst waren. Wir waren in einem bürgerlichen Humanismus erzogen worden, und dieser optimistische Humanismus ging in Scherben, da wir um unsere Stadt die ungeheure Masse der «Untermenschen, die ihres Untermensch-seins bewußt waren», errieten. Aber wir fühlten dieses Zerschellen noch auf eine idealistische und individualistische Weise: die Autoren, die wir liebten, erklärten uns zu dieser Zeit, daß die Existenz ein Skandal sei. Was uns jedoch interessierte, das waren die wirklichen Menschen mit ihrer Arbeit und Mühe; wir forderten eine Philosophie, die all dem Rechnung trüge, ohne zu bemerken, daß sie schon existierte und daß gerade sie in uns diese Erfahrung bewirkte ... Unter dem Einfluß des Krieges und der russischen Revolution stellten wir, natürlich nur theoretisch, den sanften Träumen unserer Professoren die Gewalt gegenüber. Es war eine schlechte Gewalt (Beschimpfung, Schlägereien, Selbstmorde, Morde, nicht wiedergutzumachende Katastrophen), die uns in Gefahr brachten, zum Faschismus zu führen; sie hatte in unseren Augen jedoch den Vorteil, die Widersprüche der Wirklichkeit hervorzuheben. So entriß uns der Marxismus als die «Welt gewordene Philosophie» der entschlafenen Kultur eines Bürgertums, das kümmerlich von seiner Vergangenheit dahinlebte ... der Mensch, den wir in seinem wirklichen Leben kennenlernen wollten, wir dachten noch nicht daran, ihn zuerst als Arbeiter, der seine Lebensbedingungen produziert, anzusehen ... Die politischen Ereignisse veranlaßten uns, das Schema des «Klassenkampfs» als einen eher bequemen als wahren Raster zu verwenden: 150
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aber es bedurfte der ganzen blutigen Geschichte dieses halben Jahrhunderts, um uns die Wirklichkeit selbst fassen zu lassen und uns in einer zerrissenen Gesellschaft zu situieren. Der Krieg war es, der die veralteten Rahmen unseres Denkens sprengte. Der Krieg, die ßesatzungszeit, der Widerstandskampf und die darauf folgenden Jahre. Wir wollten an der Seite der Arbeiterklasse kämpfen, wir verstanden endlich, daß das KonkreteGeschichte und das Handeln dialektisch ist.151 Man mag sagen, im Rückblick interpretiere Sartre seine eigene Entwicklung so, daß sie von Beginn an in einer gewissen Nähe zum Marxismus steht, einer Nähe, die zunächst nicht theoretisch begriffen ist, sondern vielmehr über das Dasein der Arbeiterklasse erfahren wird, mit der er sympathisiert, in der er die eigentliche Wirklichkeit sieht, im Gegensatz zum Bürgertum, dem Sartre selbst entstammt, wie die meisten seiner Schriftsteller-Kollegen. Aber selbst wenn dieser Rückblick eine Interpretation ist — und jeder derartige Rückblick ist eine —, so ist es ja bezeichnend, daß in dieser Interpretation die Nähe zum Marxismus gesucht wird. Wenn Sartre in der gleichen Abhandlung Marxisme et existentialisme von der Philosophie sagt: Eine Philosophie konstituiert sich, um der allgemeinen Bewegung der Gesellschaft ihren Ausdruck zu verleihen ... Es ist zunächst eine bestimmte Weise für die «aufsteigende» Klasse, zum Selbstbewußtsein zu gelangen; dieses Bewußtsein kann deutlich oder verwischt, indirekt oder direkt sein: zur Zeit des Adels, der Robe und des merkantilen Kapitalismus hat ein Bürgertum von Juristen, Kaufleuten und Bankiers vermittelst des Cartesianismus etwas von sich selbst verstanden; anderthalb Jahrhunderte später, in der Periode der beginnenden Industrialisierung, hat ein Bürgertum von Fabrikanten, In-
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genieuren und Gelehrten sich dunkel im Bild des universellen Menschen wiedererkannt, das ihm die kantische Lehre anbot 152— so meint man wirklich einen eingefleischten Marxisten sprechen zu hören, der alles auf die ökonomische Bedingtheit zurückführt, nicht zuletzt die höchste Weise des Wissens, die Philosophie selbst. Es dürfte jetzt also zumindest klar geworden sein, daß die Frage der Stellung Sartres zum Marxismus nicht übergangen werden kann. Sehen wir, wie Sartre selbst diese Stellung näher bestimmt. Vorausgeschickt sei seine Unterscheidung der eigentlich schöpferischen Epochen der Philosophie, die äußerst selten sind, und der Periode der Ideologen. Was versteht Sartre darunter? Zur wahren Philosophie gehört nach ihm Zusammenfassung des Wissens, Methode, Leit-Idee, Angriffswaffe und Gemeinsamkeit der Sprache J53 — jede echte Philosophie entspringt seiner Auffassung nach aus einer sozialen Bewegung, ist selbst eine soziale Bewegung, die als solche die Zukunft gestaltet. Jede Philosophie ist praktisch, selbst diejenige, die zunächst als zuhöchst kontemplativ erscheint: die Methode ist eine soziale und wirtschaftliche Waffel Und weiter: So bleibt die Philosophie wirksam, so lange die Praxis lebendig bleibt, aus der sie entsprungen ist, die sie trägt und erhellt. Aber sie wandelt sich, verliert ihre Einzigartigkeit, wird ihres ursprünglichen ... Gehaltes verlustig in dem Maße, in dem sie Zug um Zug die Massen durchdringt, um in ihnen und durch sie ein kollektives Werkzeug der Emanzipation zu werden.154 Hier ist wieder ganz eindeutig ausgesprochen, daß die Philosophie nach Sartre im Zusammenhang mit einer bestimmten Praxis gesehen werden muß und wie es ihr Schicksal ist, mit ihrer Wirkung ihren ursprünglichen Gehalt zu verlieren. Das heißt nicht, daß sie an Bedeutung verliert, sondern mit ihrer Ausstrahlung auf die Gesellschaft verliert sie ihre Originalität und gewinnt dafür an Wirkung. Die ihr zuerkannte Wirkung ist die der Emanzipation, der Befreiung der Menschen. Vom 17. bis zum 20. Jahrhundert gibt es nach Sartre drei schöpferische Epochen der Philosophie. 1. Die durch Descartes und Locke bestimmte Epoche, 2. die durch Kant und Hegel bestimmte, und 3. die durch Marx bestimmte. Von der Marxschen Philosophie sagt er: Weit davon entfernt, erschöpft zu sein, ist der Marxismus noch ganz jung, beinahe im Stadium der Kindheit: er hat gerade eben erst mit seiner Entwicklung begonnen. Er bleibt also die Philosophie unserer Zeit: er ist unüberschreitbar, weil die Umstände, die zu seinem Entstehen geführt haben, noch nicht überschritten sind. Welches unsere Gedanken auch sein mögen, sie können sich nur auf diesem Nährboden entfalten; sie müssen sich in dem Rahmen halten, den er ihnen liefert, sonst sind sie dazu verurteilt, sich im leeren Raum zu verlieren oder rückschrittlich zu werdend6 Das ist ein Bekenntnis zum Marxismus, wie man es deutlicher kaum aussprechen kann. Der Marxismus ist die Philosophie unserer Zeit und er kann Paris: 4.2, rue Bonaparte. In diesem Haus wohnt Sartre
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Mai 1954: Besuch in der UdSSR
nicht überschritten werden, weil die Bedingungen, die ihn hervorgerufen haben, nicht überschritten sind. Man könnte einwenden, daß diese marxistische Deutung der Philosophie durchaus fragwürdig ist und die Behauptung Sartres nur dann Gültigkeit hätte, wenn diese Fragwürdigkeit überwunden wäre. Aber es kommt ja hier nicht auf eine Auseinandersetzung mit Sartre an, sondern darauf, seine Position zu klären. Wenn der Marxismus die Philosophie unserer Zeit sein soll, welche Rolle kann dann dem Existentialismus, also der Philosophie Sartres zugesprochen werden? Die einer Ideologie. Unter Ideologie versteht Sartre folgendes: Die kultivierten Menschen, die nach den großen Entfaltungen kommen und daran gehen, die Systeme einzurichten oder durch neue Methoden noch schlecht bekannte Landstriche zu erobern, diejenigen, die der Theorie praktische Funktion verleihen und sich ihrer als eines Werkzeuges bedienen, um einzureißen und aufzubauen, es gehört sich nicht, sie Philosophen zu nennen: sie beuten das Gebiet aus, nehmen das Inventar auf, errichten einige Gebäude, gelegentlich bringen sie auch einige Änderungen im Innern an; aber sie nähren sich noch von den lebendigen Gedanken der großen Toten. Von der in Bewegung befindlichen Menge getragen, ist diese ihr kulturelles Milieu und ihre Zukunft, bestimmt das Feld ihrer Untersuchungen und selbst ihrer «Schöpfung». Diese r e l a t i v e n Menschen schlage ich vor, Ideologen zu nennen. 1^ Nach dieser Definition der Ideologen als der Menschen, die eine Philoso-
1 phie voraussetzen und in die Praxis überführen, ohne je den Boden zu verlassen, der ihnen in der Philosophie gestellt wird und den sie nur beackern, fährt Sartre iotf.Und da ich vom Existentialismus sprechen muß, wird man verstehen, daß ich ihn für eine I d e o l o g i e halte: er ist ein parasitäres System, das am Rande des Wissens lebt1^, und nun folgt eine interessante Bemerkung: ... der sich ihm zunächst entgegengestellt hat und heute versucht, sich ihm zu integrieren.1^ Hier gibt Sartre also zu, daß er zunächst durchaus in Gegensatz zum Marxismus stand und daß er nun bestrebt ist, nicht etwa ihn sich einzuverleiben, sondern sich ihm anzuschließen, als Ideologe in seinen Dienst zu treten. Er begnügt sich damit, ein bloß parasitäres System errichtet zu haben, erkennt einen schimpflichen Ausdruck als die für seine Philosophie treffende Bezeichnung an. Damit könnten wir die Beantwortung der Frage: Wie ;teht Sartre zum Marxismus? Us erledigt ansehen. Der Marrfsmus ist die Philosophie unserer Zeit und er stellt sich freiwillig auf ihren Boden, mterwirft sich ihr, steht zu hren Diensten. Wer allerlings sein philosophisches Hauptwerk kennt und die Rolle, die da der Freiheit zuerkannt wird, muß sich fragen, ob solch eine Unterwerfung nicht einer Selbstaufgabe gleichkommt. So wie es religiöse Bekehrungen gibt, kann es auch politische Bekehrungen geben. Wir könnten uns damit zufriedengeben. Aber eine solche Bekehrung weist den früheren Zustand als verdammungswürdig von sich. Das hat Sartre keineswegs getan. Er hat nicht sein früheres Werk verleugnet, um sich in die Arme des Mar155
xismus zu stürzen, sondern sieht in seinem Werk eine Arbeit, die auf den Boden des Marxismus gestellt werden kann. Warum hat Sartre seine Selbständigkeit nicht aufgegeben, warum hat er sich nicht einfach in den Marxismus aufgelöst, wo er doch schon so weit geht, sich als bloßen Ideologen zu bezeichnen? Und I andererseits: Warum wird er von den Marxisten so heftig bekämpft, im Grunde genommen viel schärfer als die sogenannten bürgerlichen Philosophen? Weil er, der Bewunderer und Verehrer des Marxismus, zugleich sein vehementer Kritiker ist. Und diese Kritik, die von einem Philosophen kommt, der Marx als den Philosophen unserer Zeit ansieht und nicht etwa von vornherein als überlebt abtut, trifft die Marxisten viel stärker als sonst irgendeine Kritik von außen. In seiner Antwort auf die Schrift von Lukacs «Existentialisme ou marxisme?» sagt Sartre folgendes vom Marxismus: Nachdem er uns angezogen hatte, wie der Mond die Gezeiten, nachdem er all unsere Ideen verwandelt, nachdem er in uns die Kategorien des bürgerlichen Denkens aufgelöst hatte, ließ uns der Marxismus plötzlich im Stich; unser Bedürfnis, zu verstehen, wurde von ihm nicht mehr befriedigt; auf dem besonderen Boden, auf den wir gestellt waren, konnte er uns nichts Neues mehr lehren — weil er stehengeblieben war.160 Dieses Stehenbleiben des Marxismus, seine Versteifung, um nicht zu sagen seine Versteinerung, wird von Sartre am Beispiel der Sowjetunion verdeutlicht. In der Zeit der Industrialisierung und Isolierung befürchteten die Parteiführer, daß durch eine freie Auseinandersetzung innerhalb der Partei die Einheit gestört werden könnte, die sie für den Aufbau benötigten. Sie behielten sich das Recht vor, die Parteilinie zu bestimmen und die Ereignisse zu interpretieren; außerdem, aus Furcht davor, daß die Erfahrung vielleicht ihre eigenen Klarheiten mit sich bringen könnte, durch die einige ihrer Leitideen in Frage gestellt würden, und so beitragen könnte zur «Schwächung des ideologischen Kampfes», stellten sie die Lehre außerhalb der Reichweite der Erfahrung. Die Trennung von Theorie und Praxis hatte zur Folge, daß die Praxis zu einem prinzipienlosen Empirismus herabsank und die Theorie zu einem puren und erstarrten Wissen wurde. Die Planung schließlich, von einer Bürokratie, die ihre Fehler nicht eingestehen wollte, auferlegt, führte zu einer Vergewaltigung der Wirklichkeit. Da man die zukünftige Produktion einer Nation in den Büros festlegte, die sich oft außerhalb ihres Territoriums befanden, führte diese Gewaltsamkeit im Gegenteil zu einem absoluten Idealismus. Die Menschen und Dinge wurden a priori den Ideen unterworfen; bestätigte die Erfahrung die Voraussagen nicht, so konnte sie nur im Unrecht sein.161 Unter absolutem Idealismus ist also das Unterwerfen der Menchen und Dinge unter eine vorgefaßte Idee gemeint, nicht das, was in der Philosophie sonst darunter verstanden wird, dieDeutung des Seins als Idee.
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Paris, Mai 1955: Mit Ilja Ehrenburg
Anstatt daß zwischen der Praxis und der Theorie ein ständiges Wechselspiel zustande käme, daß die Theorie die Praxis erhellte und aus der Praxis lernte, kam es zu einer brutalen Vergewaltigung der Wirklichkeit. Die Einstellung, die sich das Recht anmaßte, allein die Wirklichkeit erkennen zu können und auf Grund dieser Erkenntnis zu gestalten, verfiel in eine radikale Spaltung von Theorie und Praxis. Was war die Folge? jahrelang glaubte der intellektuelle Marxist, seiner Partei zu dienen, indem er die Erfahrung vergewaltigte, unangenehme Einzelheiten überging, die Gegebenheiten grob vereinfachte und das vor allem, indem er dem Ereignis einen begrifflichen Ausdruck gab, b evor er es studiert hatte.162 l Die genaue Analyse der Gegebenheiten, die den Marxismus vor anderen Theorien auszeichnen sollte, das Eingehen auf die jeweilige Situation, um eine entsprechende Handlungsweise zu finden, die den Umständen entspricht, ging ganz und gar verloren. So verkehrte, pervertierte sich der Marxismus nach Sartre in einen voluntaristi157
sehen Idealismus, weswegen er ihm die Vorwürfe machen kann, die sonst vom Marxismus gegen die nicht marxistischen Auffassungen vorgebracht werden. Statt sich den Gegebenheiten anzupassen, auf sie einzugehen, sie zu verstehen, wird einfach dekretiert, was als Gegebenheit anzusehen ist. Wenn der vorausgesagte Erfolg nicht eintritt, dann sind eben Saboteure am Werk gewesen. Nichts einfacher, als Sündenböcke zu finden und dadurch sich selbst und die Anderen zu beschwichtigen. Dadurch verbreitet sich aber eine Atmosphäre der Lüge, der Unaufrichtigkeit, die alle Beziehungen vergiftet. Ein Beispiel: Nach Rakosis Willen mußte Budapest eine Untergrundbahn erhalten, ob der Boden dafür geeignet war, danach wurde nicht gefragt. Und als es sich dann herausstellte, daß sich der Boden dazu nicht eignete, wurde dieser als Konterrevolutionär angeprangert! Zwar wird noch von Analyse gesprochen, aber es ist nur eine Scheinanalyse, oder, wie Sartre sich ausdrückt, die Analyse ist zu einer einfachen Zeremonie herabgesunken. Es geht nicht mehr darum, die Fakten in der allgemeinen Perspektive des Marxismus zu erforschen, um das Wissen zu bereichern und die Handlung zu erhellen: die Analyse besteht nur noch darin, das Detail loszuwerden, die Bedeutung bestimmter Ereignisse zu forcieren, die Fakten zu entstellen oder selbst welche zu erfinden, um dann darunter als ihre Substanz unveränderliche fetischistische «synthetische Begriffe» zu finden. Die offenen Begriffe des Marxismus haben sich geschlossen; sie haben nicht mehr die Funktion von S c h l ü s s e l n , von Interpretationsschemen: sie geben sich selbst als das schon zusammengefaßte Wissen aus. l63 An einer anderen Stelle geißelt Sartre das Verfälschen des Gegebenen als Nicht-eingehen-Wollen auf das in sich Differenzierte und spricht von einer Vereinheitlichung der Bürokraten: Der marxistische Formalismus ist ein Unternehmen des Ausscheidens. Die Methode wird zum Terror durch die starre Abwehr gegenüber jeder D i f f e r e n z i e r u n g , ihr Ziel ist die vollständige Assimilierung bei geringster Anstrengung. Es wird nicht versucht, die Integration des Verschiedenen als solchen zu erreichen, indem seine verhältnismäßige Selbständigkeit gewahrt bleibt, sondern es wird einfach unterdrückt: die ständige Bewegung z u r I d e n t i f i k a t i o n spiegelt die vereinheitlichende Praktik der Bürokraten.164Bei dieser ständigen Vergewaltigung des Gegebenen kommt es zu einer ständigen Bildung von Fetischen. Die Kritik erreicht ihren Höhepunkt, wenn Sartre sagt: Der Marxismus ... besitzt theoretische Grundlagen, er umfaßt die gesamte menschliche Tätigkeit, aber er w e i ß nichts mehr: seine Begriffe sind D i k t a t e ; sein Ziel ist nicht mehr Wissen zu gewinnen, sondern sich a priori als absolutes Wissen zu konstituieren.165 Weil nicht auf die Wirklichkeit eingegangen wird, weil nicht die Mühe übernommen wird, die Vermittlungen, die im Spiel sind, wirklich herauszustellen, wird der Marxismus ein Stillstand des Denkens und eine Weigerung zu verstehen l66 .
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Oder: Der Marxismus situiert, aberläßt niemals etwas entdecken167 Um gleich ein Beispiel zu nennen: Da die Dinge so und so waren, Vier Klassenkampf die und die Form angenommen hatte, mußte Flaubert, der dem Bürgertum angehörte, leben, wie er gelebt hat, und schreiben, was er geschrieben hat. Was aber mit Schweigen übergangen wird, ist die Bedeutung dieser drei Worte «dem Bürgertum angehören».168 Aber mit der Erläuterung und dem Verständnis einer solchen Zugehörigkeit beginnt überhaupt die Analyse. Es bleibe hier dahingestellt, ob diese Zugehörigkeit wirklich den Schlüssel für das Verständnis bildet; aber es wird gar nicht versucht, sie zu analysieren. Diese zu Formeln erstarrten Ausdrücke erklären überhaupt nichts, sie dienen nur dazu, eine Erklärung vorzutäuschen. Um noch ein Beispiel heranzuziehen: Für einen Marxisten muß es besonders aufregend sein, quälend, bedrückend, daß vierzehn Jahre nach der Instauration einer vom Marxismus geleiteten Herrschaft plötzlich in Ungarn ein Volksaufstand ausbrechen konnte, der nur durch die brutale Gewalt der Sowjettruppen niedergeschlagen werden konnte. Aber statt wirklich nach den Gründen zu suchen, werden gängige Formeln herangezogen. In der Partei werden «menschliche Mängel» zugegeben, mit dem Unterton, das sei eben etwas allgemein Menschliches, von dem auch die Partei nicht verschont sei; dann wird das Einwirken von reaktionären Elementen herangezogen, es darf natürlich nicht etwa unter den Marxisten selbst Unzufriedenheit geben; und schließlich werden die finsteren Machinationen des »Weltimperalismus» zitiert, der als eine unerschöpfliche Macht dargestellt wird von den Kommentatoren ... dessen Wesen sich nicht ändert, wo immer er auftritt. Mit diesen drei Elementen (den Mängeln, den lokalen reaktionären Elementen, die von der Volksunzufriedenheit profitieren, und der Ausbeutung dieser Situation durch den Weltimperialismus) wird eine auf alles anwendbare Deutung zurechtgemacht, die gerade so gut oder so schlecht auf alle Erhebungen anwendbar ist, die Unruhen in der Vendee und in Lyon im Jahre 1793 mit inbegriffen, es genügt, statt «Imperalismus» in diesem Fall von der Aristokratie zu sprechen. Im Grunde genommen hat sich nichts ereignet. Gerade das sollte ja gezeigt werden.169 Zwar tastet Sartre die Grundlage des Marxismus nicht an, was aber heute diese Grundlage in Anspruch nimmt und sich als Marxismus ausgibt, wird von ihm radikal verneint. Denn von den Marxisten zu behaupten, daß sie nichts mehr wissen, daß sie bloß noch durch das Ansehen, das ihnen der Ausgangspunkt verleiht, Diktate erlassen, ist die schärfste Kritik, die man vorbringen kann. Statt Erkenntnisse vorzulegen, wird einfach mit dem Anspruch aufgetreten: fwir sind das absolute Wissen. Schon Hegel hatte solch ein bloßes Auftreten und bloßes Behaupten in seiner Hohlheit aufgedeckt. Durch die marxistische simplistische Klassen-Ideologie-Erklärung wird der spezifische Gehalt eines bestimmten kulturellen Systems einfach nicht gesehen, weil man sich gleich auf die allgemeine Benennung stürzt, eben die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Klasse.
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196.1: In der Wohnung Sartres, der ein Manifest für das Recht der Dienstverweigerung im Algerien-Krieg unterschrieben hatte, explodierte eine Plastikbombe der OAS
Am Beispiel der Situation des Marquis de Sade zeigt Sartre, wie verflochten die Beziehungen sind, wie wenig wir verstehen, wenn wir ihn einfach als zur Aristokratie gehörig abtun. Durch solche Vereinfachungen haben sich die Marxisten so kompromittiert, daß ihnen die spezifische Bedeutung eines historischen Ereignisses völlig entgleitet. Das Herausgreifen der ökonomischen Bestimmung und ihre Verabsolutierung führt zu einem inhumanen Marxismus. Eine weitere Kritik, die nicht die Art und Weise des Vorgehens betrifft, sondern den Inhalt selbst, ist nach Sartre folgende: Die heu160
tigen Ma rxis ten kümmer n sich nur um d ie Erw a chs e nen: wen n man sie liest, könnte man glauben, daß wir in dem Alter auf die Welt k o m m en , i n d e m wi r u n s e r e r s t es G eh a l t v e r d ie n e n ; s i e h a b e n i h r e eigene Kindheit vergessen und alles geht so vor sich, wenn man sie liest, als ob die Menschen ihre Entfremd ung und Verdinglichung z u e r s t in i hrer e i g e n e n A r b e i t e r f ü hren, während doch jeder sie z u e r s t, als Kind, in d e r A r b e i t s e i n e r E l t e r n erfährt.170
Dieser Vorwurf verweist auf die grundlegende Kritik, daß im gegenwärtigen Marxismus der Mensch zu Gunsten einer Idee preisgegeben ist. Alle Bestimmungen seiner Situation werden einfach als zufällig abgetan. Wir werfen dem gegenwärtigen Marxismus vor, daß er alle konkreten Bestimmungen des menschlichen Lehens auf die Seite des Zufalls schleudert und von der geschichtlichen Totalisation nichts übrig behält als sein abstraktes Gerüst der Universalitat. Das Ergebnis — er hat gänzlich den Sinn dafür verloren, was ein Mensch ist: um diese Lücke zu füllen, hat er nichts anderes als die absurde Pawlowsche Psychologie.171 Soll nun, nach all diesen Kritiken, der Marxismus aufgegeben, durch eine andere philosophische Lehre ersetzt werden? Nein, die Verwerfung der gegenwärtigen Form des Marxismus bedeutet für Sartre nicht die Verwerfung des Marxismus schlechthin. Was aber not tut, ist den Menschen innerhalb des Marxismus zurückzugewinnen I72. Dieses Wiedergewinnen ist die Aufgabe des Existentialismus. Im Vergleich zum früheren Werk Das Sein und das Nichts wird nun nicht einfach der Dimension der Zukunft ein absolutes Vorrecht eingeräumt, sondern die von Sartre geforderte Methode ist progressiv und regressiv. Das Moment des Entwurfs und was damit im Zusammenhang steht, bleibt durchaus erhalten (vgl. Sartres Theorie der Freiheit), aber zugleich muß die Erfassung des Menschen auch zurückgehen in die eigene Vergangenheit —hier verweist Sartre auf die Psychoanalyse, der als einziger bis jetzt ein derartiger Rückgang gelungen sei. Allerdings sollen die Ergebnisse der Psychoanalyse nun dazu dienen, eine bestimmte historische Situation und die Vermittlung zwischen dem Einzelnen und dem Allgemeinen zu verstehen. Der Existentialismus ist der Ansicht... diese Methode sich einverleiben zu können, da sie den Punkt der Eingliederung des Menschen in seine Klasse entdeckt, d. h. die einzelne Familie als Vermittlung zwischen der universellen Klasse und dem Individuum; die Familie ist, in der Tat, in und durch die allgemeine Bewegung der Geschichte konstituiert und andererseits in der Tiefe und Dunkelheit der Kindheit als ein Absolutes erlebt.173 So lange der Marxismus sein Wissen auf eine veraltete dogmatische Metaphysik der Natur, statt auf ein Verständnis des lebendigen Menschen stützt, so lange muß der Existentialismus seine Untersuchungen selbständig fortführen, um innerhalb des Rahmens des Marxismus eine wirklich v e r s t e h e n d e E r k e n n t n i s zu erzeugen, die den Menschen in der sozialen Welt wiederfindet und ihm in seiner
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P r a x i s folgt, oder, anders ausgedrückt, ihm folgt beim Entwurf, der ihn zu den sozialen Möglichkeiten wirft, im Ausgang von einer bestimmten Situation 174. Es wurde versucht, Sartres Stellung zum Marxismus zu kennzeichnen, seine Ablehnung des gegenwärtigen und seine Anerkennung des von Marx verkündeten Marxismus. Eine Frage muß allerdings offen bleiben, ob Sartre, trotz der bekundeten Anerkennung des «klassischen» Marxismus und des Versuchs, sich ihm anzugliedern, durch seine Lehre, sowohl in Das Sein und das Nichts wie auch im ersten Band von Critique de la raison dialectique, sich nicht in Widerspruch zum Marxismus stellt. Es sei hier bloß auf die Freiheitsausführungen in Das Sein und das Nichts hingewiesen und auf die These in Critique de la raison dialectique, daß das Milieu des Mangels unüberwindbar sei. Eine These, die im Widerspruch zum Marxismus steht, der, vom wissenschaftlichen Optimismus des 19. Jahrhunderts getragen, behauptet, daß durch den wissenschaftlichen Fortschritt bei der Ausbeutung der Natur der Mangel überwunden werde. Für Sartre dagegen wird der Mangel zu einer Voraussetzung für das Menschsein des Menschen. Auch die Behauptung, daß der eigentliche Feind der Arbeiterklasse ihre eigene Trägheit sei, klingt wenig marxistisch. Aus der marxistischen Hoffnung wird die Hoffnung auf die Verstehbarkeit des geschichtlichen Verstehens. Es ist also nicht von ungefähr, wenn ein guter Kenner der Sartreschen Philosophie und des Marxismus, Alphonse de Waelhens behauptet, daß im letzten Werk Sartres zwar viele Mystifikationen beseitigt worden seien, zugleich aber auch eine neue eingeführt sei, nämlich die von Sartres Marxismus. Die Zukunft wird zeigen, ob Sartre sich von Marx weiter entfernt oder sich ihm weiter annähert. Bei der Beurteilung wird dem Werk selbst vor dem expliziten Wollen des Autors der Vorrang gegeben werden müssen.
SCHLUSSBEMERKUNG Diesem Versuch kann der Vorwurf gemacht werden, daß so wenig über die Person Sartres und sein Leben gesagt wird. Wer sich darüber informieren will, sei an den zweiten und dritten Band der Erinnerungen von Simone de Beauvoir verwiesen, der langjährigen getreuen Freundin Sartres. Die Erinnerungen gehören zum Besten, was Simone de Beauvoir geschrieben hat. Es wurde auch nicht angestrebt, eine Art existentiell-psychoanalytischer Deutung von Sartres eigener Wahl zu geben, und erst recht nicht eine Deutung vom sozialen Milieu her. Es ist uns gleichgültig/ aus welchem sozialen Milieu Sartre stammt. Was uns bei Sartre interessiert, ist sein Werk, sowohl das philosophische wie das literarische und politische —und was in diesem Werk zur Sprache kommt. Es ist seine Deutung des Menschseins, von der Freiheit her.
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Mit Simone de Beauvoir (Rio de Janeiro, ig6o)
Man mag einwenden, daß seit 1942 (dem Erscheinungsjahr von Das Sein und das Nichts) sich manches in seinen Anschauungen geändert hat, daß das Schwergewicht seiner Untersuchungen nicht mehr eine phänomenologische Ontologie, sondern eine Philosophie der Geschichte sei, um darin die Wandlungen und Wirkungen des gesellschaftlichen Daseins zu fassen. Aber selbst diese Schwergewichtsverlagerung ist nur verständlich, wenn man sich Rechenschaft gibt, wie dm Mittelpunkt seiner Überlegungen die Untersuchung des Menschseins steht, im Lichte der Freiheit. Seine Analysen der menschlichen Praxis, die die Bedingungen der Gruppenbildung aufweisen, gründen darin, daß es nach Sartre für die Gruppe allein ein freies, zielgerichtetes Entwerfen gibt. Das Hervorkehren der Machtperspektive bei den zwischenmenschlichen Beziehungen, die deswegen notwendig zum Scheitern verur163
teilt sind, mag unseren Widerspruch hervorrufen. Sie ist aber keineswegs Sartres Erfindung. Er weist bloß schonungsloser auf ein Geschehen hin, in dem wir mitten drin stehen. Gerade die provozierende Überspitzung der Verhältnisse müßte uns aufmerken lassen auf die Richtung, in der wir treiben, ohne uns dessen Rechenschaft zu geben. Sartre ist einer der faszinierendsten Schriftsteller unserer Zeit, keineswegs der größte, weder als Philosoph noch als Künstler — aber der faszinierendste, weil in ihm etwas von der verborgenen Strömung unserer Zeit aufbricht. Wenn wir uns mit seinem Schaffen auseinandersetzen, werden wir manche seiner Antworten und Stellungnahmen nicht annehmen können. Was aber immer unsere Achtung abnötigt, ist der konsequente Versuch, die Geschichte nicht als eine Art über uns hereinbrechendes Schicksal zu fassen, sondern alle zur Mitverantwortung und Mitbeteiligung aufzurufen. In diesem Sinne ist auch der Aufruf zur Bildung einer übernationalen Vereinigung der Schriftsteller, den er im Sommer 1962 in Moskau bekanntgegeben hat, zu verstehen. Hat uns die Auseinandersetzung mit Sartre auch nur das eine gelehrt, daß wir zur Freiheit verdammt und erkoren sind, dann war sie nicht überflüssig. Der Verfasser der Fliegen muß sich Leser wünschen, die auch seinen eigenen Thesen gegenüber frei bleiben und sie nicht blind übernehmen, sonst werden sie zu Diktaten, und den Kampf gegen Diktate will er uns gerade führen lehren. Niemand kann uns die Verantwortung abnehmen, unseren eigenen Weg zu suchen, denn in diesen Sachen entscheidet sich, wer wir sind.
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ZEITTAFEL 1905 1907 1945 1946 1917—1919 1919—1922 1922 1924—1928 1929 1929—1931 1931—1933 1933—1934 1934—1936 1936 1936—1937 1937—1939 1947 1948 1949 1950 1942—1944 1943 1951
1952 1953 1954
1955 1956 1957 1958
21. Juni: Geburt Jean-Paul Sartres als Sohn eines Marineoffiziers in Paris. Tod des Vaters. Sartre kommt zu den Großeltern. Besuch des Lycee Henri IV in Paris. Wiederverheiratung der Mutter. Sartre kommt zur Mutter nach La Rochelle. Besuch des Gymnasiums in La Rochelle. Besuch des Lycee Louis-le-Grand in Paris. Abitur. Studium an der £cole Normale Superieure — Beginn der Freundschaft mit Simone de Beauvoir. Agregation in Philosophie. Militärdienst als Meteorologe in Tours. Gymnasiallehrer für Philosophie in Le Havre. Stipendiat am Institut Francais in Berlin. Studium der zeitgenössischen deutschen Philosophie, besonders Husserls und Heideggers. Gymnasiallehrer für Philosophie in Le Havre. L'Imagination. Gymnasiallehrer für Philosophie in Laon. Lehrer für Philosophie am Lycee Pasteur in Paris. Mitarbeit an verschiedenen Zeitschriften. La nausee. Esquisse d'une theorie des emotions. Le mur. — Einberufung zum Kriegsdienst als Krankenträger. Juni: Sartre kommt in deutsche Kriegsgefangenschaft. — L'imaginaire. April: Ende der Gefangenschaft. Wiederaufnahme derLehrtätigkeit am Lycee Pasteur. Professor am Lycee Condorcet in Paris. Aktive Mitarbeit in der Widerstandsbewegung. L'etre et le neant. Les moudies. Aufgabe des Lehrberufs. Sartre lebt seither als freierSchriftsteller im Quartier Saint-Germain-des-Pres in Paris. - Gründung und Leitung der politisch-literarischen Zeitschrift«Les temps modernes». — Der Versuch der Gründung einer nichtkommunistischen Linkspartei, des «Rassemblement Democratique Revolutionnaire», schlägt fehl.— Reise nach den USA. — L'age de raison. Huis dos. L'existentialisme est un humanismi. Reflexions sur la question juive. Morts sans sepulture. La putain respectueuse. Situations 1. Baudelaire. Le sursis. Les jeux sont faits. Sartres Werke werden auf den «Index librorum prohibitorum» gesetzt. — Sartre diskutiert in Berlin öffentlich über seine Philosophie und sein Schaffen. — Situations II. Les mains sales. L'engrenage. Situations III. La mort dans l'ame. Sartre spricht in Frankfurt a. M. — Reisen nach Afrika und Italien. Le diable et le bon Dieu. Teilnahme am kommunistischen «Völkerkongreß für den Frieden» in Wien. — Öffentliche Auseinandersetzung mit seinem
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ehemaligen Freund und späteren philosophischen und politischen Gegner Albert Camus. — Saint Genet, comedien et martyr. 1960 Sartre spricht in Freiburg i. B. 1961 Kean. 1954—1955 Reise nach Rußland und China. 1956 Öffentlicher Protest Sartres gegen das sowjetische Vorgehen in Ungarn (Le fantome de Staline). — Nekrassov. 1962 Reise nach Kuba. — Critique de la raison dialectique. Les sequestres d'Altona. 1963 Merleau-Ponty vivant.
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ZEUGNISSE M AURICE M ERLEAU -P ONTY Wir können nach «L'etre et le neant» noch alle möglichen Erleuchtungen und Ergänzungen erwarten. Aber man kann nicht leugnen, daß die Gedankengänge Sartres das Zentralproblem der Philosophie, wie es sich nach den Erkenntnissen der vorigen Jahrhunderte ergibt, in einer durchdringenden Weise und mit einer neuen Tiefe erfassen. Les temps modernes. November 1945 V IKTOR
VON
W EI ZSÄCKER
Es ist nicht wahr, daß Piaton ein Dichterphilosoph war; es war ein Irrtum, daß Bacon mit Shakespeare identisch sein sollte; es ist aber auch nicht nur ein psychologisches Problem, daß dagegen Sartre Philosoph ist und Stücke schreibt. Es beruhigt uns aber in hohem Maße, daß er beides kann, denn wir sind alle in großer Sorge, daß heute eine isolierte Wissenschaft den Menschen ruinieren würde. Und wir spüren auch, daß ein Glaube, der dem Unglauben nicht begegnet ist, nicht glaubwürdig wäre. Daher stammt wohl die sympathetische Passion, die Sartre, seiner Skepsis gegen Passionen zum Trotz, in uns erweckt hat. Die Umschau. 1947 A NDRE G IDE Ich halte «Die ehrbare Dirne» von Sartre für eine Art Meisterwerk ... Seit den ausgezeichneten Erzählungen in der «Mauer» hat er nichts Stärkeres noch Vollkommeneres geschrieben. Tagebuchaufzeichnung. 15.3.1947 E M MANUEL M OUNI ER Im Grunde erinnert Sartre ziemlich an den Luther eines Atheismus, in dem Marx der heilige Paulus, der Apostel und Gründer der Kirche, wäre. Nur leugnete Luther die Kirche, um die Allmacht Gottes über das Nichts des Individuums zu erheben, Sartre dagegen leugnet hinter den laizisierten Kirchen und ihren Dogmen deren laizisierten Gott, die Geschichte oder das Kausalgesetz, um die Allmacht des individuellen Nichts zu behaupten ... Das Nichts Sartres ist ein unbestreitbarer Fortschritt gegenüber seinen Vorgängern ... Das Denken Sartres verdichtet sich zu einem neontologischen Beweis, d. h. einem Beweis des Nichts durch den Abscheu vor dem Vollkommenen, in dem der Ekel und die Abneigung gegenüber dem Sein die gleiche 169 169
Rolle wie z. B. bei Pascal die «Bewegung immer weiterzugehen» einnimmt, d.h. die innere Kraft der Transzendenz, die das Sein ausmacht. Mounier, Introduction aux existentiaksmes. 1947 M AX B ENSE Der Verfasser dieses Romanwerks [«Zeit der Reife»] hat die seit Bergson zugleich anregendsten und umstrittensten philosophischen Bücher publiziert und es verstanden, eine gewisse westeuropäische Philosophie zu einem öffentlichen, europäischen Ereignis werden zu lassen. Seine Romane sind nicht nur Ausdruck einer beachtlichen literarischen Kraft, sondern Demonstrationen einer großen philosophischen Einsicht. Deutsche Zeitung und Wirtschaftszeitung. 1949 KARL KORN Man kann Sartre lesen, wie man Schiller liest. Es gibt weit und breit in moderner Literatur keine genaueren und wahrhaftigeren Aussagen über die moralische Natur des Menschen. Diese Dramatik ist deshalb so faszinierend, weil sie die schal und leer gewordenen Fassaden einfach beiseite schiebt und den modernen Menschen in seiner Nacktheit zeigt: da wird seine Sache verhandelt, seine höchste und schwerste, die stolze, einsame Freiheit des Menschen. Allgemeine Zeitung. 1949 H ANS E GON H OLTHUSEN Der Existentialismus geht über alles bloß psychologische und bloß sozialkritische Denken um einen Schritt hinaus, indem er wieder bis zu einem metaphysischen Grundgedanken durchstößt: dem Gedanken, «daß die Existenz der Essenz vorausgeht». Der Mensch als Existierender ist frei, maß- und grenzenlos frei. Er kann und muß sich selbst entwerfen, «seinen Weg erfinden». «Der Mensch», sagt Sartre, «ist nichts anderes als das, was er aus sich macht.» Dieses Pathos der Freiheit, einer ausschließlichen und monistischen... Freiheit erfüllt den Raum der Sartreschen Welt, die, weil sie nicht auf göttlichem Grunde ruht, eigentlich im Bodenlosen, also im Nichts hängt, mit einer blinden und fieberhaften Aktivität. Sartre geht von dem Axiom aus, daß Gott nicht existiert, und daß man daraus und bis zum Ende die Konsequenzen ziehen muß. Die Freiheit der Menschen jagt die Götter von ihren Sitzen... Dies ist das Thema des berühmten Dramas «Die Fliegen»: ein radikal aufklärerischer Gedanke, ein auf die äußerste Spitze getriebener Voltaire. Holthusen, Der unbehauste Mensch, ig51 170
FRANfOIS MAURIAC
Dieser Gott, den der Held in Sartres Stück [«Der Teufel und der liebe Gott»] lächerlicherweise im Räume sucht und von dem er ein Zeichen verlangt, dieser Gott lebt in uns, und das Zeichen, das er uns gibt, ist der Mensch selber. Es ist der Mensch Sartre und der franziskanische Geist, der ihn erfüllt: seine Treue zu den Ärmsten der Armen, jene Treue, die er ihnen hält... dieser Mensch mit seiner entflammten Beredsamkeit und der krebsartigen Wucherung eines Geistes, der sich selbst verzehrt, der sich an einem Wort stößt: Gott; dieser Mensch Sartre, der sich weigert, bis zum Ursprung jener Macht des Geistes und der Seele vorzudringen, von der er selber doch ganz erfüllt ist und deren wahrer Name die Liebe ist. Figaro. 23.12.1952 J EAN -L OUIS B ARRAULT Wir haben manchmal feststellen müssen, daß die Meinung gewisser Leute über Sartre völlig an dem vorbeiging, was Sartre in Wirklichkeit war. Es ist das Los aller kämpferischen Menschen, die nicht nur neue Ideen äußern, sondern die im Leben eine ungewohnte Stellung einnehmen, ein Bild abzugeben, das ihnen ganz und gar nicht mehr gleicht. Die Verantwortlichkeit für diese Entstellung liegt ebensosehr bei ihren Gegnern wie bei ihren Anhängern. Erkennt man Descartes im Cartesianismus wieder? Ist Sartre immer in dem wiederzuerkennen, was man allgemein Existentialismus nennt? Es ist doch nicht unnütz, Bekanntschaft mit Sartre zu machen: und zwar sachlich. Für die, die ihn lieben, für die, die ihn bekämpfen, und für die, die nur seinen Namen kennen, aber nicht seine Bedeutung. Connaissance de Sartre. 1955 S IMONE
DE
B EAUVOIR
Sartres Originalität bestand darin, daß er dem Bewußtsein die stolzeste Unabhängigkeit zubilligte und dabei der Realität ihr volles Gewicht ließ. Sie bot sich der Erkenntnis in vollkommener Durchsichtigkeit dar, aber auch in der unwandelbaren Dichte ihres Wesens. Für ihn gab es keinen Abstand zwischen Schau und Geschautem, und das stürzte ihn in manches Dilemma: aber Schwierigkeiten konnten seinen Überzeugungen nichts anhaben . .. Sartre lebte, um zu schreiben. Er war berufen, von allen Dingen Zeugnis abzulegen und sie, unter dem Primat der Notwendigkeit, denkend neu zu erschaffen. Beauvoir, La force de Vage, i960
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BIBLIOGRAPHIE Die Bibliographie verzeichnet vom Werk Sartres in erster Linie die Buchausgaben, und zwar lediglich die Erstauflagen, nicht jedoch die späteren Neuauflagen. Von den zahlreichen größeren Publikationen Sartres in Zeitschriften werden nur solche gesondert angegeben, die nicht auch in Buchform erschienen sind. Aufsätze, die später in Sammelwerken (z. B. Situations) aufgenommen wurden und dort leicht zugänglich sind, werden nicht einzeln aufgeführt. Somit bietet diese Bibliographie keine lückenlose chronologische Übersicht über Sartres gesamte Veröffentlichungen, denn die Zeitschriftenerstabdrucke dieser nicht einzeln genannten Arbeiten liegen teilweise weit vor dem Erscheinen des betr. Buchwerkes. — Aus Raumgründen muß auch auf die Berücksichtigung kleinerer Artikel Sartres, seiner Vorworte zu fremden Schriften sowie der Wiedergaben von Interviews und Diskussionsäußerungen verzichtet werden. — Die deutschen Übersetzungen werden — soweit vorhanden — jeweils unmittelbar nach dem französischen Originaltitel angeführt. — Von der Sekundärliteratur wird neben einer Auswahl allgemeiner Werke zur Existenzphilosophie das wichtigste Schrifttum über Sartre verzeichnet. Von den Untersuchungen und Interpretationen des Sartreschen Werkes sind nicht nur diejenigen aufgenommen worden, die eine wissenschaftlich objektive Betrachtungsweise anwenden, sondern auch eine Anzahl der Schriften, bei denen die kritische Auseinandersetzung mit der Sartreschen Weltanschauung im Vordergrund steht, was zur Verdeutlichung der (besonders in Frankreich) sehr heftigen Diskussion um Sartre gerechtfertigt erscheint. Reine Pamphlete und Schmähschriften werden jedoch übergangen. 1. Bibliographien JOLIVET, REGIS: Französische Existenzphilosophie. Bern 1948. 36 S. (Bibliographische Einführungen in das Studium der Philosophie. 9) DOUGLAS, KENNETH: A critical bibliography of existentialism. (The Paris school.) New Haven/Conn. 1950. (Yale French studies. Special monograph. 1) NATANSON, MAUKICE: Bibliography. In: Natanson, A critique of Jean-Paul Sartre's ontology. Lincoln 1951. (University of Nebraska studies. NS. 6) S. 127—136 2. Werke a) Philosophische, politische und literarische Schriften Legende de la verite. In: Bifur, 8. 6. 1931, S. 77—96 La transcendance de l'ego. Esquisse d'une description phenomenologique. In: Recherches philosophiques 6 (1936/37), S. 85—123 — Einzelausg. Paris (Vrin) 1965 — Dt.: Die Transzendenz des Ego. Versuch einer phänomenologischen Beschreibung. Übers, von Herbert Schmitt. In: Die Transzendenz des Ego. Drei Essays. Reinbek (Rowohlt) 1964 (Rowohlt Paperback. 40) L'imagination. Etüde critique. Paris (Alcan) 1936 — Neuausg.: Paris (Presses Universitaires de France) 1956 (Nouvelle Encyclopedie Philosophique. 10) — Dt.: Über die Einbildungskraft. Übers, von Abelle Christaller. In: Die Transzendenz des Ego. Drei Essays. Reinbek (Rowohlt) 1964 (Rowohlt Paperback. 40) Esquisse d'une theorie des emotions. Paris (Hermann) 1939 — Dt.: Entwurf einer Theorie der Emotionen. Übers, von Alexa Wagner. In: Die Transzendenz des^Ego. Drei Essays. Reinbek (Rowohlt) 1964 (Rowohlt Paperback. 40)
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L'imaginaire. Psychologie phenomenologique de l'imagination. Paris (Gallimard) 1940 L'etre et le ncant. Essai d'ontologie phenomenologique. Paris (Gallimard) I 943 ~ Dt.: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie. Bearb., hg. und übers, von Justus Streller. Hamburg (Rowohlt) 1952 — Erste vollst, dt. Ausg.: Übers, von Justus Streller, Karl August Ott und Alexa Wagner. Reinbek (Rowohlt) 1962 A propos de l'existentialisme: mise au point. In: Lettres 3 (1945) S. 82—88 L'existentialisme est un humanisme. Paris (Nagel) 1946 — Dt.: Ist der Existentialismus ein Humanismus? Zürich (Europa Verlag) 1947 — Wiederabdruck in: Drei Essays. Mit einem Nachwort von Walter Schmiele. Frankfurt a. M. (Ullstein) i960 (Ullstein-Bücher. 304) Explication de «L'etranger». Sceaux (Palimugre) 1946 — Wiederabdruck in: Situations. Bd. 1. Paris (Gallimard) 1947 — Dt.: «Der Fremde» von Camus. In: Situationen. Hamburg (Rowohlt) 1956 Reflexions sur la question juive. Paris (Morihien) 1946 — Dt.: Betrachtungen zur Judenfrage. Psychoanalyse des Antisemitismus. Übers, von Hedi Wurzian. Zürich (Europa Verlag) 1948 — Wiederabdruck in: Drei Essays. Mit einem Nachwort von Walter Schmiele. Frankfurt a. M. (Ullstein) 1960 (Ullstein-Bücher. 304) La responsabilite de l'ecrivain. In: Les Conferences de l'UNESCO. Paris (Fontaine) 1947. S. 57—73 Baudelaire. Paris (Gallimard) 1947 — Dt.: Baudelaire. Ein Essay. Übers. von Beate Möhring. Hamburg (Rowohlt) 1953 L'homme et les choses. Paris {Seghers) 1947 — Wiederabdruck in: Situations. Bd. 1. Paris (Gallimard) 1947 — Dt.: Der Mensch und die Dinge. Über den Dichter Francis Ponge. Übers, von Christoph Schwerin. In: Neue Rundschau 73 (1962), S. 229—267 — Wiederabdruck in: Situationen. Essays. Reinbek (Rowohlt) 1965 (Rowohlt Paperback. 46) Situations. 7 Bde. Paris (Gallimard) 1947—1965 — Dt. daraus: Descartes und die Freiheit. Übers, von Karla Johns. In: Descartes, Discours de la methode. Abhandlung über die Methode. [Franz. und dt.] Mainz (Internationaler Universum Verlag) 1948. S. 183—204 Was ist Literatur? Ein Essay. Übers, von Hans Georg Brenner. Hamburg (Rowohlt) 1950 — Neuausg.: Hamburg (Rowohlt) 1958 (rowohlts deutsche enzyklopädie. 65) Materialismus und Revolution. Zürich (Europa Verlag) 1950 (Lebendiges Wissen. 3) — Lizenzausg.: Stuttgart (Kohlhammer) 1950 — Wiederabdruck in: Drei Essays. Mit einem Nachwort von Walter Schmiele. Frankfurt a. M. (Ullstein) i960 (Ullstein-Bücher. 304) Situationen. Essays. [Auswahl.] Übers, von Hans Georg Brenner und Günther Scheel. Hamburg (Rowohlt) 1956 [Enthält: Die cartesianische Freiheit. Materialismus und Revolution. Schwarzer Orpheus. «Der Fremde» von Camus. Die Zeitlichkeit bei William Faulkner. Die Nationalisierung der Literatur. Die «Mobiles» von Calder. Auf der Suche nach dem Absoluten.] — Erw. Neuausg.: Situationen. Essays. Übers, von Werner Bökenkamp, Hans Georg Brenner, Abelle Chris taller, Günther Scheel und Christoph Schwerin. Reinbek (Rowohlt) 1965 (Rowohlt Paperback. 46) [Enthält neu: Über John Dos Passos und . Francois Mauriac und die Freiheit. Jean Giraudoux und die aristotelische Philosophie. Ein neuer Mystiker. Eine grundlegende Idee der Phänomenologie Husserls: Die Intentionalität. Der Mensch und die Dinge. oder Das Phantastische als Ausdrucksweise betrachtet. Individualismus und Kon-
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formismus in den Vereinigten Staaten. Amerikanische Städte. New York eine Kolonialstadt. (Auf der Suche nach( dem Absoluten u. d. T.: Die Suche nach dem Absoluten).] Freundschaft und Ereignis. Begegnung mit Merleau-Ponty. Übers, von Hans Heinz Holz. Frankfurt a. M. (Insel Verlag) 1962 Die Abrüstung der Kultur. Rede auf dem Weltfriedenskongreß in Moskau. Übers, von StephanHermlin. In: Sinn und Form 14 (1962),S. 805—815 Porträts und Perspektiven. Übers, von Elmar Tophoven, Abelle Christaller, Gilbert Strasmann und Hans-Heinz Holz. Reinbek (Rowohlt) 1968 [Enthält: Bildnis eines Unbekannten. Der Künstler und sein Gewissen. Von Ratten und Menschen. Lebendiger Gide. Antwort an Albert Camus. Albert Camus. Paul Nizan. Merleau-Ponty. Der Eingeschlossene von Venedig. Die Gemälde Giacomettis. Der Maler ohne Vorrechte. Masson. Finger und Nicht-Finger. Ein Kapuzinerbeet. Venedig von meinem Fenster aus.] Kolonialismus und Neokolonialismus. Sieben Essays. Übers, von Monika Kind und Traugott König. Reinbek (Rowohlt) 1968 (Rowohlt Paperback. 68) [Enthält: Der Kolonialismus ist ein System. «Porträt des Kolonisierten mit einer Einleitung Porträt des Kolonisators» von Albert Memmi. «Ihr seid fabelhaft». Ein Sieg. Die Analyse des Referendums. «Die Verdammten dieser Erde». Das politische Denken Patrice Lumumbas.] Ecrire pour son epoque. In: Les temps modernes 3 (1947/48). S. 2113— 2121 — Dt.: Man schreibt für seine Zeit. In: Der Monat 1 (1948/49), H. 1, S. 47-51 Conscience de soi et connaissance de soi. In: Bulletin de la Societe Francaise de Philosophie 42 (1948), S. 49—91 Visages. Precede de portraits officiels. Paris (Seghers) 1948 Defense de la culture francaise par la culture europeene. In: Politique etrangere 14 (1949), S. 233—248 Entretiens sur la politique [Zusammen mit David Rousset und Gerard Rosenthal.] Paris (Gallimard) 1949 Les jours de notre vie. [Zusammen mit Maurice Merleau-Ponty.] In: Les temps modernes 5 (1949/50), S. 1153—1168 Saint Genet, comedien et martyr. Paris (Gallimard) 1952 — Dt.: Über Jean Genet. [Auszug.] Übers, von Rolf Italiaander. Hamburg (Rowohlt) 1955 L'affaire Henri-Martin. Commentaire. Paris (Gallimard) 1953 — Dt.: Wider das Unrecht. Übers, von Karl Heinrich. Berlin (Volk und Welt) 1955 Question de methode. In: Les temps modernes 13 (1957/58), S. 338—417; 658—697 — Dt.: Marxismus und Existentialismus. Versuch einer Methodik. Übers, von Herbert Schmitt. Reinbek (Rowohlt) 1964 (rowohlts deutsche enzyklopädie. 196) Critique de la raison dialectique, precede de Question de methode. Bd. 1. Theorie des ensembles pratiques. Paris (Gallimard) i960 — Dt. Kritik der dialektischen Vernunft. 1. Band. Theorie der gesellschaftlichen Praxis. Übers, von Traugott König. Reinbek (Rowohlt) 1967 Marxisme et existentialisme. Controverse sur la dialectique. [Mit Roger Garaudy, Jean Hyppolite, Jean-Pierre Vigier und Jean Orcel.] Paris (Plon) 1962 — Dt.: Existentialismus und Marxismus. Eine Kontroverse zwischen Sartre, Garaudy, Hyppolite, Vigier und Orcel. Übers, von Elisabeth Schneider. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1965 (edition suhrkamp116)
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b) Erzählungen L'ange du morbide. In: Revue sans titre 1923 — Gekürzter Wiederabdruck in: Marc Beigbeder, L'homme Sartre. Paris 1947. S. 149—154 Le mur. [Le mur. La chambre. Erostrate. Intimite. L'enfance d'un chef.] Paris (Gallimard) 1939 — Dt.: Die Mauer. [Die Mauer. Das Zimmer. Herostrat. Intimität. Die Kindheit eines Chefs.] Übers, von Hans Reisiger und Heinrich Wallfisch. Stuttgart (Rowohlt) 1950 Die Kindheit eines Chefs. Übers, von Heinrich Wallfisch. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1966 (Bibliothek Suhrkamp. 175) c) Romane La nausee. Paris (Gallimard) 1938 — Dt.: Der Ekel. Übers, von Heinrich Wallfisch. Stuttgart (Rowohlt) 1949 — Neuausg.: Reinbek (Rowohlt) 1963 (rororo-Taschenbuch. 581) Les chemins de la liberte. 3 Bde. [L'äge de raison. Le sursis. La mort dans 1'äme.] Paris (Gallimard) 1945—1949 — Dt.: Die Wege der Freiheit. 3 Bde. [Zeit der Reife. Der Aufschub. Der Pfahl im Fleische.] Übers, von Hans Georg Brenner. Stuttgart (Rowohlt) 1949—1951 — Neuausg.: Reinbek (Rowohlt) 1961—1963 (rororo-Taschenbuch. 454/455. 503/504. 526/ 527) d) Dramen Les mouches. Paris (Gallimard) 1943 — Wiederabdrucke in: Theätre. Paris (Gallimard) 1947 — In: Theätre. Paris (Gallimard) 1962 — Dt.: Die Fliegen. Übers, von Britta Baerlocher. In: Dramen. Stuttgart (Rowohlt) 1949 — Wiederabdruck in: Die Fliegen. Die schmutzigen Hände. Reinbek (Rowohlt) 1961 (rororo-Taschenbuch. 418) Huis clos. Paris (Gallimard) 1945 — Wiederabdrucke in: Theätre. Paris (Gallimard) 1947 — In: Theätre. Paris (Gallimard) 1962 — Dt.: Bei geschlossenen Türen. Übers, von Harry Kahn. In: Dramen. Stuttgart (Rowohlt) 1949 — Wiederabdrucke in: Französisches Theater des XX. Jahrhunderts. Hg. von Joachim Schondorff. München (Langen-Müller) i960 — In: Bei geschlossenen Türen. Tote ohne Begräbnis. Die ehrbare Dirne. Reinbek (Rowohlt) 1965 (rororo-Taschenbuch. 788) lorts sans sepulture. Lausanne (Marguerat) 1946 — Wiederabdrucke in: Theätre. Paris (Gallimard) 1947 — In: Theätre. Paris (Gallimard) 1962 — Dt.: Tote ohne Begräbnis. Übers, von Robert Blum. In: Dramen. Stuttgart (Rowohlt) 1949 — Wiederabdrucke in: Spectaculum IV. Sechs moderne Theaterstücke. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1961 — In: Bei geschlossenen Türen. Tote ohne Begräbnis. Die ehrbare Dirne. Reinbek (Rowohlt) 1965 (rororo-Taschenbuch. 788) putain respectueuse. Paris (Nagel) 1946 — Wiederabdrucke in: Theätre. Paris (Gallimard) 1947 — In: Theätre. Paris (Gallimard) 1962 — Dt.: Die ehrbare Dirne. Übers, von Ettore Cella. In: Dramen. Stuttgart (Rowohlt) 1949 — Wiederabdruck in: Bei geschlossenen Türen. Tote ohne Begräbnis. Die ehrbare Dirne. Reinbek (Rowohlt) 1965 (rororo-Taschenbuch. 788) Les mains sales. Paris (Gallimard) 1948 — Wiederabdruck in: Theätre. Paris (Gallimard) 1962 — Dt.: Die schmutzigen Hände. Übers, von Eva Rechel-Mertens. In: Dramen. Stuttgart (Rowohlt) 1949 — Wiederabdruck
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in: Die Fliegen. Die schmutzigen Hände. Reinbek (Rowohlt) 1961 (rororoTaschenbuch. 418) Le diable et le bon Dieu. Paris (Gallimard) 1951 — Wiederabdruck in Theätre. Paris (Gallimard) 1962 — Dt.: Der Teufel und der liebe Gott Übers, von Eva Rechel-Mertens. Hamburg (Rowohlt) 1951 — Wieder abdruck in: Dramen. 22.-26. Tsd. Hamburg (Rowohlt) 1954 Kean. (Adaption de la piece d'Alexandre Dumas.) Paris (Gallimard) 1954 — Wiederabdruck in: Theätre. Paris (Gallimard) 1962 — Dt.: Kean oder Unordnung und Genie. Ein Stück nach Alexandre Dumas. Übers, von Marianne Wentzel. Hamburg (Rowohlt), Zürich (Europa Verlag) 1954 Wiederabdruck in: Dramen II. Reinbek (Rowohlt) 1966 Nekrassov. Paris (Gallimard) 1956 — Wiederabdruck in: Theätre. Paris (Gallimard) 1962 — Dt.: Nekrassow. Übers, von Susanne Lepsius und Willi Wolfradt. Hamburg (Rowohlt) 1956 — Wiederabdruck in: Dramen II. Reinbek (Rowohlt) 1966 Les sequestres d'Altona. Paris (Gallimard) i960 — Wiederabdruck in: Theätre Paris (Gallimard) 1962 — Dt.: Die Eingeschlossenen. Übers, von Herbert Liebmann und Renate Gerhardt. Reinbek (Rowohlt) i960 — Neuausg.: Reinbek (Rowohlt) 1962 (rororo-Taschenbuch. 551) —Wiederabdruck in Dramen II. Reinbek (Rowohlt) 1966 Euripide. Les Troyennes. Adaptation de Jean-Paul Sartre. Paris (Gallimard) 1965 — Dt.: Die Troerinnen des Euripides. Übers, von Hans Mayer. In: Dramen II. Reinbek (Rowohlt) 1966 Gesammelte Dramen. Übers, von Gritta Baerlocher, Harry Kahn, Robert Blum, Ettore Cella, Eva Rechel-Mertens, Marianne Wentzel, Susanne Lepsius, Willi Wolfradt, Herbert Liebmann, Renate Gerhardt und Hans Mayer. Reinbek (Rowohlt) 1969 [Enthält: Die Fliegen. Bei geschlossenen Türen. Tote ohne Begräbnis. Die ehrbare Dirne. Die schmutzigen Hände. Der Teufel und der liebe Gott. Kean. Nekrassow. Die Eingeschlossenen. Die Troerinnen des Euripides.] e) Filmdrehbücher Les jeux sont iaits. Paris (Nagel) 1947 — Dt.: Das Spiel ist aus. Übers, von Alfred Dürr. Hamburg (Rowohlt) 1952 (rororo-Taschenbuch. 59) L'engrenage. Paris (Nagel) 1948 — Dt.: Im Räderwerk. Übers, von Helmuth de Haas. Darmstadt (Holle) 1954 — Letzte Neuausg.: Frankfurt a. M. (Ullstein) 1962 (Ullstein-Bücher. 15) f) Herausgegebene Zeitschrift Les temps modernes. Revue mensuelle. Jg. 1 ff. Paris (Chantenay) 1945 bis lfd. [Zuletzt 21 (1965/66).] 3. Lebenszeugnisse Les mots. Paris (Gallimard) 1964 — Dt.: Die Wörter. Übers, und mit einer Nachbemerkung von Hans Mayer. Reinbek (Rowohlt) 1965 — Neuausg.: Reinbek (Rowohlt) 1968 (rororo-Taschenbuch. 1000) Pour et contre l'existentialisme. Grand debat. Präsentation de COLETTE AUDRV. Paris 1948. 192 S. [Aufsätze von F. Jeanson, J. Pouillon, J.-B. Pontalis,
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J. Benda, R. Vailland, E. Mounier. Außerdem: Jean-Paul Sartre repond ä ses detracteurs, S. 181—190.] JEANSON, FRANCIS: Sartre par lui-meme. Paris 1955. 192 S., Abb. (ficrivains de toujours. 29) BEAUVOIR, SIMONE DE: La force de l'äge. Paris i960. 622 S. — Dt.: In den besten Jahren. Reinbek 1961. 525 S. — Neuausg.: Reinbek 1969. 525 S. (rororo-Taschenbuch. 1112/1113/1114) BEAUVOIR, SIMONE DE: La force des choses. Paris 1963. 686 S. — Dt.: Der Lauf der Dinge. Reinbek 1966. 624 S. Sartre visita a Cuba. Ideologia y revoluciön. Una entrevista con los escritores cubanos. Huracän sobre el azücar. La Habana i960. 244 S. Sartre on Cuba. New York 1961.160 S. 4. Würdigungen MAGNY, CLAUDE-EDMONDE : Sartre ou Ia duplicite de l'etre. Ascese ou mythomanie. In: Magny, Les sandales d'Empedocle. Neuchätel 1945. S. 105—172 — Neuaufl. Paris i960 BOUTANG, PIERRE, und BERNARD PINGAUD: Sartre est-il un possede? Suivi de Un univers fige. Paris 1946. 96 S. (La republique des lettres. 2) — Neuaufl. 1950 BRUNNER, AUGUST: Zur Freiheit verurteilt. Jean-Paul Sartres Existenzialphilosophie. In: Stimmen der Zeit 140 (1947), S. 178—190 BRISSAUD, ANDRE: Situation de Jean-Paul Sartre. In: Syntheses 2 (1948), S. 215-228; 332—347 SIMON, PIERRE-HENRY: J. P. Sartre ou la navigation sans etoiles. In: Simon, : L'homme en proces. Neuchätel 1949. S. 53—91 — 3- Aufl. 1951 HIRTH, FRIEDRICH: Vier französische Dichter unserer Tage. [Anouilh, Eluard, Gide, Sartre.] In: Romanistische Beiträge 1 (1950), S. 3—25 BLACKHAM, H. J.: Jean-Paul Sartre. In: Blackham, Six existentialist thinkers. London 1951. S. 110—148 HORST, KARL AUGUST: Sartre oder die Kunst im Vakuum. In: Merkur 6 (1952), S. 744-757 MONTESI, GOTTHARD: Sartre und die Sartristen oder Hybris und Erniedrigung des Menschen. In: Wort und Wahrheit 7, II (1952), S. 656—674 DYSERINCK, H.: Das Werk J.-P. Sartres als Wendepunkt in der französischen Gegenwartsliteratur. In: Die neueren Sprachen NF. 1953, S. 246—258 CHAIGNE, LOUIS: Sartre. In: Chaigne, Vies et oeuvres d'ecrivains. Bd. 4. Paris 1954. S. 49—101 — 2. Aufl. 1957 LÜTHY, HERBERT: Jean-Paul Sartre und das Nichts. In: Der Monat 7, II (1954/ 55), S. 407-414 GRENZMANN, WILHELM: Jean-Paul Sartre. In: Grenzmann, Weltdichtung der Gegenwart. Bonn 1955. S. 224—270 BRODIN, PIERRE: Sartre. In: Brodin, Litterature. Bd. 1. Paris 1958. (Presences contemporaines) S. 347—367 JOHN, S.: Sacrilege and metamorphosis. Two aspects of Sartre's imagery. In: Modern language quarterly 20 (1959), S. $7—66 ESPIAÜ DE LA MAESTRE, ANDRE: Jean Paul Sartre. In: Espiau de La Maestre, Der Sirm und das Absurde. Salzburg 1961. S. 87—133 MAYER, HANS : Anmerkungen zu Sartre. In: Mayer, Ansichten. Zur Literatur der Zeit. Reinbek 1962. S. 139—154 (Rowohlt Paperback. 16)
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5. Untersuchungen a) Sartres Stellung im Existentialismus VIETTA, EGON: Theologie ohne Gott. Versuch über die menschliche Existenz in der modernen französischen Philosophie. Zürich, Hamburg 1946. 61 S. (Schriften zur Zeit. 12) MOUNIER, EMMANUEL: Introduction aux existentialismus. Paris 1947. 160 S. — Dt.: Einführung in die Existenzphilosophien. Bad Salzig 1949. 179 S. BOLLNOW, OTTO FRIEDRICH: Deutsche Existenzphilosophie und französischer Existentialismus. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 2 (1947), S. 231-243 BOLINOW, OTTO FRIEDRICH: Existenzialismus. In: Sammlung 2 (1947), S. 656—666
WAELHENS, ALPHONSE DE: De la phenomenologie ä l'existentialisme. In: Waelhens, Le choix, le monde, l'existence. Paris 1947. S. 37—82 BRECHT, FRANZ JOSEF: Einführung in die Philosophie der Existenz. Heidelberg 1948. 199 S. (Heidelberger Schriften) GRENE, MARJORIE: Dreaful freedom. A critique of existentialism. Chicago 1948. IX, 149 S. [Sartre und Heidegger: S. 41—94] JOLIVET, REGIS: Les doctrines existentialistes de Kierkegaard ä J.-P. Sartre. Saint-Wandrille 1948. JJ; S. [Sartre: S. 144—230] REDING, MARCEL: Die Existenzphilosophie. Heidegger, Sartre, Gabriel Marcel und Jaspers in kritisch-systematischer Sicht. Düsseldorf 1949. 236 S. (Philosophische Beiträge zur Erkenntnis der Menschenwirklichkeit. 1) KUHN, HELMUT: Encounter with nothingness. An essay on existentialism. Hinsdale 1949. XXI, 168 S. (Humanist library. 11) — London 1951 — Dt.: Begegnung mit dem Nichts. Ein Versuch über die Existenzphilosophie. Tübingen 1950. 173 S. GABRIEL, LEO: Existenzphilosophie. Von Kierkegaard bis Sartre. Wien 1951. 416 S. (Wissenschaft und Weltbild) [Sartre: S. 223—272] KNITTERMEYER, HINRICH: Die Philosophie der Existenz. Von der Renaissance bis zur Gegenwart. Wien, Stuttgart 1952. 504 S. (Die Universität. 29) [Sartre: S. 366—400] HEINEMANN, FRITZ: Existenzphilosophie, lebendig oder tot? Stuttgart 1954. 208 S. (Urban-Bücher. 10) [Sartre: S. 112—145] ELL, JOHANNES: Der Existenzialismus in seinem Wesen und Werden. Bonn 1955. 151 S. (Mensch und Welt. 6) USSHER, ARLAND: Journey through dread. A study of Kierkegaard, Heidegger, and Sartre. London, New York 1955. 160 S. BARRETT, WILLIAM: Irrational man. A study in existential philosophy. Garden City 1958. 278 S. — London 1961 HEINEMANN, F. H.: Existentialism and the modern predicament. London 1958. 229 S. [Sartre: S. 109—133] HOLZ, HANS HEINZ: Der französische Existenzialismus. Theorie und Aktualität. Speyer 1958. 140 S. MÜLLER-SCHWEFE, HANS-RUDOLF: Existenzphilosophie. Das Verständnis von Existenz in Philosophie und christlichem Glauben. Eine Begegnung. Zürich 1961. 238 S. KINGSTON, F. TEMPLE: French existentialism. A Christian critique. Toronto 1961. XV, 221 S.
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b) Allgemeines Schrifttum über die Philosophie Sartres JUIN, HUBERT: Sartre ou la condition humaine. Bruxelles 1946. 82 S. BEIGBEDER, MARC: L'homme Sartre. Essai de devoilement preexistentiel. Paris 1947. 209 S. (Visages contemporains) JEANSON, FRANCIS: Le probleme moral et la pensee de Sartre. Paris 1947. 381 S. (Pensee et civilisation) MONTIGNY, RENE: J.-P. Sartre und der Existentialismus oder Das Problem der philosophischen Literatur. Vortrag. [Franz. und dt.] Lindau 1948. 75 S. VARET, GILBERT : L'ontologie de Sartre. Paris 1948. 196 S. VIETTA, EGON : Versuch über die menschliche Existenz in der modernen französischen Philosophie. Zum philosophischen Werk von Jean Paul Sartre. (Mit einem Anhang. Der Begriff der Freiheit bei Jean Paul Sartre.) Hamburg 1948. 51 S. FALCONI, CARLO: Jean-Paul Sartre. Modena 1949. 293 S. (Problemi d'oggi. PRUCHE, BENOIT: L'homme de Sartre. Grenoble 1949. 128 S. (Structures de notre temps) QÜILES, ISMAEL: Sartre. El existencialismo del absurdo. Buenos Aires 1949. 120 S. (La filosofia de nuestro tiempo. 5) RICHTER, LISELOTTE: Jean Paul Sartre oder Die Philosophie des Zwiespalts. Ein Vortrag. Berlin 1949. 46 S. (Akademische Reihe) STEFANI, MARIO: La libertä esistenziale in J. P. Sartre. Milano 1949. XIII, 120 S. DEMPSEY, PETER J. R.: The psychology of Sartre. Cork 1950. 174 S. PAISSAC, HENRY: Le Dieu de Sartre. Grenoble 1950. 158 S. (Structures de notre temps) HOLZ, HANS HEINZ: Jean Paul Sartre. Darstellung und Kritik seiner Philosophie. Meisenheim/Glan 1951. 139 S. NATANSON, MAURICE: A critique of Jean-Paul Sartre's ontology. Lincoln 1951. 136 S. (University of Nebraska studies. NS. 6) QUILES, ISMAEL: Sartre y su existencialismo. Buenos Aires 1952. 163 S. (Colleccion austral. 1107) STRELLER, JUSTUS: Zur Freiheit verurteilt. Ein Grundriß der Philosophie Jean Paul Sartres. Hamburg 1952. VI, 118 S. ALBERES, R. M. [d. i. RENE MARILL] : Jean-Paul Sartre. Paris 1953. I42 S. — 5. erw. Aufl. i960. 150 S. — Engl.: Jean-Paul Sartre. Philosopher without faith. New York 1961. 159 S. MURDOCH, IRIS: Sartre. Romantic rationalist. Cambridge, New Haven 1953. 78 S. (Studies in modern European literature and thought) — 2. Aufl. 959 NIFTRIK, GERRIT CORNELIS VAN: De boodschap van Sartre. Nijkerk 1953. 189 S. STERN, ALFRED: Sartre. His philosophy and psychoanalysis. New York 1953. 223 S. DESAN, WILFRED: The tragic finale. An essay on the philosophy of JeanPaul Sartre. Cambridge/Mass. 1954. XIV, 220 S. CHAMPIGNY, ROBERT: Stages on Sartre's way. 1938—1952. Bloomington 1959. 199 S. (Indiana University publications. Humanities series. 42) MAIRE, GILBERT : Une regression mentale d'Henri Bergson ä Jean-Paul Sartre. Paris 1959. 210 S. MÖLLER, JOSEPH: Absurdes Sein? Eine Auseinandersetzung mit der Ontologie J. P. Sartres. Stuttgart 1959. 230 S.
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183
NAMENREGISTER Die kursiv gesetzten Zahlen bezeichnen die Abbildungen, die ho digesteilten Sterndien verweisen auf die Fußnoten Adler, Alfred 111 Alleg, Henri 139 f Aristoteles 32 Aumont, Jean-Pierre 115 Baudelaire, Charles 7,102, 104,107, 101 Beauvoir, Simone de 7, 19 f, 23, 53, 131 , 162, 51, 88, 124, 143, 163 Brasseur,, Pierre (Pierre Espinasse) 96, 121 Camus, Albert 13,80,131, 146 f, 147 Cau, Jean 86 Daladier, Edouard 76 Descartes, Rene 152 Dos Passos, John Rodrigo 80, 79 Dullin, Charles 53 Dumas pere, Alexandre 23 Duval, Jeanne 102 Ehrenburg, Ilja 157 Faulkner, William J5, 73 Flaubert, Gustave 159 Franck, Walter 95 Genet, Jean 86 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 19, 21, 53, 93, 149,152, 159 Heidegger, Martin 21, 24, 26, 34, 40, 43 f, 6^, 65, 105, 107, 113 , 117, 119, 122, 123, 130, 149, 64 Hitler, Adolf 75, 76 Holz, Hans Heinz 19 Husserl, Edmund 21, 21 , 26, 28, 43, 45,126,149, 42 Hyppolite, Jean 19 Jaspers, Karl 81
Kafka, Franz 28 Kant, Immanuel 41, 152 Lacoste, Robert 141 Locke, John 152 Lukacs, Georg 156 Maleter, Pal 135 Marx, Karl 136, 149, 152, 156, 151 Massu, Jacques 141 Merleau-Ponty, Maurice 13, 23, 131 Nagy, Imre 133, 137 Nietzsche, Friedrich 100 Pawlow, Iwan P. 161 Petain, Philippe 82 Platon 41 Rakosi, Mätyäs 133, 135, 158 Rosenthal, Gerard 22 Rousset, David 22 Sade, Donatien-Alphonse-Francois, Marquis de 160 Sartre, Anne-Marie 7, 9,14/15 Sartre, Jean-Baptiste 7 Schukow, Georgi K. 137 Schweitzer, Charles 7, 8, 14/1; Schweitzer, Louise 14/15 Sokrates 41 Stalin, Josef W. (IosifV. Dschugaschwili) 133,136 Stil 135 Strasser, Stephan 21 Streller, Justus 63 Synge, John Millington 19 Valery, Paul Ambroise 25 Waelhens, Alphonse de 162 Wols (Wolfgang Schulze) 9
Kadar, Janos 139
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QUELLENNACHWEIS DER ABBILDUNGEN Roger Röche, Paris: 6 / Bibliotheque National (Editions du Seuil), Paris: 8,15 oben, 17,18,32, 45, 56/57, 59,106,154,155 / Radio Times, London: 10 oben, 11, 51,74, 83 / Richter, Paris: 10 unten, 14 oben, 14/15 unten, 129 / Bildarchiv Süddeutscher Verlag, München: 16, 79, 91, 103, 147, 160 / Rowohlt-Archiv, Reinbek bei Hamburg; 36, 37, 88, 101 / Ullstein Bilderdienst, Berlin: 42, 73, 85, 143, 151 / National Gallery, London: 48 und 127 / dpa, Frankfurt am Main: 64, 134, 163 / Photo Keystone, Paris: 81, 119, 121, 124 / Paris-Match, Paris: 86, 92 oben, 92 unten, 96, 112, X36 / Lichtbild Dr. Walter Boje, Hamburg: 95 / Prisma Filmverleih, Hamburg: 108/109 / Radio Cinema, Paris: 115 / Jean-Paul Sartre: 132 / LissingMagnum, Paris: 138, 140 / Len Sirman Press, Genf: 153 / Tele-Photo, Paris: 157
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JEAN-PAUL SARTRE Als Buchausgaben liegen zur Zeit vor: Als Taschenbuchausgaben erschienen:
DIE WÖRTER
DIE WÖRTER
[Les Mots] 65. Tsd. 208 S. In.
Mit einer Nachbemerkung von Hans Mayer. 90. Tausend, rororo Band 1000
DIE MAUER Erzählungen. 13. Tsd. 288 S. In.
ZEIT DER REIFE
KRITIK DER DIALEKTISCHEN VERNUNFT BAND I
Roman. 108. Tsd. rororo Band 454/55
DER AUFSCHUB Roman. 75. Tsd. rororo Band 503I04
Theorie der gesellschaftlichen Praxis. 6. Tausend. 880 Seiten. Leinen
DER PFAHL IM FLEISCHE
DAS SEIN UND DAS NICHTS
Roman. 73. Tsd. rororo Band 526/27
Versuch einer phänomenologisdien On- DAS SPIEL IST AUS tologie. Erste vollständige deutsche Aus- [Les Jeux sont faits] 420. Tausend, rororo Band 5g gabe. 11. Tsd. 788 Seiten. Leinen
BAUDELAIRE Essay. Mit einem Vorwort von Michel Leiris. 4. Tsd. 160 Seiten. Kart.
PORTRÄTS UND PERSPEKTIVEN
DIE FLIEGEN/DIE SCHMUTZIGEN HÄNDE Zwei Dramen. 265. Tsd. rororo Band 41g
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KOLONIALISMUS UND NEOKOLONIALISMUS Sieben Essays. RP Band 68. 128 Seiten
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WAS IST LITERATUR?
DIE TRANSZENDENZ DES EGO
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SITUATIONEN
JEAN-PAUL SARTRE
Die Transzendenz des Ego ■ Über die MARXISMUS UND Einbildungskraft • Entwurf einer Theorie EXISTENTIALISMUS der Emotionen. Drei Essays. RP Band Versuch einer Methodik. 40. 8. Tausend. 204 Seiten 45. Tausend, rde Band 196 Essays. Erweiterte Neuausgabe. RP Band 46. 300 Seiten
dargestellt in Selbstzeugnissen und 70 Bilddokumenten von Walter Biemel. jo. Tausend, rm Band 87
ROWOHLT 126/16
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